Gedächtnismaschine Fernsehen: Band 1: Das Fernsehen als Faktor der gesellschaftlichen Erinnerung. Band 2: Probleme und Potenziale der Fernseherbe-Verwaltung in Deutschland und Nordamerika 9783050089911, 9783050049779

Leif Kramp untersucht erstmals umfassend die Gedächtnisrelevanz des Massenmediums Fernsehen sowie den archivischen und m

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German Pages 1246 [1248] Year 2010

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Table of contents :
I. Einleitung
1. Problemaufriss
2. Fernsehen und Gedächtnis: Ein unterrepräsentierter Forschungsstand
3. Integrative Analyse des Gedächtnismediums Fernsehen unter medienkulturwissenschaftlicher Perspektive
4. Aufbau der zweistufigen Untersuchung
II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens
1. Vom Container zum multimodalen Gedächtnis
2. Das Diktat der Gegenwart
3. Zeitliche Gedächtnisdimensionen
4. Eine Frage des Bewusstseins
5. Mnestisch-emotionale Kopplung
6. Das autobiographische Gedächtnis
6.1. Autobiographie und Identität
6.2. Die Autobiographie als große Erzählung
7. Die Phänomenologie des Vergessens
8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses
8.1. Das vergesellschaftete Gedächtnis: Maurice Halbwachs und die Kollektivität des Erinnerns
8.2. Zwischen Gedächtniskunst und Archiv: Das soziale Gedächtnis nach Aby Warburg
8.3. Vom Spannungsfeld zwischen dem Gedächtnis und der Geschichte
8.4. Vom Gedächtnis der Gruppe zum Gedächtnis der Kultur
8.5. Weitere Theorien des gesellschaftlichen Erinnerns
9. Zusammenfassung
III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens
1. Gedächtnismedium Fernsehen? Terminologische Klärungen
2. Im Dienste der Öffentlichkeit? Institutionalisierung und De-Institutionalisierung des Fernsehens
2.1. Fernsehen als Grundpfeiler der gesellschaftlichen Selbstverständigung
2.2. Die Institutionalisierung des Fernsehens in der BRD
2.3. Die Institutionalisierung des Fernsehens in der DDR
2.4. Die Institutionalisierung des Fernsehens in den USA
2.5. Sendervielfalt als Gefährdung der Selbstverständigungsfunktion? 134
2.6. Zusammenfassung
3. Das Fernsehen als Objekt und Inhalt der Erinnerung
3.1. Wegbegleiter Fernsehen
3.2. Alltagsmedium Fernsehen
3.3. Erinnerungsobjekt Fernsehen
3.4. Zusammenfassung
4. Gemeinschaftsmedium Fernsehen
4.1. Fernsehen in der Familie
4.2. Posttraditionale Vergemeinschaftung am Beispiel von Fernsehfans
4.3. Gemeinschaftsfernsehen als Kontaktaufnahme mit der Außenwelt 189
4.4. Zusammenfassung
5. Bilder am laufenden Band
5.1. Die Überlegenheit der Bilder
5.2. Das Fernsehen im Zeichen der Verdichtung
5.3. Verdichtete Audiovisionen = Verdichtung des Gedächtnisses?
5.4. Zusammenfassung
6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens
6.1. Die Authentizität der Fernsehbilder
6.2. Die Informationsleistungen des Fernsehens
6.3. Falsche Erinnerungen durch televisuelle Suggestion
6.4. Zusammenfassung
7. Bildung durch Fernsehen
7.1. Bildung in der Mediengesellschaft
7.2. Verblödungsmedium Fernsehen?
7.3. Bildungsmedium Fernsehen?
7.4. Kinderfernsehen
7.5. Zusammenfassung
8. Fernsehkunst
8.1. Fernsehen als Kunst?!
8.2. Die ,Goldenen Zeitalter‘ des US-amerikanischen Fernsehens
8.3. Das Spiegelkabinett des Fernsehspiels: Fernsehkunst in Deutschland
8.4. Zusammenfassung
9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen
9.1. Das Fernsehen zwischen Geschichtsboom und Erinnerungslosigkeit
9.2. Das Fernsehen als Historiker? Televisuelle Geschichtsdarstellungen
9.3. Iterative Verzerrung: Das Wieder-Holen der Fernsehgeschichte
9.4. Zusammenfassung
10. Die Krise des Gedächtnisses als Chance
Literaturverzeichnis
IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung
1. Methodische Grundlegung
1.1. Fallspezifische Dokumentenanalyse
1.2. Leitfadengestützte Expertenbefragung
1.3. Organisationsanalyse
2. Das Ringen um die Fernsehgeschichte: Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung
2.1. Die drei Pfeiler der gesellschaftlichen Erinnerung
2.2. Die „Deutsche Mediathek“ als Symptomatik
2.3. Medien- und kulturpolitische Rahmenbedingungen
2.4. Die Entwicklung der Fernsehbewahrung in Nordamerika
2.5. Kulturerbe versus Programmvermögen: Der Widerstreit zwischen Kulturschutz und Wirtschaftsinteresse
2.6. Finanzierungsmodelle und Förderstrukturen
2.7. Schlussfolgerungen
3. Sammeln, Bewahren, Zugang ermöglichen: Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung
3.1. Der Griff in den Äther: Fernsehen als diffiziles Sammelobjekt
3.2. Die Eternisierung des Ephemeren: Komplikationen bei der Bewahrung des Fernseherbes
3.3. Das Rumoren der Nutzer: Hürden beim Zugang zu Fernsehüberlieferungen
4. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen: Nebulositäten und Pragmatismen einer ungewöhnlichen Medien-Allianz 320
4.1. Antipodische oder synergetische Massenmedien: Museen und das Fernsehen
4.2. Museale Bildungsstrategien als conditio sine qua non gesellschaftlicher Erinnerungsarbeit in Fernsehmuseen
4.3. Fallstudien zur institutionsspezifischen Modellierung fernsehbezogener Museumsarbeit
V. Bewertende Zusammenfassung
1. Transatlantische Parallelen: Von übergreifenden Trends und Problemherden
2. Das Fernsehmuseum der Zukunft: Handlungsempfehlungen für Gedächtnisorganisationen mit unsicheren Perspektiven
Verzeichnisse
1. Abkürzungsverzeichnis
2. Literatur- und Quellenverzeichnis
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Gedächtnismaschine Fernsehen: Band 1: Das Fernsehen als Faktor der gesellschaftlichen Erinnerung. Band 2: Probleme und Potenziale der Fernseherbe-Verwaltung in Deutschland und Nordamerika
 9783050089911, 9783050049779

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Gedächtnismaschine Fernsehen Band 1

Das Fernsehen als Faktor der gesellschaftlichen Erinnerung

Leif Kramp

Gedächtnismaschine Fernsehen Band 1 Das Fernsehen als Faktor der gesellschaftlichen Erinnerung

Akademie Verlag

Der Druck dieses Buches wurde großzügig gefördert von der FAZIT-Stiftung Gemeinnützige Verlagsgesellschaft und der Historischen Kommission der ARD.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-05-004977-9 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2011 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandabbildung: „TV Head" (Stephen Blower) Covergestaltung: pro:design, Berlin Druck & Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad Langansalza Printed in the Federal Republic of Germany

Vorwort

Denk' ich ans Fernsehen, fallt mir als Erstes ein, wie mein Bruder und ich in jungen Jahren schleunigst ins Bett geschickt wurden, wenn sonntagabends die „Tatort"-Musik ertönte und Mord und Totschlag den Bildschirm unsicher zu machen drohten. Es ist eine ungewöhnliche Erinnerung, weil sie die abschreckenden Seiten des Fernsehens bzw. mancher seiner Inhalte betrifft. Zugleich ist es eine schöne Erinnerung, weil ich mich an die Familienabende erinnere, ob sie nun schon nach der „Tagesschau" endeten oder später ein, zwei Stunden länger gedauert haben. Als Kind habe ich viel gelesen: Spannendes, Triviales, Schöngeistiges, Anspruchsvolles - eine einsame Beschäftigung. Ferngesehen haben wir fast immer gemeinsam: Ich erinnere mich an die „Sesamstraße" mit Lilo Pulver und Uwe Friedrichsen, die „Sendung mit der Maus", „Löwenzahn", die „Muppet Show", dunkel auch an „Hallo Spencer". Ich erinnere mich an „Knoff-Hoff", die „Rudi Carrell Show" und „Total Normal". Ich erinnere mich an große Fernsehmomente, allen voran an die Bilder der innerdeutschen Grenzöffnung im November 1989. Ich erinnere mich an Vieles und doch so wenig. Wie sehr bin ich von meinen Fernseherfahrungen geprägt? Was bestimmt, welcher Fernsehbilder, welcher Fernsehgeschichten wir uns erinnern - und warum? Welche Rolle spielt unsere Fernsehvergangenheit bei unserer Persönlichkeitsbildung? Und was muss getan, was muss wie aufgehoben und funktionalisiert werden, damit dieser Teil unserer Identität nicht ins Beliebige und Zufällige schweift, sondern wir daraus Sinn schöpfen können? So alltäglich, wenig aufhebenswert, gar banal die persönliche Fernsehbiographie erscheinen mag, sie bildet einen wesentlichen Kristallisationspunkt in unserer Entwicklung und berührt eine Vielzahl von psychologischen, auch philosophischen, sozialen und kulturellen Aspekten, die Einfluss ausüben auf die Konstituierung des Erinnerns, des Vegessens und der Identitätspflege. Es ist ein Privileg, sich im Rahmen einer grundlegenden wissenschaftlichen Untersuchung einem Thema zuwenden zu können, das die eigene Sozialisation betrifft und darüber hinaus Einsichten verspricht, die Aufschluss geben können über den Umgang mit und die Bedeutung von Medienbiographien gleich mehrerer Generationen von Fernsehzuschauern in Deutschland und Nordamerika. Die Funktion des Fernsehens als Faktor der gesellschaftlichen Erinnerung auf der einen sowie die Probleme und Potenziale der Fernseherbe-Verwaltung auf der anderen Seite haben mich die vergangenen viereinhalb Jahre beschäftigt. Die vorliegende zweibändige Arbeit ist eine

6

Vorwort

leicht bearbeitete und aktualisierte Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2009/2010 von der Fakultät für Geisteswissenschaft der Universität Hamburg angenommen wurde. Mein Dank gilt allen voran Prof. Dr. Uwe Hasebrink und Prof. Dr. Knut Hickethier, die als Gutachter meiner Dissertation immer ein offenes Ohr für mich hatten, mir mit Rat zur Seite standen und schließlich alles möglich machten, damit das Promotionsverfahren zügig abgeschlossen werden konnte. Weiterhin möchte ich all meinen 63 Gesprächspartnern danken, die im Rahmen der empirischen Untersuchung über den Status Quo und die Perspektiven der Arbeit von Fernseharchiven und Fernsehmuseen bereit waren, ihren Erfahrungsschatz und ihre Visionen mit mir zu teilen. Speziell bin ich hierbei Peter Paul Kubitz und Prof. Horace Newcomb für ihr Vertrauen zu Dank verpflichtet. Gedankt sei außerdem Dr. Ulrike Möhlenbeck und Gudrun Schneider vom Archiv der Akademie der Künste Berlin, wo ich viele Stunden mit der Lektüre und Analyse von Dokumenten aus der Entwicklungsgeschichte der „Deutschen Mediathek" verbringen durfte. Auch Prof. h.c. Wolfgang Hempel möchte ich für sein Interesse und seine Hilfe beim Auftreiben so manchen Schriftstücks danken, ebenso wie Jannet Fechner, Prof. Dr. Klaus Peter Dencker, Dr. Helmut Drück und Dr. Hans-Geert Falkenberg (t). Dr. Ole Kramp danke ich für viele hilfreiche Tipps und seinen unverwüstlichen Optimismus, besonders aber für seinen fachjuristischen Rat. Ass.-Prof. Lucas Hilderbrand danke ich für den konstruktiven Austausch zu Teilaspekten der Fernseherbe-Verwaltung, auch wenn wir manchmal nicht einer Meinung waren. Arthur Büggeln und Jim Nailen bin ich herzlich für ihre unumwundene Offenheit und Gastfreundschaft verbunden, Alexander Steenbeck für die gewissenhafte Lektüre des Manuskripts und seine bedachten Anmerkungen. Ich danke außerdem der FAZIT-Stiftung für die finanzielle Förderung des Promotionsvorhabens, ohne die insbesondere die Forschungsaufenthalte in den USA und Kanada nicht wie geplant möglich gewesen wären. Darüber hinaus rechne ich es Stephen Blower, Gert von Bassewitz und der Agentur Triad hoch an, dass sie unentgeltlich Fotografien für die Umschlaggestaltung der beiden vorliegenden Bände zur Verfügung gestellt haben. Zum Ausdruck bringen möchte ich auch meine tiefe Dankbarkeit, die ich an dieser Stelle meinen Eltern Gisela und Hans-Ludwig Kramp ausspreche, für alles, was sie mir (mit-) gegeben haben, und für ihre uneingeschränkte Unterstützung in allen Lebenslagen. Und nicht zuletzt danke ich Jelka Ehrlich für ihr Verständnis, welches ich ebenso wie ihre Geduld während der zeit- und nervenaufreibenden Arbeit an der Dissertation mitunter arg strapaziert habe.

Leif Kramp Hamburg im September 2010

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung 1.

Problemaufriss

15

2.

Fernsehen und Gedächtnis: Ein unterrepräsentierter Forschungsstand

19

3.

Integrative Analyse des Gedächtnismediums Fernsehen unter medienkulturwissenschaftlicher Perspektive

24

Aufbau der zweistufigen Untersuchung

27

4.

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens 1.

Vom Container zum multimodalen Gedächtnis

34

2.

Das Diktat der Gegenwart

37

3.

Zeitliche Gedächtnisdimensionen

39

4.

Eine Frage des Bewusstseins

41

5.

Mnestisch-emotionale Kopplung

46

6.

Das autobiographische Gedächtnis

52

6.1.

Autobiographie und Identität

52

6.2.

Die Autobiographie als große Erzählung

56

7.

Die Phänomenologie des Vergessens

58

8.

Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

61

8.1. 8.2. 8.3.

Das vergesellschaftete Gedächtnis: Maurice Halbwachs und die Kollektivität des Erinnerns

62

Zwischen Gedächtniskunst und Archiv: Das soziale Gedächtnis nach Aby Warburg

70

Vom Spannungsfeld zwischen dem Gedächtnis und der Geschichte

73

Inhaltsverzeichnis

8

9.

8.4.

Vom Gedächtnis der Gruppe zum Gedächtnis der Kultur

84

8.5.

Weitere Theorien des gesellschaftlichen Erinnerns

96

Zusammenfassung

104

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens 1.

Gedächtnismedium Fernsehen? Terminologische Klärungen

109

2.

Im Dienste der Öffentlichkeit? Institutionalisierung und De-Institutionalisierung des Fernsehens

120

2.1.

3.

4.

Fernsehen als Grundpfeiler der gesellschaftlichen Selbstverständigung

120

2.2.

Die Institutionalisierung des Fernsehens in der BRD

126

2.3.

Die Institutionalisierung des Fernsehens in der DDR

129

2.4.

Die Institutionalisierung des Fernsehens in den USA

131

2.5.

Sendervielfalt als Gefährdung der Selbstverständigungsfunktion?

134

2.6.

Zusammenfassung

140

Das Fernsehen als Objekt und Inhalt der Erinnerung

142

3.1.

Wegbegleiter Fernsehen

142

3.2.

Alltagsmedium Fernsehen

148

3.3.

Erinnerungsobjekt Fernsehen

151

3.4.

Zusammenfassung

159

Gemeinschaftsmedium Fernsehen

161

4.1.

Fernsehen in der Familie

163

4.1.1.

Konzeptualisierung des Familiengedächtnisses

163

4.1.2.

Fernsehen als familiärer Integrationsfaktor

166

4.1.3.

Gedächtniswandel durch Individualisierung

171

4.2.

Posttraditionale Vergemeinschaftung am Beispiel von Fernsehfans

174

Konzeptualisierung von Fan-Gruppen als Erinnerungsgemeinschaften

174

Gemeinsinn durch Partizipation

180

4.2.1. 4.2.2.

Inhaltsverzeichnis

5.

6.

9

4.3.

Gemeinschaftsfernsehen als Kontaktaufnahme mit der Außenwelt

189

4.3.1.

Fernsehen und Isolationsangst

189

4.3.2.

Fernsehen als balancierendes Medium

192

4.3.3.

Fernsehen als Gemeinschaftsstifter im öffentlichen Raum

193

4.4.

Zusammenfassung

199

Bilder am laufenden Band

202

5.1.

Die Überlegenheit der Bilder

202

5.2.

Das Fernsehen im Zeichen der Verdichtung

206

5.2.1.

Die Beschleunigung des Lebenswandels und das Fernsehen

206

5.2.2.

Die Beschleunigung technologischer Innovationen

211

5.2.3.

Die Beschleunigung des Transports von Informationen

214

5.2.4.

Die Beschleunigung der Zirkulation von Informationen

218

5.2.5.

Der Bilderfluss des Fernsehens

223

5.2.6.

Die Beschleunigung der Fernsehnutzung

231

5.2.7.

Staudämme im Bilderfluss

237

5.3.

Verdichtete Audiovisionen = Verdichtung des Gedächtnisses?

243

5.4.

Zusammenfassung

249

Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

251

6.1.

Die Authentizität der Fernsehbilder

251

6.1.1.

Fenster, Spiegel oder Zaubermaschine?

251

6.1.2.

Die filmische Errettung der physischen Realität

254

6.1.3.

Baudrillards Simulakren

257

6.1.4.

Ein Kompromiss zwischen den Extremen: Die Genese der Fernsehwirklichkeit

262

6.1.5.

„Seeing is Believing": Fernsehwirklichkeit im Auge des Zuschauers

268

6.2.

Die Informationsleistungen des Fernsehens

278

6.2.1.

Informationsformate im Fernsehens

278

6.2.2.

Vertrauenswürdigkeit von Fernsehinformation

285

6.2.3.

Erschütterung der Glaubwürdigkeit

294

6.2.4.

Reality TV als Factual Entertainment

302

6.2.4.1. Realitätsbemessung zwischen Intellekt und Gefühl

302

6.2.4.2. „Everyone will remember me": Der Lockruf der Prominenz

310

10

Inhaltsverzeichnis

6.2.5.

7.

8.

Die Faszinationskraft von Medienereignissen

317

6.2.5.1. Event-Traumata und Flashbulb Memories

321

6.2.5.2. Medienereignisse als Sozialstabilisatoren

333

6.2.5.3. Fernsehen als Symbolproduzent

340

6.2.5.4. Medienereignisse als beispiellose Erinnerungsgeneratoren

352

6.3.

Falsche Erinnerungen durch televisuelle Suggestion

355

6.4.

Zusammenfassung

360

Bildung durch Fernsehen

363

7.1.

Bildung in der Mediengesellschaft

363

7.2.

Verblödungsmedium Fernsehen?

367

7.3.

Bildungsmedium Fernsehen?

371

7.3.1.

Formelle Bildungsangebote des Fernsehens

378

7.3.2.

Informelle Bildungsangebote des Fernsehens

380

7.4.

Kinderfernsehen

382

7.5.

Zusammenfassung

388

Fernsehkunst

390

8.1.

Fernsehen als Kunst?!

390

8.1.1.

Kunst als Distinktionsphänomen

390

8.1.2.

Das Misstrauen der Intellektuellen

392

8.1.3.

Der Kampf um Wertungshegemonien

397

8.2.

Die .Goldenen Zeitalter' des US-amerikanischen Fernsehens

401

8.2.1.

Zwischen Ikonisierung und Diskreditierung: Die Fernsehkunst auf der Suche nach ihrer Identität

401

Die Formelhaftigkeit der .Qualitätsserie'

404

8.2.3.

„It's not TV. It's HBO": Markenbildung als kulturelle Leistung

411

8.3.

Das Spiegelkabinett des Fernsehspiels:

8.2.2.

Fernsehkunst in Deutschland

416

8.3.1.

Zwischen Adaption und Original: Das Spiel mit Traditionen

417

8.3.2.

Der wirklichkeitskritische Anspruch des Fernsehspiels

419

8.3.3.

Experimentelle Kunst als Fernsehspiel

425

8.4.

Zusammenfassung

429

Inhaltsverzeichnis

9.

Geschichte und Erinnerung im Fernsehen 9.1.

11 431

Das Fernsehen zwischen Geschichtsboom und Erinnerungslosigkeit

431

Das Fernsehen als Historiker? Televisuelle Geschichtsdarstellungen

440

9.2.1.

Das Fernsehen im Griff der Gedenktag-Agenda

440

9.2.2.

Geschichtswerkstatt Fernsehen: Historische Unterhaltung als Event-TV

455

9.2.3.

Nostalgische (Des)Illusion: .Living History' als Kontrastmittel

479

9.2.4.

Fernsehen als Erinnerungsort

489

9.3.

Iterative Verzerrung: Das Wieder-Holen der Fernsehgeschichte

501

9.4.

Zusammenfassung

514

9.2.

10. Die Krise des Gedächtnisses als Chance

517

Literaturverzeichnis

546

„Es ist das Fernsehen in der Tat die Macht, von der man sagen kann, dass sie mehr Explosivstoff enthält als Bomben und Granaten. Mehr deshalb, weil sie auch Seelen morden kann!" Adolf Grimme (1953)

„Der Mensch ist ein homo opticus geworden. Er sieht mehr Bilder als jede andere Generation vor ihm. Wird er dieser Bilderflut erliegen? Oder wird er sie bändigen? Television miisste man haben... " Wolfgang Paul (1958:42)

„Auch wissen wir ja nicht, ob unser Optimismus berechtigt ist, ob es überhaupt jemals, so wie im Fall der Dampfturbine, gelingen wird, unseren Apparaten Sinn einzuhauchen, der bei ihrer Konstruktion noch nicht erfunden war. " Hans Magnus Enzensberger (1959)

„TV is finally back! The strikes are over, and the networks are rolling out the new shows! And the old shows! And the spin-offs of old shows! And the wonderful old faces you've ignored for a generation! And... well... oh, anyway, TV is back!" New York Magazine (1981:42)

I. Einleitung

1.

Problemaufriss

„Memory is the glue that binds our mental life together. [...] It is what allows us to get continuity in our lives. Its the essential feature of our mental life. Without memory we would be nothing" (Eric Kandel, zitiert nach Seeger 2008: 1:45-2:09). Die in ihrem absoluten Geltungsanspruch frappierende Konstatierung des Neurobiologen Eric Kandel ist sicherlich nicht neu: Welche immense Bedeutung das menschliche Gedächtnis als zentrale Größe in der persönlichen Entwicklung hat, lässt sich ohne Mühe an den individuellen Erfahrungen mit Not und Segen des eigenen Erinnerungsvermögens nachvollziehen. Schon seit Angedenken trägt der Mensch einen scheinbar uniiberwindbaren Konflikt mit seinem Gedächtnis aus: Auf die Fragen, wie viel Erinnerungskraft idealerweise vonnöten wäre, um ein erfülltes Leben zu führen, aber wie viel Erinnerung bei der Suche nach Glück und Sorgenfreiheit eher im Weg stehen könnte, fanden sich bisweilen nur pauschale Antworten: wie zum Beispiel der unmissverständliche Appell an die Pflege und Ehrung des Gedächtnisses durch den spanisch-mexikanischen Filmemacher Luis Buñuel, der im hohen Alter von über 80 Jahren an sich selbst erlebte, wie tragisch es sein kann, wenn der Versuch, sich zu erinnern, erfolglos bleibt: „Hay que haber empezado a perder la memoria, aunque sea sólo a retazos, para darse cuenta de que esta memoria es lo que constituye toda nuestra vida. Una vida sin memoria no sería vida" (Buñuel 1982: 14) - „Man muss erst beginnen sein Gedächtnis zu verlieren, wenn auch nur in Teilen, um zu realisieren, dass es Erinnerungen sind, die unser Leben bestimmen. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben." Gleichsam sind die zugrundeliegenden Mechanismen des Erinnerns und Vergessens ein Mysterium geblieben, das trotz wesentlicher Forschungserkenntnisse bis heute nicht vollständig entschlüsselt werden konnte. So sehr der menschliche Geist seiner Selbst ein Rätsel bleibt, desto mehr ist er versucht, sich gegen seine Unzuverlässigkeit zu wappnen: Seit Angedenken setzt der Mensch Einiges daran, sich an die Welt, in der er lebt, und dadurch letzten Endes an sich selbst zu erinnern. Zu den erbittertsten Versuchen, zur Ultima Ratio zu gelangen, seine eigene Funktion im Weltengetriebe zu verstehen, gehört der unerfüllt gebliebene Traum von einer Gedächtnismaschine, einem technischen Hilfsmittel und Substitut, das die Fehlbarkeit des eigenen mentalen Gedächtnisapparats in

16

I. Einleitung

verlässlicher Genauigkeit unterstützen soll. Der Wunsch nach einem unfehlbaren, zuverlässigen Gedächtnis begleitet die Menschheit seit Jahrtausenden. So entstanden bereits in der Antike Modelle zur Steigerung der kognitiven Fähigkeiten: Die in der Antike von Dichtern und Lehrmeistern wie Simonides, Aristoteles, Sokrates und Plato ausgefeilte Gedächtniskunst zielte auf eine Verbesserung der Merkfähigkeit durch die Vorstellung wirkmächtiger Bilder (.imagines agentes). Die lateinische Rhetoriklehre erhob die ,ars memorativa schließlich zum alles überstrahlenden Ideal eines obsessiven Strebens nach der Perfektionierung des Intellekts als metaphorische Gedächtnismaschine,1 „damit der Geist frei werde für den alles erhellenden Augenblick" (Gendola 1993: 383). Die Kunst, selbst lange Vorträge präzise, also improvisions- wie fehlerfrei halten zu können, setzte ausdauerndes Üben im Lesen, Schreiben und Sprechen voraus (vgl. Yates 1990: 128). Im alten Rom betonte Cicero, dass sich die Mnemonik immer stärker mit affektevozierenden Bildern verbinden müsse, „heftig bewegenden" Bildern, die ob ihrer Schönheit oder Hässlichkeit in der „Seele" haften bleiben (vgl. ebd.: 13, 66). Da das menschliche Gedächtnis jedoch schnell an seine Grenzen geriet, weil der Mensch nach mehr Wissen strebte, als sein Erinnerungsvermögen zuließ, wurde nach Möglichkeiten gesucht, die Einheit von Wissen und Gedächtnis (vgl. auch Wood 1773: 279-280) aufzuspalten und tatsächliche maschinelle Prinzipien zu entwikkeln, um das überforderte Gedächtnis mit außerkörperlichen Techniken zu entlasten. Ein kreativer Vordenker in diesem Sinne war der italienische Gelehrte Giordano Bruno, der zu Zeiten der Renaissance eine Maschine aus rotierenden Scheiben ersann, die mit Namenslisten von weisen Funktionsträgern wie Philosophen, Erfindern, aber auch Magiern und Göttern versehen waren. Diese Gedächtnismaschine sollte nach Vorstellung ihres Konstrukteurs das Weltwissen in seiner - natürlich streitbaren - Gesamtheit einfangen und immer wieder aufs Neue reproduzieren (vgl. Michel 1998:21,127). Solche Versuche, durch die Konzeption technischer Ordnungssysteme den menschlichen Geist von der Schwere der Verantwortung, sich Wissen merken zu müssen, um es erinnern zu können, zu entlasten, fanden schließlich ihren aktuellen Höhepunkt in den digitalen Speicherkapazitäten der Computer- und Netztechnologie der Gegenwart (vgl. Bell/ Gemmell 2009). Der Wunsch, dass der Mensch irgendwann einmal nicht mehr darauf angewiesen sein müsse, Wissen in seinem individuellen Gedächtnis zu bewahren, bildet einen wesentlichen Hintergrund zu sämtlichen Kulturtechniken, die sich herausgebildet haben, um aufzuzeichnen, zu dokumentieren, ortsübergreifend und zeitüberdauernd zu kommunizieren. Dazu gehört freilich in erster Linie die Schrift, die als „Energiekonserve" zum „einzigartigen Gedächtnismedium" aufstieg (vgl. Assmann 1999a: 190), eben weil sie Sprache in dechiffrierbare Zeichen transformierte, die auf Trägern wie Stein oder Papier gespeichert werden konnten. Weitere kulturelle Ausdrucksformen, die sich als zeitüberdauernde Bedeutungsträger anboten, waren die Architektur, die Bildhauerei, die Malerei, die Photographie, mit Einschränkungen der Film - aber auch das Fernsehen? 1

Vgl. auch die Benutzung der Maschinenmetapher für die komplexen kognitiven Prozesse des menschlichen Gehirns bei Wooldridge 1963.

I.l. Problemaufriss

17

Das elektronische Massenmedium mit seiner Konzentration auf das Aus- bzw. Versenden von audiovisuellen Inhalten an eine unbestimmte Zahl an Empfänger beschwört ein zutiefst untypisches, weil ambivalentes Bild von einer Gedächtnismaschine. Indem sich das Fernsehen nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum unbestrittenen Leitmedium aufgeschwungen hatte, rief es Skeptiker auf den Plan, die ihm nicht trauen wollten, gerade weil es als Kommunikationstechnologie wie kein anderes Instrumentarium zuvor räumliche und zeitliche Hürden zu überwinden versprach, im Gegenzug aber in der Ursprungsform der Zeichenübertragung und in seiner Gegenwartsverwurzelung durch eine pathologische Flüchtigkeit gekennzeichnet ist und damit eher die Angst vor der Vergesslichkeit schürte. Fernsehen und Gedächtnis, das passt scheinbar nicht zusammen. Wie sehr dieses vorschnelle Urteil trügen kann, offenbarte der australische Medien- und Kommunikationswissenschaftler Scott McQuire. Er war zwar nicht der Einzige, der auf die nachhaltige Rekonfiguration von Zeitverständnis und Wirklichkeitskonstruktion durch das Fernsehen aufmerksam machte. Er war jedoch der Erste, der daraus den Schluss zog, dass es sich um eine radikale neue Form von Gedächtnismaschine handele, die grundlegend in die Lebensweisen und Wahrnehmungsmodi der Menschen eingreife: nicht als Speichertechnologie, sondern als eine soziale Tatsache (McQuire 1987). Letztlich münden McQuires Ausführungen aber in dem Appell, die Dominanz der televisuellen Weltwahrnehmung zu durchbrechen, um dadurch der Kommodisierung von Zeit in verschiedene Versionen von vergangener, jetziger und zukünftiger Gegenwart im Bewusstsein des Zuschauers entgegenzutreten, was die wahrnehmungstheoretische Sichtweise auf die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens arg verkürzt. In eine ähnliche Kerbe schlägt der Dramatiker Botho Strauß, der harsche Einwände gegen die bilderspeiende Technologie als „Ende der sinnlichen Wahrnehmung" erhebt, weil sich ihr mnestisches Potenzial allzu schädlich auf das Gedächtnis auswirke: Das Fernsehen leiste als eine der großen Gedächtnismaschinen der Jetztzeit der Regression der Erinnerungsfähigkeit Vorschub, weil es den Rezipienten vom Selbsttun abhält, ihm die im Bildschirmformat konfektionierte Welt als „ungeheuerliches Archiv von ubiquitärer Gegenwart" feilbiete, der Erinnerung entwöhnend, nicht anregend (Strauß 1984: 195). Während die Ablehnung seitens Strauß auf einem naturalistischen ,Remembering-bydoing'-Ansatz fußt, wendete sich ein anderer Schriftsteller fasziniert dem Fernsehen zu, eben weil es aus seiner Sicht Sinn und Sinnlichkeit nicht verkümmern lasse, sondern ungeahnte Alternativen ihrer Herausforderung stimuliere: Samuel Beckett erkannte im Fernsehen Möglichkeiten, die Vielschichtigkeit von Vergangenheitserfahrung qua Erinnerung mittels der Kombination sprachlicher und bildlicher Ausdrucksformen darzustellen. Bereits in seinem ersten Fernsehstück „Eh, Joe" gewährte er geradeso Einblicke in die Psyche eines Mannes, der seine Erinnerungen nicht kontrollieren kann, sie über ihn hereinbrechen, ihn quälen und der Zuschauer durch die Inszenierung dieser obsessiven Introspektionen des menschlichen Geistes - „man and his memory machine" (Malking 1999: 37) - zur Reflexion der eigenen Zeitwahrnehmung angeregt wird. Wo Worte allein

18

I. Einleitung

an Grenzen stoßen, erwies sich das Fernsehen für Becket als ideales Medium, Erinnerung zu versinnbi/iflichen. Beckett fand im Fernsehen sein Meistermedium, seinen „Fluchtpunkt" (vgl. Kammerer 2008: 53), in dem er seine „Memory Plays" (vgl. Kozdon 2005: 9) anders als auf der Bühne selbst zu inszenieren wusste. Die Gegenüberstellung dieser gegensätzlichen Schwerpunkte und Haltungen lässt bereits erahnen, auf welch tiefgreifende Weise das Fernsehen die Wahrnehmungsstrukturen und -modalitäten ganzer Gesellschaften geprägt und damit auch die Grundlinien gesellschaftlichen Erinnerns nicht unverändert gelassen hat. So wie sich das Medium über die Jahrzehnte ununterbrochenen Sendebetriebs in vielerlei Funktionen als Symbolproduzent, Zeitdokument, künstlerischem Ausdrucksmittel, Instrument der gesellschaftlichen Selbstverständigung, usf. erwiesen hat, war seine Bedeutung als „Transmissionsriemen sozialer Veränderungen", das heißt nicht nur „Veränderung von Staat und Gesellschaft, sondern auch [...] Veränderung der Subjekte, ihrer Auffassungen, Vorstellung und ihres Verhaltens, ja der Art, wie sie die Welt verstehen und konstruieren" (Hickethier 1998:1), nicht vorherzusehen. Fraglich ist, ob und in welchem Ausmaß das Fernsehen auch (mit-) bestimmt, wie und warum wir erinnern, was wir erinnern und in welcher Form es zur Reifung der Persönlichkeit, zur Sozialisation und Identitätsfindung beiträgt. Die Erörterung dieser Fragen muss beginnen mit der Relativierung einer ontologischen Auffassung von Gedächtnis: „Memory was considered something we have or lack, retain or lose, but it was never a state of becoming", schreibt die niederländische Medien- und Kulturwissenschaftlerin José van Dijck (Dijck 2007: 179). Die prozesshafte Natur der Erinnerung spielt hier eine entscheidende Rolle: Fernsehen als Gedächtnismaschine ist keine Maschine, die speichert, sondern die prozessiert, zirkulieren lässt, die hervorholt, wiederentdeckt, aber auch übergeht und ignoriert, und damit den Prinzipien des menschlichen Erinnerns und Vergessens erstaunlich nahe kommt. Dass den elektronischen Medientechnologien indes unter der Dominanz ihrer kommunikativen Präsenz jegliches Speicherpotenzial und damit auch jegliche Gedächtnisund Tradierungsfunktion abgesprochen wurde - woran allenfalls das Aufkommen der Computertechnologie etwas zu ändern wusste (vgl. Winkler 1998: 83), jedoch das Fernsehen von dem Sinneswandel nicht profitieren konnte - gehört zu einem der grundsätzlichen Probleme bei der Anerkennung der Historizität ihrer selbst; zumal weil das Fernsehen über seine technologischen Logiken hinaus auch als „institutioneller Speicher" verstanden werden mag, der mittels gezielter Bewahrungsanstrengungen des gesendeten Materials „alle die sich langsam verblassenden Spuren und Zeichen des Früheren und Anderen vor dem Vergessen, Verschwinden und Vernichten behüten kann" (Beutelschmidt 1998). Wir erinnern uns mit und durch Maschinen und oft und gerne auch an die Maschinen selbst, wie es Marshall Jon Fisher in seinem preisgekrönten Essay „Memoria ex Machina" so anschaulich anhand seiner Seiko-Armbanduhr und seinem Sony-Walkman aus Kindertagen beschrieben hat (Fisher 2003). Doch das Fernsehen ist mehr als ein mnestisches Gadget, mehr als eine technische Spielerei, an der persönliche Erinnerungen

1.2. Fernsehen und Gedächtnis: Ein unterrepräsentierter

Forschungsgegenstand

19

haften, mehr als ein Zahnrad im Getriebe der Gedächtnisstützen. Im Jahr 1992, titelte die traditionsreichste US-Fernsehprogrammzeitschrift „TV Guide" in großen Lettern mit der provokanten Frage: „Would You Take $1,000,000 To Give Up TV Forever?". Im Heft schließlich wurden die Ergebnisse einer landesweiten Telefonumfrage unter 1.007 Erwachsenen präsentiert: Einer von vier Amerikanern gab zu Protokoll, nicht auf seinen Fernseher verzichten zu wollen, auch nicht für eine Million US-Dollar (TV Guide 1992). Ein solch inniges Verhältnis, das sich an weit mehr ablesen lässt als an Umfragen in Fernsehzeitschriften, wie zu zeigen sein wird, führt zwangsläufig zu der Frage, wie Fernsehen Gedächtnis beeinflusst, bedingt, beschränkt oder befördert. Das wiederum wirft die Frage auf, was Gedächtnis zuallererst konstituiert - kurzum: Warum und wie der Mensch erinnert.

2.

Fernsehen und Gedächtnis: Ein unterrepräsentierter Forschungsgegenstand

Der Forschungszweig der in unterschiedlichen Disziplinen angesiedelten Gedächtniswissenschaft(en) könnte lebendiger nicht sein: Die Beschäftigung mit Gedächtnistheorien nimmt in zahlreichen Wissensbereichen eine zentrale Rolle ein. Die Ansätze und Erkenntnisse der unterschiedlichen Forschungsrichtungen liegen aber teils weit auseinander. Seit den 1960er Jahren führte eine unter anderem von Wissenschaftlern wie Eric Kandel vorangetriebene Annäherung zwischen Neurobiologie und Kognitionspsychologie zu bahnbrechenden Erkenntnissen bei der - längst noch nicht abgeschlossen - Entschlüsselung von zugrundeliegenden Prozessen bei der Entstehung von Erinnerungen im menschlichen Gehirn. Seit den 1980er Jahren entwickelte sich wiederum im Anschluss an frühe Überlegungen des französischen Sozialphilosophen Maurice Halbwachs vornehmlich in Deutschland ein stattlicher Theorieapparat über die kulturhistorischen Manifestierungen und Tradierungsmodalitäten von Gedächtnisinhalten sowie Formen der kulturellen Identitätsbildung und -pflege, der bis heute nichts von seiner Attraktivität für den vornehmlich kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskurs eingebüßt hat. In Veröffentlichungsreihen wie „Formen der Erinnerung" (Vandenhoeck & Ruprecht) oder „Medien und kulturelle Erinnerung" (De Gruyter) erscheint in zügiger Taktung ein nicht enden wollender Strom an Werken, die sich mit ausgesprochener Hingabe ihrem Thema widmen und vermehrt auch mit englischsprachigen Publikationen ihre grundsätzlichen Überlegungen bei der Annäherung an den über-individuellen Gedächtnisbegriff in andere Kulturräume exportieren, um die dortigen jeweils spezifischen Zuschnitte des Forschungsdiskurses wie zum Beispiel den anglo-amerikanischen mit seiner Konzentration auf „kollektive Leidensgeschichten" wie Holocaust-Erinnerungen, Sklavenhandel oder die Unterdrückung der amerikanischen Ureinwohner (vgl. Assmann 2004c, 46) zu bereichern.

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I. Einleitung

Zwar haben sich Arten, Formen und Bedingungen medialer Konfigurationen als interessante wie polarisierende Perspektive dieses Forschungsbereichs herausgestellt, doch folgte die Hinwendung zu den „Medien des Gedächtnisses" (vgl. Assmann 1998) einer Stoßrichtung, die bestimmte Mediengattungen anderen gegenüber bevorzugte, was zu einem analytischen Ungleichgewicht bei der Erkundung der grundlegenden Voraussetzungen, Mechanismen und Spielarten gesellschaftlicher Erinnerung geführt hat. Das aus historischer Sicht noch vergleichsweise junge Fernsehen ist bereits zu einem „alten Medium" geworden: „zu etwas, das von gestern zu sein scheint" (Hasebrink 2001: 9). Uwe Hasebrinks Beobachtung unter kommunikationswissenschaftlicher Perspektive, dass das Fernsehen unter dem Eindruck der explosionsartigen Ausbreitung der Online-Kommunikation zunehmend unter Druck gerät und in seiner Daseinsberechtigung in Frage gestellt wird, findet paradoxerweise im kulturwissenschaftlich geprägten Gedächtnisdiskurs seine Entsprechung: Das Interesse der gedächtniswissenschaftlichen Theoriebildung gilt zwar immer stärker medialen Manifestierungen und Prozessen von Erinnerung in der „öffentlichen Arena" (vgl. Erll/Rigney 2009: 5), doch hat sich eine weite Schere geöffnet zwischen den alten Bedeutungsträgern und Zirkulationskanälen wie vorrangig Druckerzeugnissen oder auch Filmen2 auf der einen und den neuen digitalen Netzstrukturen des Internet auf der anderen Seite. Das alte neue Massenmedium Fernsehen jedoch wurde bei der Untersuchung seiner Interdependenzen mit drängenden Fragen der kulturellen Gedächtnistheorie kurzerhand übersprungen und fristet ein Dasein am Rande. So wie die Einordnung virtueller Kommunikations- und Speicherungsmodi in gedächtnistheoretische Kontexte schon seit längerem en vogue ist (vgl. u.a. Krapp 1998; Assmann 2004a; Assmann 2004c; Neumann 2005; Dreier/Euler 2005; Hoskins 2009; Dörte 2009; Mayer-Schönberger 2009) bleibt das Fernsehen mit seinen gedächtnisrelevanten Qualitäten auf sämtlichen Ebenen seiner Agitations- und Wirkungsbreite unterbelichtet. Dabei eröffnet allein der semiotisch fokussierte Brückenschlag von den klassischen Materialmedien zum digitalen Hypertext die Möglichkeit einer aufschlussreichen Integration elektronischer Audiovisionen in die Debatte um Formen und Inhalte des Erinnerns in individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen. Umso mehr stimmt es verwunderlich, dass sich zahlreiche Sammelbände zwar dem Theoriefeld „Medien und kulturelle Erinnerung" widmen, das Fernsehen dabei jedoch sträflich vernachlässigt oder ganz ausspart wird. Schon bzw. erst im Jahre 2005 war es der Medienphilosoph Lorenz Engeil, der kritisch anmerkte, das Fernsehen sei bei der programmatischen Auseinandersetzung mit Gedächtnismedien deutlich unterrepräsentiert (Engell 2005: 63). Engeil, der sich schon in seiner Dissertation im Jahre 1989 mit den starken Vorbehalten in der Wissenschaftsgemeinde gegenüber dem Fernsehen auseinandergesetzt hatte (Engell 1989), mutmaßte hier, dass dies möglicherweise aus einem traditionellen intellektuellen Hochmut gegenüber dem Fernsehen resultiere und verwies 2

Die Filmwissenschaft hat sich mit großer Begeisterung der Erinnerungsproblematik angenommen und ein fruchtbares Diskursfeld rund um das Gedächtnismedium Film geschaffen (vgl. u.a. Görtz 2007; Pinkert 2008; Vatter 2009; Erll/Wodianka/Berger 2009).

1.2. Fernsehen und Gedächtnis: Ein unterrepräsentierter Forschungsgegenstand

21

knapp auf den Harvard-Philosophen Stanley Cavell. Dieser schrieb in seiner Grundlagen-Streitschrift „The Fact of Television": „By speaking of the fact of television, I mean to call attention to something else, something I do not, in the same way, think I know how to learn more about, something like the sheer fact that television exists, and that this existence is at once among the most obvious and the most mysterious facts of contemporary life. Its obviousness is that television has conquered, like the electric light, or the automobile, or the telephone. Its mystery is twofold:first,how it has conquered; and second, how we (we, for example, who write for and read Daedalus) have apparently remained largely uninterested in accounting for its conquering" (Cavell 1982: 75). Die Auseinandersetzung mit den Hintergründen und möglichen Ursachen einer unterschwelligen oder auch offenkundigen Skepsis gegenüber dem Fernsehen als sozio-kulturellem Leitmedium der Zeitgeschichte gehört zu einem der grundlegenden Motive der vorliegenden Arbeit, die noch zu erläutern sein werden. Seit Engells Zwischenruf hat sich der Verdacht erhärtet, dass der von den Kulturwissenschaften dominierte gedächtnistheoretische Diskurs das Fernsehen meidet wie - um ein Sprichwort zu bemühen - der Teufel das Weihwasser. Nun soll damit nicht impliziert werden, es handle sich um eine intentionale, wenn sogar böswillige Aussparung des mutmaßlich segenreichen audiovisuellen Erinnerungsgenerators im Wohnzimmer durch traditionelle Denkschulen, die den elektronischen Medien von vornherein argwöhnisch gegenüberstehen. Auffällig aber ist die konkrete Randstellung des Fernsehens in den für die programmatische Richtungsweisung der kultur- und sozialwissenschaftlichen Gedächtnistheorien zentralen Bänden: In „Medien des kollektiven Gedächtnisses" (Erll/Birk 2004), „Cultural Memory Studies" (Erll/Nünning 2008), „Nationale Mythen - Kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung" (Knabel/Rieger/Wodianka 2005) sowie "Arbeit am Gedächtnis" (Frank/Rippl 2007) wird das Fernsehen entweder halbherzig und halbgar in Form eines annexhaften Schlusslichts thematisiert oder penibel ausgespart (im auffälligen Gegensatz zum Film). Nahezu unerklärlich ist auch, dass sich in einer Aufsatzsammlung wie dem vom Amerikanisten Udo Hebel herausgegebenen Buch „Transnational American Memories" (Hebel 2009) zwar gedächtnisrelevante Aspekte in Bezug auf Film, Literatur, Briefe, Weltausstellungen und Monumente und sogar Landschaften finden lassen, der Leser aber fast vergeblich nach nur einer Nennung des wohl wichtigsten kulturellen Mediums der US-amerikanischen Lebensart, und dies ist nun einmal das Fernsehen, suchen muss und nur auf einige kurze Anmerkungen stößt. Obwohl aus den Reihen des Gießener Sonderforschungsbereichs „Erinnerungskulturen" die Losung ausgegeben wurde, „Gedächtnistheorie als Medientheorie" zu verstehen (Erll 2007), blieb eine unspezifische Subsumierung des Fernsehens als eines von vielen Massenmedien und Generators von Hinweisreizen in einem weiten Spektrum von (populär-) historischen Romanen bis hin zum Blockbuster-Kinofilm (vgl. ebd.: 90) und damit eine unangemessene Unterschätzung des Fernsehens als Forschungsgegenstand der Gedächtniswissenschaft(en) vorherrschend.

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I.

Einleitung

So ist die Untersuchung des Fernsehens als Faktor gesellschaftlicher Erinnerung unterdessen entgegen der Diagnose des Kommunikationswissenschaftlers Martin Zierold (2006: 7) zwar etwas über kurze, unspezifische und vor allem unzusammenhängende Globalbetrachtungen (vgl. u.a. Zimmermann 1991; Kirchmann/Filk 2000) hinausgekommen. Zu belegen ist das an einzelnen Arbeiten wie der Dissertation der Historikerin Andrea Brockmann, welche einen fundierten Versuch unternahm, das Fernsehen als Gedächtnismedium nicht nur ernst zu nehmen, sondern ihm auch am Beispiel televisueller Thematisierungen der Ausschreitungen am 17. Juni 1953 in der DDR ein detailliertes inhaltsanalytisches Interesse entgegenzubringen (Brockmann 2006; vgl. auch Brockmann 2002). An der Zurückhaltung der übrigen Geschichtswissenschaft und insbesondere der etablierten kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschungstraditionen hat dies aber kaum etwas geändert. „Die Gewichtung der einzelnen Medien hängt ja immer auch von den Personen an den Universitäten ab. Generell ist aber festzustellen, dass es die Bildmedien schwer haben, weil die Übersetzung von Bildern in Sprache für viele schwierig ist und große Arbeit bedeutet. Das kann man auch in der Literatur- oder der Kommunikationswissenschaft beobachten: alles was mit Bildern zu tun hat, ist schwierig. Fernsehen ist dabei nochmal schwieriger als Film. Beim Film haben wir es mit geschlossenen Erzählräumen und weitgehend homogenen Welten (selbst im postmodernen Film) zu tun. Dagegen das Fernsehen! Allein bei den Nachrichten die gestaffelten Bildräume, Insert-Bilder, permanente Veränderungen usw. Was da alles durcheinander geht! Es ist ausgesprochen schwierig, das zu fassen. Da sehe ich eine hohe theoretische Herausforderung" (Knut Hickethier, zitiert nach Keilbach 2005: 58). Problemlos lässt sich das Fernsehen offenbar nur noch durch die Hintertür ikonischer Ereignisse aus der Zeitgeschichte und schlaglichtartig ausgewählten populären Sendungen aus dem Programmschaffen wie zum Beispiel in Form von populärwissenschaftlichen Chroniken wie dem opulenten Teilband „Jahrhundert der Bilder: 1949 bis heute" (Paul 2008) als Gedächtnismedium diskutieren. Abseits dessen findet eine Problematisierung des Verhältnisses zwischen Fernseh- und Vergangenheitserfahrung allenfalls noch im Hinblick auf televisuelle Geschichtsdarstellungen statt, wobei das Fernsehen in den Einzelanalysen überwiegend als Medium der Zerstreuung und Verfremdung vorkommt (vgl. Crivellari u.a. 2004; Fischer 2008a; Drews 2008; Cippitelli/André 2009).3 Diese von der Kommunikations-, Medien- und speziell Fernsehwissenschaft vorgenommene Perspektivierung der historisierenden Leistungen des Fernsehens verliefen jedoch eher parallel und weitgehend ohne Schnittstellen zum gedächtniskulturellen Diskurs, also ohne ein grundlegendes oder gar tiefergehendes Interesse an den kulturellen Motiven und Modellen von Gedächtnis in Bezug auf ihre medialen Untersuchungsbereiche zu entwickeln

3

Einem konstruktiveren Ansatz folgen Edgerton und Rollins mit ihrem Band „Television Histories", dessen Beiträge nicht die nötige kritische Distanz vermissen lassen, aber auch eine enorme Bereitschaft zeigen, Boden in einem allgemein zu kurz kommenden Untersuchungsbereich gut zu machen (Edgerton/Rollins 2001; darin u.a. Taylor 2001).

1.2. Fernsehen und Gedächtnis: Ein unterrepräsentierter

Forschungsgegenstand

23

(vgl. auch Zierold 2006: 5-8). „The confusing state of television research is largely due to inappropriate conceptions of the problem" (Gerbner/Gross 2003: 126), schrieben die Kommunikationswissenschaftler George Gerbner und Larry Gross bereits 1976 und forderten eine offensive Enkulturationsdebatte über das Fernsehen als autonomes Medium, was zwar aufgegriffen wurde und einen nicht minder lebendigen und bis heute kontroverse Ergebnisse zu Tage fördernden Forschungszweig über die Wirkungen des Fernsehens begründete, dabei aber wesentliche Aspekte des Enkulturationsprozesses, nämlich der Gedächtnisentwicklung, außer Acht gelassen wurden. Dennoch gibt es wichtige Impulse, die einen soliden Grund bereiten für eine umfassende Analyse des Fernsehens unter gedächtnistheoretischen Gesichtspunkten: Dem Sonderforschungsbereich „Bildschirmmedien" an der Universität Siegen (1986-2000) ist es zu verdanken, die Theorie und Geschichte des Fernsehens mit einer beeindrukkenden Fülle an Publikationen aufgearbeitet, damit der fernsehhistorischen Forschung zumindest in Deutschland zu mehr Anerkennung im Wissenschaftskanon verholfen sowie die vormals stark institutionell ausgerichtete Fernsehforschung, wie sie in erster Linie von dem im Jahre 1968 gegründeten Studienkreis „Rundfunk und Geschichte" vorangetrieben worden war, mit einem erweiterten Literaturbegriff auf inhaltliche und ästhetische Aspekte gelenkt zu haben. Wesentlich war auch die Wahrnehmung von Fernsehgeschichte als Zeitgeschichte (vgl. v.a. die „Geschichte des deutschen Fernsehens" - Hickethier 1998), wodurch der Stellenwert televisueller Wirklichkeitskonstruktion für die Gesellschaftsentwicklung des 20. Jahrhunderts herausgestrichen wurde. In 2008 erschien schließlich auch die etwas über 600 Seiten umfassende Abschlusspublikation der DFG-Forschergruppe „Programmgeschichte des DDR-Fernsehens", eine detailreiche Nachzeichnung von vierzig Jahren Fernsehschaffen des deutschen Teilstaats hinter dem Eisernen Vorhang, einschließlich seiner Abwicklung nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung (Steinmetz/Viehoff 2008). In den USA dagegen gibt es seit den 1980er Jahren einen nicht versiegenden Strom an konzisen Publikationen zum Verlauf der Fernsehgeschichte des Landes (vgl. u.a. Castleman/Podrazik 1982; Stempel 1992; Roman 2005; Edgerton 2007). Was jedoch fehlt, sind grenzübergreifende Vergleichsstudien, die der Frage nach Interdependenzen, Ähnlichkeiten und Unterschieden in den jeweiligen Fernsehnationen nachgehen: „Most histories of broadcasting have stayed within national boundaries. Comparative Studies have been few [...]. The tricky business of comparative cultural studies of the media remains largely unexplored" (Hilmes 2003: 1).

24

3.

I.

Einleitung

Integrative Analyse des Gedächtnismediums Fernsehen unter medienkulturwissenschaftlicher Perspektive

Das junge, wenn auch noch zerklüftete und wenig einheitlich bestellte Feld der Medienkulturwissenschaft eröffnet eine konstruktive Alternative, um die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens und die daraus folgenden Konsequenzen für die Erinnerungsarbeit mit und über das Fernsehen zu untersuchen. Der Münsteraner Kommunikationswissenschaftler Siegfried J. Schmidt machte deutlich, dass Medienkulturwissenschaft sich nicht auf „einzelne Medienangebote oder bestimmte kulturelle Phänomene" beschränken solle, sondern die Mechanismen ihrer Funktionalisierung durch den Mediennutzer in den Blick nehmen müsse, um die Phänomene in ihrer medienkulturellen Bedeutung überhaupt erst bestimmen zu können (vgl. Schmidt 2003a: 353). Wie Zierold herleitet, besteht die Besonderheit eines medienkulturwissenschaftlichen Zugangs in seiner Qualität als Perspektive und eben nicht in seiner disziplinären Verankerung (Zierold 2006: 9). Vielmehr braucht es ganz unterschiedliche, unter der jeweiligen Fragestellung kumulierbare, weil sich gegenseitig bedingende und kulturell verwobene disziplinäre Ansätze, um zu Aussagen über die vielseitigen Verbindungen von Kultur und Medien und über letztere als Operatoren von Kultur zu gelangen (vgl. auch Bohnenkamp/Schneider 2005:44). Eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive eröffnet demnach die Möglichkeit, nicht nur auf kultur- und sozialwissenschaftliche Theoreme zurückzugreifen, sondern, indem Medienanalyse zugleich auch als Kulturanalyse verstanden wird, eine tatsächlich ganzheitliche Betrachtung des Fernsehens zu unternehmen: „Instead of speaking of an abstract and Utopian interdisciplinarity, then, cultural analysis is truly an interdiscipline, with a specific object and a specific set of collaborating disciplines" (Bal 1999b: 7). Interessant wird also sein, bisher vorwiegend getrennt voneinander operierende Forschungsdisziplinen, Denktraditionen und Wissensbereiche miteinander in konstruktive Verbindung zu bringen, um eine wesentliche Lücke im Gedächtnisdiskurs zu schließen: Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Massenmedium Fernsehen in Bezug auf seine Gedächtnisrelevanz hat bisher kaum stattgefunden. Eine Einordnung des Fernsehens unter umfassender Einbeziehung seiner Determinanten, Angebote und Wirkungen in die etablierten Gedächtnistheorien steht entsprechend noch aus. Erst die Betrachtung des Fernsehens in seinen Realisations- und Rezeptionskontexten lässt Schlüsse zu auf die ganzheitliche Gedächtnisrelevanz eines „Mediums zwischen den Stühlen" (vgl. Elsner/Müller/Spangenberg 1991: 191). Erstes Ziel muss es daher sein, die historische und theoretische Vielfalt der Gedächtnisforschung im Hinblick auf das audiovisuelle Massenmedium zusammenzuführen. Für dieses Anliegen werden gedächtnisbezogene Terminologien, Modelle, Methoden und Metaphern folgender Forschungsdisziplinen zu Rate gezogen: der Neurobiologie und der Psychologie, der Soziologie, hier auch die Techniksoziologie, der Geschichtswissen-

1.3. Versuch einer integrativen Analyse des Gedächtnismediums

Fernsehen

25

schaft, speziell auch der Kunstgeschichte, sowie der Kulturwissenschaft und Philosophie. Durch die enge Kopplung des Gedächtnistheorems an die Identitätsentwicklung und den Bildungstopos werden außerdem Ansätze aus der Pädagogik hinzugezogen. Fernsehen, dieser kumulativen These ist entsprechend nachzugehen, ist seit Start des regelmäßigen Programmbetriebs nach dem Zweiten Weltkrieg und seiner rasanten Verbreitung weit mehr als ein Gedächtnismedium im traditionellen Sinne: Mit Konzentration auf Deutschland und den nordamerikanischen Raum soll analysiert werden, inwiefern Fernsehinstitutionen, -technologien, -inhalten und -rezeptionsweisen in der Vielfalt ihrer Formen und Ausprägungen Gedächtnisrelevanz zugeschrieben werden kann, und dies im positiven, also konstruktiv befördernden, aber auch im negativen, störenden bzw. hinderlichen Sinne. Dabei wird es freilich auch um Vergangenheitsdarstellungen im Fernsehen gehen, doch ist dies im Gegensatz zum Fokus des Gros der Forschungsliteratur nur ein Teilaspekt, der bei der Diskussion der Gedächtnisrelevanz eines so ubiquitären und tief in den Sozialstrukturen und der Mentalitätsgeschichte von Generationen verwurzelten Mediums zum Tragen kommt. Die Aufnahme Nordamerikas in die Analyse erfolgt unter anderem aufgrund der starken US-amerikanischen Einflüsse auf die deutsche Fernsehkultur, die Programmgestaltung, aber auch die (kommerzielle) Fernsehwirtschaft. Dass neben dem primären Analysefokus auf Deutschland und die USA auch Kanada in die gedächtnisbezogene Analyse des Fernsehens mit einbezogen wird, liegt zum einen in der starken Präsenz US-amerikanischer Programmanbieter auf dem kanadischen Fernsehmarkt begründet, zum anderen bildet dies die gedächtnistheoretische Grundlage für die empirische Untersuchung der Konsequenzen, die sich aus der Diskussion televisueller Gedächtnisrelevanz für die Sammlung, Bewahrung und Zugänglichmachung historischer Fernsehüberlieferungen ergeben, also für die originären Handlungsfelder der Fernseherbe-Verwaltung: In den USA und Kanada sind die längsten, zahlreichsten und vielseitigsten Maßnahmen in diesem Feld festzustellen. Der Diskurs über Pflichten, Mängel und Möglichkeiten dieses Aufgabenbereichs findet jedoch gemeinhin unter weitgehendem Ausschluss der allgemeinen Öffentlichkeit auf fachbezogener und institutionell verhafteter Verbandsebene statt: in Deutschland in erster Linie im Verein für Medieninformation und -dokumentation (VFM), der sich auf Wissens- und Erfahrungsaustausch von Medienarchivaren sowie deren Weiterbildung konzentriert, in den USA und Kanada unter anderem in der Association of Moving Image Archivists (AMIA) und auf internationaler Ebene durch die Fédération Internationale des Archives de Télévision (FIAT). Die Archivierungsverbände fungieren zum Teil auch als Anlaufstellen und Plattform für den fachlichen Austausch über Fragen der Konservierung für Akteure aus anderen Bereichen der Fernseherbe-Verwaltung wie aus Bibliotheken, Mediatheken und Museen. Das große Ganze gerät dabei aber nur selten in den Blick. Was bisher fehlte, war eine breite empirische Untersuchung der übergreifenden Probleme und Potenziale der Fernseherbe-Verwaltung. Wenige Publikationen in Deutschland

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I. Einleitung

und Nordamerika haben sich mit den Belangen der Fernseharchivarbeit beschäftigt: So leistete Susanne Poliert einen wichtigen Beitrag zur Beschreibung der Arbeitsgrundlagen von Film- und Fernseharchiven in Deutschland (Poliert 1996), Sam Kula gelang selbiges für den angloamerikanischen Raum (Kula 1983,2003). Und obwohl der Fernseharchivar des British Film Institute Steve Bryant in einer seltenen Mahnschrift schon Ende der 1980er Jahre auf die schwierige Situation der Fernseherbe-Verwaltung unter archivischen Gesichtspunkten aufmerksam machte (Bryant 1989), ist noch kein Autor einer integrativen Perspektive einer Gesamtthematisierung der Verwaltungspraxis in Archiven, Bibliotheken, Mediatheken und Museen gefolgt. Weithin unberücksichtigt blieben Einrichtungen, welche sich dem Fernseherbe angenommen haben, um die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Mediums zu thematisieren, auch in der Museologie, abgesehen allenfalls von einzelnen kurzen und nicht strikt museumswissenschaftlichen Anmerkungen, die eher grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Museen und Fernsehen stellten (vgl. Silverstone 1994b; Huyssen 1995; Holdsworth 2008). Als gravierend ist das nur schwach ausgeprägte fachliche Interesse eben jener Wissenschaftsbereiche an den Problemen der Archivpraxis einzustufen, die auf eine funktionierende Verwaltung des Fernseherbes angewiesen sind, wenn sie sich mit der Medienkultur des 20. und 21. Jahrhunderts befassen und hierfür Primärquellen aus der Fernsehgeschichte hinzuziehen möchten. Zwar entstanden vereinzelt kompakte Übersichtsbände (vgl. Godfrey 1992; Schütte 1996; Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 2004), diesen gelang es jedoch nicht, eine diskursive Verschränkung des kulturwissenschaftlich besetzten Themenfelds Gedächtnis und Medien mit den praktischen Gegebenheiten und Machbarkeiten der Fernseherbe-Verwaltung herbeizuführen. Die in der vorliegenden Arbeit verfolgte interdisziplinäre Problemstellung hat eben dies zum Ziel: zwischen Medientheorie und Kulturpraxis neue Zusammenhänge zu knüpfen und mittels einer internationalen Betrachtung nicht nur wichtige Erkenntnisse über die massenmedial geprägten Erinnerungskulturen in den USA und in Deutschland zu gewinnen, sondern auch Gemeinsamkeiten im Umgang mit dem televisuellen Kulturerbe herauszuarbeiten. Verwertbare Ergebnisse verspricht hier vor allen Dingen ein empirisches Untersuchungsdesign, das es ermöglicht, Soll- und Ist-Zustände, um nicht zu sagen: Wunsch und Wirklichkeit, bei der Erfassung, Sicherung und Zurverfügungstellung von Zeugnissen der Fernsehvergangenheit miteinander zu vergleichen. Insbesondere die Arbeit von Fernsehmuseen als der allgemeinen Öffentlichkeit gegenüber im kulturellen Dienst stehende Gedächtnisorganisationen wird einer eingehenden Analyse unterzogen, die essentiellen Fragen nach Art und Weise der erinnerungsspezifischen Funktionalisierung televisueller Topoi folgt. Die daraus gewonnenen Ergebnisse sollen neben den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnen auch als konstruktive Handlungsempfehlungen für die Arbeit von Fernseharchiven und Fernsehmuseen in Deutschland wie auch Nordamerika dienen.

1.4. Aufbau der zweistufigen

4.

Untersuchung

27

Aufbau der zweistufigen Untersuchung

Um den Funktionalitäten und Dysfunktionalitäten der Gedächtnismaschine Fernsehen auf den Grund zu gehen (Stufe 1) und im Anschluss auf Basis einer empirischen Untersuchung der Fernseherbe-Verwaltung in Nordamerika und Deutschland Schlussfolgerungen für normativ geleitete, aber auch auf praktische Gegebenheiten reagierende Strategien für dieselbe zu ziehen (Stufe 2), wird in der vorliegenden Arbeit ein weiter Bogen gespannt. Die Struktur der vorliegenden Arbeit folgt einem fünfgliedrigen Aufbau: Nach der Einleitung (Teil I) bildet ein Überblick über die wesentlichen Forschungs- und Theoriefelder der in weiten Teilen unabhängig voneinander arbeitenden Gedächtniswissenschaften den Ausgangspunkt (Teil II). Es folgt eine systematische theoretische Analyse des Fernsehens seit der Aufnahme des kontinuierlichen Sendewesens nach 1946 in Nordamerika und nach 1952 in Deutschland4 als institutioneller, habitueller, gemeinschaftlichsozialer, technologischer, wirklichkeitsmodellierender, pädagogischer, künstlerischer und nicht zuletzt geschichtsvermittelnder Faktor des Erinnerns und Vergessens (Teil III). Anschließend wird aufbauend auf die dabei gewonnenen theoretischen Erkenntnisse der Status Quo und Potenziale bei Verwaltung und Nutzung von Zeugnissen der Fernsehgeschichte anhand einer breiten qualitativen empirischen Erhebung untersucht (Teil IV). Das Resümee der Arbeit bildet eine Zusammenfassung der schwerwiegendsten Probleme und aussichtsreichsten Trends bei der Funktionalisierung des Fernseherbes im Rahmen der öffentlichen Erinnerungsarbeit, wonach auch ein Ausblick gewagt wird, mit welchen Strategien speziell Fernsehmuseen in Zukunft ihren Aufgaben besser als bisher begegnen können (Teil V). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die theoretische Analyse des Fernsehens als Faktor der gesellschaftlichen Erinnerung mit Fokus auf die Genese des audiovisuellen Leitmediums in Deutschland und Nordamerika folgende Schritte umfasst: - Erfassung der gedächtnisbezogenen Theoriebildung in allen wesentlichen Disziplinbereichen -

Erweiterung des Blickfeldes durch die Betrachtung des Fernsehens als Gedächtnismedium

-

Fundierung des Diskurses anhand einer differenzierten theoretischen Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken televisualisierter Erinnerungskulturen.

4

In den USA hatte es bereits seit den 1920er Jahren experimentelle Sendeversuche gegeben. Die eigentliche .Geburt' des US-amerikanischen Fernsehens kann aber auf das Jahr 1946 datiert werden, als die National Broadcasting Company (NBC) ihren Rundfunk-Dienst aufnahm und in den Folgejahren die anderen großen Programmveranstalter ABC und CBS dazu kamen. Im Nachkriegsdeutschland begann in West und Ost der Sendebetrieb im Dezember 1952, doch schon im .Dritten Reich' war von 1935 bis 1944 in Berlin das weltweit erste regelmäßige Fernsehprogramm ausgestrahlt worden. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich jedoch auch in Bezug auf Deutschland gezielt auf die Fernsehentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Ende durch die staatliche Neuordnung und den Wiederaufbau eine radikale Zäsur darstellte.

28

I. Einleitung

Die Klärung der bereits begrifflich unbestimmten Gedächtnisrelevanz des Fernsehens setzt eine eingehende Klärung der bestehenden Terminologien und theoretischen Auffassungen von Gedächtnis voraus. Um ein differenziertes Verständnis von Gedächtnis auf der einen Seite als Oberbegriff für Strukturen, welche Erinnerung erst ermöglichen und Vergessen zulassen, und auf der anderen von Erinnerungen als konkrete Konstruktionsprozesse in der Gegenwart zu erhalten, werden zunächst die neurobiologischen und psychologischen Grundlagen des menschlichen Gedächtnisses erörtert (Kapitel II.l.Π.7.). In der Vorausschau auf mögliche Anknüpfungspunkte bei der Einordnung des Fernsehens in den gedächtnistheoretischen Zusammenhang wird insbesondere einzugehen sein auf die Rolle von Gefühlen bei der Erinnerungsleistung (hinführend zur späteren Frage, inwiefern emotionale Fernseherlebnisse stärkere Erinnerungen hervorrufen) sowie auf die kognitive Architektur autobiographischer Erinnerungszusammenhänge, die später Schlüsse zulassen über die Stärke televisueller Einflüsse bei der Bildung der eigenen Identität und Lebenserzählung. Mit den sozialen Dimensionen des Gedächtnisses werden im Folgenden teils komplexe Theoriemodelle vorgestellt, die sich trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze in einem wesentlichen Merkmal gleichen: Ob von „kollektiven Gedächtnissen" (Kapitel II.8.1.), von einem „sozialen Gedächtnis" der Kunst (Kapitel H.8.2.), von einem „sozialen Gedächtnis" als nicht-intentionale Vergangenheitsvermittlung (Kapitel H.8.5.), von „Erinnerungsorten" (Kapitel II.8.3.) oder letztlich vom populären Begriff des „kulturellen Gedächtnisses" (Kapitel II.8.4.) gesprochen wird, handelt es sich doch immer um den Versuch, soziokulturelle Rahmungen, Prinzipien und Mechanismen des Erinnerns und Vergessens in teil- oder gesamtgesellschaftlichen Kontexten mittels einer metaphorischen Annäherung an die kognitionspsychologische Begriffssetzung zu umschreiben. Inwiefern diese Metaphern zielführend sind bei der Untersuchung zeitgenössischer (massenmedialer) Erinnerungsmodalitäten und Erinnerungspraktiken oder dieser eher im Weg stehen, wird in einer bewertenden Zusammenfassung zu hinterfragen sein, die gleichzeitig den Startpunkt eines Argumentationsbogens setzt, der sich am Ende der nachfolgenden Mediumsanalyse schließt, wo resümierend die Kontroverse um eine angebliche unter anderem durch das Fernsehen verursachte bzw. vorangetriebene „Gedächtniskrise" als diskutable Chance für die Erinnerungsarbeit re-perspektiviert wird (Kapitel III. 10.). Ein Ziel der Analyse wird weniger sein, „Strukturen auf Seiten der Subjekte und Strukturen auf Seiten der Technik miteinander zu verbinden" (Winkler 1998, 130), sondern diese per gedächtnistheoretischer Kontextualisierung miteinander in Bezug zu setzen. Nach der Bestimmung der verschiedenen Bedeutungs- und Funktionsebenen des Fernsehbegriffs, die an das Problem ausgewogener oder disjunktierter Kommunikations- und Tradierungsqualitäten von Gedächtnismedien anschließt (Kapitel III.L), wird zunächst die Meta-Ebene der Grundlinien administrativer Rahmenbedingungen in nationalstaatlichen bzw. gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen untersucht. Die Intentionen, die mit der Einführung des Fernsehens einhergingen, werden auf ihre Relevanz für den Gedächtnisdiskurs geprüft, wobei die demokratiestärkenden und -sichernden Funktionen

1.4. Aufbau der zweistufigen

Untersuchung

29

des Fernsehens als Instrument und Grundpfeiler der gesellschaftlichen Selbstverständigung im Vordergrund stehen, auch hinsichtlich der Frage, wie weit der öffentliche Auftrag der Fernsehveranstalter in Form einer „Grundversorgung" der Zuschauer diesseits und jenseits des Atlantiks formuliert wurde und auch eingehalten werden konnte (Kapitel III.2.). Auf die strukturellen Bedingungen der Institutionalisierung (und Deinstitutionalisierungstendenzen) des Fernsehens baut die Frage nach der eigentlichen Nutzungsrelevanz und den konkreten Maßnahmen auf, die seitens der Zuschauerschaft unternommen wurden und werden, um das Fernsehen in ihren Alltag und Lebenslauf zu integrieren. Inwieweit kann von regelmäßiger, routinierter Fernsehnutzung auf die bewusste oder ausbleibende Wahrnehmung der Medialität des Fernsehens geschlossen werden? Welche Erkenntnisse liefert die medienbiographische Forschung? Wann erinnert sich der Zuschauer nur an den Programminhalt und wann auch daran, wie er rezipiert wurde, nämlich durch das Fernsehen? Ob das Fernsehen hinter seinen Inhalten verschwindet oder erst als mediale Vermittlungsinstanz erkennbar wird, sagt viel darüber aus, inwiefern divergente Bewusstseinsmodi auf Seiten der Rezipienten Erinnerungen an das Fernsehen bestimmen (Kapitel III.3.). Anschließend werden drei signifikante Formen der Gemeinschaftsnutzung von Fernsehen näher beleuchtet: Gefragt wird nach televisuell geprägten Gemeinschaftsformen und Kollektivierungsprozessen sowie den konkreten Auswirkungen auf Gedächtnisbelange, die auf die integrativen Bindungs- und Versammlungsstärken des Fernsehens zurückgeführt werden können. Am Beispiel familiärer Fernsehrezeption, des fernsehgeleiteten Zusammenfindens von Fans und eher zufälligen und zeitlich begrenzten Vergemeinschaftungsformen rund um das Fernsehen im öffentlichen Raum werden grundsätzliche Prinzipien der Bildung kollektiv geteilter (Fernseh-) Erinnerungen geklärt (Kapitel III.4.). Der Nutzerattraktivität geht auch der folgende Teil der Untersuchung nach, wendet sich aber speziell dem Zusammenhang zwischen der Effizienz visueller Wahrnehmung und Erinnerungsfähigkeit einerseits und den technologischen Verdichtungstendenzen der Fernsehentwicklung andererseits zu. Besprochen werden Thesen, welche die Beschleunigung des Lebenswandels unter anderem auf die Erfolgskarriere des Fernsehens zurückführen, darin jedoch eine zunehmende Überlastung des Nutzers erkennen, was unter anderem negative Folgen für die Erinnerungsleistung impliziert. Gleichwohl kommen auch Strategien und technische Hilfsmittel zur Sprache, die in ihrer Steuerungs- und Speicherfunktion zur Kompensation kognitions- bzw. gedächtnishemmender Merkmale wie zum Beispiel der Beschleunigung der Fernsehübertragung, der Programmgestaltung oder auch der Nutzung selbst eingesetzt werden können (Kapitel III.5.). Als zentral für die Aufnahmefähigkeit des Zuschauers kann das Interesse und Vertrauen in Fernsehprogramminhalte gelten. Der vielgliedrige Bereich der Glaubwürdigkeitszuschreibung betrifft den Kern des Fernsehens als Generationen und Bildungsschranken überwindende Vermittlungsagentur von Wirklichkeit bzw. das, was dafür gehalten wird. Die Auseinandersetzung um die vermeintliche Authentizität von Fernsehbildern berei-

30

I. Einleitung

tet das Fundament für die Akzeptanz und die Erinnerung an all oder vieles dessen, was auf diversen Kanälen dargeboten wird. Dies ist sowohl abhängig von der persönlichen, vor allem auch emotionalen Nähe des Rezipienten zum jeweiligen Programminhalt, als auch von den Authentifizierungsstrategien der Fernsehveranstalter. Diese setzen bei der Kommunikation von faktischen Inhalten in erster Linie auf genuine Nachrichtenund Informationsformate, wobei auch diese freilich nicht vor Fehlern oder Manipulationsversuchen gefeit sind und damit Skandale heraufbeschwören können, welche die Glaubwürdigkeit eines Senders nachhaltig erschüttern können. Dies hat indes ganz eigene Konsequenzen für die Erinnerungswürdigkeit eines Programminhalts, ebenso wie andere, dem Unterhaltungssektor zuzuordnende non-fiktionale Angebotsformen wie Reality TV weniger den Intellekt als vielmehr die Gefühle der Zuschauer ansprechen und auf diese Weise Gedächtnisrelevanz entwickeln. Ein wiederum anderes Beispiel für die Glaubwürdigkeit von Fernsehinhalten mit großer Tragweite sind Medienereignisse und ihre nachhaltigen Auswirkungen auf Erinnerungskonstruktionen, derer sich sogar ein eigener Forschungszweig innerhalb der psychologischen Gedächtnisforschung unter dem Begriff „Blitzlichterinnerungen" widmet. Wie sehr die Authentizitätsvermutung bei der Rezeption von Fernsehprogramminhalten aber auch in die Irre führen kann, wird abschließend untersucht (Kapitel III.6.). Die nachfolgenden drei Analyseteile greifen jeweils unterschiedliche Streitfragen auf, welche zum problematischen Status des Fernsehens innerhalb des kulturellen Medienkanons in Opposition gerade zu schriftlichen Werken beigetragen haben. Zunächst wird die Rolle des Fernsehens als alternatives Bildungsinstrument erörtert, das angesichts der sich haltenden (Vor-) Urteile, es handle sich primär um ein so genanntes .Verblödungsmedium, Schwierigkeiten hat, seine tatsächlichen Vorteile bei der Bereicherung der Persönlichkeitsentwicklung herauszustellen (Kapitel III.7.). Ähnliche Probleme bereitet die Akzeptanz des Fernsehens als künstlerisches Ausdrucksmittel, das sich der hochkulturellen Weihen etablierter Deutungshegemonien eben nicht sicher sein kann, sondern nach einer Findungsphase erfolgreich eine eigene Ästhetik sowie einhergehende Distinktionsmodi entwickeln musste. Dies führte in den USA und Deutschland zu ganz unterschiedlichen Ausprägungen einer eigenen künstlerischen Identität innerhalb bestimmter Genres, gezeigt am Beispiel der Formelhaftigkeit US-amerikanischer .Qualitätsserien und der Fernsehspieltradition in Deutschland, welche sich je spezifisch um die Bereicherung der Erinnerungskultur(en) im Laufe der Zeit verdient gemacht haben (Kapitel III.8.). Als Abschluss der theoretischen Analyse wird das Geschichtsfernsehen als Kristallisationspunkt der Kritik am audiovisuellen Leitmedium einer eingehenden Diskussion unterzogen. Wie übersetzt, inszeniert, spektakularisiert oder imitiert Fernsehen bisweilen auch die Vergangenheit und schafft dadurch möglicherweise neue Zugänge? Welche Rolle spielt dabei die Wiedergabe von Erinnerungen zum Beispiel von Zeitzeugen? Und welche Stellung kommt der Fernsehgeschichte dabei selbst zu? Leitend ist hierbei die Frage, inwiefern die Ressentiments anhand der Formen und Ausprägungen televisueller Geschichtsdarstellungen nachvollzogen werden können und ob tatsächlich von einer

1.4. Aufbau der zweistufigen

Untersuchung

31

Kausalität zwischen einer vermuteten ,Erinnerungslosigkeit' und den mutmaßlich inadäquaten Leistungen des Fernsehens als Vermittler historischer Sachverhalte ausgegangen werden kann. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Funktion des Fernsehens als Prägeinstanz von Vergangenheitserfahrungen zur Folge und liefert einen Hinweis auf die immense Verantwortung von Fernsehschaffenden in ihrer Aufklärungsfunktion bei der Aufbereitung von Geschichtsbildern für ein Massenpublikum, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die eigene Fernsehgeschichte, die im Sinne eines Wieder-Holens nur in Form einer iterativen Verzerrung möglich zu sein scheint (Kapitel III.9.). Die Schlüsse, die aus dieser mit mehreren untereinander korrespondierenden und aufeinander aufbauenden Analyseschwerpunkten arbeitenden Bestimmung der Gedächtnisrelevanz des Fernsehens gezogen werden können, bereiten die Grundlage für die zweite Stufe der Untersuchung. Diese beschäftigt sich mit den daraus folgenden Konsequenzen für die strukturellen und organisatorischen Maßnahmen, die ergriffen wurden, um das Erbe des Fernsehens selbst in seiner Überlieferungsvielfalt zu erfassen, zu schützen und einer (Wieder-) Benutzung zuzuführen (Teil IV und V). Diese Untersuchung basiert auf den Ergebnissen einer empirischen Methodentriangulation, zu der unter anderem leitfadengestützte Interviews mit Experten aus verschiedenen Bereichen der Fernseherbe-Verwaltung gehören (Kapitel IV.l.). Die empirische Untersuchung der FernseherbeVerwaltung in Deutschland und Nordamerika unter besonderer Berücksichtigung der Arbeit von televisuellen Gedächtnisorganisationen, also vorrangig sendereigenen sowie öffentlichen Fernseharchiven und Fernsehmuseen, umfasst folgende Elemente: -

Zustand analysieren: Die Kategorisierung von Problemfeldern und die Erörterung von Alternativen setzt die Erfassung des aktuellen Status Quo der Fernseherbe-Verwaltung voraus.

-

Probleme identifizieren: Politische, rechtliche und wirtschaftliche Imperative schränken die Möglichkeiten der Fernseherbe-Verwaltung empfindlich ein.

-

Strategien problematisieren: Mittel und Wege der Auswahl, Sicherung und Zugänglichmachung von Fernsehüberlieferungen werden hinterfragt.

-

Lösungsoptionen diskutieren: Alternative Maßnahmen und Vorgehensweisen bei der Bewahrung und Funktionalisierung werden besprochen.

-

Vorschläge formulieren: Auf Grundlage der Analyseergebnisse werden Handlungsempfehlungen gegeben, die konkrete Verbesserungspotenziale benennen.

Ausgehend von einer kurzen Begriffsklärung bezüglich der drei Gedächtnisorganisationen Archiv, Bibliothek/Mediathek und Museum (Kapitel IV.2.1.) werden an der letztlich nicht von Erfolg gekrönten Entwicklungsgeschichte des Projektes „Deutsche Mediathek" zur Gründung einer unabhängigen Institution, welche einmal gesendetes Fernsehprogramm-Material auch nach seiner Ausstrahlung zu Bildungszwecken für eine breite Nutzerschaft sichern und verfügbar halten sollte, die wesentlichen Hindernisse bei der Errichtung und dem Betrieb televisueller Gedächtnisorganisationen erörtert (Kapitel IV.2.2.). Das Scheitern des Mediathekprojektes zeichnet den Grundriss eines vernach-

32

I. Einleitung

lässigten Bereichs der Kulturerbe-Verwaltung, der nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA und Kanada, wo sich ein vergleichsweise reges Feld an gemeinnützig orientierten institutionellen Bewahrungsvorrichtungen herausbildete (Kapitel IV.2.4.), mit einer gleich auf mehreren Ebenen problematischen Ausgangslage zu kämpfen hat: In welcher Weise sich medien- und kulturpolitische Rahmenbedingungen (Kapitel IV.2.3.) und die Rechtslage (Kapitel IV.2.5.) in den untersuchten Staaten auf die Gestaltungsmöglichkeiten der betroffenen Einrichtungen niederschlagen, bedarf ebenso einer Klärung wie die Finanzierungs- und Fördersituation für entsprechend ausgerichtete Kulturarbeit (Kapitel IV.2.6.). Die strukturelle Ausgangslage kann bereits als Gradmesser bewertet werden für die Leistungsfähigkeit der Fernseherbe-Verwaltung in den einzelnen organisatorischen Zusammenhängen, in welchen die Akteure mit jeweils unterschiedlichen Anweisungen, Ausstattungen und Allokationshierarchien innerhalb des Gefüges wirtschaftlicher und gemeinnütziger Interessen zurechtkommen müssen, ohne ihren eigentlichen Auftrag zu vernachlässigen. Dieser Auftrag lässt sich im Kern mit der Sammlung, Bewahrung und Bereitstellung von Fernsehüberlieferungen beschreiben. Mit welchen Strategien die in der Analyse berücksichtigten Archive, Bibliotheken und Museen Material auswählen, um es in ihre Bestände einzupflegen, wird als erstes untersucht. Dabei werden Akquisemethoden, Auswahlkriterien und die Aufstellung der Sammlungseinrichtungen insgesamt innerhalb des Konzerts an produktionsbezogenen und öffentlich-kulturellen Sammlungsinteressen kategorisiert und mit dem übergeordneten Gedächtnisbezug des Sammlungsprozesses relationiert (Kapitel IV.3.1.). Im nächsten Schritt kommen die Bewahrungsmaßnahmen in erster Linie der Archivabteilungen der Fernsehsender auf den Prüfstand, da sie die Hauptlast des Überlieferungsaufkommens verwalten. Während hierbei vor allem technologische Aspekte eine Rolle spielen, um das flüchtige Fernsehsignal auf möglichst sicheren Trägern langfristig zu speichern, zeigen sich hier jedoch auch gravierende Mentalitätsdiskrepanzen bei der Wertschätzung televisueller Überlieferungsbereiche, welche wiederum Rückschlüsse zulassen auf die Folgen einer möglichen Unterschätzung der kulturellen Signifikanz des Fernsehens (Kapitel IV.3.2.). Dies führt im Weiteren zu den Zugangsmöglichkeiten, die unterschiedlichen Nutzergruppen zur Verfügung stehen, um das Fernseherbe in seiner inhaltlichen und gattungsspezifischen Vielfalt zu funktionalisieren. Aufschluss geben an dieser Stelle mannigfaltige Durchsetzungs- und Ausweichstrategien seitens eben dieser - meist wissenschaftlichen oder journalistischen, aber auch privat interessierten - Nutzer, welche die bestehenden Zugangsangebote als allzu eingeschränkt wahrnehmen und sie daher entweder die sich vor ihnen auftürmenden Hürden zu überwinden suchen oder neue Zugangsstrukturen beispielsweise durch Selbstversorgung an Universitäten oder im Internet etablieren (Kapitel IV.3.3.). In den Schlussfolgerungen der Analyse der drei zentralen Aufgabenbereiche der Fernseherbe-Verwaltung werden jeweils die herausgearbeiteten Widersprüche zwischen den normativen Leitlinien der Fernseherbe-Verwaltung unter gedächtnistheoretischer

1.4. Aufbau der zweistufigen

Untersuchung

33

Maßgabe und der tatsächlichen praktischen Umsetzung zusammengefasst und Verbindungen zu den übrigen Problembereichen geknüpft. Die empirische Untersuchung schließt mit einer detaillierten Hinwendung zum Organisationstypus des Fernsehmuseums, der in seiner konzeptionellen Ausrichtung weithin unscharfe Konturen aufweist (Kapitel IV.4.). Zuerst wird es daher nötig sein, die medientheoretische Beziehung zwischen dem manifesten Museums- und dem ätherischen Fernsehcharakter zu klären, um daraus grundlegende Diskrepanzen, aber auch überraschende Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zu bestimmen (Kapitel IV.4.1.). Übergreifend wird im Folgenden ergründet, welche klassischen und innovativen musealen Bildungsstrategien in Fernsehmuseen zur Anwendung kommen, um Erinnerungsarbeit mit gesamtgesellschaftlicher Ausrichtung nicht nur mit, sondern auch über das Fernsehen und die Publikumserfahrungen damit zu gestalten (Kapitel IV.4.2.). Schlussendlich werden diese allgemein diskutierten Möglichkeiten der Adressierung und der Engagierung von Besuchern anhand der institutionellen Genese und Schwerpunktsetzung von insgesamt acht Fernsehmuseen in den USA, Kanada und Deutschland konkretisiert, wodurch die je differenten Stärken und Schwächen der Einrichtungen zum Vorschein kommen (Kapitel IV.4.3.). Wie ein Fernsehmuseum der Zukunft konkret aussehen könnte, wird in der bewertenden Zusammenfassung der vorliegenden Arbeit zwar nicht envisioniert, weil, wie sich zeigen wird, ein solcher Versuch immer in Generalisierungen und der Missachtung lokaler und speziell kultureller Spezifitäten münden muss. Allerdings werden Handlungsoptionen vorgeschlagen, welche Wege für eine Bereicherung der fernsehmusealen Arbeit, eine Kompensation von Versäumnissen und eine Linderung von Problemen aufzeigen können, die vielen Akteuren in der Fernseherbe-Verwaltung - den metaphorischen Hütern des Fernsehgedächtnisses - als schier unlösbar erscheinen. Dies ist umso wichtiger, weil die benannten Problembereiche die Erinnerungspotenziale des Fernsehens empfindlich einschränken und damit auch die Erinnerung des individuellen Rezipienten und der Gesellschaft, die sich im Fernsehen schon immer und immer wieder gerne wiederfand, an sich selbst.

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

Das Gehirn lag in einer Plastikbox, war grau und schwabbelig und stank entsetzlich nach Formaldehyd. Das also war ein Mensch, dachte ich. Und ich fragte mich, ob das, was man hinterher unter den Fingernägeln hat, vielleicht der Sitz einer ganz besonderen Erinnerung war. " - Susan Greenfield, Neurowissenschaftlerin (Greenfield 2007:23)

1.

Vom Container zum multimodalen Gedächtnis

Die Frage, worum es sich bei Gedächtnis handelt, führt zwangsläufig zu der Beschäftigung mit seiner Verortung. Die Auffassung, es gebe einen oder mehrere Orte, das heißt Zentren für die Speicherung von Gedächtnisinhalten, erwies sich schon bald als nicht tragfähig. Ursprünglich hatten Untersuchungen an Nervenzellen den Schluss nahe gelegt, dass einzelne Neuronen als Ort für die Speicherung von Informationen fungieren würden. Entsprechend der altertümlichen Vorstellung einer Wachstafel wurde angenommen, dass Abbilder der Informationen zum Beispiel eines Gesichts in Form von Engrammen ins Gehirn eingeschrieben werden, so dass die betreffende Nervenzelle allein auf diesen Reiz und keinen anderen reagiert (Markowitsch 2002: 74). Doch führte die Suche nach diesen spezialisierten Neuronen, umgangssprachlich als „Großmutterneuron" benannt, das für die Erkennung der Großmutter einer Testperson zuständig sein sollte, langfristig zu unbefriedigenden Ergebnissen. Das Wissen ist also weder in einzelnen Nervenzellen gespeichert noch wird es in Form von „Gedächtnisschubladen" (Markowitsch 2002: 75) aufbewahrt. Hejl machte auf die Problematik der damit einhergegangenen Annahme einer Analogie zwischen Computer(programm)prozessen und dem Gehirn aufmerksam, da das Speichermodell angesichts der menschlichen Fähigkeit, Gedächtnisinhalte innerhalb von Bruchteilen von Sekunden zu aktualisieren, schon von daher nicht operabel sei, weil hierfür bei der bekannten Übertragungsgeschwindigkeit neuronaler Bahnen erheblich längere Zeiten angenommen werden müssten (Hejl 1996: 293-295, 300-301). Es sei

II.l. Vom Container zum multimodalen

Gedächtnis

35

unverständlich, wo das nach dem Speichermodell latent präsente Wissen deponiert sein sollte, um einerseits die Organisation des Gedächtnisses zu ermöglichen, andererseits die Eigenart jeglichen eingehenden Inputs ermitteln zu können. Eben daher sei es nicht angebracht, von einer Aufbewahrung von „Erfahrungen, Gelerntem etc. als figürliche oder sprachliche Abbildungen im Gehirn" (ebd.: 300) auszugehen. Das Gehirn als Aufbewahrungsort bzw. als eine Art Container für informationelle Lagergüter ist zwar eine stark simplifizierende Metapher, doch eine Speicherung im Sinne einer „Ablegung eines Datensatzes" wegen der ungeheuren Komplexität der im Gehirn zu verarbeitenden Informationen und der dafür notwendigen Suchmechanismen unmöglich. Maturana schlussfolgerte dementsprechend: „Ein Gedächtnis als einen Speicher von Repräsentationen der Umwelt, die für verschiedene Gelegenheiten abgerufen werden können, gibt es als neurophysiologische Funktion nicht" (Maturana 1998: 65). Mesulam brachte es bildlich auf den Punkt: „The brain does not function as a camcorder to capture replicas of individual events and store them at unique locations" (Mesulam 1985: 382). Das Speicher-Modell ist auch deshalb nicht haltbar, weil es die omnipräsente Beteiligung von Gedächtnisinhalten an kognitiven Prozessen verkennt. Hebb schlug daher alternativ zum Verständnis des Gedächtnisses als Speichereinheit vor: „We avoid all such improbabilities by thinking in terms of behavior, of paths in the C[entral ]N[ervous ]S[ystem] that have been changed by the learning process, and of the permanence of these changes"(Hebb 1966: 121). Der amerikanische Hirnphysiologe Karl Spencer Lashley erteilte bereits 1950 mit seinem Aufsatz „In search of the engram" einer strengen Lokalisation des Gedächtnisses eine Absage, indem er einräumte, bei seinen Experimenten mit Ratten keine schlüssigen Beweise für die Existenz von klar lokalisierten Engrammen ermittelt zu haben (Lashley 1950: 478). Er zeigte, dass eine nahezu vollständige Zerstörung eines bestimmten Hirnzentrums wie des Cortex die Lern- und Gedächtnisleistung nicht sonderlich beeinträchtigt, demgegenüber aber die Schädigung mehrerer Hirnareale durchaus diesen Effekt zur Folge haben kann. Er befand mit seiner Konklusion, dass womöglich der gesamte zerebrale Cortex an der Gedächtnisleistung beteiligt sei: „The memory trace is located in all parts of the functional area; that various parts are equipotential for its maintenance and activation" (Lashley 1950:469). Dieses mit dem Begriff Äquipotenzialität („Equipotential Processes"), Massenaktion („Mass Action") bzw. Massenbahnung („Mass Facilitation") bezeichnete Prinzip des verteilten Gedächtnisses beschreibt, dass verschiedene Regionen des Cortex Gedächtnisfunktionen übernehmen. Als Weiterentwicklung von Lashleys Gedanken ging Pribram davon aus, dass das menschliche Gedächtnis in Form eines Hologramms organisiert sei, also überall im Gehirn zu gleichen Teilen präsent sei und keine einzelne Region allein und unabhängig von anderen die Gedächtnisfunktionen übernehmen könne (Pribram/Nuwer/Baron 1974; Pribram 1991). Diese Auffassung der Gedächtnisorganisation hat sich im Laufe der Zeit durch zahlreiche neue Untersuchungsmethoden am Menschen als antiquiert erwiesen und ist einem Modell räumlich-zeitlicher Aktivitätsmuster zwischen verbundenen Nervenzellen gewichen (Laroche 2005:

36

II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns

und

Vergessens

20). Engramme werden nicht mehr als „lokale Einschreibungen" bzw. „photographische Abbilder" verstanden, sondern vielmehr als „dynamische Entitäten" (Markowitsch 2002: 109), die auch als Gedächtnisspuren bezeichnet werden (Schermer 2006: 167). Obwohl das Speichermodell mittlerweile als verworfen gilt, gibt es noch keinen wissenschaftstheoretischen Nachfolger (Hejl 1996: 295). So ist beispielsweise der Konnektionismus (vgl. Rumelhart/McClelland 1986) mit seinem Netzwerkparadigma wenig konkret und sorgte eher für eine Vervielfachung der Gedächtniskonzepte als für eine Präzisierung des Begriffs. Konnektivistische Gedächtnismodellierungen gehen davon aus, dass verschiedene Hirnstrukturen an Gedächtnisleistungen beteiligt sind und bei Erinnerungsprozessen zuvor „gebahnte" Erregungsmuster im Nervensystem aktiviert werden. Lashleys These, dass die Assoziationsmechanismen (vgl. Rosier 1997: 110) des Gehirns besser in den dynamischen Beziehungen des Nervensystems zu suchen seien als in seinen strukturellen Abgrenzungen, ist somit aktueller denn je (Lashley 1929: 176). Wie Markowitsch zusammenfasst, gehen alle derzeitigen Modelle der Informationsverarbeitung im Gehirn davon aus, dass erst durch die enge Verwobenheit und den Austausch zwischen den Hirnregionen Informationen entstehen und die Stärke der jeweiligen neuronalen Verbindungen von ihrer Stabilität abhängt, was wiederum davon beeinflusst wird, wie häufig sie benutzt werden (Markowitsch 2002:109). Bei der Enkodierung und bei der Konstruktion von Erinnerungen handelt es sich also um kollektive Prozesse, bei denen verschiedene Nervenzellen interagieren (Haken 1996: 200). Ein kompakter Überblick über die Funktionsweise neuronaler Verbindungen bei der Informationsverarbeitung findet sich bei Rosier: „Ein Erregungsmuster wird entweder extern durch Reize aus der Umwelt oder intern durch bereits vorliegende Aktivierungsmuster getriggert. [...] Beim Suchen im Gedächtnis aktiviert ein Muster, das vom Hinweisreiz ausgelöst wird, andere Erregungsmuster, die zuvor raumzeitlich gekoppelt mit diesem Muster aufgetreten sind. Zielgerichteten Handlungen und anderen kognitiven Leistungen entsprechen somit Sequenzen von Erregungsmustern, wobei jeweils ein vorangehendes Muster als Trigger für ein nachfolgendes Muster fungiert. Diese Erregungsmuster entstehen, indem sich neuronale Aktivierung über die synaptischen Verbindungen der beteiligten Zellverbände ausbreitet" (Rosier 1997:109). Jegliches Wissen, so unterstreicht Spitzer, ist in der Form von Verbindungsstärken (Synapsengewichten) zwischen Neuronen manifestiert: Jeder Informationsverarbeitungsvorgang beeinflusst die Verbindungsstärken zwischen Neuronen, und Lernen führt langfristig dazu, dass sich das Netzwerk den Eingangssignalen anpasst und deren allgemeine Struktur abbildet (vgl. Spitzer 2000: 217). Nervenzellen gehen damit eine funktionale Verbindung ein. Je häufiger und schneller eine Nervenzelle eine weitere aktiviert, desto stärker und lang anhaltender wird die Signalübertragung an der Kontaktstelle zwischen den beiden. Diese sogenannte „Langzeitpotenzierung" (Fuster 2005: 10), also die gleichzeitige Aktivierung von mehreren Neuronen in verschiedenen Bereichen des Gehirns, eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit von Assoziationen, da bei späterer Aktivierung

H.2. Das Diktat der Gegenwart

37

eines Neurons auch das jeweils andere stimuliert wird. Jedes Neuron kann damit potenziell ein anderes beeinflussen. Es gibt also ebenso wenig einen Speicherort für das Gedächtnis wie für den Intellekt: Laut Fuster entsteht die „Kraft des Geistes" letztlich durch die Verbindung multipler Assoziationen und Erfahrungen, was zur Folge hat, dass die Zahl der möglichen Assoziationen schier unerschöpflich ist und dadurch auch „das Gedächtnis eine praktisch unbegrenzt hohe Aufnahmekapazität" hat (ebd.: 15).

2.

Das Diktat der Gegenwart

Schon Hebb stellte fest: „Fundamentally, memory is the retention of learning" (Hebb 1966: 122). Die enge wechselseitige Verbindung zwischen Lernen und Gedächtnis ist schon dadurch evident, dass jegliche neue Erfahrung aufbereite vorhandene Erinnerungen treffen, mit diesen abgeglichen werden und damit erst eine effektive und funktionale Verarbeitung möglich wird. Indem sich durch bestimmte Erregungsmuster Nervenzellenverbindungen ausbilden und stabilisieren, können sie auch länger als eine neue Erfahrung bestehen und damit für spätere Wahrnehmungen verfügbar bleiben. Roth stellte fest: „Das, was wir wahrnehmen, ist durch frühere Wahrnehmungen entscheidend mitbestimmt" (Roth 1996: 147). Dass die Neuerschaffung von Gedächtnisinhalten mit funktionalen und strukturellen Veränderungen im Gehirn einhergehen und von diesen maßgeblich ermöglicht werden, ist eine mittlerweile akzeptierte Auffassung; Roth sieht dementsprechend Lernen „ursächlich mit Gedächtnis verbunden" (ebd.: 127). Welche Richtprinzipien des Lernens auch beispielhaft angeführt werden, ob die klassische Konditionierung, das sogenannte .Learning by Doing', also Lernen durch Handeln, oder Lernen durch Hören und Sehen, operantes Konditionieren (durch Belohnung/Bestrafung), Lernen durch Beobachtung usf.: das menschliche Gedächtnis ist stets in die Operationen der Informationsverarbeitung und -erstellung involviert. Nach Hebb lösen nur Reizungsmechanismen einen Lernprozess aus, die Aufmerksamkeit wecken (Hebb 1949: 3-4). Dabei spielt die Selektivität von Aufmerksamkeit eine zentrale Rolle: Durch die Beimessung von Aufmerksamkeit wird entschieden, welche Informationen erinnert und welche nicht längerfristig im Gedächtnis vorgehalten werden (Haken 1996: 200203). Welche Wahrnehmungen Aufmerksamkeit erregen und damit gedächtnisrelevant werden, unterliegt aber nur bedingt der bewussten Kontrolle des Individuums, da solche Prozesse oft unbewusst ablaufen. Roth wies daraufhin, dass die Beurteilung, was neu und wichtig sei, allein durch den Rückgriff auf frühere Erfahrungen bewertet werden könne, woraus die Fähigkeit des Gehirns zu selbstreferentiellen Erkennungsmechanismen, nach welchen Kriterien es seinen Lernerfolg misst, zu folgern sei (vgl. Roth 1996: 148). Somit ist das Gedächtnis automatisch mit jeglicher Wahrnehmung verbunden. Roth ging sogar so weit festzustellen:

38

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens „Gedächtnis ist das Bindungssystem für die Einheit der Wahrnehmung. [...] Das Gedächtnis ist damit unser wichtigstes .Sinnesorgan. Es ist zugleich aber [... ] nur ein Glied im Kreisprozess von Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Erkennen, Handeln und Bewerten" (Roth 1997: 263).

Die besondere Leistung des Gedächtnisses besteht also nicht darin, Erinnerungen bewusst abrufen zu können, sondern frische Wahrnehmungen neu einzuordnen, mit bereits Erfahrenem zu vergleichen und schließlich neue Informationen zu erstellen (Laroche 2005: 16). Neue Wahrnehmungen haben somit Einfluss auf vorhandene Gedächtnisinhalte. Dabei erzeugen Wechselwirkungen zwischen einem stimulierenden Reiz und einer im Gehirn vorhandenen Information eine Repräsentanz 5 dieser Information. Erinnerung wird also in der Gegenwart aktualisiert. Dieser Vorgang wird als Ekphorie bezeichnet. Der Begriff wurde vom Gedächtnisforscher Richard Semon eingeführt. Semon schilderte als Beispiel einen Fall, bei dem Hunde von Menschen mit Steinen beworfen wurden (Semon 1904: 18-19). Hier löste nicht allein der Schmerz des auf den Hundekörper auftreffenden Steins eine schreckhafte Reaktion aus, sondern später auch die Wahrnehmung eines sich schnell bückenden Menschen, der womöglich einen solchen Stein vom Boden aufhebt, u m ihn zu werfen. Maturana betonte in diesem Zusammenhang: „Was der Beobachter .Erinnerung' und .Gedächtnis' nennt, kann [...] kein Prozess sein, durch welchen der Organismus jede neue Erfahrung mit einer gespeicherten Repräsentation der Nische konfrontiert, bevor er eine Entscheidung trifft, sondern muss Ausdruck eines modifizierten Systems sein, das bereit ist, ein für seinen gegenwärtigen Aktivitätszustand relevantes neues Verhalten zu synthetisieren" (Maturana 1998: 64). Dass das Gedächtnis stets Modifikationen unterworfen ist, erkannte auch Hebb: „There is no constant, uninterrupted activity determining behavior, no one enduring pattern of neural firing, but a continual fluctuation" (Hebb 1949: 142). Gedächtnisinhalte sind daher auch nicht grundsätzlcih als Erinnerungen zu verstehen, sondern vielmehr als dauerhafte kognitive Strukturen, die dem kognitiven System „als Elemente seines Repertoires verhaltenssynthetischer Potenziale": „Das Gedächtnis leistet für ein kognitives System die Synthese eines spezifischen Typs von Wahrnehmung, die wir gewöhnlich als

5

Hejl kritisierte den Repräsentanzbegriff wegen seiner Mehrdeutigkeit (Hejl 1996: 300). Im Anschluss an Glasersfeld nannte er insgesamt fünf äquivalente Wortbedeutungen im Deutschen: „darstellen", „vorstellen", „vertreten", „bedeuten" und „abbilden" (vgl. Glasersfeld 1987). Wegen der unterschiedlichen Bedeutungen sei der Begriff zumindest im angloamerikanischen und französischen Sprachgebrauch häufig überfordert. Dietrich machte überdies deutlich, dass in der Psychologie immer noch kein einheitliches Verständnis davon existiere, wie Repräsentanzen repräsentieren, und kam zu dem Schluss, dass dies durch die Vielfalt der Repräsentanzformen im Bewusstsein auch nicht möglich sei: ,,[M]any kinds of representations are required to explain how the mind works, depending on what mental, perceptual, or cognitive process is the explanatory focus, and some representations differ quite radically from others. No one kind of representation can explain all that needs tob e explained about our mental lives. But virtually nothing can be explained without them" (Dietrich 2007: 25).

II.3. Zeitliche

Gedächtnisdimensionen

39

.Erinnerung' bezeichnen" (Schmidt 1996: 24). Der .Abruf' von Erinnerungen ist immer auch mit einer Re-Enkodierung der jeweiligen Erinnerung verbunden, weil dadurch die Gedächtnisinhalte einerseits gestärkt werden, andererseits aber auch unter Einfluss der aktuellen Umstände verändert werden. Das Gedächtnis operiert damit immer gegenwärtig. Erinnerungen werden nicht einfach aus einem tiefen Speicher hervorgeholt, wo sie die Zeiten überdauern, sondern stets in der Jetzt-Zeit erstellt, also von Einflüssen körperlicher, geistiger und umweltrelevanter Natur beeinflusst, angepasst, manipuliert. Sie entstehen und existieren zu keiner anderen Zeit und an keinem anderen Ort als jetzt (Schmidt 1991: 384). Wie Rusch feststellte, dient als Grundlage bei der Auseinandersetzung mit der Gegenwärtigkeit von Erinnerungen stets das Bewusstsein: „Bewusstsein ist dann als eine dynamisch-prozessuale Eigenschaft komplexer, selbstreferentiell organisierter Nervensysteme anzusehen, als eine Folge von Zuständen, die durch die Beteiligung weiterer Gehirnareale und ihre damit verbundene Intensität gegenüber lokal umgrenzteren Erregungsverteilungen hervorgehoben ist" (Rusch 1996: 273 - Hervorh. im Orig.). Dörner beschrieb Bewusstsein mit etwas einfacheren Worten damit, dass „wir in der Lage sind, unsere eigenen inneren Zustände und Prozesse zu identifizieren, sie also als das zu erkennen, was sie sind, als Erinnerungsprozesse, als Prozesse der Wahrnehmung, als Prozesse der motorischen Aktivierung" (Dörner 2000:153). Als Bewusstseinsphänomene sind Erinnerungen demnach mit der Vergangenheit assoziiert, weil sie von prinzipiell gleicher Art sind wie Bewusstseinsinhalte, in denen vollendete Handlungselemente bewusst sind (Rusch 1996: 275). Rusch folgerte daraus, dass Erinnerungen nicht der Vergangenheit entstammen, sondern Vergangenheit allein durch Erinnerung ermöglicht werde (ebd.). Neue Erfahrungen werden also grundsätzlich vor dem Hintergrund früherer Erfahrungen wahrgenommen und kognitiv verarbeitet sowie bereits vorhandene Informationen verändert. Das bedeutet auch, dass jede neue Erinnerung von früheren Erinnerungen mitgeformt wird (vgl. Mesulam 1985: 382). Diese Gedächtnisorganisation dynamisiert zweifelsohne die Fähigkeit des Erinnerns, macht die Inhalte aber auch anfällig für Störungen und Schädigungen (Rusch 1996: 267). Mit Verweis auf Schmidt fasste Zierold zusammen, dass „Erinnerungen somit als aktuelle Sinnproduktionen verstanden werden, die im Zusammenhang mit dem jeweils aktuellen Zustand des kognitiven Systems und dessen wahrgenommener Handlungsnotwendigkeiten stehen. Sie lassen sich als konstruktive Aktualisierungen von Erregungsmustern modellieren, die sich bei früheren Erfahrungen entwickelt und verstärkt haben" (Zierold 2006: 48).

3.

Zeitliche Gedächtnisdimensionen

Die Erkenntnis, dass das Gedächtnis keine Einheit, sondern ein Konglomerat aus getrennten, aber in Austausch stehenden Systemen und Subsystemen ist (Schacter/Tulving 1994), stellte die Forschung vor ein Rätsel, das bis heute Fragen aufwirft. Die Unfähig-

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II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

keit, das Gedächtnis als Phänomen bzw. Gehirnfunktion als Ganzes begrifflich zu fassen, führte zu der Entwicklung einzelner Gedächtnissysteme, um das Abstrakte modellhaft fassbar, erklärbar, verständlich zu machen (Tulving 1985: 385). Eine grobe Distinktion lieferten Atkinson und Shiffrin mit ihrer Erklärung des Gedächtnisses als zeitabhängigen Prozess. Individuen müssen Informationen nicht nur kognitiv filtern und bei der Aufnahme stark selektiv vorgehen, sondern auch ihre ,Aufbewahrungszeit' in unterschiedlichen Zeitlängen regeln können (Atkinson/Shiffrin 1968). Die Farbe und Struktur eines Teppichs, der Gesang eines Vogels, die Anordnung der Brotkrümel nach dem Schneiden eines Brotes, die Inhalte des Stimmengewirrs auf dem Wochenmarkt: Wenn alles, was der Mensch bewusst und unbewusst wahrnimmt, dauerhaft erinnerbar sein würde, wären die neuronalen Kapazitäten des Gehirns in kürzester Zeit ausgereizt und überlastet. Unter dem Eindruck offensichtlicher Selektionsprozesse im Gehirn unterschieden Atkinson und Shiffrin daher zwischen drei Gedächtnisarten: dem sensorischen Gedächtnis, dem Kurzzeitgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis (Atkinson/Shiffrin 1968: 94-106). Bis heute ist dieses Modell in der Gedächtnisdebatte dominant, was in erster Linie seiner simplen Struktur geschuldet ist. Das sensorische Gedächtnis fungiert als äußerster Filter für Informationen, die in ihrem ,rohen Zustand für den Zeitraum nur weniger Millisekunden gespeichert werden. Nur jenen Informationen, denen von den kognitiven Detektoren Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, werden in das Kurzzeitgedächtnis überführt, wo sie für einige Sekunden bis zu mehreren Minuten vorgehalten werden, je nachdem ob das Individuum die Informationen nach 15 bis 30 Sekunden wieder auffrischt, ihm also Aufmerksamkeit entgegenbringt, oder nicht. Alle übrigen, länger verfügbaren Informationen werden dem Langzeitgedächtnis zugerechnet, das die jeweilige Information von wenigen Minuten bis hin zu einer gesamten Lebensdauer speichern kann. Das sensorische Gedächtnis konnte wiederum in Subsysteme unterteilt werden. Neisser bezeichnete die Fähigkeit, visuelle Eindrücke für den Bruchteil einer Sekunde zu speichern, um diese für weitere kognitive Prozesse verfügbar zu halten, als das „ikonische Gedächtnis" (Neisser 1967: 30). Darüber hinaus machte er auf die wichtige Präsenz einer sogenannten „Echospeicherung" aufmerksam und führte das Beispiel der Sprache an: Sprache ist nur verständlich, wenn das gerade auditiv vernommene eine Zeitlang im Gehirn gespeichert wird, um Sinn zu erzeugen (ebd.: 254). Nachgewiesen wurde die Existenz beider sensorischer Subsysteme durch zahlreiche Untersuchungen, ausgelöst vorrangig durch Experimente Sperlings (1960) für den .ikonischen Speicher' und Darwins, Turveys und Crowders (1972) für das echoische Gedächtnis. Damit Informationen vom sensorischen ins Kurzzeitgedächtnis und darauf möglicherweise in das Langzeitgedächtnis überführt werden, müssen Konsolidierungsprozesse stattfinden. Mit Konsolidierung wird die lang andauernde Verstärkung synaptischer Übertragungen zwischen Nervenzellen (Hebb 1949: 229), also die Ausbildung von Erregungsmustern bzw. die Neuanordnung von Nervenzellen bezeichnet, wobei unbekannt ist, welche Veränderungen im Gehirn genau mit der Konsolidierung einhergehen (vgl.

IIA. Eine Frage des

Bewusstseins

41

Schacter 1999a: 147). Dudai unterschied zwei Konsolidierungsformen: Während die synaptische relativ schnell, das heißt innerhalb von 60 bis 90 Minuten geschieht, verläuft die systemische über einen Zeitraum von mehreren Tagen (Dudai 2004: 54). Wie auch Schacter darlegte, brauchen Erinnerungen nach ihrer ursprünglichen Enkodierung eine gewisse Zeit, um sich im Gehirn zu organisieren (Schacter 1999a: 144). Dabei scheinen bestimmte Gedächtnisinhalte im Laufe der Zeit immer widerstandsfähiger gegen Störungen sogar durch Verletzungen zu werden, wie klinische Fälle von anterograder und retrograder Amnesie belegen, bei denen zwar Gedächtnisverlust eintritt, aber meist lang zurückliegende Erinnerungen erhalten bleiben.6 Schacter sieht darin einen Beleg für einen Langzeitkonsolidierungsprozess, der zur Stärkung bestimmter Informationen im Gedächtnis führen kann (Schacter 1999a: 140-141). Mittlerweile haben Untersuchungen indes auch gezeigt, dass Nervenbahnen und synaptische Kontakte altern und störanfällig werden können, was selbst starke Langzeitgedächtnisinhalte verblassen lassen kann (Fuster 2005: 15). So konnte die rein zeitliche dimensionierte Struktur der Komplexität der Gedächtnisoperationen im menschlichen Gehirn nicht gerecht werden. Arbinger konstatierte daher, dass das Gedächtnis vielmehr aus den Funktionen bestimmt wird, die es bei den verschiedensten Aufgaben der Informationsverarbeitung erfüllt (Arbinger 1984: 3).

4.

Eine Frage des Bewusstseins

Angesichts der Feststellung, dass es kein einheitliches Gedächtnis gibt, es also den Charakter einer Entität entbehrt, ist es sinnvoll, weniger nach dem Wesen des Gedächtnisses an sich, sondern nach seinen Funktionen zu fragen. Im Laufe der Forschungsgeschichte wurde dementsprechend zwischen mehreren Gedächtnissystemen unterschieden. Während mittlerweile ein generelles Einvernehmen darüber besteht, dass es multiple Formen des Gedächtnisses gibt, die jeweils unterschiedliche Bahnen des Gehirns beanspruchen, gibt es demgegenüber eine Vielzahl an divergierenden Terminologien und Modellen, die sich mit der Funktionenzuschreibung einzelner Gedächtnissysteme befassen (Eichenbaum 1997: 330). Dennoch stellten McClelland und Kollegen fest: „Apparent differences between theories may not reflect a fundamental incompatibility at a functional level" (McClelland/McNaughton/O'Reilly 1995: 452). Tulving bezeichnete Systeme als „set of correlated processes: Processes within a system are more closely related to one another than they are to processes outside the system" (Tulving 1985a: 386). Es handele sich dabei also um organisierte Strukturen, die aus einzelnen Verarbeitungskomponenten bestehen. Diese wiederum setzen sich aus neuronalen Substraten und ihren zugehörigen Korrelaten zusammen. Unter Korrelaten sind messbare Phänomene wie kognitive oder

6

Bei der sogenannten retrograden Amnesie ist der Patient unfähig, sich bewusst an frühere Erfahrungen zu erinnern; bei der anterograden Amnesie ist es nicht möglich, ab dem Zeitpunkt der Schädigung neues Wissen zu erwerben.

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II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns

und

Vergessens

verhaltensspezifische Eigenschaften zu verstehen. Während manche Komponenten von allen Systemen benutzt werden, sind andere nur einigen wenigen Systemen vorbehalten und wiederum andere nur einem bestimmten System zugehörig. So erfordern Lern- und Gedächtnisoperationen die Miteinbeziehung verschiedener Komponenten eines oder mehrerer Systeme. Unterscheiden lassen sie sich auch durch die divergierende Art der Informationen, die von ihnen verarbeitet werden, sowie durch die Prinzipien ihrer Operationsmodi. Eine grobe Unterscheidung trafen Squire und Kandel und lieferten damit einen bis heute dominierenden Systemrahmen für die neurobiologische Gedächtnisforschung. Sie identifizierten zwei maßgebliche Systeme: Das deklarative und das nicht-deklarative Gedächtnis (Squire/Kandel 1999). Eine äquivalente Unterteilung der Informationsverarbeitung im Gehirn vertraten Graf und Schacter mit ihrem Modell des expliziten und impliziten Gedächtnisses (Graf/Schacter 1985, 1987). Als deklarativ (explizit) wird demnach der bewusste Erwerb, Verwahrung und Abruf von Faktenwissen bezeichnet, also beispielsweise dass Berlin die Hauptstadt von Deutschland ist, ein Auto üblicherweise vier Räder und eine Stunde 60 Minuten hat. Demgegenüber wird mit nicht-deklarativ (implizit) die Aneignung und Ausübung unbewusster Informationen verstanden. Beispiele hierfür sind bestimmte Fähigkeiten oder Angewohnheiten wie das Schreiben, Fahrradfahren oder Schwimmen. Wie Mishkin und Petri unterstrichen, reicht beim Erlernen von Fertigkeiten kein einzelner Reiz allein aus, um eine unbewusste Information dauerhaft bereithalten zu können (Mishkin/Petri 1984: 288-289). Auf einen interessanten Verarbeitungsvorgang machte Roth aufmerksam: Bewusste Gedächtnisinhalte können durch Routine und stetes Wiederholen zu unbewussten werden und somit dauerhaft in anderen neuronalen Systemen vorgehalten werden. Diese Form des „automatisierten Wissens" (Roth 1996: 129) entsteht durch einen für das bewusste Aneignen von Wissen ansonsten unüblichen mehraktigen Lernvorgang, wie er klassisch beim Erlernen von motorischen Fähigkeiten durchgeführt wird. Damit ist zu erklären, dass manches Faktenwissen sprichwörtlich in ,Haut und Haar' übergeht, so dass das betreffende Individuum unter Umgehung bewusster Erinnerungsprozesse auf das Wissen zugreifen kann. Das nicht-deklarative Gedächtnis umfasst eine Vielzahl Formen unbewusster Informationsverarbeitung. Squire warnte davor, sich allein auf das prozedurale Gedächtnis zu konzentrieren und nannte damit nicht bloß die zugehörige Aneignung von motorischen sowie Wahrnehmungs- und Kognitionsfähigkeiten, sondern führte auch eine Reihe weiterer Gedächtnisphänomene an wie beispielsweise Verhaltensformung, klassische Konditionierung, einschließlich emotionalen Lernens sowie Priming und verweist pauschal auf weitere Arten von Wissen, die sich größtenteils durch Verhaltensänderungen identifizieren lassen und nicht auf bewusste Erinnerungsprozesse angewiesen sind (Squire 1994: 205). Einige der genannten Ausformungen bedürfen näherer Erklärung: Während das prozedurale Gedächtnis leicht als hauptsächliche Domäne der unbewussten bzw. .automatisch' ablaufenden Informationsverarbeitung eingeordnet werden, da sie den augenfälligsten Ausdruck im Verhalten finden, sollten die weiteren, weitaus schwieriger er-

IIA. Eine Frage des

Bewusstseins

43

kennbaren Formen nicht unterschätzt werden. So ist es für den Mensch als soziales Wesen überlebenswichtig, möglichst früh in seinem Leben zu lernen, wie er seine Umwelt wahrnimmt und auf eintreffende Reize reagiert. Dies setzt effektive Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse voraus, die unbewusst im Gedächtnis vorgeprägt sein müssen. Ein weiteres wichtiges Gedächtnisphänomen ist in diesem Zusammenhang das sogenannte Priming, das im Deutschen häufig mit,Bahnung' übersetzt wird und umschreibt, dass die Wirkung gleichartiger Reize erhöht wird, wenn zum wiederholten Male eine Nervenbahn erregt wird. Damit wird also eine zügigere Einordnung und Verarbeitung von bestimmten Wahrnehmungen auf der Basis kürzlich zurückliegender Erfahrungen ermöglicht und gezeigt, wie das Gehirn permanent auch in Randbereichen der Aufmerksamkeit und bei fehlendem Bewusstsein auf Reize reagiert, indem oberflächliche, alltägliche Wahrnehmungs-, Verstehens- und Handlungsprozesse ausgelöst werden (Welzer 2002a: 27-29). In experimenteller Anordnung lässt sich der Priming-Effekt relativ einfach nachweisen: Wenn einem Probanden ein Bild von einem Gegenstand gezeigt und er nach einiger Zeit aufgefordert wird, beliebige Gegenstände aufzuzählen, ist es wahrscheinlich, dass der zuvor gezeigte Gegenstand genannt wird (Ferrand/Segui 2005: 56). Im weiteren Forschungsdiskurs brachte Baddeley (1986, 1994) den Terminus des Arbeitsgedächtnisses ins Gespräch, das nach anfänglich verhaltenen Reaktionen (Baddeley 1994: 363) mittlerweile zu einem tragenden Pfeiler bei der funktional strukturierten Gedächtnisforschung geworden ist. Das Arbeitsgedächtnis ist in seiner Funktion eines einheitlichen Kurzzeitspeichers mit begrenzter Kapazität eine „more elaborated and sophisticated version of what used to be called short-term memory" (Schacter/Tulving 1994: 27), da es nicht bloß eine passive Vorhaltung von Informationen im Kurzzeitgedächtnis annimmt, sondern einen stärkeren Fokus auf die Anpassung derselben zwecks ihrer Nutzbarmachung legt. Das Arbeitsgedächtnis bewerkstelligt die Verwaltung und Verarbeitung von kognitiven Aufgaben jeglicher Art und besitzt enge Verknüpfungen mit den Langzeitgedächtnissystemen, um vorhandenes Wissen in der Gegenwart einzusetzen. Während die Prozesse des Arbeitsgedächtnisses also handlungsorientiert und unbewusst verlaufen, wird der tatsächliche Informationsabruf bewusst vorgenommen. Zahlreiche Tätigkeiten können allein durch automatisiert ablaufende Verhaltensprogramme, also den unbewussten Abruf prozeduralen Wissens, ohne Aktivierung des Arbeitsgedächtnisses ausgeführt werden. Die Funktion des Arbeitsgedächtnisses besteht darin, Vergangenes auf effektive Weise zu repräsentieren, damit der Organismus darauf zurückgreifen kann, um seine Handlungen besser steuern zu können, was mit einschließt, dass Handlungsmodelle für die Zukunft erstellt werden, um besser reagieren zu können, als einfach nur nach der größten Wahrscheinlichkeit zu handeln (Baddeley 1994: 354).7 Untergliedert in vier Subsysteme, erkennt der Organismus, ob er bestimmten Reizen Aufmerksamkeit entgegenbringen sollte: Die zentrale Exekutive („Central Executi7

Die Funktion des Gedächtnisses, sich auf Grundlage von vorhandenen Informationen Gedanken über die Zukunft zu machen, wird auch als „prospektives Gedächtnis" bezeichnet (Markowitsch 2002: 84).

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II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns

und

Vergessens

ve") steuert drei untergeordnete Subsysteme, die phonologische Schleife („Phonological Loop"), die sprachliche und tonliche Informationen verarbeitet, und den visuell-räumlichen Notizblock („Visuospatial Sketchpad"), der die zentrale Exekutive mit bildlichen Informationen speist. Erst nachträglich ergänzte Baddeley das Modell um ein weiteres „Sklavensystem" (vgl. Baddeley 2000: 418), dem episodischen Puffer („episodic buffer"), wobei es sich um eine Komponente handelt, welche als maßgebliche Schnittstelle zwischen dem Langzeitgedächtnis und den anderen zwei Komponenten des Arbeitsgedächtnisses eine zeitliche Verknüpfung herstellt und damit der zentralen Exekutive als Hilfsmittel zum bewussten Abruf von temporär genutzten kohärenten Erinnerungsepisoden dient (ebd.: 421). In diesem Zusammenhang ist der Forschungsbeitrag des kanadischen Gedächtnisforschers Endel Tulving von besonderer Bedeutung. Seine Differenzierung des deklarativen Langzeitgedächtnisses in ein semantisches und ein episodisches Gedächtnissystem erfuhr zwar Kritik (Dell/McKoon/Ratcliff 1986; Cohen/Eichenbaum 1993: 272-275), hat sich aber letztlich durchgesetzt. Ausgangspunkt für die Unterteilung des deklarativen Gedächtnisses ist dessen Zuständigkeit für Fakten- und Ereigniswissen. Nach Tulving (1983; 1985b) ist das Faktenwissen, das „noetisch" (bewusst) erinnert werden kann, dem semantischen Gedächtnis zuzuordnen. Das episodische Gedächtnis dagegen befähigt das Individuum, gedanklich in die Vergangenheit zu reisen und selbst erlebte Erfahrungen in einer persönlichen Vergangenheit zu erinnern (Schacter/Tulving 1994: 28). Das heißt: Ein Erlebnis wird nicht nur bewusst erinnert, sondern die erinnernde Person selbst nimmt sich selbst als Erinnerungsbestandteil war. Tulving nennt dies „autonoetisches" (selbstwissentliches) Bewusstsein (Tulving 1985a: 388) und sieht diese einzigartige Eigenschaft des menschlichen episodischen Gedächtnisses als Grundlage für die Trennung zwischen „sich zu erinnern" und „etwas zu wissen", was den Menschen dazu befähige, sein eigenes Tun zu reflektieren, wodurch er sich klar vom Tier unterscheide. Das episodische Gedächtnis ist nach Auffassung Schacters das zentrale System für die explizite Erinnerung an vergangene Selbst-Erfahrungen, was dazu geführt habe, dass sich ein Großteil der kognitiven, neuropsychologischen und psychiatrischen Forschung über Gedächtnisprobleme auf dieses System konzentriere (Schacter 1995: 20).8 Aufgrund seines starken Ich-Bezugs wird es auch häufig als „autobiographisches Gedächtnis" bezeichnet, auf dessen besondere Funktion und Relation zum episodischen Gedächtnis noch genauer einzugehen sein wird. Trotz der offensichtlichen Gemeinsamkeiten des semantischen und episodischen Gedächtnisses mit dem System des deklarativen Gedächtnisses9 sowie dessen umfassenden Geltungsanspruchs für jedwede bewusste Erinnerungskonstruktion wiesen Tulving und 8 9

Einen kompakten forschungsgeschichtlichen Überblick findet sich bei Baddeley 2001. Cohen und Eichenbaum bezeichnen das semantische und episodische Gedächtnis als „klare Bestandteile" des deklarativen Gedächtnissystems (vgl. Cohen/Eichenbaum 1993: 280). Auch Tulving und Markowitsch fuhren eine Reihe von Gemeinsamkeiten an (Tulving/Markowitsch 1998: 201).

II.4. Eine Frage des

Bewusstseins

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Markowitsch darauf hin, dass das episodische Gedächtnis einzigartig sei in seinen Ressourcen, die keinem anderen Gedächtnissystem zur Verfügung stünden: So sei es das einzige, das individuelle Erinnerungen an Erfahrungen ermögliche, das sich damit weit über die Grenzen reinen Faktenwissens erstrecke und ganz und gar in die Vergangenheit gerichtet sei (Tulving/Markowitsch 1998: 202). Es entwickele sich erst spät im menschlichen Gehirn, da Kinder erst Wissen anhäufen müssten, um später einmal fähig zu sein, sich wie Erwachsene episodisch zu erinnern, und werde früher als andere Gedächtnissysteme im fortgeschrittenen Alter beschädigt (ebd.). So liegt die terminologische Betonung beim zentralen Bezugspunkt des episodischen Gedächtnisses auf .Erfahrung' und nicht auf .Ereignis', wobei die Betonung der Möglichkeit, eine subjektive Zeitreise in die selbst erlebte Vergangenheit zu unternehmen, im Vordergrund steht. Das deklarative Gedächtnis dagegen beschäftigt sich mit Fakten und Ereignissen in der physischen Welt, also mit dem Erwerb und Nutzen von Wissensinhalten und dem daraus folgernden Verhalten in konkreten Situationen (ebd.), was erneut die besondere Rolle des Arbeitsgedächtnisses als Schnittstelle zwischen Lang- und Kurzzeitgedächtnis verdeutlicht. Die einzelnen Systeme stehen dabei in mono-hierarchischer Abhängigkeit. Allein das prozedurale System, zuständig für die Vorhaltung erlernter, „anoetischer" (unbewusster) Fähigkeiten, kann unabhängig von den anderen operieren (Tulving 1985a: 387): Erinnerung wird hier gleichgesetzt mit einer Form von Verhalten. Das semantische ist das einzige spezialisierte Subsystem des prozeduralen Gedächtnisses, und das episodische das einzige Subsystem des semantischen Gedächtnisses. Die untergeordneten Subsysteme sind dabei angewiesen auf das jeweils höhere System, haben aber ihre eigenen besonderen Ressourcen (ebd.). Obgleich Markowitsch einräumte, dass solche Systemmodelle „allenfalls den Charakter einer Arbeitshypothese" hätten (Markowitsch 1992: 6), stellten Schacter und Tulving (1994) weitere Überlegungen an, wie ein möglichst verbindliches Systemmodell für Gedächtnisoperationen strukturiert sein könnte. Sie nahmen die bis heute andauernde Koexistenz verschiedener terminologischer und konzeptioneller Systementwürfe zum Anlass, auf Basis der sich teils vielfach überlappenden Modellansätze zwischen fünf ihrer Ansicht nach maßgeblichen Gedächtnissystemen zu unterscheiden. Neben den weitgehend akzeptierten Systemen des prozeduralen, semantischen und episodischen Gedächtnisses wurden zusätzlich das Arbeitsgedächtnis sowie das sogenannte „Perceptual Representation System" (PRS) ergänzt. Bei letztgenanntem handelt es sich um ein dem sensorischen Gedächtnis ähnliches System, das für die Erkennung von Worten und Objekten zuständig ist, dabei aber allein Form und Struktur von Worten und Objekten verarbeitet und nicht ihre Bedeutung (Schacter 1994: 234). Damit operiert es auf einem pre-semantischen, also unbewussten Niveau. Es umfasst ähnlich wie das Arbeitsgedächtnis mehrere Subsysteme, denen visuelle, auditive, strukturelle und Gesichtserkennungsaufgaben zugeschrieben werden und die das episodische Gedächtnis mit Wahrnehmungsinformationen speisen können, damit diese nur so mit anderen Informationen in einen wie auch immer gearteten (z.B. semantischen) Kontext gestellt werden können (ebd.: 257).

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II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

Der Vorschlag Schacter und Tulvings im Allgemeinen und die Konzeption des PRS im Speziellen sollen hier als Beispiel dienen, um aufzuzeigen, wie die neurobiologische und -psychologische Gedächtnisforschung der komplexen Organisation von Gedächtnis im Gehirn mithilfe von vielteilig ausdifferenzierten Systemmodellen auf die Spur zu kommen versucht. Andere Bestrebungen in diese Richtung unternimmt seit vielen Jahren die New Yorker Psychologin Marcia Κ. Johnson, die mit unverminderter Hartnäckigkeit ihr Modell eines „Multi-Entry, Modular Memory Systems" (MEM) vertritt (Johnson 1983, 2007). Beim MEM handelt es sich um ein prozessorientiertes System, das, unterteilt in vier Subsysteme, Wahrnehmungsprozesse sowie Denk- bzw. Imaginationsprozesse und deren jeweilige Auswirkungen erfasst und es dem Individuum ermöglicht, auf Basis früherer Wahrnehmungen und Gedanken handeln zu können. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die folgende Aussage der britischen Kognitionspsychologin Gilian Cohen immer noch Gültigkeit besitzt, der mit Blick auf die vielgestaltigen Postulierungen von Gedächtnissystemen, die hier nur stark überblickartig erörtert werden konnten, feststellte: „Once you start fractionating memory into separate subsystems it is difficult to know where to stop" (Cohen 1996: 309).

5.

Mnestisch-emotionale Kopplung

Der Einfluss von Emotionen auf Erinnerungsprozesse genießt seit den 1980er Jahren ungebrochenes und weiterhin wachsendes Interesse in der kognitiven Gedächtnisforschung. Nachdem dieses allgemein als essentiell für das Verständnis des menschlichen Gedächtnisses angesehene Forschungsteilgebiet jahrzehntelang vernachlässigt wurde, ermittelten Bob Uttl, Amy Siegenthaler und Nobuo Ohta, dass die Zahl der publizierten Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften zum Thema in den Jahren von 1980 bis 2004 sprunghaft angestiegen ist (Uttl/Siegenthaler/Ohta 2006b: 3). Sie zeigen mithilfe eines Graphen, wie viele Aufsätze mit den Stichworten „Emotion", „Gedächtnis" sowie „Emotion und Gedächtnis" in dieser Zeit erschienen sind: Von knapp über 100 Aufsätzen im Jahr 1990 wuchs die Zahl bis zum Jahr 2004 auf beinah 600 und dies, obwohl synonyme Begriffe wie „Lernen" oder „Depression" nicht erfasst wurden. Zudem erschienen in der jüngsten Vergangenheit gleich mehrere Sammelbände und Monographien zum Thema (LeDoux 2001; Calabrese/Neugebauer 2002; McGaugh 2003; Reisberg/Hertel 2004; Uttl/ Siegenthaler/Ohta 2006a). Nichtsdestotrotz blieb eine allgemein gültige und genaue Definition von Emotionen aus, was zwangsweise zu einem vagen und unbeständigen Umgang mit dem Emotionsbegriff führte (Niedenthal/Krauth-Gruber/Ric 2006: 5). Rapaport identifizierte die synonyme Verwendung des Begriffs für ein Phänomen einerseits und einer bestimmten Erscheinungen zugrundeliegenden Dynamik andererseits als die grundsätzliche Crux der Forschungsarbeit (Rapaport 1994: 31). Auch Schürer-Necker musste sich bei ihrer Untersuchung des Einflusses von Emotionen auf das Behalten von Texten damit zufrie-

II.5. Mnestisch-emotionale Kopplung

47

den geben, dass es aufgrund der Komplexität des Gegenstandes, dessen Subjektivität, der Bezugnahme auf die Alltagssprache und die dadurch bedingte grassierende Verwendung ungenauer und mehrdeutiger Termini allenfalls eine Arbeitsdefinition geben könne (Schürer-Necker 1994: 8). Diese fand sie beim Psychologen-Ehepaar Kleinginna: „Emotion is a complex set of interactions among subjective and objective facctors, mediated by neural/hormonal systems, which can (a) give rise to affective experiences such as feelings of arousal, pleasure/displeasure; (b) generate cognitive processes such as emotionally relevant perceptual effects, appraisals, labelling processes; (c) activate widespread physiological adjustments to the arousing conditions; and (d) lead to behavior that is often, but not always, expressive, goaldirected, and adaptive" (Kleinginna/Kleinginna 1981: 355). Die Autoren wiesen damals selbst darauf hin, dass emotionale Prozesse und Zustände so komplex sind, dass sie von derart vielen Standpunkten aus analysiert werden können, dass es wohl nie ein vollständiges Bild geben werde (ebd.: 345). Dieser vor allem für die Forschungspraxis unbefriedigende Schwebezustand führte aber weder zu einem Rückgang der empirischen Unternehmungen noch dazu, dass Versuche eingestellt wurden, eine möglichst praktikable allgemein gültige begriffliche Abgrenzung zu finden. Die Hilfskonstruktion, mit einer Reihe sogenannter,basic emotions' eine Art Grundstock für die Erklärung aller anderen Gefühlszustände zu erstellen, da dies eine Vergleichbarkeit von Forschungserkenntnissen über nationale, ethnische und kulturelle Grenzen hinweg und sogar zwischen Mensch und Tier ermöglichen könnte wie durch die Analyse Gesichtsausdrücken, wurde von Ortony und Turner als unbrauchbares Konzept verworfen und als „air, earth, fire, and water theory of emotion" kritisiert (Ortony/Turner 1990: 329). Dabei fehle es nicht nur an einem allgemein verbindlichen Verständnis davon, was überhaupt eine tragende Basis sein könnte. Kein Forscher habe zudem jemals eines der grundlegenden Gefühle im Experiment nachweisen können (ebd.). Nach Levenson bedürfe es ohnehin separate Modelle und Theorien für komplexere emotionale Zustände wie Schuld, Scham, Stolz und Neid sowie ästhetische Gefühle (Levenson 1999: 501). Ciompi konzentrierte sich daher auf eine möglichst allgemeine Ausweitung des Begriffs, indem er das „energetische" Wesen von Affektivität hervorhob, das einen krassen Gegensatz zum „strukturierten" Intellekt darstelle (vgl. Ciompi 1982: 62). Die den Affekten innewohnende Energie komme von den biologisch verankerten Trieben, die „im Verhalten vor allem im immerwährenden Streben nach Lustgewinn resp. Unlustvermeidung fassbar werden" (ebd.: 63-64). Eine verhältnismäßig breite, aber auf die funktionalen Eigenschaften von Emotionen verweisende Einordnung lieferten Keltner und Gross: „We define emotions as episodic, relatively short-term, biologically based patterns of perception, experience, physiology, action, and communication that occur in response to specific physical and social challenges and opportunities" (Keltner/Gross 1999: 468). Sie grenzten Emotionen damit von kognitiven Status wie Reflexen, Stimmungen und zielgerichtetem Verlangen ab. Ortony und Turner haben gezeigt, wie diese Phänome-

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II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

ne oft fälschlicherweise als Emotionen klassifiziert wurden (Ortony/Turner 1990: 318); auch Überraschung, so die Autoren, wurde vielfach fälschlicherweise als Emotion missverstanden, obwohl ihre positiven (z.B. bei einem Gewinn), negativen (wenn das Auto nicht anspringt) oder neutralen (bisher unbekanntes Faktenwissen) Wirkungen vielmehr aufzeigen, dass sie dazu im Stande ist, Emotionen auszulösen und zu intensivieren: „We assume that being affectively valenced is a necessary condition for a state to be an emotion" (ebd.: 317). Trotz der generellen Unsicherheit und fehlenden Prägnanz bei der phänomenologischen Eingrenzung von Emotionen gilt ihr Einfluss auf das menschliche Gedächtnis als immens. Die Forschungsdebatte führte gar zur Postulierung eines sogenannten „Affektiven Gedächtnisses", durch das kognitive Inhalte mit emotionalen Konnotationen in Verbindung gebracht werden: „Obwohl erst zum Teil erforscht, ist insgesamt an der Existenz wichtiger neuronaler, affektiv-kognitiver Verbindungen überhaupt nicht zu zweifeln" (Ciompi 1982: 71). Hinweise darauflieferten Experimente wie das von Claparède an einer Frau im Jahre 1911, die aufgrund eines Hirnschadens an anterograder Amnesie litt: „To see whether she would better retain an intense impression involving affectivity, I stuck her hand with a pin hidden between my fingers. The ligth pain was as quickly forgotten as indifferent perceptions; a few minutes later she no longer remembered it. But when I again reached out for her hand, she pulled it back in a reflex fashion, not knowing why." (Claparède 1911: 69). Die Patientin konnte sich nicht bewusst an die schmerzhafte Erfahrung erinnern, doch ihr Unterbewusstsein warnte sie davor, dem fremden Mann zur Begrüßung die Hand zu drücken. Es handelte sich dabei aber keinesfalls um den Nachweis der Existenz eines funktionalen emotionalen Gedächtnissystems, sondern um affektive Informationen, die dem impliziten bzw. nicht-deklarativen Gedächtnis zugerechnet werden. Wie LeDoux feststellte, handelte es sich bei der „emotionalen Erinnerung" um implizite, furchtkonditionierte Erinnerung. Wäre die Patientin in der Lage gewesen, sich explizit an den Schmerz zu erinnern, hätte sie also über deklarative Erinnerungen an den Vorfall verfügt, müsse man dagegen von „Erinnerung an eine Emotion" sprechen (LeDoux 2001:195). Ist es aber sinnvoll, deshalb von einem eigens für Emotionen zuständigen Gedächtnissystem auszugehen? LeDoux hielt dies für sinnvoll (vgl. ebd.: 216-217), da es ein System gebe, das für die Aktivierung von körperlichen und zerebralen Reaktionen zuständig ist, und dem emotionale Charakteristika attestiert werden (Änderung der Oberflächenspannung der Haut, Muskelstraffung, Hormonausschüttung etc.): „Emotions or feelings are conscious products of unconscious processes" (LeDoux 2002: 70). Diese terminologische Differenzierung darf aber nur der Verständlichkeit halber getrennt vom impliziten und expliziten Gedächtnis verstanden werden, da Emotionen als immanenter Bestandteil des Bewusstseins eng mit diesen Gedächtnissystemen verknüpft sind und nicht autonom operieren (vgl. Johnson 1985:19-20). Daher spielen Emotionen bei der Enkodierung wie auch bei der Rekonstruktion von Erinnerungen eine wichtige Rolle. So ist es auch nicht ungewöhnlich, dass bewusste Erinnerungen durch Auslöserei-

II.5. Mnestisch-emotionale

Kopplung

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ze aus der Umwelt oder innerhalb des Nervensystems mit emotionaler Erregung, also unbewussten Erinnerungen an eine emotionale Erfahrung, zu einer Einheit verschmelzen können. Damit haben Emotionen auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Bildung und Veränderung von deklarativen Gedächtnisinhalten, indem das ursprüngliche Erlebnis mit der Erinnerung an die Erinnerung verknüpft wird (vgl. LeDoux 2001: 218; LeDoux 2002: 70). Markowitsch folgerte, dass Emotionen ebensowenig wie das Gedächtnis neutral und unabhängig von anderen Funktionen des menschlichen Gehirns betrachtet werden können (Markowitsch 1992: 226). Dementsprechend lässt sich auch nicht klar bestimmen, wo sich im Gehirn Emotionen finden lassen. Der einflussreiche amerikanische Psychologe und Philosoph William James schrieb am Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck starker emotionaler Erinnerungen: „The attention which we lend to an experience is proportional to its vivid or interesting character; and it is a notorious facct that what interest us most vividly at the time is, other things equal, what we remember best. An impression may be so exciting emotionally as almost to leave a scar upon the cerebral tissues" (James 1981: 630). Markowitsch sprang auf den metaphorischen Zug auf und elaborierte: „Für manche, hochgradig emotionale Ereignisse zeigt die Erfahrung, dass diese sich offensichtlich unmittelbar in das Gedächtnis einbrennen und entsprechend sofort, aber auch ,für alle Zeit' abrufbar sind" (Markowitsch 2002: 113). Dennoch lassen sich im Gehirn freilich keine Narben oder Eingravierungen für besonders stark mit Emotionen verbundene Erinnerungen finden. In verschiedenen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass die Amygdala, ein zweiteiliges zentrales Hirnareal im medialen Temporallappen, das die Funktion eines Anstifters oder auch Katalysators hat, der Stimuli mit emotionalen Signifikanzen durchdringt und neuronale Regionen zu entsprechenden Reaktionen reizt,10 bei der Übersetzung von emotionalen Erfahrungen ins Langzeitgedächtnis eine Schlüsselrolle spielt (ebd.: 56). Belege hierfür erbrachte auch ein Experiment mit neuronaler Bildgebung," das Larry Cahill und Kollegen im Jahre 1996 durchführten, um emotionale Erinnerungsprozesse zu lokalisieren (Cahill u.a. 1996). Den Probanden wurden zwei Videos gezeigt, von denen eines aus mehreren emotional erregenden Ausschnitten bestand und eines mit ebenso vielen eher emotional neutralen Ausschnitten. Nach Rezeption wurden die Versuchspersonen aufgefordert, ihre emotionale Erregung aufzuschreiben. Nach drei Wochen wies die Mehrheit nicht nur detailliertere Erinnerun-

10 LeDoux warnt indes: „The establishment of memories is a function of the entire network, not just of one component. The amygdala is certainly crucial, but we must not lose sight of the fact that its functions exist only by virtue of the system to which it belongs." (LeDoux 2002: 69) 11 Über den Nutzen der neuronalen Bildgebung bei der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Emotion und Gedächtnis sei der Aufsatz „The Memory Enhancing Effect of Emotion: Functional Neuroimaging Evidence" von Florin Doleos, Kevin S. LaBar und Roberto Cabeza empfohlen (Dolcos/LaBar/Cabeza 2006).

50

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

gen für die emotional erregenden Ausschnitte auf, sondern war auch immer noch stärker emotional durch sie beeinflusst. Es gilt als hinreichend belegt, dass das Gedächtnis vor allem dadurch stark von emotionalen Faktoren abhängt, weil sich die Hirnareale, die für die Informationsverarbeitung zuständig sind, mit jenen überlappen, in welchen Emotionen verarbeitet werden (vgl. Markowitsch 2002: 28-29, 36). Der wechselseitige Zusammenhang erklärt sich auch aus der Funktion von Emotionen als für das Gedächtnis wichtiges Bewertungsinstrument von Wahrnehmungen. Das Gedächtnis ist auf Bewertungen angewiesen, welche Erfahrungen relevant sind und welche nicht. Nach Ciompi wären die Assoziationsbahnen im Gehirn widersprüchlich und würden die Speicherung und Remobilisierung von Gedächtnisinhalten beeinträchtigen, wenn nicht das „affektologische Bewusstseinsystem" die Wahrnehmung ordnete und determierte (Ciompi 1982: 242). Welche exakten Auswirkungen indes Emotionen auf Gedächtnisinhalte und Erinnerungsprozesse haben, konnte bisher nicht abschließend erklärt werden. Problematisch ist zu bewerten, dass in vielen Untersuchungen allein von einem Erregungszustand auf Emotionen geschlossen wurde. Reisberg und Heuer (2004: 32) und Levine und Pizarro (2006: 52) kritisierten die Dominanz solcher ausschließlich den Erregungzustand in Betracht ziehende Auffassungen bei der Erforschung von Emotionen und Gedächtnis, da dieses Konzept die vielgestaltigen Prozesse nur sehr eingeschränkt erklären könne. Die Auswirkungen von getrennt voneinander zu berücksichtigenden Emotionen wie Fröhlichkeit, Angst, Verärgerung und Traurigkeit könnten mit diesem Modell nicht differenziert genug analysiert werden, wobei gerade die eigenständigen emotionalen Zustände höchst unterschiedliche Effekte verursachten: Löst Freude erfinderische und flexible Modi der Informationsverarbeitung aus, bewirken negative Gemütszustände eine selektive, analytischere und mehr auf Daten bezogene Verarbeitung, die je nachdem auf die betreffende Situation angepasst sind. Wer generell Angst vor etwas hat (z.B. vor Schlangen), wird vor allem Erinnerungen an all die Wahrnehmungen haben, die eine Bedrohung darstellen. Wer an Depressionen leidet, wird sich vornehmlich an Situationen in seinem Leben erinnern, die mit Versagen assoziiert werden. Und wer fröhlich ist und optimistisch in die Zukunft schaut, wird sich vor allem positive Erinnerungen konstruieren bzw. negative Erfahrungen in positiverem Licht erscheinen lassen. Auch aktuelle Stimmungen prägen also die emotionale Erinnerungsleistung: „Die Übereinstimmung zwischen dem gegenwärtigen emotionalen Zustand und dem als Teil der expliziten Erinnerung gespreicherten emotionalen Zustand erleichtert die Aktivierung der expliziten Erinnerung" (LeDoux 2001:229; vgl. auch Levine/Pizarro 2004: 537). Dies resultiert nach Ciompi aus der unablässigen Konstitution und „Ernährung" des Bewusstseins durch „momentane Körpergefühle, Sinneseindrücke, Sensorik ganz allgemein (bzw. ihre Verarbeitung) mitsamt den dadurch evozierten Gedächtniselementen" (Ciompi 1982:130). Zu diesem Schluss kamen auch Johnson und Magaro, die feststellten, dass Stimmung die wichtigste Rolle bei der Determinierung von Erinnerung einnimmt, da an Depressionen leidende Probanden überwiegend negative Erfahrungen aus ihrem

II.5. Mnestisch-emotionale

Kopplung

51

Leben erinnerten. Die Autoren folgerten: „Memories that are consonant with the emotional state (mood) at the time of recall are more readily retrieved than are disconsonant memories" (Johnson/Magaro 1987: 36). Sigmund Freud hat mit seiner Theorie der Verdrängung (Freud 1999a) über viele Jahrzehnte einen regen Forschungszweig angestoßen, der sich letztlich als „vergebliche Mühe" entpuppte, wie Schürer-Necker feststellte: Zu unkritisch seien Aussagen Freuds verallgemeinert und als überprüfbare Hypothesen missverstanden worden (SchürerNecker 1994: 20). Weder Freuds Untersuchungen noch die Folgestudien haben belegen können, dass unangenehme Erinnerungen eher vergessen (bzw. verdrängt) werden als angenehme. Reisberg und Heuer (2004: 35) kamen nach eigenen Untersuchungen und der Durchsicht von zahlreichen Untersuchungsergebnissen vielmehr zu dem Schluss, dass jegliche Art von Emotionen im Allgemeinen einen positiven Effekt auf das Erinnerungsvermögen haben, vor allem weil sie die Lebhaftigkeit, Akkuranz, Vollständigkeit und Langlebigkeit der betreifenden Gedächtnisinhalte erhöhen. Nur die unangenehme Emotion selber, darauf weisen Walker, Vogl und Thompson hin, werde wahrscheinlicher unterdrückt, um dem Individuum zu ermöglichen „to cope with unpleasant memories without burying their past in their unconscious" (Walker/Vogl/Thompson 1997: 412). Weiterhin konnte die als „Yerkes-Dodson-Gesetz" bekannte umgekehrte U-Funktion des Einflusses von Erregung auf Erinnerung (bzw. Stimuli auf Verhaltensformation), wonach sehr starke sowie sehr geringe Erregungslevel zu einer Abnahme der Lern- und damit Gedächtnisfähigkeit führen (Yerkes/Dodson 1908: 481), durch zahlreiche Untersuchungen widerlegt werden (vgl. Christiansen 1992). Schürer-Necker resümierte: „Alles deutet darauf hin, dass die Intensität von Emotionen als die entscheidende Variable anzusehen ist" (Schürer-Necker 1994: 41). In allen ihr bekannten Studien, bei denen Intensitätsmessungen vorgenommen worden sind, hätten sich Intensitätseffekte nachweisen lassen (ebd.). Auch Reisberg und Kollegen hielten nicht die Art von Emotionen, die an einem Erinnerungsprozess beteiligt sind, sondern ihre Stärke und Quantität für ausschlaggebend (Reisberg u.a. 1988:102). Je stärker eine Erinnerung mit Emotionen behaftet sei, desto größer sei auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie akkurat sei (Reisberg/Heuer 2004: 4). Die Verlässlichkeit machten die Forscher an vier Charakteristika fest, die sie als Indizien für eine bessere Erinnerungsleistung einstufen: Erstens werden emotionale Erfahrungen von erhöhter Aufmerksamkeit begleitet, gehören zweitens meist zu einem für das Individuum wichtigen Themenkomplex, werden drittens von der emotional ergriffenen Person noch Minuten oder Stunden nach ihrem Auftreten gedanklich umkreist und viertens aus eigenem Antrieb in bestimmten Abständen erinnert (ebd.: 4-5). In einem Experiment mit emotional konnotierten Bildern eines Fahrradunfalls fanden Christianson und Loftus heraus, dass das vom Betrachter als zentral eingestuften Merkmal außergewöhnlich genau erinnert wird, wobei periphere Merkmale dagegen weniger detailliert und sogar falsch erinnert werden. Was indes jeweils als zentral und peripher gilt, lässt sich nach Ansicht der Autoren nicht generalisieren (Christanson/Loftus 1991: 107).

52

II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns

und

Vergessens

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Erinnerungen immer nur „emotional gefärbte" individuelle Entwürfe der Vergangenheit sein können, die nichts weiter sind als subjektive Rekonstruktionen des Wahrgenommenen. Erinnerungen sind stets so individuell und subjektiv wie die persönlich damit einhergehenden Emotionen und können daher nicht verallgemeinert werden. Vollends geklärt ist der Zusammenhang zwischen Emotion und Gedächtnis nicht (vgl. Roth 1996:212). So konstatieren Reisberg und Heuer: „We know far less than we might wish" (Reisberg/Heuer 2004: 36).

6.

Das autobiographische Gedächtnis

6.1.

Autobiographie

und

Identität

Im vorigen Kapitel wurde bereits in Bezug auf die Bedeutung von Emotionen für das menschliche Gedächtnis darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass Erfahrungen bewertet werden, um sinnvoll eingeordnet und genutzt werden zu können. LeDoux stellte darüber hinaus fest: „Emotions and memory contribute significantly to our personality, our self" (LeDoux 2002: 71). In Verbindung mit diesem „emotionalen Index" (Markowitsch/Welzer 2005: 11) sorgt der Ich-Bezug von Erinnerungen für die Grundlage, das bereits erworbene Wissen zielgerichtet anzuwenden. Das sogenannte autobiographische Gedächtnis umfasst daher all jene Informationen, die mit der Persönlichkeit des Individuums, seinen Einstellungen, Intentionen und Zielvorstellungen in Zusammenhang stehen und persönlich von Belang sind. Sie sind essentiell für die Bildung und Stärkung der eigenen Identität (vgl. u.a. Baddeley 1992; Rubin 1992; Conway/Rubin 1993; Tulving 1983, 2005). Neisser stellte Ende der 1980er Jahre sein Modell der menschlichen Selbsterkenntnis vor (Neisser 1988). Er unterschied fünf Arten von Identität, indem er das Individuum in Relation zu seiner Umwelt, zu anderen Personen, zu seiner Lebenserfahrung, zu seiner Einzigartigkeit und zu sozial oder kulturell vermittelten Konzepten stellt wie beispielsweise bestimmte Rollenzuweisungen (Ehemann, Professor, Amerikaner) oder persönliche Merkmale (Intelligenz, Attraktivität, Reichtum) (ebd.: 36). Das sogenannte „extended self" basiert vorrangig auf dem autobiographischen Gedächtnis, indem es das individuelle Ich mithilfe der persönlich erlebten Erfahrungen und Erwartungen prägt (ebd.: 46-50). Je älter ein Mensch wird, desto größere Bedeutung kommt dem „erweiterten Selbst" zu, das hier als Erinnerungsidentität bezeichnet werden soll, da im Laufe der Lebensspanne immer mehr Erfahrungen angesammelt und damit auch erinnert werden können. Dabei steht diese Identitätsform laut Neisser durch den steten Abgleich von Wahrnehmungen in Vergangenheit und Gegenwart in enger Verbindung zum „ecological self", das die Persönlichkeit in der Jetzt-Zeit durch ihren Bezug zur Umwelt definiert (ebd.: 37-41). Trotzdem gebe es die kuriose Möglichkeit, dass Personen einerseits danach streben, nur im Hier und Jetzt leben und die Vergangenheit aus ihrem Bewusstsein aus-

II.6. Das autobiographische Gedächtnis

53

zubienden suchen, oder sich andererseits im Alltag lieber rückwärtsgewandt orientieren und die Vergangenheit der Gegenwart vorziehen (ebd.: 49). Gleichermaßen steht die Erinnerungsidentität unter starkem Einfluss der anderen Identitätsformen wie dem „konzeptuellen", dem „interpersonalen" und dem „privaten" Selbst: Da Erinnerungen stets in der Gegenwart konstruiert werden, spielen das aktuelle Selbstverständnis, die Beziehung zu dem jeweiligen Gegenüber und die Auffassung der persönlichen Besonderheit eine gewichtige Rolle beim Erinnerungsprozess und dienen zum Zwecke der Selbstvergewisserung (Barclay 1995: 94). So unterliegen nicht nur Erinnerungen, sondern auch die unterschiedlichen Identitätsentwürfe einer stetigen Rekonstruktion und damit auch einem unablässigen Wandel. Pohl bemängelte die unzureichende Explizität der bisherigen Versuche, autobiographisches Gedächtnis zu definieren, da die angesprochenen Variablen wie Emotionalität, Selbstbezug und Relevanz kontinuierliche Ausprägungen besäßen und daher fließende Übergänge erlaubten (Pohl 2007: 48). Springer sah indes genau darin den „Dreh- und Angelpunkt unseres Menschseins" (Springer 2006). Nach Hillebrandt zeichnen sich autobiographische Erinnerungen gegenüber anderen Typen von Erinnerungen durch ihre Komplexität, ihren Selbstbezug und das Gefühl des Sich-Erinnerns aus (Hillebrandt 2002: 25). Schacter fasste entsprechend zusammen, dass „die komplexe Mischung, die unser persönliches Wissen um unsere Vergangenheit darstellt, zu Lebensgeschichten und persönlichen Mythen verflochten werden. Dies sind die Biographien des Ichs, die mit einer erzählerischen Kontinuität Vergangenheit und Zukunft verknüpfen - ein Erinnerungsfundus, der Kern der persönlichen Identität ist" (Schacter 1999a: 156). Da Erinnerungen stets in der Gegenwart gebildet werden, sind auch die autobiographischen immer nur als temporale mentale Konstruktionen zu verstehen, die nur vorübergehend und auf den aktuellen Situationskontext angepasst sind (Bluck/Habermas 2000; Hillebrand 2002: 20). Auf einen Reiz (z.B. einen visuellen Eindruck, einen Geruch, einen Geschmack bzw. ein Tasterlebnis) hin wird eine Erinnerung zusammengesetzt, die grundsätzlich aus allen drei autobiographischen Wissensbeständen gespeist wird: Isst man beispielsweise nach jahrelanger Pause erneut ein Kaubonbon einer bestimmten Marke, erinnert man sich nicht nur an ein ereignisspezifisches Kindheitserlebnis: das Naschen des Bonbons, sondern auch daran, wo man zum Beispiel zu jener Zeit gewohnt hat (Lebensabschnitt) und in welchen Ferien sich das Ereignis zugetragen hat (Generalisiertes Wissen). Diese Kontextualisierung ist laut Conway notwendig, um scheinbar bedeutungslose Erinnerungen in größere thematische Zusammenhänge einzubetten (Conway 1992: 169). Autobiographische Erinnerungen sind also instabil insofern, dass sie ständig aktuellen Wesenszuständen des Individuums und des jeweiligen Kontextes unterliegen, aber andererseits auch stabil, weil sie stets auf die hierarchisch organisierte Struktur der Wissensbasis zugreifen. Schacter verstand die Konstruktion der persönlichen Autobiographie daher als ein „Puzzle [...], das wir aus einer Vielzahl verschiedenartiger Elemente zusammenfügen" (Schacter 1999a: 156). Gleichsam stellte er die Frage: „Wenn sie erheb-

54

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

lieh von unseren gegenwärtigen Bedürfnissen und Wünschen beeinflusst wird, besteht dann nicht die Gefahr, dass wir häufig blind sind für die grundlegenden Wahrheit des Lebens?" (ebd.) Dies formulierte Schacter freilich bewusst provokant. Schließlich ist davon auszugehen, dass der Großteil der Menscheit trotz individueller Verzerrungen von Gedächtnisinhalten nicht in individuellen Phantasiewelten lebt, die nichts gemein haben mit den Grundrissen der Realität. Damit mögen Erinnerungen grundsätzlich subjektiv und konstruiert sein, unterscheiden sich aber nicht derart grundlegend, dass man ganze Weltbilder in Frage stellen muss. Die divergenten Auskleidungen belaufen sich vielmehr auf unterschiedliche Schwerpunktsetzung bei der Erinnerung an unterschiedliche Ereignisse, je nach Interesse und emotionale Berührtheit, wie Schacter aufzeigte (ebd.: 157). Nach Bluck und Habermas sind nur solche Erinnerungen als autobiographisch zu bezeichnen, die durch ihre emotionale oder motivationale Signifikanz über das gesamte Leben hinweg mit dem Selbst verknüpft sind (Bluck/Habermas 2000: 121). Das können bewegende Erlebnisse sein oder Wendepunkte, Erschütterungen von Werten oder Erkenntnisse, also Erfahrungen, die das weitere Leben auf Dauer prägen. Das autobiographische Gedächtnis umfasst also nicht allein die Erinnerung an einzelne für die Person wichtige Ereignisse oder Episoden des eigenen Lebens, sondern auch wie Individuen ihre gesamte Lebensgeschichte interpretieren, sie repräsentieren, darüber denken und fühlen (ebd.: 141). Anderson und Conway wiesen darauf hin, dass autobiographische Erinnerungen in thematische Bestände unterteilt und nach zeitlichen Abläufen strukturiert sind. Je wichtiger die persönliche Signifikanz einer erinnerten Erfahrung, desto schneller kann die betreffende Erinnerung abgerufen werden (Anderson/Conway 1993: 1195). Unter Themen sind in diesem Zusammenhang einerseits kulturelle Normen und Werte zu verstehen, mit denen sich eine Person im Laufe ihres Lebens auseinandersetzt, andererseits aber auch von der Außenwelt unabhängige individuelle Probleme wie die Psyche über länger Zeit belastende Erinnerungen oder eigenmotivierte Bestrebungen wie das Erreichen eines konkreten Ziels (Hillebrandt 2002: 19). Themen ermöglichen eine Verknüpfung der in erster Linie zeitlich strukturierten Lebensabschnitte mit Aspekten des eigenen „Ichs" (Conway 1992,175). Conway und Rubin (1993) identifizierten drei hierarchisch organisierte Strukturebenen von autobiographischen Wissensbeständen, die selbst keine Erinnerungen sind, aber einen Fundus an Informationen bilden, aus denen Erinnerungen konstruiert werden: Wissen über Lebensabschnitte („lifetime periods"), generalisiertes Erlebniswissen („general events") und ereignisspezifisches Wissen („event specific knowledge"). Als Lebensabschnitte werden klar abgegrenzte Zeiträume verstanden, die sich zwar überlappen können, aber thematisch deutlich voneinander zu unterscheiden sind (Conway 1992: 176). Das dazugehörige Wissen kann für das Selbst wichtige andere Personen betreffen, die eng mit einer Lebensphase verbunden werden, genauso wie Stimmungen, Ziele und thematische bzw. Rollenverteilungen. Conway und Rubin führten hierzu als Beispiel die gesellschaftlichen Funktionen als Ehemann, Vater, Arbeitstätiger oder Sportler an (vgl. Conway/Rubin 1993: 105). Die Summe der Lebensabschnitte dient laut Schacter damit

II.6. Das autobiographische Gedächtnis

55

als Skelett für die autobiographischen Erinnerungen (Schacter 1999a: 153). Generalisierte Ereignisse dagegen erzeugen spezifischeres und gleichsam heterogeneres Wissen über die mit ihnen einhergegangenen persönlichen Erfahrungen. Hierzu zählen Erlebnisse, die häufiger wiederholt wurden und zusammengefasst im autobiographischen Wissensbestand erscheinen, sowie solche, die sich über eine längere Zeit erstreckt haben. Ereignisspezifisches Wissen wiederum nimmt die Form von Bildern, Gefühlen und hochspezifischen Details an und ermöglicht die Aufrechterhaltung sensorisch wahrgenommener Details von Objekten und Handlungen in Bezug auf ein Erlebnis. Schacter weiß um die Schwierigkeit, sich auch nach längerer Zeit an Einzelereignisse zu erinnern, da sie nur ein einziges Mal stattfänden. Diese Ereignisse verlören dann ihre individuellen Merkmale und würden somit zu allgemeinen Ereignissen, indem verschiedene Einzelereignisse miteinander zu einer Erinnerung verschmölzen. Dennoch trügen diese Ereignisse immer noch „das Flair unserer Vergangenheit" (ebd.: 152). Besonders gut erinnert werden einerseits Erlebnisse, die erst kurze Zeit zurückliegen und dem sogenannten „recency effect" unterliegen (Hillebrandt 2002: 34). Außerdem ergaben Untersuchungen, dass Erfahrungen aus der Jugend- und frühen Erwachsenenphase zwischen 10 und 30 Jahren, die als „reminiscence bump", also als „Erinnerungshöcker" bezeichnet werden, ebenfalls bis ins hohe Alter lebhaft erinnert werden (Schacter 1999a: 481-482). Häufig bleiben nicht nur persönliche, sondern auch öffentliche Ereignisse im Gedächtnis, bei denen das Individuum nicht körperlich anwesend war (Sehulster 1996: 135). Je nach Alter des Individuums ist die Gedächtnisleistung aber stets vom physiologischen Zustand des Gehirns abhängig. Wenn Zellverbindungen entweder noch nicht richtig ausgebildet sind wie im frühkindlichen Wachstumsstadium12 oder störanfällig werden bzw. absterben wie im fortschreitenden Alterungsprozess sind es vor allem Emotionen, die von großer Bedeutung bei der Bildung und dem Abruf von Erinnerungen sind. Nach Cohen sind ältere Menschen besonders von einem Detailverlust ihrer Erinnerungen betroffen, was Verallgemeinerungstendenzen zur Folge hat (Cohen 1998:121). Dazu stellte unter anderem Mather fest, dass im Gegensatz zur allgemeinen Verschlechterung der Gehirnleistung durch das Absterben von Zellen die emotionale Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter sogar wächst. Sie spricht daher Emotionen das Potenzial zu, Beeinträchtigungen des Gedächtnisses an anderer Stelle zu kompensieren (Mather 2004: 294). Dies führt bei älteren Menschen zwar zu einer verstärkten Erinnerung von emotionalen Charakteristika eines Erlebnisses. Doch wurde gezeigt, dass sich die Fähigkeit, sich an emotional negativ behaftete Erlebnisse zu erinnern, im Laufe des Alterungspro-

12

Kinder erkennen sich erst ab einem Alter von ca. vier Jahren langsam als Selbst und lernen sich von ihren Mitmenschen zu unterscheiden (Welzer/Markowitsch 2005: 231). Die Bedeutung von Emotionen für Kinder wurde u.a. von Davidson, Zuo und Burden (2001), Liwag und Stein (1995) sowie Leichtman, Ceci und Ornstein (1992) untersucht bzw. analysiert und als herausragend eingestuft. Dies zeigt einmal mehr, wie wichtig Emotionen bei der Bildung der Autobiographie sind, da Kinder zwar in jungen Jahren über episodische Erinnerungen verfügen, aber noch nicht über ein autobiographisches Gedächtnis (vgl. Nelson 1997: 104).

56

II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns und

Vergessens

zesses verschlechtert (Turk-Charles/Mather/Carstensen 2003). Dies führt gleichsam zu der erhöhten Wahrscheinlichkeit, dass Erinnerungen in eine emotional positivere Richtung verfälscht werden (Mather 2004: 295). Wie bereits erwähnt, werden weniger die Fakteninformationen selbst, sondern deren emotionale Konnotation verändert (Walker/ Vogl/Thompson 1997). Vermutet wird, dass hierbei das Streben nach Wohlbefinden und seelischer Ausgeglichenheit ein Faktor ist (vgl. Mather 2006; Turk-Charles/Mather/Carstensen 2003: 311).13 Uttl und Graf dagegen wiesen auf methodische Fehler bei der experimentalen Untermauerung dieser Hypothese hin und zogen sie damit in Zweifel (Uttl/ Graf 2006: 183). Die grundsätzlich wichtige Bedeutung von emotionalen Erinnerungen für Menschen in fortgeschrittenem Alter dagegen wurde auch von ihnen unterstrichen (ebd.).

6.2.

Die Autobiographie

als große

Erzählung

Bei der Erstellung und Veränderung von Autobiographien rückt der narrative Charakter von Erinnerungen in den Fokus: Rubin gab einen kompakten Überblick, wie ausgiebig sich die psychologische Gedächtnisforschung mit narrativen Strukturen auseinandergesetzt hat (Rubin 1998: 53-54). Das sei vor allem dadurch begründet, dass Selbsterlebtes vor allem erzählt und dadurch für die Mitmenschen, also auch den Forscher, erfassbar wird: „Autobiographic Memories are usually recalled as words, often as stories. The verbal structure of an autobiographical memory is the structure of the genre of narrative that it is" (Rubin 1995:2). Auch sei die narrative Struktur autobiographischer Erinnerungen nie von Strukturen andersartiger sozialer Kommunikation zu unterscheiden (Rubin 1998: 54). Schank und Abelson gehen mit ihrer Argumentation weiter und sehen in der Tatsache und Art der Elaboration von Erinnerungen in der Kommunikation mit anderen Personen die Basis des „remembered self" (Schank/Abelson 1995: 1). Markman stellte indes fest, dass Sprachanalysen abstrakter Konzepte gezeigt habe, dass der Mensch dazu neige, über komplizierte oder abstrakte Begebenheiten mit einfacheren Elaborationskonstruktionen zu sprechen, das heißt generell die Schilderung konkreter Situationen vorzuziehen, was zu einer Simplifizierung der Erinnerung selbst führe (Markman 1999: 247). Die Linguistin Hanna Pishwa, die einen Sammelband zum Verhältnis zwischen Sprache und Gedächtnis veröffentlicht hat (Pishwa 2006a), sieht die Zielverfolgung unter Einsatz angesammelten Wissens als eine der wichtigsten Antriebsfedern des menschlichen Verhaltens, deren erfolgreiche Umsetzung davon abhinge, wie die Vorhaben in Sprache ver-

13

Mit der sozioemotionalen Auswahltheorie („socioemotional selectivity theory") beschrieb Carstensen die Beobachtung, dass junge Menschen durch ein hohes Maß an Zukunftsorientierung die Bereitschaft besitzen, Informationen aufzunehmen und ein Konzept ihres Selbst zu erstellen, ältere Menschen dagegen weniger aufnahmebereit für neue Informationen sind, ihre Identität weitestgehend gefestigt sehen und mehr Wert auf emotionale Regulation, das heißt auf ihr Wohlbefinden legen (Carstensen 1995).

II.6. Das autobiographische Gedächtnis

57

bal artikuliert werden (Pishwa 2006b). Der Einfluss von Sprache auf das Gedächtnis kann indes auch verheerende Auswirkungen haben. So untersuchte Nelson die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses bei Kindern und fand heraus, dass Erinnerungen schnell wieder vergessen werden können, wenn sie nicht sprachlich kommuniziert werden (Nelson 1993). Schank und Abelson sprachen in diesem Fall einer ausbleibenden narrativen Verknüpfung von einer Trennung verschiedener Erinnerungsfragmente, die zwar nicht verloren gehen, aber durch die fehlende Kohärenz nur mit Schwierigkeiten wieder abgerufen werden können (Schank/Abelson 1995: 80). Gedächtnis wird also sozial erlernt, was auch Nelson in ihrem Aufsatz über die psychologischen Ursprünge autobiographischer Erinnerung darlegt. Sie zeigt, dass Eltern ihren Kindern beibringen, wie und was sie erinnern sollen (Nelson 1993: 12), wobei dies von den Eltern keine bewusste Absicht darstellt, sondern intuitiv geschieht (Welzer 2002a: 210). Erst durch diese Form von „memory talk" mit engen Vertrauenspersonen bildet sich nach Nelson das autobiographische Gedächtnis aus, das somit sozial erlernt ist:14 „The claim here is that the initial functional significance of autobiographical memory is that of sharing memory with other people, a function that language makes possible. Memories become valued in their own right - not because they predict the future and guide present action, but because they are shareable with others and thus serve a social solidarity function. I suggest that this is a universal human function, although one with variable, culturally specific rules. In this respect, it is analogous to human language itself, uniquely and universally human but culturally - and individually - variable. I suggest further that this social function of memory underlies all of our storytelling, history-making narrative activities, and ultimately all of our accumulated knowledge systems" (Nelson 1993:12). Das bereits angesprochene Konzept einer übergeordneten Lebenserzählung sehen die Urheber Bluck und Habermas daher als notwendige Erweiterung des dreiteiligen Modells von Conway und Rubin an, indem sie es u m die abstraktere Narrationsebene ergänzen: „The life story schema is necessary for establishing ones life as the most general frame (i.e., a level above lifetime periods) for structuring autobiographical information" (Bluck/Habermas 2000: 129).15 Damit wenden Sie sich gegen die Auffassung, Erinnerungen würden allein durch ereignisspezifisches Wissen konstruiert und rekonstruiert (Conway 1992). An anderer Stelle führten sie weiter aus: „Our postulation of a life story schema contributes to work on the organization of Autobiographic] Mfemory] by delineating a specific schematic structure, and pro-

14

15

Dieser Befund wurde unter anderem auch von Wang bestätigt, der betont: "[C]hildren whose mothers more frequently engaged them in the construction of elaborate personal stories came to recall more detailed and self-focused autobiographical memories" (Wang 2006: 186). Unter Schemata werden Informationsgruppen bzw. -Sequenzen verstanden, die regelmäßig genug gemeinsam aktiviert werden, so dass sie in mehr oder weniger festen Einheiten auftreten (vgl. Pishwa 2006c: 269; Bartlett 1995: 201). Eine Übersicht verschiedener Schema-Theorien findet sich bei Waldmann 1990: 51-105.

58

II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns

und

Vergessens

cesses of autobiographical reasoning by which coherence is forged (temporal, cultural, thematic, causal). These bind the current self with the self and events of the past over a lifetime. The types of coherence represented in the life story schema maintain the continuity of the self both by establishing order and connectedness, and by finding reason for the discontinuities, between life's events and the present self" (Bluck/ Habermas 2000:133-134). Die Betonung der Bedeutung einer Kohärenz der individuellen Persönlichkeit weist auf die gedächtnisimmanente Bindungskraft für Identitätskonstruktionen hin. Wenn der renommierte Harvard-Professor Daniel Schacter ein Buch mit dem Titel „Wir sind Erinnerung" (Schacter 1999a), wenn auch nur in der deutschen Übersetzung, 16 veröffentlicht, offenbart das die enge Verbindung, die der Selbstfindung und dem Gedächtnis aus psychologischer Sicht attestiert wird. Die im Laufe eines Lebens angesammelte Erfahrung, die als Grundlage der Erinnerungsidentität dient, unterliegt also stets dem Diktum der Narration, was auch Robinson feststellte: „Self-histories are narrative constructions. They are informal autobiographies" (Robinson 1992: 243). Um Kontinuität herzustellen, lassen sich auch Identitätsentwürfe in ein narratives Schema einordnen, dessen Funktion es ist, das Selbst mit seiner persönlichen und damit einzigartigen Vergangenheit zu verbinden. Dadurch wird eine flexible Lebensgeschichte ermöglicht, welche die Kohärenz der unterschiedlichen Erfahrungen sicherstellt und die Person für zukünftige Ziele und Erfahrungen rüstet. Dennoch sollte nicht davon ausgegangen werden, dass das autobiographische Gedächtnis an sich als Narration organisiert ist (ebd.: 244). Dies ist vielmehr als eine durch den Erinnerungsprozess zugewiesene Struktur zu verstehen, deren Funktion es ist, das Leben einer Person verständlich und verbindlich zu ordnen (Fitzgerald 1988: 269; Fitzgerald 1996: 369). Narratives Denken erleichtert es dem Individuum, seine eigene Identität und die der Mitmenschen zu verstehen (Fitzgerald 1996: 370) und sorgt dafür, dass selbst lückenhaft strukturierte Erinnerungen in eine vollständige Narration integriert werden können, wie Welzer und Markowitsch verdeutlichen: „Das ist es, was das autobiographische Gedächtnis leistet: Es integriert das multiple Ich, indem es die wundersame Leistung vollbringt, das Selbst gerade darum als ein immer Gleiches erscheinen zu lassen, weil es sich permanent verändert" (Welzer/Markowitsch 2005: 216).

7.

Die Phänomenologie des Vergessens

Mehrmals wurde nun schon darauf hingewiesen, dass Erinnerungen keineswegs statisch und unveränderlichen im Gehirn gespeichert werden, sondern einer Vielzahl von

16

Der Titel der englischen Originalausgabe heißt „Searching for Memory: the brain, the mind, and the past". Doch trägt der deutsche Buchtitel dem Inhalt Rechnung, der stark auf die Bedeutung von Gedächtnis für die personale Identität abzielt (vgl. Schacter 1999: 15-16).

II. 7. Die Phänomenologie

des Vergessens

59

Einflüssen und Rekonstruktionsprozessen unterliegen. Doch wie ist es zu erklären, dass Erinnerungen offenbar auch vollkommen aus dem Gedächtnis verschwinden können? Dies setzt freilich voraus, dass die betreffenden Informationen zunächst überhaupt ins Gedächtnis enkodiert wurden, was in der Folge den wichtigen Unterschied zwischen Vergessen und Nicht-Wissen ausmacht (Schermer 2006: 167). Das Phänomen des Vergessens umtreibt die Kognitionsforschung schon seit langem. Ebbinghaus umschrieb mit dem Modell der „Vergessenskurve" seinen Eindruck, dass auswendig gelernte Informationen nach wenigen Minuten bis zu einigen Stunden relativ schnell wieder vergessen werden, aber nach längerer Zeit, das heißt ab 24 Stunden nach der Enkodierung, generell vergleichsweise deutlich weniger bzw. langsamer vergessen wird, obgleich Ebbinghaus meinte, dass dieser Prozess nie zum Stillstand komme, sondern beim Ausbleiben einer erneuten Einprägung zur völligen Auflösung der Gedächtnisspur führe (Ebbinghaus 1911: 680). Auch hänge der Umfang des Vergessens von der Geschwindigkeit ab, mit der gelernt werde (ebd.: 682), sowie von der Aufmerksamkeit, die während und vor allem auch nach der Enkodierung dem Lerninhalt gewidmet werde: „Assoziationen, die nicht unmittelbar nach ihrer Herstellung eine gewisse Zeit haben, um sich zu setzen oder zu konsolidieren, wie man sagen könnte, beharren demnach nicht lange" (ebd.: 686). Gleiches vermuten einerseits Wixted, der eine Schwäche der Konsolidierung als ausschlaggebend für Anfälligkeit von Erinnerungen sieht (Wixted 2005: 9), andererseits auch Loftus und Loftus, die auf Erinnerungsfragmente verwiesen, welche gerade bei komplexen Erlebnissen bzw. Fakten fragil sein und daher bei der Erinnerungskonstruktion durch andere Informationen ersetzt werden könnten (Loftus/Loftus 1980: 418). Dennoch gibt es auch heute noch gegensätzliche Auffassungen über das Wesen des Vergessens an sich. Während die eine Seite die Ansicht vertritt, dass Gedächtnisspuren unter bestimmten Umständen zerfallen können und damit eine Rekonstruktion der Erinnerung nicht mehr möglich sei, geht die andere Seite davon aus, dass Vergessen vielmehr ein Assoziationsproblem sei, die Gedächtnisspuren an sich aber von Dauer seien.17 Letztliche Gewissheit wurde in dieser Streitfrage noch nicht erzielt, da bisher nicht schlüssig untersucht werden konnte, ob eine Information tatsächlich nicht mehr im Gedächtnis vorhanden ist: Sollte sie im Laufe einer Untersuchung nicht abgerufen werden können, muss das nicht heißen, dass sie für immer verloren ist. Es besteht immer auch die Möglichkeit, dass es sich nur um einen Abruf- bzw. Rekonstruktionsfehler handelt und die Erinnerung temporär unzugänglich ist. Roediger III betonte, dass kein allgemeingültiges „Gesetz des Vergessens" existiere, weil es immer auf unterschiedliche Faktoren ankomme (Roediger III 2008: 17.20). Schacter nannte drei Vorgänge, die das Vergessen im Sinne der Unfähigkeit, sich zu erinnern, begünstigen (1999b: 184-188): Vergänglichkeit („Transience"), Geistesabwesenheit („Absent-Mindedness") und Hemmung („Blocking"). Die zeitliche Dimension, auf die Vergänglichkeit verweist, wird dabei durch Aufmerksamkeitsdefizite bei der Er-

17 Übersicht der Forschungsgeschichte des Vergessens bei Wixted 2004.

60

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

Stellung oder dem Abruf sowie Hemmungen bei der Rekonstruktion ergänzt. Schacters drei „Gedächtnissünden" finden sich auch in den drei maßgeblichen Theorien über das Vergessen wieder: Die Spurenzerfallstheorie sieht Vergesslichkeit als die Folge eines zeitlichen Prozesses, in dessen Verlauf eine Erinnerung langsam verblasst und bald vollkommen vergessen wird, wenn sie nicht durch Wiederholung erneut gefestigt wird (vgl. Schacter 1999b: 184). Die Zeitdimension wurde indes als wenig überzeugend eingestuft, da sie sich nur schwer experimentell überprüfen lässt (Schermer 2006: 168). Die Bedeutung von Aufmerksamkeitsdefiziten bzw. -ablenkung scheint beim Spurenzerfall wichtiger zu sein: Je nachdem, wie stark geistesabwesend eine Person während oder selbst nach Erinnerungserstellung ist, können Erinnerungen zerfallen, da sie entweder nur schwach enkodiert werden oder sich nicht konsolidieren können (ebd.: 169). Pohl sieht hier auch die wichtige Funktion von Emotionen betroffen, das heißt die individuelle Wertung, wie wichtig eine Wahrnehmung für die Persönlichkeit ist, was je nachdem zu einer Bündelung oder Ablenkung der Aufmerksamkeit führt (Pohl 2007: 39). Wie Klimesch verdeutlicht hat, sind Zerfallsprozesse nur eine Möglichkeit des Vergessens und müssen im Zusammenhang mit Interferenzen betrachtet werden (Klimesch 1979: 123-124). Mit der Interferenztheorie wird im Gegensatz zum passiven Spurenzerfall ein aktiver Prozess des Vergessens beschrieben, bei dem neue oder bereits vorhandene Informationen Erinnerung blockieren (Wixted 2005). Eine retroaktive Hemmung der Erinnerungsfähigkeit liegt vor, wenn eine neu gelernte Information wie beispielsweise die neue Telefonnummer des besten Freundes eine ältere Gedächtnisspur wie beispielsweise dessen alte Telefonnummer blockiert, so dass sie nicht oder nur mit Schwierigkeiten erinnert werden kann. Als proaktiv wird dagegen eine Hemmung bezeichnet, bei der vielmehr die Gedächtnisspur wie beispielsweise der Mädchenname einer Schulkameradin so markant ist, dass eine neue Information wie beispielsweise ihr neuer Name nach einer Heirat einfach nicht erinnert werden will. Grundsätzlich gilt: Je mehr Informationen tagtäglich aufgenommen werden, desto mehr können sie auch interferieren (Pohl 2007:41). Auch können starke Interferenzen auftreten, wenn ein Hinweisreiz durch die Zuordnung bzw. Verknüpfung mit mehreren Erinnerungen „überlastet" wird („cue-overload"), wovon vor allem ähnliche Informationen betroffen sind (Wixted 2005:6). Ein nur kurzzeitig auftretendes Interferenzphänomen ist das sogenannte „Zungengefühl" („tip-of-the-tongue-phenomenon"), das entstehen kann, wenn man versucht, eine bestimmte Erinnerung - meist ein bestimmtes Wort - wach zu rufen, einem aber nur andere, durchaus ähnliche Wörter einfallen, die das tatsächliche Wort unter Umständen blockieren, weil sie die Aufmerksamkeit ablenken (Schacter 2005: 125). Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Eindruck, das Wort liege einem auf der Zunge, aus der bewussten Wahrnehmung eines fehlenden Hinweisreizes liegt (Pohl 2007: 39). In einem solchen Fall wird gemeinhin versucht, mithilfe von Hinweisen auf die richtige (Gedächtnis-) Spur zu kommen. So kann nicht nur eine oben geschilderte Überlastung, sondern auch das Fehlen von Hinweisreizen Vergesslichkeit verursachen. Tulving bezeichnete dieses Abrufproblem als „cue-dependent forgetting" (Tulving 1974). Dabei

II.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

61

misslingt der Versuch, sich zu erinnern, weil der Zugang zu der im Gedächtnis vorhandenen Information verstellt ist. Hierbei handelt es sich also nicht um Vergessen im Sinne eines Verschwindens der Information, sondern um ein Konstruktionsproblem. Laut Schacter ist es an sich nicht zu bedauern, dass der Mensch vieles vergisst. So sei fehlendes Erinnerungsvermögen nicht schädlich, sondern vielmehr notwendig, damit der Organismus handlungsfähig bleibe: „Ein System, das die Verfügbarkeit von Informationen im Laufe der Zeit einschränkt, ist also außerordentlich zweckmäßig, weil für Informationen, die seit längerem nicht verwendet wurden, die Wahrscheinlichkeit stetig abnimmt, dass sie in Zukunft benötigt werden" (Schacter 2005: 298). Sollte etwas Anderem mehr Aufmerksamkeit zugemessen werden als der zu erinnernden Information, habe das ebenso seine Gründe wie die Blockierung beim Abruf von Information, da das Gedächtnissystem andernfalls überflutet werde mit unselektierten Assoziationen (ebd.: 301). Spurenzerfall, Geistesabwesenheit und Hemmung bei Erinnerungsprozessen stehen demnach klar im Dienste der gegenwärtigen Ziele des Individuums und seines Handelns. Dennoch gibt es im Alltag Fälle, in denen Vergesslichkeit der personalen Identität schaden kann, indem sie durch das Versagen, eine Erinnerung erfolgreich zu rekonstruieren, das Selbstwertgefühl mindert. Dies ist zum einen sicherlich der Fall, wenn einem beileibe nicht der Name einer bekannten Person einfallen will, der man auf der Straße über den Weg läuft, aber auch, wenn autobiographische Erlebnisse nur noch unvollständig oder gar nicht mehr erinnert werden können, so dass man sich zur aktiven Konfabulation gezwungen sieht, um gegenüber seinen Zuhörern den Schein zu wahren. So kann Vergesslichkeit in vielen Fällen die narrative Kohärenz der eigenen Lebensgeschichte unterbrechen, die Suche nach Analogieschlüssen erforderlich machen, was wiederum zu einer bewussten oder unbewussten Konstruktion falscher Erinnerungen führen kann (vgl. Kapitel III.6.3.). Wenn ein narratives Schema versagt, kann das indes auch daran liegen, dass Vergessen nicht möglich ist wie im Falle traumatischer Erinnerungen, die durch einen emotionalen Schockzustand und die damit mögliche Minderung des Selbstwertgefühls einen Identitätsbruch verursacht, der durch die präsenten Erinnerungen nur schwer kompensiert werden kann. So spielt das Vergessen selbst dann eine zentrale Rolle für die personale Identität, wenn es nicht auftritt.

8.

Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

Als soziales Wesen ist der Mensch eingebunden in einen kulturellen Sozialisationszusammenhang, der Persönlichkeitsbildung und -wandel in nicht unerheblichem Maße prägt. Der Kulturbegriff ist dabei weit oder eng zu fassen: Während der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas Kultur als „Wissensvorrat, aus dem sich Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas verständigen, mit Interpretationen versorgen" (Habermas 1988: 96) definiert, plädiert der Journalist und ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen für einen Kulturbegriff „mittlerer Reichweite" (Pleitgen 2004: 23), worun-

62

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

ter er alle menschlichen Hervorbringungen und Verhaltensweisen fasst, die vor allem geistige Bedürfnisse befriedigen. Der Fernsehwissenschaftler Lothar Mikos will Kultur ebenfalls nicht ausschließlich als „geistiges Erbe" (Mikos 1992: 532) verstehen, das in Form von Kulturgütern aus der Vergangenheit überliefert wird, sondern sieht darin auch und vor allem ein immatrielles Mittel des sozialen Handelns, das symbolisch vermittelt ist (ebd.: 533). Ähnlich sieht es der Kulturwissenschaftler John Fiske, der an einen weiten Kulturbegriff als „a whole way of life" (vgl. Williams 1999: 58) anschließt und auf die Wandelbarkeit und potenzielle Instabilität kultureller Strömungen hinweist: „Kultur ist die Verbreitung von Bedeutungen, Vergnügungen und Werten im sozialen Raum, und die daraus resultierende kulturelle Ordnung ist mit der gesellschaftlichen Ordnung innerhalb deren sie verbreitet wird, unauflösbar verknüpft. Kultur vermag die gesellschaftliche Ordnung zu sichern und dazu beizutragen, das sie aufrechterhalten wird, oder sie kann sie destabilisieren und darauf zielen, sie zu verändern, aber sie ist niemals neutral oder losgelöst. Die soziale Verbreitung von Bedeutungen ist immer ein Mahlstrom, voller gegensätzlicher Strömungen, Strudel und Wirbel. Die Hauptströmung versucht ihren Lauf möglichst gleichmäßig und unaufhaltsam zu halten, aber an ihren Rändern gibt es immer schroffe, unzugängliche Felsen und Vorsprünge, die sei unterbrechen oder umlenken" (Fiske 1999: 248-249). Die UNESCO, weltgrößte internationale Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, versteht Kultur als Synonym für all das, was der Mensch mit gemeinschaftlicher Perspektive gestaltet: „als Disposition zum Handeln, als Handlung und als Produkt dieses Handelns" (Leonhard 2001: 124). Seit 1982 wird in diesem Sinne Kultur als „the whole complex of distinctive spiritual, material, intellectual and emotional features that characterize a society or social group" verstanden (UNESCO 1982). So wie das Gedächtnis des Individuums konstitutiv ist für Herausbildung und Pflege der persönlichen Identität, sollen im Folgenden die entscheidenden Gedächtnistheorien auf sozialer und kultureller Ebene in ihrer Funktion für die Gedächtnisbildung erörtert werden.

8.1.

Das vergesellschaftete Gedächtnis: Maurice Halbwachs und die Kollektivität des Erinnerns

Das individuelle Gedächtnis ist angewiesen auf den ständigen Rückbezug auf kollektives Wissen: Den Terminus des „kollektiven Gedächtnisses" prägte der französische Soziologe Maurice Halbwachs, der als erster dem Phänomen kollektiv gerahmter Erinnerungen methodisch auf die Spur kam (François/Schulze 2001: 13). Halbwachs wird als der „Gründungsvater" (Assmann 2002c: 9) der gesellschaftlichen Gedächtnisforschung und als „Klassiker" innerhalb der Kulturwissenschaften (Wetzel 2004: 563) angesehen, da er mit seinem Buch „La Mémoire Collective", das er nicht vollenden konnte und welches 1950 aus seinem Nachlass herausgegeben wurde, einen bis dahin noch nicht bekannten Weg der soziologischen Gedächtnisforschung beschritt und über vier Jahrzehnte nach seinem Tod im Konzentrationslager Buchenwald mit seinen Schriften das Forscherehe-

II.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

63

paar Assmann dazu brachte, ihre einflussreiche Theorie des kulturellen Gedächtnisses zu entwickeln.18 Zuvor hatte er mit seinem ebenso stark beachteten Band „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen" umfangreiche Vorüberlegungen zu seiner Theorie der gesellschaftlichen Verankerung des individuellen Gedächtnisses angestellt. Die deutschen Übersetzungen seiner zwei Werke hatten noch bei ihrer ersten Veröffentlichung in den 1960er Jahren wenig Resonanz hervorgerufen, sondern konnten erst - neu aufgelegt in den 80er Jahren - von veränderten Rahmenbedingungen profitieren, da gerade in Deutschland unter anderem durch die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus und durch den Historikerstreit plötzlich ein ungeahntes Interesse an theoretischen Erklärungsmodellen für die „Wiederkehr des Verdrängten" (Assmann 2005a: 67) herrschte. Halbwachs interessierte vor allem, was die Menschen verbindet. Er ging davon aus, dass es gemeinsame Erinnerungen sind, die Menschen in Gruppenformen zusammenhält, und prägte damit den Begriff des „kollektiven Gedächtnisses". Dessen Existenz und Stabilität ist in erster Linie dem Bestand der Gruppe verhaftet. Sollte sich die Gruppe auflösen, geht eben jene Erinnerung verloren, die von den Gruppenmitgliedern gemeinsam geteilt wurde: „Einen Abschnitt seines Lebens vergessen heißt: die Verbindung zu jenen Menschen verlieren, die uns zu jener Zeit umgaben" (Halbwachs 1967: 10). Die Reichweite kollektiver Gedächtnisse ist also grundsätzlich an die Lebensdauer der Menschen gebunden, die es pflegen (ebd.: 71). Erinnerungen haben nach Halbwachs keine immanente Beharrungskraft, sondern bedürfen der sozialen Interaktion und Bestätigung. Anders formuliert: Es kann nach Halbwachs keine Erinnerung ohne gesellschaftliche Prägung geben: „Ebensogut kann man annehmen, ein schwerer, an einer Anzahl gekreuzt gespannter Fäden in der Luft aufgehängter Gegenstand schwebe frei im Leeren" (ebd.: 33). Der schwere, an Fäden fixierte Gegenstand ist für Maurice Halbwachs das menschliche Gedächtnis, das unfähig ist, losgelöst von all jenen Werten, Normen, direkten und indirekten Einflüssen seiner sozialen Umwelt zu operieren. „Jede noch so persönliche Erinnerung, selbst von Ereignissen, deren Zeuge wir alleine waren, selbst von unausgesprochenen Gedanken und Gefühlen, steht zu einem Gesamt von Begriffen in Beziehung, das noch viele andere außer uns besitzen, mit Personen, Gruppen, Orten, Daten, Wörter und Sprachformen, auch mit Überlegungen und Ideen, d.h. mit dem ganzen materiellen und geistigen Leben der Gruppen, zu denen wir gehören oder gehört haben" (Halbwachs 1985: 71).

18

Jan Assmann denkt zurück: „Ich kann mich noch gut an meine erste Begegnung mit den Büchern von Maurice Halbwachs erinnern. Das war im September 1986. Aleida Assmann und ich hatten das Jahr 1984/85 am Wissenschaftskolleg zu Berlin verbracht und waren in den Bannkreis einer Thematik geraten, die damals von uns Besitz ergriff und von der wir bis heute nicht losgekommen sind. Dieses Thema lässt sich mit den Begriffen Kultur und Gedächtnis umreißen, wobei es besonders um das ,und' geht [...] Im Sommer 1986 las ich also Maurice Halbwachs und kam mir wie der Entdecker eines Kontinentes vor" (Assmann 2005: 65).

64

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

Mit seiner Theorie vom vergesellschafteten Menschen (Halbwachs 2001a: 67) konterkarierte er die Auffassungen von prominenten Forscherkollegen wie seinerzeit Henri Bergson und Sigmund Freud, die Gedächtnisprozesse allein unter individuellen Geschichtspunkten unter Ausschluss von Umwelteinflüssen untersuchten (vgl. Erll 2005: 14). Programmatisch forderte Halbwachs eine „Wissenschaft vom Menschen" (Halbwachs 2001b: 175), die sich den Erfahrungen gesellschaftlichen Lebens zuwenden müsse. Dabei kam es Halbwachs auf die „Maßstäblichkeit, Nachdrücklichkeit und Gegenständlichkeit kollektiver Repräsentationen" (Wetzel 2004: 563) an, die sich in Form gesellschaftlich vermittelter Antriebe wie Familiensinn, Ehrgeiz, Sparsamkeit, das Streben nach weltlichen Gütern, nach Unterscheidung und dem Wunsch, sich zu verbessern, zeigen (Halbwachs 2001b: 33). Grundlage für Halbwachs Theorie zur gesellschaftlichen Einbettung des menschlichen Gedächtnisses sind seine Überlegungen zu einer „kollektiven Psychologie". Damit weist er auf die „schwersten Mängel der klassischen, sei es nun physiologischen oder auch assoziativen Psychologie" (Halbwachs 2001a: 29) hin, die allein dem Individuum Aufmerksamkeit schenke, nicht aber der Tatsache, dass es vielfältigen Einflüssen aus der sozialen Umwelt unterworfen sei: „Die Grundtatsache der kollektiven Psychologie sind stattdessen die Gruppe und jene Antriebe und Vorstellungen, die verschiedene gesellschaftliche Kreise teilen. Und sie wendet sich nicht an den einzelnen Menschen, um diese kollektiven Seelenzustände zu verstehen, sondern begegnet ihnen zunächst außerhalb der individuellen Bewusstsein, in den Formen und Strukturen der gemeinsamen Einrichtungen und Sitten, in Glaubensvorstellungen und den Schöpfungen der Gruppe, in der Kunst, der Wissenschaft, der Sprache oder Technik. Sie fragt schließlich nach der gesellschaftlichen Natur dieser Hervorbringungen, die sich erst von außen erkennen lassen, da doch alles, was diese gesellschaftliche Natur bedingt, sich in den gemeinsamen Formen der Sprache und des Denkens zeigt, jedenfalls nicht aus einer Seelenschau abgeleitet werden kann, sondern nur von unseren kollektiven Verstandesleistungen" (ebd.: 32-33). Die Gesellschaft hat damit Wirkungsmacht auch über „persönlichste Empfindungen und Leidenschaften" (ebd.: 67), indem sie das Individuum dazu befähigt, den Triebmenschen in sich zu kontrollieren. Halbwachs geht sogar so weit, die emotionalen Zustände des Menschen als Folge gesellschaftlicher Zugehörigkeit einzuordnen: „Liebe, Hass, Freude, Schmerz, Furcht, Zorn, werden von Beginn an gemeinsam, als kollektive Regung gefühlt und ausgedrückt. In den Gruppen, denen wir angehören, haben wir sie zeigen, aber auch empfinden gelernt. Und selbst in der Abgeschiedenheit, mit uns allein, verhalten wir uns, als ob andere Menschen uns beobachten, uns überwachten. Deshalb lässt sich sagen, dass jede Gesellschaft, jede Nation, auch jede Epoche dem Empfinden ihrer Angehörigen den eigenen Stempel aufdrückt" (ebd.: 77).

I1.8. Soziale Dimensionen

des

Gedächtnisses

65

Dieses Aufdrücken des metaphorischen Stempels findet Ausdruck in sozialen Konventionen, die der Einzelperson unmissverständlich anweist bzw. sogar „befiehlt" (ebd.: 70), wie sie sich zu bestimmten Anlässen zu verhalten hat. Die Gesellschaft ist daher bestrebt, einen gewissen Gleichklang im Denken, Fühlen und Handeln ihrer Mitglieder herzustellen, indem sie sich bestimmter Techniken bedient, die Halbwachs weit gefasst in Fertigkeiten im Wirtschaftsleben, aber auch in allen anderen Lebensbereichen wie zum Beispiel grundlegend in der Sprache erkennt (ebd.: 37). Hier sieht er eine Analogie zum impliziten Gedächtnis des Individuums, wenn er beobachtet, dass diese Techniken nicht nur ein gemeinsames Gedächtnis sowie gemeinsame Überlegungen und Vorstellungen innerhalb der Gruppe voraussetzen: Erst einmal im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert, also in Routine übergegangen, würden sie sogar „fast wie automatisch" (ebd.) ablaufen. Individuelle Verhaltensweisen, die von vielen Mitgliedern der Gesellschaft beherrscht und ausgeübt werden, haben also genauso eine soziale Dimension wie persönliche Empfindungen und Erinnerungsprozesse. Halbwachs These schließt damit auch die Überzeugung ein, dass individuelle Erinnerungen immer auch dann durch soziale Rahmen bedingt sind („cadres sociaux"), wenn der Mensch eine Erfahrung scheinbar in völliger Einsamkeit gemacht hat oder sich unter Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit an frühere Erfahrungen entsinnt. Die Rahmen-Metapher ist bei Halbwachs als Bezeichnung für Kontexte zu verstehen (Echterhoff/Saar 2002: 14). Die folgende beispielhafte Passage aus Halbwachs' Einleitung seines Bandes über das „Kollektive Gedächtnis", der sogenannte „Londonspaziergang", verdeutlicht kompakt und anschaulich, dass jeder Mensch scheinbar ohne Ausnahme 19 überall und zu jeder Zeit sozialen Einflüssen unterliegt, wenn er Wahrnehmungen verarbeitet bzw. Erinnerungen rekonstruiert: „Nehmen wir an, ich gehe allein spazieren. Kann man sagen, dass ich an diesen Spaziergang nur individuelle Erinnerungen, die allein mir gehören, zurückbehalte? Ich bin indessen nur scheinbar allein spazieren gegangen. Vor Westminster habe ich daran gedacht, was mir mein Freund, der Historiker, darüber gesagt hatte (oder - was auf dasselbe hinausläuft - daran, was ich darüber in einem Geschichtsbuch gelesen hatte). Auf einer Brücke habe ich die Wirkung der Perspektiven betrachtet, auf die mein Freund, der Maler, hingewiesen hatte (oder die mir auf einem Gemälde, auf einem Stich aufgefallen war). Ich habe mich bei meinem Gang in Gedanken von meinem Stadtplan leiten lassen. Als ich zum ersten Mal in London war - vor Saint Paul oder Mansion House, auf dem .Strand' oder in der Umgebung von Courts Law - brachten mir viele Eindrücke die Romane von Dickens in Erinnerung, die ich in meiner Kindheit gelesen hatte: so ging ich also dort mit Dickens spazieren. Von kei-

19

Erll nennt als einzige Ausnahme Menschen, die unter vollkommener Isolation aufgewachsen sind und in ihrem Leben keinerlei Kontakt zur Außenwelt aufbauen können. Diesen Extremfall erkennt sie in Caspar Hauser, der im Halbswachsen Sinne streng genommen keine Erinnerungen hat haben können, nicht aber ein Robinson Crusoe, weil er erst später im Leben seiner sozialen Bezugsrahmen entrissen wurde (Erll 2003: 159-160).

66

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens nem dieser Augenblicke, von keiner dieser Situationen kann ich sagen, dass ich allein war, dass ich allein nachdachte; denn in Gedanken versetzte ich mich in diese oder jene Gruppe - in die, die ich mit dem Architekten und darüber hinaus mit jenen Menschen, deren Interpret er nur für mich war, oder in die, die ich mit dem Maler (und seiner Gruppe) bildete, mit dem Geometer, der den Stadtplan gezeichnet hatte, oder mit einem Romancier. Andere Menschen haben diese Erinnerungen mit mir gemeinsam gehabt. Mehr noch, sie helfen, mir diese ins Gedächtnis zurückzurufen: um mich besser zu erinnern, wende ich mich ihnen zu, mache mir zeitweilig ihre Denkungsart zu eigen; ich füge mich von neuem in ihre Gruppe ein, der ich auch weiterhin angehöre, da ich immer noch ihre Einwirkungen erfahre und in mir manche Vorstellungen und Denkweisen wiederfinde, die ich allein nicht hätte entwickeln können und durch die ich mit diesen Menschen in Verbindung bleibe" (Halbwachs 1967: 2-3).

Halbwachs lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass ein Mensch niemals allein sein kann, also weder isoliert und eigenständig Gedächtnisspuren enkodieren noch Erinnerungen rekonstruieren kann. Er ist stets Mitglied einer Gruppe, ob körperlich oder virtuell (Echterhoff/Saar 2002: 20). Grund dafür sind die sozialen Bedingungen bzw. Bezugsrahmen, in die jede Person eingebunden ist, selbst wenn sie sich der Gesellschaft durch Abschottung zu entziehen versucht. Solche gesellschaftlichen Rahmen finden nicht allein Ausdruck durch konkret zwischenmenschliche Interaktion, sondern durch jegliche direkte oder indirekte soziale Auseinandersetzung mit dem Wissen oder Wirken anderer Menschen - und sei es nur eine rein gedankliche. Wer einmal einem sozialen Milieu angehörte, macht es zu einem Teil seiner selbst, seines „Geistesinhalts": Darunter sind laut Halbwachs „alle Elemente zu verstehen, die die Beziehungen zu den verschiedenen Milieus kennzeichnen. Ein persönlicher Bewusstseinszustand enthüllt so die Komplexität der Kombination, aus der er hervorgegangen ist" (Halbwachs 1967: 32). Ein Mensch ist daher immer Teil von mehreren sich durchaus auch überschneidenden Kollektivgedächtnissen, da er stets mehreren Gruppen zugehörig ist (Halbwachs 1985: 200; Halbwachs 1967: 64). So kann das individuelle Denken nur verstanden werden, wenn das Individuum mit den Gruppen in Bezug gesetzt wird, zu denen es zur selben Zeit gehört (ebd.). Interessant ist die vielgestaltige Zugehörigkeit des Einzelnen zu mehreren Gruppen (also Erinnerungsgemeinschaften) auch im Hinblick auf die Konstruktion von Gruppenidentitäten. Dadurch wird es dem Individuum ermöglicht, zusätzlich zur personalen Identität noch weitere ganz unterschiedliche sozial begrenzte Identitätsentwürfe zu entwickeln. So sehr sich das individuelle Gedächtnis an (zahlreichen) kollektiven Gedächtnissen orientiert, sogar mit einem oder mehreren davon verschmelzen kann, bestehen diese wiederum aus vielen individuellen Gedächtnissen, ohne aber jemals mit ihnen verschmelzen zu können (Halbwachs 1967: 35). Die Gesellschaft hat Halbwachs daher auch nicht als Monolith, sondern als Konstrukt ganz unterschiedlicher Gruppierungen verstanden, die sich als Erinnerungsgemeinschaften fungieren, die sich mittels Erinnerung und Gedenkritualen ihrer Identität vergewissern und damit nach Sinnstiftung streben (vgl. Neumann 2005: 77; François/Schul-

77.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

67

ζ e 2001:13). Durch sein gesamtes Werk hält er sich konsequent an die Einteilung sozialer Klassen, im Besonderen die Familie, religiöse Gemeinschaften und soziale Schichten bzw. Berufsgruppen. Halbwachs entwirft die Familie als sozial am stärksten kohärente Gesellschaftsgruppierung, die dennoch die Freiheit bietet, dass sich jedes ihrer Mitglieder auf seine Weise an die gemeinsame Familienvergangenheit erinnert (Halbwachs 1985: 203). Dadurch dass Familienmitglieder interagieren, ob aktiv während eines gemeinsamen Erlebnisses oder eher passiv beim simplen Zusammensein und durch die Alltagskommunikation untereinander wird das Familiengedächtnis, das Erll als „typisches Generationengedächtnis" bezeichnet (Erll 2003: 160), hergestellt, bewahrt und zu bestimmten Anlässen wie Familientreffen vitalisiert. Das Familiengedächtnis ist nach Halbwachs vor allem reich durch die persönliche Form der Beziehung ihrer Mitglieder, die eine Präzisierung und Bewahrung von Erinnerungen ermögliche. Dadurch schaffe die Familie sich durch die eigene Deutung von der Gesellschaft entlehnten Begrifflichkeiten eine eigene Logik und Tradition, die zwar jenen anderer gesellschaftlicher Gruppierungen wie beispielsweise anderer Familien ähnlich bliebe, aber die betreffende Familie nichtsdestotrotz unterscheidbar mache zu dem Zweck, Zusammenhalt und Kontinuität zu sichern (Halbwachs 1985: 242). Doch auch ein solches besonders innig gelebtes Gruppengedächtnis kann immer nur so weit reichen, wie sich die ältesten Familienmitglieder erinnern können, da sie es sind, die Erinnerungen formulieren und an jüngere Generationen weitergeben. Halbwachs fasst seine theoretischen Begrifflichkeiten indes sehr weit: Eine Gruppe kann eng umrissen sein wie eine Familie, global wie eine Religion und von einer sozial genauso dispersen Konsistenz sein wie eine Nation. Jede Gruppe erstellt für ihre Mitglieder kollektive Zeitrahmen (Halbwachs 1967: 126) ebenso wie räumliche Rahmen (ebd.: 161), die es ihnen ermöglichen, ihre Erinnerungen anzuordnen und zu rekonstruieren. Auch den Raumbegriff benutzt Halbwachs in der allgemeingültigsten Bedeutung: ,,[E]s gibt ebensoviele Arten, sich den Raum zu vergegenwärtigen, wie es Gruppen gibt" (ebd.). Halbwachs' Theorie war wegen ihrer mangelnden Spezifizität und Prägnanz sowie der konzeptionellen Unschärfe Kritik ausgesetzt (Erll 2003; Wetzel 2004; Neumann 2005: 79; Zierold 2006: 67). Dennoch ist unbestreitbar, dass Halbwachs' überzeugende Argumentation der sozialen Verfasstheit jedweder Erinnerung förmlich zu einem Boom der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung geführt hat (vgl. Assmann 2005b). Obwohl Halbwachs mehr Fragen aufwirft, als dass er Antworten liefert (vgl. Echterhoff/Saar 2002: 17-19), da seine Ausführungen im Detail vage blieben, lieferte er doch einen wegweisenden Anstoß, sich eingehender mit dem Phänomen des sozialen Erinnerns auseinanderzusetzen. In seinen Schriften finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für ein konstruktives Verständnis von Gedächtnis, vor allem weil er dem rekonstruktiven Wesen von Erinnerung besondere Bedeutung zugemessen hat. Neumann fasst zusammen: „Vergangenes wird nicht voraussetzungslos gespeichert, sondern gemäß gruppenspezifischen Bedürfnissen präsent gehalten" (Neumann 2005:79). Halbwachs widerspricht daher auch der Ansicht, dass Erinnerungen gleich eines Wiedererlebens der Vergangenheit seien. Vielmehr würden diese vom Sozialwesen Mensch unter Rückgriff auf soziales Denken,

68

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

frühere Erinnerungsvorgänge und eines gemeinsamen Ideensystems in der Gegenwart konstruiert (Halbwachs 1967: 55-56; Halbwachs 1985: 197, 201). Sie seien damit anfällig für Manipulationen, die dem Individuum manchmal gar von der Sozialgemeinschaft aufgezwungen würden, um die Kontinuität des Zusammenlebens zu garantieren: „Darum zwingt die Gesellschaft die Menschen von Zeit zu Zeit, nicht nur in Gedanken die früheren Ereignisse ihres Lebens zu reproduzieren, sondern auch sie zu retuschieren, Schnitte hineinzulegen, sie zu vervollständigen, so dass wir in der Überzeugung, unsere Erinnerungen seien genau, ihnen ein Ansehen zumessen, das die Wirklichkeit nicht hatte" (Halbwachs 1985:162). Echterhoff und Saar, die sich eingehend mit der Halbwachs sehen Theorie und ihren Forschungsperspektiven befasst haben, bemerken, dass diese Erinnerung sich stets erratisch darstelle, da sie immer von unterschiedlichen, aber in ihrer Vielzahl kaum zu unterscheidenden sozialen Quellen ausgingen (Echterhoff/Saar 2002: 22). Halbwachs' Thesen entsprechen auch den maßgeblichen Merkmalen, die dem autobiographischen Gedächtnis von der Kognitionspsychologie zugeschrieben werden, indem er auf die Kontextualität, den Sozialbezug sowie die kommunikative und identitätsbildende Funktion von Erinnerungen hinweist. Interessant sind darüber hinaus Halbwachs' Überlegungen über das Vergessen für individualpsychologische Forschungsansätze, da er davon ausgeht, dass ein Mensch auch dann gesellschaftlich geleitet ist, wenn er etwas vergisst bzw. eine Erinnerung nicht rekonstruieren kann. Wenn eine Gruppe zerfällt, weil einige ihrer Mitglieder ein zuvor gemeinsam empfundenes Gefühl nicht mehr wiedererwecken können, ist das kein Beleg für das Versagen von Individualgedächtnissen, sondern ein Hinweis auf das teilweise Erlöschen eines breiteren Kollektivgedächtnisses (Halbwachs 1967:12). Vergessen liegt damit stets in einer wie auch immer gearteten Auflösung einer Gruppe begründet. Halbwachs führt ein alltägliches Beispiel an: „Eine fremde Sprache vergessen bedeutet: nicht mehr imstande sein, jene Menschen zu verstehen, die uns in dieser Sprache anredeten - mochten sie im Übrigen lebendig und gegenwärtig sein oder Autoren, deren Werke wir lasen" (ebd.: 10). Individuen, aber auch gesellschaftliche Gruppen sind daher schon immer bestrebt gewesen, ihre vergänglichen Worte und Gedanken durch Verschriftlichung festzuhalten (ebd.: 66), um ihr fragiles Gedächtnis kollektiv zu bewahren: Nach dem Kommunikationswissenschaftler Siegfried J. Schmidt besteht die „individuell wie sozial bedeutsame Funktion von ,Vertextung' nicht darin, unsere Erinnerung durch Objektivierung zu verstetigen und zeitübergreifend verfügbar zu machen, sondern wohl eher darin, mit ihrer Hilfe die Komplexität unserer Wirklichkeitskonstruktion zu steigern und dadurch auch komplexer handeln zu können" (Schmidt 1991: 391). Schließlich können demnach auch Gesellschaften vergesslich sein (Schacter 1995: 30; Schudson 1995). Halbwachs sah kollektive Gedächtnisse nie als überindividuelle Phänomene im Sinne eines Gruppengedächtnisses, sondern als stets von den Individuen der Gruppe abhängig, welche die Erinnerung erleben (Halbwachs 1967: 31). Schon Bartlett kritisierte diese Orientierung insofern, als dass er die Frage formulierte, ob auch Gruppen ein Gedächtnis im Sinne einer vom Individuum losgelösten sozialen Sinnwelt haben können (Bartlett 1932: 294-

II. 8. Soziale Dimensionen

des

Gedächtnisses

69

296), was wiederum die Frage aufwirft, woran sich ein solches „autonomes Gedächtnis des Sozialen" (Echterhoff/Saar 2002: 29) manifestieren könnte. Ein Hinweis findet sich bereits bei Halbwachs, indem er auf den Bedarf an materiellen Symbolen verweist, die er als Grundvoraussetzung für kollektive Denkprozesse sieht: „Wir müssen so insgesamt im Kopf behalten, dass es zu den Eigenarten kollektiver Vorstellungen und Neigungen gehört, sich in materiellen Formen auszudrücken und zu zeigen, die oft symbolischer und emblematischer Natur sind. Alles geschieht so, als ob das Denken einer Gruppe nicht auf die Welt kommen, in ihr überleben, und sich schließlich selbst bewusst werden könne, ohne auf sichtbare Formen zurückzugreifen" (Halbwachs 2001a: 40). In einer „Studie zum kollektiven Gedächtnis", so der Untertitel seiner Arbeit „Stätten der Verkündigung im Heiligen Land" (Halbwachs 2003), untersuchte Halbwachs, wie religiöse Gruppen in Israel mithilfe von räumlichen und materiellen Rahmen erinnern. Der Band wurde ebenso wie seine anderen gesammelten Schriften über die „Kollektive Psychologie", den „Entwurf einer Psychologie sozialer Klassen" sowie drei weiterer soziologischer Bände lange Zeit durch die Konzentration auf seine als maßgeblich angesehenen Werke „Das Kollektive Gedächtnis" sowie „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen" übersehen und liegt erst seit dem Jahr 2003 in deutscher Übersetzung vor. Dabei zeigt Halbwachs eindrucksvoll, wie sich Erinnerungsgemeinschaften einer raumzeitlicher Topographie bedienen, um ihr Kollektivgedächtnis lebendig zu erhalten. Er erweitert damit den Fokus auf tausendjährige Zeitspannen, indem er sich der Erinnerungssymboliken des Christentums annimmt. Die Ordnungskraft von geographischen Orten für das kollektive Erinnerungsbestreben ist für ihn ein wichtiges Merkmal, das Gruppen dazu befähigt, sich beständig an Vergangenes auch in mythischer Vorzeit erinnern zu können (ebd.: 193-194), ohne aber einen Anspruch auf eine Wirklichkeitsdarstellung des Vergangenen zu entwickeln: „Wenn, wie wir glauben, das kollektive Gedächtnis wesentlich eine Rekonstruktion der Vergangenheit bedeutet, wenn es dementsprechend sein Bild früherer Tatsachen den religiösen Überzeugungen und spirituellen Bedürfnissen der Gegenwart anpasst, wird das Wissen darum, was ursprünglich war, mindestens zweitrangig, wenn nicht ganz und gar überflüssig: die Wirklichkeit der Vergangenheit, eine unveränderliche Vorlage, der man zu entsprechen hätte, gibt es nicht mehr" (ebd.: 20-21). Damit kann Halbwachs auch als „historischer Ahnherr" (vgl. Echterhoff/Saar 2002: 21) für die aufwendige Gedächtnisort-Forschung im Zuge von Pierre Nora bezeichnet werden, auf die noch näher einzugehen sein wird (vgl. Kapitel Π.8.3.). Die Beschäftigung mit Erinnerungsorten im Allgemeinen sowie Medien und Speichern im Besonderen entwickelte sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einer der fruchtbarsten Felder der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung.20 Halbwachs' Feststellung, dass die Gesellschaft auf materielle Symbole angewiesen ist, um sich zu erinnern, fand sich indes auch in der Forschungsarbeit seines Zeitgenossen Aby M. Warburg, eines Hamburger

20

Zur Diskussion des Medienbegriffs siehe genauer Kapitel III. 1.

70

II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns

und

Vergessens

Historikers, wieder, der in Kunstwerken ein soziales Gedächtnis erkannte (vgl. Erll 2003: 162). Bevor die neueren Theorien eines überindividuellen Gedächtnisrahmens von Pierre Nora bis Aleida und Jan Assmann eingehender thematisiert werden, soll der Überblick über Warburgs Ansichten zeigen, für wie wichtig materielle kulturelle Symbole als Erinnerungsanlass oder sogar -Speicher erachtet werden können.

8.2.

Zwischen Gedächtniskunst und Archiv: Das soziale Gedächtnis nach Aby Warburg

Aby Warburg näherte sich dem Phänomen des kollektiven Gedächtnisses im Vergleich zu Halbwachs auf gänzlich konträre Weise. Nicht theoretisch elaboriert und anekdotisch, sondern induktiv und wortkarg erforschte Warburg das, was er als das „soziale Gedächtnis" ansah.21 Seine Gedächtnistheorie wie auch sein komplettes Werk blieben „äußerst bruchstückhaft und unvollständig" (Ginzburg 1995: 68) und wurden erst posthum von seinem Schüler Gombrich (1970) aus seinen Notizen ansatzweise rekonstruiert. Aus der Analyse und der Interpretation von Kunstwerken des klassischen Altertums und der Renaissance schloss der Kunsthistoriker auf ein generationenübergreifendes Menschheitsgedächtnis, das in Bildern aufbewahrt wird (Jünger 2000). Warburgs Konzeption des kollektiven Gedächtnisses wird neben Halbwachs als der zweite wesentliche Ansatz der gesellschaftlichen Gedächtnisforschung des 20. Jahrhundert angesehen (Erll 2005: 161). Warburg untersuchte, welche Bedeutung die Kunst der Antike für die florentinische Gesellschaft des fünfzehnten Jahrhunderts, also in der Frührenaissance hatte. Dafür zog er auch eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen hinzu wie beispielsweise Testamente, Briefe von Händlern, Liebeszeichen, Wandteppiche, berühmte und nicht berühmte Bildtafeln, weil er überzeugt war, dass menschliche Stimmen aus der Vergangenheit auch in Dokumenten von geringer Bedeutung zu finden seien (vgl. Ginzburg 1995: 67). Sein unvollendetes Lebenswerk, der Bilderatlas „Mnemosyne", eine Photosammlung bzw. „Atlas der Bildwanderungen" (Jünger 2000), der gleichzeitig Warburgs letztes wissenschaftliches Großprojekt war und erst im Jahr 2000 vom Kunsthistoriker Martin Warnke herausgegeben wurde (Warburg 2000), umfasste eine Sammlung von 1140 Bildern, die er zeitlebends zusammengetragen und in denen er lebendige Spuren der Antike entdeckt hatte. Der Atlas ist gleichsam eindrucksvolles Zeugnis des disziplinübergreifen Vorgehens Warburgs, der seine Sammlung nicht nach Fächergruppen, Epochen o.ä. ordnete, sondern nach Themen. Mnemosyne bezeichnet in der griechischen Mythologie die Göttin der Erinnerung und die Mutter von Zeus' Musen.

21

Warburgs Texte gehen „an die Grenze der Verständlichkeit" (Kany 1987: 178), da er vorrangig Notizzettel und -bûcher beschrieb, die gefüllt sind mit abgebrochenen Formulierungen und Einschüben inkorrekt gewordener Sätze (vgl. Kipphoff 1995). Dennoch hat Warburg offenbar beabsichtigt, sein Rekonstruktionsprogramm der Mnemosyne zu einem größeren theoretischen Entwurf zusammenzuschließen (Villhauer 2002: 97).

II. 8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

71

Warburg suchte in Kunstwerken nach symbolischen Formen, welche die Zeiten überdauern und in verschiedenen Epochen wiederaufgenommen, das heißt benutzt werden, um gegenwärtige Situationen zu bewältigen, indem die kulturellen Symbole Erinnerungen auslösen (vgl. Erll 2005: 162). Diese künstlerischen Formen sind nach seiner Auffassung unverwüstlich und kehren immer wieder, indem sie trotz ihrer steten Umdeutung eine Kontinuität erfahren und Rückschlüsse auf die mentale Lage einer Kultur zulassen (vgl. ebd.). Solche Symbole fand er vor allem in menschlichen Gemütszuständen, die seiner Meinung nach seit der Antike22 in ihrer Grundform immer gleich geblieben seien und daher immer wieder von neuem gebändigt werden müssten: „Gerade die Griechen haben in seinen Augen die Ur-Leidenschaften ganz unerschrocken herausgefordert und völlig entfesselt, aber doch zugleich auch in einzigartigen Gestalten gefesselt - und damit [...] jene ,Ausgleichserzeugnissel, wie Warburg formuliert, hervorgebracht, wie sie seither im .sozialen Gedächtnis' fortleben beziehungsweise immer wieder Auferstehungen erleben" (Jünger 2000). In den von ihm gesammelten Bildern erkannte Warburg also den Ausdruck menschlicher Leidenschaft und wollte dem „Chaos der Unvernunft ein Filtersystem der retrospektiven Besonnenheit" entgegensetzen, indem er die Überlieferung und Querbezüge der Bilder über die Zeiten verfolgte (Kipphoff 1995). Sein Bilderatlas wurde mit einem Laboratorium verglichen (Weigel 2005: 115), da er stets offen und wandelbar blieb, was Warburg durch stete Umordnungen und Neuarrangements der Bilder auf den Phototafeln sicherstellte. Wie Wolfgang Ernst hinweist, ist mit .Atlas' ein geographisches Kartenwerk gemeint, womit der Bildbegriff bei Warburg „zwischen dem topologischen [...] und Fotoalbum-Dispositiv" oszilliere (Ernst 2005: 329). Die Darstellungen der Antike waren für Warburg geprägt von „Superlativen des menschlichen Ausdrucks" (Erll 2005:162), die sich in bildlichen Symbolen, sogenannten Pathosformeln, formieren. Seine Schülerin Gertrud Bing charakterisierte diese als „wahrhaft bildliche topoi" (zitiert nach Ginzburg 1995: 67), die emotionale Extremsituationen im Zusammenhang mythisch-kultischer Selbstvergewisserung zum Ausdruck bringen und in der Renaissance- und Barockzeit von Künstlern wieder aufgegriffen wurden. Warburgs Auffassung nach könne die Beschäftigung mit einem derlei bildlich tradierten irrationalen Umgang mit Konflikten den Betrachter im Allgemeinen und Künstler im Speziellen zu rationalem Verhalten befähigen (Villhauer 2002: 98). Die Pathosformeln transportieren also in ihrer symbolischen Funktion eine gewisse Art von Kompetenz, ohne konkrete Lösungsvorschläge für Problemsituationen mitzuliefern. Sie sind Anlass zur Interpretation und Inspiration, wodurch gegenwärtige Erfahrungen durch einen fremden Sinn- und Deutungshorizont bereichert werden können: Die Pathosformel „ist nicht Kanon oder Teil eines Kanons, sondern motivierendes Zeichen zum Ergreifen und zur Neuinterpretation alter Ausdrucksformen mit neuen Schwerpunkten" (ebd.). Der Mensch sucht nach Warburg aktiv nach Ausdrucksformen und Symbolisierungen, um Konflikte lösen oder mildern zu können, und kann im Verhalten anderer „Zugangskorri22

Für Warburg genoss die griechische Kunst prototypischen Rang in der abendländischen Kunstgeschichte.

72

II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns

und

Vergessens

dore" zu fremden Erinnerungen finden, die auch beim Verstehen und Einordnen der eigenen Erfahrung dienlich sind (ebd.: 97). So findet sich in diesem Bildgedächtnis (Weigel 2005:113) das soziale Gedächtnis als „Erbgutverwaltung" von Bildern und Gesten: „Man kann geradezu sagen, dass für Warburg das soziale Gedächtnis die Sprache ist, die auch die Gebärden- und Bildersprache umfasst" (Kany 1987:176) - und über lange Zeiträume durch Bilder tradierbar wird. Warburg verstand seine Aufgabe daher auch darin, die Bedeutung rätselvoller Darstellungen mithilfe einer kulturgeschichtlichen Rekonstruktion von Überlieferungswegen bestimmter Symbole zu dechiffrieren (Weigel 2005: 113). Warburg bezog sich bei seiner Forschung auf die Arbeit des Gedächtniswissenschaftlers Richard Semons, der, wie zuvor dargelegt, den Begriff des Engramms prägte. In kulturellen Symbolen fand Warburg das soziale Äquivalent von Semons Engramm. Pathosformeln waren für ihn also „kulturelle Engramme", womit jede Kultur auf einem Gedächtnis der Symbole beruhe (vgl. Erll 2005: 162). Er erkannte darin eine Art Konserve der Gedächtnisenergie, welche die Zeiten überdauern könne (vgl. Gombrich 1970: 327). Das Symbol habe die Kraft, Raum zwischen dem Betrachter und der Objektwelt zu schaffen (Kany 1987: 147), und das dauerhaft: In der Symbolik werde die Vergangenheit bewahrt, „die niemals vergeht" (Villhauer 2002: 98). Der Religionshistoriker Roland Kany erkannte darin sogar ein unauslöschlich in Details konserviertes antikes und mythisches „Substrat der Kultur" (vgl. Kany 1987: 185). Warburg sah den gemeinschaftlichen Kulturkreis des Orient und Okzident, also Asiens und Europas, daher auch als eine Erinnerungsgemeinschaft (ebd.: 176). Villhauer schlussfolgert aus diesem gedächtnisfixierten Kulturbegriff: ,,[I]st das Warburgsche Modell sozialen Gedächtnisses zutreffend, dann betrachten wir unsere eigene Kultur als ein Museum vergangener Rationalitätsgewinnungserfolge und sind beim Gang durch es dennoch nicht nur auf diese alten Erfolge verwiesen, sondern auch auf die Bedrohungen, gegen die wir uns das freie, vernünftige Denken neu zu erobern haben. Dieses soziale Gedächtnis muss in verschiedenen Kulturen auf jeweils andere Art in Form gebracht und erhalten werden" (Villhauer 2002: 101). Warburg sah sich selbst als „Psychohistoriker" (zitiert nach Villhauer 2002: 102) und beabsichtigte, mit seiner Bibliothek in Hamburg, über deren Eingang das Wort Mnemosyne in griechischer Schrift prangte, die Funktion des persönlichen und sozialen Gedächtnisses zu klären (ebd.). Kritik an Warburgs fehlender theoretischer Systematik machte sich an dem „Ungesonderten in der Aufgabenstellung seines Denkens" fest: Warburg gab sich „unentschieden und will naturgesetzliche Entwicklungen mit persönlicher Ergriffenheit verbinden, anamnetische, aktivische Eigenschaften mit mnemischen, passiv-bewahrenden" (Villhauer 2002: 102). Dennoch stieß Warburg mit seiner Auffassung, dass sich in Kunstwerken das soziale Gedächtnis finden lasse (vgl. Kipphoff 1995), die lebendige Forschungsdisziplin der Ikonologie innerhalb der Kunstgeschichte an, welche sich den symbolischen Formen von Kunstwerken widmet (vgl. Kämmerling 1987: 113). Warburgs Arbeit stieß gewissermaßen auch eine Tendenz bei der Herangehensweise an die Vergangenheit an, die dem Rezipienten eine beinah ebenso wichtige Rolle einräumt wie den historischen Belangen selbst. Nicht also die Geschichte an sich, sondern

II.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

73

die unterschiedlichen Arten von Geschichtsbildern, die Intentionen und Konstruktionsanstrengungen des Urhebers wie auch des Betrachters erfuhren bei ihm besonders starke Aufmerksamkeit, um daraus über den Rezeptionsprozess mehr über Mentalitäten in Vergangenheit und Gegenwart zu erfahren.

8.3.

Vom Spannungsfeld zwischen dem Gedächtnis und der Geschichte

Der symbolische Wert von Überlieferungen beschäftigte auch den französischen Historiker Pierre Nora. Er konzentrierte sich auf die Messung des Erinnerungswertes einer Überlieferung in Relation zu jenem Anteil, den ein einzelnes symbolisches Element an der Identität des Gesamten hat (Nora 1995: 87). Damit beantwortete er auch Barletts (1932) Frage nach dem Gedächtnis von Gruppen als Form von Kollektivseele: Nur über die gemeinsame Teilhabe an einer symbolischen Sinnwelt sei dies möglich: Das kollektive Gedächtnis einer Gruppe wird für Nora an bestimmten „Orten" greifbar, die durch ihre Bedeutung identitätsstiftende Funktion bekommen. Erinnerungsorte stellen zwar immer eine historische Realität dar, doch müsse, so Nora, ihre symbolische Wahrheit herausgearbeitet werden, um die mit ihnen verbundene Erinnerung zu rekonstruieren (Nora 1995: 84). Sie fungieren gewissermaßen als „Magnete für Erinnerungen" (Nora 2001: 684). Erinnerungsorte vereinen nach Nora stets eine symbolische, eine funktionale und eine materielle Bedeutung in sich. So stark aber beispielsweise die Symbolik sein mag: Sollte jener „Ort" einer Funktion entbehren oder über keinerlei materielle Merkmale verfügen, könne er kein Erinnerungsort sein. Nora beschreibt die Anforderungen wie folgt: „Auch ein offenbar rein materieller Ort wie ein Archivdepot ist erst dann ein Gedächtnisort, wenn er mit einer symbolischen Aura umgeben ist. Auch ein rein funktionaler Ort wie ein Schulbuch, ein Testament, ein Kriegsveteranenverein gehört nur dann zu dieser Kategorie, wenn er Gegenstand eines Rituals ist. Auch eine Schweigeminute, die das extremste Beispiel einer symbolischen Bedeutung zu sein scheint, ist materieller Ausschnitt einer Zeiteinheit und dient gleichzeitig dazu, periodisch eine Erinnerung wachzurufen. Stets existieren die drei Aspekte neben- und miteinander" (Nora 1998: 32). Dennoch gilt in der Denkschule Noras die symbolische Funktion und nicht die Materialität eines ,Ortes' für ausschlaggebend (vgl. François/Schulze 2001: 18). Es ist offensichtlich, auf welche Vielzahl von Orten diese Kriterien potenziell zutreffen können. Erweitert wird die mögliche Art und Zahl von Erinnerungsorten auch durch Noras weit gefassten Ortsbegriff im Sinne antiker loci. Der Ortsbegriff ist somit eine Metapher für eine Vielzahl von Topoi: Nicht nur geographisch lokalisierbare Plätze oder Objekte wie beispielsweise Denkmäler im eigentlichen Sinne können als Erinnerungsorte bezeichnet werden, sondern auch Personen, Institutionen, Gesetzeswerke, eine Veranstaltung wie die „Tour de France", aber auch Literatur wie Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", bekannte Sprachformeln wie „Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit" oder Begriffe wie .Generation, selbst Zeremonien, eine Rede oder eine Nationalhymne

74

II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns

und

Vergessens

wie die Marseillaise: „Das Spektrum der möglichen Untersuchungsgegenstände ist daher praktisch unbegrenzt" (Nora 1995: 86). Der Status eines Erinnerungsorts hängt also nicht mit der Dinglichkeit oder geographischen Lokalisierbarkeit zusammen, sondern allein davon, inwieweit die Gesellschaft einen Platz, ein Objekt, ein Kunstwerk, eine Idee etc. mit gedächtnisrelevanter Bedeutung auflädt und sie damit zu Kristallisationspunkten kollektiver Erinnerung und Identität macht. Wie auch das kollektive Gedächtnis selbst nie abgeschlossen sein kann, sondern stets Veränderungen unterworfen ist, entscheidet die Gesellschaft beziehungsweise bestimmte Gesellschaftsgruppen über die Erinnerungswürdigkeit eines .Ortes' in kulturellen, politischen und sozialen Rahmen stets neu und justieren somit die Ausrichtung ihres Gedenkens (vgl. François 2005: 9). So wird die symbolische Aufladung von Erinnerungsorten nicht nur variiert, womit meist nur ihre äußere Hülle bestehen bleibt, ihre inhaltliche Bedeutung aber unterschiedlichen Mentalitäten gehorcht, sondern kann ihnen auch gänzlich entzogen werden (François/Schulze 2001: 16). Doch ein typisches Charakteristikum von Gedächtnisorten ist, dass ihre symbolische Bedeutung immer wieder überraschend aufflackern kann (Nora 1998: 33). Selbst wenn Erinnerungsorte Bestand haben, stellen sie aber immer nur die „Spitze des Eisbergs" des kollektiven Gedächtnisses dar (François/ Schulze 2001: 22). Erinnerungsorte sollen damit auch immer eine kritische Distanz zur Geschichte und ein Nachdenken über sie ermöglichen (ebd.: 23). Noras Liste der portraitierten Erinnerungsorte Frankreichs ist daher auch keinesfalls ein verbindlicher Kanon, obwohl dies im internationalen Vergleich zu anderen Folgeprojekten teilweise so gesehen wurde (vgl. ebd.: 18). Zwar besitzt die Geschichte Frankreichs durch die zentralistische Staatsordnung des Landes eine ausgeprägte historiographische Tradition (vgl. Nora 2001: 684), doch eine Nation lässt sich Noras Ansicht nach nicht unter einem festen Schema erfassen, sondern vielmehr nur als symbolische Realität, die unerschöpfliche Strukturen ergibt: „Damit wäre der Plural ,Les Frances' tatsächlich gerechtfertigt" (Nora 1995: 85). Mit „Les Frances" betitelte Nora das dritte und letzte Werk über die „Lieux de mémoire". Auf insgesamt über 5700 Seiten versammelte er 130 Portraits. In Frankreich wurden die insgesamt sieben Bände umfassende Ausgabe bereits über 100.000 Mal verkauft. In 2005 erschien eine Auswahl von 17 Aufsätzen aus dem französischen Mammutwerk auf Deutsch. Zuvor hatten die Historiker Etienne François und Hagen Schulze versucht, Noras Begriff des Gedächtnisortes auf Deutschland zu übertragen. Von ursprünglich 500 in Erwägung gezogenen Themen entstanden schließlich knapp 120 Essays, geordnet unter 18 Oberbegriffen, welche - im Gegensatz zu der klar auf das feste Staatengebilde Frankreichs ausgerichteten Termini „Republik", „Nation" und „Les France" - die Offenheit der deutschen Erinnerungskulturen gegenüber Europa betonen, gleichsam aber eng mit der deutschen Sprachtypologie verwoben sind: „Reich", „Dichter und Denker", „Volk", „Erbfeind", „Zerrissenheit" zu Beginn, „Gemüt", „Heimat" und „Romantik" zum Ende - sie alle haben im Deutschen eine typische, historisch gewachsene und spezifizierte Bedeutung, die sich nur schwer in andere Sprachen übersetzen lässt. Beispiele für die Öff-

II.8. Soziale Dimensionen

des

Gedächtnisses

75

nung der Erinnerungskulturen ins europäische Umland sind eine Vielzahl von Texten, in denen die Zeit des Nationalsozialismus thematisiert wird, aber auch die Portraits von Erinnerungsorten mit langer Geschichte wie der Westfälische Frieden, Canossa oder die „Pflicht". Die Herausgeber gehen davon aus, dass der „Blick von außen" ebenso konstitutiv für die Entwicklung der deutschen Gedächtniskulturen war wie der „Blick von innen" (François/Schulze 2001:19). Das Konzept der Erinnerungsorte hat sich aber auch über Frankreich und Deutschland hinaus in zahllosen national ausgerichteten Untersuchungen bewährt (ausführlich bei François/Schulze 2001:12). Vor allem in europäischen Staaten fand das Projekt Anklang. Noras Standardwerk wurde unter anderem aber auch in den USA veröffentlicht, wo bereits ein Überblicksband mit einer überschaubaren Textauswahl sowie die beiden ersten Werke „Republik" und „Nation" in englischer Übersetzung und gekürzter Form unter dem Titel „Rethinking France" verlegt wurden. Der Erfolg von Noras Projekt weit über die frankophile Leserschaft hinaus weist auf ein gesteigertes bzw. ungebrochenes globales Interesse an dem Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Geschichte hin. Nora interessierte nicht das historische Ereignis an sich, sondern die Untersuchung der allmählichen Herausbildung eines historischen Gegenstandes mit besonderer Beachtung der Konstruktionen seiner Repräsentationen (Nora 1995: 88); denn ein weiteres wesentliches Merkmal eines Erinnerungsortes ist die Intention, ihn für die Nachwelt nicht bloß zu erhalten, sondern ihm eine Bedeutung zu verleihen, die über jene eines simplen Zeugnisses der Vergangenheit hinausgeht. Somit können tatsächlich jegliche Überlieferungen zu Erinnerungsorten werden. Diese müssen nicht einmal bedeutend sein, sondern können sich auch als zutiefst trivial erweisen: „[Tatsächlich kann die kulturelle oder politische Wirksamkeit eines ,trivialen Erinnerungsortes (etwa die Bundesliga, der Schrebergarten oder der Schlager) die eines .bedeutenden (beispielsweise Idealismus, Goethe, Beethovens Neunte) übertreffen oder überdauern" (François/Schulze 2001: 19-20). Erinnerungsorte sind daher auch bei der Erforschung von Mentalitätsgeschichte von besonderem Nutzen, da sie Aufschluss darüber geben können, auf welche Weise ihnen zu einer bestimmten Zeit welche symbolische Bedeutung zugemessen wurde, um daraus abzuleiten, welche Emotionen, aber auch Gedanken und Überzeugungen die Menschen zu jener Zeit beschäftigten. Nora trennt hier Überlieferungen als historische Quellen, die absichtsvoll erhalten werden, von Überresten, worunter er alle sonstigen Quellen subsummiert, welche die Zeiten überdauern, ohne dass sich damit eine besondere Bedeutung verbindet: „Fehlt diese Absicht, etwas im Gedächtnis festzuhalten, so werden aus Orten des Gedächtnisses Orte der Geschichte" (Nora 1998: 33). Hier zeigt sich, dass Noras Forschungen auf einer strikten Trennung der beiden Vergangenheitsbezüge Gedächtnis und Geschichte fußen (siehe auch Assmann 2005b: 68). Geschichte und Gedächtnis sind nicht erst für Nora zwei gänzlich verschiedene Begrifflichkeiten. Schon Halbwachs sprach von der Geschichte als „tote Vergangenheit" (Halbwachs 1967: 71) oder als „Friedhof" (ebd.: 37), sie war für ihn nicht mehr als ein „leerer Rahmen" (ebd.: 57), wenn nicht mit Erinnerungen gefüllt. Während die Geschieh-

76

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

te universal sei und für das gesamte Menschengeschlecht gelte, könne es kein universales Gedächtnis geben (ebd.: 73). Die historische Welt gleiche einem Ozean, in den alle Teilgeschichten einmünden (ebd.: 72): „Das bedeutet, dass die Geschichte im allgemeinen an dem Punkt beginnt, an dem die Tradition aufhört - in einem Augenblick, in dem das soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt" (ebd.: 66). Halbwachs verwendet den Traditionsbegriff in enger Verbindung zum gelebten kollektiven Gedächtnis. Dies entspricht weitestgehend dem soziologischen Verständnis von Tradition, nach dem Überlieferungen jeglicher Art als traditionell angesehen werden, wenn sie in der Gegenwart eine Bedeutung zugemessen bekommen und das Handeln von Menschen beeinflussen, die Vergangenheit also in gewisser Weise in die Gegenwart hineinwirkt. Der Sozialwissenschaftler Edward Shils schrieb in einer der wenigen ausführlichen theoretischen Abhandlungen über Tradition, es handele sich dabei um Leitmuster, mit deren Hilfe gegenwärtige Generationen von früheren lernen (Shils 1981: 33). Indem Traditionen einige der zentralen Aspekte des sozialen Lebens stabilisieren (u.a. Familie, Staat), stärken sie die personale wie auch soziale Identität und können durch ihre hohe integrative Bedeutung für den sozialisierten Menschen, sollten sie bedroht werden, die Integrität des Selbst gefährden (Giddens 1993: 445, 464). So ist das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Tradition Quelle von Selbstwertgefühl und Stolz (Shils 1981: 51). Der Mensch strebt daher selbst bei spärlich vorhandenem Wissen über die Vergangenheit danach, wenn nicht eben diese Vergangenheit an sich, dann doch das Erbe der (biologischen, gesellschaftlichen, gesinnungstreuen) Vorfahren hoch und lebendig zu halten: „An individual can accept tradition although he has only a very feeble sense of the past" (ebd.: 52). Tradition im Sinne eines kulturellen Erbes dient damit als wirkungsvolles Identifikationsinstrument zur Stärkung des Individuums im sozialen Gefüge, schließt aber gleichzeitig Modernisierung nicht aus bzw. steht ihr nicht im Wege. „Selbst in den post-traditionalen Gesellschaften verschwinden Traditionen nicht zur Gänze. In manchen Bereichen und in bestimmter Hinsicht entwickeln sie sich sogar neu" (Giddens 1993:480). Der Soziologe Anthony Giddens betont damit das Wesen von Tradition als Gegenwartskonstrukt. Traditionen würden entweder diskursiv aufrechterhalten oder verteidigt, also im Rahmen aktueller Sinn- und Wertemaßstäbe neu verhandelt (vgl. ebd.). Giddens schreibt Traditionen daher auch durch den kontinuierlichen Tradierungsprozess von Erfahrungen innerhalb der Gesellschaft über Generationen hinweg sowie vor allem die selektive Vermittlung dieser Erfahrungen durch ältere an jüngere Mitglieder der Gesellschaft eine Ordnungsfunktion für das kollektive Gedächtnis zu (ebd.: 451). Dies geschieht also nicht allein durch die Weitergabe von Traditionen, sondern durch ihre aktive Wiederholung, durch welche die Gesellschaft sich an ihrer Vergangenheit orientieren kann und diese gleichsam mit ihrer Zukunft verknüpft. Eine ausgeprägte Form der Wiederholung ist die rituelle Ausübung von Traditionen (vgl. Giddens 1996: 125). Rituale können durch ihr Wesen stark geformter sozialer Praxis, die nach Halbwachs das kollektive Gedächtnis formt, als eines der maßgeblichen Mittel zur langfristigen Erhaltung von Traditionen angesehen werden: „Sinn bleibt nur durch Zirkulation lebendig.

II. 8. Soziale Dimensionen

des

Gedächtnisses

77

Die Riten sind eine Form der Zirkulation. [... ] Die Riten sind dazu da, um das Identitätssystem der Gruppe in Gang zu halten" (Assmann 1992: 91, 143). Die Authentizität von Traditionen ist dabei nebensächlich; was zählt, ist die ihnen zugemessene Bedeutung: Traditionen können daher auch erfunden werden wie das wohl bekannteste Beispiel des Schottenrocks Kilt, der bis heute als keltische Tracht verstanden wird, aber nicht zu diesen Ursprüngen zurückverfolgt werden kann (Trevor-Roper 1984). Der Soziologe und Historiker Eric Hobsbawm hat sich eingehender mit sogenannten „erfundenen Traditionen" beschäftigt, wobei der Terminus nicht auf die Beliebigkeit bei der Herausbildung neuer Traditionen zielt, sondern auf die simple Tatsache, dass es in bestimmten Fällen neue Traditionen zum Erhalt oder zur Stärkung des Sozialsystems bedarf. Innerhalb dieses Traditionalisierungsprozesses suchen Gesellschaftsmitglieder aktiv nach Identifikationspunkten in Bezug auf die Vergangenheit: „.Invented tradition is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past. [...] However, insofar as there is such reference to a historic past, the peculiarity of .invented' traditions is that the continuity with it is largely factitious. In short, they are responses to novel situations which take the form of reference to old situations, or which establish their own past by quasi-obligatory repetition. It is the contrast between the constant change and innovation of the modern world and the attempt to structure at least some parts of social life within it as unchanging and invariant, tht makes the .invention of tradition so interesting for historians of the past two centuries" (Hobsbawm 1984:1-14). Um zurück auf das Halbwachs-Zitat zu kommen: Geschichte beginne, wenn Tradition erlösche. Eine selbstverständliche Vererbung von kulturellen Praktiken oder Wissen findet in modernen Gesellschaften immer seltener statt, die sozialen Vergangenheitsbezüge müssen aktiv und oftmals eigeninitiativ hergestellt werden (Giddens 1993: 485). Geschichte ist also in diesem Sinne, was die Gesellschaft daraus macht und gewillt ist, in unablässiger Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer Herkunft Bedeutung zuzumessen. Mit Giddens lässt sich argumentieren, dass traditionsrelevante Topoi, ob materiell oder immateriell, durch die Schwächung oder das Schwinden der jeweiligen Tradition zwar zu Relikten werden, deren Bedeutung sich aber von einem kulturellen Objekt der Gegenwart zu einer Ikone der Vergangenheit wandelt, die ihre Relevanz nicht einbüßen muss (vgl. ebd.: 481). Wie gezeigt, hat jedes kollektive Gedächtnis für Halbwachs eine zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe zum Träger und ist daher so vielfältig wie die unzähligen biographischen Erinnerungen des Individuums (vgl. Halbwachs 1967: 73). Während Geschichte Komplexität reduziert, Wendungen und Differenzen hervorhebt sowie strikt chronologisch organisiert ist, sind kollektive Gedächtnisse auf ihre Vielfältigkeit angewiesen, sollen Kontinuität herstellen und Identität stärken. Das kollektive Gedächtnis ist mit Halb-

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II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

wachs eine kontinuierliche Denkströmung, die von der Vergangenheit nur das behält, was von ihr noch lebendig und fähig ist, im Bewusstsein der Menschen fortzuleben (ebd.: 68). Nora schließt an diese Unterscheidung an: „Das Gedächtnis ist das Leben: stets wird es von lebendigen Gruppen getragen und ist deshalb ständig in Entwicklung, der Dialektik des Erinnerns und Vergessens offen, [...] zu langen Schlummerzeiten und plötzlichem Wiederaufleben fähig. Die Geschichte ist die stets problematische und unvollständige Rekonstruktion dessen, was nicht mehr ist." (Nora 1998: 13). Nora traf somit die Unterscheidung zwischen Gedächtnis als stets aktuellem Phänomen und Geschichte als Repräsentation von abgeschlossener Vergangenheit. Doch fußt seine Unterscheidung auf einem anderen theoretischen Fundament: Im Gegensatz zu Halbwachs' Geschichtsverständnis als universal gültigem Vergangenheitsentwurf weiß Nora um die Heterogenität der historischen Darstellung: Geschichte ist für ihn etwas „ErsatzImaginäres" (ebd.: 41), ein „Laboratorium der Mentalitäten der Vergangenheit" (ebd.: 18), er erkennt in der heutigen Geschichtsforschung sogar einen „Markt der Geschichten" (Nora 2001: 687). Erinnerungsorte waren für Nora zu Beginn seines Projektes Zeugnisse einer Gesellschaft ohne Gedächtnis, da sie sofort unbrauchbar wären, wenn die von ihnen getragenen Erinnerungen noch gelebt würden: „Wäre aber das, was sie verteidigen, nicht bedroht, so brauchte man sie nicht zu konstruieren" (Nora 1998: 20) Einerseits charakterisiert er sie als „Orte der Eintracht, in dem doch kein Gemeinsinn mehr lebt" (ebd.: 21), andererseits stellt er fest, dass in ihnen „gleichwohl noch etwas von symbolischem Leben pocht" (ebd.). Erinnerungsorte fungieren daher vielmehr als Ersatz, als „künstlicher Platzhalter" (Erll 2005:167) für kollektive Gedächtnisse, da diese sich in Noras Sinne längst aufgelöst zu haben scheinen: „Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt. [...] Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt" (Nora 1998:11). Eine lebendig erlebte Vergangenheit ist laut Nora unmöglich geworden. Das wahre, unvermittelte Gedächtnis habe sich vielmehr in Gesten und Gewohnheiten geflüchtet, wodurch mit Gedächtnis nun ein anderes, ein vermitteltes bezeichnet werde, das geradezu das Gegenteil des eigentlichen sei: eben nicht mehr „spontan, psychologisch, individuell und subjektiv, nicht mehr sozial, kollektiv, alle und alles umfassend" (ebd.: 21). Erinnerungsorte verweisen also auf das Fehlen eines lebendigen Gedächtnisses, können den Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart aber nicht überbrükken und lösen allenfalls nur noch sentimentalische Reaktionen beim Betrachter aus (Erll 2005: 167). Die starke Wertigkeit der Trennung zwischen Gedächtnis und Geschichte ist unübersehbar: Die Mission der Geschichte sei es, das Gedächtnis zu zerstören oder zu verdrängen (Nora 1998: 14). Vergangenheit als nicht abgeschlossen, sondern als Teil der Gegenwart zu betrachten, sie lebendig zu erhalten, indem sie tatsächlich (nach)erlebt wird, gilt als eindrucksvoller als die „kalte Geschichte" (vgl. Echterhoff/Saar 2002: 22). Dennoch muss betont werden, dass Noras Projekt ein „work in progress [war], das am Ende ganz andere Dimensionen und vor allem ein ganz anderes Aussehen annahm

II.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

79

als ursprünglich gedacht" (François 2005: 8 - Hervorh. im Orig.). Beklagte er anfänglich noch eine sterbende Gedächtniskultur, beschrieb er in seinem abschließenden Aufsatz „Das Zeitalter des Gedenkens" eine ungeahnte Aufwertung des Gedächtnisses, die den Erinnerungsorten eine ganz andere, eine neue Bedeutung gebe: „Gleichwohl ist die Macht des kollektiven Gedächtnisses heute so stark geworden, dass das Bestreben, das Phänomen Erinnerung zu beherrschen, vom Sog der gegenwärtigen Gedenkorgien mitgerissen worden ist. Und kaum war der Ausdruck,Erinnerungsort' geprägt, ist mit ihm ein Werkzeug, das zur Schaffung von kritischer Distanz geschmiedet worden war, zum Instrument des Gedenkens par excellence geworden" (Nora 2005: 543). Nora beobachtet in allen kontemporären Gesellschaften, die sich als historisch gewachsen begreifen und ihre Herkunft und Schicksal nicht einer göttlichen Gewalt zuschreiben, eine immer schnellere, geballte Abfolge von Gedenkveranstaltungen im weitesten Sinne, die Beleg seien für die heutige Neigung zu „obsessiver Erinnerung" (vgl. ebd.). So produzieren Erinnerungsorte ohne Unterlass Gedenkanlässe, und die Gedenkfeiern werden selbst zu Erinnerungsorten. Auch François und Schulze sehen Anzeichen einer „Übersättigung der Zeit an Historie", die bereits Nietzsche in seiner Arbeit „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" der Gesellschaft zu seinen Lebzeiten diagnostiziert hat. Gerade im wiedervereinigten Deutschland komme der Frage nach der Identität der Deutschen eine neue Bedeutung zu (François/Schulze 2001: 9, 11), auch in Bezug auf den „deutschen Sonderweg", der durch den Nationalsozialismus gewiesen wurde (vgl. Assmann 1993: 8). Auch Nora hat diesen wichtigen Unterschied zur Erinnerungskultur Frankreichs hervorgehoben: „Im Fall Deutschlands steht jede Vergegenwärtigung und Neuinterpretation der gesamten nationalen Vergangenheit unter dem Zeichen der zwölf schrecklichen Jahre des Nationalsozialismus" (Nora 2001: 684). Nichtsdestotrotz trifft Nora eine wichtige, nationenunabhängige Unterscheidung: Die Wiedererweckung bzw. Neuerstarkung des kollektiven Erinnerns geht überall mit einer umgekehrten Dynamik einher. Die Motivation, sich gemeinschaftlich zu erinnern wird nicht mehr hauptsächlich von nationalen Werten und Anlässen gelenkt, sondern von privaten und regionalen sowie auch wirtschaftlichen Interessen. Daraus hat sich laut Nora eine Gedenkkultur im „industriellen Maßstab" entwickelt (Nora 2005: 552). Die grundlegenden Veränderungen des gesellschaftlichen Umgangs mit der Vergangenheit sind bei Nora eng mit dem Nationsbegriff verbunden. Der Schriftsteller Ernest Renan sprach bereits Ende des 19. Jahrhundert weitsichtig über die Grundvoraussetzungen einer nationalen Bindung: „Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat" (Renan 1993: 308).

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II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

Gemeinschaftlich erlebte Erfolge, gepaart mit gemeinschaftlichen Anstrengungen in der Gegenwart seien das soziale Kapital, worauf sich eine nationale Idee gründe. Doch der Wandel der französischen Gesellschaft von einer geeinten, nationalen Entität gewissermaßen, die durch politische, militärische und wirtschaftliche Stärke über die Jahrhunderte hinweg eine schier unzerstörbar scheinende nationale Identität entwickelt hatte, zu einem im Laufe des 20. Jahrhunderts durch Wirtschaftsprobleme, Globalisierungstendenzen sowie der daraus resultierenden Aufspaltung und Schwächung des nationalen Bewusstseins dispers aus Minoritäten, Subkulturen und gegenläufigen Lebensentwürfen allein noch territorial umklammerten Konstrukt identifiziert Nora als ursächlich für die radikale historiographische Diskontinuität, die zu einer wachsenden Bedeutung des Gedächtnisses und zu einer Förderung der Suche nach Erinnerungsorten, einer Rückwendung zum kollektiven Erbe und zur Beschäftigung mit den zersplitterten Identitäten geführt hat (Nora 1995: 89). Erinnerungsorte sieht Nora als Phänomene dieses gesellschaftlichen Übergangs (ebd.: 90). Heute entscheide nicht mehr die Geschichte, wie sich eine Gesellschaft erinnere, sondern sie mache allenfalls Vorschläge - und die Gegenwart fälle dann ein Urteil (Nora 2005: 553). Demnach sind nicht mehr die historischen Ereignisse an sich entscheidend, sondern der auf sie bezogene memorative Prozess (Nora 1995: 91). So dürfen die Begriffe Nation wie auch Geschichte keineswegs mehr als selbstverständlich gelten, sondern müssen als problematisch und unsicher bezeichnet werden: „[D]ie Grundlagen von Geschichte und Nation sind durch die europäische Integration, die Ausbreitung moderner Lebensweisen, das Streben nach Dezentralisierung, das Ende autoritären staatlichen Handelns, die starke Präsenz von Einwanderern, die mit dem traditionellen französischen Lebensstil kaum noch etwas gemein haben, und die schwindende politische und militärische Macht immer mehr ins Wanken geraten" (Nora 2001: 685). Die Folge sei, dass das kollektive Gedächtnis wieder die Oberhand gewonnen habe über das Diktat der Geschichte, wodurch nunmehr nicht mehr zähle, was die Vergangenheit der Gegenwart aufzwinge, sondern was die die gegenwärtige Gesellschaft in sie hineinlege (Nora 2005: 553). Je deutlicher erkannt wird, dass auch Geschichte immer nur der „Logik des Wahrscheinlichen" (Ricoeur 1998: 122) folgen kann, desto wertvoller ist indes ihre (erforderliche) kritische Funktion für das Gedächtnis. So kann besonders ein multiperspektivischer Zugang zur Geschichte von Vorteil sein: Der französische Philosoph Paul Ricoeur schlägt hier die Zusammenarbeit mit Historikern fremder Kulturen vor, um daraus zu lernen, „anders zu erzählen und die Erzählung anderer zu durchlaufen" (ebd.: 129). Was Ricoeur damit meint, ist die stete, mithilfe der Geschichte vorgenommene Überprüfung von Erinnerung auf Wahrheitstreue, da diese ansonsten nur der Gemütstreue verpflichtet wäre; denn schließlich ist das Gedächtnis anfällig und Erinnerungen mit jeder individuellen Rekonstruktion Änderungen unterworfen. Außerdem wird lieber das bewahrt und weitergeben, was persönliche Relevanz besitzt. Gleichzeitig brauche aber auch die

II. 8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

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sich in purer Retrospektion genügende Historie den Einfluss von Gedächtnis, damit ihre Zukunftsdimension nicht aus dem Sinn gerate (ebd.: 130). Der strikten Trennung zwischen Gedächtnis und Geschichte wurden indes durch die Verbreitung der Gedenkkultur Grenzen aufgezeigt. Ergiebiger scheint es zu sein, beide Vergangenheitsbezüge als ineinandergreifende und wechselbezügliche Phänomene zu behandeln. Dennoch stehen sie zweifellos in einem konkurrierenden Verhältnis, da sie keinesfalls austauschbar sind, aber auf ihre jeweils eigentümliche Art eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu konstruieren suchen (vgl. François/Schulze 2001: 14). Aleida Assmann erkennt daher auch zwei Arten von Geschichte: „Geschichte existiert, wie wir inzwischen immer deutlicher erkennen, in einem doppelten Modus: es gibt Geschichte-als-Wissenschaft und es gibt Geschichte-als-Gedächtnis" (Assmann 1999b: 43). Ist die Geschichte nüchtern und bemüht sich um Vollständigkeit, Ordnung und Objektivität, ist das Gedächtnis stets von Emotionen, Intentionen und dem Streben nach (gruppen)individueller Zielerfüllung gekennzeichnet. Mit dieser Auffassung von Geschichte als zweimodularem System lassen sich auch mächtige Strömungen innerhalb der Geschichtswissenschaft unterscheiden und gleichsam fruchtbar in Bezug setzen, die unter strengen Gesichtspunkten widersprüchlich bewertet werden müssten: „Die Identitätsneutralität der Geschichtswissenschaft will die Standpunktgebundenheit und die damit notwendig verbundene Borniertheit und Parteilichkeit des Gedächtnisses überwinden. Damit schließt sie [...] die Möglichkeit eines lebendigen Identitätsbezugs aus" (Assmann 2002b: 238 - Hervorh. im Orig.). Geschichtsschreibung dagegen mit einem ethischen Anspruch sei bereits eine Form von Gedächtnis, was zur Folge habe, dass mit dem Wachsen einer Gedächtniskultur zugleich die Verantwortung der Geschichtskultur zunehme (ebd.: 237-238). Die Wissenschaftskarriere der Oral History ist ein typisches Beispiel für das Assmann'sche Verständnis von Geschichte als Gedächtnis. Hier speist sich Geschichte aus individuellen Erinnerungen, die wiederum beeinflusst und angereichert sein können durch historisches Wissen.23 Aleida Assmann referiert als Beispiel für einen interessanten Grenzfall zwischen Geschichte und Gedächtnis die Aufzeichnungen des Psychoanalytikers Dori Laub, der Überlebende aus den Konzentrationslagern des nationalsozialistischen Deutschland nach ihren Erinnerungen befragte, also Oral History betrieb. Dabei fällt auf, dass es in bestimmten Fällen weniger wichtig erscheint, was erzählt wird, sondern wie und damit auch, welche Reaktionen es beim Erzähler auslöst: „Als Analytiker ist er bemüht, sich auf die Grenzen des Wissens und Fühlens seiner Interviewpartner einzustellen und diese nicht mit seinem umfassenderen nachträglichen Wissen zu konfrontieren. Nur unter Währung dieser Grenze zwischen dem 23

Lutz Niethammer bezeichnet Oral History als ein „öffentlichkeitswirksame [s] Schlagwort", das unglücklich, weil vieldeutig sei, aber dennoch die beste - zumal international konforme - Umschreibung einer zahlreiche Dimensionen umfassenden Dokumentationsmethode, die „mündliche Lebensgeschichte, diachrones Interview, erinnerte Geschichte, historische Gedächtnisforschung" und vieles mehr umfasse (Niethammer 1980: 21-22).

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II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

Wissenshorizont der Interviewten und des Interviewers könne die wirkliche Chance eines Zeugnisses zustande kommen" (Assmann 1999a: 276). Dass es auch eine einzige verbindliche gültige Geschichte nicht geben kann, wurde bereits gezeigt. Doch hat selbst die von der Wissenschaft verbriefte Geschichte in Form einer „großen Erzählung" offenbar ihre identitätsstiftende, bindende und legitimierende Kraft verloren (vgl. Echterhoff/Saar 2002: 14). Auch Peter Burke macht darauf aufmerksam, dass Geschichte von Historikern geschrieben wird, die - zwar unter wissenschaftlichen Kriterien, doch stets menschlich subjektiv - darüber entscheiden, was sie für erinnernswert halten (vgl. Burke 1991: 290). Halbwachs' Theorie des kollektiven Gedächtnisses wurde unter anderem wegen der Betonung der organischen Trägerschaft kollektiver Erinnerungen zur Grundlage der Oral History (vgl. Assmann 1988: 10). Gruppengedächtnisse sind untrennbar mit den individuellen Gedächtnissen der einzelnen Mitglieder verbunden, die sich wiederum gegenseitig beeinflussen und damit eine spezifisch an die Gruppe gebundene Erinnerung und Identität herstellen. Doch auch die von Nora angestoßene Respektivierung der Geschichtswissenschaft, die nicht mehr bloß eine, sondern viele Stimmen umfasst und sich damit immer deutlicher als kulturwissenschaftlich orientiert zeigt (François 2005: 11), hat dazu geführt, dass der unmittelbaren Erinnerung des Einzelnen als soziales Wesen mehr Geltung innerhalb der Geschichtsschreibung beigemessen wird. „Eine demokratische Zukunft bedarf einer Vergangenheit, in der nicht nur die Oberen hörbar sind", schreibt Lutz Niehammer in seiner Einleitung zum grundlegenden Sammelband „Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis: Die Praxis der .Oral History'" (Niethammer 1980: 7). Wie das einzelne Mitglied der Gesellschaft, Gruppen wie Vereine, Berufsstände, ethnische Minoritäten oder ganze Generationen Geschichte wahrnehmen, Geschichte produzieren und verändern, stellt eine Kernaufgabe der Oral History dar (vgl. ebd.: 8). Die Funktion des Historikers wird dadurch nicht ausgehebelt. Es geht bei der Teildisziplin nicht um individualisierte Geschichtschreibung, sondern vielmehr darum, die Rechtmäßigkeit und Relevanz von autobiographischen Erfahrungsberichten als historische Quelle zu betonen, die durch den Historiker wie jegliche andere Form der Überlieferung zu analysieren und einzuordnen ist (vgl. Burke 1991: 291). Dabei spielt nicht allein eine wichtige Rolle, dass viele historische Ereignisse ursprünglich auf Berichten von Zeugen und Schilderungen von Chronisten beruhen und damit als individualpsychologisch mediatisierte Erzählungen Einzug in die Geschichtsschreibung fanden. Die Aufwertung von persönlichen Erinnerungselaborationen kann in diesem Zusammenhang vielfältige Aufschlüsse über die Sozialgeschichte geben, beispielsweise auch über divergierende Ansichten innerhalb von konform wirkenden Gruppengedächtnissen. Das Erfahrungsgedächtnis, das durch die Oral History befragt wird, stellt so oftmals die einzige Quelle bei der Suche nach Antworten auf die Frage, was tatsächlich in der Vergangenheit geschehen ist, wie der Anthropologe und Historiker Jan Vansina in Bezug auf die Tradition oraler Geschichtstradierung schrieb (Vansina 1965: 1). Natürlich ist angesichts der Unzuverlässigkeit der menschlichen Erinnerung Vorsicht bei der

II.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

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Auswertung angebracht, schließlich sind die Destillate der Oral History zwar zunächst Geschichten, aber nicht die Geschichte an sich (vgl. Starr 1980: 27). Daher sollten die Erzählungen als Hypothesen untersucht, aber gleichzeitig auch ernst genommen werden (Vansina 1985: 196). So können Erinnerungen tatsächlich Geschichte schreiben, wenn sie quellenkritisch behandelt, mit anderen verfügbaren Quellen verglichen und in den historischen Kontext eingebunden werden (Vansina 1965: 183; Vansina 1985: 13). Trotz der Pluralisierungstendenzen bei der Konstruktion und Deutung von Vergangenheitsbildern sind es immer noch vor allem Historikern, denen in Bezug auf gedächtnisrelevante Thematiken eine hohe Vermittlungskompetenz eingeräumt wird, da ihre Aufgabe darin besteht, erstens in Form von systematischer Geschichtsschreibung ritualisierte Gedächtnisinhalte zu analysieren und zu übersetzen und sie damit zweitens der Nachwelt zu vermitteln. Doch wird die Verbindlichkeit von Geschichte freilich keineswegs allein von Historikern zu garantieren versucht, die selbst in ganz unterschiedlicher Weise „Geschichte schreiben", wie der US-amerikanische Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White mit der Aufzählung nur einiger von vielen Erzählformen aufzeigt: Ob Epen, Märchen, Mythen, Romanzen, Tragödien, Komödien, Farcen - entscheidend sei nicht die Form, sondern doch immer der Inhalt, der vom Historiker vorgefunden und nicht - wie vom Romanautor - erfunden werde (vgl. White 1990: 41). Beteiligt an der Vermittlung von Geschichte und damit auch ihrer Deutung und Ausformung ist eine breite Palette kultureller Einrichtungen, darunter Universitäten, Museen, Schulen und auch die Massenmedien, die mittels hoch-divergenter Tätigkeiten (von Belehrung bis Unterhaltung) die Summe aller institutioneller Erinnerungsarbeit bilden und somit sicherstellen, dass es der Gesellschaft möglich ist, ihre „Lebensformen und -Vollzüge im aktuellen Prozess des zeitlichen Wandels sinnhaft zu organisieren, sich selbst im Verhältnis zu anderen zu verstehen und so Handeln als absichtsvolle Veränderung von Menschen und Welt zu ermöglichen" (Rüsen 1992:40). Nora befürchtet, dass dadurch „in die gesamte Gegenwart die Dimension des Vergangenen" hineinprojiziert werde (Nora 2005: 574). Dass damit auch das Risiko einhergeht, inflationär Erinnerungsorte auszurufen, ist demnach ein Phänomen eines sich ununterbrochen wandelnden Kraftfeldes des Gedenkens, in dem Erinnerungsorte als Teil einer Kette von Versionen der Geschichte nur momentan Geltung erfahren können (vgl. ebd.: 575). Dennoch können Erinnerungsorte nicht beliebig ihren Status erhalten oder verlieren, sondern müssen einer historischen Logik folgen (vgl. Nora 2001: 681). Der Historiker Lucian Hölscher weist darauf hin, dass es seitens der Geschichtswissenschaft dennoch latente wie vehemente Anstrengungen gebe, ,,geschichtliche[.] Vorgegebenheiten als Deutungsangebote vergangener und über sie vermittelt auch gegenwärtiger Konstellationen" festzuschreiben (Hölscher 1995: 158). Dies werde forciert, um zu verhindern, dass aus einer unbeschränkten Deutungsfreiheit eine Domestizierung der Vergangenheit durch die Gegenwart resultiere und damit eine Verbindlichkeit der Geschichte nicht mehr möglich sei (vgl. ebd.: 158-159). Durch die Anforderungen der Selektion dessen, was als Geschichte erinnert werden soll, sieht Ricoeur die Gefahr eines

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II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns und Vergessens

„pervertierten Gebrauch[s]": der Manipulation, und fordert eine „Kultur eines gerechten Gedächtnisses" (Ricoeur 1998: 112-113). Obgleich ein Verständnis von Geschichte als Erinnerungskultur Vielstimmigkeit und eine diskursive Konstruktion voraussetzt, erkennt Hölscher Versuche, sich „gegen den Einbruch gänzlich neuer Erfahrungen und Deutungen der Vergangenheit zu immunisieren, welche in der kulturellen Matrix nicht vorgesehen sind" (ebd.: 160). Die Folge sind moralische Imperative, die auch Burger kritisiert: Heldengeschichten des 19. Jahrhunderts hätten sich dadurch in Opfergeschichten gewandelt, die als „moralische Lehrstücke" (Burger 2007:22) dienen sollten. Außerdem beobachtet er einen Kampf der „Erinnerungskartelle" um das „Opfermonopol" und einen fortschreitenden Hang zur Verifizierung von angeblich historischer Faktizität durch Erinnerung und in der Direktive „Niemals vergessen!" das Gebot eines „moralisierenden Neohistorismus" (ebd.: 23). Historie mittels individueller oder gruppenverfasster Erinnerung Glaubwürdigkeit zu unterstellen, ja zu belegen, ist nur schwer möglich, da es Historie nur entweder als wissenschaftliche Geschichte oder als übergreifenden Common Sense geben kann (vgl. Erll 2005:107). Dennoch ist die Intention verständlich: Episodischen Erinnerungen wird naturgemäß mehr Relevanz eingeräumt als semantischen und können daher bei ihrer Elaboration auch einen höheren Glaubwürdigkeitscharakter, wenn auch keine größere Allgemeingültigkeit beanspruchen als vermeintlich faktische Informationen, deren Validität als historische Tatsachen ohnehin nur allzu häufig in Frage gestellt werden muss.

8.4.

Vom Gedächtnis der Gruppe zum Gedächtnis der Kultur

Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Ägyptologen Jan Assmann, und auf Basis seiner initialen Konzeption hat die Anglistin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann die Theorie des sogenannten kulturellen Gedächtnisses zum dominanten Thema im gesellschaftsbezogenen Gedächtnisdiskurs ausgearbeitet. Während sich der Altertumswissenschaftler überwiegend auf die Erinnerungskulturen früher Hochkulturen wie vorrangig Ägypten konzentrierte, widmete sich Aleida Assmann verstärkt der Art und Weise, wie sich moderne Gesellschaften ihrer Selbst erinnern. Dabei entwickelten beide ein kulturelles Gedächtniskonzept, das unter Rückbezug auf die Halbwachs sehe Theorie bis heute der Antriebsmotor der gesellschaftlichen Gedächtnisforschung ist. Der konstruktivistische und identitätssichernde Charakter der Erinnerung verlangt nach Aleida Assmanns Ansicht nach einer Abgrenzung zur um Neutralität bemühten Geschichtswissenschaft. Doch bleibe Geschichtsschreibung immer auch Gedächtnisarbeit (Assmann 1999a: 133). Um beide Arten von Gedächtnisarbeit produktiv aufeinander beziehen zu können, versteht sie Gedächtnis und Geschichte als zwei Modi der Erinnerung, die sie als bewohntes und unbewohntes Gedächtnis bezeichnet. Die eigenwillige Metapher des „Bewohnens" benutzt Assmann im Sinne eines von Menschen bewusst und aktiv genutzten Erinnerungsraums, der im Gegensatz zum identitätsneutralen und von Menschen verlassenen „unbewohnten" Gedächtnis Identitätsbezüge herstellt.

11.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

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Das bewohnte Gedächtnis benennt sie auch als „Funktionsgedächtnis", das sich durch Merkmale wie Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung charakterisieren lasse (ebd.: 134). Hier wird ausgewählt, bewertet, angeeignet und an die Gesellschaft zurückvermittelt (Assmann 2004a: 24). Dieses Auswahl- und Bewertungsverfahren ist nach Assmann als Kanonisierung zu verstehen und für die Gesellschaft verbindlich: „Was im Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft gespeichert wird, hat Anspruch auf immer neue Aufführungen, Ausstellungen, Lektüren, Deutungen, Auseinandersetzungen" (Assmann 2004b: 48). Im weitesten Sinne bedeutet das: Es umfasst all die Gedächtnisinhalte, die einen lebendigen Bezug zur Gegenwart besitzen. Demgegenüber wird all das, was diesen Bezug nicht oder nicht mehr aufweist, im unbewohnten Gedächtnis aufgehoben, das Assmann auch als „Speichergedächtnis" bezeichnet bzw. als „Gedächtnis der Gedächtnisse" (Assmann 1995a: 185). Es fungiert als Grundierung, als Fundus, als Archiv für das Funktionsgedächtnis. Dies umfasst mehr Erinnerungsmaterial, als in einer Gesellschaft genutzt werden kann. Trotzdem ist dieses Material nicht verloren. Nichts wird wirklich vergessen, sondern ist nur unzugänglich, weil der Hinweisreiz24 fehlt: Friedrich Georg Jünger benutzte den Begriff des „Verwahrensvergessen" (Jünger 1957: 17). Vergessen, Rückstellung bzw. Verwahrung waren für Jünger verschiedene Begriffe für ein und dasselbe Phänomen. Ein solches Verständnis des Verlierens von bestimmten Gedächtnisspuren bedeutet, übertragen auf das Assmannsche Modell, dass Inhalte aus dem Funktions- in das Speichergedächtnis zurück fallen. Das bedeutet nicht nur, dass das Speichergedächtnis den Hintergrund bzw. das Fundament des Funktionsgedächtnisses bildet, sondern auch dass ein ständiger, dynamischer Austausch zwischen den beiden Gedächtnisarten stattfindet. Damit herrscht ein reger „Binnenverkehr" (Assmann 1995a: 184) zwischen bewussten und unbewussten Gedächtniselementen, der Übergang ist fließend und verschiebt sich ständig je nach den Erinnerungsanforderungen. Durch die Konzeption beider Gedächtnissysteme als interagierende Informationsverarbeitungssysteme, die sich nach Bewusstseinszuständen unterscheiden lassen, sieht Assmann selbst eine Analogie zum impliziten sowie expliziten Individualgedächtnis: Bewusste Erinnerungen seien im „bewohnten" Funktionsgedächtnis beheimatet, unbewusste im „unbewohnten" Speichergedächtnis: „Die Lebensgeschichte, die man .bewohnt', bindet Erinnerungen und Erfahrungen in einer Struktur, die als formatives Selbstbild das Leben bestimmt und dem Handeln Orientierung gibt. Damit das Gedächtnis diese Funktion einer normativen Kraft entfalten kann, müssen die Elemente angeeignet, das heißt: nach Wichtigkeit ausgewählt, in einer gerichteten Figur gedeutet und verfügbar gehalten werden" (Assmann 1995a: 183). Die „amorphe Masse" (ebd.: 184) nicht genutzter Erinnerungen dagegen würden nicht gänzlich vergessen, sondern weiterhin unbewusst vorgehalten, bis sie aus dem Hintergrund wieder in den Vordergrund geholt würden, um neu zusammengesetzt Sinn für gegenwärtige Anforderungen zu stiften. Mit dem Literaturissenschaftler Ralf Simon, der in der „Unterscheidung von produktiver Funktion

24

Aleida Assmann benutzt den Begriff „Kennwort" (Assmann 2004a: 25).

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II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

und reproduktivem Speicher" (Simon 2002:225) einen wichtigen theoretischen Rahmen sah und sich davon eine Dynamisierung des Gedächtnisverständnis über Fächergrenzen hinweg verspracht, schlug Assmann vor, durch ,,[d]ie Gegenüberstellung von Funktions- und Speichergedächtnis [...] sowohl dem reflexiv oder strategisch zu Zwecken der Identitätsbildung geschaffenen Gedächtnis wie dem unverfügbaren, unkontrollierbaren Gedächtnis sein Recht zukommen zu lassen" (Assmann 2002b: 236). Dennoch wurde Kritik an der Terminologie laut, da das Speichergedächtnis keineswegs jeglicher Funktion entbehrt, was mit der Abgrenzung zum sogenannten Funktionsgedächtnis suggeriert wird: „Sie sind zwar nicht aktiviert, ihre Funktion wird dadurch aber nicht beeinträchtigt [...] Das Speichergedächtnis ist kein .funktionsloser', stillgelegter Bereich des kulturellen Gedächtnisses, sondern im Hinblick auf ihr Semantisierungspotenzial genauso aktiv,aktiv' und .funktional' wie das Funktionsgedächtnis, weil beide keine getrennten,Räume', sondern jeweils eine Menge von Knoten und Fäden eines einzigen System-Netzes sind" (Wodianka 2005: 218). Abgesehen von der begrifflichen Unschärfe zeigt Assmanns Versuch, ihr Modell auf die Individualpsychologie zu übertragen, den Anspruch der Übertragbarkeit auf unterschiedliche Gedächtniskonzepte. Es belegt gleichsam auch die Bemühung, Konflikte zwischen den unterschiedlichen mit Gedächtnisforschung befassten Disziplinen wie Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie, Geschichtswissenschaften und Kulturwissenschaften zu überbrücken und in einen fruchtbaren facherübergreifenden Dialog zu bringen, indem „gewisse disziplinentypische Stereotypen und Ressentiments entlang der Grenze der Wissenschaftskulturen" (Assmann 2002b: 233) ausgemerzt werden. Schließlich wird die Existenz eines körperungebundenen Gedächtnisses von Hirnforschern negiert, da Gedächtnis allein vom Gehirn konstituiert werde und es daher keine „Außendimensionen des menschlichen Gedächtnisses" gebe (Heithoff 2002). So stellte sich Assmann konkret der Kritik von 20 Wissenschaftlern, die differenzierte Stellungnahmen zu ihrem Modell der „Vier Formen des Gedächtnisses" (Assmann 2002a) verfassten. Dabei unterschied Assmann zwischen dem individuellen, dem Generationen-, dem kollektiven und dem kulturellen Gedächtnis.25 Bei der Abgrenzung des Individualgedächtnisses knüpft sie an die Auffassung an, dass das menschliche Gedächtnis erstens fundierend für die Identitätsentwicklung ist, zweitens ein Großteil des Gedächtnisses unbewusst vorgehalten wird und es drittens kein rein privates Gedächtnis geben kann, weil es stets sozialen Einflüssen ausgesetzt ist (ebd.: 184). Diese sozialen Einflüsse seien besonders stark beim sogenannten Generationen-Gedächtnis, das sich dadurch auszeichne, bei Menschen derselben Altersstufe dieselben Erinnerungen an historische Schlüsselerfahrungen auszulösen und damit zu einer Vereinheitlichung von Weltbildern, kultureller Deutungsmuster und gesellschaftlicher Wertmaßstäben beizu25

Zuvor hatte Aleida Assmann noch drei Formen des Gedächtnisses unterschieden, dabei indes das individuelle und Generationen-Gedächtnis unter dem Begriff des kommunikativen Gedächtnisses subsummiert (Assmann/Frevert 1999a).

II.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

87

tragen (ebd.: 185). Den noch bei Halbwachs multipartikularen Begriff des kollektiven Gedächtnisses versucht Assmann insofern zuzuspitzen, als dass sie darunter solche Gedächtnisse versteht, die sich bestimmte Gesellschaftsgruppen selbst erstellen, ob es nun bestimmte Unternehmen sind oder sogar Nationen (ebd.: 186). Gekennzeichnet sind solche Gedächtnisse durch die strikte Auswahl der zu erinnernden Elemente und die Bemächtigung von symbolischen Zeichen, welche die Stabilität und Tradierbarkeit des Gedächtnisses über Generationen hinweg garantieren sollen. Während beim kollektiven Gedächtnis die Intentionalität im Vordergrund steht, die betreffenden Gruppen- bzw. Gesellschaftsmitglieder mit hoher symbolischer und affektiver Intensität auf den selektierten Erinnerungsbestand zu verpflichten, soll das kulturelle Gedächtnis es den Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglichen, überzeitlich miteinander zu kommunizieren (ebd.: 189). Ermöglicht wird diese Art von „zerdehnter" Kommunikation (Assmann 1995b: 9) durch die Externalisierung von Gedächtnisinhalten, indem sie auf materielle Speicher ausgelagert werden. So wird ermöglicht, dass sich die Kommunikationssituation über Jahrtausende dehnt (ebd.). Genauso wie bereits Aby Warburg in Bildern eine affektive Gedächtnisenergie erkannte, haben nach Aleida Assmann ebenso geschriebene und gedruckte Texte gedächtnisenergetisches Potenzial (Assmann 1996b: 123-124) wie auch Artefakte, denen sie eine „geheimnisvolle Aura" beimisst (Assmann 2004b: 58). Durch diese energetische Ausdehnung können Gedächtniselemente mittels Erzählungen dazu beitragen, die Welt narrativ zu ordnen und die Stellung des Menschen in ihr zu beleuchten (vgl. Assmann 1995b: 10). Grundsätzliche Kritik manifestiert sich an der Postulierung von ausdifferenzierten Gedächtnissystemen. Der Psychologe Gerd Lüer macht im Anschluss an die Diskussion um unterschiedliche Funktionssysteme des Individualgedächtnisses darauf aufmerksam, dass es immer so viele Systeme gebe, wie sich Mechanismen finden ließen: „Es bedarf vermutlich keiner großen Anstrengung, durch Einführung weiterer Mechanismen zusätzlich z.B. zwei ganz neue Gedächtnisse zu postulieren, oder, durch Weglassen von anderen die Anzahl zu senken" (Lüer 2002: 218). Dieser Einwand trifft nicht nur die von Assmann identifizierten vier Formen des Gedächtnisses, sondern auch den Gedächtnisbegriff an sich. Im Grunde, so Lüer, müsse vielmehr von Wissenbeständen gesprochen werden (ebd.: 217), da es sich bei den skizzierten Gedächtnisarten um nichts Weiteres handele als um individuell verarbeitetes Wissen, Generationen-Wissen, kollektives Wissen und kulturelles Wissen. Schon Jan Assmann hatte eingeräumt, dass der Übergang von der Alltagskommunikation in den Bereich der objektivierten Kultur so grundsätzlich sei, dass man sich fragen müsse, ob die Metapher des Gedächtnisses überhaupt noch angebracht sei (Assmann 1988:11). Gegen diese Auffassung hatte Aleida Assmann angeführt, dass das Gedächtnis stets als „Ars", also Kunst, und als „Vis", als Kraft zu klassifizieren sei (Assmann 1999a: 29). Im Detail versteht sie darunter: „Das Gedächtnis als eine Kunst steht für die Fähigkeit des kognitiven Lernens und Behaltens. [...] Es ist völlig richtig, dass in diesem Zusammenhang statt von Gedächtnis lieber von Wissensbeständen gesprochen werden sollte. Das Gedächtnis

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II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens als eine Kraft folgt dagegen ganz anderen Gesetzmäßigkeiten. Diese lassen sich am besten an zwei anderen Aspekten ablesen, die mit ihm untrennbar verbunden sind. Der eine heifet Vergessen, der andere Identität. Das Gedächtnis als Kraft steht für eine Fähigkeit des Erinnerns, die nichts mit bewusstem Speichern und Abrufen zu tun hat. Sie ist identitätskonkret und steht mit dem Vergessen im Bunde" (Assmann 2002b: 234 - Hervorh. im Orig.).

Daher warnt Assmann auch vor einer „Verabsolutierung des semantischen Gedächtnisses" (ebd.: 234) und macht ohne Umschweife deutlich, dass die tatsächlichen Wissensbestände nicht im Kern ihres Interesses liegen: „Wären die Menschen auf das semantische Gedächtnis beschränkt, sähe die Welt in der Tat ganz anders aus. Es gäbe keine Grenzen und keine internen und externen Konflikte; es gäbe nur noch den Unterschied zwischen Menschen, die dieses oder jenes, bzw. die mehr und die weniger wissen" (ebd.). Was sie umtreibt, sind Fragen danach, warum das Gedächtnis Konflikte eskalieren lassen kann, wie Erinnerungen gewichtet werden (müssen), warum manche Erinnerungen besonders vital sind, welche Interessen mit ihnen verbunden werden und wie das oft, aber nicht immer ambivalente Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen zu erklären ist. Es ist der absichtsvolle gesellschaftliche Umgang mit und der Einsatz von Gedächtnis, mit dem ein wie auch immer geartetes Ziel erreicht werden soll - zuallervorderst Identität herzustellen und zu festigen (vgl. ebd.). Es schließe immer Erinnern und Vergessen mit ein und verweise nicht allein auf einen Bestand oder Wert (Assmann 2004b: 47). Es bildet die Grundvoraussetzung für das, was von vielen Menschen aktuell als Teil ihrer kulturellen Identität erinnert wird (ebd.: 59). Ähnlich dem Kulturbegriff Aby Warburgs, der Kultur als durchgängige Einheit ansah, in der „neben der Kunst, der Literatur, der Philosophie, der Wissenschaft die Formen des Aberglaubens und die manuellen Tätigkeiten einen Platz finden" (Ginzburg 1995: 69), versteht Jan Assmann Kultur als „symbolische Sinnwelt" (Assmann 1992: 137) und als „Immun- oder Identitätssystem" (ebd.: 140), mit deren Hilfe der Mensch bzw. eine Gruppe die Welt symbolisch ordnen und dadurch bewohnen könne: „Das Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit, das wir .kollektive Identität' nennen, beruht auf der Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis, die durch das Sprechen einer gemeinsamen Sprache oder allgemeiner formuliert: die Verwendung eines gemeinsamen Symbolsystems vermittelt wird. [...] Alles kann zum Zeichen werden, um Gemeinsamkeit zu kodieren. Nicht das Medium entscheidet, sondern die Symbolfunktion und Zeichenstruktur" (ebd.: 139). In diesen kulturellen Überlieferungen werde eine Gesellschaft erst für sich selbst und andere wahrnehmbar: „Welche Vergangenheit sie darin sichtbar werden und in der Werteperspektive ihrer identifikatorischen Aneignung hervortreten lässt, sagt etwas aus über das, was sie ist und worauf sie hinauswill" (Assmann 1988:16). Dem mit der neuro-psychischen und dem psycho-sozialen nur zwei Dimensionen umfassenden Gedächtnisbegriff von Halbwachs stellten sie eine dritte Dimension des in symbolischen Formen objektivierten Langzeitgedächtnisses der Gesellschaft anbei (vgl.

77.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

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Assmann 2005b: 80). Ohne das Modell des kollektiven Gedächtnisses ersetzen zu wollen, postulierten sie also vielmehr ein weiteres Gedächtnissystem, das neben dem individuellen und dem kommunikativen auch die kulturelle Perspektive gewürdigt sehen wollte. Das kommunikative Gedächtnis wird demnach in Halbwachs' Sinne von Zeitzeugen einer Erinnerungsgemeinschaft getragen und sei daher unspezifisch. Es beruht ausschließlich auf Alltagskommunikation (Assmann 1988:10), hat einen eher naturwüchsigen Charakter (Assmann/Assmann 1994:123) und reicht allenfalls über eine Dauer von drei bis vier Generationen, das heißt etwa 80 bis höchstens 100 Jahre. Im kommunikativen Gedächtnis sind Erinnerungen also nur begrenzt haltbar und wird durch die Gedächtnisse nachfolgender Generationen abgelöst (Assmann 1992: 64). Auf den individuellen, das heißt autobiographisch verfassten Charakter des kommunikativen Gedächtnisses verweist Jan Assmann mit der Angabe, es umfasse biographische Erinnerungen (ebd.: 51). Dagegen ermögliche das kulturelle Gedächtnis fundierende Erinnerungen, indem es sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit richtet, die zu symbolischen Figuren gerinnen, an die sich die Erinnerung haftet (ebd.: 52): „Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bilder und -Riten zusammen, in deren .Pflege' sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt" (Assmann 1988: 15). Anders als das individuelle Gedächtnis basiert das kulturelle Gedächtnis losgelöst vom menschlichen Gehirn nicht auf neuronalen Strukturen, sondern existiert allein in den Objektivierungen einer Kultur. Es bildet den dynamisch organisierten Wissensvorrat einer Gesellschaft, der von Generation zu Generation weitergegeben wird und die Kommunikation auf der Basis gemeinsamen Wissens und gleichzeitig den Anschluss an frühere Generationen ermöglicht (vgl. Berger/Luckmann 1980: 43). Jan Assmann nennt sechs grundlegende Merkmale des kulturellen Gedächtnisses: Es stifte Identität für den Zusammenhalt innerhalb einer Kultur; es habe nicht den Anspruch, Vergangenheit als solche zu erhalten, sondern umfasst die Gesamtzahl an Überlieferungen aus der Vergangenheit sowie den perspektivischen Umgang mit ihnen in der Gegenwart; es weise einen hohen Grad an Geformtheit auf, um es in Form von Schrift, Bild und Ritus über den Lauf der Zeit haltbar zu machen; es sei durch Institutionen der Konservierung, Pflege und Praxis organisiert; seine formativ bildenden, zivilisierenden und humanisierenden Funktionen sowie normativ handlungsleitenden Funktionen seien verbindlich; und es reflektiere einerseits die „gängige Praxis", sich selbst „im Sinne der Auslegung, Ausgrenzung, Umdeutung, Kritik, Zensur, Kontrolle, Überbietung" sowie das Selbstbild der betreffenden Gruppe (Assmann 1988: 15). Herauszustreichen ist, dass das kulturelle Gedächtnis zwar eine historische Konstanz aufweist, aber von ebenso konstruktivem Charakter ist wie das individuelle Gedächtnis, schließlich wird es von gesellschaftlichen Institutionen gepflegt, deren Mitarbeiter mit ihren Individualgedächt-

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II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns und Vergessens

nissen eine Auswahl aus dem Speichergedächtnis vornehmen, um festzulegen, was aktuell erinnert werden soll und was nicht (vgl. Assmann 2004b: 48). Jäger stellt die berechtigte Frage: „Fungiert nicht der Diskursraum des kommunikativen Gedächtnisses und der dort operierenden kommunikativen Medien als die Bühne, auf der das historische Wissen, das in das archivische Ablagesystem des kulturellen Gedächtnisses geraten ist, erneut - wenn auch selektiv und gesteuert durch Aufmerksamkeitsökonomien - in Umlauf gebracht und in den semantischen Haushalt von Gesellschaften eingespeist wird?" (Jäger 2006: 65). Tatsächlich bedarf das kulturelle Gedächtnis gezielter Anstrengungen und dauerhaft verfügbarer Medien, nicht nur, aber auch weil der Mensch eher zum Vergessen als zum Erinnern neigt (Assmann 2004a: 23). Das kulturelle Gedächtnis operiert also nicht selbsttätig, sondern wird von Individuen lebendig gehalten, die aktiv etwas mit der Vergangenheit anzufangen suchen, indem sie Elemente daraus in das kommunikative Gedächtnis übernehmen (vgl. Assmann 1992: 67). Diese soziale Interaktion wird vor allem durch den Rückgriff auf Medien ermöglicht, die als externalisierte Träger von Gedächtnisinhalten fungieren. Hierbei ist der Begriff des Mediums zu öffnen: Gemeint sei damit jegliches Hilfsmittel, das dabei hilft, sich zu erinnern (vgl. Weinberg/Windisch 1998: 6). Das Ehepaar Assmann versteht den Begriff Medium „im Sinne von Vermittlung, Überleitung, Übersetzung" (Assmann/Assmann 1990: 76). Medien können also vielfältigste Formen annehmen: „Geschichte wird nicht nur in den Archiven wissenschaftlicher Publikationen gespeichert, sondern auch in den Gedenktagen, Pilgerzügen, Vorbeimärschen, Festreden, Standbildern, und Nationaldenkmälern mit großem Aufwand inszeniert. Hinzu kommen die Festspiele und lebenden Bilder, die Museen und Historienmalereien, die Gedichte und Volksbilder, die zur Versinnlichung und Theatralisierung der Geschichte eingesetzt werden" (Assmann 1993: 51). Am Beispiel der Erinnerung an den Nationalsozialismus lässt sich dieser Übergang vom kommunikativen, gelebten zu einem kulturellen, medial fixierten Gedächtnis anschaulich machen (Echterhoff/Saar 2002: 13): Dadurch, dass in den kommenden Jahren die letzten Zeitzeugen sterben werden, ist die Gesellschaft darauf angewiesen, sich die Erinnerung an diese Zeit durch Medien zu erhalten, damit sie nicht in Vergessenheit gerät (Saar 2002: 270). So dient das kulturelle Gedächtnis dazu, Erfahrungen und Wissen über die Generationsschwellen zu transportieren und somit ein soziales Langzeitgedächtnis zu installieren (Assmann 1999a: 45). In der Assmannschen Theorie des kulturellen Gedächtnisses spielt die Schrift eine außerordentlich tragende Rolle. Jan Assmann unterschied gleich zu Beginn seiner theoretischen Überlegungen zur Verfasstheit der Gedächtnisse von Kulturen zwischen mündlichen und schriftlichen Gesellschaften, was in erster Linie mit seinem Interesse für die Erinnerungskulturen früher Hochkulturen zusammenhing: Während oralen Kulturen allein das kommunikative Gedächtnis zur Erinnerungstradierung zur Verfügung steht, ermöglicht die Schrift eine sehr viel langfristigere Aufbewahrung von Erfahrungen. Nach der kulturellen Bemächtigung der Schrift und später durch die Erfindung des

II.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

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Buchdrucks wurde die Manifestierung eines kulturellen Gedächtnisses erst möglich, da es auf außerkörperliche Speicher angewiesen ist. Es besitzt daher eine besondere Affinität zur Schriftlichkeit (Assmann 1992: 59). Grund für die Dominanz der Schrift im kulturwissenschaftlichen Gedächtnisdiskurs muss nicht allein von den vornehmlich aus den Literaturwissenschaften kommenden Theorieimpulsen zugerechnet werden. Handgeschriebenes bzw. gedruckte Schrift hat sich als über Jahrhunderte und teils sogar über Jahrtausende als zuverlässiger materieller Träger von kulturellem Wissen erwiesen. Kulturell bedeutende Texte zeichnen sich durch ihre „für die Gesamtheit einer Gesellschaft besondere normative und formative, sinn- und identitätssichernde Verbindlichkeit" aus (Assmann 1995b: 21) und sorgen für Kohärenz gesellschaftlichen Lebens, indem sie innerhalb einer Kultur Zusammengehörigkeit über Generationengrenzen hinweg stiftet (ebd.: 22). Dennoch sollte der Begriff des Textes nicht auf Schrift eingeengt werden, wie der Rückbezug auf den ethymologischen Ursprung des lateinischen Wortes „textus" (Gewebe, Zusammenhang) zeigt: So ist unter Text vielmehr ein Gewebe sprachlicher Zeichen zu verstehen (vgl. ebd.: 19). Der Sprachwissenschaftler Ludwig Jäger bemängelt, dass die vorherrschende Unterscheidung zwischen Transitorität, also der Vergänglichkeit, und Textualität Gefahr läuft, diese Begriffe zu ontologisieren (Jäger 2006: 64). Dementsprechend weist Aleida Assmann daraufhin, dass sich das kulturelle Gedächtnis stets mit den Medien verändere, die in einer Gesellschaft zur Anwendung kommen (Assmann 2004b: 59) und unterstreicht damit seine zwar verbindliche, aber dennoch wandelbare Natur. Elemente aus dem kulturellen Gedächtnis werden erst dann lebendig, wenn sie von den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft wiederbelebt werden, also vom Speicher- ins Funktionsgedächtnis überführt werden. Vermittler des kulturellen Gedächtnisses sind nach Jan Assmann „Wissensbevollmächtigte" (Assmann 1992: 54). Im althergebrachten Sinne subsummiert er unter dieser abstrakten Bezeichnung unter anderem Schamanen, Barden, Priester oder auch Gelehrte genauso wie Künstler und Schreiber: damit lassen sich in der heutigen Gesellschaft Historiker, Autoren, Journalisten und Lehrkräfte als Vermittler kultureller Gedächtnisinhalte identifizieren. Durch die Vermittlung der Gedächtniselemente durch solche Spezialisten ist das kulturelle Gedächtnis nie diffus, sondern immer durch Selektion stark differenziert (ebd.: 53). Damit sind auch die Zugänge zum kulturellen Gedächtnis in gewisser Weise begrenzt. Ob nun die Frauen im alten Griechenland oder die unteren Schichten in der Blütezeit des Bildungsbürgertums: Das kulturelle Gedächtnis hat schon immer eine sorgfaltige Einweisung und die Erfüllung gewisser Vorbedingungen erfordert (ebd.: 55). Aleida Assmann sieht das kommunikative Moment des kulturellen Gedächtnis als aussagekräftigstes an: Gedächtnis sei keine materiale Gegebenheit, sondern ein Dauerauftrag. Demnach manifestiert sich kulturelles Gedächtnis ausschließlich darin, wie Menschen handeln. Es ist ein Prozess, den es zu beschwören gilt, in den man investieren sollte und aus dem man schöpfen kann (Assmann 2004a: 35).

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II. Dimensionen

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des Erinnerns und

Vergessens

„Es geht dabei um Texte, Handlungen, Artefakte aus zum Teil sehr viel früheren Epochen, die entweder über wandelnde historische Kontexte hinaus in Geltung verbleiben oder aber über ihre Geltungsfrist hinaus für eine unbestimmte Zukunft aufbewahrt werden" (Assmann 2004b: 47). So schaffe das kulturelle Gedächtnis überhaupt erst die materiellen und institutionellen Möglichkeit, dass sich Menschen in der Gegenwart auf frühere Zeiten beziehen und ihre eigenen Erfahrungen für die Nachwelt erhalten könnten: „So wie das Internet den Rahmen für Kommunikation über räumliche Abstände geschaffen hat, schafft das kulturelle Gedächtnis den Rahmen für Kommunikation über zeitliche Abstände hinweg" (ebd.). Damit schaffe es Voraussetzungen für eine „überlebenszeitliche Kommunikation" (ebd.). Die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird systematisch offen gehalten. Wie jeder Form von Gedächtnis werden auch dem der Kultur typische Aufgaben zugerechnet. Für das kulturelle Gedächtnis am vordinglichsten gilt die Aufgabe der „Distinktion", unter der Aleida Assmann „alle symbolischen Äußerungsformen" versteht, die der „Profilierung einer kollektiven Identität" dienen (Assmann 1999a: 139). Das Streben einer gesellschaftlichen Gruppe, sich von anderen zu unterscheiden, indem ihr kulturelles Wertesystem gepflegt und praktiziert wird, sorgt für einen langfristigen Erhalt einer generationenübergreifenden kulturellen Identität. Weiterhin sieht Assmann die Legitimation bzw. Deligitimierung von Machtverhältnissen als Aufgabe des kulturellen, hier jedoch mehr politisch instrumentalisierten Gedächtnisses an. Mit Peter Burke (1991) stellt sie fest, dass Geschichte nicht nur von den Siegern geschrieben, sondern von diesen auch gerne vergessen werde. Herrschaft ist also auf Gedächtnis angewiesen und hat offensichtlich die Entscheidungsgewalt über die scheinbar offizielle Geschichte, doch nicht über das gesellschaftliche Gedächtnis: So seien unterdrückte Gesellschaftsgruppen die Träger einer „Gegenerinnerung" (Assmann 1999a: 139), die nicht die Gegenwart fundieren solle, sondern die Zukunft, um die gegenwärtigen Machtverhältnisse zu erschüttern. Die Erfüllung dieser Aufgaben wird zunächst mithilfe von größtenteils institutioneller Konservierung und Pflege des kulturellen Erbes, also der maßgeblich für das kulturelle Gedächtnis relevanten materiellen Überlieferungen im Speichergedächtnis ermöglicht. Darüber hinaus bedarf es auch die Aktivierung und Zugänglichmachung der gespeicherten Elemente durch das Funktionsgedächtnis. Aleida Assmann sieht hier mindestens drei Varianten der Vermittlungsarbeit: Kanonisierung, Bildung und öffentliche Inszenierung. Die Kanonisierung als von Spezialisten vorgenommene, konzentrierte und selektive Wertzuschreibung sichert im Zusammenhang mit ihrer medialen Fixierung und der institutionellen Sicherung die Stabilisierung einer Überlieferung (vgl. Assmann 2003), indem sie ihre Verbindlichkeit bis zu einem Grad steigert, so dass eine normative Autorität von ihr ausgeht (vgl. Assmann 1999c: 14). Dies geht mit einer rigiden Selektion und Ausgrenzung, einer Entzeitlichung der Überlieferung sowie einem besonders in Deutschland gepflegten Personenkult einher, der dazu dient, dem Rezipienten über die Fokussierung auf den Urheber einen intimeren Zugang sowie die Identifikation mit der Überlieferung zu ermöglichen (Assmann 1993: 63). Obgleich Aleida und Jan Assmann Kanonisierung

II.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

93

auf Schrift beziehen (vgl. Assmann/Assmann 1987; Assmann 1993: 62), ist der Prozess keineswegs auf derartige Überlieferungen beschränkt, sondern fungiert in zahlreichen Disziplinen als Vorgang, in dem „bestimmte Kulturaspekte als heilig, verbindlich, vorbildlich usw. festgeschrieben werden" (Hahn 1987: 28). Der weniger klar bestimmte Terminus der Bildung dagegen umschreibt das Ideal einer möglichst umfassenden Verinnerlichung der Kultur (vgl. Assmann 1993: 9, 25), das heißt die individuelle Teilhabe am kulturellen Gedächtnis bzw. seiner Aneignung (Assmann 2004a: 6). Das bedeutet, es handelt sich bei Bildungswissen um „angeeignetes, assimiliertes Wissen im Gegensatz zu einem angelernten Wissen" (Assmann 1993: 72). Was Aleida Assmann damit meint - und da entspricht sie dem BildungsbegrifF Wilhelm von Humboldts26 - ist die Bedeutung von Bildung für die persönliche Entwicklung, für die Festigung der sozialen Identität, die einheitlich und nicht zersplittert, verbindlich und nicht beliebig sowie energetisch und nicht statisch durch Bildung gestärkt wird (vgl. ebd.: 74-75). Sie versteht damit Bildung als „eine spezifische Form, die das kulturelle Gedächtnis in der sich modernisierenden Gesellschaft annimmt" (ebd.: 8). Das gesamte Erziehungssystem, nicht nur die einzelne Lehrkraft, ist also einer der Verwalter bzw. Vermittler des kulturellen Gedächtnisses, muss sich aber immer am Wandel der gesellschaftlichen Entwicklungen orientieren. Erziehung soll hier mit dem Soziologen Thomas Kurtz als „absichtsvolle Kommunikation unter Anwesenden" verstanden werden, bei der „in Form einer Vermittlung von bewahrenswertem Wissen und Werten über die anderen Bereiche der Gesellschaft Individuen auf das Leben in er Gesellschaft und seiner Subsysteme vorbereitet werden" (Kurtz 2006: 116). Bildungsarbeit ist in diesem Sinne aber nicht allein auf konventionelle Lehreinrichtungen und auf die Form von Unterrichtseinheiten begrenzt, sondern wird auch in kulturellen Institutionen wie dem Theater, bei Konzerten, durch Verlagspublikationen und im Museum praktiziert (Assmann 2004a: 25). Die augenscheinlichste Differenz aber zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis zeigt sich in der Unterscheidung zwischen Alltag und Fest, also Ephemärem und Bleibend-Fundierendem (Assmann 1992: 58). Mit öffentlichen Inszenierungen werden Mythen im kollektiven Bewusstsein präsent gehalten und mit Leben gefüllt. Zeremonien und im Allgemeinen Feste dienen der Vergegenwärtigung der im kulturellen Gedächtnis fundierten oftmals mythisch verklärten Vergangenheit. Nur durch den Abruf von materiell gespeicherten Gedächtniselementen und ihre Inszenierung für ein kollektives Publikum erfüllt das kulturelle Gedächtnis seine Aufgabe (ebd.: 56). Für Jan Assmann wandelt sich faktische Geschichte in Mythos, wenn sie erinnert wird: „Mythos ist eine fundierende Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ur-

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„Die Civilisation ist die Vermenschlichung der Völker in ihren äußeren Einrichtungen und Gebräuchen und der darauf Bezug habenden inneren Gesinnung. Die Cultur fügt dieser Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst hinzu. Wenn wir aber in unserer Sprache Bildung sagen, so meinen wir damit etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten geistigen und sitüichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergießt." (Humboldt 1960: 30).

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II. Dimensionen

und Determinanten

des Erinnerns und

Vergessens

sprung her zu erhellen" (ebd.: 52). Das Mythisieren sei dabei als natürlicher und die normative und formative Kraft des kulturellen Gedächtnisses stärkender Prozess zu sehen, der die Erinnerung keinesfalls unwirklich mache (ebd.), sondern vielmehr Aufschluss darüber geben, „wer ,wir' sind, woher ,wir' kommen und wo im Kosmos ,wir' stehen" (ebd.: 142). Nach der Ansichts Wodiankas könne die Frage danach, was ein Mythos tatsächlich ist, keine befriedigende Antwort bringen: „Mythen existieren nicht ,an sich' und können auch nicht in einer wie auch immer zu denkenden .Reinform' erinnert werden, auch wenn der .mythische Habitus' geradezu in dieser Vorgabe besteht. [...] Mythos als geteiltes Wissen einer Erinnerungskultur bezieht sich zum einen auf ein nur vorgeblich stabiles Erinnerungsobjekt i.S. eines mehr oder weniger entfalteten narrativen .Inhalts' oder Plots, zum anderen aber auch auf den Status des Mythischen in der Erinnerungskultur, der beim mythischen Erinnerungsmodus ebenfalls stets als Erinnerungsobjekt mitschwingt" (Wodianka 2006: 5-6). Nicht nur Feste, sondern allgemein jegliche in sozialer Interaktion zustande kommende öffentliche Inszenierung bedarf bestimmter Rituale, die sich Mythen, also der erinnerten Vergangenheit, bedienen, um damit das Identitätssystem einer Gruppe in Gang zu halten (Assmann 1992: 143). Ein alltägliches Beispiel für solche Riten ist das öffentliche Gedenken, mit dem Erinnerungen in stilisierter Form gefestigt und für nachkommende Generationen in einer symbolischen Form verfügbar hält (vgl. Assmann/Frevert 1999: 75). Sie sorgen dafür, dass kultureller Sinn durch soziale Interaktion artikuliert wird und dadurch in der Gesellschaft zirkuliert. Unter kulturellem Sinn versteht Jan Assmann den „Vorrat gemeinsamer Werte, Erfahrungen, Erwartungen und Deutungen, der die .symbolische Sinnwelt' bzw. das .Weltbild' einer Gesellschaft bildet" (Assmann 1992: 140). Erst durch Zirkulation von Sinn entstehe „Gemeinsinn" (ebd.), auch wenn kein Zweifel daran bestehe, dass die fortschreitende Ausdifferenzierung kultureller Sphären zu einer Schrumpfung des gesamtkulturellen Sinns geführt habe, was aber wiederum verstärkte Bindungsbewegungen und Formen der Re-Kanonisierung zur Folge hätte (Assmann/ Assmann 1987: 24). Der maßgebliche Anstoß für das Forscherehepaar, sich intensiv mit der kulturwissenschaftlichen Frage nach der Manifestierung von Gedächtnis zu beschäftigen, führt zurück bis in die 1980er Jahre, als es zum ersten Mal konkret mit der Arbeit von Maurice Halbwachs in Kontakt kam und dies in einer Zeit, als, wie Jan Assmann schreibt, eine „Wiederkehr des Verdrängten", mit anderen Worten: das Aufleben der Erinnerung an die Nazizeit wahrzunehmen war (Assmann 2005b: 67). Dies erkannten sie in Form von ,,Skandale[n] im Sinne der Erregung öffentlichen Ärgernisses und öffentlicher Aufmerksamkeit" (Assmann/Frevert 1999: 21), angefangen mit dem Besuch Ronald Reagans auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg im Jahr 1985, wo auch viele Angehörige der WaffenSS begraben liegen, der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes ein Jahr später über den Historiker-Streit 1986/87, die umstrittene Rede des Bundestagspräsidenten Philip Jennigers zum 50. Jahrestag der Novem-

II.8. Soziale Dimensionen

des

Gedächtnisses

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berprogramme von 1938 bis hin zur Goldhagen-Debatte und Wehrmachtsausstellung in den 1990er Jahren und der Mahnmaldebatte in der neuen Berliner Republik: „Die Serie der Eruptionen setzt sich bis heute fort" (Assmann 2005b: 67). Es ist diese für Deutschland typische eruptiv und in Sprüngen verlaufende öffentliche Erinnerungsspur, die im Kontrast steht zu der der Kontinuität verpflichteten historischen Forschung und Erinnerungsarbeit an Institutionen wie vorrangig Gedenkstätten (Assmann/Frevert 1999: 21). Für Aleida Assmann ist das kollektive Gedächtnis, wie bereits umrissen, ein von bestimmten Gesellschaftsgruppen verengtes und mit Intentionen aufgeladenes Gedächtnis. Ein Beispiel dafür muss nicht erst die Etablierung eines Nationalgedächtnisses unter totalitärer Herrschaft dienen, sondern ebenso auch die Bemühungen, ein europäisches Kollektivgedächtnis zu etablieren (Assmann 2007a: 12). Damit sei es immer ein politisch instrumentalisiertes Gedächtnis, definiert Assmann (Assmann/Frevert 1999: 42). Schon Halbwachs konstatierte: „Manchmal ist es eine bestimmte Klasse, die ein ganzes Land zu vertreten beansprucht" (Halbwachs 2001b: 160). Am Beispiel von religiösen Organisationen zeigte Halbwachs, dass begrenzte Gruppen sehr wohl die Macht haben, durch die Entwicklung von Leitsätzen, Maßregeln und Ziele weitreichende Bevölkerungsteile über Nationengrenzen hinweg zu beeinflussen und sogar auf ihre Einstellungen einzustimmen (ebd.: 163-167). Damit rückt nicht nur die Frage in den Vordergrund, wer sich erinnert wird, sondern vor allem auch, was erinnert wird und was nicht. Auch Gesellschaften und Nationen erinnern sich falsch bzw. stark verändert, da ihre Erinnerungen auf Mythen und Geschichten basieren, die sich mit der Zeit verändern und entwickeln und meist nichts mehr mit dem Ursprungsereignis zu tun haben (Schacter 1995: 3). Schwerwiegender erscheinen dabei aber bewusst forcierte Gedächtnisverzerrungen durch gesellschaftliche Gruppen. Die Steuerung von Erinnerung durch bestimmte gesellschaftliche Interessen ist daher gerade auf nationaler Ebene ein brisantes politisches Thema. Unüberschätzbar sind bei der Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses jedoch die besagten Mythen, die, aus ihrem historischen Kontext herausgelöst, gebraucht werden, um ein politisches Ziel zu untermalen: „Als Mythos hat das historische Ereignis Beschwörungscharakter; es sichert dem politischen Ziel fraglose Identifikation und macht es zu einem unbezweifelbaren Wert" (Assmann 1993: 54). Im Gegensatz zum kulturellen Gedächtnis ist dieses kollektive (bzw. nationale bzw. politische) Gedächtnis nicht nur inhaltlich radikal eng ausgerichtet, sondern nutzt Medien allenfalls als Signal, Merkzeichen oder Appelle für gemeinsame Erinnerungen (Assmann/Frevert 1999: 49).27 Das kulturelle Gedächtnis dagegen vermittelt sich über durch Bildungsinstitutionen gestütztes Lernen eines kanonisierten Überlieferungsbestandes symbolischer Formen, der durch die Zeit beständig umgedeutet, diskutiert und erneuert wird, sich aber aufgrund seiner medialen und materiellen Beschaffenheit jeder Engführung widersetzt (ebd.: 50).

27

Aleida Assmann nennt hier beispielhaft eine Inschrift auf dem Autokennzeichen und eine Jahreszahl als Graffito an einer Hauswand.

96

8.5.

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

Weitere Theorien des gesellschaftlichen Erinnerns

Welzers „Soziales

Gedächtnis"

Der Sozialpsychologe Harald Welzer kritisiert, dass der Ansatz von Aleida und Jan Assmann mit der Konzentration auf die intendierte Tradierung von Gedächtniselementen mittels kommunikativer Praktiken und kulturellen Medien nicht weit genug reiche, um die gesellschaftliche Erinnerung zu beschreiben. Was hier nicht berücksichtigt werde, sei das weite Feld nicht-intentionaler Vergangenheitsvermittlung. Welzer bezeichnet es dabei als dringliche Aufgabe, einen umfassenderen und zugleich differenzierten Begriff vom Unbewussten in der Terminologie gesellschaftlicher Erinnerung zu entwickeln, der sich über die engen Grenzen der Psychoanalyse und der narrativen Psychologie abhebt, um damit Erfahrungen zu erfassen, die eben nicht allein mit reflexiver Wahrnehmung beschrieben werden können (Welzer 2001a: 19). Das gesellschaftliche Leben geriert sich nach Welzer als gesättigt von Medien, die, ohne mit einer entsprechenden Absicht verbunden zu sein, Vergangenheitsdeutungen vermitteln oder anregen. Eben diese Medien seien es, die jene Elemente enthielten, die den gemeinen Menschen erst zu einem geschichtlichen Wesen machten (ebd.: 12). Anders als die (hoch-) kulturellen Objektivierungen des kulturellen Gedächtnisses betreffen gerade die unbewusste Durchdringung des alltäglichen Lebens mit vergangenheitsbezogenen Motiven jeden Menschen zu jeder Zeit. Dies umfasst Interaktionen, Aufzeichnungen, Bilder und Räume, die „im Unterschied zu ihrem Auftreten im kulturellen und kommunikativen Gedächtnis nicht zu Zwecken der Traditionsbildung verfestigt wurden, gleichwohl aber Geschichte transportieren und im sozialen Gebrauch Vergangenheit bilden" (ebd.: 16 - Hervorh. im Orig.). Welzer greift hier auf Warburgs Begriff der „mnemischen Energie" zurück, um die nicht-intentionale gedächtnisrelevante Wirkung von Medien zu beschreiben. Eine solche Anknüpfung lässt sich unter konstruktivistischer Perspektive freilich kaum halten. „Mnemische Energie" ist demnach nicht mehr als eine durch gegenwärtige Umstände konstruierte Wirkung eines Gegenstandes auf den Betrachter, der selbst, neben kulturell vermittelten Bedeutungszuschreibungen, erheblich an der Konstruktion der einwirkenden vermeintlichen Energie teilnimmt. Dagegen wehrt sich indes Jan Assmann mit den Worten: „Die Macht der Gegenwart über die Vergangenheit, mit anderen Worten: die reine Rekonstruktivität, kann nicht die ganze Wahrheit sein" (Assmann 2005b: 79). Der Erfahrungsraum des kulturellen Gedächtnisses sei auf Fixpunkte in Form von Erinnerungsfiguren abgesteckt, von denen eine sinngebende Orientierungskraft ausgehe (ebd.: 80). Welzer zeigt, dass beide Auffassungen vereinbar sind, indem er die mnestisch-energetische Wirkung der von ihm benannten Medien als vielgestaltig kulturell geformte und individuell wahrgenommene Vehikel unbewusster Gedächtnisinhalte beschreibt. Demnach müsse beispielsweise im Familienkreis nicht explizit über Vergangenheit gesprochen werden, und trotzdem werde sie durch die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener historischer Zeiten in aktuellen Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen spürbar

II. 8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

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(Welzer 2001a: 19). Treffend zu beobachten sei dies bei kommunikativen Praktiken bei Treffen im Familienkreis, in denen sich das „Familiengedächtnis" nicht als klar umrissenes Inventar von Erfahrungen, sondern im Gegenteil durch beiläufig wie absichtslos konstruierte Vergegenwärtigungen von Vergangenheit manifestiert (Welzer 2001b: 161), indem sich beim Erzählen im Hintergrund ein „historischer Assoziationsraum" (Welzer 2001a: 17) aufspannt, der einen vielschichtigen Eindruck des Vergangenen vermittelt, ohne dass dies beabsichtigt wäre. Auch Aufzeichnungen im Allgemeinen und speziell Bilder können Vergangenheit transportieren, obwohl sie nicht für diesen Zweck erstellt wurden, wie das Beispiel von Liebesbriefen im Familienarchiv oder jenes von Fotos in einer auch nur wenige Jahre alten Ausgabe einer Modezeitschrift belegen, die über ihren eigentlichen Entstehungsgrund hinaus - emotionale Zuneigungsbekundung zum einen und ästhetische Stilberatung zum anderen - in der historischen Perspektive viel über ihre Entstehungszeit und -kontexte verraten. Davon sind auch wie selbstverständlich wirkende Zeugen der Vergangenheit in Gestalt von Räumen, also architektonisch, landschaftsplanerisch oder städtebaulich, ausgenommen, die im mikro- wie im makroskopischen Bereich Geschichtsvermittlung betreiben, gleichwohl dies aber nicht zwingend die Intention ihrer Erbauer, Planer, Gärtner usf. gewesen ist. Was Welzer als nicht-intentionale Gedächtnismedien beschreibt, kann zum überwiegenden Teil als historische Quellen verstanden werden, die jederzeit als solche identifiziert werden können und interpretiert werden müssen, um ihren Gehalt an Vergangenheit ins Bewusstsein des Akteurs oder Betrachters freizugeben. Damit wird das terminologisch zwar fragwürdige, aber bereits differenziert bearbeitete Theoriefeld der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung um einen wichtigen Ansatzpunkt ergänzt, der bisher indes kaum weiterentwickelt wurde. Breyer sieht in der Analogieknüpfung zwischen explizitem Gedächtnis auf individueller und kulturellem Gedächtnis auf kollektiver Ebene bezüglich intentionaler Vergangenheitstradierung, sowie zwischen implizitem (individuell) und sozialem Gedächtnis (kollektiv) hinsichtlich der nicht-intentionalen eine sinnvolle Vorgehensweise, die zu einer Taxonomie für die interdisziplinäre Gedächtnisforschung leiten kann, indem Repräsentationsformen kultureller Erinnerung auf individueller Ebene näher fokussiert werden: „The most exciting task in comparing the topologies of individual and cultural memory is probably looking at how in different societies specific individual modes of memory are addressed by rules governing the domain of cultural memory, and how, in contrast, the individual modes that might not be employed find their expression in forms of social memory" (Breyer 2007: 59).

Drei Formen kollektiver Erinnerung Einen in eine ähnliche Richtung zielenden Ansatz verfolgen die US-amerikanischen Psychologen William Hirst und David Manier, indem sie direkte Analogien zur individual-

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II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

psychologischen Gedächtnisterminologie konstruierten und anhand der Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Gedächtnis drei Repräsentationsformen kollektiver Erinnerung voneinander abgrenzen: kollektiv-episodische, kollektiv-semantische und kollektiv-prozedurale Erinnerungen. Kollektiv sind demnach bereits Erinnerungen, die von wenigstens zwei Personen (größtenteils) geteilt werden. Kollektiv-prozedurale Erinnerungen werden entsprechend individueller Fähigkeiten in Form unbewusster Traditionen überliefert. So können Rituale, die sich in ihrer Ausübung kaum verändern und von Generation zu Generation weitervermittelt werden, in diesem Sinne mit der gewohnheitsmäßigen Wiederholung motorischer Mechanismen verglichen werden. Episodische Erinnerungen auf kollektiver Ebene werden von den betroffenen Individuen als Elemente des autobiographischen Gedächtnisses erinnert. Diese Direktheit der Erfahrung fehlt den semantischen Erinnerungen dagegen völlig. Vielmehr resultieren sie aus vermittelten Fakten, haben also den Charakter indirekten Wissens. Hier differenzieren Hirst und Manier zwischen semantischen Erinnerungen mit „lived quality" und solchen, den diese Unmittelbarkeit fehlt („distant semantic memories") (Hirst/Manier 2002: 43). Gelebte semantische Erinnerungen resultieren demnach aus Informationen, die während der Lebenszeit bewusst, aber nicht direkt im Sinne eines persönlichen Erlebnisses wahrgenommen wurden. Als Beispiel dient den Autoren der Vietnamkrieg, an dem sie selbst nicht beteiligt oder davon betroffen waren, sie aber die Kriegszeit über Medien verfolgt haben. Als distanziert semantisch dagegen sollten nach Ansicht von Hirst und Manier Erinnerungen eingeordnet werden, wenn es sich beispielsweise u m klassisches Schulwissen im Sinne geschichtlicher Ereignisse wie dem Hundertjährigen Krieg handele. Der Unterschied sei indes fließend: „The difference between .lived' and .distant' semantic memories may in the end be a matter of degree. But semantic memories seem to fade from .lived' to .distant' just as day fades into night. The difference may not be sharp, but at the extremes the two seem qualitatively distinct" (ebd.: 44). Echterhoff sieht einen vergleichbaren Unterschied zwischen Faktenwissen und solchem kollektiv-semantischen historischen Wissen, dem eine persönliche Relevanz zugemessen wird (Echterhoff 2004: 80). Dieses dient weder der Selbstvergewisserung, noch ist es identitätskonkret, sondern besitzt vielmehr eine Leitfunktion bei der Wertebildung und dem gesellschaftlich goutierten Handeln (Neumann 2005: 99). Kollektiv-semantisches Wissen schafft durch die kulturelle Wissensorganisation und -speicherung einen „Rahmen des Selbstbildes einer Gesellschaft" (Echterhoff 2004: 80): „So handelt es sich bei kollektiven Wissenssystemen u m kulturspezifische Phänomene, die sich historisch herleiten und der Selbstbeschreibung und Distinktion dienen können" (Erll 2003: 178). Auch Neumann streicht den konstitutiven Vergangenheitsbezug heraus, der das kollektiv-semantische Gedächtnis von bloßem Faktenwissen unterscheidet: ,,[N]ur solche vergangenen Ereignisse [sind] als Inhalt des kollektiv-semantischen Gedächtnisses anzusehen, die extern semiotisch fixiert sind, etwa durch Symbole, Monumente, Texte oder Bilder. Im Unterschied zum kollektiv-episodischen Ge-

II.8. Soziale Dimensionen

des

Gedächtnisses

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dächtnis, das auf geteilten, persönlich erlebten Ereignissen beruht, werden kollektiv-semantische Gedächtnisinhalte durch kulturelle Objektivationen vermittelt; sie beruhen nicht auf unmittelbaren Erfahrungen von Gruppenangehörigen. Damit vergangene Ereignisse zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten [...] verfügbar sind und kollektive Wirksamkeit entfalten können, bedürfen sie der medialen Vermittlung sowie Verbreitung durch materiale oder technische Speicherung" (Neumann 2005: 98). Kollektiv-episodische Gedächtnisinhalte werden größtenteils automatisch durch die gemeinsame Bedeutungszuschreibung in einer Gruppe generiert. Dagegen ist die Konstruktion kollektiv-semantischer Gedächtnisinhalte voraussetzungsreicher, weil angewiesen auf Vermittlung und Aneignung in einem reziproken Prozess der Verständigung unter kognitiven, technischen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. EchterhofF 2004: 82). Erll hat auf dieser begrifflichen Basis das von Hirst und Manier für kollektive Erinnerungsprozesse konzipierte Modell metaphorisch auf die kulturellen Dimensionen des Gedächtnisses übertragen und unterscheidet mit Blick auf ihre individuell-organischen Repräsentationsformen zwischen drei Systemen: Mit kulturautobiographischen Informationen werden jene Bestände des kollektiv-semantischen Wissens bezeichnet, denen ein besonders affektiver Gehalt zugemessen wird. Damit bereichert Erll die bisherige kulturwissenschaftliche Gedächtnisdebatte um den Faktor der emotionalen Bewertung von Erinnerungen, der besonders im Hinblick auf die Erkenntnisse der herausragenden Bedeutung von Emotionen bei individuellen Erinnerungsprozessen überfällig erscheint. Außerdem knüpft sie an Welzers Entwurf eines nicht-intentionalen sozialen Gedächtnisses an, indem sie kulturprozedurale Phänomene identifiziert, die sich idealtypisch als nicht-bewusstes Repertoire von Wissen und Fähigkeiten darstellen (Erll 2005: 105-107). Damit Informationen von den Mitgliedern einer Gesellschaft individuell verarbeitet und darauf in der Masse kollektiv als semantische Erinnerungen rekonstruiert werden, müssen sie ein gewisses Maß an Gültigkeit und Wertigkeit aufweisen. An dieser Stelle verdeutlicht Erlls Konzept die gegenseitige Überlappung von mentalen, sozialen und materialen Dimensionen der Erinnerungskultur: So greifen die mentalen Dispositionen, welche die gesellschaftliche Erinnerung dominieren, die Träger des Gedächtnisses auf sozialer Ebene und die materielle Kodierung kultureller Objektivationen eng ineinander und bilden damit in unterschiedlichen Abstufungen Erinnerungskulturen, die indes stets in jeder Hinsicht offenen und wandelbaren Charakters sind (ebd.: 102). Erll widerspricht damit der Starrheit und den Ontologisierungstendenzen der Assmannschen Theorie. Tatsächlich sind fragmentarische Tendenzen innerhalb der Gesellschaften unübersehbar und die Multikulturalität in Nationen wie Deutschland, USA und auch Kanada ein Faktum, das der jeweiligen Nationalkultur den Charakter einer homogenen Entität entzieht, sondern sie in immer neue Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Sub-Kulturen zwingt. Darüber hinaus verstärken Globalisierungstrends die Verwischung kultureller Grenzen und machen umso deutlicher, dass eine Beschäftigung mit Erinnerungskulturen

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II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

dem Wesen derzeitiger Gesellschaften besser entspricht als die Konzentration auf nationale Erinnerungsmonolithen. Die dadurch ermöglichte Pluralität von Erinnerungsgemeinschaften steht zwar einer konsensualen Erinnerungspraxis mit beispielsweise nationaler Tragweite nicht entgegen, hier kommt es vielmehr auf Verständigung innerhalb der fragmentarisierten Gesellschaftsteile an, sondern erweitert die Möglichkeiten kollektiven Erinnerns auf sub-gesellschaftlichen Ebene. Bereits Halbwachs verwarf das Konzept eines nationalen Gedächtnisses als homogene kollektive Identität (Halbwachs 1967: 64-65) und sah die Gesellschaft als Konstrukt einer Vielzahl von Erinnerungsgemeinschaften. Zwar wird es dadurch stets widerstreitende Auffassungen über die Deutung von Vergangenheit geben (Erll 2005: 120, 121),28 doch entspricht das der diskursiven Grundvoraussetzungen gesellschaftlichen Erinnerns. Während die Geschichte einende Kräfte gehabt habe, so Nora, trenne das Gedächtnis die Menschen (Nora 2001:687). Jede Minderheit, also jedwede gesellschaftliche Gruppe entdecke und fordere ihre eigene Geschichte im sozialen Gewebe (Nora 2005: 563). Durch diesen Übergang von einem nationalen zu einem sozialen Geschichtsbewusstsein habe sich ein Zeitalter des kollektiven Gedächtnisses bzw. vielmehr der kollektiven Gedächtnisse herausgebildet (vgl. ebd.). Kollektive Erinnerungen werden auf ganz unterschiedlichen Stufen der gesellschaftlichen Organisationsstruktur konstruiert, sei es in Familien (Mikroebene), Vereinen oder Unternehmen (Mesoebene), Bevölkerungsgruppen (Subsysteme) bis hin zur Gesamtgesellschaft (Makroebene), wobei die Zahl kohärenter kollektiver Erinnerungen mit zunehmendem Komplexitätsgrad der gesellschaftlichen Ebene abnehmen dürfte (Zierold 2006: 151). Damit büßen auch Erinnerungsorte ihr Potenzial ein, ein verbindliches Gesamtbild eines nationalen Gedächtnisses zu erstellen (vgl. Erll 2005: 167). Umso wichtiger wird der Begriff des Erbes, wenn nicht auf nationaler Ebene, dann doch auf (sub)kultureller. Das kulturelle Erbe als eine von Vorfahren überlieferte (oft auch symbolischen) Habe subsumiert in sich nicht allein rituelle und traditionelle Funktionen, sondern auch ganz allgemein Erinnerungsanlässe, didaktischen Wert und vor allem identitätsstiftendes Potenzial. Mithilfe von sozialen Vorrichtungen wird zu garantieren versucht, dass bei einer möglichst breiten Masse an Menschen Erinnerungen ausgelöst werden. Eine multiplikatorische Ausbreitung von Wissensbeständen und ihre Transformation in kulturelle Gedächtniselemente ist also steuerbar, wenn auch die kollektive Dimension grundsätzlich durch das Auseinanderdriften individueller Erinnerung an das betreffende gemeinsame Erlebnis Störungen und Änderungen unterworfen ist oder auch Aufspaltungen in neue kollektive Erinnerungen, sofern die Interferenz bei einigen erinnernden Individuen ähnlich abläuft (Hirst/Manier 2002: 50). Zur Auslösung und Festigung kollektiver Erinnerung sind Stimuli vonnöten, die je nach Intention der Erinnerung-evozierenden Instanz eine 28

Wischermann betont, dass es schon immer eine Konkurrenz unterschiedlich weitreichender Erinnerungsgemeinschaften gab, die sich durch eine behauptete gemeinsame Vergangenheit zu legitimieren suchen (Wischermann 1996b: 16).

II. 8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

101

möglichst große Zahl an Individuen erreichen. Diese Hilfsmittel stellen Mittler dar, die auf unterschiedliche Arten als Erinnerungsanlässe dienen können. Dabei kommt es in erster Linie auf die Effektivität ihrer Vermittlung an; denn ,,[o]hne individuelle Aktualisierungen [...] gehen die medial gestützten kollektiven Erinnerungsakte ins Leere" (Erll 2005: 103). Gesellschaftliche Erinnerungskarrieren Es geht in jeder Frage, die sich um kulturelle Gedächtnisinhalte und gesellschaftliche Erinnerungsprozesse rankt, um widerstreitende Deutungen, ob ,,moraldurchtränkt[..]" (Burger 2007: 39) oder nach Wertestabilität trachtend (vgl. Hölscher 1995: 160). Damit ist die öffentliche Auseinandersetzung mit historischen Thematiken im Gegensatz zu solchen anderer wissenschaftlichen Disziplinen wie beispielsweise der Naturwissenschaften besonders anfällig für Vorurteile und ideologische Deutungsmuster. Einmütige Einigkeit über die komplexe und stetig weiter an Komplexität zunehmende Vergangenheit zu erzielen, ist nicht möglich. Vielmehr sind „Erinnerungskarrieren" zu beobachten, deren Verlauf Zierold in vier mögliche Szenarien unterteilt (Zierold 2006: 152): So können Ereignisse als gesellschaftlich besonders relevant für die Gegenwart eingeschätzt werden, wodurch sie entweder durch kontinuierliche Relevanzzuweisung über Erinnerungsanlässe und Anschlüsse auch unbestimmte Zeit nach ihrem Auftreten weiterhin als relevant erinnert werden oder aber durch Vergessen, das heißt: Abbruch der Erinnerung oder fehlender Anlässe oder Anschlüsse zu einem späteren Zeitpunkt nicht oder kaum noch erinnert werden. Entgegengesetzt sind „Karrieren" von Erinnerung denkbar, wenn einem Ereignis bei seinem Auftreten nur geringe gesellschaftliche Relevanz für die Gegenwart zugerechnet wird und es entweder durch die „Entdeckung" des Themas und damit einsetzende Relevanzzuweisung zu einer kollektiven Erinnerung führt oder - im Falle einer ausbleibenden gesellschaftlich relevanten Thematisierung - weiterhin irrelevant bleibt und daher auch nicht oder kaum erinnert wird. Zierold unterscheidet scharf zwischen zwei Dimensionen des kulturwissenschaftlichen Gedächtnisbegriffs, den er bei Aleida und Jan Assmann unzulässig vereint sieht: Gedächtnis als Sammelbegriff für Erinnerungsprozesse sei ein Begriff, auf den leicht verzichtet werden könne, da Erinnerungsprozesse zwar auf Gedächtnis als Voraussetzungszusammenhang (Burger benutzt äquivalent den Begriff des Erinnerungsvermögens - Burger 2007: 24) angewiesen seien, aber nicht selbst als solches angesehen werden könnten, da dies zu einer verwirrenden Begriffsvermischung führe (vgl. Zierold 2006:130). Wischermann schlägt die Beschreibung des Gedächtnisses als „überindividuell gedachten Horizont" vor, der in einer spezifischen Vergangenheit angesiedelt sei (Wischermann 1996:15 - Hervorh. LK). Erinnerung dagegen ist in diesem Sinne immer und grundsätzlich als aktiver Prozess zu verstehen: als Beschäftigung mit der Vergangenheit aus einem jeweiligen gegenwärtigen Situationszusammenhang des Individuums heraus. Zudem erkennt Zierold in der Assmannschen Theorie die terminologische Ausweitung von Gedächtnis als „Summe aller Materialien, die als Anlässe für Erinnerungselaborationen dienen können,

102

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

seien es Denkmäler, literarische Texte oder historische Dokumente" (Zierold 2006:130). Hier schlägt er den passenderen alltagssprachlichen Begriff des Fundus vor, um einer Vermischung metaphorischer und konstruktivistischer Terminologien zu vermeiden: „Zu suggerieren, Medienangebote und andere Artefakte seien selbst bereits ,das Gedächtnis', führt eher in die Irre, nicht zuletzt, weil eine solche Redeweise wieder eine Determinierung der Rezeptions- und Nutzungsprozesse suggeriert und auf eine Speichermetaphorik (nach der etwa Gedächtnisorte bestimmte Erinnerungsbedeutungen speichern) hinausläuft. Eine private Bibliothek ist ebenso wenig ,das Gedächtnis' ihres Besitzers wie die Summe aller Materialitäten ,das Gedächtnis' einer Gesellschaft darstellen kann. Mit gleichem Recht ließe sich behaupten, sämtliche aufbewahrten Kostüme und Requisiten einer früheren Theateraufführung seien bereits die Inszenierung selbst. Die Kostüme und Requisiten aber sind gar nichts, solange sie nicht von Menschen in der Gegenwart performativ für eine Wiederaufnahme (die niemals mit der Premiere identisch sein kann) oder auch eine Neuinszenierung genutzt werden. Und so sind auch die unsystematisch angehäuften .Gedächtnisorte' einer Gesellschaft nur dann bedeutsam, wenn sei von Menschen in der Gegenwart als Erinnerungsanlässe genutzt werden" (ebd.: 131). Im gesamtkulturellen Fundus finden sich freilich nicht nur solche Informationen, die besondere Gedächtnisrelevanz zugemessen bekommen. Entsprechend Aleida Assmanns Modell der interdependenten Speicher- und Funktionsgedächtnisse ist es erforderlich, dass Material im weitesten Sinne aus dem Fundus als Erinnerungsanlässe genutzt werden. Mit der Historikerin Susan Crane lässt sich zusammenfassen: „All narratives, all sites, all texts remain objects until they are ,read' or referred to by individuals thinking historically" (Crane 1997a: 1381). Information kann also in Form von Zeichen materiell gespeichert werden und durch Erinnerungsarbeit für eine Mehrzahl von Menschen identitätsrelevante Bedeutung und Gedächtnisrelevanz erhalten. Die sozio-technische Dimension des Erinnerns Dass semantisches Wissen auf institutionelle Tradierung angewiesen sind, um Generationen übergreifend Geltung zu beanspruchen, ist eine Tatsache, welche die Tragweite des grundsätzlichen Problems materiell gespeicherter Informationen umso deutlicher unterstreicht (auch episodische Erinnerungen können freilich in materieller Form aufgezeichnet und dadurch festgehalten werden, um Lebzeiten zu überdauern). Damit fungieren materielle Träger in der Obhut institutioneller Pflege als Supplement eines nicht vorhandenen „zentralen Erinnerungsorgans" (vgl. ebd.: 1383). Nicht nur Rituale und andere Formen performativer Erinnerungspraktiken benötigen eine solche Festigung, sowohl zeitlich und institutionell, als auch symbolisch beispielsweise in Form von Fetischen oder Totems, sondern auch im Grundsatz ihres Seins ephemere Kulturerzeugnisse, die stets als potenzieller Erinnerungsanlass dienen können. Welzer macht noch einmal deutlich, dass sich jeder Mensch nicht allein hirnimmanenter Gedächtnisinhalte bedient, sondern ebenso externalisierter Wissensbestände, um gegenwärtige Anforderungen zu bewälti-

II.8. Soziale Dimensionen des Gedächtnisses

103

gen oder Handlungsoptionen für die Zukunft zu entwickeln. Welzer bezeichnet diese Bestände als Exogramme (Welzer 2006: 117). Erst mithilfe dieses externen Repräsentationssystems ist eine verlässliche Überlieferung von Erinnerungselaborationen durch die Zeit möglich. Damit fällt die von dem französischen Soziologen Bruno Latour vertretene sozio-technische Dimension der Gesellschaft ins Auge. Demnach delegiert der Mensch mittels Trägern die Informationsvermittlung. Diese Träger, Objekte im weitesten Sinne, werden von Latour als nicht-menschliche Agenten bzw. Akteure bezeichnet, die in der Gesellschaft (Latour bevorzugt den Begriff „Kollektiv") mit den menschlichen Akteuren „verquickt" sind: „Wir sind soziotechnische Tiere, jede Interaktion ist soziotechnisch. Nie sind wir beschränkt auf soziale Bande, und nie begegnen wir reinen Objekten" (Latour 2000:262). So ist der Mensch nicht allein in soziale Kontexte eingebunden, sondern auch in technische. Dieses engmaschige Verhältnis zwischen Mensch und Technik ist nach Latour ein beidseitig handelndes: Nicht der Mensch bedient sich Artefakten als Mittel, sondern befindet sich mit ihnen als Mittler in einer gleichberechtigten Beziehung, in der sie sich gegenseitig in ihrem Handeln beeinflussen (vgl. ebd.: 241). Es sind also immer soziotechnische Hybrid-Akteure, die handeln, wobei Latour darin nicht allein das Vermögen von Menschen sieht, sondern „das Vermögen einer Verbindung von Aktanten" (ebd.: 221 - Hervorh. im Orig.). Auch Welzer spekuliert in diese Richtung: „Menschen sind vielleicht viel besser zu verstehen, wenn man sie nicht als Individuen betrachtet, sondern als Schnittstellen in einem Netzwerk" (Welzer 2006: 127). Damit ist die Gesellschaft nicht (nur) sozial konstruiert, sondern ebenso abhängig von (größtenteils) menschlich geschaffenen Artefakten, die „soziales Aushandeln" stabilisieren (Latour 2000: 257). Nichtmenschliche Agenten garantieren die Haltbarkeit des Sozialen, indem es durch sie fixiert wird (ebd.: 258). Als Beispiel nennt Latour unter anderem die Straßenschwelle zur Verkehrsberuhigung: „Ob Tag oder Nacht, die Schwelle ist immer da. Derjenige, der diesen technischen Akt .geäußert hat', ist dagegen schon längst von der Szene verschwunden - wo sind die Ingenieure, wo der Polizist? - , während jemand, während etwas als ihr Stellvertreter handelt und verlässlich Wache hält" (ebd.: 229). Der Mensch investiert also mittels Technik in die Zukunft, damit sich sein Handeln über eine längere Dauer und zu einem späteren Zeitpunkt auszahlt. So begegnet man „unentwegt [...] Hunderten, ja Tausenden von abwesenden Herstellern, die weit entfernt in Raum und Zeit und dennoch gleichzeitig aktiv und abwesend sind" (ebd.: 231). Nicht nur Objekte müssen demnach ausschließlich über ihren Bezug zum kollektiven Leben, zum Beispiel ihre Nutzungsart durch den Menschen definiert werden, sondern auch der Mensch nur über sein sozio-technisches Handeln (ebd.: 235): Latour nennt noch das Beispiel eines Schützen, der ohne Waffe kein Schütze mehr wäre, doch lässt sich hierfür jeglicher Beruf, jegliches Ergebnis eines selbstdefinitorischen Prozesses angeben, da selbst „die menschliche Gestalt, unser Körper, [...] weitgehend aus soziotechnischen Aushandlungen und Artefakten hervorgegangen" ist (ebd.: 262).

104

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

Wichtig ist Latours Hinweis auf die Bedeutung des Vermittlungsprozesses, durch den - das Beispiel kommt aus der industriellen Verarbeitung - Öl zu Benzin werde und erst durch diese Transformation, die vielen angelegten Filter und Bearbeitungsvorgänge, der Blick auf „um so klarer" werde auf die Nutzung des Rohstoffes (ebd.: 166 - Hervorh. im Orig.). Übertragen auf die Erinnerungsarbeit bedeutet das: Es gilt nicht nur, Objekte als das zu akzeptieren, was sie aus ihrem simplen Dasein heraus vermitteln, sondern sie ebenso mit gedächtnisrelevanter Bedeutung „aufzuladen", um aus dem Rohstoff der Vergangenheit, der historischen Quelle, lernen zu können, die aus ihr gewonnenen Informationen in der Gegenwart und für die Zukunft anwendbar zu machen. Intentionale Träger von gedächtnisrelevantem Wissen sind da nur die augenscheinlichsten Beispiele für nicht-menschliche Erinnerungsagenten. Ein Denkmal, ein Schriftstück, eine Fotografie: In solchen Fällen fungieren Objekte als Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart, ob beispielsweise als Stellvertreter eines Künstlers, als Aufzeichnung eines Zeitzeugen oder als Baumritzung eines Liebespaares. Sie sind nicht nur fester Bestandteil, sondern auch Voraussetzung für die Erinnerungsarbeit, bei der sie interpretiert werden, dies aber nicht in völliger Willkür. Vielmehr haben sie durch ihre spezifischen Eigenschaften oft entscheidenden Anteil an ihrer Deutung. Krämer sieht als Ziel jeder Gedächtnisbildung, instrumenteil über die Vergangenheit in Form der Erinnerung verfügen zu können. Dazu braucht es materielle wie immaterielle, rituelle und mentale Erinnerungsanlässe sowie Institutionen, die sich ihrer Dokumentation und (Re-) Präsentation verpflichtet fühlen, aber auch aussortieren, indem sie werten: „Loslassen des Unverfügbaren durch Bewahren im Verfügbaren: Das ist die List im Verhältnis von Gedächtnis und Vergessen, durch die sich beide als komplementäre Modalitäten der Erinnerung zu erkennen geben. Gedächtnis und Vergessen arbeiten nicht gegeneinander, sondern miteinander. Die Dialektik ihres Wechselspiels ist unsere Weise, mit dem Grundproblem jeder Erinnerung umzugehen, welches darin besteht, das unwiderruflich Vergangene vergegenwärtigen zu wollen, aber nicht zu können" (Krämer 2000: 269).

9.

Zusammenfassung

Bei der Beschäftigung mit dem Gedächtnisthema stößt man schnell, wie gezeigt werden konnte, auf zahlreiche terminologische, typologische und konzeptionelle Probleme. Tabelle 1 stellt den Versuch dar, die in den unterschiedlichen Forschungsdisziplinen weitgehend anerkannten Begriffskonzepte kollektiver Erinnerung in einem gemeinsamen ausdifferenzierten Überblicksschema zusammenzuführen.

II.8. Soziale Dimensionen

des

105

Gedächtnisses

Kollektives Gedächtnis Implizites Gedächtnis

Explizites Gedächtnis

„Kollektiv-episodisches

Gedächtnis"

„kollektiv-autobiographisches

Kommunikatives Gedächtnis „ Kurzzeitgedächtnis" (Assmann)

/

Gedächtnis"

Kulturelles Gedächtnis „Langzeitgedächtnis" (Assmann)

„Kollektiv-semantisches

Gedächtnis"

Kulturelle Wissensorganisation (Erll)

„Kollektivimplizites Gedächtnis"

„Soziales Gedächtnis" (Welzer)

Speichergedächtnis Funktionsgedächtnis

Tabelle 1: Stand der gedächtnistheoretischen Begriffsausdifferenzierung. (Quelle: Zierold 2006: 76)

Ebenso wie die Negierung der von Jan Assmann benannten „Außendimensionen des menschlichen Gedächtnisses" (Assmann 1992: 19) in Kreisen von Hirnforschern ihre Berechtigung hat, da die Informationsverarbeitung aus neurowissenschaftlicher Perspektive strikt individualistisch ab, wird jedoch die reflexive Deutung von Information, also die Erinnerung, auch erst durch soziale und kulturelle Bildung und meist unter Zuhilfenahme von Medien möglich: „Sobald man sich für Gedächtnisinhalte interessiert, befindet man sich in einer Konvergenzzone zwischen den Disziplinen" (Welzer/Markowitsch 2006: 11). Welzer und Markowitsch stellen fest, dass die Gedächtnisforschung weder auf neurowissenschaftliche Befunde noch auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse verzichten könne, um das in seiner verzweigten Vielfalt ungeklärte Mysterium der Erinnerung zu erforschen. Welzer nähert sich als Sozialpsychologe dem Phänomen kollektiver Gedächtnisorganisation aus dem Blickwinkel des Individuums, bewertet die soziale Verfasstheit eines jeden Menschen aber gleichzeitig als grundlegend für die Gedächtniskonstitution. Seiner Auffassung nach sind ,,[k]ollektive Gedächtnisphänomene [...] gewissermaßen die soziale Verkehrsform individueller Gedächtnisse" (Welzer 2006: 111). Damit wird eine differenzierte begriffliche Alternative angeboten, die weiterhin von kollektivem Gedächtnis und kollektiver Erinnerung sprechen lässt, ohne dem Irrtum eines übergeordneten Massengedächtnisses aufzusitzen. Eine „Gedächtnis-Supertheorie" indes ist längst nicht in Sicht und wird angesichts der vielen unterschiedlichen Herangehensweisen und Konzeptionen tendenziell ausgeschlossen (vgl. Erll 2005: 90). Um der Rätselhaftigkeit des Gedächtnisses auf die Spur zu kommen, brauche es alle verfügbaren Ansätze, so Welzer, um sich der Komplexität des Themas angemessen zu nähern:

106

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens „Die Fülle der Befunde und der Fortschritt der Theoriebildung hat auf merkwürdige Weise deutlich werden lassen, dass ein zentraler Bereich, vielleicht der wichtigste, der sozialen Erinnerungspraxis mit wissenschaftlichen Mitteln nur äußerst schwer zu erfassen ist: woraus Erinnerung gemacht ist und jeden Tag gemacht wird, ihre Textur (James Young) scheint so komplex und zugleich so ephemer, dass sie Künstlern und Schriftstellern viel eher zugänglich scheint als Wissenschaftlern" (Welzer 2001a: 11 - Hervorh. im Orig.).

Dass sich die Disziplinen auch nach Jahren reger Forschungstätigkeit nicht einig sind über eine klare Begriffsabgrenzung von Gedächtnis u n d Erinnerung, wird als ein latentes Problem angesehen (z.B. Wischermann 1996; Zierold 2006). Clemens Wischermann erkennt selbige Tendenzen nicht allein im Deutschen, sondern auch im Diskurs der englischsprachigen u n d französischen Gedächtnisforschung: „Mal werden sie [die Begriffe Erinnerung u n d Gedächtnis] nahezu identisch, mal pointiert verschieden gebraucht" (Wischermann 1996: 15). Wie indes der australische Historiker Charles Zika betont, hat eben diese terminologische Unklarheit zur Lebendigkeit des wissenschaftlichen Feldes beigetragen: „A principal reason for the extraordinary popularity of memory in contemporary English-language historiography, I would contend, is what some consider its major limitation, a lack of conceptual clarity. Memory includes a broad spectrum of meaning in contemporary academic usage and can therefore be readily applied to a wide range of historical phenomena, issues and themes. [...] [T]he reason memory has become the leading conceptual term employed in historical scholarship over the last decade and more is surely not its lack of rigor nor its capacity for intellectual escape. Its attraction to historians and other scholars is its intellectual flexibility, its capacity to suggest and link themes that historians judge to be central to human experience in the late twentieth and early twenty-first centuries" (Zika 2005: 247). Es n i m m t mit Blick auf die rege Forschungsdebatte kaum wunder, dass die Assmannsche Typologie trotz ihrer wegweisenden Bedeutung f ü r die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen kultureller Erinnerung grundsätzlicher Kritik ausgesetzt ist. Als problematisch wird vor allem der enge Blickwinkel der Theorie auf die ,Hochkultur' bewertet (vgl. Erll 2005:113). Den mit der irreführenden Benennung des Modells als Gedächtnis einer Kultur einhergehenden Erwartungen, es handele sich dabei u m die lebensweltliche Fülle kulturellen Handelns, kann mit der Theorie nicht entsprochen werden. Das kulturelle wie auch das kommunikative Gedächtnis betreffen allein Erinnerungsprozesse u n d deren Voraussetzungen, die sich nur auf einen Teilbereich der bewussten Tradierung u n d Praxis kulturellen Erinnerns beziehen. Auch die inhaltlichen Abgrenzungen der Assmann'schen Theorie sind dadurch unklar: Das kulturelle Gedächtnis ist immer auch kommunikativ u n d das kommunikative ebenso kulturell. Außerdem sind beide aufeinander angewiesen, d e n n wenn Elemente des kulturellen Gedächtnisses nicht im Hier u n d Jetzt kommunikativ thematisiert werden, ihnen also keine Relevanz beigemessen wird, entbehrt es seiner Existenzgrundlage (vgl. Keppler 2001: 159). Ebenso bedarf das

II.8. Soziale Dimensionen

des

Gedächtnisses

107

kommunikative Gedächtnis stets den Rückbezug auf identitätskonkretes Kulturwissen, um eine kontinuierliche sozialkulturelle Konnektivität des Einzelnen zu gewährleisten. Dennoch liegen die Anknüpfungspunkte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnismetaphorik in ihrem Wert als eigenständige Medientheorie: „Sie perspektiviert mentale und soziale Phänomene der Kultur (Identität, Wertesysteme, soziale Institutionen etc.) über medientheoretische Fragestellungen - Fragen nach den Unterschieden und dem jeweiligen Leistungsvermögen von oralen und literalen Strategien des kollektiven Erinnerns, nach den Verfahren der Enkodierung, Speicherung und des Abrufs kulturellen Wissens oder nach den Unterschieden zwischen solchen Gedächtnismedien, die im gesellschaftlichen Gebrauch sind und wichtige identitätsbildende Aufgaben erfüllen (.Funktionsgedächtnis') und solchen, die im .Archiv' ihrer Hervorholung harren (.Speichergedächtnis')" (Erll 2007: 8788). Resümierend erscheint eine weitere Verflüssigung der Grenzen zwischen den Disziplinen (Welzer/Markowitsch 2006: 13) unerlässlich und eine Zusammenarbeit zwischen Neurologie, Psychologie, Philosophie, Soziologie, Kultur- und Kommunikationswissenschaften unausweichlich zu sein. Konsequent sollte Gedächtnis daher, wie unter anderem von Zierold ( 2 0 0 6 : 2 0 1 ) vehement gefordert, als Funktion gesellschaftlicher Prozesse verstanden werden, welche die Kontinuierung von Sinnorientierungen gewährleistet. Sein kommunikationswissenschaftliches Konzept gesellschaftlicher Erinnerung, das zwar die bisherigen Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung kritisch hinterfragt, aber dennoch in nicht unbeträchtlicher Weise auf den einzelnen Theorien, vorrangig auch auf die Assmannsche Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellen Gedächtnis, aufbaut, folgt einer weder statisch-normativen noch radikal-konstruktivistischen Linie, sondern wendet sich einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive zu, mit der er die inhärente Dynamik von Wandlungsprozessen innerhalb von Erinnerungskulturen und in diesem Zuge die Funktion von (Massen-) Medien herausstreicht. Auch die Soziologin Angela Keppler sieht ein sich zunehmend verschiebendes Kräfteverhältnis in Erinnerungskulturen hin zu der Notwendigkeit, Medien in ihrer erinnerungsvermittelnden Funktion zu verstehen, um sie nutzen zu können: „Mir scheint [...], dass die alltägliche Erinnerungspraxis in heutigen Gesellschaften einerseits mehr und mehr an generelle Erinnerungsmedien angeschlossen ist und dass andererseits diejenigen Manifestationen, die zum Träger einer zeitlich und räumlich weitreichenden kulturellen Erinnerung werden, andererseits mehr und mehr einer alltäglichen Aneignung bedürfen, um ihre übergreifende Wirkung entfalten zu können" (Keppler 2001: 158-159). „Vielfach sind es gerade mediale Ereignisse, an denen sich eine über den Alltag hinausgehende kollektive Erinnerung entzündet. Diese medialen Ereignisse aber werden ihrerseits zu medialen Ereignissen von globaler Reichweite nur, wenn sie in der lokalen Praxis der von ihnen Betroffenen auf eine entsprechende kommunikative Resonanz stoßen" (ebd.: 158 - Hervorh. im Orig.).

108

II. Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens

Was also tatsächlich erinnert wird, ob in individueller oder kollektiver Dimension, entscheiden letztlich immer die jeweiligen Individuen selbst, auch wenn sie sozialen und kulturellen Voraussetzungen unterworfen sind. Gemeinsam erinnern können sich Individuen im Kollektiv immer nur annäherungsweise. Zwar ist es einer Gruppe von Menschen möglich, identische Vorstellungen auszubilden, doch en detail sind keine konformen Erinnerungen möglich: „Die Ausdrücke .kollektives Gedächtnis' oder .kollektive Erinnerung' sind lediglich poetische, logisch nicht belastbare Metaphern für soziale Bildungs-, Erziehungs- und Enkulturationsprozesse, deren Scheitern unter Sanktionsdrohung steht und deren Inhalte ihrerseits nur individuell erinnert werden" (Burger 2007: 24). Dass Erinnerungen allenfalls ähnlich, aber nie vollkommen identisch konstruiert sein können - zumindest ist dies nicht überprüfbar - offenbart das terminologische Dilemma der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisdebatte. Allenfalls lässt sich von einem gemeinsamen Vergangenheitsbezug sprechen (Reinhardt 1996: 88), die von kollektiv wahrgenommenen Topoi beeinflusst werden, also im Detail unspezifischen, aber in ihrer Ausrichtung und Wirkung (Gemeinschaftsgefühl, Identitätskonkretheit, usf.) übereinstimmenden Formen. Dabei handelt es sich um kollektive Denk- und Argumentationsmuster (Wischermann 2002: 19) bzw. um kulturelle Schemata oder Skripts (vgl. Breyer 2007: 14) bzw. um kulturelle Kontexte in Form von „Sinnwelten" (vgl. Berger/Luckmann 1980: 110), die in ihrer Bedeutung innerhalb der betreffenden Kultur besonders stabil tradiert werden und damit ermöglichen sollen, Kontinuität durch Kompatibilität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen, wodurch freilich jegliche individuelle Erinnerungskonstruktion kollektiv-kulturell beeinflusst wird. Zusammenfassend lässt sich ausdrücklich auf die hohe Subjektivität und Formbarkeit von Erinnerungen verweisen, die als mentale gegenwartsbezogene Konstruktionen stets Veränderungen unterworfen und individuell verschieden sind und doch sozial geteilt werden können. Erinnerungselaborationen können zur sozialen Integration eingesetzt werden und erschaffen eine Vorstellung von der Lebensgeschichte, die eine Grundfeste der personalen Identität bildet, das Selbstbewusstsein in einen Bezug zur Außenwelt setzt, das Individuum dadurch sozial handlungsfähig macht und die wohl wichtigste Konstante im Leben eines Menschen darstellt. Dabei sind die Ausprägungen des Erinnerns und Vergessens, der autobiographischen Erinnerung sowie der Verfügbarkeit von Wissen steten, vor allem auch emotional bedingten Wechselverhältnissen, Verschiebungen und Überarbeitungen unterworfen. Gleichzeitig werden der Gedächtnis- und der Erinnerungsbegriff häufig als Metapher (vgl. Pethes 2001) für ähnliche Erfahrungen mehrerer Individuen hinsichtlich eines gemeinsamen Erlebnisses sowie für einen kollektiv genutzten Fundus an Erinnerungsanlässen benutzt, der in verschiedenen Formen medial vorgehalten und zirkuliert wird. Diese mediale Instrumentalisierung von .Gedächtnis' ist nur zu verstehen, wenn alle Determinanten des betreffenden Mediums, einschließlich seiner sozio-kulturellen und technischen Rahmenbedingungen, seiner Produktionslogiken, der inhaltlichen Dimensionen sowie - zuletzt und doch allen voran - der Nutzungsumstände und Beweggründe des Rezipienten, in die Untersuchung mit einbezogen werden.

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

1.

Gedächtnismedium Fernsehen? Terminologische Klärungen

Nicht erst seit Erfindung des Buchdrucks sind Kulturen angewiesen auf Medien, um das soziale Leben zu organisieren und die Handlungsfähigkeit von Gesellschaften unter anderem in stetem Rückbezug auf ihre kulturellen Identitäten zu gewährleisten. Bereits allein auf orale Tradierungs- und Verwaltungspraktiken beschränkte Kulturen bedienten sich Medien bei der Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens. Solche .natürlichen Verständigungssysteme wie Sprache, Musik oder Performanzen wie beispielsweise ritualistische Tänze werden als informelle Medien bezeichnet. Als formell gelten hingegen Medien, die ihre Vermittlungsfunktion primär in einer gesellschaftlich institutionalisierten Form wie u.a. im Falle von Rundfunk und Fernsehen oder des Verlagswesens erfüllen (vgl. Hickethier 2003: 20). Jedes Medium verfügt über distinktive Qualitäten, die es als charakteristisches Ausdrucksmittel kulturellen Sinns und kultureller Praxis innerhalb einer Gesellschaft kennzeichnet. Umso aussichtsloser erwies sich in der Wissenschaftsgeschichte der Versuch, sich auf einen einheitlichen Medienbegriff zu verständigen: „Im allgemeinen Sprachgebrauch [...], als Wort, heißt Medium .Mittel' oder .Vermittelndes'. [...] Wenn man vom Licht oder vom Rad, von der Uhr oder von der Schreibmaschine usf. als von ,Medien spricht [...], dann sind damit stets nur ganz allgemein, oft metaphorisch umkleidet, Werkzeuge oder Mittel oder Instrumente gemeint. In dieser Form kann schlechthin alles ein Medium sein" (Faulstich 2004:13). Joseph Vogl plädierte aus diesem Grund für den Verzicht auf einen generellen Medienbegriff und schlug vor, stattdessen „jeweils historisch singuläre Konstellationen zu betrachten, in denen sich eine Metamorphose von Dingen, Symboliken oder Technologien zu Medien feststellen lässt" (Vogl 2001:122). Erschwerend kommt hinzu, dass die sich über Jahrtausende erstreckende Mediengeschichte eine beispiellose Vielfalt und dementsprechende Fluktuation an Medienformen aufweist, so dass laut Vogl kein Medium spezifisch substanziellen und historisch dauerhaften Sinn geben könne: „Medien sind nicht auf eine bestimmte Technologie (etwa Buchdruck oder Elektrizität), nicht auf bestimmte Geräte oder Maschinen (wie etwa Teleskop, Telegraf oder

110

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens Telefon), nicht auf symbolische Formen (Literatur oder Film), nicht auf eine Institution (Theater), nicht auf eine soziale Funktion (etwa Massenmedien) oder bestimmte Symboliken (alphanumerischer Code) reduzierbar und doch in all dem virulent. Alle diese Momente spielen in den Medienbegriff hinein, reichen aber nicht hin, jeweils Funktion und Begriff von Medien selbst zu definieren. [...] Die Medien-Funktion lässt sich nur als Zusammentreten heterogener Momente begreifen, zu denen technische Apparaturen oder Maschinen genauso gehören wie Symboliken, institutionelle Sachverhalte, Praktiken oder bestimme Wissensformen" (ebd.: 121-122).

Gleichwohl hat sich spätestens im 20. Jahrhundert angesichts der massenmedialen Karrieren von Presse, Rundfunk und Fernsehen eine kommunikationsorientierte Definition durchgesetzt, die Medien als „komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen" begreift (Saxer 1997: 21). „Unter Massenkommunikation verstehen wir jene Form der Kommunikation, bei der Aussagen öffentlich (also ohne begrenzte und personell definierte Empfängerschaft) durch technische Verbreitungsmittel (Medien) indirekt (also bei räumlicher oder zeitlicher oder raumzeitlicher Distanz zwischen den Kommunikationspartnern) und einseitig (also ohne Rollenwechsel zwischen Aussagendem und Aufnehmendem) an ein disperses Publikum vermittelt werden" (Maletzke 1964: 35). Eine solche massenmediale Vermittlungsinstanz ist nach Ulrich Saxer dafür prädestiniert, Zeichensysteme zu transportieren, wenn auch mit je nach Medienform unterschiedlichen Kapazitäten. Medien sind zudem als „zweckerfüllende Sozialsysteme" organisiert, um Kontinuität bei der Vermittlungsleistung zu sichern. Daraus resultiert auch die Komplexität von Medienkommunikation, die auf der Bildung eines Herstellungs-, Bereitstellungs- und Empfangssystems beruht. Darüber hinaus verursachen Medien durch ihre hohe Reichweite in alle gesellschaftlichen Ebenen funktionale und dysfunktionale Wirkungen, die in ihrer Art und Vielfalt nicht vorhergesagt werden können. Daraus folgt ein hoher gesellschaftlicher Regulierungsbedarf, der sich unter anderem in einer Institutionalisierung des Medienwirkens und seiner Kontrolle äußert (vgl. ebd.). Faulstich ergänzt diese im medienwissenschaftlichen Diskurs weitgehend akzeptierte Begriffsklärung um den wichtigen Punkt „gesellschaftlicher Dominanz", der auf die Historizität eines Mediums verweist, es in einen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Kontext stellt und seine Wandelbarkeit in Relation zu anderen Medien betont (Faulstich 2004: 18-19). Diese Auffassung deckt sich auch mit den Überlegungen Siegfried J. Schmidts, der vorschlägt, .Medium' als „Kompaktbegriff" mit vier Komponenten zu verstehen (Schmidt 2003b: 135-136): Mithilfe von Kommunikationsinstrumenten produzieren Medien Sinn, der innerhalb von sozialen Systemen spezifische Zwecke erfüllt, indem Inhalte an eine bestimmte oder unbestimmte Zahl von Kommunikationspartnern vermittelt werden. Dies wird ermöglicht durch Zeichen wie beispielsweise Sprache, ist aber seit Erfindung der Schrift im überwiegenden Maße von Medientechnologien abhängig, die eine bestimmte

III.l. Gedächtnismedium Fernsehen? Terminologische Klärungen

111

Art der Wahrnehmung vorgeben, welche wiederum von den Kommunikationspartnern erlernt werden muss (ebd.: 146). Um gesellschaftliche Relevanz zu erhalten, werden Medien sozialsystemisch institutionalisiert. Ihre (gesamtgesellschaftliche) Etablierung wirft also stets Probleme politischer, rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Natur auf, die einer Lösung bedürfen, welche wiederum zur Legitimierung des Mediums führen kann/ soll. So prägen die drei genannten Komponenten in erheblichem Maße die Erstellung, Verbreitung, Aneignung und Wirkung von Medienangeboten: Immer sind die kommunizierten Inhalte den Imperativen des jeweiligen Mediums unterworfen. Ob, wie Schmidt aufführt, im Laufe der Medienevolution regelmäßig ein verbesserter, das heißt breiterer Zugang zum Wissen und damit mehr Gerechtigkeit versprochen wurde, ob eine verstärkte Kommerzialisierung durch die Technik- und institutionelle Organisationsdependenz von Medien sowie durch ihren Wettbewerb untereinander eingesetzt hat, oder ob eine mediale Angebotsproliferation eine Zielgruppendynamik in Gang gesetzt hat, die sich immer stärker an individuellen Bedürfnissen orientiert, um potenzielle Rezipienten zur Nutzung anzuregen: Die Kopplung von Medien an technizistische Determinanten hat jedenfalls zu einer Auflösung räumlicher und zeitlicher Bindungen geführt. „Wissen und Gedächtnis sind seit der Erfindung der Schrift nicht länger an den Körper gebunden" (ebd.: 148). Diese erste und grundsätzliche Konsequenz technischer Medien für die Konstitution des gesellschaftlichen und im Übrigen durchaus auch individuellen Erinnerns ist die wohl am deutlichsten zu identifizierende Konstante in der mediengeschichtlichen Entwicklung: Das Medium selbst als Faktor, der, „einmal in bestimmter Weise technisch konstruiert, dem Einfluss der Feldkräfte weitgehend entzogen ist, der also unabhängig und unbeeinflussbar im Beziehungsfeld [von Kommunikator, Aussage, Rezipient] steht, dabei aber selbst auf die Prozesse der Massenkommunikation entscheidend einwirkt, sie formt, strukturiert, kanalisiert" (Maletzke 1963: 77). Jede Zeit hat ihr dominantes Medium als derart konstante Größe und ihre dahingehend ausgerichtete Medienkultur, die erheblich zum Wandel von Erinnerungskulturen beiträgt. Gedächtnisinhalte auf individualer wie auf kollektiver Ebene sind medial geformt und tragen die jeweiligen Bedingungen des Träger- und Triggermediums in sich. Es ließe sich von einer medialen „Kontaminierung" der Erinnerung sprechen, die ihre Natürlichkeit verloren hat und immer stärker auf Prothesen angewiesen ist (vgl. Sohns 2004: 55; Nora 1998: 25). Aus konstruktiver Sicht ist es indes vielversprechender, die genuinen Vermittlungsleistungen eines Medium im Hinblick auf gedächtnisrelevante Elemente zu untersuchen. Erll unterstreicht hierbei die Anwendbarkeit des von Schmidt vorgeschlagenen, auf mehreren Komponenten basierenden Medienmodells für eine erinnerungstheoretische Perspektive: „Erst in dem Zusammenspiel von solchen, auf verschiedenen Ebenen anzusiedelnden medialen und sozialen Phänomenen konstituiert sich ein .Medium des kollektiven Gedächtnisses"' (Erll 2004: 13). Für ein Gedächtnismedium ist die Spezifizität der Kommunikations- und Tradierungsqualitäten entscheidend. In seiner „Einführung in die Medienwissenschaft" unterscheidet Knut Hickethier zwischen drei grundsätzlichen Funktionsarten von Medien

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

(Hickethier 2003: 21-22), die in einer akkumulierten vierten Kommunikationsfunktion wichtige Rückschlüsse auf die Gedächtnisrelevanz eines Mediums eröffnen: Erstens sind Medien der Beobachtung zu nennen, die es ihren Nutzern ermöglichen, die menschlichen Sinnesorgane insofern zu erweitern, dass sie das Wahrnehmungsspektrum erweitern. Zweitens erfüllen bestimmte Medien eine Speicher- und Bearbeitungsfunktion, indem sie das individuelle Gedächtnis von der Merklast komplexer Wissensbestände und -zusammenhänge entlasten, Wissen also externalisiert vorhalten. Drittens gibt es Medien der Übertragung, die dazu dienen, Inhalte von einem Ort zum anderen zu transportieren. Als vierte und für die Verständigung einer großen Masse an Menschen wesentliche Funktion beschreibt Hickethier die Kombination der drei genannten Grundformen als Medien der Kommunikation, denen es obliegt, unter Schaffung neuer (virtueller) Kommunikationsräume und durch die Veränderung von Raum- und Zeitstrukturen die Möglichkeiten der extensivierten Wahrnehmung, der Speicherung, Bearbeitung und Übertragung zur effektiven Zirkulation von Inhalten zu verbinden. Wie bereits in Kapitel II.8.4. erwähnt, fußt die Theorie kulturellen Erinnerns weitgehend auf der Tradition manifester Tradierungstechniken, was zu dem Schluss führen könnte, dass Massenmedien „eine vollkommen andere Funktion als die kulturelles Gedächtnis generierenden Speichermedien" erfüllen (Erll 2007:91). Trotz der kulturwissenschaftlichen Ausweitung des Medienbegriffs auf jegliche vermittlungsfähige Speicherinstanz wie Skulpturen, Gemälden oder Denkmälern hat sich die Dominanz des Mediums Schrift erhalten. Die Leistung von Gedächtnismedien besteht indes nicht in ihrer Literalität, sondern darin, Erinnerungsrepräsentationen und Erinnerungsanlässe als Kommunikate nicht nur zeitüberdauernd zu bewahren, sondern sie auch - bei Bedarf - zirkulieren zu lassen und funktional aneignungsfähig zu halten: Ihre Bedeutung für die textuelle Kohärenz kulturellen Sinns wurde von Jan Assmann als grundlegend für die Herausbildung des kulturellen Gedächtnisses benannt: „Textuelle Kohärenz bedeutet die Herstellung eines Beziehungshorizonts über diesen der Schriftlichkeit inhärenten Bruch hinweg, eines Horizonts, innerhalb dessen Texte über die Jahrtausende hinweg präsent, wirksam und anschlussfähig bleiben" (Assmann 1992:101). Je mehr Individuen in einer Gemeinschaft in den Erinnerungsprozess eingebunden sind, desto stärker sind kulturelle Identitäten auf die Vermittlung angewiesen, die mithilfe von Medien erbracht wird. Je nach Komplexität der gesellschaftlichen Ebene kommt ihnen daher eine unterschiedliche Bedeutung als Erinnerungsgenerator zu: Wie Zierold verdeutlicht, wird es auf der Mikroebene vor allem die Face-to-Face-Kommunikation sein, mit deren Hilfe sich erinnert wird; auf gesamtgesellschaftlicher Ebene aber sei Erinnerung vor allem auf massenmediale Anlässe angewiesen (Zierold 2006: 151). Diese Einschätzung wird indes auch vom jeweiligen Kommunikationswillen der einzelnen Individuen abhängen, schließlich können Beispiele dafür gefunden werden, dass innerhalb von Gesellschaften Phänomene verblüffend weitreichender,Mundpropaganda' auftreten oder aber auch dass der zwischenmenschliche Kommunikationswillen innerhalb von Familien so rudimentär ausgeprägt ist, dass es keinen oder kaum narrativen Austausch zwischen den Mitglieder gibt.

III.l. Gedächtnismedium Fernsehen? Terminologische Klärungen

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Der seit Jahrhunderten und besonders seit Ende des 19. Jahrhunderts rapide voranschreitende Medienwandel hat auch fundamentale Auswirkungen auf die Bedingungen des gesellschaftlichen Erinnerns. Eine Kultur sucht sich ihre Medien und die Medien erschaffen sich .ihre' Kultur; für die .Medienepoche' seit dem 20. Jahrhundert bedeutet das einen unleugbaren Geltungsanspruch der elektronischen Medien, allen voran des Fernsehens, im kulturellen Diskurs. „Kultur ist in wachsendem Maße zu einer Vermittlung gesellschaftlicher Orientierung und Stabilisierung der handelnden Subjekte geworden, die über die audiovisuellen Medien Integration und Desintegration leistet, zur Identitätsgewinnung und kulturellen Distinktion beiträgt, Anpassung und Widerstand herausfordert, Mobilisierung und Befriedung ermöglicht, Glücksgefühl und Krisenbewusstsein formulieren hilft. Kultur ist am Ende des 20. Jahrhunderts eine Medienkultur" (Hickethier 1998: 3). Die Tragweite und Einflusskraft eines Mediums lässt sich nach Vogl nur aus dem Zusammenspiel der medialen Evidenzen heraus am Einzelfall bestimmen (vgl. Vogl 2001: 122), schließlich seien Medien in erster Linie „selbstreferenzielle Organe von Welterzeugung" (ebd.: 123), die aus den Bedingungen ihrer Zeit heraus geschaffen werden und auf gesellschaftliche Bedürfnisse reagieren. Nur so ist es Gedächtnismedien möglich, von Menschen benutzt zu werden, ihre Erinnerungen auszulagern, identitätsstiftende Inhalte zeitgemäß zu verbreiten und zu speichern, um sie bei Bedarf wieder selbst oder durch Nachkommen zu reaktivieren. Damit werden Erinnerungen ohne die Notwendigkeit einer wiederholten Elaboration für andere Menschen in ihrer ursprünglichen Manifestierung erfahrbar. Medien vermitteln externalisiertes, identitätskonkretes Wissen über die Vergangenheit, indem sie sich den Aneignungsgewohnheiten der jeweiligen Entwicklungsstufe in einer Gesellschaft anpassen bzw. angepasst werden. Somit sind Gedächtnismedien abhängig von der vorherrschenden Mediensozialisation einer Epoche. Hier behaupten sich in der Schulerziehung weiterhin die Schrift und das Erlernen der Fähigkeit, sie zu lesen und sich damit Wissen schriftlich abstrahiert anzueignen, gegenüber neuen Formen direkterer audiovisueller Medienkommunikation. Nichtsdestotrotz erobert diese immer mehr gesellschaftliche Ebenen der Verständigung und Sinnkonstruktion, weshalb teils von einem epochalen Einschnitt in der Medienentwicklung gesprochen wird: „Die telekommunikative, elektronische Form der kulturellen Produktion, Distribution und Rezeption stellt einen Epocheneinschnitt für alle Gesellschaften und verändert tiefgreifend nicht nur das Verhältnis der einzelnen zu Raum und Zeit, zu sozialen und kommunikativen Prozessen, sondern beherrscht weitestgehend auch das Verhältnis von Regional- zu Globalräumen, von Gegenwart und Geschichte der Gesellschaften sowie das Verhältnis von materiellen und immateriellen Systemebenen der Kulturen" (Böhme/Scherpe 1996: 17) Die Genese des Fernsehens zum neuen Leitmedium der literatisierten Kulturen weckte Zweifler und Warner, die durch die audiovisuelle Revolution der mediatisierten Weltwahrnehmung eine Kannibalisierung des gedruckten Wortes befürchteten. Seit die Fern-

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

sehbilder laufen lernten und nicht mehr zur Ruhe kamen, sei der Kulturmarkt automatisch in einen Wettbewerb zwischen Buch und Fernsehen gezwungen worden, in dessen Verlauf sich das massenwirksame Bildmedium als „Fressfeind" des Bücherlesens erwiesen habe, wiederholte die Allensbacher Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann Anfang der 1990er Jahre ihre provokante Warnung von 1974, da es noch lange nicht erwiesen sei, wie grundlegend das Fernsehen die Lesekultur verändert habe (Noelle-Neumann 1993, X). Die Rede von der Krise der Literalität und der Krise der Lesekultur beruft sich auf die Erstarkung eines Massenmediums, dessen Audiovisualität der mit Abstand schädlichste Einfluss auf die kulturelle Stellung des Buches als führendes Bildungsmedium zugeschrieben wurde (vgl. Sanders 1995: 72). Dabei hat sich das Fernsehen durch den starken institutionellen Rückhalt für die Lesesozialisation weniger zu einem Fressfeind des Buches als vielmehr zu einem natürlichen Futterneider im wachsenden massenmedialen Wettbewerb entwickelt (vgl. Rosebrock 2003:119). Auch hat sich mehrfach bewahrheitet, dass der Medienwandel keinem Verdrängungswettbewerb entspricht,29 sondern Remediationsprozessen unterliegt: „A medium in our culture can never operate in isolation, because it must enter into relationships of respect and rivalry with other media" (Bolter/Grusin 2000: 98). So integrierte auch das Fernsehen - in seiner Anfangszeit offensichtlicher als in späteren Jahren - bestehende kulturelle Vermittlungsformen und passte sie seinen medialen Produktions- und Distributionsbedingungen an: Joan Κ. Bleicher führt beispielhaft die Bildenden Künste an, deren Prinzipien der Bildkomposition, der Ikonographie, der Farbgestaltung und des Umgangs mit Licht sich das Fernsehen aneignete. Auch über-

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Derlei Befürchtungen lassen sich leicht mit dem Riepl'schen Gesetz beschwichtigt, das sich bereits mehrfach bewahrheitet hat, wonach alte Medien nicht von neuen verdrängt werden, sondern sich allenfalls die Nutzungsgewohnheiten ändern. Riepl schrieb: „[...] ergibt sich gewissermaßen als ein Grundgesetz der Entwicklung des Nachrichtenwesens, dass die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommendsten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur dass sie genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen" (Riepl 1913: 5). Genauso wenig, wie der Buchdruck zum Verschwinden der Handschrift geführt hat, vermag es das Fernsehen nicht, das gedruckte Buch abzuschaffen - geschweige denn die Kulturtechnik des Schreibens an sich (vgl. Neef/Dijck/Ketelaar 2006). Dennoch konnte eine gewisse Marginalisierung festgestellt werden, die durch veränderte Nutzungspräferenzen eingetreten ist: „Das Fernsehen hat es längst nicht mehr mit einer durchliterarisierten Welt zu tun, die Literatur aber sehr wohl mit einer durch und durch fernsehförmigen" (Winkels 1997: 21). Zweifellos lesen Millionen von Menschen Bücher, aber im seltensten Fall dasselbe und schon gar nicht gleichzeitig. Ebenso verhält es sich mit jedem anderen Druckerzeugnis vom Pamphlet bis zum auflagenstarken Massenblatt und betrifft somit auch das Problem der kulturellen Überlieferungsbildung, die sich bislang an der materiellen Schriftlichkeit orientierte. Insofern die Hegemonie des Buches als kulturelles Leitmedium durch die Karriere elektronischer Massenmedien gebrochen wurde, ist auch ein Bedeutungsverfall der traditionellen Bewahrungsformen denkbar, wenn nicht bei der Bewahrung, dann doch bei der Nutzung als mnestische Kommunikationsmedien.

III.l. Gedächtnismedium Fernsehen? Terminologische Klärungen

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nahm es vom Theater Verfahren der Figurencharakterisierung und der Gestaltung von Kulissen, von der Fotografie Anregungen für die Bildaufbau, Abbildfunktionen und die Darstellungsmittel Licht und Schatten, sowie schlussendlich auch von der Filmkunst als pragmatischen Partner des Fernsehens Vorgaben der Studioarchitektur und Requisitengestaltung sowie wichtige Aspekte der Bildaufteilung, von Personenbewegungen im Raum sowie Formen der Kameraführung und Verbindungsprinzipien durch Montage und Verfahren der Lichtkomposition (Bleicher 2003: 17). Bolter und Grusin sehen in dieser umfassenden Adaption von Mitteln der jeweiligen Vorgängermedien den schlagenden Beleg für ihre These der grundsätzlichen Remediation: „Any act of mediation is dependent on another, indeed many other, acts of mediation and is therefore remediation" (Bolter/Grusin 2000: 56). Allerdings zieht eine Rekontextualisierung auch immer eine Neudefinierung nach sich (vgl. ebd.: 45). Dies trifft besonders auch auf den Blick in die Geschichte zu: „Medien nehmen bei der Erzeugung von Vergangenheitsversionen Bezug auf vorgängige Medientechnologien, medienspezifische Formen und konkrete mediale Repräsentationen. Sie nutzen die Sinnpotenziale, die diesen in der Erinnerungskultur vorgeschrieben werden" (Erll 2007: 92). Gleichwohl strebt ein Medium danach, zumal im Wettbewerb mit anderen Vermittlungsinstanzen, seine Angebote einzigartig und damit unterscheidbar zu gestalten, um seine mediale Identität zu festigen. Das führt zwangsläufig zu einer Abgrenzung und Emanzipierung: „Medien kommen ,zu sich selbst', indem sie sich von ihren Vorläufern entfernen" (Hachmeister 1990: 5). Bestimmte remediatisierte Anlagen bleiben erhalten, neue Formen und Mittel kommen hinzu und mischen sich. War das Fernsehen zunächst noch angewiesen auf das Rüstzeug, das es sich bei seinen Vorgänger und Konkurrenten lieh, entfernte es sich zunehmend durch Weiterentwicklungen und Innovationen von den ursprünglichen Anleihen, die nach und nach televisualisiert wurden. Als auf diese Weise prototypisch integrativ arbeitendes Medium, das sich Nützlichem bedient, um seine eigenen Stärken entdecken und kultivieren zu können, erweiterte es seinen Einflussbereich schnell auf alle Ebenen der Gesellschaft. Die sich daraus konstituierende .Mediengesellschaft' organisiert ihre Selbstverständigung in erheblichem Maß über massenmediale und damit auch und vorzüglich über televisuelle Kommunikationsmechanismen, was sich auch und in letzter Konsequenz grundlegend auf die Art und Weise auswirkt, wie und was die Mitglieder der Kultur erinnern, vergessen und wie sie auf welche zirkulierenden Wissensinhalte zugreifen - oder nicht. Unter dieser Voraussetzung und mit Blick auf die dispositiven Bedingtheiten der audiovisuellen Massenkommunikation ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Fernsehen eine dezidierte Sonderrolle in der Frage nach seinem Einfluss auf die Art und Weise gesellschaftlichen Erinnerns spielt. Fernsehen war zuallererst die Verwirklichung eines Traums: Bilder rund um die Welt in das private Heim zu senden - das erscheint heute wie eine Selbstverständlichkeit. Ruderten US-amerikanische Reporter der Nachrichtenagentur Harbor News Association (der späteren Associated Press) Mitte des 19. Jahrhunderts noch den Schiffen aus Europa

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

entgegen, um schneller über die Neuigkeiten vom alten Kontinent berichten zu können (Huntzicker 1999: 95), ermöglichte das Fernsehen ein Jahrhundert später die Übertragung in Echtzeit. Die rudimentäre Größe des Fernsehbildes, die geringe Qualität des Tons und die Erkenntnis, dass es sich dabei ohnehin nur um eine technische Wahrnehmungsprothese handelte (vgl. Hickethier 1998:8), setzten der Faszination anfangs nur für kurze Zeit Grenzen. Allein der Gedanke, in der abgeschirmten Behaglichkeit des eigenen Zuhauses einen Eindruck von den Weltengeschicken zu bekommen und zwar nicht verklausuliert durch Schriftsprache oder eindimensional tönend übers Radio, sondern scheinbar direkt und mit eigenen Augen, ließ das Herz vieler Zuschauer höher schlagen. Das junge Medium irrlichterte vom Tag seiner Markteinführung an zwischen Wunder und Ungeheuer (vgl. Mühlbauer 1959). Metaphorische Bezeichnungen wie „Zauberspiegel" oder das „Magische Auge" waren zunächst nichts weiter als Werbefloskeln, blumige Versprechungen. So sollte das Fernsehgerät als „Fenster zur Welt", ausgehend von dem Motto der Internationalen Funkausstellung im Jahre 1953, „Die Welt in Deinem Heim" zeigen, das heißt nicht nur einen Blick auf die Welt aus der Intimsphäre des privaten Wohnzimmers ermöglichen, sondern die Welt sogar ins selbige bringen (Eisner u.a. 1994: 186). Später wurde das Fernsehen sogar zur „Fünften Wand" erklärt, in der mit wachsender Senderzahl und inhaltlichen Variationen gleich mehrere Fenster den Blick ins bunte Allerlei der Wirklichkeit ermöglichten (Rings 1962). Die Propagierung des Fernsehens als Guckloch in die große weite Welt, gepaart mit der Integration des Empfangsgerätes in die häusliche Einrichtung ließen es für die Einen zu einer „Wundertruhe" avancieren (vgl. Reichertz 2000: 59), für die Anderen jedoch mit kritischer Sicht zu einem „Fließband des Vergnügens" (vgl. Hickethier 1990b). Auch heute noch spricht man - teils in verniedlichender Form - von der „Flimmerkiste", weniger schmeichelhaft dagegen von der „Glotze" oder, so in Nordamerika, von der „Goggle Box" oder der „Boob Tube", der Idiotenröhre. In den 1950ern machte dort auch das Wort „Cyclops" die Runde: Das Fernsehen als elektronischer Zyklop, der seine Zuschauer als passive Sklaven unterjocht (Anonym 1956; Woiwode 1993). Gemein ist den .Kosenamen die Begeisterung bzw. die Verachtung für das televisuelle Charakteristikum der Bildlichkeit. Dass es als bloßes Schau-Medium zwar auch, aber eben nicht nur den Geist fordert und zum bloßen Stieren, zum anti-intellektuellen Konsum von Bilderware animiert, ist ein Makel, dessen sich das baldige gesellschaftliche Leitmedium seit seinem Start nicht entledigen konnte. Der Rang des Fernsehens als Kulturgut ist auch heute noch in manchen Kreisen umstritten und dient bisweilen als dankbares Anschauungsbeispiel, um Hoch- von Populärkultur, um Herausragendes vom Gewöhnlichen und Überflüssigen zu unterscheiden. Als Medium für die Massen wurde es zwangsläufig zum Kristallisationspunkt der Verlustängste von Machteliten, sei sie in politischen oder kulturellen Sphären zu verorten, die um ihren jeweiligen Einfluss fürchteten. Entgegengesetzte Standpunkte kulminierten in der Hoffnung, das Fernsehen könne zum Integrationsinstrument werden, das zu einem harmonischeren Miteinander der Menschen beitragen könnte. So oder so: Auch beinah

III.l. Gedächtnismedium Fernsehen? Terminologische Klärungen

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60 Jahre nach Aufnahme des regelmäßigen Sendebetriebs in Europa hat das Fernsehen als strukturell und inhaltlich vielseitiges Massenmedium nichts von seinem Polarisierungspotenzial eingebüßt. Dementsprechend scheiden sich die Geister hinsichtlich der Bewertung der Relevanz des Fernsehens für die Voraussetzungen und Operationalität von Erinnerungsprozessen. Was eine so monströse Gedächtnismaschine auszeichnet, warum sie häufig ins Stocken gerät oder ganz ausfällt, welche Einflüsse und Fehlkonstruktionen dazu führen mögen und wie sie wieder zum Laufen gebracht werden kann, wird in den folgenden Kapiteln des vorliegenden Bandes zu behandeln sein. Fernzusehen hat im deutschen Sprachgebrauch verschiedene Bedeutungen: Wenn sich ein Politiker mit einer Botschaft an die Medien wendet und ,das Fernsehen zum Interview erwartet, wird er sich darüber im Klaren sein, dass er nicht nur einen Journalisten mit Schreibblock oder Diktiergerät treffen wird, sondern einen Fragensteller mit Kamerateam und dazugehörigen Gerätschaften, inklusive schwerer Beleuchtungsausrüstung, Kabelrollen und in Ausnahmefällen sogar mit einem Übertragungswagen. Er wird aber ebenso darauf achten müssen, sein ,Fernsehgesicht' aufzusetzen und durch einen vorherigen Screen-Test sicher zu gehen, dass sein Image nicht nur im übertragenen Sinne korrekt vermittelt wird, sondern dass er buchstäblich eine gute Figur macht. In diesem Fall werden unter Fernsehen also die technischen Dimensionen der Produktion, Übertragung und des Empfangs verstanden. Auch schwingt bei der Sorge des Interviewten um die angemessene Inszenierung seiner Person und seine davon abhängende Abbildung auf den Empfangsgeräten der Zuschauer die Auffassung mit, dass ,das Fernsehen die Welt auf seine ganz eigene Weise darstellt. Damit wird auf die Ästhetik des Fernsehbildes verwiesen, die durch inszenatorische Feingriffe nuancenreich ausgestaltet werden kann. Auf der Zuschauerseite wird sich die Familie möglicherweise schon während des Frühstücks darüber unterhalten, was es denn am Abend ,im Fernsehen gebe, mit dem Ziel, bei der Tagesplanung die Wahlmöglichkeiten für den Zeitvertreib zu evaluieren. Hier liegt das Augenmerk auf dem Fernsehprogramm, das heißt auf den spezifischen Sendeinhalten und der Abfolge derselben. Die Kinder wird die Mutter aber wahrscheinlich schon früher ins Bett schicken, weil diese nach ihrer Auffassung tagsüber ohnehin schon ,zu viel Fernsehen geschaut haben, womit sie bewusst nicht auf einzelne Sendungen Bezug nimmt, sondern die Nutzungsgewohnheiten ihres Nachwuchses, Fernsehen zu rezipieren, pauschal aburteilt. Sie hatte Ihre Zöglinge womöglich schon zwischenzeitlich ermahnt, ,das Fernsehen nicht so lange laufen zu lassen, vor allem wenn sie sich gar nicht mehr im Raum befänden, womit sie konkret das Fernsehgerät als Einrichtungsgegenstand meint. Sollte es ihr zudem Unbehagen bereiten, dass ihre Kinder sich hauptsächlich Actionserien, Game-Shows oder Musikvideos anschauen, wird sie wohl auch das anspruchsvolle Politiker-Interview am Abend nicht davon abbringen können, über ,die vom Fernsehen ihren Kopf zu schütteln und sich zu wünschen, dass die damit bezeichneten Sendeanstalten, also die Verantwortlichen in den Institutionen des Fernsehprogrammbetriebs, endlich etwas gegen die ihrer Ansicht nach jugendgefährdenden Sendungen unternehmen.

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

Wird Fernsehen übergreifend als Technologie und kulturelle Form begriffen (Williams 2003), ergeben sich eine Vielzahl von Ansatzpunkten, um das elektronische Massenmedium auf seine Gedächtnisrelevanz hin zu untersuchen. Für die Auseinandersetzung mit seinen sozialen Funktionen und kulturellen Dimensionen im individualpsychologischen und gesellschaftlich-normativen Kontext von Erinnern und Vergessen können die inhaltlichen Aspekte des medialen Produkts als zentral gelten. Trotz der Vieldeutigkeit des Fernsehbegriffs muss daher der Programmaspekt für das Verständnis aller wesentlichen Fernsehcharakteristiken im Mittelpunkt stehen. Fernsehen ist ein Programmmedium: Die Grundidee der audiovisuellen Übertragung von Kameraaufnahmen an eine unbekannte Zahl über weite Distanzen verstreuter Empfänger zielte von Beginn an in die Richtung eines massenmedialen Programmbegriffs, der sich von der traditionellen Bedeutung: der Ankündigung einer Veranstaltung in der Zukunft, abhob und eine zweite Bedeutung, die der tendenziell unendlichen Abfolge von kulturellen Produktionen bzw. Präsentationen, mit einschloss: Das Programm des Rundfunkmedien ist „die umfassende Bezeichnung für ihr Produkt" (Hickethier 1991: 422). Die einzelnen Sendungen sind also stets in einen Programmkontext eingebunden, der zeitlich strukturiert ist (z.B. Vormittags-, Nachmittags- oder Abendprogramm), veranstalterübergreifende Gültigkeit besitzt und damit die Vergleichbarkeit der Inhalte ermöglicht. Im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch dagegen, und darauf wird im Verlauf der Analyse insbesondere bei der Zitierung englischsprachiger Literatur zu achten sein, werden auch einzelne Sendungen als .program bezeichnet. Für das Verständnis der Gedächtnisrelevanz des Fernsehens sind aber zweifellos alle am Produktionsprozess beteiligten Determinanten sowie die Rezeptionsweisen in die Analyse mit einzubeziehen. Das Mediensystem mit seinen korrespondierenden politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bildet die Grundvoraussetzung für jegliche Fernsehoperation und bestimmt mit Marktmechanismen, gesetzlichen Regeln und der Institutionalisierung von Korrektiven den Programmbetrieb. Ohne die technologischen Voraussetzungen der Produktions-, Übertragungs- und Empfangsmodi wäre ebenso wenig ein reibungsloses, geschweige denn umfassendes Programmangebot möglich. Welche Intentionen von Seiten der Produzenten und .Programmmacher' verfolgt werden, spielt bei der letztendlichen Analyse des Fernsehprogramminhalts ebenso eine Rolle wie die Nutzungs- und Aneignungsformen der Fernsehzuschauer, um die qualitative Wirkungsweise des Programms und aller seiner institutionellen, produktiven und technischen Voraussetzungen erfassen zu können. Zunächst werden die Ziele von Wirtschaft und Politik untersucht, die mit der Etablierung und Entwicklung des Fernsehbetriebes verbunden waren und sind. Hier wird sich zeigen, dass das Fernsehen eine zentrale Funktion bei der gesellschaftlichen Selbstverständigung und damit auch bei der Verwaltung und dem Fortbestehen, einschließlich des Ausbaus kollektiv-semantischer Wissensvorräte, einnimmt (Kapitel III.2.). Daraufhin wird zu erörtern sein, welche Schlüsse für die Wahrnehmung des Mediums als distinktes Erinnerungsobjekt gezogen werden können aus der Stellung, die das Fernsehen

III.l. Gedächtnismedium Fernsehen? Terminologische Klärungen

119

als Begleiter auf dem Lebensweg im Alltag seiner Nutzer hat (Kapitel III.3.)· Im anschließenden Kapitel wird die Vergemeinschaftungsfunktion des Fernsehens aus der Nutzerperspektive sowie die daraus zu folgenden Konsequenzen für das kollektive Erinnern und speziell für den gemeinschaftlichen Erlebniswert bei der Fernsehrezeption behandelt (Kapitel III.4.). Die Einflüsse der technischen Imperative des Fernsehbetriebs auf die Erinnerungsbildung werden in Kapitel III.5. unter der Fragestellung der Verdichtung behandelt: Welche Schwierigkeiten, aber auch Erleichterungen stellen sich dem individuellen Zuschauer bei der Fernsehnutzung durch verkürzte Innovationszyklen, einen rasanteren Informationsumschlag und den grundlegenden Bild- und Programmprinzipien des Fernsehens dar und welche Eingriffsmöglichkeiten bieten ihm technologische Hilfsmittel? Im folgenden Kapitel wird der Glaubwürdigkeit des Fernsehens nachgegangen und grundsätzliche Fragen der Wirklichkeitsdarstellung und der Informationsleistungen des Mediums erörtert, um darauf aufbauend die herausgehobene Funktion von Medienereignissen als Sonderform televisueller Inszenierung und Erinnerungsgeneratoren zu untersuchen (Kapitel III.6.). In diesem Kontext werden auch die wesentlichen Reibungspunkte von Fernsehinhalten zwischen authentischem Schein und suggestiver Manipulation hinsichtlich ihrer mnestischen Auswirkungen problematisiert. Die nachfolgenden drei Kapitel fassen drei wichtige inhaltliche Programmbereiche im Hinblick auf ihre Gedächtnisrelevanz näher ins Auge, die häufig im Kreuzfeuer der Kritik standen und auch weiterhin teils kontrovers beurteilt werden: Die Bildungsfunktion des Fernsehens, fernsehkünstlerische Produktionen bzw. allgemein die Ausbildung einer spezifischen Fernsehästhetik sowie die explizite Thematisierung von Geschichte und Erinnerung im laufenden Programm (Kapitel III.7.III.9). Die theoretische Analyse mündet schlussendlich in der zusammenfassenden These, dass es sich bei der von prominenten Vertretern der Kulturwissenschaft konstatierten Krise des Gedächtnisses im Grunde um eine verkannte Chance für die gesellschaftliche Erinnerungspraxis handelt, der es jedoch bisher an breiter kultureller Wertschätzung und dem nötigen Realisierungswillen gemangelt hat. Die theoretisch-analytische Einordnung des Fernsehens in den gedächtniswissenschaftlichen Rahmen bildet sodann die Ausgangsbasis für die Entwicklung von Strategien für die Kulturarbeit in Archiven und Museen, die sich dem Fernsehen als audiovisuellem Leitmedium des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts widmen.

120

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

2.

Im Dienste der Öffentlichkeit? Institutionalisierung und De-Institutionalisierung des Fernsehens

2.1.

Fernsehen als Grundpfeiler

der gesellschaftlichen

Selbstverständigung

Wofür das Fernsehen dienlich sei, ist seit Beginn des regelmäßigen Sendebetriebs auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans strittig. Auf den verbreiteten Eindruck, jedweder Fernsehveranstalter fühle sich mehr dem wirtschaftlichen als dem Gemeinwohl verpflichtet mit der Konsequenz, dass Programmentscheidungen auf Basis von Einschaltquoten fielen, wird regelmäßig rekurriert und schließt kein Medium, nicht einmal das Fernsehen selbst, aus. Die Frage, ob es sich bei den hehren Programmaufträgen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland um „quasi-humanistische Ideale" handelt, die sich einer Kommerzkultur nicht haben erwehren können (vgl. Wernecken/Bacher 2006: 234) muss durch die Einseitigkeit der Argumentationen häufig ebenso unbeantwortet bleiben wie die Sicht verstellt wird auf die möglicherweise ungeahnten Potenziale der privatwirtschaftlichen Organisation der Fernsehprogrammveranstaltung nach US-amerikanischer Konzeption für den Dienst an der Öffentlichkeit. Daran hatte jedoch bereits Anfang der 1960er Jahre der Vorsitzende der staatlichen US-Rundfunkaufsichtsbehörde Federal Communications Commission (FCC), Newton Minow, erhebliche Zweifel und bezeichnete die Programmangebote im US-Fernsehen als „Vast Wasteland", eine Metapher, die auch in späteren Debatten immer wieder aufgegriffen wurde. Minows Grundsatz lautete: ,,[T]he people own the air" (Minow 1961: 191). Er appellierte in seiner Rede vor der Nationalen Vereinigung der Rundfunkveranstalter in Washington, DC an die Einhaltung des „Television Code" (ebd.: 195), auf den sich die Fernsehindustrie verpflichtet hat: „Television and all who participate in it are jointly accountable to the American public for respect for the special needs of children, for community responsibility, for the advancement of education and culture, for the acceptability of the program materials chosen, for decency and decorum in production, and for propriety in advertising. This responsibility cannot be discharged by any given group of programs, but can be discharged only through the highest standards of respect for the American home, applied to every moment of every program presented by television. Program materials should enlarge the horizons of the viewer, provide him with wholesome entertainment, afford helpful stimulation, and remind him of the responsibilities which the citizen has towards his society" (ebd.). Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger sah das Grundübel des Fernsehens auf der Makroebene des grundlegenden Organisationsprinzips des Rundfunks und erhob als einer von zahllosen Medienkritikern das Wort gegen einen repressiven Mediengebrauch ,νοη oben und forderte eine emanzipatorischen Rundfunkordnung ,νοη unten, die von der Interaktion der Teilnehmer untereinander gekennzeichnet sein solle und nicht von einer passiven Konsumhaltung. Diese Propagierung einer „linken Me-

7/7.2. Im Dienste der Öffentlichkeit?

121

dientheorie" (vgl. Modick 1984: 22; Modick 1988: 90) sah in der Fernsehtechnik einen reziproken Kommunikationskanal, zumindest potenziell. In seinem Entwurf eines „Baukastens zur Theorie der Medien" (Enzensberger 1970) stellte er Praxis und Ideal des Fernsehbetriebs gegenüber und entwarf damit das Bild eines Massenmediums in Schieflage, dessen alltägliche Operationen weit hinter dem zurückblieben, was wünschenswert und machbar wäre: Dezentrale Programme seien zentral gesteuerten Programmen zu bevorzugen, nicht das Modell „Ein Sender und viele Empfänger" solle den Markt beherrschen, sondern jeder Empfänger auch als ein potenzieller Sender verstanden werden. So sei weniger die Immobilisierung isolierter Individuen die Folge, sondern die Mobilisierung der Massen. Dadurch werde ein politischer Lernprozess möglich und nicht - wie so oft kritisiert - eine Entpolitisierung oder sogar Verdummung und Kindheitsgefährdung, wie sie unter anderem von Newton Minow befürchtet wurde (vgl. Minow/LaMay 1995). Der Fernsehbetrieb war indes von Beginn an eine Arena erbitterter Kulturkämpfe, die auf politischer und wirtschaftlicher Ebene und keineswegs basisdemokratisch ausgetragen wurden sowie sich nicht erst an der Finanzierungsfrage öffentlicher Rundfunkanstalten entzündeten (vgl. Hoynes 1996), sondern bereits hinsichtlich der grundsätzlichen politischen und wirtschaftlichen Ziele, die mit der mutmaßlich wirkmächtigen elektronischen Massenkommunikation verfolgt werden sollten. Die Bundesrepublik Deutschland stellte hier insofern einen Sonderfall dar, als dass nach dem Zerfall des .Dritten Reichs' der Rundfunk auf keinen Fall wieder einseitig für politische Zwecke oder sonstige Interessen instrumentalisiert werden sollte. Im Vordergrund standen humanistische Ziele der Aufklärung, Toleranz und Gewissensfreiheit sowie der Identitätsstiftung und Integrität der Persönlichkeit. Adolf Grimme, erster Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), sah im Fernsehen dementsprechend ein Gemeinsamkeit stiftendes Instrument zur Schaffung eines europäischen Bewusstseins: „Gegenüber allen Angriffen auf seine Unabhängigkeit von Interessentengruppen muss es eine treuhänderische Plattform für alle den demokratischen Staat bejahenden Richtungen bleiben, eine Ebene von paritätischer Neutralität als Instrument des ganzen Volkes. [... ] Ein Freund der Menschheit wird es sein, wenn wir uns bemühen, alle Arbeit an dem neuen Mittel der Menschbildung unter das Gesetz der Humanitas zu stellen, unter das Gesetz, um dessen Erfüllung willen im letzten alle Politik ist" (Adolf Grimme, zitiert nach Wolters: 1953: 671) 40 Jahre später indes war die Floskel des „Unterschichtenfernsehens" in aller Munde, in den gesellschaftlichen Diskurs gebracht durch das Satiremagazin „Titanic" (Anonym 1995). Die provokante Begriffssetzung zielte auf die kommerziellen Programmveranstalter und wurde zum populären Distinktionsterminus für all solche Zuschauer, die sich - trotz fehlender empirischer Beweisgrundlage für die Nutzung explizit passgerechter Fernsehangebote durch sowohl einkommens- als auch bildungs- und geschmacksschwache Gesellschaftsteile - durch ihre vermeintlich anspruchsvolleren Nutzungspräferenzen in ihrem Fernsehkonsum überlegen fühlen konnten: „Er sagt ,Unterschichtenfernsehen, und man hört ,Proll-TV: Für Idioten gemacht, aber gottlob nicht für einen selbst"

122

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

(Schulze 2005, XVII). Dieses Beispiel unterstreicht die gesamtkulturelle Funktion des Fernsehens: Auch wenn es inhaltlich als Mittel sozialer Abgrenzung benutzt wird, vereint es doch alle vermeintlichen Gesellschaftsschichten vor dem Bildschirm und stellt es den Zuschauern frei, sich mit dem Gesendeten zu identifizieren oder sich davon abzugrenzen. Von Beginn des Fernsehbetriebs in Deutschland an wurde die Losung ausgegeben, mit der Massenkommunikationstechnologie einem breiten Publikum ungeachtet von Bildungsschranken und sozialen Klassen freien Zugang zu Information, Bildung, Unterhaltung und Kultur zu ermöglichen. Seine Grundintention ist, „kulturgeprägt, kulturvermittelnd und kulturprägend" (vgl. Stolte 1992: 83) zu sein, und zwar in der am weitesten gefassten Bedeutung des Kulturbegriffs als (nach Brockhaus-Definition) Gesamtheit der Lebensäußerungen der menschlichen Gesellschaft in Sprache, Religion, Wissenschaft und Kunst. Indem das Fernsehen nicht nur bestrebt ist, das gesellschaftliche Leben in seiner ganzen Breite abzubilden, sondern es dadurch auch beeinflusst, sogar bewirkt, gehört es „zu den bedeutendsten Kulturträgern überhaupt" (Buchwald 1999: 373-378). Entsprechend haben Horace Newcomb und Paul Hirsch ein positivistisches Modell des Fernsehens als kulturelles Forum entworfen, das den Zuschauer als „erfinderischen Improvisateur" entwirft, der „in seinen Fähigkeiten zur Sinngebung und Interpretation durchaus den Experten [...], die die Sendungen konzipiert und realisiert haben", ebenbürtig ist (Newcomb/Hirsch 1986: 188). Demnach fungiert das (freie) Fernsehen als massenmediales Selbstverständigungsinstrument von staatlichen Gesellschaftssystemen und kann auch zur internationalen Verständigung zwischen Kulturen dienen, wie auch André Brodocz und Steven Schäller betonen: „Die Bürger haben danach quasi ein implizites Grundrecht auf freie Rundfunk- und Fernsehsender. Denn diese sind eine Grundvoraussetzung für den Prozess der öffentlichen Kommunikation, der Meinungsbildung der Staatsbürger und der Selbstverständigung einer demokratischen Gesellschaft. Die Freiheit von Rundfunk und Fernsehen zu gewährleisten, ist die Aufgabe des demokratischen Staates" (Brodocz/ Schäller 2006: 244). Nach Ansicht von Newcomb und Hirsch bringt erst das Fernsehen „die Menschen zum Handeln und zur Artikulation ihrer Ideen und Wertvorstellungen" (Newcomb/Hirsch 1986:188). So sei es gerade die Dichte, Vielfalt und Komplexität der Programminhalte ein Hinweis darauf, auf welche Weise diese von den Zuschauern angenommen werden, um sie mit ihren Lebenserfahrungen, speziell der eigenen Biographie in Relation zu setzen (ebd.: 190). Auf der anderen Seite sind es wiederum nicht allein die Autoren, Regisseure und Produzenten, welche agieren und ihre Produkte über das Fernsehen kommunizieren. Auch die verantwortlichen Entscheider innerhalb der Sender sowie die übergeordneten Kontrollinstanzen beteiligen sich an der Bewertung und Interpretation der gemeinschaftlichen Kultur, die durch das Fernsehen, der darauf gerichteten Erwartungen, Intentionen und Wirkungen einem stetigen Wechselspiel aus Stabilisierung und Wandel unterliegt: „Für uns ist es viel wichtiger herauszuarbeiten, wie das Fernsehen zum Wandel beiträgt,

II1.2. Im Dienste der Öffentlichkeit?

123

als zu zeigen, wie es in ja bekannter Manier die herrschenden Werte unterstützt" (ebd.: 189). So stellt sich eine Sendung nicht als hegemoniales Einheitskommunikat eines Senders ohne Bezug zum Empfänger dar, sondern als ausgehandeltes Ergebnis eines alle Interessen der auf dem Forum agierenden Parteien einbeziehendes Herstellungsprozesses, das während seiner Ausstrahlung wiederum einen Verständigungsvorgang hinsichtlich der Interpretations- und Reaktionsmuster bei allen beteiligten Gruppen in Gang setzt und Auswirkungen auf folgende Forumsaktivitäten hat. Die Forumsthese unterstreicht zum einen die dominante Funktion des Fernsehens als Repräsentationsmedium gesellschaftlicher Konstitutionen, zum anderen bezieht sie aber auch die multipartikularischen Einflussnahmen auf den Ebenen des Mediensystems, der Programmverantwortlichen und der Rezipienten mit ein. Die Vorstellung eines Forums, auf dem sich Vertreter der Makro-, Meso- und Mikro-Ebene des massenmedial begründeten Beziehungsgeflechts mit ihren jeweils ganz eigenen Mitteln an der Ausgestaltung der kulturellen Möglichkeiten des Fernsehens beteiligen, betont die interdependente Bedingtheit von Fernsehen und Kultur. Das positivistische Verständnis des Fernsehens als engagierte wie engagierende Kommunikationsinstanz für die intra- wie interkulturelle Verständigung akzentuiert die engmaschige mediale Angebotsstruktur für biographische Sinnkonstruktionen und Selbstvergewisserungsprozesse, welche in den zeitgenössischen Gesellschaften in Relation zu anderen (massen)medialen Foren wie Presse, Hörfunk, aber auch der Literatur oder physischen Versammlungsorten eine zentrale Leitfunktion übernommen hat. Der Status des Fernsehens als weltweit „cultural leading or defining medium" (Briel 1998: 329-330) hat demnach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst auf nationale Grenzen beschränkt und später verstärkt auch auf globaler Ebene dazu geführt, dass zueinander unbekannte Menschen durch Abgrenzung und Annäherung mittels der Nutzung des Fernsehens als „symbolische Ressource in alltäglichen Kommunikationspraktiken" (Mikos 2007: 45) zum gesellschaftlichen Wandel beitragen: „Rather than being the ,end of history', a new phase of history is opening up in the 1990s" (Herman/McChesney 1997: 2). So kann die Forumsfunktion als eines der maßgeblichen Kriterien für die Bewertung des Fernsehens als Leitmedium gewertet werden (vgl. PausHasebrink 2006: 3). Mit ihrer Bardenthese setzten sich die Medienwissenschaftler John Fiske und John Hartley an die Spitze der Vertreter einer daraus gefolgerten rituellen Funktion des Fernsehens. Unter der Rolle eines Barden verstehen die Autoren einen „mediator of language" (Fiske/Hartley 2003: 64), der im Mittelpunkt einer Gemeinschaft situiert ist und Botschaften zur Bestätigung und Bestärkung eines jeden Mitglieds der betreffenden Kultur kommuniziert. Zwar räumen Hartley und Fiske ein, dass das Sprachensystem des Fernsehens deutlich zwangloser sei als das einer mittelalterlichen Kulturgemeinschaft, in der traditionelle Barden existiert haben. Doch sei die Sprache des Fernsehens, die sich wiederum an die seines Publikums anpasse, in sich ähnlich spezialisiert, kohärent und präge dementsprechend wiederum die alltäglichen Wahrnehmungen der Zuschauer. Als Leitmedium genieße es zudem die volle Aufmerksamkeit seines Publikums und wende

124

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

sich in seiner sozio-zentralen Position an alle Mitglieder einer auch noch so fragmentarisierten Gesellschaft. Diese integrative Leistung habe auch den Barden ausgezeichnet, da dieser niemals an seinen Zuhörern vorbei kommuniziert hätte, sondern streng darauf geachtet habe, auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Die Autorität der Zuschauerschaft kann somit als das wichtigste Kriterium bei der Wahrnehmung der bardischen Funktion des Fernsehens gelten. Daher sind Sendungen nach der Lesart von Fiske/Hartley auch inhaltlich darauf ausgerichtet, den durchschnittlichen Zuschauer in den Mittelpunkt des Geschehens zu rücken, ihn somit - selbst bei Sendungen über Tiere - zur Hauptfigur zu machen, indem mittels anthropomorphisierender Bezüge Identifikationsmöglichkeiten geboten werden. Durch diese Rückbezüglichkeit jedweden Fernsehprogramminhalts auf die zentralen Grundeinstellungen einer Kultur geriert sich das Fernsehen als gemeinschaftliches Kommunikationszentrum. In dieser Kontinuität wahren Barde wie auch das Fernsehen gleichermaßen die Stabilität kultureller Konventionen. Kulturelle Systeme können nur bestehen, wenn sie von ihren Mitgliedern belebt, getragen und verteidigt werden. Fiske und Hartley sehen in der innerkulturellen Kommunikation durch Mythen ein effektives Funktionsmuster, um im Gespräch mit sich selbst die eigene Lebenswelt zu fundieren. Dies geschehe durch soziale Rituale, die nicht erst durch das Fernsehen vermittelt werden, sondern es selbst sei als tonangebender Erzähler in seiner Kultur ein vermittelndes und zusammenführendes Ritual. Mithilfe von „ritueller Kondensation" (vgl. ebd.: 68) sei es dazu imstande, abstrakte Normen in verständliche bildliche - Begrifflichkeiten zu übersetzen. So sei die begriffliche Paarung der nur schwer greifbaren Vorstellung von Gut und Böse mit den klar identifizierbaren Farben Schwarz und Weiß ein Beispiel, wie das Fernsehen Mythen erzeugen und manifestieren könne. Solche durchaus gefährlichen Dichotomisierungen (man denke nur an die klischeehafte Inszenierung von Rassenunterschieden anhand dunkel- und hellhäutiger Charaktere) finden sich ihrer Ansicht nach in allen Genres des Fernsehprogramms, ebenso wie symbolisch aufgeladene Rollenmuster, die allesamt zur vereinfachten Verständlichkeit komplexer Sinninhalte dienen. Zusammenfassend nennen Fiske und Hartley sieben Merkmale des Fernsehens, die es als bardisches Medium kennzeichnen sollen (vgl. ebd.: 66-67): Das Fernsehen artikuliert erstens die Hauptstränge des etablierten kulturellen Konsensus über das Wesen der Wirklichkeit, bezieht die Gesellschaftsmitglieder zweitens in das dominante kulturelle Werte-System ein und feiert drittens die Gemeinschaft in Abgrenzung zur Umwelt. Viertens bejaht das Fernsehen die Angemessenheit der jeweiligen kulturellen Gemeinschaft in all ihren Bestandteilen, indem es ihre Ideologien und Mythologien in aktiver Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt bestärkt und bestätigt. Umgekehrt weist es fünftens auf kulturelle Entwicklungen hin, die angesichts veränderter Bedingungen in der Welt „da draußen" als unangemessen eingestuft werden oder dem innerkulturellem Druck zur Neuorientierung zugunsten einer neuen ideologischen Ausrichtung geschuldet sind. Sechstens ist das Fernsehen ein effektives Instrument, die Zuschauer davon zu überzeugen, dass ihr Status und ihre Identität als Individuen in der Kultur als Ganzes

III.2. Im Dienste der Öffentlichkeit?

125

garantiert sind, u m ihnen auf diese Weise - siebtem - ein Gefühl der kulturellen Zugehörigkeit zu vermitteln, verbunden mit einem Gefühl von Sicherheit und Teilhabe. Das Fernsehen verbreitet also kulturelle Rituale mittels seiner Programmangebote, um seiner zentralen Mittlerposition gerecht zu werden und die Kontinuität der Kultur zu wahren. Gleichzeitig wird das Fernsehen selbst rituell genutzt: Wie in Kapitel III.3. zu zeigen sein wird, wurde es zu einem Alltagsmedium und die Rezeption zu einer Routinehandlung, die kein bewusstes Reflektieren erfordert, um reibungslos zu verlaufen (vgl. Wiedenmann 1991: 177). Darüber hinaus ist Fernsehen auch als institutionalisiertes Ritual innerhalb von Gesellschaftssystemen zu verstehen, das zur Kultivierung der Mediengesellschaft eingesetzt wird. Anhand der gegensätzlichen Impetus der Mediensysteme Deutschlands und der USA soll im Folgenden argumentiert werden, dass dem Fernsehen eine kulturelle Gedächtnisfunktion bereits von Anbeginn seines regelmäßigen Betriebs zur Mitte des 20. Jahrhunderts in die Wiege gelegt worden ist. Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Thomas Schuster sieht in Massenmedien denn auch ein unersetzliches Rüstzeug für den mündigen Staatsbürger: „Ganz gleich welchen Begriff von Demokratie wir im Sinn haben, wenn wir von .Demokratie' sprechen, ob einen elitären oder einen basisdemokratischen, stets werden wir den Spielraum für Mitsprache und Kontrolle, den die organisierte Gesellschaft in öffentlichen Angelegenheiten besitzt, als ein Hauptkriterium für die Bewertung der Qualität des politischen System betrachten. Demokratie steht und fällt mit der Fähigkeit der Gemeinschaft der Bürger zur Kontrolle des Staatsapparates - unabhängig von der spezifischen Regierungsform. Genau dieser Bedingungszusammenhang von kritischer Öffentlichkeit und Demokratie ist es, der die Rolle der Nachrichtenmedien so bedeutsam macht. Denn als die zentralen Kommunikationskanäle der Gesellschaft bilden die Medien den Nährboden, auf den die Fähigkeit der Bürger zur öffentlichen Kontrolle des Staates sich gründen muss" (Schuster 2004:175). Das entscheidende Merkmal des (Informations-) Fernsehens in einer Demokratie ist aus diesem Blickwinkel also die Funktion, alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen mit für ein funktionierendes Zusammenleben im Staatswesen relevanten Informationen zu versorgen. Hierbei greifen kulturelle Wissensbestände, die sich auf die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft beziehen, so eng und untrennbar ineinander, dass das Fernsehen für das autopoietische Gesellschaftssystem nach Luhmann konstitutiven Charakter annimmt: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien" (Luhmann 2004: 9). Der Umkehrschluss, ohne Massenmedien sei das Individuum nicht ausreichend über eine gesellschaftliche Umwelt und deren Umwelt informiert, ist durchaus zulässig, schließlich bedienen sich die modernen Gesellschaften der Massenmedien, u m trotz und wegen ihrer Komplexität effektiv mit sich selbst kommunizieren zu können. Damit Massenmedien wie das Fernsehen ihre stabilisierende Verständigungsfunktion erfüllen können, bedarf es einer institutionellen Ordnung. Die Verlässlichkeit des Fernsehens liegt bei aller Variationsvielfalt des derzeitigen Programmangebots in der institutionellen Verfasstheit einiger führender Fernseh-

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

126

Veranstalter: Ohne Kontinuität, so lässt sich konstatieren, wäre die beste massenmediale Infrastruktur unerheblich, weil die Zuschauer ohne Orientierung durch ein mäanderndes Feld von Programmveranstaltern irren würden, die heute noch senden, aber morgen schon vom Bildschirm verschwunden wären. Institutionalisierung als Ordnungsstruktur innerhalb des Mediensystems ermöglicht es dem Zuschauer, sich durch die Unterscheidungsfähigkeit von Programmen zurechtzufinden, und den Sendern, durch Wiedererkennbarkeitseffekte Glaubwürdigkeit aufzubauen (vgl. Kapitel III.5.2.5. und III.6.2.2.). Fraglich ist, ob das Medium Fernsehen an sich innerhalb des massenmedialen Systems als Gedächtnisinstitution zu verstehen ist oder aus mehreren Institutionen besteht, die eine Gedächtnisfunktion erfüllen. Dabei ist zunächst irrelevant, ob über die Fernsehsender als Institutionen zur Programmherstellung und -Vermittlung Wissensinhalte über die Vergangenheit tradiert werden. Die Medienordnung eines Staatsgefüges hat vielmehr in erster Linie den kollektiven Binnenaustausch von Informationen innerhalb einer staatlichen Ordnung im Blick und bildet mit der Regulierung elektronischer Massenkommunikation die Grundlage für gesellschaftliche Erinnerung. Menschen erinnern sich tagtäglich: Entscheidend ist, an was sie sich erinnern und ob die jeweilige Erinnerung für die persönliche Entwicklung und die Teilhabe am sozialen System relevant ist oder nicht. Somit ist ebenso entscheidend, mit welchen Intentionen die Etablierung des Fernsehens einherging und welche Konsequenzen daraus resultieren. Nach dem langjährigen Präsidenten des öffentlichen Fernsehsenders WNET in New York, James Day, gilt für die Prägung des Rundfunk- und speziell des Fernsehsystems in Nordamerika und Europa die allgemeine Regel: ,,[W]ho comes first defines the media" (Day 1995: 6): „In Europe and Canada, public television preceeded the introduction of private commercial television, in most cases by many years, and [...] it conditioned viewer expectations by saying, in effect, ,this is what television is'" (ebd.). Wer sich hat durchsetzen können bei der Formung der televisuellen Institutionalisierung, ist schnell beantwortet: In den USA weist der Fernsehbetrieb traditionell eine privatwirtschaftliche Orientierung auf, die nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Oligopol aus mehreren Rundfunkkonzernen Gestalt annahm; in Westdeutschland dagegen begann der regelmäßige Fernsehprogrammbetrieb im Zeichen gesellschaftlicher Verantwortung und unter Ausschluss staatlicher und wirtschaftlicher Usurpationsversuche. Das Fernsehen der DDR wiederum konnte unter staatlicher Lenkungshoheit nur in bescheidenem Maße prosperieren. Bis ins 21. Jahrhundert haben diese gegensätzlichen medienpolitischen Grundsteinlegungen in Nordamerika und Mitteleuropa Nachwirkungen auf die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens.

2.2.

Die Institutionalisierung

des Fernsehens

in der BRD

In der Bundesrepublik Deutschland wurden die Rundfunkinstitutionen als „ Ausfluss der verfassungsrechtlichen Kulturkompetenz der Bundesländer" (Langenbucher 1999: 295)

III.2. Im Dienste der

Öffentlichkeit?

127

verstanden. In seinem zweiten Rundfunkurteil vom Juli 1971 bescheinigte das Bundesverfassungsgericht dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland eine integrale stabilisierende Funktion für das staatliche Gemeinwesen: „[...] Die Rundfunkanstalten stehen in öffentlicher Verantwortung, nehmen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahr und erfüllen eine integrierende Funktion für das Staatsganze" (BVerfGE 31: 314). Dennoch kann der Rundfunk nach dem Urteil der Verfassungsrichter „nicht Sache des Staates sein, also weder unmittelbar noch mittelbar zur staatlichen Aufgabe gemacht werden". Artikel 5 des Grundgesetzes verweise ihn „in den Raum der Gesellschaft" (BVerfGE 31: 314). Das macht einerseits zwingend erforderlich, dass eine einseitige Instrumentalisierung des Fernsehens verhindert wird, andererseits nimmt es auch die Gesamtheit der fernsehenden Bevölkerung in die Pflicht, die Institution Fernsehen finanziell zu tragen. Seit 1970 wird für den Rundfunkempfang eine Gebühr erhoben, die den Status des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als „wichtigstem Garanten der sozialen Kommunikation" Rechnung trägt (Buchwald 1999: 380). Die Staatsferne des Rundfunks und seine öffentliche Rechtfertigung sind die Grundpfeiler einer pluralistischen, unbeschränkten Erinnerungskultur bzw. einer unbegrenzten Anzahl von Erinnerungskulturen. Indem das Fernsehen einen stets neu auszuhandelnden gesellschaftlichen Konsens vermittelt, können sich Individuen und soziale Gruppierungen ihrer Rolle in der Kultur rückversichern und ihre Identitäten weiterentwickeln. Dabei spielt vor allem auch eine Rolle, in welchem Umfang sie durch das Fernsehen versorgt werden. Den öffentlich-rechtlichen Anstalten wurde die Funktion einer unerlässlichen „Grundversorgung" (BVerfGE 73: 118) zugesprochen, da sie nahezu die gesamte Bevölkerung mit ihren Programmen erreichen und inhaltlich zu einem informationell universalen Angebot in der Lage sind. Was unter dem Begriff der Grundversorgung zu verstehen sei - ob als Mindestversorgung oder als Vollversorgung - war indes umstritten (vgl. Kühn 2003: 53-54). Die Karlsruher Verfassungsrichter distanzierten sich in ihrem fünften Rundfunkurteil vom März 1987 von einer Beschränkung auf eine Mindestversorgung der Bevölkerung mit Informations- und Unterhaltungsangeboten und konkretisierten die Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mittels dreier Charakterisierungen: So muss sichergestellt sein, dass Übertragungstechniken zur Anwendung kommen, die den Empfang des Fernsehprogramms „für alle" ermöglichen. Das Programm selbst muss dem „klassischen Rundfunkauftrag[.]" entsprechend Inhalte umfassen, die „nicht nur seine Rolle für die Meinungs- und politische Willensbildung, Unterhaltung und über laufende Berichterstattung hinausgehende Information, sondern auch seine kulturelle Verantwortung" umfassen. Zudem ist grundsätzlich Meinungsvielfalt zu garantieren: „Dies verlangt zunächst die Freiheit des Rundfunks von staatlicher Beherrschung und Einflussnahme. Darüber hinaus erfordert die Gewährleistung eine positive Ordnung, welche sicherstellt, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet und dass auf diese Weise umfassende Information geboten wird" (BVerfGE 74: 297).

128

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Der Anspruch der technischen Empfangsgarantie des Fernsehens für jeden Bürger, gepaart mit dem Diktum einer Grundversorgung hebt das Fernsehen als Vermittler von kulturell essentiellen Informationen nicht auf dieselbe Bedeutungsebene wie das Medium Buch, sondern weit höher: Zweifellos gibt es Bibliotheken und Büchereien, Bücherbusse und Buchhandlungen in jedem Winkel der Republik, doch ist weder garantiert, dass alle theoretisch verfügbaren Bücher auch tatsächlich für die Rezeption vorhanden sind, noch kann der Literaturinteressent darauf verzichten, sein Haus zu verlassen, um sich mit Lesestoff zu versorgen. Das Fernsehprogramm dagegen ist nach verfassungsrechtlicher Maßgabe ständig und überall empfangbar, die angebotenen Sendungen sind für alle Zuschauer gleichzeitig zugänglich, sogar in ihrem Wohnzimmer. Sicherlich hat die Ubiquität des Fernsehens Vor- und Nachteile; den Risiken seines Missbrauchs wurde daher in der Bundesrepublik von Anfang an mit klaren medienpolitischen Regularien begegnet. Die massenhafte Informationsverbreitung über die Fernsehkanäle an potenziell alle mit einem Fernsehgerät ausgestatteten Haushalte ermöglicht gedächtnistheoretisch - und idealtypisch bewertet - die Beteiligung der Gesamtbevölkerung an der Wissenszirkulation einer Kultur, das Wachhalten sowie die Neubelebung kultureller Vergangenheit, sofern die flächendeckende Versorgung mit Empfangsgeräten gewährleistet ist. Bereits 1970 besaßen 85 Prozent der westdeutschen Haushalte mindestens ein Fernsehgerät, seit 1990 ist mit etwa 98 Prozent ein hoher Sättigungsgrad erreicht (Reitze/Ridder 2006: 24; ARD 2008). Die Übernahme kultureller Verantwortung setzt das Verständnis von der eigenen sowie auch fremder Kulturen voraus, um die sich der Angemessenheit und der Verortung der eigenen kulturellen Sozialisation im internationalen Vergleich zu vergewissern. Hier ist es dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen vorgeschrieben, als informativer Grundversorger mit klassischen Bildungsangeboten im laufenden Programm, aber auch mit sonstigen Informations- und Unterhaltungssendungen zu dienen. Solange das öffentlich-rechtliche Fernsehen ein Monopol bei der Programmveranstaltung innehatte, war zweifelsohne von einer nationalen .Gedächtnisinstitution Fernsehen zu sprechen: Die laufende Rechtsprechung garantierte auf verfassungsgemäßer Grundlage die unmissverständliche Verpflichtung aller Programmveranstalter zur Aufklärung im Dienste der allgemeinen Öffentlichkeit. Die Zahl der Sender war überschaubar, sendeten doch nur ARD, ZDF und die Dritten Programme.30 Die eng umrissene Versorgungsfunktion des öffentlich-rechtlichen Programmbetriebs der ersten Jahrzehnte lässt also prinzipiell keinen Zweifel an der Grundveranlagung des Fernsehens als adäquates Gedächtnismedium der Gegenwart. Angesichts der ungeheuren Gestaltungsmöglichkeiten indes, so auch im missbräuchlichen Sinne, sieht das Bundesverfassungsgericht den Be30

Die ARD begann ihren Sendebetrieb am 25. Dezember 1952, das ZDF startete sein Programm am 1. April 1963, die Dritten Programme kamen schrittweise ab dem Sendestart des Bayerischen Rundfunks am 22. September 1964 hinzu. Es sollten etwas mehr als 19 weitere Jahre vergehen, bis der erste kommerzielle Veranstalter (Sat.l) am 1. Januar 1984 (RTL folgte einen Tag später) auf Sendung gehen konnte.

129

III.2. Im Dienste der Öffentlichkeit?

darf einer gesellschaftlichen Kontrolle, die innerhalb der Rundfunkanstalten in Form von Gremien sicherstellen sollen, dass die Meinungsvielfalt aller wesentlichen Gruppierungen der Gesellschaft repräsentiert wird. Diese Rundfunkräte werden auf pluralistische, wenn auch ständische Weise nach dem Vorbild eines Querschnitts der Gesellschaft aus Vertretern von Kirchen-, Kultur- und Sozialverbänden sowie aus der Wissenschaft und (Partei-) Politik zusammengesetzt. Jedes Mitglied ist verpflichtet, sich nicht an Weisungen seines jeweiligen Verbandes zu richten, sondern seine eigene Meinung nach bestem Wissen und Gewissen zum Ausdruck zu bringen. Dadurch sollen einseitige Einflussnahmen und damit das Entstehen „vorherrschender Meinungsmacht" verhindert werden (BVerfGE 73: 118). Ein zweites Kontrollgremium, der Verwaltungsrat, ermöglicht es den staatlichen Funktionsträgern, mittels Benennung der Verwaltungsratsmitglieder durch die Landesparlamente zumindest eingeschränkten Einfluss auf Fernsehoperationen auszuüben, besitzt aber über die Prüfung der Geschäftsführung der Anstaltsintendanz keine weiteren Kompetenzen. Auch Privatsender werden der Kontrolle eines „externen, vom Staat unabhängigen, unter dem Einfluss der maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte und Richtungen stehende [n] Organ[s]" unterwiesen (BVerfGE 73: 118). Dieser Programmbeirat kann dann eingesetzt werden, wenn die Sendungen eines Programmveranstalters in einem Jahr durchschnittlich 30 Prozent Zuschaueranteil verzeichnen und damit die Eventualität einer Meinungsmacht vorliegt (Kühn 2003: 69). Der Einfluss der Kontrollinstanzen wird indes als begrenzt eingestuft, da sie nur selten zusammentreten (Rundfunkräte z.B. oftmals nur vier Mal im Jahr) und erst nach der Ausstrahlung von Sendungen Kritik daran üben können (vgl. Hennig 1981). Zudem ist die Arbeit der Gremien durch ihre fraktionelle Zusammensetzung nicht selten durch parteipolitisch geprägte und interessensgesteuerte Abstimmungsstrategien gekennzeichnet, wodurch ein pluralistisches Abbild der gesellschaftlichen Meinungsströmungen anzuzweifeln ist (vgl. Bleicher 1993a: 73).31

2.3.

Die Institutionalisierung

des Fernsehens in der DDR

Die Fernsehentwicklungen in der DDR sind nicht vom Kontext der Institutionalisierung und des Programmbetriebs des westdeutschen Fernsehens zu trennen: Wie der ausgewiesene DDR-Fernsehfachmann Peter Hoff betonte, herrschte über Deutschland in den Rundfunkjahren von 1952 bis 1989 ein „Luftkrieg" der Funkwellen, der programmlicher, aber auch medienpolitischer Art war (vgl. Hoff 1993: 246). Das resultierte vorrangig aus der Empfangsmöglichkeit des West-Fernsehens in Teilen des DDR-Territoriums, was ein „ideologisches Spannungsfeld" (vgl. ebd.) erzeugte, das von den politischen zuwiderlau-

31

Vgl.hierzuauchdiegrundsätzlicheDebattezumEinflussderParteipolitikaufPersonalentscheidungen bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten am Beispiel des ehemaligen ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender, dessen Wiederwahl durch die taktische Einflussnahme des ehemaligen CDUMinisterpräsidenten des Landes Hessen Roland Koch verhindert wurde (vgl. Grimberg 2009).

130

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

fenden Mentalitäten der Ost- und Westblockbildung geprägt war. Das bundesrepublikanische Publikum war zumindest in den Anfangsjahren vom DDR-Fernsehen, dessen Betrieb offiziell Anfang März 1956 aufgenommen wurde, weitestgehend abgeschnitten, da die eingeschränkten Ausstrahlungsradien der Funkstationen nur einen Bruchteil West-Deutschlands erreichten. Ohnehin wird der ideologische Einfluss des Deutschen Fernsehfunks (DFF) auf die Westbevölkerung als gering eingestuft (ebd.). Waren die öffentlichen-rechtlichen Rundfunkanstalten von vornherein dem Dienste der Gesellschaft verpflichtet, wurde der DFF als Verlautbarungsinstrument der Staatsführung konzipiert. Direkt dem 1952 gegründeten Staatlichen Rundfunkkomitee der DDR unterstellt, lagen die finalen Entscheidungsbefugnisse über Programmgestaltung und Informationspolitik beim Zentralkomitee der SED (Steinmetz/Viehoff 2008: 69-71). Von Staatsferne konnte also keineswegs die Rede sein. Zwar war ein gewisser „missionarischer Eifer" bei dem artikulierten übergeordneten Ziel festzustellen, mittels des Fernsehens eine Basis für die Schaffung eines demokratischen, unabhängigen und durchaus auch grenzenlosen Deutschlands zu schaffen (vgl. Hoff 1993: 245). Einen unabhängigen Fernsehbetrieb intendierte die Staatsführung aber nicht. Gestartet war das DFF als zentrale Kulturinstitution mit einer breiten Palette künstlerischen Fernsehschaffens, was sich in einer hohen Programmdichte und einem lebendigen eigenständigen Produktionsbetrieb ausdrückte. Obwohl die Institution des DDRFernsehens in ihren Anfangsjahren von der Staatsführung weitgehend unbehelligt blieb (Hoff 1998a: 184), war es von seiner rechtlichen Verfasstheit von der ersten Sendeminute an eines der wichtigsten Mittel der Staatsführung zur Beeinflussung der Massen: „In der Fernsehentwicklung, vor allem auch in der Programmentwicklung, spiegelte sich die Politik der DDR unvermittelt wider. Die Institutionsgeschichte wie auch die Gattungsgeschichte der Fernsehkunst ist jedoch auch ein Zweig der deutschen Kulturgeschichte, mit den anderen Künsten verbunden, gleichzeitig auch Reflexion der westdeutschen Medienentwicklung" (Hoff 1993: 248). Das Ziel der staatlichen Organe war eine möglichst weitreichende Ausbreitung des Fernsehempfangs innerhalb, aber auch außerhalb der DDR-Grenzen, versprach sich die Abteilung für Agitation und Propaganda des SED-Zentralkomitees davon doch eine Stärkung politischer Doktrinen, aber auch ein Aufschließen im medientechnischen Wettrüsten mit der BRD, das ein Embargo für elektronische Technologie verhängt hatte (vgl. Hoff 1998a: 185). Der diametral entgegengesetzte öffentliche Auftrag des Fernsehens in den beiden deutschen Staaten zeigte sich auch deutlich in den Informationsprogrammen: Während die „Tageschau" der ARD ihren Vorbildcharakter als verlässliches und unabhängiges Informationsvehikel pflegte, standen die Abendnachrichten des DFF - „Die Aktuelle Kamera" - unter vollständiger Kontrolle der Staatspartei und wurden zielgerichtet für die Informationspolitik eingesetzt (vgl. Bösenberg 2008). Für die televisuelle Gedächtnisfunktion war die allmächtige Staatslenkung des Massenmediums bis hin zu einzelnen Sendeinhalten ein kritischer Faktor, wurde der DFF doch als zentrales Propaganda-Instrument benutzt, das durch den Alleinstellungsanspruch der Sendeanstalt zwar einen

131

III.2. Im Dienste der Öffentlichkeit?

hohen institutionellen Wert besaß. Doch muss anhand des Beispiels des DDR-Fernsehens in Zweifel gezogen werden, dass sich die medieninfrastrukturelle Monopolstellung des DFF in Kombination mit der vorgeschriebenen Homogenität der Programminhalte förderlich für die Gedächtniskonstituierung ausgewirkt hat. Der Auf- oder Umbau eines Rundfunksystems unter den Bedingungen einer politischen Ideologie birgt zwangsläufig die Gefahr manipulativer Praktiken, wodurch die Institution Fernsehen, die es in der DDR durch das staatlich verordnete Korsett allumfassender Kontrolle tatsächlich war, zu einem gefährlichen Mittel der machtpolitischen Massenbeeinflussung missbraucht werden kann. Gleichwohl können solch totalitäre Einflussnahmen auch Gegenbewegungen aus der Bevölkerung oder dem Fernsehbetrieb selbst auslösen, die auf subtile Art Wege suchen und finden, ihre dem Staatskonsens zuwiderlaufenden Meinungen zu artikulieren und Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu üben. Dies schließt auch und vor allem den Rekurs auf Vergangenheitsdeutungen mit ein: Kontrolle über ein Fernsehmonopol ermöglicht Erinnerungsmanipulation nicht erst durch extreme Praktiken der Geschichtsfälschung bzw. Geschichtsverschweigung auf der einen oder glorifizierender Propaganda auf der anderen Seite, sondern auch durch die konsequente Verfolgung jeglichen Verstoßes gegen die Meinungshoheit der Staatspartei in allen nur denkbaren Wirkungsbereichen des Fernsehbetriebs.

2.4.

Die Institutionalisierung

des Fernsehens in den USA

Der Fernsehbetrieb in den USA erwuchs nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem privatwirtschaftlich zementierten Fundament, das zuvor bereits die Radiolandschaft bestimmt hatte. Die kommerziell ausgerichtete Organisation des Fernsehens schloss dabei aus Sicht der Medienpolitik nicht einen Sendebetrieb im Interesse der Allgemeinheit aus. Dennoch prägten in erster Linie wirtschaftliche Zielsetzungen die weitere Rundfunk- und besonders auch die Fernsehentwicklung in den Vereinigten Staaten. Die Rundfunkkonzerne wie die Programmproduzenten zielten daher mit ihren Angeboten nur insoweit auf die Entwicklung mündiger Staatsbürger, als dass diese mit höherer Wahrscheinlichkeit zu beruflichem Erfolg und Wohlstand gelangen und in notwendiger Folge auch an Kaufkraft gewinnen. Das Fernsehprogramm hatte für seine Veranstalter nach dem Krieg die vorrangige Funktion eines Absatzmarktes; die Fernsehsender verstanden sich als das, was sie strukturell waren: herkömmliche Unternehmen mit Gewinnabsicht, die aus ihrer kommerziellen Veranlagung heraus nicht anders konnten, als einen „Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis" hervorzurufen (Horkheimer/Adorno 1968: 109). Ein öffentliches Rundfunksystem, namentlich das Public Broadcasting System, existierst erst seit 1967, als der Public Broadcasting Act eine Vielzahl kleiner nichtkommerzieller Fernsehstationen, die meistens an Universitäten oder von staatlichen oder lokalen Stellen betrieben wurden, unter der selbst als Network konzipierten Dachorganisation PBS (Public Broadcasting Service) neu geordnet wurde (vgl. Blumenthal/Goodenough 2006: 170-183). Obgleich sich die Programmtätigkeit der öffentlichen Sender aus einer

132

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

im Vergleich zu den kommerziellen Anbietern größeren Vielfalt und einem höheren Anspruchsstandard, das heißt: durch einen klar erkennbaren Qualitätsvorsprung definierte, spielt .public television auf dem US-amerikanischen Fernsehmarkt traditionell nur eine marginale Rolle (vgl. Hoffmann-Riem 1981:120). Wie der Medienrechtler Michael Kühn ausführt, wird der Handlungsspielraum der gemeinnützigen Sender durch ihre starke Abhängigkeit von den Haushaltsplänen ihrer Kommunen bzw. der staatlichen Stellen im Allgemeinen beschränkt; und nicht nur das: „PBS ist ein Auffangprogramm für das, was das private Fernsehen nicht leisten kann, und unterliegt keiner verfassungsrechtlichen Garantie, sondern steht im legislativen Ermessen des Gesetzgebers" (Kühn 2003: 238). Zwar macht die staatliche Alimentierung nur etwa 15 Prozent des Gesamtbudgets der öffentlichen Sender aus (ebd.: 119), doch sorgt dies bereits für Zweifel an der Unabhängigkeit des öffentlichen Rundfunks von politischen Strömungen (vgl. Kramp/Weichert 2008a). Frühzeitig versäumte das US-amerikanische Repräsentantenhaus für den Rundfunk zu definieren, was unter „Public Interest" zu verstehen sei. So wurde zwar im Laufe der Jahrzehnte immer wieder auf das Idiom „public interest, convenience, and necessity" verwiesen, das seit seiner zentralen Nennung im grundlegenden Kommunikationsgesetz von 1934 (US Communication Act of 1934, as Amended by the Telecommunication Act of 1996) jeden kommerziellen und nichtkommerziellen Rundfunksender dazu verpflichtet, unter der Maßgabe öffentlichen Interesses, Nutzens und Notwendigkeit zu operieren. Doch eine klare Definition blieb aus. Mit dem sogenannten „Blue Book", einem Kriterienkatalog mit dem eigentlichen Titel „Public Service Responsibility of Broadcast Licensees", übte die FCC im Jahre 1946 als zentral zuständige unabhängige Regulierungsbehörde harsche Kritik am Programmangebot der privatwirtschaftlichen Rundfunkveranstalter. Nach Ansicht der Kommission hatten sie während des Zweiten Weltkriegs ihr Versprechen gebrochen, ihr Programm im öffentlichen Dienste zu produzieren und Bildungsaufgaben wahrzunehmen. Bemängelt wurde, dass die entsprechenden Sendungen im Laufe der Jahre immer stärker reduziert und auf unattraktive Sendeplätze verbannt worden waren (vgl. Hilmes 2007: 155). Mit dem „Blauen Buch" sollten die Programmveranstalter verpflichtet werden, in ihren Sendungen öffentliche Themen zu diskutieren, die Interessen von Minderheiten zu berücksichtigen und den Anteil von Werbung zu verringern. Da jedoch vor allem letztere Forderung eine ernst zu nehmende Bedrohung für den kommerziellen Programmbetrieb darstellte, wurde der Katalog bereits Anfang der 1950er Jahre verworfen (Zechowski 2004a: 1848). Der Fernsehindustrie, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als eine Abspielstätte von Sponsorenprogrammen und der Filmwirtschaft Hollywoods fungierte, gelang es, Ende der 50er Jahre glaubhaft ihre maßgeblich aus Werbegeldern bestehende Finanzierungsbasis mit den amerikanischen Grundwerten von Demokratie, Freiheit und gleichem Recht für alle zu rechtfertigen, indem sie die Schuld für die desolate Qualität auf die Sponsoren der Programme schob, die allein nach Profit gierten und in Bezug auf die Einhaltung der Regularien zur Befriedigung des öffentlichen Interesses ohnehin schon

III.2. Im Dienste der Öffentlichkeit?

133

lange verdächtig waren (Hilmes 2007: 173-174, 186). Das neu erwachte Selbstbewusstsein der Fernsehunternehmen bzw. konkret der drei großen Networks unter der Führung der National Broadcasting Company (NBC) kam den Regulierern der FCC gerade recht, waren doch die Networks um einiges leichter zu kontrollieren als die partikulare Werbeindustrie. Das wohl eigentümlichste Kennzeichen des .klassischen Network-Systems' in den USA, das ab 1960 Konturen annahm, war eine weltweit beispiellose Unterwerfung des nationalen Fernsehmarktes unter die Entscheidungsgewalt der .Großen Drei', der Networks ABC, CBS und NBC. Unter dem Versprechen, Fernsehen im Dienste der Allgemeinheit zu garantieren, brachten sie innerhalb von wenigen Jahren durch Preisdiktate und exklusive Distributionsverträge mit Lokalstationen die zuvor unabhängige US-amerikanische Fernsehproduktion und Senderlandschaft fast vollständig in ihre Abhängigkeit. Die zentralistische Programmpolitik führte zu einer Homogenisierung und Standardisierung des bis zu diesem Zeitpunkt außerordentlich vielseitigen Programmangebots und ließ fraglich erscheinen, ob die Rundfunkkonzerne tatsächlich das Wohl der Bevölkerung im Auge hatten: „Who was the public, and what did they want? Should the audience be allowed the types of programs they actually seemed to enjoy? Or should the FCC implicitly mandate a type of programming that the public should want?" (ebd.: 191 - Hervorh. im Orig.).

Die langzeitliche Unsicherheit über das Mysterium Zuschauer und seine tatsächlichen Interessen bzw. über die Programm-Ingredienzien, die gut für das allgemeine Publikum seien, führte in den Vereinigten Staaten noch einige Male zu Versuchen, mit statischen Regularien Einfluss auf die Ausgestaltung der Programme zu nehmen, bis die FCC in den 1980ern eine weitgehende Deregulierung anschob, welche auf der Marktplatz-Ideologie basierte: Demnach erfüllt ein Sender umso besser die Erwartungen und Bedürfnisse der Öffentlichkeit, je mehr Erfolg er mit seinem Programm hat, das heißt: je höher die Einschaltquoten ausfallen. Die Dominanz des kommerziellen Fernsehbetriebs über die öffentlichen Sender hat in den USA zu einer Schieflage der Aufklärungsfunktion des Fernsehens zugunsten der Durchsetzung ökonomischer Interessen geführt. Durch die fehlende verfassungsrechtliche Bestandsgarantie des öffentlichen Rundfunks konnte sich dieser zwar als charismatische Alternative zum kommerziellen Rundfunk profilieren, ist aber durch den Verzicht auf die Zusammenarbeit mit der Werbeindustrie auf aktives Finanzierungsengagement seitens der Öffentlichkeit, speziell auch seiner Rezipienten angewiesen. Damit sind die .public broadcaster' wie sonst kein anderer Fernsehveranstalter auf die Einhaltung der Programmprinzipien zum öffentlichen Wohl erpicht, da ihre Rechtfertigung alleine über ihre ehrbare Verpflichtung dem öffentlichen Servicegedankens gegenüber im Kontrast zur privaten Konkurrenz erfolgt und nicht durch höhere Einschaltquoten. Doch auch die Privaten können sich eine Resistenz gegen öffentliche Interessen nicht leisten: Da sie den Regelkräften des freien Marktes unterworfen sind, was im täglichen Programmbetrieb

134

III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

die Wirtschaftlichkeit ihrer Angebote bedeutet und Attraktivität für die Werbewirtschaft voraussetzt, zielen sie auf hohe Quoten, weil dies in erster Linie die Erreichbarkeit einer möglichst großen Zahl an Konsumenten und damit auch in numerischer Weise ein befriedigtes Interesse der Öffentlichkeit belegt. Die historische Entwicklung der Fernsehregulierung in den USA hat gezeigt, dass die Auslegungen der massenmedialen Leitfunktionen „public interest, convenience, and necessity" jeweils dem aktuell herrschenden politischen Klima unterworfen waren (Zechowski 2004a: 1849). Dennoch konnten vier wesentliche Merkmale für die Bewertung des öffentlichen Interesses identifiziert werden, welche bis heute unangefochten Geltung beanspruchen: Wettbewerb, Meinungsvielfalt, lokaler Bezug und die Berücksichtigung von Minderheiten (vgl. Kühn 2003:172-176). Der Markt der Ideen („Marketplace of Ideas") sollte es also richten; das Vertrauen in die regulativen Mechanismen des Wettbewerbs verwiesen den Staat auf eine bloße Schlichterrolle in Fällen, in denen gegenläufige Rechte miteinander kollidieren und es einer klärenden Ordnungsmaßnahme bedarf. Die Idee des Marketplace of Ideas leitet sich von der Meinungs- und Redefreiheit ab, die durch den ersten Zusatz der US-amerikanischen Verfassung garantiert wird. Die Metapher geht zurück auf Oliver Wendell Holmes, einen Richter am US-amerikanischen Bundesgericht, der davon ausging, dass Meinungen in der öffentlichen Auseinandersetzung um Akzeptanz ringen müssten: ,,[W]hen men have realized that time has upset many fighting faiths, they may come to believe even more than they believe the very foundations of their own conduct that the ultimate good desired is better reached by free trade in ideas - that the best test of truth is the power of the thought to get itself accepted in the competition of the market, and that truth is the only ground upon which their wishes safely can be carried out" (Abrams v. US: 250 U.S. 616 [1919]: 630). Kühn macht in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Unterschied zwischen den grundsätzlichen Bedingungen der Meinungsfreiheit in den Vereinigten Staaten und Deutschland aufmerksam: In den USA gilt die Meinungsfreiheit bereits als gesichert, wenn ausreichend viele Möglichkeiten zur Äußerung zur Verfügung stehen, in Deutschland dagegen steht im Vordergrund, dass auch die Möglichkeit besteht, tatsächlich gehört zu werden (Kühn 2003: 239).

2.5.

Sendervielfalt als Gefährdung der Selbstverständigungsfunktion?

Die medienpolitische Entscheidung Anfang der 1980er Jahre, in der BRD ein duales Rundfunksystem einzuführen und damit privaten Programmanbietern unter anderem den Zutritt zum bisher ausschließlich öffentlich-rechtlichen Fernsehmarkt zu gewähren, veränderte die Institution Fernsehen in Westdeutschland radikal: „Im Rahmen der Konkurrenz mit privatwirtschaftlich organisierten Programmanbietern erwies sich die Organisation des Fernsehens als Verwaltungsbetrieb nun eher als hinderlich" (Bleicher 1993a: 69). In zunehmendem Maße sahen sich die Intendanten der Rundfunkanstalten

III.2. Im Dienste der Öffentlichkeit?

135

gezwungen, ihr gebührenfinanziertes Programmangebot durch die zusätzliche Akquise von Werbegeldern auf ein breiteres Finanzierungsfundament zu stellen. Dieser organisatorische Wandel bedeutete eine bedingte Öffnung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens für marktwirtschaftliche Einflüsse. Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts verlagerten sich die Entscheidungsprozesse über die Ausgestaltung der Fernsehprogramme auf einen Markt, der von wachsender Konkurrenz zwischen einer immer höheren Zahl von Wettbewerbern gekennzeichnet ist. In Deutschland wie in Nordamerika entscheidet aber nicht der freie Markt als abstrakte Entität über die Organisation des Fernsehbetriebs, sondern es sind die Medieninstitutionen selbst, welche aktiv gestaltend und machtvoll ihre Ziele durchsetzen, wenn auch nach den Prinzipien von Angebot und Nachfrage. Das Resultat ist ein nicht enden wollender Kampf um Geltungsmacht zwischen der Medienwirtschaft und medienpolitischer Regulation (Altmeppen 2006: 236). Auch die öffentlich-rechtlichen Programmveranstalter müssen nunmehr aushandeln, was nach Wettbewerbsprinzipien erfolgversprechend ist und was nicht. Anspruch und Programm-Wirklichkeit klaffen dadurch bisweilen weit auseinander: Die Bemessung des öffentlichen Wohls steht in zunehmender Opposition zur kommerziellen Erfolgsrechnung, wodurch die Programmangebote von ARD, ZDF und den Dritten Programmen merklich zwischen Quotenjagd und Grundversorgung oszillieren. Die Zahl der kommerziellen deutschen Fernsehprogramme lag im Jahr 2009 bei 360. Empfangen werden können indes auch viele hundert internationale Sender (Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten in der Bundesrepublik Deutschland 2010: 54). Von einer Stabilisierung der Gedächtnisinstitutionen des Fernsehens in Konkretion einzelner Programmveranstalter kann angesichts dieser Menge an Programmangeboten freilich nicht mehr die Rede sein, schon gar nicht von einer .Gedächtnisinstitution Fernsehen als medialer Grundversorgungseinheit. Die starken Fragmentarisierungstendenzen innerhalb der Senderstrukturen der Fernsehindustrie haben durch die Einführung des dualen Rundfunksystems in Deutschland, aber auch in den USA, wo das Aufkommen des Kabelfernsehens die Zahl der Kanäle in die Höhe schnellen ließ, einen neuen Bedarf an Orientierungsmustern geschaffen, der zuvor zumindest vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Bundesrepublik durch seinen institutionellen Status, kurz: sein Alleinstellungsrecht geleistet wurde. Doch auch die großen US-amerikanischen Networks, mittlerweile fünf an der Zahl,32 haben durch potente Spartenkanäle wie dem global agierenden Nachrichtensender CNN oder vielgestaltigen Anbietern im Kabel wie dem Bezahlprogramm von Home Box Office (HBO) ihre Hegemonialstellung verloren. Während das Fernsehen in Deutschland erst nach Einführung des dualen Rundfunksystems in den 1980er Jahren langsam seine immanenten Orientierungsmuster eingebüßt hat, es dadurch zwar leichter wird, seine Meinung zu äußern, aber unwahrscheinlicher, dass sie ein breites Publikums in der Unübersichtlichkeit der Angebote vernimmt, war 32 Neben ABC, CBS und NBC nahmen in den 1990er Jahren noch das FOX Network und im Jahre 2006 das Senderkonglomerat The CW ihren Betrieb auf.

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

136

das US-amerikanische von vornherein auf eine möglichst breite Basis der Meinungsäußerung angelegt. Die deutsche Fernsehöffentlichkeit musste also erst lernen, und muss es sicherlich immer noch, mit der neu erwachsenen Vielfalt umzugehen. Dies war für das US-Fernsehen von vornherein ein programmatischer Grundsatz, auf den sich die Zuschauerjahrzehntelang einstellen konnten. So instabil, weil fluktuierend und durch seine schiere Masse verdichtet das Gros der Programmangebote sein mag, sind die Grundsätze des „vergesellschafteten Fernsehens" (Kübler 1988a: 40) in Gefahr, wenn darunter eine verlässliche, dem Allgemeinwohl verschriebene Massenkommunikationsform verstanden wird, die nicht einseitig für die Interessen einer bestimmten Gesellschaftsgruppe, Wirtschaftsunternehmen mit eingeschlossen, benutzt werden sollte.33 Damit wird auch der Wert des Fernsehens insgesamt als pluralistisches Gedächtnisforum geschmälert und ist auf eine ständige Neujustierung des Verständnisses von öffentlichem Interesse angewiesen. Die Fernsehinstitutionen stehen dabei vor der Schwierigkeit, sich mit der Einschaltquote auf einen nur sehr begrenzt aussagekräftigen Messwert verständigt zu haben, der die Bemessung, was gut für den Zuschauer sei, in die Hände der numerischen kumulierten Massen legt. Indem eine wachsende Zahl an kommerziellen Programmanbietern auf den deutschen Fernsehmarkt drängte und weiter drängt, hat sich das Monopol der öffentlichrechtlichen Anstalten aufgelöst. Der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang R. Langenbucher sieht demzufolge eine grassierende De-Institutionalisierung des Fernsehens im Sinne eines Bedeutungsverlustes der öffentlich-rechtlichen Anstalten: Dadurch dass sich die Programmangebote zunehmend vermehrt und ausdifferenziert haben, büßten die öffentlich-rechtlichen Sender nicht nur ihr Programm-Monopol ein, sondern hätten sich auch in einem Dilemma wiedergefunden, das ihre Existenz in Frage stelle: „Reagieren die öffentlich Rundfunkanstalten auf diesen Markterfolg mit den Mitteln der privaten Programmanbieter, so stellt sich die Frage der Legitimation der Gebührenfinanzierung. [...] Konzentrieren sich die Rundfunkanstalten aber rigide auf ihren Kulturauftrag - und das wäre durchaus ganz im Sinne der kommerziellen Sender - , so würden die Reichweiten eines zum Beispiel um populäre Unterhaltung oder Sport gekürzten Programmes rasch in sich zusammenfallen und wieder die Frage provozieren, wie sich eine Gebührenfinanzierung durch alle Privathaushalte legitimieren lässt, wenn das Resultat nicht mehr ein .Rundfunk für alle' ist" (Langenbucher 1999: 299-300). Über die Frage, für welche Programmaktivitäten und medialen Aktivitätserweiterungen die Rundfunkgebühren eingesetzt werden dürfen, wird traditionell zwischen Vertretern der Privatwirtschaft und von ARD und ZDF gestritten. Die Rundfunkstaatsverträge schreiben unmissverständlich vor, dass der öffentliche-rechtliche Rundfunk „an allen neuen technischen Möglichkeiten in der Herstellung und zur Verbreitung" teilzuhaben 33

Selbst der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist nicht mehr vor Einflussnahme und Manipulationsverdacht gefeit, wie der Schleichwerbungsskandal aus dem Jahr 2005 offenbar machte (vgl. Lilienthal 2005a; 2005b; Hanfeld 2005).

III.2. Im Dienste der

Öffentlichkeit?

137

hat, einschließlich der Möglichkeit „der Veranstaltung neuer Formen von Rundfunk" (Präambel des Staatsvertrags für Rundfunk und Telemedien [Rundfunkstaatsvertrag] vom 31. Dezember 1991, zuletzt geändert durch Art. 1 Neunter Rundfunkstaatsänderungsstaatsvertrag vom 31. Juli 2006). Dieser Passus ist auch durch sich wandelnde Nutzungspräferenzen zu erklären. Wie weiter oben bereits dargestellt wurde, ist zwar eine nahezu flächendeckende Versorgung der bundesdeutschen Haushalte mit Fernsehgeräten bereits seit der Wiedervereinigung gewährleistet. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten sollen indes auf möglichst jedem verfügbaren technologischen Übertragungsweg als Garanten gesellschaftlicher Meinungsvielfalt agieren, was auch die Bestandsgarantie ihrer Programme in Kabelnetzen, auf Satellitentranspondern und im digitalen Marktsektor rechtfertigt. Vor allem Jugendliche und gesellschaftliche Trendsetter sind bereit, Massenmedien auf neuen Vertriebswegen zu rezipieren und neigen dazu, konventionelle Nutzungsformen zu vernachlässigen (vgl. Kapitel III.3.). Durch die zunehmende Verbreitung von Breitbandzugängen zum Internet haben sich die öffentlich-rechtlichen Anstalten daher entschieden, sich auch verstärkt im OnlineMarkt mit ihren Angeboten zu engagieren, um weiterhin ihre Aufgabe der Grundversorgung aller Bevölkerungsteile mit Informationsangeboten wahrzunehmen. Das Streben von ARD und ZDF ins Netz warf bei der privatwirtschaftlichen Medienkonkurrenz die Frage nach der Rechtmäßigkeit der gebührenfinanzierten Erweiterung des öffentlichen Programmauftrags auf einen vermeintlich neuen Medienmarkt auf, die, so der Vorwurf, zu einer Wettbewerbsverzerrung führen könnte (Kramp 2007a: 52; vgl. auch Kramp 2009). Der Rundfunkstaatvertrag erlaubt es den Rundfunkanstalten nur, programmbegleitend und programmbezogen Inhalte in Telemedien bereitzustellen, und verbietet zudem Werbung und Sponsoring. Alle darüber hinaus angestrebten neuen oder wesentlich veränderten digitalen Angebote müssen einem sogenannten Drei-Stufen-Test unterzogen werden, der unter anderem ermitteln soll, ob die betreffenden Inhalte dem öffentlich-rechtlichen Grundversorgungsauftrag entsprechen (vgl. Lilienthal/Ridder 2008). Dennoch fühlen sich Verlage und die private Fernsehkonkurrenz von der Online-Präsenz von ARD und ZDF in ihren virtuellen Expansionsvorhaben bedroht (u.a. Burda 2007; Schader 2007). Wenn Michael Hanfeld, Medienredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", pointiert verkündet, dass ARD und ZDF das ganze Internet für sich haben wollten, beschreibt das zum einen die Befürchtung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkmacht, zur Marginalie zu werden, zum anderen aber ebenfalls den Anspruch, als Grundversorger auch im Internet eine tragende Rolle zu spielen. Außerdem wird deutlich, dass sich die Anstalten ihren herausgehobenen Status in einem wettbewerblichen Medienumfeld stets neu verdienen müssen und Expansionspläne leicht als „Kampfansage" (Patalong 2007) gedeutet werden können: „Einen Anspruch auf Vorzugsbehandlung durch den Gesetzgeber anzumelden [...] hat mit Blick auf das Internet allerdings etwas ausgesprochen Unwirkliches, um nicht zu sagen: Obszönes. Dort kämpfen die etablierten Medien allesamt mit ihren je eigenen Mitteln und Inhalte um Aufmerksamkeit" (Hanfeld 2007: 38).

138

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Schon im Laufe des Jahres 2007 hatten sich die deutschen Bundesländer mit der Europäischen Union auf einen Test verständigt, mit dem die Rolle von ARD und ZDF im Internet klar geregelt werden soll, ohne die freien Wettbewerber zu benachteiligen. Die Medienangebote der Rundfunkanstalten werden demnach vor ihrer Genehmigung einer eingehenden Prüfung unterzogen, um sie auf Grundlage ihres gesellschaftlichen Nutzens zu bewerten. Damit sollen die latenten Legitimationsprobleme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, aber auch Risiken einer „Marktverstopfung" (Schwartmann 2007) dauerhaft ausgeräumt werden (vgl. Schmitz 2008). Ob eine solche Regelung bei der fortschreitenden Medienkonvergenz in Zukunft jedoch noch zeitgemäß sein wird, wenn möglicherweise schon bald die Datenleitungen des globalen Netzwerkes zum vorrangigen Distributionskanal für massenmediale Inhalte werden, ist fraglich (vgl. Institut für Medien- und Kommunikationspolitik 2008; Kramp/Weichert 2008c). Die durch die Verfassung garantierte Existenz von ARD und ZDF wurde indes nie ernsthaft in Frage gestellt; von einer De-Institutionalisierung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens kann also schon deshalb nicht die Rede sein, weil sich die Organisationsstruktur des Rundfunkapparates auf der Basis seiner gesellschaftlichen Verpflichtung nicht grundlegend verändert hat und allenfalls durch Erweiterungen in neue Medienumgebungen ausgebaut wurde. Dennoch kam es in Folge der verstärkten Orientierung am Markt und der Hinwendung zur Produktion von publikumswirksamen Programmen laut Joan Κ. Bleicher zu einer langsamen Auflösung von Senderidentitäten (vgl. Bleicher 1992:123): Die Institution des öffentlich-rechtlichen Fernsehens existiert somit zwar weiter, aber ist für den Zuschauer programmlich immer schwerer von anderen Angeboten zu unterscheiden. So kann jeder Sender als Gedächtnisinstitution für den Zuschauer im Sinne einer wertgeschätzten Anlaufstelle für seine Nutzungsinteressen fungieren. Den Ausschlag gibt die Art der Bedeutungszumessung seitens des Rezipienten, der freilich auch auf Basis gesellschaftlich verbreiteter Stereotype und Konsense urteilt. Nicht nur die Sendeinhalte haben damit einen kulturellen Wert, sondern auch die Sender an sich. Verfassungsgemäß haben die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten in Deutschland durch ihren gesetzlichen Versorgungsauftrag einen vermeintlich höheren kulturellen Gedächtniswert als andere Programmveranstalter. Inwieweit sich dies in konventionelle Wertzuschreibungen und tatsächliche Leistungsdaten für die Zuschauer übersetzen lässt, wird im folgenden Kapitel untersucht, das die Nutzungsintentionen des Fernsehens behandelt. Meinungsfreiheit ist zwar in den USA wie auch in Deutschland oberstes Gebot, doch die Einbindung der Zuschauer in die Entscheidungsprozesse des Rundfunksystems lassen noch vielfach zu wünschen übrig (vgl. Kühn 2003: 254). Weit über dieses Grundrecht hinaus steht der Zuschauer im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Verpflichtungen des Fernsehens und hat Anspruch auf angemessene Beteiligung. In den USA üben Zuschauerorganisationen erheblichen Einfluss auf den Programmbetrieb aus, indem sie Kritik aus dem Publikum sammeln, sich als starke Interessensvertretungen, als sogenannte .media watchdogs' profilieren und somit in einer Vorteilsposition gegenüber individuell geäußerter Kritik sind. Sie machen ihre Kritik gegenüber

III.2. Im Dienste der

Öffentlichkeit?

139

der FCC geltend, die wiederum das Engagement der Organisationen in ihrer Praxis befördert, indem sie Zuschauer durch transparente Verfahrensweise ermutigt, sich zu Regulierungsprozessen zu äußern (vgl. Kleinsteuber 1996). Von einfachen Rügen bis zur Verhängung von Bußgeldern sind verschiedene Regelmaßnahmen möglich. Auf diese Weise wird die Bevölkerung in den rundfunkrechtlichen ,Rulemaking'-Prozess einbezogen, ob es sich um Programmverstöße, Lizenzvergaben oder die vielgestaltig relevante Frage handelt, was dem Interesse der Öffentlichkeit entspricht. Die Kommunikationswissenschaftler Dean M. Krugman und Leonard N. Reid verweisen dagegen einschränkend auf die starke Filterfunktion der Zuschauermeinungen durch jene Interessensgruppen, welche die Vertretung der allgemeinen Öffentlichkeit im Rahmen der Tätigkeit der FCC wahrnehmen (Krugman/Reid 1980: 324). Zuschauerkritik wird in Deutschland dagegen hauptsächlich in Eigenverantwortung von den jeweiligen Sendern bearbeitet. Ohnehin ist das Auffinden der zuständigen Ansprechpartner zahlreichen Schwierigkeiten unterworfen, da keine einheitlichen Verzeichnisse existieren und bei den deutschen Aufsichtsbehörden ein Zuständigkeitswirrwarr herrscht, der für den durchschnittlichen Fernsehzuschauer kaum durchschaubar ist (vgl. Kramp/Weichert 2007b). Zwar gibt es seit dem Jahr 2004 mit dem Internet-Portal „Programmbeschwerde.de" der Landesmedienanstalt des Saarlandes eine länderübergreifende Anlaufstelle für Zuschauerhinweise auf Verstöße gegen Programmrichtlinien, doch bezieht sich das Angebot nur auf das Privatfernsehen und operiert retrospektiv. Ein tatsächliches Mitspracherecht der Zuschauer ist von den Regulierungsbehörden und der Medienpolitik nicht vorgesehen, sondern allein durch die Rundfunkräte der öffentlichrechtlichen Sender oder die Programmbeiräte der privaten möglich. Programmkritik seitens der Zuschauer wird - ob von den Sender selbst oder den Landesmedienanstalten - weitgehend auf intransparente Weise bearbeitet (ebd.: 7-8). Zuschauerorganisationen wie die gemeinnützige Initiative Voice of the Listener and Viewer (VLV) in Großbritannien, die schon seit 1983 für die Interessen von Zuschauern und Hörern eintritt, diese über medienpolitische Zusammenhänge informiert und damit als Scharnier zwischen Publikum, Programmveranstaltern und Politik vermittelt, gibt es in Deutschland nicht (vgl. Eilders/Hasebrink/Herzog 2006: 343-345). „Es bleibt ein unübersichtliches Potpourri aus Zuschauerredaktionen, offiziellen Stellen und selbsternannten Initiativen, die mit Zuschauerresonanzen völlig unterschiedlich verfahren. Die Kritik einzelner Zuschauer kleckert bei den Sendern ein, verhallt meist im Call-Center und verliert damit ihre Wirkungskraft. Hinzu kommt ein breites Spektrum privater, zuweilen merkwürdiger Organisationen und Verbände, die den Unmut des Publikums für ihre Zwecke zu instrumentalisieren suchen. So gibt es Organisationen, die versuchen, über die Massierung von Leserbriefen und Programmbeschwerden gezielt Einfluss auf die Inhalte von Zeitungen, Fernsehprogrammen oder Filmen zu nehmen. Angesichts solcher Manipulationsversuche erscheint eine zentrale seriöse Interessenvertretung des Fernsehpublikums umso notwendiger" (Kramp/Weichert 2007b: 9).

140

III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

Zwar kann es sicherlich nicht als Aufgabe des Gesetzgebers bezeichnet werden, für Niveau im Fernsehprogramm zu bürgen (Kühn 2003: 256), geschweige denn als „academy of fine arts" zu fungieren (Ford 1961: 216), doch bilden institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen die Grundvoraussetzung für die Möglichkeiten gesellschaftlicher Gedächtnisformierung durch das Fernsehen. Die unterschiedlichen Entwicklungen der Mediensysteme in den deutschen Teilstaaten und der USA zeigen im Hinblick auf das Fernsehen einerseits förderliche Veranlagungen für reiche Erinnerungskulturen (z.B. Vielfalt der Programmangebote für alle Mitglieder einer Gesellschaft, umfassende Grundversorgung, Vermittlung pluralistischer Meinungsbilder), andererseits auch die Herausbildung von Störfaktoren (z.B. Manipulation durch politische oder wirtschaftliche Interessen, eingeschränkte Zuschauerbeteiligung, Schwächung von Senderidentitäten). Der mnestisch relevante Charakter des Fernsehens war bei der medienpolitischen Ausarbeitung seiner strukturellen Bedingungen aber - als Element der Meinungsfreiheit, der informationellen Grundversorgung, aber auch als Propagandamaßnahme wie im Falle des DFF - stets eine maßgebliche Funktion.

2.6.

Zusammenfassung

Die mit dem Fernsehen verbundenen Intentionen von Seiten der Politik, Wirtschaft und Rechtsprechung sind wesentlich, um die Dimensionen der zugewiesenen Funktionen und Aufgaben des Mediums erfassen zu können und eine Grundlage zu erstellen für die Bewertung der Gedächtnisrelevanz der Institution Fernsehen. Als zentrales Selbstverständigungsinstrument in den massenmedial gesättigten Gesellschaften Nordamerikas und Deutschlands gehen von den institutionellen Imperativen und den ihnen unterliegenden Fernsehprogrammangeboten zu einem maßgeblichen Teil kulturschöpfende und kulturformende Impulse aus, welche die Voraussetzungen schaffen für die nationale Identitätsstiftung und die Bewahrung derselben. Die Funktionen des Fernsehens als kulturelles Forum und als Barde der Gesellschaft sind zu begreifen als inhärente Bestandteile der retrospektiven und prospektiven Erinnerungspraxis, da sie die Voraussetzungen implementieren, die eine kulturelle Verständigung unter Einbezug aller Gesellschaftsmitglieder potenziell ermöglichen. Definiert wurden diese prägenden Grundlagen jeweils durch die initial dominierenden Ideologien und industriell-pragmatischen Zustände: Während in der Bundesrepublik Deutschland ein Missbrauch von Rundfunk und Fernsehen mit einer straffen gesetzlichen Regulierung, einer bewussten Staatsferne und humanistischen wie aufklärerischen Ziele sowie einem ganzheitlichen Programmauftrag verhindert werden sollte, wurde das Fernsehen in der DDR unter die direkte Weisungskompetenz des Staates gestellt und für Propagandazwecke eingesetzt. In den USA wiederum ließen die politischen Kräfte der Fernsehentwicklung weitgehend freien Lauf und überließen sie der Logik des freien Marktes, was das öffentliche Fernsehen nachhaltig in eine Minoritätsstellung gedrängt hat. Das übergeordnete Ziel des Dienstes an der Öffentlichkeit, das sich in Deutschland in

III.2. Im Dienste der Öffentlichkeit?

141

der Verpflichtung der öffentlich-rechtlichen Anstalten zur Grundversorgung und in den USA in dem letztlich unspezifisch gebliebenen Auftrag des „public interest, convenience, and necessity" ausdrückt, unterstreicht zwar die außerordentliche Bedeutung des Fernsehens als gesellschaftliche und kulturelle Kraft; nichtsdestotrotz bedingen die unterschiedlichen Ordnungsstrukturen gänzlich gegensätzliche Ausgangslagen für die Zirkulation von Informationen und der daraus ermöglichten Konstitution von Gedächtnis auf allen gesellschaftlichen Ebenen, vordringlich bei der gesamtgesellschaftlich-integrierenden Identitätsbildung. Wie zudem am Beispiel des DDR-Fernsehen gezeigt werden konnte, kann dies im Extremfall totalitärer staatlicher Kontrolle verheerende Auswirkungen auf nationale Erinnerungs- und Wissenskulturen haben, entbehrt aber letztlich nicht der Möglichkeit, dass sich die Nutzer in Kenntnis um den politisch gelenkten Fernsehbetrieb in ihrer Wahrnehmung adjustieren und lernen, kritisch mit den medialen Darstellungen umzugehen - oder schlicht auf andere Informationsquellen auszuweichen. Die vom deutschen Bundesverfassungsgericht geforderte Ausgewogenheit der Grundversorgung nicht als Mindest-, sondern als Rundumversorgung erkennt die Notwendigkeit und das Potenzial des Fernsehens, zur Pflege eines ganzheitlichen Persönlichkeitsbildes beizutragen, wozu auch und nicht zuletzt unterhaltende Angebote gehören. Die Vielseitigkeit der Auswahlmöglichkeiten von Sendern und Programmen stieg seit der Einführung des dualen Rundfunksystems in der Bundesrepublik sowie der Etablierung des Kabel- und Satellitenfernsehens in Nordamerika und Europa rapide an und führte zu einer zuvor nicht gekannten Unübersichtlichkeit und Kontrollschwierigkeiten hinsichtlich der Einhaltung der Programmgrundsätze. Fraglich ist, ob die bisherigen Prüfinstanzen bei einem sich immer weiter auffächernden Angebotsfeld nicht überfordert sind und den Zuschauern eine stärkere Lobby zuteil werden sollte, wie es in den USA sowie in anderen Ländern bereits ansatzweise Praxis ist. Eine einflussreichere Teilhaberschaft der Nutzer am Programmbetrieb wird mit Einschränkungen durch die Expansion bzw. perspektivische Übersiedelung des Fernsehens ins Internet effizienter durchführbar. Dies würde einen Makel der institutionellen Fernsehordnung zumindest zum Teil ausräumen: Die Miteinbeziehung der Nutzer als gesellschaftliche Vertreter in ihrer ungerichteten Vielzahl und Verschiedenheit bei der Formung des Fernsehens als „Instrument des ganzen Volkes" (Grimme, siehe oben). Auch wenn durch die Fragmentarisierung des Fernsehmarktes längst nicht mehr generell von einer durch monopolitische bzw. oligopolistische Rahmungen institutionalisierten Gedächtnisinstanz gesprochen werden kann, birgt der neue Status Quo der liberalisierten Fernsehordnung nicht nur, wie so häufig befürchtet, mannigfaltige Gefahren für die Deterioration kultureller Sicherheiten, sondern könnte auf diese Weise auch eine noch plurivokalere und in gewissem Sinne demokratischere Selbstverständigung mittels des Massenkommunikationsmittels Fernsehen versprechen.

142

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

3.

Das Fernsehen als Objekt und Inhalt der Erinnerung

3.1.

Wegbegleiter Fernsehen

Jeff Sher entwirft in seinem Videoclip „You Wont Remember This" (Sher 2007) einen scheinbaren Widerspruch: Er zeigt in animierter Stopmotion-Malerei die Neugierde und Entdeckungsfreude seines Sohnes vom Säuglingsalter bis zu seinem vierten Lebensjahr, die über ihn hereinbrechende Informationsflut, indem er mit offenen Augen die Welt kennenlernt, und die gleichsame Erkenntnis, dass die bewussten Eindrücke keinen Bestand haben. Zwar entwickeln bereits Kinder im Alter von ungefähr neun Monaten ein intersubjektives Verständnis (Welzer/Markowitsch 2005: 217), doch kann sich kein Mensch bewusst an persönliche Wahrnehmungen erinnern, die bis zum vierten Lebensjahr erlebt wurden. Erst dann entwickelt sich das autobiographische Gedächtnis (ebd.: 231). Ob der New Yorker Maler und Experimentalfilmer seinen Sohn in der Frühphase seiner Sozialisation hat Fernsehen lassen, wird in dem knapp zweieinhalbminütigen Internet-Video nicht verraten. Dabei findet der Erstkontakt eines Menschen mit dem Fernsehen häufig bereits in den ersten Lebensmonaten statt. Nutzungsstudien haben nachgewiesen, dass 64 bis 100 Prozent der US-amerikanischen Kleinkinder vor ihrem zweiten Lebensjahr Fernsehen schauen, zum überwiegenden Teil sogar jeden Tag (vgl. Rideout/ Vanderwater/Wartella 2003; Rideout/Hamel 2006; Weber/Singer 2004). Bei einer telefonischen Befragung von 1009 Eltern von Kindern im Alter von zwei bis 24 Monaten in den US-Bundesstaaten Minnesota und Washington wurde zudem herausgefunden, dass 40 Prozent der Kinder schon im Alter von drei Monaten etwas weniger als eine Stunde pro Tag fernsehen sowie 90 Prozent im Alter von zwei Jahren über eineinhalb Stunden täglich. Das durchschnittliche Eintrittsalter in die Fernsehwelt liegt nach diesen Ergebnissen bei neun Monaten (Zimmerman/Christakis/Meltzoff 2007: 476). Der Kulturwissenschaftler James Lull, der sich intensiv mit der Fernsehnutzung in Familien beschäftigt hat, schreibt: „ [T] he family is something of an enigma for us since by the time we consciously realize what a family is, we already have one" (Lull 1990b: 146). Für Kinder, die mit dem Fernsehgerät aufwachsen, verhält es sich ähnlich. Die elterlichen Beweggründe, ihre Kinder mit dem Medium in Kontakt zu bringen, offenbaren ein gewachsenes Vertrauen in die positiven Eigenschaften der audiovisuellen Angebote, wie die Studie von Zimmerman, Christakis und Meltzoff zeigt: Die Mehrheit der Befragten antwortete, diese audiovisuellen Medieneinflüsse würden sich ihrer Ansicht nach gut auf die Hirnentwicklung auswirken und ihren Kindern etwas beibringen. Erst an zweiter und dritter Stelle rangierten die Motive „It is something he/she really enjoys doing" und „I need some time to get things done on my own" (Zimmerman/Christakis/Meltzoff 2007: 476). Letztgenanntes Motiv entspricht der Funktion des Babysitters, die der Fernsehapparat immer öfter übernehmen soll (vgl. Götz/Bachmann/Hofmann 2007). Das Fernsehen wird - so zeigt eine kanadische Studie - indes aus einer Vielzahl weiterer Gründe

III. 3. Das Fernsehen als Objekt und Inhalt der

Erinnerung

143

von den Eltern dosiert eingesetzt, um das Familienleben zu organisieren: Das Fernsehen könne die Kinder im Zaum halten, es sei zudem lehrreich, bereite sie auf die Schule vor, beruhige sie vor dem Zubettgehen, diene als Bindeglied innerhalb der Familie und sorge für Aktivität und Lebendigkeit (vgl. He u.a. 2005: 122). In Deutschland schauten im Jahr 2006 immerhin 54 Prozent der Kinder zwischen drei und fünf Jahren fern und dies im Durchschnitt 73 Minuten täglich (Feierabend/Klingler 2007: 201). Ein Großteil der Eltern sieht darin vor allem ein Instrument, Gemeinsamkeit innerhalb des Familienkreises zu stiften, doch dient die Erlaubnis, das Fernsehgerät einzuschalten, unter anderem häufig auch als Notbeschäftigung des Kindes, um sich Freiraum zu schaffen, die Emotionen der Kinder zu beeinflussen oder es als Erziehungshilfe zu benutzen (vgl. Götz/Bachmann/Hofmann 2007: 34). Je älter das Kind wird, desto mehr Funktionen erfüllt das Fernsehen gemeinhin im Familienkontext. Prägend ist vor allem die Ritualfunktion, welche von der gemeinsamen Rezeption bestimmter kindgerechter Programminhalte wie der Sendung „Das Sandmännchen" am Abend erfüllt werden (ebd.: 33). So werden mittels eines mit dem Fernsehen verbundenen Zusammengehörigkeitsgefühls in Kombination mit der Normalität der Fernsehnutzung schon früh im Leben eines Kindes bestimmte Routinen angelegt, die je nach Ausprägung der Ritualfunktion nachhaltig Erinnerungen und die Identitätsentwürfe des heranwachsenden Kindes beeinflussen können. Dabei ist es an dieser Stelle noch irrelevant, ob die vorwiegend positiven Nutzungsmotivationen der Eltern vom Fernsehen in ausreichendem Maße befriedigt werden oder im Gegenteil sogar die gegenteiligen Befürchtungen von einer negativen Auswirkung der Fernsehkonsums auf die kindliche Entwicklung zutreffen. Allein die beachtlichen Fernsehnutzungszahlen von Kleinkindern und sogar Säuglingen machen bereits deutlich, welche herausragende Rolle das Fernsehen im Leben von Kindern spielt. Im Laufe eines Lebens verbringt der Durchschnittsamerikaner etwa zehn volle Jahre seines Lebens damit fernzusehen (Ellis 1983: 276). Diese ein Vierteljahrhundert zurückliegende Schätzung dürfte längst von einem höheren Wert abgelöst worden sein; denn nie wurde mehr ferngesehen als heute. Seit Anfang der 1950er Jahre ist der Fernsehkonsum unaufhaltsam gestiegen: In Nordamerika und Deutschland befindet sich die durchschnittliche Sehdauer am Anfang des 21. Jahrhunderts auf einem Rekordhoch. Die Versorgung mit Fernsehgeräten wuchs in den USA bereits in den 1950er Jahren sprunghaft an. Hatten 1949 erst 7,8 Prozent der US-amerikanischen Haushalte einen Fernsehapparat, waren es ein Jahr später bereits 22,1 Prozent, weitere fünf Jahre später schon 71,2 Prozent, und Anfang der 60er Jahre lag die Sättigung bereits bei knapp 90 Prozent. Eine Vollversorgung (etwa 98 Prozent) ist laut Nielsen Media Research seit 1980 erreicht. Die Empfangsgeräte wurden von der ersten Minute an rege genutzt: Im Fernsehjahr 19491950 lief der Fernseher in einem US-amerikanischen Haushalt durchschnittlich über viereinhalb Stunden. Die Sehdauer stieg in den folgenden 60 Jahren beständig an und lag im Winter 2007/2008 bei beinah achteinhalb Stunden pro Haushalt. Die Amerikaner (älter als zwei Jahre) sahen dabei pro Person im täglichen Durchschnitt knapp vier Stunden

144

III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

und 45 Minuten fern (Nielsen Media Research 2008: Historical Daily Viewing Activity Among Households 1949-2007). In den ersten Jahren nach der Einführung des Fernsehens in West-Deutschland war es zwar ein Medium voller Faszination, doch konnten es sich aufgrund der hohen Preise für die Empfangsgeräte nur Wenige leisten (vgl. Zielinski 1989: 194, 198-199). Fernsehen war sozusagen ein „Massenmedium ohne Zuschauermassen" (Bartz 2007: 48), da weder der Sendebetrieb in ausreichendem Umfang (die tägliche Sendedauer betrug anfangs zwei Stunden am Abend) gewährleistet war, noch die Zuschauerzahl durch rudimentäre Geräteversorgung eine entsprechende Höhe erreicht hatte. Erst in den 1960er Jahren fand eine rasch zunehmende Verbreitung von Fernsehgeräten statt (Reitze/Ridder 2006: 32). Die Erfolgsgeschichte geht bis heute weiter. Gab es 1963, im Jahr des ZDF-Sendestarts, in der Bundesrepublik immerhin sechs Millionen Fernsehhaushalte, waren es zu Beginn des Jahres 1973 bereits 18 Millionen; 1975 lag die Gerätedichte bei 93 Prozent (Hickethier 1998: 200). Verbrachte der westdeutsche Zuschauer nach eigener Aussage 1970 noch durchschnittlich 113 Minuten pro Tag vor dem Fernseher, verdoppelte sich die Sehdauer bis zum Jahr 2 0 0 5 beinah (220 Minuten) (Reitze/Ridder 2006). Die telemetrischen Messungen zeichnen eine ähnliche Entwicklung: Von 1992 bis 2 0 0 7 wuchs die Sehdauer von 158 auf 207 Minuten (Zubayr/Gerhard 2007: 188; ARD 2008). Trotz der rapide ansteigenden Internet-Nutzung behauptet sich das Fernsehen weiterhin als meist genutztes Medium (vgl. European Interactive Advertising Association 2008). Auch wenn beim Umgang mit den angegebenen Daten aufgrund von nationalen, aber auch historischen Unterschieden in den Erhebungsmethoden Vorsicht geboten ist, wird doch eines deutlich: Das Fernsehen entfaltete schon früh seine Faszinationskraft, und die Zeit, welche der Durchschnittszuschauer mit ihm verbrachte, stieg unablässig an - ein globaler Trend, wie der französische Sozialhistoriker Jérôme Bourdon schreibt: ,,[W]e know that viewing time has been constantly growing in all countries where television has been introduced" (Bourdon 2003: 5). Wer im Laufe seines Lebens kumulativ mehrere Jahre mit Fernsehen verbringt, an dem hinterlässt es Spuren. Wie im Folgenden argumentiert werden soll, weist bereits die Tatsache der umfangreichen Nutzung darauf hin, welche fundamentalen Auswirkungen das Fernsehen auf das Gedächtnis seiner Zuschauer und damit auch auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit hat. Wie jedes neue Massenmedium erbat sich auch das Fernsehen eine Gewöhnungsphase. Doch bereits nach wenigen Jahren hatte sich die schöne neue Welt der Bilder von einem Faszinosum zu einem „Lebensabschnittsgefahrten für das ganze Leben" (vgl. Sarcinelli/Tenscher 1998: 304) entwickelt. In den USA schafften sich im Zeitraum zwischen 1948 und 1955 zwei Drittel aller Haushalte ein Fernsehgerät an (vgl. Spigel 1992: 1). In Deutschland begann die massenhafte Verbreitung des Fernsehens zwar später, aber fortan mit nicht minderer Wucht. Die Allgegenwart des Fernsehens äußerte sich schon bald nicht mehr allein durch die schiere Menge an Fernsehapparaten, seit den 1970er Jahren schafften sich immer mehr Haushalte ein Zweitgerät an. Das Medium und seine Themen waren und sind auch weiterhin in zunehmendem Maße durch intermediale Verschrän-

III. 3. Das Fernsehen als Objekt und Inhalt der

Erinnerung

145

kungen im öffentlichen Bewusstsein präsent. So behauptet das Fernsehen als Sinnproduzent auch trotz verstärkter Internet-Nutzung seinen Status als führendes Leitmedium.34 Auch das zur Verfügung stehende Zeitbudget für die Mediennutzung insgesamt ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gewachsen, in Deutschland von 346 Minuten im Jahr 1980 auf 600 Minuten im Jahr 2005 (Reitze/Ridder 2006: 50). Fernsehen ist im konvergierenden Feld eines sich ausdehnenden und ausdifferenzierenden Medienensembles nicht mehr nur Fernsehen, sondern findet sich wieder auf Internet-Seiten, in Videospielen, Filmen, Zeitungen, Büchern, auf CDs, DVDs, dem Mobiltelefon usf. Die Konvergenz der Medien Fernsehen und Internet hat Konsequenzen für die Qualität des Umgangs mit Fernsehinhalten. Dies entspricht der These der „funktionalen Reorganisation" (Brown/Cramond/Wilde 1974: 93-112), die besagt, dass durch das Auftreten eines neuen populären Mediums, das mit ähnlichen Funktionen besetzt ist wie ein etabliertes Medium, für eine Umstrukturierung der Nutzungskontexte sorgt, aber nicht zwangsläufig für eine Verminderung der Nutzungsdauer. Vielmehr findet ein Prioritätenwechsel statt. Fernsehen und Internet werden also ebenso parallel und supplementär benutzt wie Radio und Fernsehen, Zeitung und Radio, Buch und Zeitung usf. - und erfüllen jeweils spezifische Nutzungsmotive (ebd.: 110; vgl. auch Himmelweit/Oppenheim/Vince 1958). Eine Verdrängungsthese konnte bislang selbst bei regen Computer-Nutzern nicht festgestellt werden (vgl. Trepte/Baumann 2004: 179), wenn auch der durchschnittliche Fernsehzuschauer in Deutschland mittlerweile über und auch in den USA etwa 50 Jahre alt ist und jüngere Mediennutzer sich verstärkt dem Internet zuwenden, wo indes auch Fernsehinhalte eine immer wichtigere Rolle spielen (vgl. B&C Staff 2008). Dass sich die Rolle des Fernsehzuschauer wie jedes anderen Medienrezipienten nicht bloß auf die des passiven Empfängers einer medial kommunizierten Botschaft beschränkt, sondern es sich grundsätzlich immer nur um einen aktiven Rezeptionsprozess handeln kann, in dessen Verlauf die von Produzenten kodierten Medieninhalte vom Nutzer dekodiert werden, hat die Massenkommunikationsforschung früh erkannt.35 Schließlich ist kein Medium in der Lage, dem Individuum alle (im Kern vor allem existenzielle) Fragen der Welt zu erklären, woraus zu folgern ist, dass nur ein vielschichtiges Ineinandergreifen von Sinnkonventionen und -konstruktionen auf individueller, sozialer und kultureller Ebene den Verständnisprozess bestimmt, das durch das Fernsehen günstigenfalls me34

35

So bleibt die durchschnittliche Sehdauer trotz hoher Verbreitungswerte des Internets (in Deutschland mehr als 50 Prozent aller Haushalte, in den USA mehr als 70 Prozent) weiterhin auf konstant hohem Niveau (vgl. SWR 2010). Eine repräsentative Untersuchung des Forschungsinstituts TNS Emnid in deutschen Wohnzimmern zeigte darüber hinaus, dass das Fernsehen immer noch den höchsten Stellenwert unter den medialen Angeboten in Erwachsenenhaushalten genießt, unter anderem auch abzulesen daran, dass die Sitzgelegenheiten im Wohnzimmer in der Überzahl der Fälle auf das Fernsehgerät ausgerichtet sind (vgl. Scheffler 2010). Die Entwicklung des Uses-and-Gratifications-Approach, der die Nutzerseite fokussiert und den Rezipienten als aktiv suchend begreift, resultierte aus der Ablehnung des Stimulus-ResponseModells (vgl. u.a. Merten 2007: 55-58).

146

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

diatisiert wird (vgl. Fiske/Hartley 2003: 158). Bilder sind auf zweifache Weise kodiert: ikonisch und linguistisch, und verfügen jeweils über weitere Subcodes im Gegensatz zum rein textlichen Code (Eco 1972: 112-114). Laut Eco werden die Bedeutungen der Subcodes durch Ideologien bestimmt, welche zwar Ausschluss geben können über die Intentionen des Senders, aber nicht über die Aneignung auf Seiten des Rezipienten (ebd.: 116). Die Bedeutungskonstruktion erfolgt auf Basis der Mehrfach-Codierung und Intertextualität des Fernsehtextes erst durch die semiotische Interaktion des Zuschauers mit dem Gesendeten im kulturellen Prozess (Fiske 1989: 246). „[A] program becomes a text at the moment of reading, that is, when its interaction with one of its many audiences activates some of the meanings/pleasures that it is capable of provoking" (Fiske 1987: 14). Nicht nur während des Fernsehens werden Bedeutungen seitens des Zuschauers konstruiert, sondern auch im interpersonalen und intermedialen Austausch auf allen kulturellen Ebenen. Der lebendige Forschungszweig der in Großbritannien initiierten Cultural Studies (vgl. u.a. Hall 1992; Hepp/Winter 2003; During 2007; Lewis 2008; Hepp/Krotz/Thomas 2009) hat dafür geworben, den produktiven Zuschauer ebenso wenig wie die medialen Sinnproduzenten als ontologische Entität zu begreifen, sondern ihn und sein Medienhandeln auf der Basis der ihm immanenten sozialen und kulturellen Rahmungen zu verstehen (vgl. Morley 1996: 41). Dies impliziert bereits, dass der Zuschauer keineswegs unabhängig von Umwelteinflüssen rezipieren kann, ist die Medienrezeption doch gekennzeichnet von einer Vielzahl von Umständen, wie beispielsweise Interaktionen, und nicht zuletzt vom medialen Angebot selbst. So entbehrt die Fernsehbotschaft zweifelsfrei jeglicher deterministischer Deutungsmuster, dennoch kann sie dominante Bedeutungen im Sinne einer „bevorzugten Lesart" kommunizieren (Hall 1973: 116). David Morley macht diesbezüglich auf ein Ungleichgewicht in der Sender-RezipientBeziehung aufmerksam: „Die Macht von Fernsehnutzern, Bedeutungen zu konstruieren, ist kaum gleichwertig zu der von zentralisierten Medieninstitutionen, Texte zu konstruieren, die der Leser dann interpretiert" (Morley 1996: 47). Dies nimmt auch der Medienwissenschaftler Stefan Weber zum Anlass, das Konzept des „produktiven Zuschauers" abzulehnen: „Nicht mehr sehen (primär) wir die Medien an, sondern die Medien sehen (vermehrt) uns an. Der mediale Blick hat sich umgekehrt, er ist pervertiert, und mit ihm ist das Begehren vom Mediennutzer zum Medium gewandert. Nicht mehr wir beobachten Medien, sondern Medien beobachten uns" (Weber 2001 - Hervorh. im Orig.). Dennoch bleibt es dem Rezipienten überlassen, wie er vor seinem sozio-kulturellen und individualpsychologischen Hintergrund die Wahrnehmungen interpretiert und daraus Sinn konstruiert. Stuart Hall nennt hierbei drei Ansätze, die eine Erfassung der unterschiedlichen Rezeptionsmuster möglich machen: Entweder der Zuschauer dekodiert das Kommunikat entsprechend des „dominanten Kodes", übernimmt also die vom Produzenten und dessen Referenzkontexten konnotierten Bedeutungen, oder er handelt seine situationsbedingte Sinnkonstruktion in Korrelation mit den hegemonialen Deutungsbe-

III.3. Das Fernsehen als Objekt und Inhalt der

Erinnerung

147

Stimmungen aus, das heißt: Die Legitimität der vorherrschenden Perspektive wird anerkannt, aber in Bezug auf persönliche Grundeinstellungen angewendet und angepasst. Der dritte Ansatz geht von einer der Ursprungskonnotation vollkommen entgegengesetzten Dekodierung seitens des Nutzers aus. Dieser „oppositionelle Kode" ist davon gekennzeichnet, dass die Fernsehbotschaft in Gänze von ihrer vorgegebenen Bedeutung getrennt und eine antonyme Konnotation zugewiesen bekommt (vgl. Hall 1973: 119-123). Der Zuschauer ist also prinzipiell als produktiv zu bezeichnen. Auch wenn er sich für eine scheinbar passive Rezeptionsform entscheidet, liegt die Entscheidung dazu nicht in den Händen des Senders, sondern wird allenfalls unter Einwirkung bestimmter Attraktionspotenziale des Fernsehens vom Rezipienten selbst bzw. in Aushandlung mit seiner sozialen Sphäre gefällt. Dass sich die temporale Beschäftigung mit den Angeboten des Fernsehens im Zeitverlauf gesteigert hat, lässt auf eine hohe Akzeptanz des Mediums im Alltagsleben schließen. Die Fernsehnutzungsforschung hat sich daher umfassend mit der Prägung des Alltags durch das Fernsehen auseinandergesetzt. Hier ist vorrangig die in Deutschland seit 1964 bereits in sieben Wellen durchgeführte Studie Massenkommunikation zu nennen, mit der auf Interview gestützter Basis Erkenntnisse über die Alltagsintegration des Fernsehens erzielt werden.36 In Nordamerika gibt es zum Leidwesen der Mediennutzungsforschung kein vergleichbares Äquivalent (vgl. auch Pecora 2007: 37). Dennoch gibt es in Nordamerika seit den 1950er Jahren mit dem „Uses and Gratifications-Approach" eine lebendige Forschungstradition, die sich auch mit der Integration des Fernsehens in alltägliche Lebensgestaltungsprozesse auseinandersetzt (vgl. u.a. Katz/Lazarsfeld 1955; Seiter u.a. 1991).

36

Für die Untersuchung der Alltagsfunktion des Fernsehens für den Zuschauers gibt es indes auch Alternativansätze. Ueckermann (Ueckermann 1987: 287-298) sowie Hasebrink und Krotz (Hasebrink/Krotz 1993: 515-527) haben sich eingehender mit der Frage auseinandergesetzt, wie auch mit quantitativen Daten Schlüsse auf die qualitative Nutzung des Fernsehens gezogen werden können. Ueckermann sieht einen möglichen Weg in der Beantwortung der Frage nach der Konstanz des Fernsehverhaltens, wann der Zuschauer ein- oder ausschaltet und wann er das Programm wechselt. Dies lasse im Zusammenhang mit dem Alter des Zuschauers sowie der Art des Haushaltes (eine oder mehrere Personen) Schlüsse zu, ob das Fernsehen nur eine nebensächliche Funktion erfüllt oder eine tiefergehende Beschäftigung des Nutzers mit den Programmangeboten auslöst. Hasebrink und Krotz entwarfen darüber hinaus ein Untersuchungskonzept, das, basierend auf der Analyse telemetrischer Daten, Schlussfolgerungen zulässt, welche Rolle dem Fernsehen im Alltag von Zuschauern zukommt. Die Autoren gehen davon aus, dass durch aufeinander aufbauende und immer weiter eingrenzende Auswertungsschritte von quantitativen Daten die individuelle Fernsehnutzung recht exakt beschrieben werden kann. So seien Einzelmerkmale wie regelmäßige oder sporadische Nutzung, die Länge derselben, Sender-, Sendungs- und Genrewahl, die einsame Nutzung oder mit mehreren Personen zwar einzeln betrachtet kaum aussagekräftig, doch zusammen genommen sei eine Identifizierung übergreifender Muster des Zuwendungs- und Auswahlverhaltens denkbar.

148 3.2.

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Alltagsmedium

Fernsehen

Die Ubiquität und Nutzungsdauer sind grundlegende Merkmale des Fernsehens als Alltagsmedium, entscheidend ist aber seine Domestizierung durch den Zuschauer in seine jeweils individuellen Alltagstätigkeiten, gerade auch im Hinblick auf das Aneignungspotenzial und die Bedeutung des Fernsehens für die persönliche Biographie (vgl. Rogge 1991: 173). Der Begriff Alltagsmedium dient einerseits zur allgemeinen Beschreibung der Integration des Fernsehens in subjektive Beschäftigungsabläufe, andererseits aber auch zur Kennzeichnung einer Gewohnheit; denn ein Alltagsgegenstand ist nur, dessen Umgang von Normalität und Regelmäßigkeit gekennzeichnet ist. Dem Fernsehen wird die Funktion eines „sozialen Zeitgebers" (vgl. Nevería 1992: 59) zugeschrieben. Die ritualisierte Nutzung im Alltag führte in Deutschland zu langlebigen Benimm-Konventionen, die unter anderem besagten, es .gehöre sich nicht', während der Abendnachrichten, namentlich der „Tagesschau", zum Telefonhörer zu greifen, um jemanden anzurufen (vgl. Meyn/Chill 1999: 306). Das Fernsehen entwickelte sich zu einem typischen Abendmedium, das im Laufe der Jahre zwar zu immer früheren Zeiten eingeschaltet wurde, die höchsten Einschaltquoten indes regelmäßig in den Abendstunden zwischen 20 und 22 Uhr verzeichnete (Reitze/Ridder 2006: 40). In Nordamerika hat sich aufgrund der hohen Nutzungswerte in diesem Zeitfenster die Bezeichnung der .Primetime' durchgesetzt (Gitlin 1994; Shapiro 2004; Moore/Bensman/Van Dyke 2006). Die enorme Bedeutung der Fernsehnutzung im Rahmen der Freizeitgestaltung gilt daher als unbestritten (Nevería 1992: 16; Reitze/Ridder 2006: 60). Freizeit wird verstanden als „im Gegensatz zur Arbeitszeit, relativ unstrukturierte Zeit" (Gentikow 1993: 146) oder als Erlebniseinheit, die Freizeitleben und Fernsehkonsum gemeinsam bilden (Opaschowski 1997: 11). Die Freizeitforschung sieht einen in den vergangenen dreißig Jahren gestiegenes Freizeitbudget (vgl. Deutsche Gesellschaft für Freizeit 1999: 41).37 In der Studie Massenkommunikation ist Freizeit definiert als „Restgröße, die den Befragten nach Zeitaufwand für Tätigkeiten wie Berufs- und Hausarbeit, Essen, Schlafen und Körperpflege, Einkaufen, Wegezeiten und Lernen in der Zeit zwischen 5.00 und 24.00 bzw. 1.00 Uhr verbleibt" (Berg/Ridder 2002: 66) - die Autoren selbst bezeichnen diese Definition als „relativ krude" (ebd.: 68). Obwohl es hierbei über die Jahrzehnte hinweg verfahrenstechnische Ungenauigkeiten gegeben hat, lassen sich deutliche Tendenzen ableiten: Sahen 1970 die Zuschauer in Deutschland durchschnittlich noch 101 Minuten pro Tag in ihrer Freizeit fern - und 12 Minuten außerhalb der Freizeit - , waren es im Jahre 2000 schon 191 Minuten innerhalb und 32 Minuten außerhalb der Freizeit (Reitze/Ridder 2006: 59). Hickethier spricht im Hinblick auf das Fernsehen in diesem Zusammenhang von „Restzeitnutzung":

37

Reitze und Ridder sehen in den Jahren nach 2000 indes wieder einen rückläufigen Trend, vor allem bei Berufstätigen (Reitze/Ridder 2006: 59).

III. 3. Das Fernsehen als Objekt und Inhalt der Erinnerung

149

„Damit verdichtet und intensiviert das Fernsehen die Lebensweise, indem es sonst .ungenutzte' Zeiten besetzt. .Restzeit'-Nutzung intendiert, dass es letztlich keine Reste mehr gibt, die ungenutzt bleiben. Restzeitnutzung drängt auf eine Nebenbei-Zuwendung zum Medium" (Hickethier 1998:490; vgl. auch Hall 1987).38 Von erwachsenen Zuschauern wird das Fernsehen vermehrt als eine Art Werkzeug benutzt und ist damit einer weitestgehenden Instrumentalisierung unterworfen (Nevería 1992: 221). Mal dient es als Mittel zur Ziel gerichteten Information oder Unterhaltung, oft aber auch als Mittel zur Flucht aus dem Alltagsgrau - als Zeitvertreib im wahrsten Sinne des Wortes. Bei Kindern dagegen besteht die Gefahr, dass durch unkontrolliertes Fernsehen nicht nur ungeeignete Sendungen geschaut werden, sondern die Kinder darüber hinaus unter „unbefriedigender Zerstreuung" (Hurrelmann/Hammer/Stelberg 1996: 266) leiden. Fraglich ist, ob Kinder und Jugendliche sich dem Medium auf altersgerechte Weise bemächtigen können. Wenn Kunkel davon ausgeht, dass „Fernsehen pur" (Kunkel 1998: 9) von zwei Drittel der Konsumenten für reine Zeitverschwendung gehalten wird und die Zuschauer einen selbstverständlichen Umgang mit dem Fernsehen lernen bzw. schon gelernt haben, der den Rezipienten davor schützt, dem Leitmedium Fernsehen einen überhöhten Stellenwert und damit mehr Aufmerksamkeit zuzuschreiben, als es verdient (ebd.), trifft dies grundsätzlich auch auf Kinder zu. Kinder erlernen das Fernsehen als alltägliches Verhaltensrepertoire schon in jungen Jahren (Nevería 1992: 100),39 und es genießt bis ins jugendliche Alter einen hohen Stellenwert, vor allem was die eskapistischen Möglichkeiten des Mediums betrifft: Überdurchschnittlich viele junge Zuschauer sagen aus, dass sie den Fernseher neben Spaß und Unterhaltung auch zur Entspannung und zur Flucht aus dem Alltag benutzen (Reitze/Ridder 2006: 65-66). Dabei nahm die Faszination des Fernsehens mit den Jahrzehnten seines Sendebetriebs stetig ab. Es setzte ein Gewöhnungsprozess ein (vgl. Spangenberg 2001: 214). Die Forschung stimmt mittlerweile darin überein, dass Fernsehen zwar noch stark genutzt wird, aber nur noch beiläufig (u.a. Nevería 1992: 17; Opaschowski 1997: 12-13; Mikos 2001: 69). Die Zahl der Nebentätigkeiten wuchs beständig an. Das Fernsehen wurde zum Begleitmedium (Konrad 1998: 37). Nur etwas mehr als ein Drittel der Zuschauer gibt an, dass sie sich beim Fernsehen alleinig auf das Programm konzentrieren (Opaschowski 1997:13). Nebenbei wird interpersonal kommuniziert, am Computer gearbeitet, gelesen 38

39

Nevería problematisierte den Freizeit-Begriff: Zeit außerhalb der Arbeitszeit könne nicht gleichgesetzt werden mit ungebundener oder gar nutzfreier Zeit (Nevería 1992: 91). Es könne auch keine Abgrenzung der Freizeit von Berufsarbeitszeit bei wachsenden Bevölkerungsgruppen wie Rentnern, Arbeitslosen, Hausfrauen, Kindern und Jugendlichen getroffen werden. Außerdem würden meist mehrere Tätigkeiten zu gleicher Zeit ausgeführt, was gegen den Terminus Nebentätigkeit und für den Begriff Paralleltätigkeit spreche. Zuletzt seien Tätigkeiten nicht unbedingt eindeutig einem Erlebnisrahmen - ob nun Freizeit oder Arbeit - zuzurechnen. Alles in allem sei der Heterogenität des Fernsehverhaltens Rechnung zu tragen (ebd.: 94). Da früh vermittelte Erfahrung nur schwer wieder kompensiert werden können, kommt den Programmmachern sowie den Eltern von fernsehenden Kindern eine enorme Verantwortung zu (vgl. Rogge 1982: 275).

150

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

oder anderweitigen Tätigkeiten nachgegangen (vgl. Übersicht bei Opaschowski 1997: 80). Vor allem Haushaltsaufgaben stehen dabei im Vordergrund (Mikos 2001: 69). Eine konzentrierte, störungsfreie und vor allem lückenlose Rezeption des im Fernsehen Dargestellten scheint damit für diese Zuschauerkreise kaum noch möglich. Mit der Entwicklung des Fernsehens zu einer Sekundärtätigkeit begann sich schon in den 1980er Jahren das bis dato traditionelle Bild des Fernsehens aufzulösen (Maletzke 1988: 78). Es wurde mehr und mehr zum Hintergrundmedium. Dafür ist laut Spangenberg die „weiche Kopplung" (Spangenberg 1995b: 789) zwischen Zuschauer und Fernseher verantwortlich. So kann sich der Zuschauer stets zurückziehen und die Rezeption unterbrechen. In diesem Zusammenhang interpretierte Lull die Ergebnisse von David Morleys Studie „Family Television" (Morley 1986) auf interessante Weise: Auch Männer, die sich nicht handwerklich im Haushalt betätigen, würden demnach trotzdem einer „Form von Arbeit" während des Fernsehens nachgehen, da sie innerlich entweder den Arbeitstag Revue passieren lassen, Pläne für die kommende Zeit schmieden oder Kindern und Ehefrau durch das Beisammensein emotionale Nähe vermitteln (vgl. Lull 1990b: 164-167). Dennoch ist in der Forschungspraxis nur schwerlich festzustellen, ob Zuschauer „mit geschlossenen Augen fernsehen" (Opaschowski 1997: 14). Der Trend zur Beiläufigkeit ist einer der sichtbarsten Merkmale einer Normalisierung des Verhältnisses zwischen Zuschauer und Fernsehen, woraus eine gelassenere Auseinandersetzung mit den Medienangeboten resultiert, die „bestenfalls Alltagsbotschaften wie andere auch" übermitteln (Kunkel 1998: 9). So verlor das Fernsehen trotz steigender Nutzungswerte einerseits an Bindung, das heißt in der Frage, ob die Zuschauer das Medium vermissen würden: Im Jahre 1970 äußerten sich noch 60 Prozent der deutschen Befragten ab 14 Jahren, sie würden das Fernsehen vermissen. 30 Jahre später waren es nur noch 44 Prozent. Dagegen würde sich das Gros der Befragten konstant für das Fernsehen entscheiden, wenn sie nur noch eines nutzen dürften bzw. könnten (Reitze/Ridder 2006: 27). 1976 veröffentlichten Bauer, Baur und Kungel die Ergebnisse ihres Experiments „Vier Wochen ohne Fernsehen". Motivation für diesen Versuch war das augenscheinliche Diktat des Fernsehens über das Freizeitverhalten sowie die Stellung des Fernsehens als das beherrschende Instrument zur Erfüllung der Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsbedürfnisse (Bauer/Baur/Kungel 1976: 47). Der fehlende Fernsehapparat hatte bei den Probanden bezeichnende Auswirkungen: Es bildeten sich Aggressionen. Langeweile ergriff die abstinenten Zuschauer. Das Fernsehen schien zur Droge im Wohnzimmer geworden zu sein (Opaschowski 1997: 9): „Ich hätte nicht gedacht, dass einem das Ding so fehlt. Ja, ehrlich, jetzt, ja es ist ganz komisch, ja", äußerte sich eine Probandin (Bauer/ Baur/Kungel 1976: 87). Der Fernsehkonsum ist also gekennzeichnet von einem hohen Habitualisierungsgrad, der sich schon früh an den durchschnittlichen Sehdauern ablesen ließ. Menschen, die vom Kindesalter an mit dem Fernsehen aufwachsen, entwickeln einen routinierten Umgang mit dem Medium, da sie es schon während ihrer Jugend rege nutzen. Bei älteren Kohorten, die zum Teil oder gänzlich ohne Fernsehnutzung aufgewachsen sind, erhöht

III.3. Das Femsehen als Objekt und Inhalt der Erinnerung

151

sich der Konsum erst im fortgeschrittenen Alter. Generell gilt: Die durchschnittliche Sehdauer wächst im Laufe eines Lebens kontinuierlich an und erhöht sich mit Eintritt ins Rentenalter noch einmal erheblich, da aufgrund des Ausscheidens aus dem Arbeitsleben mehr freie Zeit zur Verfügung steht, die für die Mediennutzung verwendet werden kann (vgl. Reitze/Ridder 2006: 139).

3.3.

Erinnerungsobjekt

Fernsehen

Ausgehend von der zentralen Strukturierungsfunktion des Fernsehens im Alltag der Rezipienten wäre ein reicher Erinnerungsschatz an Fernseherlebnissen anzunehmen. Das Fernsehen wäre von dieser Warte aus ein wichtiges Objekt der Lebenserinnerung. Medien wird jedoch allenfalls eine Verstärkerfunktion für biographische Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen eigener und medienvermittelter Erfahrung attestiert (vgl. Baakke/Sander/Vollbrecht 1990: 14-15). Wie mehrere medienbiographische Studien belegen, wird die Bedeutung des Fernsehens von den befragten Personen jedoch als marginal für ihre Lebensläufe beschrieben (Kübler 1982; Hickethier 1982; Hickethier 2007b; Baacke/ Sander/Vollbrecht 1990). Der Erziehungs- und Medienwissenschaftler Jan-Uwe Rogge weist darauf hin, dass gesellschaftliche Wertzuweisungen einen erheblichen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie sich Menschen an ihre Medienbiographie erinnern: „In fast allen Geschichten wird vom schlechten Gewissen bei der Lektüre vermeintlich minderwertiger Medien gesprochen, wird die .heimliche', umso genussreichere Mediennutzung thematisiert, wird davon berichtet, wie eine kultur- und traditionsbewusste Erziehung das Unterhaltsam-Triviale mies macht oder verbietet und das Anspruchsvoll-Bildende als allgemeingültig und wertvoll hinstellt" (Rogge 1982: 283). Rogge bemerkt weiterhin eine verblüffende Beharrlichkeit dieses medienbezogenen schlechten Gewissens (vgl. ebd.). Je geringer die Anerkennung des Fernsehens im gesellschaftlichen Diskurs, desto unwahrscheinlicher wird die Bereitschaft zur aktiven Auseinandersetzung mit den Fernsehbotschaften. Die Fernsehrezeption wird unter diesen Voraussetzungen zu einer Beschäftigung ohne Mehrwert degradiert und das Medium selbst als kulturell minderwertig konnotiert. Dabei stellten Claus Eurich und Gerd Würzberg bei ihrer Untersuchung der Fernsehnutzung im familiären Kontext ein widersprüchliches Vorgehen von Eltern fest, die ihren Kindern Fernsehabstinenz predigten, aber Fernsehsucht vorlebten (vgl. Eurich/Würzberg 1983b: 23). Die bewusste Verdrängung der tatsächlichen Bedeutung des Fernsehens für die eigene Lebensgeschichte durch die Annahme gesellschaftlich konsensierter Missachtung seiner Nutzung ist indes kein tragfähiges Argument, um die vielfach ausbleibende Rückbesinnung auf bewusster .Fernseh-Momente' zu erklären. Vielmehr hat der schlechte Ruf des Fernsehens oder gar Fernsehverbote seitens der Eltern teilweise dafür gesorgt, dass Kinder sich aus dem häuslichen Rahmen entfernen und in fremden Umgebungen, sei es bei Freunden, bei den Großeltern oder im öffentlichen Raum zum Beispiel vor einem Schau-

152

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

fenster fernsehen (vgl. Hickethier 2007b: 60). Dies spricht durch die Außerkraftsetzung der Alltagsroutine eher für als gegen besondere Fernseherinnerungen. Dennoch haben solche Rückbesinnungen Einzelfallcharakter, wie Christiane Hackel in ihrer medienbiographischen Studie über das „Fernsehen im Lebenslauf" hinweist (Hackl 2001: 333). Hickethier sieht in der Alltagsfunktion des Fernsehens einen der maßgeblichen Faktoren hinsichtlich des Verschwindens des Fernsehens aus dem Gedächtnis: Durch seine Veralltäglichung sei es in der Erinnerung fast unsichtbar geworden, wie ein „Transparent, das Blicke in andere Lebenswelten ermöglichte, eine Art künstliches Fenster" (Hickethier 2007b: 63). Dadurch lösen sich medienspezifische Erfahrung von ihrem medienspezifischen Kontext (vgl. Kübler 1982: 56), mit anderen Worten: Der Zuschauer erinnert sich womöglich an das Rezipierte, nicht aber an die Art der Rezeption: „To put it succinctly: what is remembered is not programs but interactions with the world of television [...]. This is why .remembering television is by no means synonymous with .remembering television viewing'" (Bourdon 2003:12). Fernsehen ist dies- und jenseits des Atlantiks zur Gewohnheit geworden, was dazu geführt hat, dass sich die Rezipienten oftmals nicht der lebensgeschichtlichen Relevanz bewusst sind, die sie dem Fernsehen alltäglich zumessen und zugemessen haben. Wie sich der Alltag durch die Fernsehnutzung verändert, wie sich die eigene Biographie wandelt, wenn immer mehr Zeit mit dem Fernsehen verbracht wird, ist ein eher schleichender denn wahrnehmbarer und daher auch kaum erinnerbarer Prozess. In der Selbstverständlichkeit des Fernsehens erkennt Kübler vielmehr eine „Form" bzw. ein „Bett der Erinnerungsströme" (Kübler 1982: 56), wodurch der gewohnheitsmäßige Umgang mit dem Fernsehen und seinen Programmen nicht mehr Gewicht hat als andere Alltagsroutinen wie das Zubereiten von Mahlzeiten oder die regelmäßige Ausübung einer Sportart. Wie gezeigt wurde, integriert der Mensch seine Erinnerungen in den autobiographischen Kontext seiner Lebensgeschichte. Einzelerfahrungen werden stets in einen übergeordneten Gesamtzusammenhang eingebettet, der neben bereits erlebten Erfahrungen und generalisiertem Wissen auch aktuelle Selbstbilder, Ziele und Entwicklungsphasen umfasst. Dieser aber ändert sich im Laufe des Lebens, und mit ihm die Erinnerungen und ihre Relevanz. Besonders leicht und lebendig erinnert werden nur solche Erfahrungen, denen eine herausragende Bedeutung für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung zugewiesen wird. Veranschaulichen kann dies folgende Schilderung eines 49-jährigen Düsseldorfers namens Gert, der sich in einem Internet-Forum geäußert hat:40

40

Freilich ist hier nicht zu überprüfen, ob die betreffende Person tatsächlich dem Geburtsjahrgang 1959 angehört, in Düsseldorf lebt oder den Namen Gert trägt. Dennoch ist anzunehmen, dass es sich bei der elaborierten Erinnerung, auch wenn sie zahlreiche Rechtschreibfehler aufweist, mit hoher Wahrscheinlichkeit um tatsächliche Erinnerungsfragmente handelt, da mit dem Forumseintrag das verlautbarte Ziel verknüpft ist, mehr über die angegebene Sendung herauszufinden. Dies wiederum erfordert möglichst detaillierte Angaben, so dass die Schilderung bei aller zugegebenen Anzweifelbarkeit der Authentizität der Erinnerung und der erinnernden Person selbst als Anschauungsbeispiel an dieser Stelle dienlich ist.

III. 3. Das Femsehen als Objekt und Inhalt der

Erinnerung

153

,,[A]n eine serie kann ich mich an den titel leider nicht mehr erinnern, das war eine serie im wdr. lief wohl zwischen 66-72 (weiss nicht mehr genau..) dort konnte man englisch (!) lernen, das ganze war in eine science fiction-handlung um einen roboter angelegt, der sich regelmäßig an den ström anschließen mußte, der hatte am handgelenkt ein merwürdiges zeichen (ähnlich einem mercedes-stern) und lernte mit dem Zuschauer von folge zu folge immer besser englisch zu reden... das war was für mich - - so lernte ich englisch schon bevor das in der schule dran kam... vielleicht kann sich ja irgendjemand dran erinnern..(TVprogramme 2008). Gleich mehrere Angaben in diesem Eintrag weisen auf die besondere Relevanz hin, die der Zuschauer dieser spezifischen Erinnerung beimisst: Schon immer, das heißt seit seiner erinnerbaren Kindheit, habe er sich für Science Fiction-Geschichten interessiert. Eine Fernsehsendung weckte in ihm das Interesse, eine Fremdsprache zu lernen, sich also weiterzubilden, noch bevor er seine formale Bildungskarriere mit der Einschulung begonnen hatte. Für seine persönliche Entwicklung scheint das spielerische Lernen am Bildschirm mit einem Roboter einen wichtigen Schritt dargestellt zu haben, da er sich an einige bildliche und narrative Details erinnert. Selbst der ausstrahlende Sender wird erinnert, nicht aber der Name der Sendung. Diese Diskrepanz zwischen Erinnerung für lebendige Eindrücke auf der einen und das Ausblenden von Titel, Sendedauer und anderer ordnungsrelevanter Bestimmungsfaktoren ist ein Phänomen, das auch Hackl in ihrer Untersuchung von Medienbiographien in der Bundesrepublik und der DDR festgestellt hat (Hackl 2001: 333). Erinnert wird also nicht das Fernsehen an sich in seiner alltäglichen Ausübung, sondern allenfalls Fixpunkte der persönlichen Lebensgeschichte, die der Zuschauer mit dem Fernsehen verbindet. Gemeinhin sind es familiengeschichtliche Zäsuren wie vornehmlich in den 1950er oder 60er Jahren die Anschaffung des ersten Fernsehapparates, der in der Anfangszeit des Mediums noch als gesellschaftliches Statussymbol diente und die Zeitstrukturen des Alltags umzuwälzen begann (vgl. Silverstone 1994a: 32). Andere erinnern sich an das erste Mal, dass sie länger aufbleiben durften, um den „Grand Prix Eurovision de la Chanson" bis zum Ende der Punktevergabe für die wettstreitenden Länder zu erleben, was einem großen Schritt hin zum Erwachsenwerden gleichkam (vgl. Bahlmann 2005). Kurzum: Die Nutzungsdauer des Fernsehens allein sagt nichts aus über die Qualität der Informationsbearbeitung und somit auch nicht über den Status des Fernsehens als Objekt der Erinnerung. Voraussetzung ist die Bereitschaft zum „Literate Viewing" (vgl. Salomon 1979: 142), der bewussten und interessengeleiteten Nutzung der televisuellen Angebote und ihrer Medialität.

154

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

Rossmann identifiziert vier übergreifende Determinantenkategorien für die nachhaltige Gedächtnis-Enkodierung von Fernsehinformationen: Fernsehbotschaft

Konsistente Inhalte

Botschaftsmerkmale

Lebhaftigkeit Auffälligkeit Ähnlichkeit Positive Bewertung Hoher Realitätsgrad

Rezeption

Häufigkeit Aktualität

Rezipienten-/ Rezeptionsmerkmale

Prozessinvolvement Elaboration Themeninvolvement Nutzungsaktivität Parasoziale Beziehung Identifikation Wahrgenommener Realitätsgrad

Tabelle 2: Katergorien der Determinierung nachhaltiger Enkodierung von Fernsehinifromationen im Gedächtnis des Rezipienten (Rossmann 2008: 307). In den Folgekapiteln wird genauer auf die einzelnen Determinanten einzugehen sein. In ihrer Gesamtheit lassen sie erkennen, dass die Darstellungsmerkmale des Fernsehens in ihrer Auffälligkeit und Ähnlichkeit zur Lebenssituation des Rezipienten beeinflussen können, welche Fernsehinhalte und Kontexte, in denen die Rezeption stattfindet, angeeignet werden. Eine Grundvoraussetzung ist die bewusste Rezeption durch Aufmerksamkeitsbindung, da nur so die erfolgreiche Enkodierung von Gedächtniselementen erfolgen kann. Die chronische Verfügbarkeit einer Information, zum Beispiel das ritualistische Schauen ein und derselben Sendung in regelmäßigen Abständen, erhöht dabei die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch langfristige im Gedächtnis vorhanden bleibt und neue ähnliche Informationen leichter wahrgenommen und ebenfalls erinnert werden können. Eine chronische Verfügbarkeit tritt aber nur dann ein, wenn die betreffende Information häufiger als andere aktiviert wird sowie im besten Fall eine tiefergehende gedankliche Beschäftigung nach sich zieht (vgl. ebd.: 302). Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, dass Geschehnisse, die ein Mensch im Normalfall nur über das Fernsehen verfolgen kann, häufiger aktiviert werden und dadurch stärkere Gedächtnisspuren hinterlassen, bei ausgeprägtem Fernsehkonsum höher als bei geringer Fernsehnutzung. Die langfristige Prägung durch Fernsehinhalte dürfte also bei Menschen, die häufig fernsehen, stärker sein als bei solchen, die seltener einschalten (vgl. ebd.: 237). Welche Rolle das Fernsehen im Leben eines Rezipienten ausübt, der überdurchschnittlich viel, normal oder wenig fernsieht, lässt daher möglicherweise erkennen, wie ausgeprägt seine Erinnerungen an das Leben mit dem Fernsehen sind. Reger und auch exzessiver Fernsehkonsum müssen nach Erkenntnissen von Winfried Schulz nicht notwendigerweise bedeuten, dass der Nutzertypus des „Vielsehers" so stark vom Fernsehen

III.3. Das Fernsehen als Objekt und Inhalt der

Erinnerung

155

sozialisiert und in gewisser Weise konditioniert wird, dass eine „Video-Malaise" eintritt, also eine „durch Angst und Argwohn gekennzeichnete[.] Weltsicht" (Schulz 1986: 773). Hier unterscheiden sich die deutschen Untersuchungsergebnisse teilweise stark von den US-amerikanischen: Eine Forschergruppe um George Gerbner an der Annenberg School of Communications prägte mit ihren Untersuchungen zur Gewaltdarstellung im USFernsehprogramm der drei kommerziellen Networks ABC, CBS und NBC einen negativ konnotierten Medienwirkungsbegriff, der von einer Kultivierung genereller Vorstellungen von der sozialen Realität bei bestimmten Zuschauergruppen ausging (vgl. Gerbner 1981: 33). Dieser auch mit „Mainstreaming" bezeichnete Effekt sollte belegen, dass Vielseher aus sämtlichen Gesellschaftsgruppen dazu neigen, bei Befragungen vergleichsweise homogene Standpunkte als Antworten zu geben (ebd.: 36). Solche Homogenisierungseffekte waren bereits bei der Befragung von Kindern über Berufsbilder festgestellt worden, wobei Berufe, die im Fernsehen thematisiert worden waren, stärkere solcher Effekte auszulösen imstande waren als Berufe, von denen die Kinder noch nie etwas gehört hatten oder sie nur aus persönlicher Erfahrung kannten (vgl. DeFleur/DeFleur 1967). Wie die Fernsehforscherin Silvia Huth anhand einer Untersuchung zweier kanadischer Kommunikationswissenschaftler referierte, haben US-amerikanische Fernsehformate durch ihren hohen Marktanteil im kanadischen Fernsehen auch eine erhebliche Kultivierungswirkung auf die dortigen Zuschauer gezeigt (Huth 1982: 194). Bei Vielsehern sind also eher starke Priming-Effekte durch die kontextuelle Darstellung von Themen im Fernsehen zu vermuten als bei Zuschauern mit spärlicheren Nutzungsweisen (vgl. Rossmann 2008: 328).41 Gleichwohl ist anzunehmen, dass der Anteil der bewusst erinnerten Fernseherlebnisse im Verhältnis zur Fernsehnutzungsdauer bei Vielsehern deutlich geringer ausfällt als bei Wenig- oder Durchschnittssehern, da bei stark auswählender und dosierter Nutzung ein bewussterer und zielgerichteter Rezeptionsvorgang wahrscheinlicher ist (vgl. Hackl 2001: 343-344).42 Hinzu kommen zwei kognitive Faktoren, die im Hinblick auf die Enkodierung von Erfahrungen ins autobiographische Gedächtnis entscheidend sind: Erstens wird die Informationsaufnahme und die Erinnerungsfähigkeit in der Regel durch sensorische Reizüberflutung gestört. Hierzu gehört auch dauerhafter Fernsehkonsum, der an den Rezipienten erhöhte Anforderungen an die Wahrnehmung und kognitive Informationsverarbeitung stellt. Mit einer wachsenden Zahl der Eindrücke sinkt die Wahrscheinlichkeit ihrer vollständigen Prozessierung. Ein weiterer Faktor betrifft die emotionale

41

42

Die Forschungsergebnisse von Gerbner und Kollegen waren fundamentaler Kritik ausgesetzt und wurden von einer Reihe von Untersuchungen widerlegt. Dennoch hat der Gerbnersche Kultivierungsansatz auf die nachweisbare Mitwirkung des Fernsehens auf die Sozialisation seiner Zuschauer aufmerksam gemacht. Wie Lull referiert, kann die Intensität der Aufmerksamkeit für das Fernsehgeschehen auch in Zusammenhang mit der Position des Zuschauers gebracht werden. Demnach schauen Rezipienten, die den Fernsehraum hin und wieder verlassen, häufiger auf den Bildschirm als solche, die ständig vor dem Fernseher sitzen (Lull 1990b: 164).

156

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Femsehens

Stimmungslage des Rezipienten. Wie gezeigt werden konnte, stehen Stimmungen und autobiographische Erinnerungen in einem engen Bedingungsverhältnis. Der typische Vielseher ist nach Schulz' Untersuchungsergebnissen pessimistisch, fühlt sich unglücklich und einsam, ist mit seinem Leben unzufrieden, findet es sinnentleert und freudlos und neigt zu Fatalismus (Schulz 1986: 769). Dabei weist Schulz daraufhin, dass nicht eindeutig geklärt werden kann, ob das Fernsehen erst die Einsamkeit verursacht oder sie kompensiert: „Einerseits führt exzessiver Fernsehkonsum möglicherweise zur Aufhellung der Stimmung und zum Abbau sozialer Spannungen (oder - durch die bloße Aufmerksamkeitsbindung - auch zur Unterdrückung etwa familiärer Spannungen), andererseits verhindert Vielfernsehen aber vielleicht auch die angemessene Bewältigung von Problemen, verfestigt die Ursachen von Depression und Fatalismus" (ebd.: 770). Entscheidend ist also, ob der Vielseher mit seinem erhöhten Fernsehkonsum erfolgreich seine Nutzungsmotive befriedigt und sich daher die Stimmungen verbessert oder ob negative Stimmungen erst durch das dauerhafte Fernsehen ausgelöst werden und die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Enkodierung von Fernsehbotschaften oder der generellen Fernseherfahrung denkbar schlecht sind; denn schlechte Stimmung kann Gleichgültigkeit verursachen und dadurch die Informationsaufnahme reduzieren. Einen interessanten Rezipiententypus stellen in diesem Kontext die sogenannten „Nichtseher" dar, die einen numerisch zwar scheinbar zu vernachlässigenden Anteil an der Gesamtbevölkerung darstellen,43 lebensgeschichtlich indes eine möglicherweise bewusstere Beziehung mit dem Fernsehen aufweisen als die viele eifrigen Zuschauer. Peter Sicking identifizierte in seiner für die deutschen Nutzungsverhältnisse beispiellosen Studie „Leben ohne Fernsehen" drei Arten von Nichtsehern: Den „aktiven" Nichtseher, den „bewusst-reflektierten" Nichtseher und den „suchtgefährdeten" Nichtseher (Sicking 2008).44 Für den aktiven Nichtseher spielt das Fernsehen nach Sickings Erkenntnissen tatsächlich keine Rolle, da der Alltag durch andere Aktivitäten ausgefüllt wird und für die Fernsehnutzung keine Zeit bleibt. Dennoch muss einschränkend gemutmaßt werden, dass selbst dieser Typus durch die intermedialen Verflechtungen sowie Fernsehen im öffentlichen Raum (vgl. Kapitel III.4.3.3.) dem Medium ausgesetzt ist und durchaus eine Beziehung zum Medium und seinen Inhalten aufbaut. 43

44

Erstmalig wurde die Zahl der Nichtseher in (West-) Deutschland im Jahre 1983 von der jährlich durchgeführten Markt- und Werbeträger Analyse des Allensbacher Instituts ermittelt. Damals gaben 1,19 Millionen Befragte ab 14 Jahre an, niemals fernzusehen. Das entsprach einem Anteil von 2,4 Prozent an der Gesamterhebung (Institut für Demoskopie Allensbach 1983: 223). Dieser Wert ergab sich auch zwei Jahrzehnte später in den Analysen der Jahre 2003, 2004 und 2005. In 2006 stieg der Anteil der Nichtseher graduell auf 2,5 Prozent. Bei einer vom Magazin Stern im Jahr 2005 in Auftrag gegebenen Umfrage unter 1.509 Personen ab 14 Jahren gaben 16 Prozent an, „auf jeden Fall" auf Fernsehen verzichten zu können und 26 Prozent „vielleicht" (Bülow/Kühn/Heinsen 2005: 64). Vgl. auch eine frühe Annäherung an die Motivationslage und Signifikanz von Nichtsehern in den USA bei Jackson-Beeck 1977.

III. 3. Das Fernsehen als Objekt und Inhalt der Erinnerung

157

Bei den zwei weiteren Nichtseher-Typologien wird eine direkte Dependenz zum Fernsehen umso deutlicher: Wer sich bewusst-reflektiert gegen die Fernsehnutzung entscheidet, handelt auf Grundlage eines an innerlichen und sozio-kulturellen Erfahrungen und Maßstäben entwickelten Überzeugung. Wie Sicking schreibt, schauen diese „Fernsehverweigerer" nicht fern, weil „es ihren Lebens- und Wertvorstellungen prinzipiell widerspricht" (ebd.: 235). Diese äußerst fernsehkritische Haltung, wird sie konsequent beibehalten, muss sich durch die Omnipräsenz televisueller Bezüge im Alltag der Mitmenschen ständig neu festigen, was eine wiederholte Reflexion der eigenen Positionen voraussetzt, ergo eine Kontextualisierung derselben mit dem Fernsehen - und sei diese Beschäftigung beschränkt auf eine Rechtfertigung von Vorurteilen. Hier ist das Medium zwar ein negativ konnotiertes, aber schlussendlich wirkmächtiges Objekt der autobiographischen Erinnerung, weil es durch seine Logiken oder seine Botschaften beim Rezipienten zu der bewussten Entscheidung geführt hat, es nicht mehr zu rezipieren. Die Beweggründe dieses Nichtseher-Typus mögen unterschiedlich sein, doch die Bedeutung des Fernsehens für die persönliche Identitätskonstruktion ist hierbei nicht zu unterschätzen. Der suchtgefährdete Nichtseher dagegen wird von Sicking als „Fernsehabstinenzler" beschrieben, der sich „vor unkontrollierter und übermäßiger Fernsehnutzung" schützen möchte (ebd.: 235). Solche das Fernsehen bewusst ablehnenden Personen meinen nach Sicking, dass ihre Lebensvorstellungen gefährdet sind, sollten sie fernsehen. Meist gründet sich diese Einstellung auf negative Erlebnisse im Zusammenhang mit übermäßigem Fernsehkonsum wie beispielsweise typische Suchterfahrungen. Das Medium nimmt also eine zentrale Position in der Autobiographie des Nichtsehers ein und fungiert in der Erinnerung als Kristallisationspunkt nachteiliger Entwicklungen in der Lebensgeschichte. Auch hier wird, in diesem Fall indes aus Furcht oder anderweitigen präventiven Mechanismen zum Schutz der eigenen Persönlichkeit, bewusst auf das Fernsehen verzichtet, was bedeutet: Es müssen aktiv andere Beschäftigungsmöglichkeiten eruiert werden, und die betreffende Person muss Verlockungen widerstehen, was wiederum eine reflektierte Auseinandersetzung mit den reizvollen Eigenschaften des Mediums und mit der individuellen Empfänglichkeit für solche Reize voraussetzt. So scheint das Fernsehen im Leben von Nichtsehern zumindest teilweise nicht nur eine ebenso große Rolle zu spielen wie in der Biographie von aktiven Fernsehnutzern, sondern auch für die Lebensgeschichte besonders relevante und intensive Erinnerungen herbeizuführen. Als grundlegend für die Aneignung von fernsehspezifischen Erfahrungen ist daher die subjektive Relevanzbewertung des Fernsehens insgesamt und der kommunizierten Programminhalte zu bezeichnen. Ausschlaggebend ist somit die Befriedigung von Nutzungsmotiven durch das Fernsehen. In Deutschland (bzw. zuvor in der BRD) schalten die Zuschauer vornehmlich ein, um sich zu informieren. Erst danach werden die Beweggründe Spaß, Entspannung, Mitreden zu können, Denkanstöße zu gewinnen, Gewohnheit, Orientierung zu erhalten und sich nicht alleine fühlen genannt (Reitze/Ridder 2006: 65). Im Medienvergleich erzielt das Fernsehen bei allen Motiven die höchsten Werte, außer bei der Informationsfunktion, wo es sich nur knapp der Tageszeitung geschlagen geben

158

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

muss (ebd.: 71). Fernsehen gilt als „Allroundmedium" (ebd.: 75) und wird als solches von den Zuschauern akzeptiert und aktiv genutzt. Vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender erzielen bei den Befragten der Studie Massenkommunikation hohe Zustimmungswerte in Bezug auf die Informations- und Wertevermittlung, und werden größtenteils als „unverzichtbarer Bestandteil der Kultur in Deutschland" wahrgenommen (ebd.: 91). Sie zeichnen sich aus Publikumssicht ebenso durch eine Forumsfunktion aus wie durch ihre Leistung als Kritiker und Enthüller gesellschaftlicher Missstände. Trotz der rasant gestiegenen Zahl von Programmveranstaltern sind sich über 90 Prozent der Befragten sicher, dass es auch in Zukunft nur einige wichtige Fernsehprogramme geben wird (ebd.: 168). Die Informations- und Unterhaltungsfunktionen sind auch für die Zuschauer der amerikanischen Fernsehprogramme leitend. Seit 1977 gehört die investigative Reportsendung „60 Minutes" des Senders CBS jedes Jahr zu den zwanzig meistgesehenen Sendungen der Vereinigten Staaten. Die nationalen und zum Teil auch globalen Erfolgsgeschichten von 24-stündigen Nachrichtenkanälen wie CNN oder FOX News belegen das ungebrochene Informationsinteresse vieler Fernsehnutzer. Gleichwohl genießt die Unterhaltung weiterhin traditionell die oberste Priorität bei den Zuschauern, ablesbar an den Quotensiegern der Jahre 1959 bis 2007, aber auch an den einhundert erfolgreichsten Sendungen seit Beginn der Quotenmessungen: Standen in den 1960er Jahren Westernserien wie „Gunsmoke" und „Bonanza" hoch in der Gunst des Publikums, waren es später Sendungen wie die „Bill Cosby Show", „All in the Family", „Dallas" und „CSI" sowie die Endspiele der American Football-Liga: der „Super Bowl" (Nielsen Media Research 2008: Prime Time Top 20 Programs 1959-2007; Nielsen Media Research 2008: Nielsen Television Index: Top Network Telecasts, Ranked by Household Ratings). „[W]hat audiences want mainly from television is not information, but entertainment. This is true in entertainment-saturated media environments like the United States [...]. Audiences everywhere list entertainment on television (especially drama and sports, but also children's programs, variety shows, films, and so on) as their favorite shows. It does not matter if it is a socialist or capitalist country, a system with many channels or just one, a more developed or less developed nation. So, while planners in some countries may in a sense try to force the informational capability of telecommunications on their viewers, the people will watch television for their purposes - entertainment" (Lull 1990b: 155 - Hervorh. im Orig.). Für die Erinnerungsfähigkeit an das Fernsehen im ereignisspezifischen Lebenslauf ist indes das emotionale Involvement in der Rezeptionssituation noch wichtiger als das dem Fernsehprogramm entgegengebrachte Interesse (vgl. Hickethier 1982: 72). Wie, wann und ob sich ein Mediennutzer an seine Vergangenheit mit dem Fernsehen erinnert, lässt sich letztlich nur im Einzelfall klären. Die Effektivität von Erinnerungsenkodierung und Erinnerungsrekonstruktion hängt von einer Vielzahl von Variablen ab, die sich bündeln lassen in den Kategorien Bildungshintergrund, soziale Schicht, Arbeits- und Lebensumstände, psycho-soziale Situation und emotionales Klima, Familiengeschichte und Erziehungsmethoden (vgl. Rogge 1991: 172). Mit Daniel Süss lässt sich indes feststellen, dass

111.3. Das Fernsehen als Objekt und Inhalt der Erinnerung

159

das Fernsehen von seinen Zuschauern als „Steinbruch" benutzt wird, um sich auf Basis ihrer ganz persönlichen Lebenserfahrung, ihrem Lebensstil und ihren Lebenszielen mit den Normen, Werten und Rollen auseinanderzusetzen, die vom Fernsehen kommuniziert werden (vgl. Süss 2007: 112). So sehr das Fernsehen ebenso wie andere Medien bei der Enkulturation eine Rolle spielt, unterliegt diese doch vor allem sozialen Verhaltensmustern, die im interpersonalen Austausch innerhalb der Familie geprägt werden (vgl. ebd.: 122).

3.4.

Zusammenfassung

Das Fernsehen ist spätestens seit den 1970er Jahren als ubiquitäres, nahezu in jedem Haushalt vorhandenes und rege genutztes Informations- und Unterhaltungsinstrument der populärste und treueste massenmediale Wegbegleiter des Menschen. Vom frühen Kindesalter an prägen die Programmangebote der Fernsehveranstalter die Biographien seiner Nutzer mit und stellen einen wesentlichen Sozialisationsfaktor in der persönlichen Entwicklung dar. So können Lebensgeschichten zunehmend als Medienbiographien verstanden werden, da steigende Nutzungsdauern und eine ebenfalls wachsende Dependenz in Bezug auf soziale Orientierungsangebote angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften die Lebensläufe der Menschen eng mit der Entwicklung des Leitmediums Fernsehen verknüpfen. In gleicher Weise, wie das „Fenster zur Welt" durch seine bald vollständige Integration in den Lebensablauf seiner Nutzer an Faszinationskraft eingebüßt hat und zu einem veralltäglichten, das heißt Gewohnheitsmedium wurde, rückten auch seine medialen Charakteristika in den Hintergrund. Die habituelle Rezeption verschob den Aufmerksamkeitsfokus von der Fernsehapparatur an sich (und seiner Wunderhaftigkeit) auf die inhaltlichen Merkmale, die wie selbstverständlich auf dem Fernsehschirm erschienen. Die Wahrnehmung der medialen Rahmungen, das Erleben der Fernsehnutzung als distinkte Handlung mit zahlreichen Voraussetzungen und Anforderungen, ist die entscheidende Determinante, um das Fernsehen als genuines Erfahrungsobjekt zu begreifen und zu erinnern. Dies jedoch wird in einem (technologisch wie thematisch) televisuell gesättigten Lebensumfeld erschwert, das durch hinzutretende Faktoren wie Ausweitung der Freizeit, die Erhöhung des Programmvolumens, die Mobilität des Fernsehempfangs und die Ordinarisierung der Fernsehnutzung durch die Möglichkeit von Neben- und Begleittätigkeiten zu Dauerkonsum einlädt und das Fernsehen als Objekt und Thema der Erinnerung zugunsten seiner Inhalte bis zur Unkenntlichkeit verschleiert. Daher muss es auch kein ausschlaggebender Faktor bei der Erinnerung an das Fernsehen sein, wenn besonders ausgiebig ferngesehen wird. Ausschlaggebend ist die Art und Weise des Rezeptionserlebens und der bewussten Rezeptionshaltung gegenüber der spezifischen Medialität des Dargestellten. Der Zuschauer ist zwar grundsätzlich als aktiver Nutzer zu verstehen, dem es allein obliegt, sich für oder gegen den Fernsehkonsum zu entscheiden und letzten Endes Sinn aus seinen Wahrnehmungen zu konstruieren, selbst

160

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

wenn die persönliche Antriebskräfte auf passive Berieselung abzielen. Es braucht aber stets eine wie auch immer geartete Bewusstseinshaltung zum Medium Fernsehen, wozu auch affektive und emotionale Faktoren beitragen wie die Zufriedenheit hinsichtlich einer erfolgreichen oder ausgebliebenen Bedürfnisbefriedigung. Erst wenn die Beweggründe und Umstände der Nutzung (oder ihres Ausbleibens) sowie auch die Art der Programminhalte die Aufmerksamkeit auf das Fernsehen als Dispositiv, also auf die mannigfaltigen Bedingungen der Realisierung von Fernsehen als Geflecht von Beziehungen zwischen „Technik, Institutionen, Programme [n], Rezeption und Subjektverständnis" (Hickethier 1995: 63), lenken (ohne freilich die vollständige Erfassung der Produktionsoder Distributionsprozesse erforderlich zu machen), kann eine Auseinandersetzung mit dem Fernsehen als Teil der Autobiographie und selbige als Medienbiographie akzeptiert und reflektiert werden.

III.4. Gemeinschaftsmedium

4.

Fernsehen

161

Gemeinschaftsmedium Fernsehen

Das Fernsehen, so umschrieb es Adolf Grimme zum Jahresbeginn 1953 anlässlich der Eröffnung des Fernsehprogramms des Nordwestdeutschen Rundfunks in blumigen Worten, sei eine „kunstvolle Schale", die sich „fortan alltäglich mit dem bunten Weltgeschehen" füllen werde. Das neue Medium könne „verschlossene Tore zum Reich des Geistes" aufstoßen, das Leben dadurch nur reicher und tiefer werden. Die Ferne werde zur Nähe und der trennende Raum überwindbar (Grimme 1953b: 63). Als Grimme in seiner Funktion des NWDR-Generaldirektors im Oktober desselben Jahres das erste Fernsehstudio der Sendeanstalt in Hamburg-Lokstedt einweihte, rekurrierte er in seiner Ansprache auf die klassische Funktion des Fernsehens, einen Blick in die Ferne zu ermöglichen. Es solle darüber hinaus aber auch helfen, den Blick des Menschen auf sich selbst, auf sein eigenes Inneres zu wenden: ,,[D]as Fernsehen wäre dann im Zeitalter des Menschen als eines anonymen Teils der Masse ein Gegenzug gegen die Entpersönlichung und damit, zuwider allem Pessimismus, gerade auch ein Instrument zur Überwindung der Vermassung" (Grimme 1953c: 78). Grimmes Schlussworte, es liege an den Fernsehverantwortlichen selbst, ob es sich dabei um ein realisierbares Potenzial oder eine schlichte Utopie handle, reichten dabei zu kurz, überging er in seinem Appell doch jene, die letztlich das, was über den Äther gesendet würde, mit Sinn versehen: die Zuschauer. Sie erst vermögen das Fernsehen zu dem Ideal avancieren zu lassen, das Grimme vorschwebte: Ein gemeinschaftliches Integrationsmedium, dessen Angebote seitens des Publikums auf Akzeptanz stoßen und angeeignet werden. Wie bereits in Kapitel III.2. erörtert, nimmt das Fernsehen eine stabilisierende Funktion für das gesellschaftliche Gemeinwesen wahr. Dementsprechend konstatiert der kanadische Medientheoretiker Derrick de Kerckhove: „Rundfunk bedeutet, Zeit und Raum miteinander zu teilen" (Kerckhove 1999: 188). Die geistige Verbundenheit mittels des technischen Empfangsgerätes macht de Kerckhove an der Angebotsgleichheit des Fernsehprogramms fest: „Indem es seine Botschaft vielen Einzelnen auf einmal sendet, besetzt das Fernsehen die einzelnen, individuellen Bewusstseinsformen zeitgleich mit einem gemeinsamen Inhalt" (ebd.). Diese Veranlagung zur Vergemeinschaftung hat das Fernsehen allein aus der Tatsache heraus, dass es Informationen an eine unbestimmte Masse an Empfanger aussendet. Relevanz erhält diese Funktion indes nur, wenn sie tatsächlich von Individuen adaptiert wird; und erst wenn der Zuschauer aus seinen Wahrnehmungen innerhalb seines persönlichen Lebenszusammenhangs Sinn konstruiert, wird das Gemeinschaftsmedium Fernsehen kenntlich: „Meine persönliche Geschichte ist wie die der gesamten Nation eng mit den Bildern und Tönen einer medial vermittelten Vergangenheit verknüpft. Meine nostalgischen Gefühle für eine andere Epoche, meine andere Epoche, beruhen nicht zuletzt auf Erinnerungen an Sendungen und Werbespots, die ich als Kind gesehen oder gehört habe. Sie sind das Rohmaterial einer Vergangenheit, die ich mit anderen Teile" (Silverstone 2007: 244).

162

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Die fast schon anekdotische Reminiszenz Roger Silverstones auf seine vom Fernsehen geprägte Kindheit liefert ein wichtiges Stichwort für die Frage nach kollektiven Gedächtnisrahmungen in, außerhalb und zwischen familiären Kontexten. Was Silverstone mit „Rohmaterial" bezeichnet, ist ein Konvolut aus mal mehr, mal weniger detailreichen und mit unterschiedlichen emotionalen Konnotationen versehenen Fernseherinnerungen, von denen er ausgeht, dass sie auch für andere Menschen eine Rolle in ihrem Leben gespielt haben. Silverstone ahnt, dass er vielen einzelnen Gruppierungen angehört, die aus einer diffusen Menge von Erinnernden bestehen, welche - unbekannter Weise - die Erinnerung an ein und dieselbe Fernsehsendung miteinander verbindet. Wer den Fernsehapparat einschaltet, tritt automatisch in einen Vorgang ein, der dem Zuschauer das latente Gefühl geben muss, nicht allein zu sein, sondern in einem unsichtbaren Kollektiv fernzusehen (vgl. Dayan 2001: 743). Diese kaum greifbare Ausprägung von diversen mit Programminhalten verknüpften Erinnerungskollektiven wird dem betreffenden Kollektivangehörigen erst dann bewusst, wenn er Hinweise auf andere Gruppenmitglieder wahrnimmt, die in der Öffentlichkeit ein scheinbar ganz persönliches Fernseherlebnis reflektieren und damit Rezipienten mit ähnlichen Erinnerungen signalisieren, dass sie nicht die einzigen sind. Zum Teil ist indes auch anzunehmen, dass Silverstone von einigen dieser Menschen und ihren übereinstimmenden Erinnerungen in persona weiß, weil er zum Zeitpunkt der Rezeption oder später mit ihnen Erfahrungen ausgetauscht hat. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, können persönlich mit anderen Menschen geteilte Erinnerungen an gemeinsame Fernseherlebnisse zu einem integralen Bestandteil des autobiographischen Gedächtnis werden. Anhand der Thematisierung von drei maßgeblichen Entwicklungssträngen der Fernsehnutzung wird die Leistung des Fernsehens erörtert, seine Zuschauer zusammenzubringen, selbst wenn es sie zu trennen scheint. Im kollektiven Erleben besteht ein Potenzial des Mediums, als emotionaler Gradmesser für die Verortung des Individuums in seinem sozialen Umfeld zu fungieren. Worauf Silverstone verweist, ist die Leistung des Fernsehens, kollektives Erleben zu ermöglichen, ohne eine räumliche Zusammenkunft erforderlich zu machen. Benedict Anderson beschreibt dies mit seinem Konzept der „imagined communities": Alle Gemeinschaften, die größer sind als ein kleines Dorf, das durch ein Sozialleben von Angesicht zu Angesicht gekennzeichnet ist, werden demnach durch die Kraft der Imagination zusammengehalten. „It is imagined because the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion" (Anderson 1991: 6). Das Fernsehen macht sich als gesellschaftliche Selbstverständigungsagentur unermüdlich als Kittmasse und Generator von imaginierten Gemeinschaften verdient. Es tritt immer dann als Gemeinschaftsstifter auf, wenn Zuschauer im kleinen und ausgreifenden Rahmen realisieren, dass sie trotz möglicher Rezeption in Einsamkeit nicht allein fernsehen, sondern sie sich zu jeder Tages- und Nachtzeit als Mitglied einer Zuschauergemeinschaft von tausenden, wenn nicht Millionen oder Aber-Millionen anderer Menschen fühlen können.

III.4. Gemeinschaftsmedium Fernsehen

163

Die synchrone Rezeption ein und desselben Programminhalts durch die zeitgleiche Ausstrahlung an alle Empfänger (abgesehen von den zeitzonenbedingt versetzten Ausstrahlungsterminen innerhalb Nordamerikas) macht dieses Gemeinschaftgefühl erst möglich und findet besonderen Ausdruck im Falle sogenannter .Straßenfeger', wenn eine bestimmte Sendung ein solches Attraktionspotenzial entwickelt, dass weite Teile der Bevölkerung vor dem Fernseher sitzen sitzen (vgl. Hickethier 1994a: 265-266): Wer bei solchen Programmhöhepunkten aus dem Fenster schaut und die Straßen wie leergefegt vorfindet, kann sich sicher sein, dass ,alle' dasselbe schauten: Die Taten des „Halstuchmörders" aus der Feder von Edgar Wallace, die beliebte Samstagabendshow, das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft usf.. Wiederum jene Passanten, welche nicht fernsehen und allein über den Boulevard spazieren, fühlen sich ausgeschlossen von der imaginierten Kollektiverfahrung durch das Fernsehen. Obgleich das ,Straßenfeger'-Phänomen in den vergangenen Jahrzehnten durch das fragmentarisierte und diversifizierte Programmfeld immer seltener beobachtet werden konnte, gibt es auch heute noch vereinzelt Sendungen, die große Teile der Zuschauerschaft vor den Bildschirmen zu versammeln vermögen wie beispielsweise Sportveranstaltungen des Formats eines „Super Bowl".45 So wurde die eine allumfassende imagined community abgelöst von einer Vielzahl interessensgeleiteter imagined

communities.

Die Vergemeinschaftungsfunktion des Fernsehens in ihren Ausformungen und Determinanten wird im Folgenden an den Beispielen der vornehmlich häuslich verorteten Familiengemeinschaft, oftmals dispers organisierten Fan-Gemeinschaften sowie die durch Zufälligkeit und Singularität gekennzeichneten Vergemeinschaftungen beim Zusammentreffen im öffentlichen Raum thematisiert. Hieran soll gezeigt werden, wie das Fernsehen auf vielseitige Weise Gemeinschaft stiftet und dadurch zur Persönlichkeitsbildung durch Einbindung des Individuums in soziale Kontexte beiträgt.

4.1.

Fernsehen in der Familie

4.1.1. Konzeptualisierung

des

Familiengedächtnisses

Kurt Tucholsky hat (unter seinem Pseudonym Peter Panter) das Phänomen der „Familienbande" einmal als Resultat einer Vertraulichkeit beschrieben, die sich entwickelt, weil „alle Beteiligten, Schulter an Schulter und Unterhose an Unterhose den Stürmen des Lebens getrotzt haben" (Panther 1929). Weiter heißt es, dass der Familienkalender seine eigene Einteilung und nur wenig mit dem gregorianischen Kalender gemein habe. 45

Höchstwerte, wie sie Serien wie „Dallas" erzielten, die bis zu 50 Mio. Zuschauer vor den Bildschirmen zu versammeln vermochten, sind indes kaum noch zu verzeichnen. Ein „Special" zur komödiantischen Militärserie „M*A*S*H" erreichte am 28.2.1983 eine Einschaltquote von 60,2 Prozent: 50,15 Millionen Zuschauer verfolgten die 150-minütige Sendung auf CBS. Eine „Dallas"Folge kam bei ihrem Ausstrahlungstermin am 21.11.1980 immerhin auf 53,3 Prozent (41,47 Mio. Zuschauer) und belegt damit den zweiten Platz in der absoluten Top 100-Listung von Nielsen Media Research.

164

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

In seiner satirischen Betrachtung der verwandtschaftlichen Lebensgemeinschaft geht es Tucholsky zwar darum, den gewohnheitsmäßigen Umgang innerhalb der Familie zu persiflieren, doch was er im Kern beschreibt, ist die Verwurzelung des Einzelnen in familiäre Kontexte, die einen Menschen von Geburt an prägen, vor allem in seiner „emotionalen, in der selbstverständlichen Erinnerungsgemeinschaft der Familie erworbenen Geschichtsgewissheit" (Bergem 2005: 289). Maurice Halbwachs sah in der familiären Lebensgemeinschaft das Beispiel der gefestigsten Form einer sozialen Gruppe, die durch ein „zugleich dunkles und präzises Gefühl" verbunden sei (Halbwachs 1985:205). Das Kollektivgedächtnis der Familie fungiert nach Halbwachs als maßgebliche Sozialisationsinstanz für das heranwachsende Individuum. Durch die Vertrautheit des Familienkreises sind familiär geteilte Erinnerungen „gleichzeitig Modelle, Beispiele und eine Art Lehrstücke. In ihnen drückt sich die allgemeine Haltung der Gruppe aus; sie reproduzieren nicht nur ihre Vergangenheit, sondern sie definieren ihre Wesensart, ihre Eigenschaften und ihre Schwächen" (ebd.: 209-210). Schon bei Halbwachs kulminieren unterschiedliche Auffassung des Familienbegriffs zu einer auf einer gemeinsamen Herkunftsvergewisserung fußenden Definition einer nicht nur blutsverwandtschaftlich verbundenen Lebensgemeinschaft, die in einem gemeinsamen Haushalt leben kann, aber nicht muss, sich jedoch unbedingt durch eine besonders intime Form der sozialen Bindung, die in einer „Gesellschaft mit Sorgfalt festgelegt" (ebd.: 206) wurde, auszeichnet (vgl. Familienbegriffe bei Fuhs 2007: 25). Die Stärkung der Gruppenidentität über den Tod einzelner Familienmitglieder hinaus wird durch die Erinnerungspraxis gewährleistet, die zu einem „mehr oder weniger mystischen Symbol des gemeinsamen Gutes" avanciert (Halbwachs 1985: 210). Die Erinnerung an Elemente der Familiengeschichte versteht Halbwachs als ,,traditionelle[.] Ausrüstung der Familie" (ebd.). Dabei steht die integrative Funktion des Erinnerungsprozesses für das Familienwohl im Vordergrund, indem dieser jeweils an die gegenwärtigen Bedürfnisse der Individuen im Kontext ihrer Verortung innerhalb der Familie angepasst wird (vgl. ebd.: 231). So hat jedes Mitglied seine ganz eigenen Vorstellungen von den Verwandten, pflegt also .Erinnerungsbilder', die sich durch das lange, enge Zusammenleben entwickelt haben (ebd.: 224-225). Sie sind indes nicht statisch, sondern wandeln sich dynamisch mit den wechselnden Einflüssen, denen das Individuum im Laufe seines Lebens unterliegt. Halbwachs hat bereits daraufhingewiesen, dass jeder Mensch an einer Vielzahl von Gruppen beteiligt ist und damit ganz unterschiedliche Erinnerungen mit einer dispersen Zahl und Art von Mitmenschen teilt. So sind Familienerinnerungen nie unabhängig von gesellschaftlichen Einflüssen zu erklären: Die Familie ist keine abgeschlossene Einheit, sondern muss ihre Identität ebenso wie ihre Integrität gegen und mit äußeren Einflüssen neu verhandeln: „Wir erweitern unser Familiengedächtnis, indem wir beispielsweise die Erinnerungen aus unserem Leben in der Gesellschaft hinzutreten lassen. Oder wir stellen unsere Familienerinnerungen in diejenigen Bezugsrahmen, unter denen unsere Gesellschaft ihre Vergangenheit wiederfindet. Das heißt soviel wie unsere Familie vom

III.4. Gemeinschaftsmedium Fernsehen

165

Standpunkt der anderen Gruppe ansehen oder umgekehrt, und zugleich mit den Erinnerungen die Denkweisen dieser und jener miteinander verbinden. Mal hat der eine, manchmal der andere dieser Rahmen die Oberhand, und man wechselt sein Gedächtnis zugleich mit seinen Gesichtspunkten, seinen Prinzipien, seinen Interessen, seinen Urteilen, wenn man von einer Gruppe in die andere übertritt" (ebd.: 239). Nach Halbwachs ist die Familie einerseits in ihrer ,,eigene[n] Logik" der gesellschaftlichen Traditionen relativ ähnlich, da sie aus ihnen heraus entstamme und mit ihnen leben müsse, andererseits entwickele sie auch ganz eigene besondere Erfahrungen, u m ihren Zusammenhalt und ihre Kontinuität zu sichern (vgl. ebd.: 242). Dies geschieht mithilfe bewusster und unbewusster Vergewisserung der gemeinsamen Vergangenheit. Jede Familie pflegt ihre Erinnerungsschätze, sei es solche an gemeinsam gemeisterte Krisen, fröhliche Familienfeste, aber auch störende Interventionen von außen. All das trägt seinen Teil zur Festigung familiärer Bande bei. „Eine Eigenschaft des individuellen Gedächtnisses wäre vor diesem Hintergrund, dass jede Vergangenheit, die in den generationellen Kommunikationszusammenhang der eigenen Familie hereinragt, von .sozialen Markern indexiert ist - das heißt, neben dem Schulwissen und den Informationen aus den Medien existiert ein Bild von der Vergangenheit, das aus der direkten, persönlichen Kommunikation resultiert, und dieses Bild ist vor dem Hintergrund seiner sozialen Entstehungsgeschichte ein emotionales Bild, nicht Wissen, sondern Gewissheit" (Welzer 2002a: 157-158). Jede Familie verfügt also auch über ein soziales Gedächtnis nach der Welzerschen Definition (Welzer 2001a): Unbeabsichtigt vermittelte, intuitiv wahrgenommene Vergangenheitsbezüge, die durch das Zusammensein von Jung und Alt in steter Kontinuität gelebt und erlebt werden, wie auch durch .stumme Zeugen der Familiengeschichte spürbar sind wie zum Beispiel der alte Anzug des Großvaters, das längst durch Umzug verlassene Elternhaus oder ein urtümlicher Ausspruch, für den ein verstorbenes Familienmitglied bekannt war und der n u n scheinbar gedankenlos von den Eltern - oder einem selbst - hin und wieder repitiert wird. Das .Gedächtnis' einer Familie, das es in seiner begriffsstatischen Entität freilich nicht geben kann, ist stets auf die Rekonstruktionsleistung der individuellen Erinnerungsfähigkeit und -bereitschaft angewiesen, u m seine integrative Funktion zu erfüllen. Bleibt die Aktivierung familiärer Erinnerungen aus, können im Familiengedächtnis als Sammelbegriff für die Summe aller möglichen familieninternen Vergangenheitsbezüge mit der Zeit Lücken entstehen und bestimmte Elemente vollkommen in Vergessenheit geraten. Halbwachs sah die Notwendigkeit der aktiven Erinnerungsarbeit auch im familiären Kreis für die Sozialisation des Einzelnen im gesellschaftlichen Gesamtgefüge durch mündliche Überlieferungen von Familiengeschichten erfüllt. Obwohl einer Familie schon zu Halbwachs Lebzeiten eine Vielzahl von Erinnerungsmodi und -medien zur Verfügung standen - hier sei allgemein auf schriftliche, dinghafte oder rituelle Hilfsmittel verwiesen - sind es auch heute noch in erster Linie Gespräche, die eine narrative Kon-

166

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

textualisierung von Erinnerungsfragmenten möglich machen und Sinn erzeugen. Wie gezeigt wurde, sind Erinnerungen aus dem autobiographischen Informationsbestand vor allem identifizierbar durch Kommunikation: Erinnerungen werden in verständlichen narrativen Einheiten zwischenmenschlich kommuniziert. Welzer hält dabei die kommunikative Flexibilität bei der Elaboration von Erinnerungen für ein wichtiges Merkmal, u m jederzeit Sinn erzeugen zu können. Somit seien es weniger inhaltliche Gesichtspunkte, sondern vor allem die emotionale Dimension des Erlebten, welche die Vorstellung und Deutung der Vergangenheit leite und kommunikativ weitergegeben werde (Welzer 2002a: 217). So sehr der Mensch ein sozialisiertes Wesen ist (ebd.: 215), wird auch sein Gedächtnis durch die Interaktion mit anderen Individuen geprägt. Welzer und Markowitsch sehen das autobiographische Gedächtnis daher auch als ein „biokulturelles Relais zwischen Individuum und Umwelt", das der sozialen Synchronisierung dient: „Die Gedächtnisentwicklung verläuft vom Sozialen zum Individuellen - vom Säugling zum Kleinkind, das ohne episodisches Gedächtnis in einem Universum des So-Seins existiert und die Quellen von Erinnerungen nicht unterscheidet, zum Vorschulkind, das über wachsende temporale Differenzierungen eine Situierung seines Selbst in der Zeit gewinnt und schließlich über den Spracherwerb und ein kognitives Selbst ein autobiographisches Ich gewinnt, das die früheren und künftigen Erfahrungen in einer Lebensgeschichte integriert, die sozial und individuell zugleich ist" (Welzer/Markowitsch 2005: 261). Wie das autobiographische Gedächtnis an sich sind also auch Familienerinnerungen angewiesen auf die Einbettung in einen lebensweltlichen Gesamtzusammenhang. Ansonsten bleiben sie bloße Merkzeichen ohne Verweisziel, zusammenhanglose Blicke in eine nur scheinbar familiäre, doch eigentlich fremde Vergangenheit, die ohne narrative Rahmung keinen Sinn ergeben (vgl. Horstkotte 2003: 283, 293). Die Tradierung von Familiengeschichten dient somit als Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung der Nachkommen, die sich ihrer Herkunft und ihrer familiären Identität zu vergewissern suchen, u m darauf ihre Lebensentwürfe zu entwickeln (vgl. De Vos/Harris/Lottridge 2003:18). 4.1.2. Fernsehen als familiärer

Integrationsfaktor

Seit der Einführung der klassischen Medien sind die Wissen vermittelnden und die Kommunikation erleichternden Techniken von vornherein verdächtig, familiäre Bindungen zu lockern und die einzelnen Mitglieder auseinanderzubringen. Die Furcht vor der Vereinsamung des Rezipienten wird festgemacht am Rezeptionsprozess selbst, der durch die Konzentration auf die Aneignung der Medieninhalte zur Verschlossenheit und Isolation führe: „Wenn die Schriftlichkeit der Literatur den einsamen Leser hervorgebracht hat und damit ein Problem zuallererst erzeugt hat, als dessen Lösung sie sich anbietet, so gilt das in dramatisch verschärfter Weise für die neuen Medien. Walkman, Fernseher und Computer vereinsamen und vernetzen zugleich. In dem sie das Ich .befreien

III.4. Gemeinschaftsmedium Fernsehen

167

sowohl vom Hang oder Zwang zur Geselligkeit als auch von der Einsamkeit mit sich selbst, befördern sie einen neuen Typ mediengestützter Einsamkeit und modellieren ein neues Menschenbild. Ist .verkabelte Autarkie' im Sinne von Bindung als Vernetzung, Freiheit als Selbstbestimmung die Formel der Zukunft?" (Assmann/Assmann 2000: 26 - Hervor, im Orig.). Dass das Fernsehen schon bald nach seiner Etablierung zu einem Anlass für Angst vor Isolation und Individualisierungstendenzen in der Familie werden sollte, war zumindest in seinen Anfangsjahren noch kaum gerechtfertigt. War die Buchlektüre schon immer als individuelle Handlung angelegt, die (abgesehen vom Vorlesen) automatisch zur Separierung von der sozialen Umgebung führt, ist dies beim Fernsehen nicht gegeben. Fernsehen war von Beginn an ein Gemeinschaftsmedium, das für eine Rezeption in der Gruppe konzipiert war. Das Empfangsgerät ermöglicht das gleichzeitige gemeinsame Verfolgen der Fernsehübertragung, auch wenn die sichtbaren Bildflächen in den Anfangsjahren nur sehr begrenzte Ausmaße aufwiesen. Dabei unterschied es sich nur scheinbar kaum von den maßgeblichen Charakteristiken der Wahrnehmung im Kino: Mehrere Personen sind ein und demselben Bewegtbildangebot ausgesetzt. Doch wie Knut Hickethier anmerkt, zeichnet das Fernsehen vor allem seine Flexibilität und Offenheit in den Möglichkeiten seiner Nutzung aus: „Die Anordnungsstruktur des Fernsehens hat die Möglichkeit vieler verschiedener Rezeptionshaltungen geschaffen, die jede für sich intensiv eingenommen werden können. Die Flexibilität des Zuschauerverhaltens und die Multifunktionalität des Angebots sind spezifische Eigenschaften des Dispositivs Fernsehens. Eine Festschreibung auf eine Nutzungsweise, auf eine Eigenschaft des Programmangebots verkennt die Besonderheit des Fernsehens und das, was dieses Medium so geeignet macht für Machterhalt und Gewährleistung gesellschaftlicher Kommunikation, Bedürfnisbefriedigung und emotionaler Steuerung" (Hickethier 1995: 74). Fernsehen ist zuallererst ein Zuhausemedium. 46 Roger Silverstone sieht darin „a powerful concept" (vgl. Silverstone 1994a: 26), dessen Bedeutung sich aus der physischen Existenz des Fernsehapparates und der Wahlfreiheit des mit ihm empfangbaren Programms zusammensetzt. Damit werde ein „sicherer Container" (vgl. ebd.: 31) für die familiäre Privatsphäre ermöglicht - und somit eine Rezeption in jener Vertraulichkeit, welche die Sozialbeziehungen innerhalb der Familie kennzeichnet. Das Fernsehen brachte die Familie nicht auseinander, sondern zusammen, und zwar vor der zentralen „elektronischen Feuerstelle" (vgl. Konrad 1998: 37; Tichi 1991). Das Fernsehgerät wird bis zum heutigen Tage überwiegend an zentraler, gut einsehbarer Stelle im Wohnzimmer eines Haushalts platziert, dort wo die inhäusige Freizeitgestaltung stattfindet, wo die Familie ihre sozialen Kontakte zur Gesellschaft kanalisiert, indem Freunde, Bekannte, auch Fremde em46

Das Fernsehen kann als „Zu-Hause-Medium" bezeichnet werden, da es vornehmlich in den eigenen vier Wänden genutzt wird. Nur zwei bzw. drei Prozent der Befragten nutzen das Medium unterwegs bzw. am Arbeits- oder Ausbildungsplatz oder in der Schule/Universität (Berg/Ridder 2002: 56).

168

III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

pfangen werden, und sie sich damit im Kontrast mit der Außenwelt definiert bzw. die Außenwelt in Gestalt der unüberschaubaren Informationsfülle der Fernsehbotschaften in das Familienleben insoweit integriert, wie es in ihr zeitgemäßes Welt- und Selbstverständnis passt (vgl. Keppler: 1994: 252). Dies geschieht beispielsweise auch durch die gemeinsame Fernsehrezeption, so zum Beispiel in den 1950er Jahren, als die Geräteversorgung in Nordamerika und Deutschland noch wenig ausgeprägt war und Einladungen zum Fernsehabend eine besondere Sympathiebekundung ausdrückte (vgl. Hickethier 1998:93). Zur Einführung des Farbfernsehens mit hohen Gerätepreisen wiederholte sich das Phänomen, obgleich darin weniger das Bedürfnis gemeinschaftlichen Zusammenseins als vielmehr Neugier an der technischen Neuigkeit gesehen wurde (Eurich/Würzberg 1983a: 95). Auch wenn damit die Erweiterung des kleinen Familienkreises durch die „Invasion" von Bekannten und Verwandten (ebd.) einen offenbar fahlen Beigeschmack erhält, erwies sich das Medium gerade dadurch als fähig, die Familienidentität durch die Inbezugsetzung mit der Außenwelt zu stärken. Lull bezeichnete die Familie auch als „natural viewing group" (Lull 1990b: 147), womit er auf die Fernsehnutzung als soziales Geschehen hinwies, das im familiären Kontext als Muster sozialer Relation stattfindet und nicht als bloß individuelle Aktivität einzelner Familienmitglieder verstanden werden kann (vgl. auch Morley 1996:42). Das Fernsehen begleitete als Alltagsmedium schon bald sämtliche Aspekte des Familienlebens: von der Erziehung der Kinder über die Unterhaltung im Laufe des Tages bis hin zum abendlichen Entspannen nach dem Arbeitstag. Mit der rasanten Durchdringung der Lebenswelt durch das Fernsehen wurden indes bewährte Familientraditionen auf die Probe gestellt: „The introduction of the machine into the home meant that family members needed to come to terms with the presence of a communication medium which might transform older modes of family interaction" (Spigel 1990: 73). Die Um- und Neuformierung familiärer Bräuche durch den Einzug des Fernsehens in die familiäre Sphäre trat einerseits ein teilweiser Wandel bei der Begehung bestimmter Feste ein, andererseits fungierte das Fernsehen in diesem Prozess nicht als Zwang, sondern als Angebot, das von den jeweiligen Familienmitgliedern zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse in die Ritualpraxis integriert wurde: „Television may have provided a new content for domestic and national rituals, but it essentially preserved both their traditional form and their function" (Silverstone 1994a: 21). Dass das Zusammensein vor dem Fernsehapparat trotz zahlreicher inhaltlicher Kritikpunkte bei den Zuschauerpionieren Mitte der 1950er Jahre zum überwiegenden Teil als positiv für das Familienleben bewertet wurde, sehen Claus Eurich und Gerd Würzberg als einen Hinweis darauf, dass große Familienfeste wie Weihnachten schnell zu „innerhäuslichen Fernsehfestivals" avancierten (vgl. Eurich/Würzberg 1983a: 91-92). Zudem entwickeln Familien mit der Ausformung von fernsehspezifischen Rezeptionsritualen Ordnungsstrukturen, die sich aus mikrosozialen und makrosozialen Regeln ergeben: Durch regelmäßige Aktivitäten im Familienkontext wie zum Beispiel die Anreicherung des Rezeptionsvorgangs in Form eines Zelebrierens, das gewissermaßen für das Brav-Sein der Kinder oder die persönlichen Leistungen eines harten Arbeitstages beloh-

III.4. Gemeinschaftsmedium

Fernsehen

169

nen soll, wird die emotionale Gratifikation des familiären Rituals mit der kulturellen Signifikanz des Fernsehens kombiniert (vgl. Lull 1990b: 150). Das Fernsehen wird somit in die Familiengeschichte integriert, wodurch Familiengeschichte auch zu einem gewissen Teil Fernsehgeschichte wird. Ausschlaggebend ist dabei freilich die Art und Weise der Integration des Fernsehens als gesamtfamiliäre Aktivität. Die Familie ist in Anbetracht der mediumspezifischen Nutzungsvoraussetzungen mehr als zuvor gefordert, ihre Mitglieder bei der gemeinschaftlichen Aktivität zu mobilisieren, um tatsächliche Interaktion herzustellen. Der Kulturkritiker Günter Anders warnte diesbezüglich vor der Gefahr einer Zersprengung des Bewusstseins von einem Miteinander hin zu einem bloßen Nebeneinander: „Schon vor Jahrzehnten hatte man beobachten können, dass das soziale Symptommöbel der Familie: der massive, in der Mitte des Zimmers stehende, die Familie um sich versammelnde Wohnzimmertisch seine Gravitationskraft einzubüßen begann, obsolet wurde, bei Neu-Einrichtungen überhaupt schon fortblieb. Nun erst hat er, eben im Fernsehapparat, einen echten Nachfolger gefunden; nun erst ist er durch ein Möbel abgelöst, dessen soziale Symbol- und Überzeugungskraft sich mit der des Tisches messen darf; was freilich nicht besagt, dass TV nun zum Zentrum der Familie geworden wäre. Im Gegenteil: was der Apparat abbildet und inkarniert, ist gerade deren Dezentralisierung, deren Ex-Zentrik; er ist der negative Familientisch. Nicht den gemeinsamen Mittelpunkt liefert er, vielmehr ersetzt er diesen durch den gemeinsamen Fluchtpunkt der Familie. Während der Tisch die Familie zentripetal gemacht und die um ihn Sitzenden dazu angehalten hatte, Weberschiffchen der Interessen, der Blicke, der Gespräche hin und her spielen zu lassen und am Tuche der Familie weiter zu weben, richtet der Bildschirm die Familie zentrifugal aus. Tatsächlich sitzen ja die Familienmitglieder nun nicht einander gegenüber, die Stuhlanordnung vor dem Schirm ist bloße Juxtaposition, die Möglichkeit, einander zu sehen, einander anzusehen, besteht nur noch aus Versehen; die, miteinander zu sprechen (wenn man das überhaupt noch will und kann), nur noch durch Zufall. Nicht mehr zusammen sind sie, sondern nur noch beieinander, nein nebeneinander, bloße Zuschauer" (Anders 1980b: 105-106). Anders bestätigt in seiner Fundamentalkritik die zentrale Funktion des Fernsehens als Ersatz für den bisherigen Mittelpunkt des Familiengeschehens, suggeriert aber gleichzeitig, dass es durch die zentrifugale Sitzposition der Familienmitglieder um den Fernsehapparat herum nicht mehr möglich sei, am Tuche der Familie weiter zu weben, und meint vermutlich das Weiterspinnen von lebendig gehaltenen Traditionen und impliziert damit eine innere Entfremdung. Dass das Fernsehen schon in seiner Anfangszeit vieles ersetzte, was zuvor von der Großfamilie und andere Sozialisationsgruppen bzw. -orte wie den Marktplatz oder die Eckkneipe erfüllt wurde (vgl. Boeckmann/Hipfl 1990: 75), ist von der Kulturkritik als Beeinträchtigung althergebrachter Familienfunktionen gedeutet worden (vgl. Bachmair 1996: 204). Wenn das Fernsehen den „Kreis der Familie zum Halbkreis" macht (Boeckmann/Hipfl 1990: 75), muss dies Kommunikation ebenso wenig verhindern - obgleich dies geschlussfolgert wurde (Comstock 1978: 13) - wie das

170

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

gemeinschaftliche Miteinander verschiedener Generationen. Fernzusehen dient vielen Familien als Brücke zwischen Kindern und ihren Großeltern: Da Senioren gemeinhin über viel Zeit für den Mediengebrauch verfügen, bieten sie sich nicht zuletzt häufig als Beschäftigungsmöglichkeit für die Kinder berufstätiger Eltern an. Durch das Gemeinschaftserlebnis wird Nähe aufgebaut und familienrelevante Erinnerungen - direkt und indirekt - tradiert. Maletzke hält die auch bei Anders zu findende Gleichsetzung des Familienlebens mit Formen der Gesprächskultur für problematisch (Maletzke 1988: 78). So führe das Fernsehen keinesfalls pauschal zu einer Sprachlosigkeit, sondern liefere allerhand Gesprächsstoff für die persönliche Kommunikation in der Familie (vgl. ebd.: 80). Fernsehangebote können auch als Stimulanz für Anschlusskommunikation verstanden werden (Rager/Werner/Oestmann 1999: 64). Lull sieht darin gar das konstitutive Merkmal des Fernsehpublikums. „It is through talk about television that the audience is constituted in certain ways" (Lull 1990b: 148). Die verbale Rekapitulation des gemeinsamen Fernseherlebens im Nachhinein oder währenddessen kann als Katalysator und wichtiges Verständigungsform bei der Verarbeitung der Sinneseindrücke im Rahmen des familiären Miteinanders gewertet werden. Gleichwohl merkt Mikos an, dass das Fernsehen auch als Katalysator für Kommunikationsdruck innerhalb der Familie fungieren kann, indem es die einzelnen Mitglieder durch das Einschalten des Fernsehapparates von der Verpflichtung zur persönlichen Kommunikation befreit (Mikos 2001: 69). Wie Angela Keppler ausführlich dargelegt hat, dient das Fernseherleben Familien als gemeinsamer Erfahrungshorizont, der mittels „erinnernder Rede" gespannt wird: „Das Medium Fernsehen, so könnte man sagen, liefert der Gruppe gleichsam ein Stück gemeinsamer Wirklichkeit, jedoch nicht frei Haus, sondern auf Rechnung: auf eine Rechnung, die durch die gesprächsförmige Aneignung der Sendung zu begleichen ist. Um sozial wirksam zu werden, müssen die Produkte der Medien - oft nicht nur einmal, sondern vielmals - durch das Nadelöhr der alltäglichen Kommunikation. Die Beiträge dieses öffentlichen Mediums, die nicht nur allen Gesprächsteilnehmern, sondern darüber hinaus allen Gesellschaftsmitgliedern allgemein zugänglich sind, werden in dieser Kommunikation noch einmal für diese, jeweilige, individuelle Runde zugänglich gemacht: als etwas, auf das sich künftig alle gemeinsam werden beziehen können" (Keppler 1994a: 251). Fernseherlebnisse sind, so Keppler, an sich keine „Eigenerlebnisse" (vgl. ebd.: 253), sondern müssen erst von der Familie einen Platz im gemeinschaftlichen Kontext zugewiesen bekommen und mit intimen Bedeutungen aufgeladen werden, um in den „moralischen Haushalt" der Familie (vgl. ebd. 33) integriert und erinnert zu werden. Die Leistung des Fernsehens innerhalb der Familiengemeinschaft ist also zuallererst eine verbindende - während und nach dem Rezeptionsprozess. Der Familie kommt dabei eine Schlüsselfunktion bei der Heranführung an das Medium und den ersten prägenden Kindheitserfahrungen zu. Über die Fernsehrezeption werden nicht nur programminhaltliche Aspekte zu Erinnerungen, sondern vor allem auch die Rezeptionssituation, die

III.4. Gemeinschaftsmedium

Fernsehen

171

weit mehr vermittelt als die auf das Fernsehen bezogenen Eindrücke. Wie jede Familienaktivität ist diese im idealtypischen Fall gekennzeichnet durch hohe Emotionalität, Gratifikationsbedürfnisse vielfältiger Art und die Vertrautheit des Zusammenseins. Mittels neu geformter oder adaptierter Rituale instrumentalisieren Familien das Fernsehen zum Zwecke der Vergewisserung an ihre gemeinsame Vergangenheit und setzen sie zugleich mit kulturellen Einflüssen aus dem gesellschaftlichen Umfeld in Bezug. So fungiert die Familie als Kulminationsumgebung für die Verarbeitung und Kompatibilisierung jeglicher interner und externer erinnerungsevozierender Elemente, bei deren Umsetzung das Fernsehen als binnenfamiliäre Mediatisierungsinstanz dient, indem es die Familie zusammenbringt, ihr Gesprächsstoff gibt und dadurch einen gemeinschaftlichen Bezug zur Außenwelt bietet. So vergewissert sich die Familie einerseits ihrer gemeinsamen Fernsehvergangenheit, erweitert aber auch durch die Fernsehnutzung stetig ihr Wissen von der Welt und wird dazu angeregt, in gleichem Maße ihre Ansichten von bestimmten Themen und Werten zu adjustieren. Dadurch begibt sich die Familie in einen ausgreifenden Vergemeinschaftungsprozess (ebd.: 263), der ihr die Anschlussfähigkeit an ihre sozio-kulturelle Umwelt ermöglicht, ohne ihre Identität aufzugeben. 4.1.3. Gedächtniswandel

durch

Individualisierung

Die Veralltäglichung des Fernsehens hat in Kombination mit dem Einzug mehrerer Geräte in den Durchschnittshaushalt nicht zu einer Reduzierung der Nutzung geführt, sondern zu einer Verfestigung der Nutzungsgewohnheiten und des Status des Fernsehgerätes als Familienmitglied bzw. „Hausgenosse" (vgl. Boeckmann/Hipfl 1990: 75). Doch nahm es bald als vollintegriertes Beschäftigungsinstrument nicht mehr die herausragende Stellung ein, die es noch bis in die 1960er Jahren hinein innehatte. Schon in den 1970ern hat es Tendenzen gegeben, die darauf schließen ließen, dass das Fernsehen nur noch selten als Familienmedium eingesetzt wurde (Buß/Darschin 2004:19). In den 60er Jahren warb die Elektronikindustrie unter dem Vorwand eines vermeintlichen Fortschritts durch die Implementierung von Kopfhöreranschlüssen in die Fernsehgeräten dafür, .gemeinsam einsam bzw. „zusammen und doch allein" fernzuschauen (vgl. Eurich/Würzburg 1983a: 35-36). Der Trend zum individuellen Schauen hat sich seitdem kontinuierlich fortgesetzt (Weiß 2001:252). Vor allem in den Jahren der massiven Verbreitung des Fernsehens waren allerlei gesellschaftliche Ängste wie gesundheitsschädigende Auswirkungen des Fernsehkonsums, aber auch der sozialen Isolation verbreitet (vgl. Schneider 2004: 217). Die Anschaffung von Zweit- und Drittgeräten vornehmlich für den jugendlichen Nachwuchs, aber auch in kinderlosen Haushalten hat zu einer verstärkt voneinander getrennten Rezeption von Fernsehprogrammen in Familien geführt: „[Television watching is becoming a solitary occupation. Family members, instead of selecting and watching a programme together, isolate themselves from on another to watch the programmes of their choice alone. There are some wonderful programmes for family viewing, but they should not be used to take the place of mouth-to-

172

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Femsehens

ear, eye-to-eye, and face-to-face communication - family storytelling" (De Vos/Harris/Lottridge 2003: 11). Der beklagte Rückgang gemeinschaftlicher Fernsehnutzung zugunsten eines freiheitlichen Umgangs jedes einzelnen Familienmitglieds, aus dem bereits früh eine wachsende Familienkluft zwischen Erwachsenen und Kindern gefolgert wurde (Comstock 1978:14), hat zweifellos erhebliche Konsequenzen für die miteinander geteilte Lebenserfahrung und Weltwahrnehmung. Fernsehnutzung kann indes nie unter Ausschluss lebensweltlicher Faktoren wie berufliche Belastungen oder die familiäre Situation bewertet werten. In der Frage, welchen Voraussetzungen die Individualisierungstendenzen im Fernsehverhalten zugrunde liegen, sind solche pragmatischen Beweggründe häufig ausschlaggebend und die Entscheidung, alleine fernzusehen, eine sekundäre Folge. Fernsehrelevante - also sich auf den Rezeptionskontext beziehende und während des Rezeptionskontextes vermittelte - Familienerinnerungen werden dadurch entweder aufgrund fehlender Aktivierung geschwächt oder ihre Bildung von vornherein verhindert, so dass sich die Vergemeinschaftungsfunktion des Fernsehens ebenso wie die Einwirkung der Nutzung vom Familiengedächtnis in entsprechendem Ausmaß auf außerfamiliäre Gruppengedächtnisse verlagert. Anschlusskommunikation findet weiterhin statt, aber verstärkter in familienfremden Kontexten. Während die Erwachsenen Fernseherfahrungen mit Freunden, Arbeitskollegen oder Vereinsmitgliedern teilen, tauschen sich Kinder und Jugendliche mit Gleichaltrigen in der Schule oder im Zuge gemeinsamer Freizeittätigkeiten aus. Auch ist bei Jugendlichen die Kommunikation während des Rezeptionsvorgangs an sich üblich, beispielsweise per Telefon, Handy-Kurzmitteilungen oder Computer. Die Eltern als Vermittler und Moderatoren des Familiengedächtnisses sehen sich also mit fortschreitendem Alter ihrer Kinder in Konkurrenz mit anderen Gruppengedächtnissen. Da jedes Individuum indes weiterhin im Kontext seiner familiären Sozialisation handelt, und sei es als rebellischer Gegenentwurf (Macha/Witzke 2008: 243), verändert es durch die Öffnung nach außen seine Perspektive auf die Familienbelange, einschließlich ihrer Traditionen. Mit Halbwachs ließe sich sagen: Der „Ausblickspunkt" auf das Familiengedächtnis wird verlagert (Halbwachs 1967: 31), und zwar so sehr, wie sich die jeweilige Person in anderen Gruppenkontexten bewegt, erinnert und ihnen höhere Priorität zuschreibt. Diese gemeinhin im Laufe des Lebens wechselnden Gruppenkontexte können mit John Fiske übergreifend als soziale Formationen beschrieben werden, die „sich um eine Fernsehsendung und um eine Reihe gemeinsamer Interessen" bilden (Fiske 1999: 245). Fiske beschreibt am Beispiel der US-amerikanischen Fernsehserie „Eine schrecklich nette Familie", wie solche Formationen von Jugendlichen als Gelegenheiten wahrgenommen werden, sich respektlos gegen die eigene Familie aufzulehnen, um damit altersspezifische Machtstrukturen zu hinterfragen und im Kreis gleichrangiger Akteure ihre Eigenständigkeit zu entdecken und zu propagieren (vgl. ebd.: 244). So kann es als ganz natürlich angesehen werden, dass Jugendliche sich im Zuge des Ablösungsprozesses von den Eltern in ihrer Fernsehnutzung an anderen Maßstäben orientieren, als es bisher im Fami-

III.4. Gemeinschaftsmedium

Fernsehen

173

lienkreis üblich war. Für sie nimmt immer mehr an Bedeutung zu, mitreden zu können, wenn die Sprache auf das neueste Fernsehprogramm und Erfahrungen mit vergleichbaren Formaten kommt (vgl. auch Eurich/Würzberg 1983a: 108). Gleichwohl schöpfen sie aus ihren lieb gewonnenen oder auch negativen Fernseherfahrungen, die sie während ihrer Kindheit mit ihrer Familie gesammelt haben und ihren Teil zur Wertevermittlung beigetragen haben. Das Fernsehen kann zudem als eine der Triebfedern für die Etablierung flexibler Vergemeinschaftungsformen angesehen werden. Indem es dem Zuschauer von klein auf den Zugang zu den in der Gesellschaft zirkulierenden Zeichen gewährt, und damit den sozialen Wandel nicht nur begleitet, sondern auch befördert (Schatz 1996), trug es dazu bei, traditionelle Gemeinschaftsstrukturen durch die Sprengung von Informationshierarchien aufzulösen und stattdessen posttraditionale Vergemeinschaftungen zu ermöglichen. Darunter ist mit Ronald Hitzler die „Ablösung von Individuen aus vorgängigen, biographiedeterminierenden Verbindlichkeiten" zu verstehen (Hitzler 1998: 81). Ersetzt werden sie mit der frei gewählten Zugehörigkeit zu bestimmten „Teilzeit-Gesellungsformen" (ebd.: 85), die jederzeit durch das einzelne Mitglied wieder gelöst werden kann. Die Gemeinschaft hat nur so viel Macht über das Individuum, wie es ihr selbst zubilligt (ebd.). Aus dem Prinzip der Freiwilligkeit folgt auch die potenziell hohe Engagementbereitschaft innerhalb solcher Gemeinschaften, da weniger aus existenzieller Notwendigkeit gehandelt wird, sondern aus emotionalen Beweggründen. Dahinter steckt in der Regel eine Idee, wie Hitzler schreibt: eine Imagination „individualisierter Existenzbastler, die auf der Suchenach (irgend-) einer Sinnheimat [...] im Wanderzirkus (irgend-) einer posttraditionalen Gemeinschaft einen [...] Unterschlupf finden (können)" (ebd.: 87-88). Obgleich oder vielmehr weil solche Mitgliedschaften in der Regel nicht von Dauer sind, weil das Schicksal der Gruppe von den labilen Stimmungen innerhalb der Gemeinschaft abhängig ist und daher den gesuchten sicheren Unterschlupf nicht bieten kann, stellen sie für Heranwachsende eine willkommene Möglichkeit dar, sich im außerfamiliären Sozialgefüge zu verorten, in Selbstbestimmung Geschmäcker und Überzeugungen auszutarieren und in fremde Gedächtniswelten einzutauchen, kurzum: den eigenen Erfahrungshorizont im gemeinschaftlichen Umfeld mit Fremderfahrungen zu messen und zu erweitern. Vor allem Jugendliche (aber nicht sie ausschließlich) zeigen sich empfänglich für soziale Aktivitäten im Kreis von Gleichgesinnten, da die traditionellen Wertvermittlungs- und Sozialisationsinstanzen wie zuvorderst die Familie zur Beantwortung drängender Lebensfragen und zur Bedürfnisbefriedigung in einem immer komplexeren Gesellschafts- und Kommunikationsgefüge kaum noch zu leisten im Stande sind (vgl. Hitzler/Bucher/Niederbacher 2005: 17). Die Fernsehnutzung im Jugend- und frühen Erwachsenenalter geht zwar wegen der Bewältigung wichtiger Lebenszäsuren (Schulabschluss, Auszug aus dem Elternhaus, Eintritt ins Berufsleben) und dem damit verbundenen Zeitaufwand etwas zurück, doch dienen bestimmte Medien- und speziell Fernsehinhalte durch die Affinität zu jugendlichen Zuschauern besonders häufig als Anlass zur posttraditionalen Vergemeinschaftung. Wie

174

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Greenberg und Dominick bereits in den 1960er Jahren gezeigt haben, lassen sich anhand der Ermittlung von Fernsehpräferenzen interessante Schlussfolgerungen hinsichtlich sozialer Unterschiede und Gemeinsamkeiten treffen (Greenberg/Dominick 1968). So können auch Fernseherinnerungen - zum Beispiel in Form von .Expertenwissen über eine bestimmte Sendung, das durch eifrige Rezeption angeeignet wurde - sowohl als Mittel zur Abgrenzung als auch zur Annäherung an soziale Gruppen fungieren. Das Fantum ist eine ausgeprägte Form dieser Affirmations- bzw. Distinktionsbestrebungen.

4.2.

Posttraditionale

4.2.1. Konzeptualisierung

Vergemeinschaftung von Fan-Gruppen als

am Beispiel von

Fernsehfans

Erinnerungsgemeinschaften

Bei der Suche nach Ersatz für deteriorierte Sozialgefüge wie der traditionellen Familiengemeinschaft wird mit der Eruierung von Optionen der „Wiedervergemeinschaftung" (Hitzler 1998: 82) versucht, Sicherheit und Kontinuität in der persönlichen Entwicklung zu erreichen. Die Zahl von Ein-Personen-Haushalten ist in den westlichen Industrienationen seit dem Zweiten Weltkrieg stark angestiegen (vgl. Schweitzer 1978: 32; Hradil 2006: 117), was einen Hinweis auf die Notwendigkeit des sozialen Anschlusses durch posttraditionale Vergemeinschaftung liefert.47 Medienangebote wie bestimmte Fernsehsendungen oder -genres bieten hierbei die Möglichkeit des Zusammenhalts, indem sich Menschen in ihrem Interesse für ein mediales Produkt verbunden fühlen. Fernsehfans teilen dabei nicht nur ein gemeinsames Interesse, sondern eine affektive Begeisterung für eine bestimmte Sendung oder ein Genre (Grossberg 1992). Der Begriff ,Fan leitet sich von .fautor fanaticus', der lateinischen Bezeichnung für einen religiös ergriffenen und für Gott schwärmenden Menschen ab. Im Laufe der Geschichte wurde er auch bald innerhalb anderer Kontexte benutzt, wie im Zusammenhang mit politischen Massenbewegungen bzw. überall dort, wo „auf emotionale und affektive Momente der Beziehung eines Individuums zu Situationen und Gegenständen" verwiesen wird (Göttlich/Krischke-Ramaswamy 2003: 168). Dennoch stellt das Fan-Dasein nicht zwangsläufig eine Form des Fanatismus dar, der gemeinhin definiert wird durch eine ausgeprägte Form der politischen Intoleranz und weltanschaulichen Verengung (Conzen 2005). Vielmehr handelt es sich bei dem Phänomen des ,Fandom' um eine spezielle Art posttraditionaler Vergemeinschaftung von Enthusiasten, die durch eine generelle Offenheit und starken Fluktuationen in ihrer Zusammensetzung gekennzeichnet ist. Wie alle zeitgenössischen Formen posstraditionaler Gemeinschaften können auch Fan-Gemeinden nur zur Mitgliedschaft verführen, nicht aber verpflichten, geschweige denn die Mitgliedschaft sanktionieren. Kennzeichnend für Fan-Gemeinschaften ist die Selbstverpflichtung ihrer Mitglieder, eine aus stark emotionaler Hingabe erfolgende freiwillige Bindung, die gleichsam als einzige Voraussetzung 47

Vgl. allgemein zur Phänomenologie der posttraditionalen Vergemeinschaftung Hitzler/Honer/ Pfadenhauer 2008.

111.4. Gemeinschaftsmedium Fernsehen

175

für die Anerkennung innerhalb der Gruppe ist. Da eine Person in der Auswahl dessen, womit sie ein Fan-Verhältnis entwickelt, nicht beschränkt ist, sowie ihre Prioritäten ändern und Mitglied in mehreren Fan-Gemeinschaften sein kann, sind solche Gruppenbildungen stabil und flüchtig zugleich (Mikos 2006: 111). „Gerade diese Offenheit für verschiedene Möglichkeiten des Aufenthalts und der individuellen Nutzung im Sinne der Herstellung und Verwirklichung persönlicher Relevanzen und Lebensstile ist es letztendlich, die Fan-Kulturen in der heutigen Zeit immer attraktiver werden lässt gegenüber sozial verbindlicheren, traditionellen Formen der Vergemeinschaftung und damit auch einen Teil zu deren weiteren Erosion beiträgt" (Wenger 2003: 360). Die Kontrolle über die Art und Weise der Lebensführung, der materiellen Lebenseinrichtung und der Sinngebung, geht also von traditionellen Machthierarchien in Fan-Gemeinschaften auf das einzelne Mitglied über - kurz: Das Individuum übernimmt die volle Verantwortung für die „existenzielle Sorge" seiner selbst, mit allen Chancen und Risiken, die damit einhergehen (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2005: 18). So ist es allein der persönlichen Bereitschaft geschuldet, dass Fan-Gemeinden sich als besonders integrativ und gruppendynamisch erweisen und sich u m die gegenseitigen Bedürfnisse der Mitglieder kümmern. Eine langfristig erfüllende Zugehörigkeit zur Fan-Gemeinde ist letztlich vom individuellen Willen zur aktiven Teilhabe abhängig. Ob es sich bei der Fan-Identität um eine von vielen Formen des Freizeitstils handelt oder u m eine Vorstufe zur „Besessenheit" (vgl. Brooker 2002: 3; Jenson 1992: 9-29), liegt gänzlich in der Entscheidungsfreiheit des Fernsehzuschauers selbst. Da jedoch der Zusammenhalt in der Gemeinschaft abhängig ist von der interaktiv stabilisierten Relevanz der Gruppe für die personalen Identitäten ihrer Mitglieder, können multi-direktionale Aktivitäten eines Fans in mehreren Interessengemeinschaften die Zugehörigkeit zu den einzelnen Gruppen schwächen und die Integrität der Gemeinschaft an sich gefährden. Die Diversität in der Ausrichtung von Fan-Gemeinschaften macht ihre Definition schwierig. „There are as many fans and fan movements as there are meanings to contest and negotiate" (Harris 1998:4). Häufig wird von „Interessengemeinschaften" gesprochen (vgl. Gläser 2005: 54-55) oder auch „Interpretationsgemeinschaften" (vgl. Lindlof/Coyle/Grodin 1998: 221). Fernsehfans haben ein ausgesprochen detailverliebtes, emotional aufgeladenes Interesse für ein bestimmtes Erzeugnis der Fernsehindustrie, das ihnen als gemeinsame symbolische Ressource dient und in einem ständigen Aneignungsprozess mit ihrer persönlichen Autobiographie kontextualisiert wird. Dabei kann es sich u m ganz unterschiedliche Mythologien handeln, die das Fernsehen erschafft oder verbreitet. Fans begeistern sich für bestimmte Medienpersönlichkeiten, für einzelne Sendungen oder ganze Genres. Das verstreute Feld an möglichen Fan-Themen soll hier unter dem Sammelbegriff des Topos im Sinne eines durch die Fans emotional aufgeladenen Vorstellungsbildes erfasst werden. In ihrer thematischen Fokussierung (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 1998: 89) verständigen sich Fan-Gemeinschaften auf einen ausgewählten Topos aus der televisuellen Populärkultur und modellieren daraus ein Motiv

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

kollektiver Erinnerung. Es entsteht ein konjunktiver Erfahrungsraum, der es den Fans ermöglicht, auch ohne körperliche Anwesenheit ein intensives, wenn auch virtuelles Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln, das sich in ihren sinnlichen und ästhetischen Erlebnissen sowie an ihren fanspezifischen Rezeptions- und Aneignungsaktivitäten konkretisiert (Mikos 2006:109). Dadurch dienen Fan-Gemeinschaften als Kompensationsmöglichkeit für alltägliche Zwänge und soziale Probleme wie beispielsweise Außenseiterdasein (Jenkins 1992: 213). Fans fungieren nicht selten als Ersatzfamilie, die in Anlehnung an Goethe als „Wahlverwandtschaften" bezeichnet werden können (vgl. Hills 2002: 172). Bei Fan-Gruppen handelt es sich nicht ausschließlich um imagined communities, was jegliche Fan-Aktivität als virtuelle Vergemeinschaftung charakterisieren würde, sondern vielmehr um „communities of imagination" (vgl. ebd.: 180). Dieser Begriff betont, losgelöst von der physischen Fassbarkeit der Vergemeinschaftung, den integrativen Charakter des Interpretationsprozesses. Nicht erst die Gewissheit, dass es auch noch andere Fans einer bestimmten Fernsehsendung gibt, macht die integrative Wirkung einer Fan-Gemeinschaft aus, sondern auch das Streben, die persönlichen Beweggründe und Erfahrungen mit anderen Fans zu teilen und sich im Rahmen sozialen Miteinanders auszutauschen (vgl. Hills 2001a). Im Vordergrund der Gruppenbildung steht gemeinhin die Abgrenzung der Fans von ihrer Umwelt, von den normalen Fernsehnutzern, die sich in Art und Intensität ihres Interesses für bestimmte Fernsehproduktionen von den Fans unterscheiden (Grossberg 1992: 58). Auch werden Fans in der Regel von sogenannten Kennern, Sammlern und Liebhabern, auch Aficionados genannt, abgegrenzt, die sich in ihrem intellektuell konnotierten Interesse für vermeintlich (hoch)kulturelle Errungenschaften bzw. traditionelle Aktivitäten für „sophisticated" und ihren Mitmenschen in dieser Hinsicht überlegen halten (vgl. Schneider 2001: 343). Schwerer wiegt indes die Distinktion von der Normalität des Durchschnittszuschauers. Einerseits ziehen Fans klare Grenzen zwischen sich und der Außenwelt und legen großen Wert auf die Unterscheidung dessen, wer zu ihrer Gemeinschaft gehört und wer nicht (Fiske 1992:34). Andererseits werden Fans wiederum von der Außenwelt mit Vorurteilen belegt. Fiske beschreibt Fans als dem durchschnittlichen Publikum nicht wesensfremden, allein an der Intensität der Rezeption unterscheidbaren „excessive reader" (Fiske 1992: 30). Auch Jenkins betont, dass simplifizierende Stigmatisierungen bei der Frage nach der Konzeptualisierung von Fans nicht weiterhelfen: „Neither the popular stereotype of the crazed Trekkie nor academic notions of commodity fetishism or repetition compulsion are adequate to explain the complexity of fan culture" (Jenkins 1988: 60). Fans stehen unter Druck, ihre Überzeugungen und ihr Handeln gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Sie sind im Zugzwang und können einen aufklärerischen Impetus entwickeln, mit dem sie ihre Kritiker von der Ernsthaftigkeit ihres Handelns überzeugen wollen. Dies geschieht auch, indem sich Fan-Gemeinden mit anderen Fan-Gruppen in Relation setzen und ihre Gruppenidentität durch die Hervorhebung einer besonderen Zugangsweise und Kompetenz im Umgang mit dem jeweiligen

III.4. Gemeinschaftsmedium Fernsehen

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Zielobjekt der Fans stärken.48 Indem sich Fan-Gemeinden auf die möglichst umfassende Beschäftigung mit einem spezifischen Medienprodukt konzentrieren, gehören sie zu den aktivsten Erinnerungsgemeinschaften innerhalb der Gesellschaft und avancieren zu Wächtern populärkulturellen Spezialwissens, das sie gegen negative Einflüsse jeglicher Art zu verteidigen gewillt sind (vgl. Mikos 2006: 109). Wie Roberta Pearson bemerkt, überschneiden sich dadurch kulturelle und populäre Erinnerungsarbeit: Initialzünder sei stets die Produktion eines Medienangebots durch eine mächtige Kulturinstitution, wie sie die Hollywood-Studios oder Fernsehsender darstellen. Dies erst schaffe die Grundlage für die kulturelle Auseinandersetzung mit dem Medieninhalt. Seine besondere Bedeutung, wie sie Pearson in „the complexe diegetic universe of Star Trek" erkennt, ist indes das Ergebnis populärer Erinnerungsarbeit auf Seiten der Fans, die mit den kulturellen Praktiken der Fan-Kommunikation den Gedächtniswert der jeweiligen Sendung begründen (Pearson 2001: 279). Ausschlaggebend ist hierbei, dass die Fans sich offensiv am populärkulturellen Diskurs beteiligen und nicht nur ihre möglichen Stigmatisierungen seitens ihrer sozialen Umwelt adressieren, sondern gleichzeitig im Spannungsfeld zwischen den eigenen Handlungskontexten und der aus ihrem Blickwinkel unwissenden Außenwelt die Aktivierung der Erinnerung an dezidierte Fernsehtraditionen propagieren. Fans sind daher imstande, unter bestimmten Umständen Erinnerungskarrieren zu beflügeln, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Topoi ihres Interesses lenken. Regelmäßige Zusammenkünfte dienen zum einen der öffentlichen Inszenierung, zum anderen der Überwindung der ansonsten nur virtuellen Gemeinschaftlichkeit. So treffen sich regelmäßig Fans der Krimiserie „Tatort" in Kneipen, um die Erstausstrahlung eines neuen Falls in trauter Gemeinsamkeit zu verfolgen (vgl. Coesfeld 2007). Andernorts, wie im Fall der weltweit organisierten und weitgehend kommerzialisierten Fan-Kultur der Anhänger des „Star Trek"-Kults, besuchen jedes Jahr tausende von Fans eine der über ein Dutzend sogenannten .Conventions', um sich gerne auch kostümiert unter den Augen der medialen sowie der Fan-Öffentlichkeit in die jeweilige Lieblingsfigur aus der Vielzahl der „Star Trek"-Serien zu verwandeln. Auffällig sind Fan-Gemeinschaften, die ohne einen unternehmerischen Rahmen ihre Langlebigkeit und Leidenschaft für ein Fernsehprodukt unter Beweis stellen, anschaulich zu belegen an dem Beispiel der USamerikanischen Serie „Twin Peaks" (vgl. Jenkins 1992b: 77-79), der im Vergleich mit Umfang und Reichweite der Fan-Industrie rund um das „Star Trek"-Phänomen ein nur marginaler Status bescheinigt werden kann. Hier kommen Fans auch noch beinah zwei Jahrzehnte nach der Produktion der Serie alljährlich an dem Ort zusammen, an dem das Objekt ihrer Leidenschaft entstand. Hier werden gemeinsam die Plätze des Seriengeschehens aufgesucht, Szenen nachgespielt, Episoden vorgeführt und ehemalige Beteiligte zum Gespräch geladen. Auch besteht die Möglichkeit, Anwohner über ihre Erinnerungen an die Dreharbeiten zu befragen (vgl. Kramp 2007c). Produktionsorte sind gesättigt mit der memorativen Energie von Fan-Mythen, die nicht selten auf fundamentale Weise 48

Wenger spricht von „Reframingprozessen", durch die Fans eine Umdeutung der ihnen von außen zugewiesenen Identität vornehmen, um sich zu legitimieren (Wenger 2003: 356).

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

eine soziale Bindungsfunktion innerhalb von Fan-Gemeinschaften wahrnehmen. Indem Fans die Erinnerung an den Herstellungsprozess der sie verbindenden Fernsehmythologie wachhalten, erschaffen sie sich einen zusätzlichen physischen Integrationsfaktor, der eine Manifestierung der sonst haltlosen, weil allein an den flüchtigen audiovisuellen Medieninhalt geknüpften Gemeinschaftsfixierung darstellt (vgl. Hills 2002: 153). Der Status des einzelnen Mitglieds innerhalb der Gemeinschaft ergibt sich aus dem Engagement des jeweiligen Fans, mit dem er sich in die Gruppe einbringt. Die Fan-Gemeinschaft belohnt solche Anstrengungen mit sozialer Anerkennung und Wertschätzung. Durch das Prinzip der Selbstverpflichtung und in Kombination mit den Abgrenzungsbestrebungen der Gruppe ist der Gemeinschaftssinn innerhalb von Fan-Gemeinden stark ausgeprägt. Die Aufnahme in die Gruppe ist außerdem häufig mit Idealvorstellungen des sozialen Zusammenlebens verbunden, das individuelle Unterschiede und Interessen gelten lässt und nichtsdestotrotz ein intensives Gemeinschaftsgefühl bietet. Gleichwohl können Fans mit Bestrafung in Form von Ausgrenzung reagieren, wenn bei einem anderen Fan fehlender Einsatz erkannt oder ungenügendes Interesse vermutet wird (vgl. Wenger 2003: 353). Fans erwarten von Ihresgleichen, dass sie sich aktiv für die gemeinsame Sache einsetzen. Der Gruppenzusammenhalt wird gewährleistet durch die Selbstdefinition der FanGemeinde anhand von Idealvorstellungen ihrer Merkmale. Nicht dem einzelnen Fan wird besondere Bedeutung zugemessen, sondern der Gruppe als ganzes, die sich aufgrund ihrer Besonderheit innerhalb der Gesamtgesellschaft als bestimmte Form von Elite empfindet. Sollten sich intern Gruppenzugehörige in ihrer vermeintlichen Leitfunktion als „Tastemakers" (vgl. Brower 1992) von den übrigen Mitgliedern im Selbstverständnis abgrenzen, entsteht eine Elite innerhalb der Elite, die indes weder die Produktion .ihrer' Fernsehsendung noch die Rezeption der anderen Fans kontrollieren können (vgl. Tulloch 1995: 144). Je größer und heterogener eine Fan-Gemeinde wird, desto mehr ist sie auf Organisationsstrukturen und Verständigungsmittel angewiesen, um sich ihrer sozialen Identität zu vergewissern. Fan-Gruppen stellen „ein festes Repertoire an Relevanzen, Regeln und Routinen zur Verfügung, das vom individuellen Teilnehmer zumindest in dem Maße, wie er in diesem Kontext akzeptiert sein will, geteilt und befolgt werden muss" (Hitzler 2001: 19). Mit Blickrichtung auf die emotionale Komponente des Fan-Daseins wird dadruch auch ersichtlich, weshalb Fan-Gruppen teils familien- bzw. stammesähnliche Strukturen aufweisen (vgl. Vogelsang 2001: 276). Der Erhalt der Vertrautheit innerhalb solcher Gruppen wird indes umso schwieriger, je komplexer sie werden. Wie Wenger an dem Phänomen der Star Trek-Fandoms beobachtet hat, neigen Fan-Gemeinschaften von populären Fernsehsendungen an den Rändern auszufransen und Grenzen zu verschwimmen, indem eine hohe Zahl an Neuzugängen Einlass in die ursprünglich exklusive, überschaubare und weitgehend homogene Fan-Gruppierung verlangt (Wenger 2003: 359). Um das Engagement der Interessenten für die gemeinsame Sache im Voraus prognostizieren zu können, muss die Gemeinschaft Mechanismen entwickeln, mit deren Hilfe sie

III.4. Gemeinschaftsmedium Femsehen

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die einzelnen Fans nach ihrer Bindungs- und Opferbereitschaft einstuft. Nach Tulloch und Jenkins bilden sich dadurch Hierarchien aus, die zwischen Fans („active participants within fandom as a social, cultural and interpretive institution") und „Followers" („audience members who regularly watch and enjoy media [...] programmes but who claim no larger social identity on the basis of this consumption") (Tulloch/Jenkins 1995:23) unterscheiden lassen. Dennoch müssen solche Typologisierungen beliebig bleiben, worauf die Autoren an selbiger Stelle umgehend hinweisen, schließlich ist das Fan-Dasein ebenso als ,work in progress' zu verstehen wie die gesamte Identitätskonstruktion im Laufe eines Lebens. Mit anderen Worten: Je nachdem ist man mal mehr Fan, mal weniger, und zwar mal für das eine, mal für etwas anderes. Dennoch ist die Herausbildung von Hierarchien nicht immer beliebig, vor allem nicht wenn sie bei der funktionalen Binnendifferenzierung innerhalb einer Fan-Gruppierung helfen. Als eine Möglichkeit, die Stabilität der Gemeinschaft auch unter hohem Druck aufrechtzuerhalten, erkennt Andre MacDonald fünf Hierarchieformen, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern gegebenenfalls ineinandergreifen und die Machtstellung einzelner Fans sichern (MacDonald 1998: 137-138): Innerhalb der Wissensrangordnung („Hierarchy of Knowledge") sind diejenigen Fans am einflussreichsten, welche das meiste Wissen über das jeweilige Leitthema der Gruppe besitzen. Auch wird nach Menge und Qualität des Fan-Engagements gewichtet, wobei MacDonald hier explizit nur auf den Besuch verschiedener Fan-Veranstaltungen verweist, nicht aber auf Partizipation in anderen Kontexten („Hierarchy of Fandom Level, or Quality"). Weiterhin bilden sich Hierarchien auf Grundlage des Zugangs zu für die Fan-Gemeinschaft relevanten Personen wie Schauspielern oder Produzenten aus („Hierarchy of Access"). Außerdem werden hauptsächlich in kleineren Fan-Gruppierungen in einem sozial-dynamischen Prozess bestimmte Fans zu Leitern bzw. Führern auserkoren, um die Gruppe nach außen und im Kontakt mit anderen Fan-Gemeinden zu repräsentieren („Hierarchy of Leaders"). Letztlich bilden sich zudem Rangfolgen bei der Kontrolle über die Lokalitäten der Fan-Zusammenkünfte aus, sei es bei der Organisation einer Veranstaltung oder auch die Administration von virtuellen Treffpunkten oder Kommunikationsinstrumenten im Internet („Hierarchy of Venue"). Fans, welche die Wissensrangordnung anführen, können auch als jene „Wissensbevollmächtigte" bezeichnet werden, die Jan Assmann als Vermittler des kulturellen Gedächtnisses beschreibt. Nur handelt es sich bei den fanrelevanten Gedächtnisinhalten um teils hochspezifische Detailkenntnisse aus der Geschichte des Fan-Gegenstandes bzw. der historischen Fan-Aktivitäten. Während ihrer meist langjährigen Tätigkeit als Fan haben sie die Entwicklung der betreffenden Sendung oder des Genres begleitet und sich auf äußerst eingehende Weise mit Wandel und Kontinuität ihres Beobachtungsobjekts auseinandergesetzt. Neu in die Gemeinschaft eintretenden Fans mag ihr Gedächtnis unfassbar erscheinen, wodurch ihnen ein Nimbus der Allwissenheit zugeschrieben und ihre Rolle als Orientierungsgeber für die Gruppe gefestigt wird. Andere „executive fans" (Tulloch 1995: 149) zeichnen sich in ihrer Gedächtnisfunktion dadurch aus, dass sie als

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

herausgehobene Akteure die Kommunikation der Fans untereinander moderieren und damit die Transitionen relevanter Informationen ins Kollektivgedächtnis steuern. Dies geschieht einerseits durch die Organisation von rituellen Feierlichkeiten auf Fan-Zusammenkünften, andererseits auch in Form eines regulierten Zugangs zu Wissensinhalten, die als wertvoll erachtet werden. Hier zeigt sich die Bedeutung der Abhängigkeit des Fans von der Fernsehindustrie sowie von .Insidern, die durch ihre privilegierte Stellung Einblick in nicht-öffentliche Prozesse haben bzw. Kontakte zu Informanden pflegen und damit die Fan-Gemeinde mit erinnerungsrelevantem Wissen versorgen können. Eine generelle Besonderheit von Fan-Gemeinschaften ist die grundsätzliche Bereitschaft, Wissen nicht restriktiv zuzuteilen, sondern es miteinander zu teilen. Nicht die persönliche Verfügung über relevantes Wissen konstituiert also Macht, sondern erst seine Zugänglichmachung für den Kreis an interessierten Fans. Die individuell gehobene Stellung innerhalb der Fan-Gemeinde setzt also die Maximierung von Kommunikation voraus, nicht deren Unterbindung. Es bleibt indes das Problem der unzureichenden Definition der Fan-Typologie, die sich schon aufgrund fehlender deutlicher Abgrenzungsmerkmale und unterschiedlicher Ausprägungen verbietet: „Beobachtet werden Unterschiede in Verhaltensweisen, fandombezogenem Wissen, Zugang zu Informationen und Positionen innerhalb organisierter Fan-Gemeinschaften. Aus diesen wird auf größere oder geringere Kompetenz geschlossen. Inwieweit die eher äußerlichen Unterschiede auch zu Unterschieden in der Bedeutungsproduktion und der Beziehung zwischen Fan und Star führen oder mit solchen in Zusammenhang stehen, wurde aber bislang nicht explizit untersucht" (Göttlich/KrischkeRamaswamy 2003: 170).

4.2.2. Gemeinsinn durch

Partizipation

Fans ähneln sich in ihren Rezeptionsmodi, formen dadurch eine spezielle Interpretationsgemeinschaft und stellen eine alternative soziale Gemeinschaftsform mit eigenen Regeln und einem eigenen Zugang zur .Wirklichkeit' dar. Nach Berger und Luckmann kann ein solcher Institutionalisierungsprozess bereits eintreten, „wenn nur zwei Menschen wiederholt zusammen dasselbe tun. Institutionalisierung steht am Anfang jeder gesellschaftlichen Situation, die ihren eigenen Ursprung überdauert" (Berger/Luckmann 1980: 59). Fan-Gruppen können einen hohen Institutionalisierungsgrad erreichen, indem sie sich organisieren, eigene Formen der Informationsverarbeitung und -Verbreitung entwickeln, Hierarchien ausbilden und sich an festen Deutungsstrukturen orientieren. Dadurch konsumieren Fans nicht nur, sondern sind selbst an der Erschaffung des Kult-Status ihres jeweiligen Fan-Topos, also seiner affektiven und allgemein positiven Wertbesetzung im Range eines Kunstwerks, beteiligt. Das Kollekivgedächtnis der Fan-Gemeinschaft wird nur dann lebendig, wenn die betreffenden Wissenselemente in einem kontinuierlichen Rekonstruktionsprozess reaktiviert, ergänzt und mit aktuellen

III.4. Gemeinschaftsmedium Fernsehen

181

Kontexten in Relation gebracht werden. Um sich ihres gemeinsamen Bewusstseins und ihrer geteilten Vergangenheit auf Basis der Genese ihres konstituierenden Fan-Objekts zu vergewissern, ist es notwendig, dass Fans in einen Partizipationsprozess treten und ihre Motivationen und Interpretationen artikulieren. Sie organisieren Festivals, gründen institutionalisierte Fan-Clubs, schreiben Briefe, tauschen sich im Internet aus: Fans nutzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um ihrer Begeisterung genussreich Ausdruck zu verleihen. Dazu bedienen sie sich „folk culture practices" (Jenkins 2006a: 246) und adaptieren diese volkstümlichen Bräuche in neuen Medienumgebungen, um Gemeinschaft zu erzeugen. Durch ihren Sonderstatus innerhalb der Gesamtzuschauerschaft sind Fans in erheblichem Maße motiviert, sich in den Diskurs über und in die Produktion des betreffenden Fernsehprodukts einzubringen. Dadurch verwischen, wie Jenkins erwähnt, die klaren Grenzen zwischen Konsumenten und Produzenten: „Media fans are consumers who also produce, readers who also write, spectators who also participate" (Jenkins 1992: 208). Für Jenkins ist der Sozialtypus Fan das schlagende Beispiel für den aktiven Zuschauer, der Freude und Erfüllung bei der Beschäftigung mit kommerziellen Produktionen findet (ebd.: 209). Jenkins unterteilt Fan-Aktivitäten zusammenfassend in folgende drei Bereiche: die Produktion und Zirkulation neuer Lesarten der Fan-Topoi, sozial generierte Wissenstrukturen in Form einer „collective intelligence" und neue Modelle der kulturellen Produktion mittels Partizipation (Jenkins 2006a: 246). So eingehend sich Fans mit ihren favorisierten Fernsehtopoi beschäftigen, so sehr neigen sie dazu, ihre eigene Phantasie in den Aneignungsprozess einfließen zu lassen. Besonders deutlich ist diese intensive Form semiotischer Produktivität (Fiske 1992: 37) bei Fernsehserien nachzuvollziehen. Fans beschränken sich nicht auf die Optionen verschiedener Lesarten und Interpretationsansätze, sondern produzieren auch selbst narrative Inhalte und tragen damit aktiv zur Erweiterung der jeweiligen Erzählung bei. Jenkins listet zehn unterschiedliche Wege auf, welche beschritten werden, um den Sinngehalt des televisuellen Original zu vertiefen (Jenkins 1992b: 162-177): Rekontextualisierung: Der Phantasie des Menschen sind bekanntlich keine Grenzen gesetzt. Fans setzen sie ein, um zeitliche Lücken in der Fernseherzählung zu füllen, aber auch inhaltliche Diskrepanzen zu beseitigen und nur schwer nachvollziehbare Entwicklungen schlüssig zu erklären. Verlängerung der Zeitschiene: Eine Erzählung nimmt an einem bestimmten Punkt ihren Anfang und kann dem Zuschauer nur begrenzt die Hintergründe der einzelnen Protagonisten erklären. Fans nehmen diese Konsistenzmängel zum Anlass, akribisch Anhaltspunkte innerhalb der Fernsehnarration zu suchen, um eigenständig Portraits zu vervollständigen, dabei aber so eng wie möglich am Original zu bleiben. Neuausrichtung: Fans haben in ihrer Detailverliebtheit oftmals einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, wenn es sich um die Würdigung von Charakteren aus der zweiten Reihe

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

handelt. Meist handelt es sich dabei um Vertreter gesellschaftlicher Minderheiten. Um diesen vom Zuschauer leicht übersehbaren Akteuren mehr Aufmerksamkeit zu schenken, widmen Fans ihnen eigene Geschichten. Moralische Umorientierung: In ihrer ideologischen Offenheit widersprechen viele Fans den Stigmatisierungen von bestimmten Figuren durch die Autoren der Originalnarration. So kehren sie gerne die Rollenverteilung um, machen ursprünglich böse Figuren zu Helden und geben deren Perspektive mehr Gewicht als der herrschenden Ideologie einer Sendung, die das vermeintlich Gute propagiert. Genre wechsel: Die Suche nach neuen Blickwinkeln auf das kohärente und gattungstypisch statische Original führt auch zum Wechsel des jeweiligen Genres. Science Fiction-Handlungen werden beispielsweise durch romantisierende Einflechtungen zu Liebesdramen stilisiert. Vermischung: Fans, die auch in anderen als der jeweilig favorisierten Fernsehmythologie bewandert sind, beleben den Diskurs mit ungewöhnlichen Kombinationen von verschiedenen Sendungen und Genres, so dass Parallelen mit vergleichbaren Produktionen gezogen werden können und der Austausch zwischen sonst getrennten Fan-Gemeinschaften intensiviert werden kann. Charakterliche Veränderungen: Obwohl Änderungen des Originals durch die Produzenten von den Fans mit Argusaugen beobachtet werden, sind sie selbst wenig zimperlich, Protagonisten ihren Handlungskontexten zu entreißen und ihnen neue zuzuteilen. Personalisierung: Die Deutungsweisen der Fans mentierungen erkennbar, sondern äußern sich Projizierung der eigenen Person in bestimmte diese Weise wird ihr persönlicher Bezug zu den wie ihre handlungsleitenden Vorstellungen.

werden nicht nur indirekt durch Komin ihrer individuellen Form durch die Charaktere der Fernseherzählung. Auf Motiven der Narration ebenso deutlich

Emotionale Intensivierung: Da sich Fans in erster Linie aufgrund emotionaler Beweggründe mit einem Fernsehtopos verbunden fühlen, werden Gefühlsbekundungen zwischen einzelnen Charakteren mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Beispiele hierfür sind Anzeichen psychischer Notsituationen oder emotionaler Nähe zwischen Protagonisten, die zum Anlass genommen werden, sie in den Fan-Produktionen zu verstärken und narrativ zu erweitern. Erotisierung: Dass das Fan-Sein vor allem mit affektivem Wohlgefühl in Zusammenhang steht, zeigt der Spaß, den sich Fans von einer Erotisierung der Fernsehinhalte versprechen. So werden Protagonisten in romantische Abenteuer verwickelt, die sich eigentlich spinnefeind sind oder von der ideologischen Warte der Fernsehmacher aus nicht zusammen passen. Die Erotisierung kann aber ernsthafte Anliegen verfolgen, indem sie zur Verfestigung bereits enger Beziehungen oder zur Auflösung handlungsimmanenter Charakterkonflikte dient.

III.4. Gemeinschaftsmedium

Fernsehen

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Diese vielfältigen Formen der Produktion von alternativen Erzählweisen geschieht gemeinhin auf spielerisch-kreative Art: Fan-Gruppierungen schreiben gerne im Kollektiv, jeder trägt etwas zu der Geschichte bei (vgl. Abercrombie/Longhurst 1998: 126). Die einen entdecken und schließen erzählerische Lücken, andere ergänzen neue Facetten . Ein solch kolaborativer Entstehungsprozess sorgt für eine weitere Verfestigung der Gruppenidentität und eine Intensivierung der miteinander geteilten Leidenschaft (vgl. Jenkins 1992b: 213). Ein Grund dafür mag auch sein, dass der einzelne Fan durch die Partizipation zudem Kontrolle über sein affektives Seelenleben erlangen und sich für zukünftige psychische Krisensituationen rüsten kann: „Fans' investment in certain practices and texts provides them with strategies which enable them to gain a certain amount of control over their affective life, which further enables them to invest in new forms of meaning, pleasure and identity in order to cope with new forms of pain, pessimism, frustration, alienation, terror and boredom" (Grossberg 1992: 65). Die Vielfalt der Aneignungsformen weist darauf hin, dass Fan-Topoi durch einen stetigen Umdeutungs- und Rekonstruktionsprozess inhaltlich zwar starken Variationen unterzogen werden, diese aber nie den Bezug zum Original verlieren und ihre Kohärenz gewahrt bleibt, dies sogar in weitaus festigenderer Weise als ohne die Alternativkreationen der Fans. Diese weisen nicht den verengten Erinnerungsfokus auf, der in Anbetracht ihres abgegrenzten Interessensgebietes vielleicht zu vermuten wäre, sondern erschließen möglichst viele Facetten, die sie unter Umgehung vorgegebener Interpretationsmuster der Fernsehindustrie erkunden und in eigenen Produktionen zirkulieren lassen. Im Zuge einer solchen permanenten Reproduktion eines Topos in stets neuer Gestalt regt er die Rezipienten an, die Alternativen mit dem Original (und den vorhergegangenen Alternativen) in Bezug zu setzen, und wird damit automatisch historisiert. Vor der Etablierung des Internets wurden Fan-Produktionen entweder über persönlichen Kontakt oder den Vertrieb von Fan-Zeitschriften verbreitet. Mit den Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation erwuchs den oft kleinteiligen und geographisch versprengten Fan-Gemeinschaften ein Instrument, ständig in Kontakt zu bleiben und sich von den starren Perioden der allmonatlichen oder gar nur alljährlichen Zusammenkünften zu lösen (vgl. Hills 2001a: 149). Der Austausch wurde dadurch tendenziell zwar entkörperlicht, aber gleichsam organischer, da im virtuellen Netz mehr Fans ausführlicher miteinander ins Gespräch kommen und ihr Wissen effektiver teilen können. Die Konzeptualisierung von Fan-Gruppen als Erinnerungsgemeinschaften beinhaltet auch ihr grundlegendes Merkmal als Wissensgemeinschaft, da die Erinnerungsarbeit nicht allein, wie gezeigt wurde, auf das gemeinsame Erleben im Kollektiv abzielt, sondern sich auf die Verarbeitung von gruppenspezifischen Wissensinhalten gründet. Innerhalb der Fan-Kultur lernen die einzelnen Mitglieder, sich auf kollaborative Weise in dieser Wissensgemeinschaft zu bewegen, zu leben und zu reifen (vgl. Jenkins 2006b: 134). Dabei bemächtigen sie sich möglichst vieler der ihnen zur Verfügung stehenden

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Kommunikationsmöglichkeiten. Fans sind daher ihrer gemeinschaftlichen Ausrichtung entsprechend „early adopters" neuer Technologien (Jenkins 2002: 138). Die Zirkulation von Wissen in Online-Netzwerken ist für Fans besonders effektiv, da sie einen hohen Bedarf an Informationen haben, die relevant sind für die Beschäftigung mit ihrer symbolischen Ressource. So werden eigene Produktionen digitalisiert und online veröffentlicht, aber beispielsweise auch Online-Archive aus Medienberichten über den Fan-Topos erstellt, Rahmendaten und Hintergrundinformationen zusammengetragen und über virtuelle Foren untereinander Fragen beantwortet. Im Internet zeigt sich der ausgeprägte Dienstleistungscharakter von Fan-Gemeinschaften. Nancy Baym hat in ihrer Untersuchung von sogenannten Soap-Fans, also Fans von langlaufenden Fernsehserien, vier maßgebliche Online-Kommunikationsformen identifiziert: Der Austausch fungiert zum Zwecke der gegenseitigen Informierung, der Spekulation, der Kritik und der kreativen Überarbeitung der Fan-Topoi (Baym 1 9 9 8 : 1 1 1 - 1 2 9 ) . Zu einer ähnlichen, aber im Detail anders gewichteten Aufstellung kommt Steve Bailey bei seiner Untersuchung von Fan-Kommunikation rund um die US-amerikanische Zeichentrick-Serie „Futurama". Diese war zur Zeit seiner Beobachtung gekennzeichnet von eigenständigen Evaluationen, kritischen Auslegungen und historischen Analysen, die allesamt in abwechslungsreicher Weise zur Ausdifferenzierung des fanspezifischen Kollektivgedächtnisses beitrugen (vgl. Bailey 2005: 157). Demgegenüber fand Jenkins heraus, dass im Internet zudem eine detailgetreue Kontextualisierungsleistung durch Fans stattfindet, die sich wie im Falle von Fan-Diskussionen über die US-Serie „Twin Peaks" bis zur Einspeisung von regionalen Wirtschaftsdaten aus der Produktionsregion der Serie im US-Bundesstaat Washington erstreckte (Jenkins 1995a: 119). Die digitalen Speicherkapazitäten ermöglichen den Fan-Gemeinden eine Bündelung ihres Wissens, um das einzelne Mitglied von dessen Last zu befreien. Es entsteht eine kollektive intellektuelle Ressource, die dynamisch ergänzt und verbreitet wird, indem Fans jederzeit auf sie zugreifen können (vgl. ebd.: 123). Diese Auslagerung von Wissen in einen gemeinsam verwalteten Fundus optimiert die Arbeits- und Wissensteilung innerhalb der Gemeinschaft: Jeder Fan muss nur so viel wissen, wie er es gerade für nötig erachtet. Umso bedeutender werden indes die Verwalter dieses Speichergedächtnisses nach Assmannscher Terminologie: Die Pflege des externalisierten Fan-Wissens erfordert Verantwortung und verleiht Macht innerhalb der Gemeinschaft. Nicht selten sind es langgediente und erfahrene Mitglieder, die mit solchen administrativen Aufgaben beauftragt werden. Sie sind es auch, die aufgrund ihrer Expertise als Ansprechpartner für die Außenwelt fungieren. Sie kontrollieren das kollektive Gedächtnis ihrer Fan-Kollegen und damit auch ihre „kollektive Intelligenz". Jenkins entlehnt den Begriff der kollektiven Intelligenz bei dem französischen Philosophen Pierre Lévy, um das Aufkommen neuartiger Wissensstrukturen innerhalb von Fan-Gemeinschaften durch die Internet-Kommunikation zu beschreiben (Jenkins 2002: 136-140; vgl. Lévy 1997). Diese Strukturen seien nicht bloß als Formen der Ansammlung von Informationen zu verstehen, sondern als dynamische Gruppenunternehmungen

III.4. Gemeinschaftsmedium

Fernsehen

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mit hohen emotionalen Investitionen. „Vor allem die Instrumente der Beobachtung und Simulation von Wissen und zum Navigieren im Wissen erweitern unser Feld des Vorstellbaren auf einzigartige Weise und tragen in diesem Sinne dazu bei, unsere Wahlmöglichkeiten zu vergrößern" (Lévy 1997: 246). Im Kern handelt es sich bei der kollektiven Fan-Intelligenz um die Verwaltung und Bemächtigung der gedächtnisrelevanten Themen innerhalb der Gemeinschaft. Das Handlungsmoment des Intelligenzbegriffs beinhaltet zentral auch die Fähigkeit der Anwendung von identitätskonstituierendem Wissen über die Vergangenheit. Kollektive Intelligenz ist somit kein selbstverständliches Nebenprodukt von Fan-Aktivitäten, sondern muss als Auftrag und Ergebnis gemeinschaftlicher Anstrengung verstanden werden, so wie es Aleida Assmann auch für das kulturelle Gedächtnis als notwendig erachtet. Lévy hält kollektive Intelligenz für eine Utopie, für die es sich einzutreten lohne: „Die Mitglieder kollektiver Intelligenzen, die ihre Intelligenz und Vorstellungskraft bündeln, lassen das ,Beste' sprießen, sie erfinden ein immer neues und überall anderes Bestes. Das Beste verschiebt sich ständig, nicht nur weil die .objektiven Umstände sich verändern, sondern auch eil das Wissen um die Umstände subtiler oder unschärfer wird (was im Grunde einer Veränderung der Situation gleichkommt) und die Entscheidungskriterien sich parallel zu den Veränderungen der Umwelt und der Entwicklung der Projekte verändern. Jede neue Entscheidung geschieht auf dem Weg des eigenständigen, unvorhersehbaren kollektiven Lernens und Sich-selbst-Erfindens" (ebd.: 248). Die Intelligenz der Fan-Gemeinschaft erhält also erst Ausdruck durch die Benutzung und den Austausch von Wissen und Material. Am deutlichsten zeigt sich dies in Fällen, in denen der Fan-Topos auch noch lange Zeit nach seiner eigentlichen Präsenz im Fernsehen unvermindert populär ist (vgl. Jenkins 1995a: 133). Durch die Reziprozität des Fan-Engagements werden Erinnerungen wach, die Gemeinschaft am Leben gehalten und die fluide Intelligenz der Gruppe stabilisiert. Durch die weltumspannenden Zugangsmöglichkeiten ins Internet wird die Zirkulation von Informationen über nationale Grenzen hinweg praktizierbar. Insbesondere die internationale Dimension des Fan-Aktivismus wurde durch das Internet ausgeweitet. Fans müssen sich nicht mehr auf singuläre Zusammenkünfte und die komplizierte wie zeitversetzte Analogkommunikation beschränken, sondern verfügen durch die Einsatzmöglichkeiten des virtuellen Informationsaustausches über eine jederzeit zugängliche Datenbasis, die für die Streuung und gezielte Transferierung von genuin digitalen oder digitalisierten analogen Inhalten einsetzbar ist. Dies hat indes auch zur Folge, dass in Regionen, in denen bestimmte Produktionen noch nicht im Fernsehen gezeigt wurden, die Gefahr besteht, dass Fans schon (zu) viele Einzelheiten über die jeweilige Produktion erfahren, noch bevor sie überhaupt die Möglichkeit haben, sie unbeeinflusst zu rezipieren (vgl. Jenkins 2002: 141). Demgegenüber reicht die Bereitschaft der Wissensteilung unter Fans auch so weit, dass - meist unter Umgehung rechtlicher Bestimmungen - ganze Sendungen in digitalisierter Videoform online zur Verfügung

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

gestellt werden, um anderen Fans kostenlos und möglichst zeitnah eine Rezeption zu ermöglichen. So bilden sich einerseits wiederum auf internationaler Ebene Abhängigkeitsverhältnisse und Hierarchien innerhalb globaler Fan-Gemeinschaften aus, da in der Regel die Mitglieder im Ursprungsland (bzw. am Ort der Entstehung) eines Fan-Topos einen besseren Zugang zu relevanten Informationen haben. Andererseits wandelt sich kraft der Bündelung von Fan-Interessen und Fan-Wissen auch das Machtverhältnis zwischen Fernsehindustrie und dem Fan-Publikum, das Gelegenheit bekommt, Einfluss auf das Wohl und Wehe der Medienproduktion auszuüben. Das vormals disperse Publikum wird durch die Entwicklung kollektive Fan-Intelligenz zur erkennbaren Größe für die konsumentenorientierte Fernsehwirtschaft. Fans benutzen ihr je nachdem historisch gewachsenes kulturelles Spezialwissen, um ihren Einfluss auf die originale Produktion geltend zu machen (vgl. Fiske 1992: 43). Über das Internet lässt sich schneller und leichter öffentlich Aufmerksamkeit und jene der Fernsehindustrie erregen als durch die Sammlung von Briefen oder die Formulierung von Forderungen auf Zusammenkünften: „The Internet allows a mass audience to register specific desires and grievances that can never be conveyed by the Nielsen ratings. What's more, creators of TV shows can actually incorporate these insights from viewers. Where films are a single exhale of artistic breath, television breathes in and out over time. It doesn't exist as one impenetrable objet after a single act of creation. In TVs perpetual, rolling incompleteness, anyone with the right equipment, anyone who finds the right tunnel in, can actually bend and shade its content. And technology has made the tunnel wide enough for tens of thousands to enter at once" (Sella 2002). So ist es Fans mit penetranten Appellen und vitalen Diskussionen bereits gelungen, dass abgesetzte Sendungen wie die US-amerikanische Trickserie „Family Guy" wieder ins laufende Programm genommen wurden (vgl. Kramp/Weichert 2006). Dabei nehmen Fans aber nicht zwangsläufig eine oppositionelle Haltung gegen die Fernsehindustrie ein, wie Jenkins verdeutlicht: „Fan culture is dialogic rather than disruptive, affective more than ideological, and collaborative rather than confrontational" (Jenkins 2002: 150). Fans sehen nach Jenkins' Einschätzung unrealisierte Potenziale in der Populärkultur und versuchen diesem Missstand durch verstärkte Publikumspartizipation abzuhelfen. Ob sie in ihrem Bestreben eher als „powerless elite" zu bezeichnen sind, da ihnen die direkte Kontrolle auf die ihnen am Herz liegende Produktion verwehrt bleibt und auch das Zuschauerverhalten außerhalb ihrer Gemeinschaft ein unkalkulierbarer Faktor ist (Tulloch 1995: 145), oder ob Fans tatsächlich machtvoll agieren können, ist von Fall zu Fall unterschiedlich und abhängig von der Dynamik des populärkulturellen Produktionsprozesses (vgl. Jones 2003). Die herrschende Kulturproduktion sichert sich im Allgemeinen gegen eine ungewollte Einflussnahme von Seiten des Konsumenten ab, wie John Fiske es am Beispiel der Situation von Fußball-Fans beschreibt: „The official barrieres that separate fans from the field

III.4. Gemeinschaftsmedium

Fernsehen

187

of play [...] are evidences not only of the fans' desire to participate [...] but also of the dominant culture's need to maintain the disciplinary distance between text and reader" (Fiske 1992:41). Diese Barrieren werden von der Fernsehindustrie aber immer dann zurückgebaut, wenn Partizipation von Seiten der Zuschauer erwünscht ist, um den Erfolg einer Sendung, einer Medienfigur usf. zu maximieren. Fans nutzen diese Durchlässigkeit, um mit politischen und kreativen Mitteln ihre Interessen durchzusetzen. Dies gelingt im Umfeld konvergierender Medien wie Fernsehen und Internet immer effektiver, wie Jenkins argumentiert: „[Convergence is changing the ways in which media industries operate and the ways average people think about their relation to media. We are in a critical moment of transition during which the old rules are open to change and companies may be forced to renegotiate their relationship to consumers. The question is whether the public is ready to push for greater participation or willing to settle for the same old relations to mass media" (Jenkins 2006a: 243). Anhand eines Beispiels, das John Fiske in einem Aufsatz beschreibt, lässt sich dieser Wille zur Partizipation (und zwar ein sehr starker) bei Fans feststellen (Fiske 1992: 39): Ende der 1980er Jahre rief der Musiksender MTV seine Zuschauer dazu auf, eigene Videos zu dem Madonna-Song „True Blue" zu produzieren und einzusenden, um eine Auswahl in einem 24 Stunden andauernden Sonderprogramm auszustrahlen. Schon zu dieser Zeit, in der die Herstellung anspruchsvoller audiovisueller Produktionen noch ohne die Hilfen digitaler Aufnahme- und Schnitttechnik auskommen musste, wurde dieses Angebot zur aktiven Beteiligung rege genutzt. Im 21. Jahrhundert hat sich diese Tendenz zur strukturellen Offenheit hinsichtlich der Konsumenten-Partizipation am laufenden Programm noch deutlich verstärkt, auch wenn es ihr an klaren Linien mangelt. Sender umwerben die Fans, die als die loyalsten Zuschauer gelten, mit zusätzlichen Informations- und Programmangeboten im Internet und versuchen auf sensible Weise zu evaluieren, wie Programmentscheidungen und Sendungsentwicklungen von den Fans im Netz diskutiert werden. Jenkins sieht darin nicht weniger als einen Wandel des Verständnisses von Fernsehen: „Während sich die Senderverantwortlichen immer mehr Gedanken über diese Art von Partizipationskultur machen, verändert sich das Wesen des Fernsehens grundlegend" (zitiert nach Kramp/ Weichert 2007a). Auch wenn über das Aus einer Sendung meist nicht in Rücksprache mit den Fans, sondern aufgrund des Einschaltverhaltens der Mehrheit der Zuschauer, gemessen mit der Einschaltquote, entschieden wird, kommt Fan-Gemeinden ein wachsendes Mitspracherecht im inhaltlichen Detail zu, da sie mit ihrer kollektiven Intelligenz und in ihrem Leitmotiv der Verteidigung ihres Topos einen kooperativen, aber zugleich auch kampflustigen ,Think Tank' darstellen, der aktuelle Veränderungen umgehend auf Kohärenz und Stichhaltigkeit im Abgleich mit der Programmhistorie prüft. Fans sind „textual conservationists" (Hills 2001b: 167), die jegliches Merkmal ihres Topos in Relation zur übergeordneten Programmhistorie und den im Topos eingeschriebenen Traditionen interpretieren (vgl. Jenkins 1995b: 178). So sehr sie innovativen Lesar-

188

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

ten und eigenen Produktionen gegenüber offen sind, so wertverbunden sind sie in ihrer Verbindung zum Original und der Pflege seiner Reputation. Ungerechtfertigte Abweichungen werden daher von den Fans auch als Beschädigungen des gemeinsamen Erbes gewertet. Wenn Produzenten oder Programmmacher die Bedürfnisse der Fans ignorieren, wozu auch der Verstoß gegen das Kontinuitäts- und Kohärenzgebot des Handlungsrahmens innerhalb einer Fernsehdramaturgie gehört, kann das darüber hinaus als Beleidigung der kollektiven Fan-Intelligenz und der Entwertung ihrer gemeinschaftlichen Erinnerungsarbeit verstanden werden (vgl. Tulloch 1995: 146). Mit den technischen Instrumenten der computergestützten Bewegtbildproduktion steht es mittlerweile jedem Konsumenten offen, zu dem Produzenten zu werden, den Jenkins sich im Sinne einer Partizipationskultur erhofft. Internet-Anbieter wie „ChannelMe. tv" werben damit, dass Fernsehnutzer selbst Fernsehen veranstalten können, und zwar auf ihrem eigenen Kanal, für den es nicht mehr braucht als eine Internet-Adresse mit der Kennung ,,.tv".49 Fans nutzen dagegen in überwiegendem Maße kostenlose Plattformen wie „YouTube", „MySpace" oder die in Deutschland firmierenden Anbieter „MyVideo" bzw. „ClipFish". Die Videoproduktionen werden je nach Länge und Geschwindigkeit der Internet-Verbindung in wenigen Sekunden bis wenigen Minuten auf eine externen Internet-Speichereinheit, einen sogenannten Server, übertragen und ist von dort aus für alle interessierten Nutzer abrufbar. Nicht mehr nur Erzählungen in Form von Geschichten werden also zirkuliert, sondern vermehrt audiovisuelle Adaptionen, Parodien, Collagen usf. Nutzergenerierte Inhalte erfreuen sich vor allem bei jungen Zuschauern bzw. Internet-Nutzern großer Beliebtheit und können das Profil einer Fan-Gemeinschaft im günstigen Fall nach außen hin schärfen und auf Neuzugänge integrativ wirken.50 Dadurch wird die Autorität der Fan-Gruppenleiter keineswegs unterminiert. Ihre Rolle als Kontroll- und Moralinstanz bzw. Mittler zwischen Fan-Deutungen von gestern und heute wird dadurch nur unterstrichen. Generell ist zu beobachten, dass, gemessen an der Gesamtzahl der Internet-Nutzer, eine vergleichsweise geringe Zahl audiovisuelle Inhalte produziert und/oder ins Netz stellt (vgl. Gscheidle/Fisch 2007:401). Zumindest bei der Mehrheit der deutschen Nutzer steht die Partizipation nicht im Vordergrund. Bei ihnen übt die Rezeption des Materials den größeren Reiz aus. Gleichwohl gilt: Eine Minderheit beliefert die Mehrheit mit zum Teil selbst erstellten Bewegtbildproduktionen. Bei derlei aktiven Fans unterstreicht dies ihren themenspezifischen Elitestatus und spricht für ihren Einfluss als Programmmacher. Auch weisen die Daten der Internet-Nutzung auf ein eklatantes demographisches Gefälle beim Abruf der Videos hin. In Deutschland werden sie zwar nicht ausschließlich,

49

50

Bei ,,.tv" handelt es sich ursprünglich um die Länderkennung des Inselstaates Tuvalu, die indes aus kommerziellen Gründen zur Kennung für Bewegtbildanbieter umfunktioniert wurde (Wilson 2001: 68-69). Ebenso möglich ist auch die Schaffung einer Wettbewerbsatmosphäre zwischen einzelnen Fansoder Fan-Gruppen, die sich gegenseitig in ihrem Wissen und seiner kreativen Umsetzung messen (vgl. Foster 2004: 270-289).

111.4. Gemeinschaftsmedium

189

Fernsehen

aber in überwiegender Mehrzahl von den Altersgruppen der 14- bis 19-Jährigen und der 20- bis 29-Jährigen rezipiert (Eimeren/Frees 2007: 370). Die Gefahr, dass Angehörige älterer Generationen oder aus sozialen Kreisen mit geringer Internet-Affinität bei dieser Medienentwicklung abgehängt oder übergangen werden, ist erheblich. Jenkins sieht in dieser „participation gap" (Jenkins 2006a: 258) ein staatsbürgerliches Risiko, werde doch die klassische Grundversorgung bzw. das Ideal des informierten Bürgers immer unwahrscheinlicher, da die Informationsmasse für den Einzelnen nicht mehr zu bewältigen sei (ebd.: 259). Gerade älteren Menschen bietet die anonyme Kommunikationsumgebung des Internets die Option, sich in der ansonsten stark von jugendlichem Verve geprägten Fan-Kultur zu engagieren (vgl. Bailey 2005: 170). Partizipation wird nach Jenkins Ansicht immer deutlicher zur Schlüsselqualifikation (Jenkins 2006a: 259). Dies führt den Argumentationsbogen wieder zurück auf die Grundform gesellschaftlicher Gemeinschaft: der Versammlung. Der Fan als Spezialtypus des Konsumenten agiert hierbei als Vorbild integrativer Adaptions- und Produktionsfähigkeit, die Konsumption zu einem Ausdruck kollektiver Intelligenz und Medienmacht macht (ebd.: 4). Jenkins zufolge sorgt ein breites Portfolio von Medientechnologien für die Aktivierung sozialer Energie, die sich im kollektiven Konsum und gleichsam gemeinschaftlicher Produktion immer wieder entlädt und neu generiert wird, wenn „they [the people] pool their insights and information, mobilize to promote common interests, and function as grassroot intermediaries ensuring that important messages and interesting content circulate more broadly" (ebd.: 245). Natürlich ist die virtuelle Kommunikation auch mit einigen ernsten Nachteilen verbunden wie zum Beispiel der loseren zwischenmenschlichen Bindung und gemeinschaftlichen Fragilität in der Online-Umgebung: „For one thing, virtual communities are,low-risk.' In a virtual community, any individuals who lose interest can easily drop out, and will soon not to be missed" (Bird 2003: 81). Dies unterstreicht indes die Notwendigkeit breit aufgestellter und kombinierter virtueller und nicht-virtueller Gemeinschaftsaktivitäten, welche es den einzelnen Mitglieder ermöglichen, ihren Fernseh-Topos auf die gewinnbringendste und nur dadurch eine integrative Wirkung entfaltende Weise zu pflegen.

4.3.

Gemeinschaftsfernsehen

4.3.1. Fernsehen und

als Kontaktaufnahme

mit der

Außenwelt

Isolationsangst

In der ersten Episode der Science Fiction-Serie „The Twilight Zone" artikulierte der Produzent und Drehbuchautor Rod Serling Ende der 1950er Jahre vermutlich ungewollt eben jene Isolationsangst, die genau das Medium betraf, über das er ein massenhaftes Publikum erreichen wollte. Am 2. Oktober 1959, einem Freitagabend um 22 Uhr, irrte ein Mann über die Fernsehschirme der USA, der nicht nur sein Gedächtnis verloren zu haben schien, sondern auch vergeblich nach seinen Mitmenschen suchte, die wie vom Erdboden verschluckt zu sein schienen. Übertitelt mit „Where is Everybody?", beschrieb die televisuelle Kurzgeschichte die Angst des Menschen vor dem Alleinsein. Was dem

190

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Fernsehzuschauer als erlebensechtes Szenario vorgeführt wird, stellt sich am Ende als Raumfahrtexperiment heraus, das den Protagonisten auf eine baldige Mondfahrt vorbereiten soll. Die zweieinhalbwöchige Abschottung in einer Metallsonde bringt ihn schließlich zum Halluzinieren. Der Militärarzt beschreibt die seelische Notsituation resümierend mit „Mans hunger for companionship". Der Serienstart von „Twilight Zone" erfolgte in einer Zeit, in der das Fernsehen einerseits für seine Nutzer ein begehrenswertes Faszinosum war, andererseits bei seinen Kritikern unter Generalverdacht stand und für die Flucht des Gesellschaftsmenschen in die Zurückgezogenheit des häuslichen Lebens verantwortlich gemacht wurde: „Television seems to be a social activity, an activity performed by many people together. Actually, though, it smothers contact, really inhibiting inter-personal exchange. A group watching television is frequently a group of isolated people, not in real exchange at all. Television viewers are given to solitary pleasures, not the social ones. Children and adolescents frequently revert to thumb-sucking while watching; how much eating and drinking goes on before the set! The complaint is common enough today that social visiting has lost its social, conversational, engaged side" (Glynn 1956:180). Das Szenario der Isolation weiter Bevölkerungskreise durch das Fernsehen galt der zeitgenössischen Kulturkritik als medienpolitisches Schreckgespenst, dessen sich das Fernsehen scheinbar als besonders anfällig darbot. Die These ist simpel: Wer daheim vor dem Fernseher sitzt, werde davon abgehalten, sich mit seinen eigenen Überzeugungen im interpersonalen Austausch auf dem Marktplatz, in Vereinen, auf der Bürgerversammlung oder sonstigen Zusammenkünften mit gesellschaftspolitischer Bedeutung engagieren. Durch diesen Rückzug wird der Bürger als Zuschauer zur unkonkreten Bezugsgröße und kann nur noch als Masse adressiert werden - mit der Folge: Die Vermassung des Einzelnen. Sein isoliertes und vermasstes Dasein als „Massen-Eremit" vor dem eigenen Fernsehgerät führe zu einer Distanzierung von der Umwelt und einsiedlerischen Vereinsamung (vgl. Anders 1980b: 102). Auch der tschechoslowakische Philosoph Vilém Flusser betrachtete die von ihm beobachtete „allgemeine Massifizierung" durch das Fernsehen als durchaus ernst zu nehmende Gefahr, die in ihrer Bedeutung und Wirkung nicht abzuschätzen sei (vgl. Flusser 1974: 122). Als grundlegendes Problem identifizierte er die Verhinderung dialogischer Kommunikation durch den Rundfunkbetrieb, der den Diskurs als vorherrschende Kommunikationsform etabliere: Nicht die Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht, nicht die Diskussion unter Gleichen erfahre dadurch Anwendung, sondern au contraire die monologische Rede, der Vortrag, die Vorführung. Der Diskurs führe konsequent zur Elitebildung, zur Etablierung von Hierarchien zwischen Verkündern und Jüngern, zwischen Sendern und Empfängern. Das Publikum sei notgedrungen zur Passivität verdammt, da die Fernsehkabel keine Querschaltungen zuließen (Flusser 1989: 86). Die fernsehende Öffentlichkeit werde durch die wachsende Abhängigkeit von der Bilderflut politisch desengagiert, weil sie nicht mehr am öffentlichen Leben, das heißt am gesellschaftlichen

III.4. Gemeinschaftsmedium

Femsehen

191

Dialog außerhalb des eigenen Zuhauses teilnehme (Flusser 1990: 137). Das televisuelle Paradox wird von Günter Anders wie folgt beschrieben: Durch das ständige Einströmen der Außenwelt in Form von Fernsehübertragungen in das private Refugium des Zuschauers ist dieser „stets anderswo und niemals zuhause" sowie gleichzeitig „überall und immer zuhause" (Anders 1958/1961: 86). Die der Vorstellung vom „Massen-Eremiten" zugrundeliegende Distanzierungsthese ist bis heute populär: Fernsehkonsum führe zu einer Reduzierung sozialer und speziell politischer Aktivitäten (Putnam 2000: 229), schreibt der Politikwissenschaftler Robert Putnam, der indes das Fernsehen in seinem Buch „Bowling Alone" als nur ein Grundübel von vielen im Kontext des zur Vereinzelung führenden sozialen Wandels in Nordamerika identifiziert. Auch der in Bezug auf das Fernsehen durchaus begeisterungsfähige USamerikanische Kommunikationswissenschaftler Joshua Meyrowitz sieht einen Rückgang im öffentlichen Engagement. Mit dem Fernsehen, so der Titel des ersten Bandes seines Hauptwerks „Die Fernsehgesellschaft", sei man „Überall und nirgends dabei": ,,[D]ie elektronischen Medien haben immer stärker die zwischenmenschlichen Situationen in physisch begrenzten Umgebungen beeinflusst. [...] Immer stärker machen uns die Medien zu .direkten Zuschauern von Ereignissen, die an anderen Orten geschehen, und gestatten uns einen Zugang zu anderen Menschengruppen, die nicht physisch präsent sind" (Meyrowitz 1990: 33). Damit habe auch das Fernsehen dazu beigetragen, das traditionelle Gefüge zwischen physischen und sozialen Umgebungen zu zerstören. Ersetzt worden sei es durch eine einzige große Bühne, die „zu einer moralischen Neubewertung sozialen und politischen Verhaltens" geführt habe (Meyrowitz 1990b: 218). Eine Folge sei die Lockerung von Gruppenzugehörigkeiten, die Vermischung von Sozialisationsstadien und die Einebnung von Klassenunterschieden und Hierarchien gewesen (Meyrowitz 1990a: 36: 190). Auch haben die elektronischen Medien laut Meyrowitz (ebd.: 93-97) zu Verhaltensänderungen geführt: So unterscheiden sich das räumliche grundlegend vom elektronischen Miteinander. Das Telefon, der Computer und vor allem das Fernsehen laden dazu ein, sich nebenbei mit anderen Dingen zu beschäftigen, unaufmerksam zu sein und damit das zentrale Geschehen, die Teilhabe am Sozialleben, zu entwerten. Die sozialen Informationsbeziehungen verändern sich maßgeblich und führen zu einer physischen Entpersönlichung der Kommunikation. Die Medien-Kommunikation ersetze zunehmend die Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht (ebd.: 33). Der Distanzierungsthese folgend könnte eine rege Nutzung elektronischer Massenmedien und die Pflege der durch sie ermöglichten veränderten sozialen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zur Vereinzelung und sozialen Exklusion führen. Meyrowitz' Ausführungen sind von einer ambivalenten Mehrdeutigkeit gekennzeichnet: Einerseits überwindet das Fernsehen geographische Distanzen, indem es Informationen in potenziell jeden Winkel der besiedelten Erde überträgt und keine Zugangsschranken aufweist, andererseits schafft es soziale Distanzen, indem es seine Zuschauer an das Empfangsgerät bindet und sie dadurch dem zuvor geographisch definierten

192

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Sozialgefüge entzieht. Mit der Terminologie seines Lehrers Herbert Marshall McLuhan spricht er gleichwohl vom „Globalen Dorf", in dem jeder Mensch durch das Fernsehen in die Angelegenheiten jedes anderen einbezogen wird (ebd.: 50), nur eben nicht in körperlicher Anwesenheit, sondern durch das metaphorische Guckloch Fernsehen. Indem das Fernsehen den Menschen entwurzele, ihn in seiner Verortung im Sozialgefüge störe, entstehe eine ,,Orts-ungebundene[.] Kultur" (ebd.: 37), in der die Menschen den Fernseher einschalten müssen, um zumindest das Gefühl zu haben, mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben. Sollte Meyrowitz' Psychogramm des durchschnittlichen Fernsehzuschauers zutreffen, bedeutete dies eine vollständige Umwälzung der traditionellen - ortsgebundenen - Gedenkkultur. Das Fernsehen hat dieser Auffassung nach die physischen Erinnerungsorte ersetzt, indem es die Essenz sozialer Interaktion und damit auch gesellschaftlicher Erinnerungsarbeit freilich nicht vollständig, aber in erheblichem Maße in die elektronische Kommunikation transfundiert. Für die gesellschaftliche Erinnerungsarbeit mag das eine Einbuße an Lebendigkeit in der aktiven Beteiligung und Artikulation von Vielstimmigkeit bedeuten, aber auch eine Konformität in der Bildung von erinnerungsrelevantem Wissen. Die Hegemonie der Fernsehbotschaft kann zu einer Kollektivierung des Individuums führen, das heißt: Indem der Fernsehnutzer sich größtenteils oder gar alleinig auf die Informationsvermittlung durch das Fernsehen verlässt und auf persönliches Engagement im öffentlichen Gemeinwesen verzichtet, wird eine Reduzierung des individuellen Erinnerns auf einen gesellschaftlichen .Common Sense' wahrscheinlich, der von Massenmedien als öffentliche Meinung kommuniziert und definiert wird.51 Andererseits erreichen die Fernsehprogramme mehr Menschen gleichzeitig als jemals zuvor. Dadurch wächst die Vielfalt an Möglichkeiten der Anschlusskommunikation: Das Fernsehen wird zum Stichwortgeber individueller Erinnerung, die durch den über das Fernsehen hergestellten Rückbezug auf den gemeinsamen gesellschaftlichen Nenner das einzelne Subjekt in einen gesamtkulturellen Konsens integriert. 4.3.2. Fernsehen als balancierendes

Medium

Diese pessimistische Annahme eines sich auf den zwischenmenschlichen Umgang verheerend auswirkenden Fernsehkonsums ist indes kaum tragfáhig, wie bereits am Beispiel der Familie und Fan-Gemeinschaften gezeigt wurde. Die Isolationsthese bewertet die Mediennutzung in ihrer Ausschließlichkeit und setzt sie nur unzureichend mit den übrigen Entwicklungen häuslicher Technisierung und sozialen Entwicklungsfaktoren in Zusammenhang. Die Etablierung des Fernsehens ging mit einer raschen Ausbreitung anderer technologischer Hilfsmittel im alltäglichen Leben wie dem Telefon und des Au-

51

Christina Bartz meint: „Demnach besagt die Koppula .Masse-Eremit' nicht nur die Kontamination eines gesellschaftlichen Orts, der als ein Außerhalb der Gesellschaft in Opposition zur sozialen (De)formation der Masse steht, sondern der Begriff markiert auch eine Hybridisierung medialer Differenzen, insofern er identische Rezeptionsverfahren beschreibt" (Bartz 2002: 119-120).

III.4. Gemeinschaftsmedium

193

Fernsehen

tos einher, die in erheblichem Maß soziale Kontakte erleichterten und zu ihrer Stärkung beitrugen (Hickethier 1998: 93). In der Bemächtigung technischer Instrumente im sozialen Umgang miteinander stellt eine Gesellschaft ihre Funktionsfähigkeit sicher. In den Massenmedien sieht der Kommunikationswissenschaftler Michael Giesecke in diesem Zusammenhang die gesellschaftliche Reaktion auf eine drohende dialogische und interaktive Überbelastung der Kultur: „Das enorme Bevölkerungswachstum und die zunehmende Arbeitsteilung haben dazu geführt, dass die Menschen einander kaum mehr ausweichen können. Überall sind kommunikative Abstimmungen erforderlich. In der Arbeit, der Familie und in der Freizeit entstehen mehr soziale Interaktionsmöglichkeiten und -notwendigkeiten als je zuvor in der Geschichte" (Giesecke 2007: 208). Aus dieser Sicht unterbricht Fernsehen interpersonelle Interaktion, um die Individuen von einer möglichen Überforderung durch interaktive Informationsverarbeitung zu entlasten. Giesecke weist hierbei auf die dramatisch angestiegene Zahl von potenziellen Interaktionspartnern eines jeden Einzelnen hin, die im Vergleich zu der klar abgegrenzten sozialen Umfelds in traditionellen Gesellschaften in keiner Weise mehr überschaubar oder tatsächlich adressierbar sei (vgl. ebd.: 209). Dennoch schließen die Massenmedien und vorrangig das Fernsehen die Interaktion nicht vollkommen aus, sondern fordern vom Rezipienten die Bereitschaft ein abzuwägen, „wie viel Interaktion in welchen Konstellationen wünschenswert und erträglich ist, wann der Körper und kreative Medien und wann die Traditionsmedien Text und Bild fruchtbar sind" (ebd.: 211). So balanciert das Fernsehen in seiner Angebotsvielfalt und Anwendungsflexibilität die Möglichkeit der sozialen In- und Exklusion. Indem es alle Möglichkeiten bereithält: Fernsehnutzung in aller Abgeschiedenheit oder gemeinschaftliches Erleben in mehr oder weniger großer Runde, schafft es einen Ausgleich zwischen den urmenschlichen, aber gegensätzlichen Bedürfnissen nach Abgrenzung und Geselligkeit. Die Entscheidung trifft der Nutzer. Voraussetzung ist, dass die inneren und äußeren Umstände eine Wahlmöglichkeit zulassen. Schließlich ist Vereinsamung ein soziales Phänomen, das nur selten von den Betroffenen selbst intendiert ist und auf komplizierten intra- und interpersonalen Entwicklungsfaktoren basiert. 4.3.3. Fernsehen als Gemeinschaftsstifter

im öffentlichen

Raum

Indem die Zahl der Fernsehhaushalte die Millionenzahl erreichte (in der BRD 1957, in den USA bereits Ende der 1940er/Anfang der 50er Jahre) und ungebremst weiter anwuchs, schuf sich das zuvor in Gaststätten und vor Schaufenster oder auch im Kino fernsehende Publikum eine attraktive Alternative, seiner Begeisterung für das neue Medium zu frönen. Dennoch war es zunächst nur wenigen vergönnt, ein Empfangsgerät sein Eigen nennen zu können. Die Preise waren für die damaligen Verhältnisse horrend: Mehrere Monatslöhne wollten investiert werden, um sich einzuklinken in die Gemeinschaft der Fernsehzuschauer, die zwei Monate nach Aufnahme des regelmäßigen Sendebetriebs

194

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

in Deutschland gerade einmal 1117 Haushalte umfasste (Eckert/Niehus 1963: 305), lagen die Gerätepreise doch anfangs bei mehreren tausend D-Mark, Ostmark bzw. Dollar. So war das Straßenbild im Nordamerika der 1940er und das (west-) deutsche bis Anfang der 60er Jahre noch von Menschen geprägt, die sich vor den Schaufensterscheiben von Elektrohändlern bzw. in den Geschäftsräumen versammelten, um ihre Neugier zu befriedigen und aus den Fernsehnachrichten das Neueste vom Tage zu erfahren (vgl. McCarthy 2001: 63; Hickethier 1993a: 169), oder sie gingen gleich in die Gaststätte bzw. Bar, wo der aktuelle Politskandal oder die Übertragung eines Fußballspiels gemeinsam am Bildschirm verfolgt und sodann umgehend debattiert werden konnte. Der Drang zum eigenen Gerät war zwar stark (Schildt 1995: 206: 279), doch nach dem Zweiten Weltkrieg repräsentierte anfänglich vor allem das „Tavernenfernsehen" in der Nachbarschaft die vorherrschende Rezeptionsform (vgl. McCarthy 2001: 29). Im Nachkriegsdeutschland wurde dagegen auf öffentliche Fernsehstuben gesetzt, wie sie im Dritten Reich eingerichtet worden waren, um eine möglichst flächendeckende Empfangsmöglichkeit für die Bevölkerung zu gewährleisten. Während diese Art von Gemeinschaftsfernsehen in der DDR in Betrieben, Pionierräumen oder Gemeindesälen auf dem Land vor allem aus wirtschaftlichen Gründen kultiviert wurde, da sich die Versorgung weiter Bevölkerungskreise mit Fernsehapparaten auf absehbare Zeit als schwierig erwies (vgl. Meyen 1999), galt der öffentliche Kollektivempfang im Westen aber als verpönt, und die Debatte war schnell zugunsten des Fernsehgenusses in häuslicher Umgebung entschieden (Hickethier 1994a: 251). Die Nutzung außerhalb der eigenen vier Wände half zwar in gewissem Maße gegen Einsamkeit, wurde aber in vielerlei Hinsicht als zu aufwendig und umständlich bewertet: Häufig begann der Sendebetrieb erst am Abend, wodurch das Fernsehen für viele Arbeitnehmer als Anschlusstätigkeit nach Feierabend wegfiel, da mehrere Stunden Wartezeit überbrückt werden mussten und es schwerfiel, sich durchzuringen, nochmals von Zuhause aus aufzubrechen, wenn schon einmal die Beine hochgelegt worden waren. Hinzu kam, dass von Intimität beim Fernsehen in der Gruppe in der Regel nicht mehr gesprochen werden konnte. Die Füße hochzulegen war (und ist) in solchen Situationen ebenso tabu wie das Kleiden in Feierabendhose oder Unterhemd, wobei erwähnt werden sollte, dass es auch im privaten Umfeld in den ersten Jahren nach der Etablierung des Fernsehens durchaus üblich war, sich für den Fernsehabend im eigenen Wohnzimmer herauszuputzen (vgl. Eurich/Würzberg 1983a: 12). In seiner Abwägung über das Für und Wider des Fernsehens im öffentlichen Raum sah Hans Gabler den einzelnen Zuschauer dabei in einer Zwangsatmosphäre gefangen, von den anderen Zuschauern „eingezäunt" und dem „Kollektivgeist" unterworfen: ,,[E]r sitzt im Gegensatz zum Einzelempfänger, nicht im Hausrock bequem in seinem Wohnzimmer, sondern er musste sich erst wie zu einem Theater- oder Kinobesuch .zurechtmachen, musste sich innerlich und äußerlich auf das bevorstehende Ereignis vorbereiten; er sitzt vor dem Bildschirm zwischen Menschen, die er gar nicht oder nur wenig kennt, mit denen er zufällig vor dem Fernsehgerät zusammentrifft;

777.4. Gemeinschaftsmedium

Fernsehen

195

er muss Beifallsäußerungen anhören, wenn er selbst vielleicht dem Gebotenen überhaupt nicht zustimmen würde; er muss Missfallenskundgebungen erleben, wenn er selbst gänzlich anders reagieren möchte; er wird durch seine Mit-Zuschauer gezwungen, sich auf deren Reaktion einzustellen; er kann nicht mehr naiv reagieren, wie er das beim Einzelempfang in seinem eigenen Haus tun würde; er muss sich also Zwang antun [...]" (Gabler 1956:150). Gabler sah zudem die Gefahr der „Infektion" des Einzelnen durch die Reaktionen des Kollektivs (vgl. ebd.: 151) und leitete daraus die maßgeblichen Gründe für den Einsatz des Kollektivempfangs für propagandistische Motive unter den Nationalsozialisten und in den Ostblockstaaten der Nachkriegszeit ab. Dieses Misstrauen gegen das Außer-HausFernsehen war aber kaum an tatsächlichen Wirkungsdaten zu belegen (vgl. Lindegk 1950/1951). Dennoch erkannte Gabler eine Form des Kollektivempfangs, die „keinerlei negative Vorzeichen aufweisen muss" (Gabler 1956: 154): So strich er die Freiwilligkeit der Gruppenaktivität heraus und wünschte sich, dass Fremde zu Freunden bzw. das Kollektiv wildfremder Zuschauer durch ein gegenseitiges Kennlernen zu einem Stammpublikum werde (ebd.). Die Möglichkeiten der Einflussnahme des Nutzers auf die Auswahl des Programms und die Steuerung der Rezeptionsumstände wie die Regelung der Lautstärke hängen naturgemäß von der Größe, Art und Vertrautheit der fernsehenden Gruppe ab. Doch für gewöhnlich hat der einzelne Zuschauer außerhalb des eigenen Zuhauses kaum noch Kontrolle über die jeweilige Situation, in der das Fernsehen nutzt. Um trotzdem seine Bedürfnisse zu befriedigen, muss er sich aktiv mit seiner Umwelt auseinandersetzen und in ein dialogisches Verhältnis entweder mit denjenigen Personen treten, welche die Kontrolle über die Fernsehsituation haben (wie zum Beispiel das Personal eines Geschäfts), oder mit den anderen Rezipienten. Es gilt, auf Sichtbehinderungen zu reagieren, Ablenkungen in Kauf zu nehmen und Verständnislücken infolge einer Unvollständigkeit des Rezeptionsprozesses (durch späteres Hinzukommen oder Unterbrechung der Nutzung) zu schließen. Der Fernsehnutzer muss sich in der Öffentlichkeit also auf die jeweiligen Nutzungskontexte einstellen, auf die mit ihm anwesenden Nutzer und auf das Fernsehen selbst. Die wohl wichtigste Adjustierung erfolgt in Bezug auf die innerliche Haltung gegenüber der gesamten Rezeptionssituation: offen zu sein für die soziale fernsehbezogene Interaktion. Daher lassen sich die kommunikationsfördernden Funktionen des Fernsehens nach Erkenntnissen der Medienwissenschaftlerin Dafna Lemish vor allem im öffentlichen Raum beobachten (Lemish 1982). So diene Fernsehen gemeinhin als allgemein bekannter und zudem attraktiver Bezugspunkt in fremden Umgebungen, welcher Begegnungen mit Unbekannten erleichtere und zum Wissensaustausch animiere. Fernsehen befriedigt demnach ein Bedürfnis nach sozialer Interaktion („Desirability"). Lemishs Untersuchungsergebnissen zufolge schien die Mehrheit der betrachteten Personen außerdem davon auszugehen, dass die Fernsehrezeption einen geeigneten Umstand darstelle, ins Gespräch zu kommen. Fernsehen legitimiert also die persönliche Kommunikation mit Fremden

196

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

(„Legitimacy"). Auch wurde die Auffassung erkennbar, dass der öffentliche Rezeptionsrahmen eine angemessene Voraussetzung sei, um miteinander zu interagieren („Appropriateness"): „that is, it becomes the .right' place and the .right' time" (ebd.: 768). Indem Fernsehen Geselligkeit stiftet und Gesprächsstoff liefert, muss sich das Publikum nicht erst als das von Gabler präferierte Stammpublikum organisieren, um ein kollektives Erlebnis zu erreichen. Je nach Ausprägung der Kommunikationswilligkeit der einzelnen Akteure kann das Fernsehen somit zum Anlass dienen, den öffentlichen Raum durch die Verständigung und Annäherung der zuvor untereinander fremden Zuschauer gewissermaßen zu .privatisieren'52 und eine angenehme Atmosphäre unter den Anwesenden herzustellen. Die Verbesserung der individuellen Stimmungslage der Beteiligten kann sich wiederum positiv auf die Wahrnehmungsweise des Fernsehprogramms auswirken, da im soziale Umfeld allgemein ein intensiveres Unterhaltungserleben stattfindet (vgl. Schweiger 2007: 296). Das Fernsehen selbst hat trotz seiner häuslichen Verankerung seine Zuschauer immer auch im öffentlichen Raum adressiert - entweder als Werbemaßnahme von Wirtschaft und Politik, worunter auch die staatsbürgerliche Aufklärung unter Kontrolle einer zentralen Einheitspartei wie in der DDR fallen dürfte, oder als Dienstleistung für die allgemeine Öffentlichkeit. Niemand scheint mehr auf Fernsehen verzichten zu müssen. Geräte finden sich überall: In Geschäften, auf Bahnhöfen, auf Flughäfen, Kliniken, Kantinen - überall dort, fasst der Kommunikationswissenschaftlicher Friedrich Krotz zusammen, „wo man zu warten hat" (Krotz 2001: 102). Durch die „tendenzielle!.] Grenzenlosigkeit in der Distribution" (Zielinski 1989:215) wird es immer schwerer zu definieren, wann jemand Teil des Fernsehpublikums ist und wann nicht, da Fernsehen in schier unerschöpflicher Vielfalt an Kontexten stattfindet: Im Grunde gehört durch die Sättigung des gesellschaftlichen Lebens Jeder (auch jeder Nichtseher) jederzeit dazu (vgl. Ang 2006: 64). Das Fernsehen im öffentlichen Raum erfüllt nach Ansicht von Friedrich Krotz und Susan Tyler Eastman vor allem eine Beschäftigungsfunktion, die sich durch Zufälligkeit, Kurzzeitigkeit und Zusammenhanglosigkeit auszeichnet und in drei maßgebliche Bereiche einteilen lässt (Krotz/Eastman 1999: 16): Fernsehen wird zum einen als ablenkender Zeitvertreib eingesetzt, um einen Wartevorgang komfortabler zu gestalten. Darunter fällt beispielsweise der Einsatz von Fernsehern auf Flughäfen, bei Unternehmen mit verzögerter Warenausgabe oder sich hinziehenden Dienstleistungen bzw. für die Kinderbetreuung wie unter anderem im Möbelmarkt. Des Weiteren wird Fernsehen auch in der Hoffnung eines dekorativen Mehrwerts bei der Gestaltung der Einkaufsatmosphäre benutzt. Dies soll einerseits die Stimmung der Kunden aufhellen, andererseits den Absatz ankurbeln. Zuletzt nennen die Autoren noch den Attraktionsfaktor des öffentlichen Einsatzes

52

Im Gegensatz zur Privatisierung des öffentlichen Raums in Form einer Abgrenzung zur sozialen Umwelt, indem Fernsehempfänger auf eine Weise okkupiert werden, so dass die Mitmenschen von der Rezeption ausgeschlossen sind bzw. sich ausgeschlossen fühlen (siehe hierzu ausführlich McCarthy 2001: 117-153).

III.4. Gemeinschaftsmedium

Fernsehen

197

von Fernsehprogrammen, der vornehmlich dazu dient, durch das Unterhaltungsangebot Kunden zu gewinnen und während der Fernsehveranstaltung Waren umzuschlagen. Im Vordergrund des „Out of Home"-TV steht also nach dieser Lesart das Fernsehangebot als ökonomischer Faktor.53 Tatsächlich ist das Fernsehen an ganz unterschiedlichen Orten des Alltagslebens mittlerweile so selbstverständlich geworden, dass Medienunternehmen diese spezielle Art von Nutzung bereits als Werbeplattform einkalkulieren und die Verbreitung ihres Programmangebots durch strategische Partnerschaften mit Fitnessstudio-Ketten, Tankstellen oder Einkaufszentren voranzutreiben. Dafür werden personalisierte Programm- mit Werbeinhalten kompiliert, um sich möglichst eng an den Präferenzen der jeweiligen lokalen Operatoren auszurichten: Dieser Vermarktungszweig gehört zu den am stärksten wachsenden Distributionszweigen der Fernsehindustrie und verfügte Anfang 2008 bereits über eine halbe Million Bildschirmflächen in den USA, Tendenz steigend (vgl. Guthrie 2008). Fernsehen in öffentlichen Kontexten dient also nach diesen Beobachtungen alleinig dem Zeitvertreib und kommerziellen Gesichtspunkten und ist gekennzeichnet von einem unzusammenhängenden Stückwert aus Programmfragmenten, die nebenbei, größtenteils unaufmerksam und unbewusst rezipiert werden. Auch die konzentrierte Rezeption beispielsweise von Nachrichtenprogrammen in der Wartehalle des Flughafens bleibt eine Rezeption auf Abruf und ist zahlreichen situationsbedingten Störfaktoren unterworfen. Die Ausstattung von immer mehr Orten mit einsehbaren Fernsehempfängern macht das Medium zur „Weltbildtapete" (Hurrelmann/Hammer/Stelberg 1996: 272) des öffentlichen Raums, deren dynamischer Bilderreigen im Hintergrund stets mitläuft: „Public Viewing no longer has the communal property it once had in the ,tavern phase' of television. One reason television can be included in so many different environments and activities is because it is no longer intrusive, the center of attention. People can ,take it or leave it'" (Butsch 2000: 287). Einen gegenläufigen Eindruck vermitteln dagegen Großereignisse wie die sogenannten .Public Viewing'-Events, die in Deutschland während der Fußball-Weltmeisterschaften 2006 und 2010 stattgefunden haben. Schon immer erfreuten sich Unterhaltungssendungen und vor allem Sportübertragungen besonderer Beliebtheit beim Publikum und sorgten im Gegensatz zu Informationsprogrammen zeitweise für überfüllte Räumlichkeiten (vgl. Meyen 1999: 120-121; Schüler-Springorum 2008). Doch angesichts der hohen Zuschauerzahlen während der beiden erwähnten Fußball-Weltmeisterschaften hat das Fernsehen im öffentlichen Raum eine neue Qualität erhalten und wurde zu einem beispiellosen Unikum in der Rezeptionsgeschichte des Fernsehens: Nie haben so viele Menschen gemeinsam und gleichzeitig in verschiedenen Städten vor Großbildleinwänden ein Fernsehprogramm verfolgt. Allenfalls vereinzelt gab es öffentliche Fernseh-Veranstaltun-

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Entsprechend wählte das deutsche Unternehmen Ströer, ein Anbieter für Außenwerbung, den Begriff „Out of Home-TV" fur seine Laufbild-Installationen in öffentlichen Gebäuden wie zum Beispiel dem Berliner Hauptbahnhof.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

gen zu bestimmten Sendungen wie dem „Eurovision Song Contest", bei denen sich wie zum Beispiel in Hamburg bis zu 50.000 Zuschauer einfanden (vgl. Kramp 2001). Der Begriff des .Public Viewing' tauchte indes nicht, wie Wolfgang Schweiger notiert, erstmals während der Fußball-WM 2006 auf (Schweiger 2007: 293), sondern war in Nordamerika schon seit den 1990er Jahren ein geläufiger Begriff zur Umschreibung von televisueller Massennutzung im öffentlichen Raum (vgl. McCarthy 1995). Gesicherte Erkenntnisse über den tatsächlichen Umfang über die Fernsehnutzung außer Haus und damit verlässliche Vergleichsmöglichkeiten gibt es zwar nicht, da die telemetrischen Messungen auf bestimmte Fernsehhaushalte begrenzt sind, doch wurde die augenscheinliche Begeisterungsfähigkeit vieler Rezipienten für das .Public Viewing'Phänomen zum Anlass genommen, ihre „gefühlte Größenordnung" (Geese/Zeughardt/ Gerhard 2 0 0 6 ) mittels telefonischen Befragungen über die Ausmaße der Akzeptanz solcher Veranstaltungen zu unterfüttern. 54 Die Untersuchung der ARD- und ZDF-Medienforschung ergab, dass, verglichen mit der gerätebasiert ermittelten Einschaltquote mit einem damaligen Spitzenwert von knapp 30 Millionen Zuschauern 5 5 beim Halbfinalspiel Deutschland gegen Italien bei der W M 2006, im außerhäusigen Bereich noch einmal bis zu 16 Millionen Zuschauer die Spiele verfolgten (ebd.: 457). Hier wurde das Fernsehen zu einem archetypischen „Vergemeinschaftungserlebnis" (Krotz 2007: 237), für das sich die Zuschauer bewusst entschieden und dem Fernsehevent mit Volksfeststimmung (vgl. Gerhard 2006; Anonym 2 0 0 6 ) gegenüber der Rezeption im abgeschlossenen Familienoder Freundeskreis den Vorrang gaben. Die erfolgreiche Annahme dieser Art von Kollektivempfang durch große Teile der Zuschauerschaft belegt, dass die Integrationsfunktion des typischen Zuhausemediums trotz televisueller Sättigung der Umwelt und der Privatsphäre auch im öffentlichen Raum ihre Wirkung entfalten kann. Besonders die Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich als besonders aktiv und unternehmungslustig erweist, sind eine prädestinierte Zielgruppe für gemeinschaftliches Fernsehen im öffentlichen Raum, auch weil sie sich zwecks ihrer Pläne zur individuellen Lebensführung ohnehin langsam von den familiären Strukturen des Elternhauses ablösen (vgl. auch Vogelsang 2006: 439). Der Erlebniswert des Fernsehens in der Gruppe ist aufgrund der emotionalen Einbindung in den sozialen Rahmen als besonders hoch einzuschätzen. Dabei fallt die dem Fernsehen urtümlich inhärente räumliche Trennung weg, doch es bleibt die Dispersität der Masse, auch wenn sich Freunde zum gemeinsamen Besuch einer solchen Massenveranstaltung entschließen. Während es dem einzelnen Nutzer beim Fernsehen in überschaubaren Dimensionen wie im Wartezimmer des Arztes oder in der Mensa einer Universität möglich bleibt, mit den

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In den USA wird mit Hochdruck an der Etablierung von Messverfahren für die Erfassung der Nutzung von Out of Home-TV gearbeitet: So misst Nielsen auf Basis eines nationalen und sechs lokaler Panels (vgl. Consoli 2007). Das Halbfinalspiel zwischen deutschen Fußballnationalmannschaft und Gegner Spanien bei der Weltmeisterschaft im Jahre 2010 setzte einen neuen Rekordwert: 31,1 Millionen Fernsehzuschauer verfolgten die Niederlage der Deutschen am Fernseher (vgl. Schmieder 2010).

III.4. Gemeinschaftsmedium

Fernsehen

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anderen Anwesenden Nutzern in Dialog zu treten, ist diese Intimität bei Menschenansammlungen von mehreren tausend Zuschauern nicht realisierbar. Zwar wird das nuancenreiche Sympathieempfinden der persönlichen Nähe ersetzt durch ein Gefühl der Unbeschwertheit durch die Zugehörigkeit zu einer wahllos zusammengesetzten und für das Individuum unüberschaubaren Gemeinschaft aus feierwilligen Zuschauern: Doch in beiden Szenarios wirkt das situative Erleben des Fernsehvorgangs prägend auf das Gedächtnis des einzelnen Zuschauers. In gewisser Weise wird ein für die gemeinschaftliche Fernsehvorführung konzessioniertes Gelände dadurch zu einem wenn auch nur temporären Erinnerungsort. Als die Fußball-Weltmeisterschaft im Juli 2006 im eigenen Land vorüber war, verschwanden auch die Leinwände, vor denen sich die Massen deutscher Fußballfans versammelt hatten. Hatte sich dies auf einem staubigen Sandplatz vor der Stadt zugetragen, wird sich das Ereignis im Nachhinein nur schwerlich mit diesem Ort verbinden lassen, da es keine lokalen Cues, keine Erinnerungsstichworte mehr gibt. Anders verhält es sich mit deutlich kenntlicheren Plätzen wie dem Greifswalder Marktplatz oder dem Schillerplatz in Iserlohn, wo die bereits mit memorativen Bedeutungen aufgeladenen Stadtbilder als Kulisse für das Gemeinschaftserlebnis dienten. Die Fernsehübertragung schuf auf diese Weise eine Synthese zwischen dem kommunalen und dem kollektiven Gedächtnis, indem es historische Elemente des städtischen Gemeinwesens mit den Erinnerungen der Zuschauer an das mit demselben Ort verbundene Ereignis verband. Die Außeralltäglichkeit der Gemeinschaftserfahrung sorgt zugleich dafür, dass dem kollektiven Fernseherlebnis trotz ,mnestischer Doppelbelegung' des Platzes in der Erinnerung der Teilnehmer wachgehalten wird.

4.4.

Zusammenfassung

Vergemeinschaftung durchs Fernsehen ist zwar in erster Linie eine Leistung der medialen Apparatur, doch bildet diese nur den Anlass und Rahmen für einen seitens des aktiven und nicht selten auch produktiven Zuschauers kreierten Situationskontext. Ohne die Bereitschaft des Rezipienten, sich auf das Gemeinschaftserlebnis einzulassen und sich mit dem sozialen Gefüge zu arrangieren, bliebe eine Vergemeinschaftung und damit auch die Konstruktion und Ausweitung von Gruppenidentitäten sowie die Bildung auf dem kollektiven Erleben fußender Erinnerungen aus. Gleichwohl können bestimmte Gemeinschaftskonstellationen auf die einzelne Person Zwang ausüben, sich zu integrieren bzw. bestimmten Regeln zu unterwerfen wie beispielsweise im familiären Kontext, wenn ein dominantes Mitglied die Wahl des Fernsehprogramms bestimmt. Immer ist es jedoch das Individuum, das sich in die Gemeinschaft einbringt oder sich von ihr löst. In Familien lassen sich die integrativen Wirkungen des Fernsehens unter anderem an der Einbindung von Programminhalten in familiäre Rituale beobachten oder gar an der Ausbildung neuer Rituale in Bezug auf das Fernsehen. Die gemeinsame Fernsehrezeption dient vielerorts zur Aufrechterhaltung des Zusammengehörigkeitsgefühls und zum

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Femsehens

Stichwortgeber für das Rekurrieren auf die Familiengeschichte. Mit zunehmend individualisierter Nutzung verschiebt sich die Perspektive auf die Familiengemeinschaft nach außen, es entstehen neue Formen von Gemeinschaftlichkeit unter Freunden oder Kollegen, Gleichaltrigen und/oder Gleichgesinnten, welche den Zusammenhalt der Familiengemeinschaft schwächen, aber auch durch die Erfahrung des Andersseins der Außenwelt beleben können. So suchen Fans bewusst nach anderen Fans, die ihre Leidenschaft für ein bestimmtes Thema teilen, organisieren sich in Gemeinschaften, entwickeln Hierarchien und Zugangsreglementierungen, um sich in ihrer Philosophie und ihrem Handeln, kurz: ihrer Identität von der sozialen Umwelt abzugrenzen und produzieren selbst Inhalte, welche der Gemeinschaftsstiftung zuträglich sind. Das Fernsehen bietet mit seinem unaufhörlichen Produktionsbetrieb abwechslungsreiche und in ihrer Vielfalt für viele Zuschauer zugleich identitätskonkrete Angebote, die es durch seine intermediale Thematisierung fankultureller Topoi wie beispielsweise in Bezug auf Kinofilme zum wohl wichtigsten und verlässlichsten Instrument und Angelpunkt für Fan-Praktiken machen, die wiederum zum großen Teil Erinnerungspraktiken sind. Anders verhält es sich beim sogenannten,Public Viewing', das als Sammelbegriff für die Fernsehrezeption in sozialen Kontexten im öffentlichen Raum von der Zufälligkeit und Beliebigkeit seines Zustandekommens gekennzeichnet ist. Entweder sucht der Nutzer die Gemeinschaft oder er findet sie im Rahmen seiner Rahmentätigkeit, muss sich aber grundsätzlich auf die jeweilige Rezeptionssituationen im Kollektiv einstellen und steuert damit die Ausprägung der Vergemeinschaftung, die letztlich immer abhängig von der Bereitschaft der Zuschauer ist, sich gegenseitig zu .finden. Die Auswirkungen für die interpersonale Identität durch das Fernsehen als Mittler zwischen Individuum und sozialer Umwelt sind in der Familie an der Bildung, Aufrechterhaltung und dem Wandel beim Anschluss an oder der Abkehr von der familiären Sozialisation und der (Fernseh-) Traditionen zu beobachten. Auch bei Fan-Gemeinschaften steht die Entfaltung der Persönlichkeit im sozialen Rahmen im Vordergrund, wobei das Fernsehen dazu anregen kann, seine eigene Identität zu reflektieren und Ausdrucksmittel für persönliche Bedürfnisse und Ansichten sowie die eigene Kreativität zu finden, um mit den Mitmenschen in Kontakt zu treten und sich mit ihnen in Bezug zu setzen. Die soziale Identität wird beim .Public Viewing' durch Selbstdarstellung im Gespräch zum Beispiel durch Elaboration von Wissen sowie durch nonverbales Verhalten ausgedrückt wie zum Beispiel durch die optische Ausstellung einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit oder einer Lebensauffassung mittels Kleidungstilen, spezifisch konnotierter Zeichen, Farbkombinationen oder sonstiger ,für sich selbst sprechender' Kennzeichen. Ein für die Gedächtnisrelevanz wesentliches Merkmal der Vergemeinschaftungsfunktion des Fernsehens ist ihre Dauer: Familien bilden gemeinhin das Fundament der Autobiographie des Individuums und werden im Regelfall nicht frei gewählt. Familienähnliche und sonstige Gemeinschaften dagegen werden aktiv gesucht oder gegründet und können je nach den mit ihnen verbundenden Intentionen und dem Engagement, das die einzelnen Mitglieder in sie investieren, von erstaunlicher Langlebigkeit gekennzeich-

III.4. Gemeinschaftsmedium

Fernsehen

201

net sein. Die televisuell motivierte Vergemeinschaftung im öffentlichen Raum dagegen ist meist nur von kurzer Dauer und hat singulären Charakter, was der Erinnerung an das jeweilige Erlebnis durchaus zuträglich sein kann. Für alle der genannten Gemeinschaftsformen gilt: Fernsehen dient stets als funktionaler Rahmen, um mit anderen Menschen nicht nur Zeit, sondern auch ein Stück Wahrnehmung von Welt zu teilen und damit eine gemeinsame Erinnerungsbasis zu bilden. Das kann letztlich auch dazu führen, dass bei erfolgreicher Gratifikation mittels sozialer Inklusion das Gemeinschaftsgefühl im Vordergrund steht und das Fernsehen angesichts des erfüllenden Sozialerlebens auch zur Nebensache werden kann.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

5.

Bilder am laufenden Band

5.1.

Die Überlegenheit der Bilder

„One picture is worth ten thousand words" (Barnard 1927). Frederick Barnard hat mit diesem Sinnspruch über die Bildmagie nicht nur die Leser eines wöchentlich erscheinenden Branchenblatts der Werbewirtschaft, sondern auch die Gedächtnisforschung inspiriert. Die Zweifel, ob es sich bei dem Satz, der in den deutschen Sprachgebrauch als „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte" Einzug fand, nun um ein altes chinesisches Sprichwort handelt oder um einen frühen Marketing-Coup, hat der Karriere des Sprichworts keinen Abbruch bereitet. Es sind Bilder, denen im Alltagsleben ein besonders hoher emotionaler Gehalt zugemessen wird, der den Betrachter direkt anspricht: „Der Inhalt des Bildes ist sozusagen das gedankliche und emotionale ,Futter', das dem Gedächtnis hingeworfen wird und schmecken muss", umschreibt der Werner Kroeber-Riel die Bedeutung emotionaler Attachments für die memorative Wirkung von Bildern (Kroeber-Riel 1996: 77). Durch Bilder aktivierte Emotionen können selbst bei komplexen Darstellungen zu einem besseren Erinnerungsvermögen führen, als es bei einer vergleichbaren einfachen Darstellung der Fall wäre. Emotionen können dem Gedächtnis als „gedankliche Anker" (vgl. ebd.: 79) dienen, um über die mittels persönlicher Rührung erwirkte Relevanzzumessung ein buchstäblich „besseres Bild" von einer visuellen Wahrnehmung zu bekommen - und zu behalten. Doch Bilder vermögen das Gedächtnis deutlich umfassender zu beeinflussen als durch ihre emotionalen Konnotationen. Dass das menschliche Gedächtnis für die Verarbeitung von bildlichen Informationen besonders leistungsfähig ist, wurde mehrfach belegt. So werden Bilder besonders häufig und auch nach langer Zeit wiedererkannt, wie Shepard bereits Mitte der 1960er Jahre mithilfe von Foto-Abdrucken aus Zeitschriften und anderen Publikationen zeigte (Shepard 1967). Auch bei Versuchsanordnungen, die mit einigen tausend Bildern operierten, wurden diese Ergebnisse bestätigt (u.a. Standing/Conezio/Haber 1970; Standing 1973). Der daraus gefolgerte „Bildüberlegenheitseffekt" bei der Erinnerungsformation wurde in zahllosen Studien untersucht und nachgewiesen (Überblicke in: Paivio 1971; Madigan 1983). Auch aktuelle Untersuchungen belegen die herausragende memorative Bedeutung von Bildern: Vor allem bei älteren Menschen ist die Erinnerungsfähigkeit mit sowie an bildliche Darstellungen ausgeprägt und kompensiert das mit dem Alter beeinträchtigte Gedächtnis für Worte, wie Ally und Kollegen herausfanden. Sie verglichen mittels zweier unabhängiger Untersuchungen die Erinnerungsfähigkeit von jungen und alten Menschen für bildlich-nonverbale und verbale Stimuli (Ally u.a. 2007). Den Versuchspersonen wurden 400 farbige Bilder und dieselbe Zahl an Bildern, die in ihrer Bedeutung mit den Bildern korrespondierten, vorgelegt mit der Aufforderung, sie so lange wie möglich im Gedächtnis zu behalten. Die Ergebnisse der Verhaltens- und neurobiologischen Ana-

III.5. Bilder am laufenden Band

203

lysen wiesen auf eine enorme Überlegenheit von Bildern gegenüber Worten hinsichtlich ihrer Erinnerbarkeit hin - altersübergreifend, aber vor allem auch im fortgeschrittenen und explizit hohen Alter, da hier das Erinnerungsvermögen der Versuchspersonen für Worte nachweislich nachließ, diese Einbußen indes durch ihre ungetrübte Fähigkeit, Bildinformationen zu verarbeiten, kompensiert werden konnten (ebd.: 687). Eine abschließende Erklärung des „BildüberlegenheitsefFektes" mittels eines schlüssigen Verständnisses von der Zusammensetzung des Bildgedächtnisses steht indes immer noch aus (Bredekamp 2006: 225). Allan Paivio schlug ein bis heute von Teilen der Forschung vertretenes Modell der dualen Kodierung vor, wonach ein verbales und ein visuell-nonverbales Gedächtnissystem existiert, die zwar voneinander unabhängig, aber miteinander verwoben sind, indem Bilder neben der Verarbeitung ihrer optischen Charakteristika zusätzlich eine verbale Kodierung evozieren (Paivio 1971; Paivio/Csapo 1973). Visuelle und verbale Wahrnehmungen können demnach auch in beiden Systemen verarbeitet werden, was zu verbesserten Erinnerungswerten führt. Abstrakte Worte werden unter diesem Blickwinkel ausschließlich verbal kodiert. Konkrete Worte dagegen werden in beiden Systemen enkodiert, da sie mit bildlichen Vorstellungen verknüpft werden. Durch die duale Kodierung in beiden Systemen werden auch Bilder nach Paivio besser erinnert, da sie nicht nur visuelle Information enthalten, sondern auch mit konkreten Worten assoziiert werden können. Die assoziative Verknüpfung von verbalen und visuellen Informationen ermöglicht eine stabilere und langanhaltendere Enkodierung. Außerdem wird durch die damit erfolgende Vermehrung von Aktivierungspotenzialen die Erinnerungskonstruktion erleichtert und wahrscheinlicher. Einige Jahre später stellte Douglas Nelson ein sensorisch-semantisches Modell vor, bei dem er von einem übergeordneten Gedächtnissystem ausgingt, welches das Gedächtnis für verbale und visuelle Eindrücke koordiniere, wodurch der besondere Reichtum an visuellen Informationen in Bildern Rechnung getragen werden soll (Nelson 1979). Piktoralen Stimuli wird daher distinctiveness, eine Besonderheit im Sinne einer Abgrenzbarkeit zugeschrieben, die sie einzigartig macht und auf ihren sensorischen und semantischen Merkmalen beruht (Überlick in: Mintzer/Snodgrass 1999: 113-114). Johannes Engelkamp führt aus, dass diese Besonderheit von Bildern im Vergleich zu Worten in der konzeptionellen Verarbeitungstiefe der Informationen liegt: Während Worte nur auf ihre Referenzkonzepte verwiesen (das Wort Apfel also auf das Wissen über Äpfel), dies indes eher willkürlich geschehe, sei die Beziehung zwischen Bildern und den damit verbundenen Konzepten (das Bild eines Apfels und das Wissen über Äpfel) natürlichen Charakters (Engelkamp 1990: 61). Der „Bildüberlegenheitseffekt" resultiert demzufolge aus einer besonderen Verarbeitung und Vorhaltung bildlicher Informationen im Gedächtnis (Dewhurst/Conway 1994: 1089). Sie werden in einem komplexen sensorischen Wahrnehmungscode im Gehirn repräsentiert und ermöglichen daher bei der Erinnerungskonstruktion einen direkteren und einfacheren Zugang zum vorhandenen Wissen als zum Beispiel verbale Stimuli. Die kognitive Verarbeitung von Bildern wird dadurch im Vergleich zu Worten leichter und

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

204

schneller bewerkstelligt, da Letztere eines phonemischen, orthographischen oder lexikalischen Zugriffs bedürfen, die wiederum in Kombination miteinander Übersetzungsprozesse erfordern (Conway/Gathercole 1990). Aufgrund der Direktheit ihres Gedächtnisbezuges und der ihnen entgegengebrachten Aufmerksamkeit durch ihre komplexe, visuell abwechslungsreichere Optik besitzen sie auch ein höheres Aktivierungspotenzial als Texte bei der Konstruktion von Erinnerungen (vgl. Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2007: 709-710). Die geringsten Erinnerungsverluste verzeichnen nicht von ungefähr reale Objekte: Der Mensch nimmt sie dreidimensional wahr und erhält zu den bildlichen Informationen auch räumliche Koordinaten, die zu einer noch umfangreicheren, direkteren Enkodierung führen. Besonders interessiert werden die Prinzipien bildkommunikativer Erinnerungsprozesse von der Marketingforschung verfolgt (z.B. Childers/Houston 1984; Schub von Bossiazky 1992; Kroeber-Riel 1996; Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2007: 709-717). Die Priorisierung der Wirksamkeit von verschiedenartigen visuellen Stimuli in Bezug auf die Erinnerungsleistungen ist der Werbewirtschaft ein wichtiges, weil geschäftlich relevantes Anliegen. Die US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler John Rossiter und Larry Percy stellten Mitte der 1980er Jahre auf der zugegebenermaßen weichen Basis bisheriger Forschungsergebnisse eine nach der Effektivität der Einprägsamkeit gegliederte Wirkungshierarchie auf (Rossiter/Percy 1983: 105): 1.

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Rossiter und Percy bezeichneten die Hierarchie selbst als bloß vorläufigen Vorschlag, der weniger im Detail für klare Unterscheidungen geeignet sei (ebd.) 56 , als vielmehr übergreifend die Überlegenheit bildlicher Stimuli gegenüber verbalen verdeutlichen solle. Indem sie darüber hinaus durch die Listung dynamischer, statischer sowie abstrakter und konkreter Bilder auf vier unterschiedlichen Formen piktoraler Information hinwiesen, machten sie auf die notwendige Binnendifferenzierung visueller und auch verbaler Stimuli sowie auf deren Vergleich untereinander aufmerksam. Ally und Budson regen hierbei eine Ausweitung der Vergleichsstudien an, indem sie die interessante Frage stellen,

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„The rankings are tentative due to the fact that only one or two studies have explored various comparisons beyond Paivio's" (Rossiter/Percy 1983: 105).

III.5. Bilder am laufenden Band

205

ob auch andere nicht-bildliche distinktive Stimuli einen ähnlichen Effekt auf das Erinnerungsvermögen haben oder ob Bilder in ihrer Besonderheit einmalig sind: „Although this is clearly an empirical question to be answered by future experiments, we speculate that pictures are a special class of stimuli by virtue of their teleological and evolutionary importance. Distinguishing different images, whether faces, scenes, animals, plants, etc., was likely important for the survival of an individual. Therefore, although novel abstract images, for example, may be equally distinctive, we think it unlikely that they would facilitate recollection in a manner similar to pictures. [...] Future studies that compare distinctive but non-pictorial stimuli with pictures will be able to answer this interesting question" (Ally/Budson 2007: 391). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine Vielzahl von interdependenten Faktoren bei der Einprägsamkeit und Erinnerungsfähigkeit von Bildern eine Rolle spielen, was visuellen, aber auch verbalen Informationen zum Vorteil gereicht: Je enger vorhandenes Wissen im Gedächtnis mit Bildern verknüpft ist, desto leichter und besser kann es erinnert werden. Je mehr Assoziationen in kurzer Zeit ermöglicht werden, desto vielfältiger sind die Verknüpfungen und gedankliche Verarbeitung. Je konkreter, das heißt realistischer, erkennbarer und verständlicher die Informationen wahrgenommen werden können, desto langanhaltender werden sie im Gedächtnis enkodiert. Dabei spielt auch eine Rolle, ob Bilder mit Texten bzw. gesprochener Sprache kombiniert werden, die mit dem Inhalt der Bilder korrespondieren: Bei Vermengung mit Text oder Ton ist eine Binnensynchronisierung der Audiovision von Vorteil, da ansonsten Verständnisprobleme auftreten können und die daraus folgenden Irritationen negative Auswirkungen auf die Merkfähigkeit des jeweiligen Inhalts haben können (,Ton-Bild-Schere'). Wichtig ist aber in erster Linie, dass ein Bild einprägsam, also erkennbar und prägnant sein muss, um leicht erinnerbar zu sein. Je komplexer und abstrakter es ist, desto mehr Detailtreue geht bei der Erinnerung potenziell verloren. Aber nicht allein der Wahrnehmungsvorgang determiniert die Einprägsamkeit, sondern auch die wiederholte gedankliche Beschäftigung mit der enkodierten Information. Da Bilder jedoch mit verhältnismäßig geringem kognitiven Aufwand verarbeitet werden, ist eine Mehrfachkodierung von visuellen Reizen notwendig, um nicht bloß eine „Blickfangwirkung" zu erreichen (Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2007: 709). Diese Gefahr wurde bereits bei der dichten Bebilderung innerhalb von Fernsehnachrichtensendungen nachgewiesen. Karl Heinz Drescher wies in seiner Untersuchung über das „Erinnern und Verstehen von Massenmedien" daraufhin, dass der Erinnerungswert von Bewegtbildern, zumal solchen, die in kurzen Sequenzen aneinandergereiht präsentiert werden, in den von ihm behandelten Fällen angesichts der besseren Merkfähigkeit von Texten in Fernsehnachrichten zu vernachlässigen sei (Drescher 1997: 213). Drescher führte dies unter anderem auf die intensivere Sozialisation von Heranwachsenden mittels Texten bei der Schulausbildung zurück, womit er implizit das Problemfeld der Medienerziehung ansprach, auf das im Folgenden noch einzugehen sein wird (vgl. Kapitel III.7.).

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5.2.

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Das Fernsehen im Zeichen der Verdichtung

5.2.1. Die Beschleunigung des Lebenswandels und das Fernsehen Das 20. Jahrhundert war gekennzeichnet von der massenhaften Verbreitung und Nutzungsmöglichkeit einer Vielzahl von technologischen Innovationen, welche im Alltagsleben der westlichen Industrienationen zu einer nachhaltigen Steigerung des Tempos des Alltagslebens geführt hat. Mithilfe von Transportmitteln wie Flugzeugen und Automobilen wurde es für jedermann möglich, große Distanzen innerhalb kürzester Zeit zu überwinden. Doch nicht erst die Motorisierung ist ein maßgeblicher Faktor der Verdichtung transnationaler Lebensformen. Durch Kommunikationstechnik rückten die Menschen aller Erdteile so nah zusammen, dass ihre räumliche Trennung ob ihrer medial vermittelten Nähe kaum noch eine Rolle zu spielen scheint. Der Bürger des 21. Jahrhunderts unterscheidet sich in eklatanter Weise von seinen Vorfahren. Er ist potenziell mobiler, informierter und muss ein deutliches Mehr an medial vermittelten Sinneseindrücken verarbeiten als jemals ein Mensch zuvor. Auch steht ihm buchstäblich die Welt offen: Die aus wirtschaftlichen Interessen vorangetriebene Globalisierung macht das Reisen in nahezu jeden Kulturraum rund um den Globus möglich, und mithilfe elektronischer Massenkommunikationsmittel werden räumliche und zeitliche Beschränkungen ohnehin hinfällig. Damit einher geht ein fundamentaler Mentalitätswandel innerhalb der Gesellschaften, der zu einer immer schnelleren Historisierung führt und die Gegenwart lieber noch heute als morgen zur Vergangenheit erklärt, um nach Neuem zu streben. Der kanadische Sprach- und Kulturwissenschaftler Stephen Bertman spricht von einer Hyperkultur, die sich in immer höher Geschwindigkeit von der Vergangenheit löst: „The speed of our ascent leaves the past far behind us, like a receding landscape viewed from the rear of a rocket, a landscape so progressively miniaturized by increasing velocity that its features lose all recognizable form. Traditions become incomprehensible; history, irrelevant; memories, a blur" (Bertman 1998: 2). Der US-amerikanische Kulturkritiker Fredric Jameson sieht darin die „geplante Obsoleszenz" (vgl. Jameson 1983:124) einer alle Lebensbereiche umgreifenden Konsumkultur und den damit einhergehenden rapiden Wechseln von gesellschaftlichen Werten die Ursache für das Schwinden von Geschichtssinn: ,,[T]he way in which our entire contemporary social system has little by little begun to lose its capacity to retain its own past, has begun to live in a perpetual present and in a perpetual change that obliterates traditions of the kind which all earlier social formations have had in one way or another to preserve" (ebd.: 125). Dass das Neue über das Alte, der Fortschritt über die Tradition gestellt wird, wird als Konsequenz der Industrialisierung, des privaten Unternehmertums und der massenmedialen Durchdringung gesellschaftlichen Lebens gewertet. Die technisch ermöglichte Überwindung von Zeit und Raum führte zu einer Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels, aber auch auf individuell-biographischer Ebene

III. 5. Bilder am laufenden

Band

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zu einer Verdichtung von Lebensläufen. Kinder werden durch Massenkommunikationsmittel mit Wissen konfrontiert, das ihnen zuvor durch unterschiedliche Zugangshindernisse (z.B. Lesefáhigkeit, Immobilität, Altersbeschränkungen, Gemeinschaftshierarchien) verwehrt blieb, und erreichen dadurch aus Sicht des ihnen zur Verfügung stehenden Wissens immer früher den Status von Erwachsenen. Im weiteren Lebensverlauf verkürzen sich Lebensphasen, weil der moderne Mensch angespornt wird, bestimmte Etappen (z.B. Anschaffung von Statussymbolen wie dem ersten Auto, aber auch informationelle Kenntnisse über die Welt) früher zu erreichen als vorhergehende Generationen. Technik ist in erster Linie ein Instrument, das zur Erleichterung und Optimierung menschlichen Handelns eingesetzt wird. Wie effektiv sich technische Entwicklungen diesbezüglich erweisen, ist am Umfang der durch sie eingesparten Zeitressourcen bemerkbar: „Soviel Freizeit, Volksfest, Sport, Kleingarten war nie. So wenig Arbeitszeit für abhängig Beschäftigte war nie. So viel Bildungs-, Wissens-, Hobby-Chance war nie" (Duddeck 2008: 222). Trotzdem muss das Mitglied der Mediengesellschaft mit dem parodoxen Gefühl zurechtkommen, dass ihm nach subjektivem Empfinden immer weniger Zeit zur Verfügung steht (Zielinski 1989: 10). Der moderne Mensch sieht sich bei ganz basalen wie banalen Tätigkeiten einer nicht zu bewältigenden Masse an Wahlmöglichkeiten gegenüber, für deren Selektion seine Lebensspanne kaum ausreichen dürfte. Zeitnot und psychischer Stress sind die Folge (Miltner 2008). Es entsteht der Eindruck, man werde von der Uhr gejagt: ,,[W]e cannot escape the clock time that structures and times our daily lives [...]. As long as we remain part of a society that is structured to the time of clocks and calendars our activities and interaction with others can only escape its pervasive hold to a very limited extent" (Adam 1990: 107). Die Folge ist ein ständiges Getrieben- und Hin-und-Hergerissensein zwischen der Neugier auf die Vielfalt des Lebens und dem Bedarf am Innehalten auf der Suche nach persönlicher Erfüllung: „Das In-der-Welt-Sein wird zur Stippvisite. Paradoxerweise ist es nicht die Weltverachtung, sondern der unstillbare Welthunger, der den Kontakt mit der Welt untergräbt. Man fühlt sich an den König Midas erinnert, dem Dionysos den unverschämten Wunsch, es möge ihm alles, was er berühre, zu Gold werden, großmütig erfüllt hatte. Midas war zum Hungertod verurteilt, weil ihm auch seine Nahrung zu Gold wurde. So geht es dem hochbeschleunigten Menschen unserer Tage. Er nagt sich hungrig an der ihm üppig aufgetischten Welt" (Gronemeyer 2008: 235-236). Der Sozialwissenschaftler Hartmut Rosa weist auf die objektiven und subjektiven Komponenten bei der Bestimmung der Veränderungen des Lebenstempos hin: Zum einen geben Verdichtungen oder Dehnungen von Handlungsepisoden, also die Dauer einer bestimmter Tätigkeit, Aufschluss über Temposteigerung oder -abnahme, zum anderen aber auch das persönliche Empfinden des Individuums, das sich entweder einem stressförmigen Beschleunigungszwang ausgesetzt sieht oder sich in Gelassenheit und Ruhe übt (vgl. Rosa 2005: 135-136). Da sich indes merklich eine subjektiv wahrgenommene Zeitverknappung und die objektiv messbare Verkürzung von Handlungsepisoden zu einem Temporausch aufzuschaukeln drohen, hat sich die Strategie des Multitaskings

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

durchgesetzt, die der Zeitnot mit der simultanen Erledigung von verschiedenen Tätigkeiten zu begegnen sucht. Dies führt zwar zu einer ineffizienteren Ausführung von Einzeltätigkeiten, jedoch wird die Gesamtheit der Handlungen schneller erledigt, als wenn sie nacheinander abgearbeitet werden (ebd.: 136). „Jeder ist ständig immer früher in immer mehr immer verschiedenere Alltage verwikkelt" (Reck 1993: 3). Die Kommunikationstechnologien liefern das Rüstzeug für parallele Lebensentwürfe und Identitätsausbildungen. Man muss nicht mehr an einem physischen Ort sein, um zu erfahren, was in der Welt vor sich geht, geschweige denn sich selbst mitzuteilen. Das Fernsehen hat entscheidenden Anteil an dieser Verdichtung des sozialen Wandels in der Immaterialität der elektronischen Kommunikation und erscheint gleichzeitig ideal zu sein für die Aufgabe der Komplexitätsreduktion durch seine technisch abstrahierenden und visuell simplifizierenden Repräsentationsleistungen: „In diesem Sinne sind Modernität, Beschleunigung und Medialität untrennbare und sich stets wechselseitig vorantreibende Phänomene" (Kirchmann 2004: 81). So steigert das Fernsehen die „Lebenserwartung einer Kultur" (ebd.: 82) - sofern es die Organisation gesellschaftlichen Lebens zu stabilisieren vermag. Was indes Fernsehdirektor Adolf Grimme noch hoffnungsfroh als Chance der kulturellen Zusammenführung und Verständigung gesehen hatte, bewertete Flusser vier Jahrzehnte später als Grund allen Übels: „Je weniger wichtig die Sprache wurde und je wichtiger die Bilder, desto mehr verwässerten die nationalen Kulturen [...]. Sie verwässern, es entsteht eine eigenartige Massenkultur, die Grenzen zerfallen" (Flusser 1993: 76). Diese globale Massenkultur, die vom prädestinierten Massenmedium Fernsehen auf regionaler und weltumspannender Ebene gleichermaßen stabilisiert und stets neu regeneriert wird, sieht sich einer endlos wachsenden Verdichtung in allen Lebensbereichen gegenüber. In der grundsätzlichen Fernsehkritik äußert sich daher auch die „Angst vor der Massengesellschaft [...] als Klage über das exponentiell beschleunigte Bevölkerungswachstum" (vgl. Weibel 1987: 9). Wie der Medientheoretiker Peter Weibel ausführt, habe sich die Erdbevölkerung in den vergangenen 200 Jahren auch aufgrund des exponentiellen Wachstums der Technologie verachtfacht (ebd.: 94). Entsprechend ist auch der Bedarf am Medienangebot gestiegen: Ohne das Fernsehen und alle weiteren Kommunikationstechnologien, glaubt Weibel (ebd.: 96), würde die Zivilisation kollabieren. Die Verdichtung des Bevölkerungsaufkommens auf enger werdendem Raum stellt erhöhte Anforderungen an die Binnenorganisation von Gesellschaften und somit auch an die Effizienz des intra- und inter-kollektiven Informationsaustauschs. Der Historiker und Kulturphilosoph Henry Adams hat mit seiner Darstellung einer logarithmischen Kurve der Beschleunigung der Geschichte (Adams 1919: 292) verdeutlicht, dass komplexe Sozialformationen im maschinellen bzw. ätherischen Zeitalter ganz automatisch einen kausalen Zusammenhang zwischen räumlicher, organisationeller und kommunikativer Beschleunigung ausbilden (vgl. ebd.: 304, 306-308). Wie Großklaus argumentiert, können technisch determinierte Zeitlichkeit und das sozial konstruierte Zeitgefühl nicht unabhängig voneinander verstanden werden, da das Zeitbewusstsein der Menschen schon

111.5. Bilder am laufenden Band

209

immer von Medien geprägt worden sei (Großklaus 1995: 38-39). War dies in der Schriftkultur vom segmentierten Nacheinander der Schrift, ihrer Linearität, Irreversibilität und der Aufreihung des Geschehens auf einer abstrakten Zeitgeraden gekennzeichnet, wird es unter der Hegemonie der elektronischen Massenmedien von einer sinnlichen Nähe und simultanen Dichte der gleichzeitigen Erfahrung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geprägt: „Die Zeitgerade diszipliniert den Tumult der Gleichzeitigkeit" (Großklaus 2003: 28). Das Fernsehen gilt als wesentlicher Bestimmungsfaktor gesellschaftlicher Temporalstrukturen in der zweiten Hälfte des 20. und auch zu Beginn 21. Jahrhunderts, indem es, wie Nevería zeigt, nicht nur die Eigenzeiten der Zuschauer synchronisiert, sondern auch jene von Institutionen und Themen aller Lebensbereiche in Einklang bringt bzw. ihnen in bestimmten Situationen die televisionalen Zeitstrukturen überstülpt - und dies bisweilen auf globaler Ebene (Nevería 1992: 72). Das Fernsehen bestimmt mit, welche Themen in der Gesellschaft zirkulieren und von welchen anderen, neuen Themen sie abgelöst werden. Da das Fernsehen in seiner Prägung individueller wie kollektiver Handlungsmuster immer auch eine Gesellschaftsmacht ist, die wiederum in erheblicher Weise wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt (vgl. Ropohl 2008: 273), hat seine prägende Wirkung zu einer Ökonomisierung zeitlicher Ressourcen geführt: „Dieser abstrakt-lineare Zeitbegriff, der sich vermittels der globalen Wirtschafts- und Kommunikationsnetze weit über die spätkapitalistischen Gesellschaften westlicher Prägung hinaus rund um den Erdball verbreitet, hat als rationalen Parameter die Vorstellung, dass Zeit eine Ressource sei, die sich restlos ökonomisch handhaben lasse, und als affektiven Parameter die bedingungslose Hingabe an den Temporausch. [...] Er macht sich bemerkbar in der Zeitnot des Alltags und der Knappheit der Lebenszeit. Das Medium Fernsehen ist treibende wie getriebene Kraft dieser gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist Symptom, Determinante und Agens der herrschenden Zeitmuster" (Nevería 1992:13-14). Die Verdichtung kultureller Prozesse durch das Fernsehen ist also in einem engen Bedingungsverhältnis mit dem allgemein festzustellenden „Akzelerationszirkel" der gesellschaftlichen Beschleunigung zu sehen, den Rosa als buchstäblichen Antriebsmotor für jedwede moderne Gesellschaftsgenese identifiziert hat (Rosa 2008: 243): Demnach steigern sich die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos wechselseitig. Die gestiegenen Geschwindigkeiten verlangen nach immer neuen Technologien, damit die sozio-kulturellen Dynamik auf den verschiedenen Ebenen gesellschaftlichen Handelns nicht zum Kollaps führt. Doch führt dies wiederum zu einem Anziehen des Tempos. Das Fernsehen trägt einerseits bereits an sich zu einer Verdichtung gesellschaftlicher Kommunikation bei, indem die elektronische Informationsübertragung in Echtzeit, also simultan geschieht und dadurch „als endgültige Beschleunigung" aufgefasst werden kann (Weibel 1987: 110). Andererseits verdichtet es zudem seine Programmstrukturen und Narrationsrhythmen, um mehr Inhalte schneller und vermeintlich effektiver in einem

210

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Sendeschema zu kommunizieren, das auf 24 Stunden pro Tag begrenzt ist, was zudem zu einem beschleunigten Wechsel von Sinnzusammenhängen durch Variation von Einstellungen, Kamerafahrten und Schnitten führt (vgl. Sandbothe/Zimmerli 1994, XIV) sowie zur Vervielfachung des parallel verfügbaren Programmangebots. Damit ist das Fernsehen ein weiteres Beispiel aus einer ganzen Reihe von „Prothesenkörpern" wie dem Auto oder dem Flugzeug, der Telegrafie oder dem Telefon (Weibel 1987: 45), die zu immer höheren Geschwindigkeiten bei der Informationsvermittlung geführt haben. Die Höhe der Geschwindigkeit des Gesendeten ist immer in Relation zu anderen vergleichbaren Prozessen zu bewerten. Wenn sich das Alltagsleben des Individuums ohnehin beschleunigt und die informationelle Verdichtung weiter zunimmt, dann sind Anpassungseffekte anzunehmen, die dabei helfen, der Beschleunigung Herr zu werden. Da das persönliche Zeitempfinden immer subjektiv konstruiert wird, wird Beschleunigung nur dann wahrgenommen, wenn Schwierigkeiten bei der Anpassung an den verdichteten Informationsfluss auftreten. „So haben die Wachstums- und Beschleunigungsprozesse der modernen Gesellschaften längst den Charakter eines Steigerungszwangs angenommen, der dem ursprünglichen sozialen Ziel der konkurrenzförmigen Organisation der gesellschaftlichen Produktion: der Erlangung und Sicherung individueller und kollektiver Autonomie, direkt entgegenwirkt. Der Wettbewerb [...] erzeugt einen permanenten, endlosen Zugzwang und produziert damit soziale Erscheinungen, die an keiner exogenen Wertvorstellung mehr gemessen werden können" (Rosa 2006: 94). Natürlich werden nicht alle gesellschaftlichen Prozesse von den Beschleunigungstendenzen erfasst. Einige erweisen sich sogar als erstaunlich beschleunigungsresistent und neigen sogar zur Verlangsamung (vgl. Rosa 2005: 243).57 Individuen schützen sich beispielsweise durch die Implementierung von Routinen in ihr Alltagsleben, um dem Druck der Umwelt zu entgehen. Daher würden auch weniger die Lebensweisen an sich mit „Warp Speed" einem radikalen Wandel unterzogen, wie Bertman schreibt (Bertman 1998: 1), dafür indes die Weltbilder - mit schwerwiegenden Folgen: „The power of now replaces the long-term with short-term, duration with immediacy, permanence with transience, memory with sensation, insight with impulse" (ebd.: 3). In diesem Widerstreit zwischen dem Festhalten an Traditionen und gewohnten Lebensweisen auf der einen und dem unaufhaltsamen Geschwindigkeitszwang werden Vorstellungen von Welt, aber auch die Stabilität der individuellen Identität gefährdet und verlangen eine ständige Umarbeitung des persönlichen Weltbildes.

57

Als Beispiele ermittelt Rosa natürliche Geschwindigkeitsgrenzen (allen voran der kognitiven Informationsverarbeitung), sogenannte „Entschleunigungsinseln" (soziale Formationen, die sich der Beschleunigung entziehen), Verlangsamung als unbeabsichtigte Nebenfolge (wie der Verkehrsstau), intentionale Entschleunigungsformen (aus ideologischen Gründen oder zur strategischen Problemlösung) sowie das Phänomen struktureller und kultureller Erstarrung, hinter dem ein lähmender Stillstand gesellschaftlicher Entwicklung steckt, der Beschleunigung als Oberflächenphänomen entlarvt (Rosa 2005:139-153).

III.5. Bilder am laufenden Band 5.2.2. Die Beschleunigung

technologischer

211 Innovationen

Um im Alltag zurechtzukommen, wurden Benimm und Anstand im persönlichen Umgang noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein als essentielle Kenntnisse für die gesellschaftliche Akzeptanz vorausgesetzt. Wer Erfolg suchte, kam um die Regeln sozialer Manieren nicht herum (vgl. Knigge 1844; Schmitz 1955). Mittlerweile haben die Fernsehtechnik und die virtuellen Welten des Internets zu einer Verschiebung der Prioritäten geführt: Nicht mehr nur hauptsächlich konversationeile Umgangsformen werden dem Sozialwesen Mensch abgefordert, obgleich diese weiterhin ihre Geltung behaupten, sondern auch das Geschick bei der Bedienung von immer neuen technologischen Entwicklungen zum Zwecke entkörperlichter, elektronischer Kommunikation. Die sich verkürzenden Abstände zwischen technologischen Innovationen der Massenkommunikation und Reproduktionsprozessen innerhalb einer Kultur sind das Kennzeichen moderner kapitalistischer Gesellschaften (Rosa 2008:11; Corsten 2008: 252). Wie Rosa vorrechnet, schnurrte die Zeit, die benötigt wurde, um 50 Millionen Empfänger mit Massenkommunikationsmitteln zu versorgen, von 38 Jahren (im Falle des Radios) über 13 Jahre (im Falle des Fernsehens) auf nur noch vier Jahre (im Falle des Internets) zusammen (Rosa 2008: 12). Die Folge ist eine „Kommunikationsexplosion" (Baacke 1973: 366; Williams 1982) globalen Ausmaßes. Die Bewältigung der an eine reibungslose Kommunikation gerichteten technologischen Anforderungen erfordert eine ständige Erweiterung und Anpassung der Handlungskompetenzen. Um in den vollen Genuss medialer Inhalte zu kommen, so schrieb Siegfried Zielinski angesichts der beispiellosen Karriere audiovisueller Medien mit etwas sarkastischem Unterton, müsse der Nutzer schon die kombinierten Fähigkeiten eines Elektroingenieurs und eines Informatikers vorweisen können (Zielinski 1989: 285-286). Beschränkt sich die Bedienung eines herkömmlichen Fernsehapparates gemeinhin auf die Leichtigkeit des An- und Ausstellens sowie des Kanalwechsels auf Knopfdruck, erweiterten sich die Steuerungsoptionen von und mit Zusatzgeräten wie der Fernbedienung oder Instrumenten zur Aufzeichnung um ein Vielfaches. In diesem Innovationskarussell, das bei weitem nicht auf die Konsumentenelektronik beschränkt blieb, sondern sich vor allem im Produktions- und Distributionssektor immer rascher dreht, hat der Zuschauer Schwierigkeiten, mit den sich teils selbst erzeugenden und kontrollierenden technischen Abläufen und ihrer Fortentwicklung Schritt zu halten: Der „menschliche Akteur muss daher einem Außenbeobachter so vorkommen wie ein Passagier auf einer Achterbahn oder in einem Jahrmarkt-Looping" (SoefFner/Raab 1998: 145). Als ganz so hilflos wie ein Achterbahnpassagier, dem bei wiederholten Loopings kopfüber die Röte ins Gesicht steigt und eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Bewerkstelligungsmechanismen des Fahrgeschäfts nicht mehr möglich ist, mag der Fernsehzuschauer zwar nicht gelten. Aber ob er sich tatsächlich für die technologischen Hintergründe des televisionalen Erlebens interessiert, bleibt im Einzelfall wohl vermutlich wie auf dem Jahrmarkt den technikversierten Liebhabern vorbehalten. Tatsache ist, dass das Fernsehen technologische Innovationen nicht nur schnell im Produktionspro-

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

zess adaptiert, sondern auch zu ihren eifrigsten Propagandisten gehört, indem es durch die Thematisierung im laufenden Programm, und sei es im Rahmen unternehmerischer Werbezwecke, dazu anregt, offen für schnellere Produktzyklen zu sein und stets neugierig zu bleiben, welche Weiterentwicklung als nächstes auf den Markt kommen wird. Einschneidende Innovationen erlebte vor allem der Distributionssektor (vgl. Schäffner 2004: 197): Fernsehen auf dem Mobiltelefon oder dem Computer sind in dieser Reihenfolge nur die jüngsten Neuerungen. In den 1940er und 50er Jahren waren dies die Fernsehgeräte an sich, die als Designstücke ihrem Charakter als Statussymbol gerecht werden sollten. In den 60er Jahren folgten (in Deutschland) die Farbfernsehempfänger, in den USA waren sie zu diesem Zeitpunkt schon verbreitet. Es folgten Fernbedienung, Videorekorder und mobile Fernsehgeräte wie der sogenannte ,Watchman. Der Ehrgeiz der Entwicklungsabteilungen mag stets der Einfachheit von Empfang und Handhabung gegolten haben, doch hat sich die Fernsehrezeption von einem leicht handhabbaren wie gemütlichen Abendkontinuum mit begrenztem Angebot zu einem in seinem inhaltlichen Volumen kaum noch überschaubaren multifunktionalen Medienzentrum im eigenen Zuhause (und je nach Belieben auch darüber hinaus) entwickelt, das alles bietet, was sich audiovisuell auf einem Vertriebskanal übermitteln lässt. Die technologische Komplexität dessen, was Fernsehen zustande bringt, welche produktionstechnischen Abläufe notwendig sind und welcher Aufwand bei der Übertragung von Fernsehsignalen betrieben werden muss, um eine Sendung auf den Bildschirm zu bringen, übersteigt die Kapazitäten des durchschnittlichen Zuschauers um ein weites - und wohl auch sein Interesse. Dennoch hat der technische Fortschritt erheblichen Einfluss auf die Gestalt des Fernsehens, das längst nicht mehr an Funkwellen im Äther gebunden ist, sondern analog wie digital über geostationäre Satelliten, über Kabelverteilnetze sowie über Mobilfunknetze oder virtuell über das Internet verbreitet wird. Die Allgegenwärtigkeit von Fernsehinhalten wurde dadurch stetig gesteigert, wiewohl es bereits alle gesellschaftlichen Bereiche gesättigt zu haben schien. Nun sind Fernsehinhalte überall dort zu empfangen, wo eine Satellitenschüssel im geeigneten Winkel gen Himmel ausgerichtet werden kann. Der Zuschauer wird durch eine hochkomplexe technische Infrastruktur aus Satelliten, Sendestationen, Signalkonvertern, Kontrollräumen, Studios, Kameras, Kabeln uvm. in die Lage versetzt, gleichzeitig „global präsent", „kulturell weltlich" und „geographisch mobil" zu sein sowie durch die weltumspannende Technologie ein besseres Verständnis von dem Planeten Erde zu erhalten (Parks 2005:16, 33,44). Wie der Informatiker Nicholas Negroponte in Anspielung auf Marshall McLuhan konstatierte, ist das Medium durch die Durchsetzung der Digitalisierung in Produktion, Distribution und Empfang von Medieninhalten nicht notwendigerweise mehr die Botschaft (Negroponte 1995: 71). Natürlich macht es ein Unterschied, ob audiovisuelle Inhalte speziell für eine Rezeption in ,Heimkino'-Atmosphäre58 produziert werden oder 58

Mit der Bezeichnung Heimkino wird auf die technisch immer hochwertigere und umfangreichere Ausstattung von privaten Haushalten mit Unterhaltungselektronik hingewiesen: Heimanwendern bietet sich mit Groß(flach)bildfernsehern bzw. Projektoren, vielgestaltigen Abspielgeräten und

III.5. Bilder am laufenden

Band

213

für den Abruf auf einem Mobiltelefon: Es gibt nicht mehr allein eine allgemeine Ästhetik des Fernsehens, sondern für jede spezifische Empfangssituation eine gesonderte Fernsehästhetik. Der Bildschirm, wie groß oder klein er auch sein mag, wird zur „Audiovisionszentrale für opulente Seh- und Hörerlebnisse" (Zielinski 1989: 282) und die Audiovision zum „Amalgam für eine Vielzahl - ehemals getrennter - medialer Kommunikationsformen" (ebd.: 11). Die Digitalisierung befördert zwar die Vermehrung von Rezeptionsalternativen, raubt dem klassischen Fernsehen aber auch seine ureigensten Merkmale: Die Grundstruktur digitaler Daten in Form einzelner Bits macht das Medium zu einer von vielen möglichen Verkörperungen der Botschaft und ermöglicht eine hohe Variabilität ihrer Nutzung. Ob Fernsehsignal, Text, Ton - ausschlaggebend ist nur, wie sich der binäre Code aus Einsen und Nullen zusammensetzt. Jenkins sieht einen schicksalhaften Paradigmenwechsel im Umgang mit dem Fernsehen: Es gehe nicht mehr um mediumsspezifische Inhalte, sondern um Inhalte, die zwischen vielen verschiedenen Medienkanälen hin und her flössen, „toward multiple ways of accessing media content, and toward ever more complex relations between top-down corporate media and bottom-up participatory culture" (Jenkins 2006a: 243). Ähnlich sah es bereits Zielinski in seiner Abhandlung über „Kino und Fernsehen als Zwischenspiele der Geschichte": „Im Gegensatz zu den Anordnungen der klassischen Dispositive Kino und Fernsehen stehen die Artefakte der fortgeschrittenen Audiovision ja nicht mehr allein und isoliert voneinander. Was im Zusammenleben der Individuen immer mehr verloren ging, ist an die Maschinenwelt abgegeben worden: Sie entfaltet ihre neuen Qualitäten in der Vernetzung, im funktionierenden Zusammenspiel des technischen Sachsystems. [...] Die einzelnen Bausteine sind auf Kompatibilität ausgelegt, und entsprechend vielfältig sind die Kombinationsmöglichkeiten" (Zielinski 1989:268). Dass es sich dabei tatsächlich um das Ende des Fernsehens als eigenständiges Medium handelt, darf angezweifelt werden. Zielinski wertet die Emanzipierung audiovisueller Signale von den klassischen medialen Vertriebskanälen des Fernsehfunks und ihre damit einhergehende Egalisierung als schleichenden Abschied vom Medium Fernsehen an sich. Wird dagegen eine institutionelle Perspektive eingenommen, die Fernsehen als audiovisuelle Programmdienstleistung von öffentlichen, öffentlich-rechtlichen oder privatwirtschaftlichen Organisationen definiert, lässt sich nicht von einem Ende eines .Stadiums Fernsehen sprechen, sondern besser von „Fernsehen in einer neuen Dimension",59 einer Ausweitung der institutionellen Reichweite von Fernsehveranstaltern. So lassen sich auch das geflügelte Wort vom Internet-Fernsehen (Postel 2001) und die Debatten über die Rechtmäßigkeit von Internet-Aktivitäten öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten einerseits und um den Regulierungsbedarf von virtuell veröffentlichten AV-Produk-

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leistungsstarken Lautsprechersystemen die Möglichkeit, im eigenen Zuhause eine dem Kinoerlebnis entsprechende Bild- und Tonqualität zu erreichen. Eine beliebte Werbezeile, zuletzt verwendet von dem deutschen Telekommunikationsunternehmen T-Com, das mit seinem Angebot „T-Home" auch Fernsehinhalte vertreibt.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

tionen durch natürliche Personen oder Personen öffentlichen Rechts andererseits, die keine Sendelizenz besitzen, in den medialen Strukturwandel einordnen. Die Dominanz der Audiovisionen auf vielen erdenklichen Plattformen ist also nicht als Nihilierung des Fernsehens an sich, sondern allenfalls in seiner Rolle als lineares Programmmedium zu verstehen (vgl. Kapitel III.5.2.7.). 5.2.3. Die Beschleunigung

des Transports von

Informationen

Als der US-amerikanische Unternehmer Ted Turner am späten Nachmittag des 1. Juni 1980 den Startschuss für den Sendebetrieb des von ihm gegründeten Cable News Network gab, war dies zugleich der Beginn einer Beschleunigung von Information, die auch beinah drei Jahrzehnte später unvermindert anhält. CNN besann sich auf das ureigenste Charakteristikum des Fernsehens, das zugleich von Beginn an seine beispiellose Stärke war: die Live-Präsenz als „spezifische Erfahrung der televisionellen Erlebnisstrategie" (Kreimeier 2003: 180). Nach einigen wirtschaftlich entbehrungsreichen Anfangsjahren mauserte sich das Fernsehunternehmen nach ersten Gewinnen im Jahre 1985 zu einem globalen Nachrichtenlieferanten mit Büros in allen Teilen der Welt. Minutiös berichteten Reporter auf den 24 Stunden am Tag sendenden Kanälen von CNN über den Ablauf von Ereignissen wie das Massaker auf dem Tiananmen-Platz in Peking im Jahre 1989, über vielbeachtete Gerichtsprozesse wie jenen von O.J. Simpson oder über die alljährlich stattfindende Nobelpreisverleihung. Doch der weltweite Durchbruch für das Nachrichtenimperium mit Sitz in Atlanta kam mit seiner ausführlichen EchtzeitBerichterstattung über den Irak-Krieg in den Jahren 1990/91, dem sogenannten „ersten Fernsehkrieg" (vgl. Moser 2006: 65), als selbst das Militär zugab, dass es einen Großteil seiner Informationen über den Krieg aus dem Fernsehen und zwar von CNN erhalten habe (Gomery 2004:387). Es mag strittig sein, ob Programmveranstalter mittels Live-Berichterstattung tatsächlich die Macht besitzen, politische oder gar militärische Operationen mit ihrer Berichterstattung zu beeinflussen,60 doch rekurriert die ursprüngliche Bedeutung des „CNN Effects" auf die faktische Ubiquität eines Nachrichtensenders,61 nicht aber - was der nahe liegende Gedanke wäre - auf die daraus resultierenden Effekte (Freeman 2000: 339).62 Das Konzept der ununterbrochenen Telepräsenz (vgl. Kapitel III.6.1.5.) mit aufklärerischem Impetus forderte dem Unternehmen logistische Meisterleistungen am laufenden Band ab: Innerhalb von 24 Stunden müssen Reporterteams an jeden beliebigen Ort der Erde gelangen können, so die Firmenphilosophie (Minkmar 2003). CNNs Engagement im kapitalintensiven Bereich des globalen Nachrichtengeschäfts, die flexible 60

61 62

Piers Robinson resümiert: „In short the CNN effect has become an untested and unsubstantiated fact for many in foreign policy and humanitarian cycles" (Robinson 2002:12; siehe auch: Robinson 1999). Paul Virilio sprach beispielsweise anlässlich des Golfkriegs 1990/91 von einem Effekt der „Mondialisierung" von CNN (zitiert nach Chervel/Smoltczyk 1991). Steven Livingston hat sich differenziert mit der Begriffsgeschichte des „CNN Effects" auseinandergesetzt (Livingston 1997).

III. 5. Bilder am laufenden

Band

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und schnelle Einsatzbereitschaft von Reporterteams rund um den Globus hatte lange Zeit prototypischen Vorbildcharakter für Berichterstattung in Echtzeit und wurde von anderen Wettbewerbern auf dem Fernsehnachrichtenmarkt teilweise adaptiert.63 25 Jahre nach seiner Gründung musste sich der globale Nachrichtengigant eingestehen, dass Geschwindigkeit nicht alles ist: Auf den Feierlichkeiten zu den Jubiläumsfeierlichkeiten übten selbst Geschäftsleitung und Reporterkoryphäen Selbstkritik an der Übermacht des Live-Charakters als Qualitätsmerkmal (vgl. Rehfeld 2005). Die technische Überlegenheit der elektronischen Massenmedien bei der Übermittlung von audiovisuellen Inhalten hat an sich, folgt man den Eingeständnissen der CNN-Referenten, nicht für eine Aufklärung der Massen gesorgt. Vielmehr verliert sich im hochfrequenten Echtzeit-Bilderwechsel das Epochale im Trivialen; Wertmaßstäbe zur Differenzierung des Inhalts sind für den Zuschauer nur schwerlich anzulegen, wenn jegliche Live-Übertragung von Senderseite auf gleiche Weise sensationalisiert wird. Mit der Zahl der Sender wuchs in den 1980er und 90er Jahren auch der Sender-Bedarf an Audiovisionen, da Programmplätze gefüllt werden wollten. Die Folge war eine exorbitante Vermehrung von Live-Übertragungen. Ob Gottesdienste oder Massenveranstaltungen von Fernsehpredigern, Sport-Events, Berichte aus Krisengebieten, Showformate oder Bilder von Wetterkameras in den Metropolen der Welt: Von jedem Fleck der Erde kann gesendet werden, es braucht nur eine Satellitenverbindung und einen Platz für das Aufnahmeequipment. Die Folgen des Live-Fernsehens bewertet der französische Beschleunigungstheoretiker Paul Virilio als fatal: „Die Nachricht, die sich selbst ernst nimmt, benötigt immer eine gewisse Reflexionszeit, das heißt, einen minimalen Zeitaufschub, um ihre Quellen zu überprüfen, ein Aufschub, den die Live-Übertragung nicht mehr zulässt. [...] [D]ie Fakten werden durch die Unmittelbarkeit ihrer elektromagnetischen Übertragung aufgelöst" (Virilio 1993: 63). Die Trennung von Fakten und Fiktionen, von unabhängiger Berichterstattung und Propaganda sei durch die Bildfrequenz des Live-Fernsehens schier unmöglich geworden (vgl. ebd.: 85). Dadurch dass alles immer schneller, immer direkter, immer häufiger simultan erfahrbar ist, verwandeln sich die Fernsehbilder nach Virilio nunmehr in bloße Signale, deren Inhalts- und Raumbezüge nichts mehr gelten, dafür aber ihre Plötzlichkeit die einzig bedeutsame Eigenschaft ist (ebd.: 48). Der Sinn des Fernsehens sei nicht mehr die Kommunikation sinnhafter Inhalte, sondern eine Totalüberwachung, die im „Closed

63

In den USA ist indes eine zunehmende Konzentration der Berichterstattung durch die Kanäle Fox News, MSNBC und auch durch CNN USA auf die nationale Nachrichtenlage zu beobachten. International verfolgen die britische BBC World und der arabische Anbieter AI-Dschasira (bzw. AI-Dschasira English) ebenfalls den Anspruch, vornehmlich weltweite Echtzeit-Berichterstattung anzubieten.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Circuit Television", im .Überwachungsfernsehen von Unternehmen, Sicherheitseinrichtungen oder ganzen Städten (z.B. London) ihren Superlativ finde (vgl. ebd.: 54).64 Live-Fernsehen wird aus Virilios Sicht zu einer „Kommunikationswaffe", die durch Informationsbeschränkung, Informationsunterlassung oder Desinformation mittels Überinformation Schäden anrichtet (ebd.: 61). Gleichwohl darf die Frage des Umgangs mit der beschleunigten Bilderflut nicht außer acht gelassen werden: Die Verdichtung von televisional vermittelten audiovisuellen Reizen, also die Anforderung, „viel mehr Zeichen zu verarbeiten [...] als früher" (Weibel 1987: 16), führt in letzter Konsequenz zu einer schließlich kaum mehr zu bewältigenden Erschwerung des Verstehens der medialen Wahrnehmungen. Die zeitliche Wahrnehmung des Menschen kann überfordert werden, wenn die elektronischen Medien Informationen immer schneller kommunizieren. Wenn vor den Augen vorbeisausende Bilder in ihren Details nicht mehr realisiert werden können, wird es für den Zuschauer unmöglich, Sinn zu erzeugen. Die Direktheit in der Simultaneität der Informationsübermittlung hebt extreme räumliche und zeitliche Distanzen auf. Aufnahme, Übermittlung und Empfang erfolgen in ein und demselben Moment: „Fernsehen bringt als elektronisches Medium eine Nullzeit hervor, das heißt es tendiert der Faktor Zeit in der Produktion und im Transport der Fernsehinhalte gegen Null" (Nevería 1992: 75 - Hervorh. im Orig.). Wurde diese archetypische „All-at-onceness" des Fernsehens anfangs noch als Schlüssel zu einer globalen Gemeinschaft und Identität gewertet (vgl. Caldwell 2000: 22), meldeten sich bald kritische Stimmen, welche die medial erzeugte Gleichzeitigkeit des Erlebens in Konkurrenz mit einer Vergegenwärtigung des Wahrgenommenen treten sahen (Hickethier 1997a: 44) - mit der Konsequenz, dass die Gegenwart selbst dem Vergessen überantwortet werde: „Was heißt [...] die .Vergessenheit der Gegenwart'? Offenbar nicht allein, dass Gegenwart ins finstre Dunkel versinkt. Sondern vielmehr, dass vor lauter Gegenwart nichts als Gegenwart und nur die Gegenwart zählt, der gegenüber alles Andere verrauscht und verklingt. Diese Gegenwart ist die Gegenwart der elektronischen Massenmedien. [... ] In der Nomenklatur der Massenmedien trägt diese Zeitstruktur den Namen Aktualität. Alles, was gezeigt, bebildert oder berichtet wird, schnurrt darin auf eine Gegenwart zusammen" (Hagen 2003: 7-8). Die Geschwindigkeit der Übermittlung von Informationen sowie deren Menge pro Zeiteinheit nahm im Laufe der Medienentwicklung ungehindert zu (Rosa 2008:10). „Erst die

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Zielinski benutzt den Begriff des Closed Circuit Television (CCTV) als Umschreibung von Programminseln für „eingeschränkte Nutzerkreise in Hotels, Hospitälern, Ausbildungseinrichtungen, Flugzeugen oder Unternehmen" (Zielinski 1989: 214). Diese Art von Programmangeboten ging indes je nachdem als Hotel-, Krankenhaus-, Betriebs- oder Flughafenfernsehen in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. CCTV bezeichnet technische Videoüberwachungssysteme, die kein Programm an Empfänger aussenden, sondern der räumlichen Sichtkontrolle mittels Echtzeitübermittlung von Videosignalen dienen, die von installierten Kameras aufgenommen werden.

III.5. Bilder am laufenden Band

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Beschleunigung medialer Prozesse auf Lichtgeschwindigkeit erlaubt den elektronischen Apparaten die Erzeugung von externen Bild- und Informationsströmen, die zumindest in einigen Punkten, den Vergleichzeitigungen des subjektiv-internen Bewusstseinsstroms entspricht oder nahe kommt" (Großklaus 2003: 35). Dennoch wird eine kognitive Reflexion des Fernseherlebens, also die Vergegenwärtigung des gerade Vernommenen und damit bereits Vergangenen einerseits und die Vergegenwärtigung des Gegenwärtigen, aber räumlich nicht Anwesenden andererseits, ist während der Rezeption in der Regel nur dann effektiv, wenn der Live-Übertragung Einhalt geboten wird, mit anderen Worten: dem Fernsehnutzer eine Verschnaufspause von den direkten Eindrücken des gegenwärtigen Geschehens gegönnt wird, entweder auf Senderseite beispielsweise durch das Angebot von Kontextualisierung, oder auf Nutzerseite durch eine Abkehr vom Fernsehgerät. Großklaus weist erklärend darauf hin, dass es sich trotz aller angenommenen Ähnlichkeit der televisionalen Gleichzeitigkeit und der subjektiven Jetzt-Zeit, in welcher der Mensch die Welt wahrnimmt, bei simultanen Fernsehübertragungen um eine Synchronisierungsleistung von Zeichen-Mengen handelt, „die objektiv und global an unterschiedlichen Orten, mit unterschiedlichem Zeitstatus intersubjektiv vorfindlich sind" (ebd.). „In this fuzzy twilight of orbitting satellites, signal crossings, and flying communication, the past, present, and future loom" (Parks 2005: 183). Die Gegenwart wird dadurch zum einzigen wenn auch flüchtigen Anhaltspunkt, um sich seiner Selbst zu vergewissern und nicht abgekoppelt zu werden vom sprichwörtlichen Puls der Zeit. Dieses Dilemma beschränkt sich nicht allein auf das Live-Fernsehen, sondern gehört zum Kern des elektronischen Mediums an sich, da sie „alles Geschehen - so entfernt es zeitlich und räumlich auch sein mag - in das enge Sichtfenster des Momentanen und Aktuellen" saugen (Großklaus 1994: 40). Die Gegenwart des Fernsehens wird gedehnt und schrumpft zugleich. Geschichtszeit wird zur Gegenwartszeit und erweitert die Gegenwartszeit zugleich in die Vergangenheit und die Zukunft zu einem „präsentischen Zeitnetz", das jeder Linearität entsagt und sich als omnidirektional erweist (Großklaus 2003: 37). Die Synchronisierung von Vergangenheit und Gegenwart ist den technischen Bild-Medien seit dem Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert inhärent: Schon „[d]as Fotoalbum bewahrt .Zeit' in dieser neuen Form von Gleichzeitigkeit eines vergangenen Zustandes und seiner präsenten Erscheinung" (Großklaus 1995: 33). In der elektronischen Übertragung von Audiovisionen findet die „Zusammenziehung der Geschichts-Zeit zur Gegenwarts-Zeit", die „Verdichtung der Welt-Zeit-Gegenwarten zur Gleichzeitigkeit einer (real time)-Gegenwart" (ebd.: 37) ihren Superlativ: „Beschleunigt erscheint gegenüber der Fotografie die gesamte televisionale Verbildlichungsleistung pro Zeiteinheit und damit die Verdichtung der Bild- und Zeichenflüsse. Beschleunigt ist der gesamte Vorgang des Bild- und Zeichentransfers. Das zeitliche Intervall, das traditionell Produktion und Rezeption von Botschaften trennt und begrenzt, schrumpft bei Übermittlung in Lichtgeschwindigkeit gegen Null. [... ] Das Foto bietet noch einen homogenen Ausschnitt, dessen Zeitlichkeit bestimmt ist

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

durch das Zugriffstempo der Belichtung. Der Film zerlegt den homogenen Bildausschnitt des Fotos in 24 Bildphasen/Segmente pro Sekunde, während das Fernsehen pro Sekunde 13 Millionen Bildpunkte aufleuchten und verlöschen lässt - und damit die Zerlegung des Bildes in seine elektronischen Grundbausteine vollendet. [...] Zeitlich gesehen bedeutet der Übergang von analoger zu digitaler Übertragungstechnik noch einmal eine Raffung und Verkürzung der Abtastungs- und Zerlegungsvorgänge" (ebd.: 38-39). Live-Fernsehen verschränkt nicht nur die Gegenwarten seiner Zuschauer zu einer kollektiv geteilten Gegenwart (vgl. Keppler 2006: 7), sondern integriert auch jene der Menschen, die einem televisional übertragenen Ereignis körperlich an Ort und Stelle beiwohnen. Eine mögliche Folge ist die Intimisierung der Beziehung zwischen Zuschauer und Fernsehsender: Wenn eine Sendung live übertragen wird, wird dem Zuschauer eine gelebte Telepräsenz suggeriert, die ihn in direkten Bezug zum Programmveranstalter versetzt. Wie Peter Hoff am Beispiel des Fernsehens in der DDR ausgeführt hat, hatten Live-Produktionen erheblichen Einfluss auf die Beziehung des Publikums zu den Programminhalten und auf die gesellschaftliche Akzeptanz derselben. Mit zunehmender Zahl an Live-Sendungen wuchs auch der Eindruck, dass die Fernsehveranstalter dadurch ein Bindeglied zwischen Sender und Empfänger installierten und somit eine Form von Dialog mit ihrem Publikum aufnahmen, der im krassen Gegensatz zur asynchronen Propagandamaschine der Staatsführung stand (Hoff 2000: 178). 5.2.4. Die Beschleunigung der Zirkulation

von

Informationen

Durch den Zwang, sich immer schneller durch das Leben zu bewegen, um Schritt halten zu können, besteht die Gefahr, dass nicht nur die Vergangenheit aus dem Blick gerät, sondern auch die gefühlte Gegenwart schrumpft und für Gedanken an die Zukunft kaum noch Zeit bleibt. Wer sich ständig in hohem Tempo durchs Leben bewegt, hat das Gefühl, nicht mehr voranzukommen. Der rasende wie totale Stillstand avanciert bei Rosa zur temporalen Grundstruktur der Moderne, der sich in Phänomenen der kulturellen und strukturellen Erstarrung ausdrückt, jedoch ein immanenter Bestandteil des Beschleunigungsprozesses ist (Rosa 2008: 20-21). Unter der ursächlichen Beschleunigung des sozialen Wandels versteht er „die Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierten Erfahrungen und Erwartungen und als die Verkürzung der für die jeweiligen Funktions-, Wert- und Handlungssphären als Gegenwart zu bestimmende Zeiträume" (Rosa 2008: 12). Der Mensch wird zum rasenden Flaneur65 und sesshaften Nomaden (Beuthner 1999:

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Diese Bezeichnung ist von Alexander Kloses Auseinandersetzung mit der Wahrnehmungsgeschichte des Fahrradfahrens entliehen (Klose 2003), kann aber im übertragenen Sinne ebenso als allgemeines sozio-kulturelles Phänomen in der Mediengesellschaft angesehen werden, da sich leicht der Eindruck einstellt, dass durch die hochfrequente Ablösung von Gewissheiten der Gang durchs Leben wie ein Schaufensterbummel und die Wahrnehmung von Informationen als Blick auf die Auslegeware wirkt.

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647) zugleich: Das Wissen der Welt ist in seiner Verbreitung in Lichtgeschwindigkeit, seiner verdichteten Menge und seinen hochfrequenten Abfolgerhythmen nur noch mit flüchtigen Blicken erfassbar, dies jedoch durch die elektronischen Massenkommunikationsmittel aus der Vertrautheit des eigenen Lebensumfeldes heraus. Innerlich aber reist der Zuschauer ruhelos von einer .Wissensinsel'66 zur nächsten, und kann sich sicher sein, dass sie sich bei seinem nächsten Besuch womöglich bis zur Unkenntlichkeit gewandelt haben wird. Wie der Soziologe Meinhard Creyd meint, wird Erfolg nicht mehr durch Tiefe des angeeigneten Wissens und historische Reflektiertheit des Intellekts, sondern durch „Trendwieseligkeit" und „Aktualitätsbeflissenheit" erzielt; und das Fernsehen sorgt dafür, dass Trends und Aktualitäten massenkommunikativ gestreut werden: „Das (im Wechsel der Moden und Meinungen zerhackte) geduldige Arbeiten am Selbst- und Weltverständnis wird geringgeschätzt, das Nach- und Mitschwätzen der jeweils aktuellen conversation pieces und die Hätz als eigene Gegenwart imaginiert, diese wiederum mit Aktualität verwechselt. Ein Konformismus und Oportunismus, der sich nicht an festen Lagern orientiert, sondern an der immer wieder neu sich konstellierenden .Anschlussfähigkeit', ängstigt sich davor, sie zu versäumen, als lauere dahinter der Ausschluss aus dem Kollektiv. Nicht viel lässt sich in dem Milieu mehr klären, in dem alles schon einmal gehört, vieles bekannt ist, aber gerade darum weniges erkannt werden muss. Die Beschleunigung und das Überbieten sowie das aus diesen Quellen gewonnene Selbstbewusstsein finden sich sozial verallgemeinert in der Mode" (Creydt 2000: 295). Soziale Distinktion wurde traditionell durch Bildungs- bzw. Wissensvorsprünge garantiert. In dynamischen Gegenwartsgesellschaften jedoch reicht Bildung zum Selbstzweck nicht mehr aus (Grundmann u.a. 2007: 60). Das Diktum vom lebenslangen Lernen leitet sich aus der Notwendigkeit ab, sich angesichts kürzerer Innovationszyklen in einem technologisch determinierten Sozialgefüge weiterhin orientieren und seine Ziele durchsetzen zu können. Begünstigt wird dieser dauerhafte Lernprozess durch die Zirkulation von Informationen, deren Voraussetzung ihre Verfügbarkeit und Zugänglichkeit mittels Medien ist, die zur Vermittlung und Aneignung eingesetzt werden. Unter der Vorherrschaft der Schriftkultur war die Verbreitung von Wissen von Büchern, Zeitungen und anderweitigen Druckerzeugnissen abhängig. Robert Musil lässt in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften" die Figur des ungebildeten Generals Stumm von Bordwehr die Wiener Staatsbibliothek besuchen und schildert damit zugleich die Unmöglichkeit der Bewältigung des Weltwissens in seiner Totalität sowie den Widersinn eines solchen Vorhabens: „Wir sind den kolossalen Bücherschatz abgeschritten, und ich kann sagen, es hat mich weiter nicht erschüttert, diese Bücherreihen sind nicht schlimmer als eine Gar66

Unter Wissensinseln sollen hier bestimmte Felder von Spezialwissen wie beispielsweise wissenschaftliche Erkenntnisse verstanden werden, die einem steten und immer schnellerem Wandel unterliegen.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens nisonsparade. Nur habe ich nach einer Weile anfangen müssen, im Kopf zu rechnen, und das hatte ein unerwartetes Ergebnis. Siehst du, ich hatte mir vorher gedacht, wenn ich jeden Tag da ein Buch lese, so müsste das zwar sehr anstrengend sein, aber irgendwann müsste ich damit zu Ende kommen und dürfte dann eine gewisse Position im Geistesleben beanspruchen, selbst wenn ich ein oder das andere auslasse. Aber was glaubst du, antwortete mir der Bibliothekar, wie unser Spaziergang kein Ende nimmt und ich ihn frage, wieviel Bände denn eigentlich diese verrückte Bibliothek enthält? Dreieinhalb Millionen Bände, antwortet er!! Wir sind da, wie er das sagte, ungefähr beim siebenhunderttausendsten Buch gewesen, aber ich habe von dem Augenblick an ununterbrochen gerechnet; - ich will es dir ersparen, ich habe es im Ministerium noch einmal mit Bleistift und Papier nachgerechnet: Zehntausend Jahre würde ich auf diese Weise gebraucht haben, um mich mit meinem Vorsatz durchzusetzen! In diesem Augenblick sind mir die Beine auf der Stelle stecken geblieben, und die ganze Welt ist mir wie ein einziger Schwindel vorgekommen. Ich versichere dir noch jetzt, wo ich mich beruhigt habe: da stimmt etwas grundlegend nicht!" (Musil 1952: 460).

Musils Romanfigur sitzt vier Irrtümern auf, indem er sich von dem versammelten Bücherschatz beeindrucken lässt. Einmal unterschätzt er den Umfang des verfügbaren Wissens, doch überschätzt er wiederum auch seine eigenen Aufnahmekapazitäten. Doch die Wohl schwerwiegensten Fehlschlüsse liegen in der Annahme, es würde sich dabei um der Weisheit letzter Schluss handeln, Wissen also, das auf Jahre, wenn nicht Jahrhunderte Gültigkeit beanspruchen kann. Daraus folgert der General, dass er sich dieses Wissen nur aneignen müsse, um „eine gewisse Position im Geistesleben" und damit einen Sonderstatus innerhalb der intellektuellen Elite zu erhalten. Wenn er schließlich den Verdacht äußert, dass da etwas nicht stimmen könne, dass etwas Fundamentales im Argen liege, äußert er - nun unter dem Eindruck der konkreten Kollossalität von Millionen von Büchern - quasi aus Selbstschutz Misstrauen gegenüber dem Weltwissen und scheint Angst davor zu haben, dass dieses zügellos walte und die Zirkulation, das heißt der von ihm selbst noch zu leistenden Aneignungsprozess, zu einem erdrückenden Übermaß führen würde. Wenn der Bibliothekar, der General Stumm bei seinem Besuch begleitet, später sagen wird, dass wahrhaftig derjenige verloren sei, der sich auf die Wissensinhalte einlasse, und er selbst nur deshalb den Überblick über das versammelte Wissen behalte, weil er keines der Bücher gelesen habe (ebd.: 462), zeigt dies nur umso deutlicher, dass schon zu Zeiten literarischer Wissenszirkulation die Fähigkeit zur Selektion und zur Erfassung der wesentlichen Inhaltspunkte unerlässlich war, um sich das Wissen zu nutze zu machen. Der Produktions- und Distributionsprozess der Papiermedien setzte der Geschwindigkeit der Wissenszirkulation trotz effizienter Steigerungen der Verteilfrequenzen, wie vor allem in der Zeitungsbranche durch den Vertrieb von Morgen- und Abendausgaben einzelner Publikationen nachzuvollziehen, klare Grenzen, obwohl schon die Printmedien tendenziell die Unbegrenztheit der Information offenbarten (Majer 2002: 199). Eine verbindliche Ordnung des Wissens für jedermann wurde durch diese Umstände bereits herausgefordert und tendenziell unmöglich:

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„Diese unbegrenzte Wucherung charakterisiert die schriftliche Tradition im allgemeinen: der bloße Umfang des literarischen Repertoires bedeutet, dass der Teil dieses Repertoires, den ein Individuum kennen kann, im Vergleich zu dem Anteil, den ein Individuum sich von einer mündlich überlieferten Kultur aneignen kann, unendlich klein sein muss" (Goody/Watt 1991: 106). Die elektronische Simultanverbreitung von Informationen hat dem Rezipienten die technologische und örtliche Grenzenlosigkeit buchstäblich vor Augen geführt und eine hastige Verunstetigung beim Informationsumschlag heraufbeschworen. Durch die Globalisierung der Massenkommunikation erfuhren Nachrichten und Moden weltweit eine temporale Verdichtung und quantitative Potenzierung. Die Ursachen liegen in der technologisch ermöglichten und inhaltlich beförderten Steigerung von Angebot und Nachfrage audiovisuell vermittelten Wissens. Erfordert die Lektüre schriftlicher Informationen Alphabetisierung und ist zum überwiegenden Teil kostenpflichtig, sind die Dienste des Fernsehens für den Nutzer abgesehen von der Rundfunkgebühr in Deutschland kostenfrei - selbst diese können jedoch bei Geringverdienern erlassen werden. Durch seinen hürdenlos in Anspruch zu nehmenden Dienstleistungscharakter für die allgemeine Öffentlichkeit ist das Fernsehen als Institution populären Wissens zu bezeichnen, die durch ihre wachsende Zahl an Kommunikationskanälen für eine Vervielfältigung des zirkulierenden Wissens sorgt und im gleichen Zug elitäre Strukturen der Wissenszirkulation entwertet (vgl. Dorer 2002: 54). Das Fernsehen trägt zudem erheblich zur Vereinheitlichung von Wissen bei, indem es die Reichweite von Informationen distributiv erhöht, aber auch inhaltlich mittels seiner bildzentrierten und teils multilingualen Angebote Gesellschaften zu einen imstande ist (vgl. Anderson 1991:135). Dennoch sind auch durch die Pluralisierung des Fernsehmarktes und das Wachstum der Programmangebotes Heterogenisierungseffekte zu bemerken, welche zu einer Segmentierung des vormals tendenziell einheitlichen Fernsehpublikums geführt haben. Sah sich der Einzelne im Zeitalter der Schriftkultur (die längst nicht vorüber ist)67 einer „Sintflut von Gedrucktem" und damit „einer entsetzlich weiten und breiten Vergangenheit" hilflos ausgeliefert (Muster 1981: 83), ist es nun eine Sintflut präsentistischer Bilder, die bewältigt werden muss, um Sinn zu konstruieren. Schon Nietzsche urteilte in seinem Räsonnement über den „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" harsch über die Macht des Wissens über die Existenz des Menschen, die „viel weniger Leben für die Zukunft verbürgt als das ehemals nicht durch das Wissen, sondern durch Instinkte und kräftige Wähnbilder beherrschte Leben" (Nietzsche 1970: 69). Die Menschen würden durch „allzu helles, allzu plötzliches, allzu wechselndes Licht" von der „Masse des

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Wie Peter M. Spangenberg verdeutlicht, drückt sich die weiterhin ungebrochene Geltungskraft der Schriftkultur unter anderem dadurch aus, dass Kinder auch heute noch zunächst einmal schreiben und lesen lernen, bevor sie sich von formal-sozialisierten „Buch-Menschen" zu „Bild-Menschen" (Gansei 2003:49; vgl. auch Pflaum 1991: 212) entwickeln: „Wäre diese Frage bereits zugunsten der Bildmedien entschieden, würden Sie diesen Text nicht lesen, sondern auf MTV oder VIVA einen Videoclip anschauen" (Spangenberg 1994: 123).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Einströmenden" überwältigt, ja, „das Befremdende, Barbarische und Gewaltsame dringt so übermächtig, ,zu scheußlichen Klumpen geballt', auf die jugendliche Seele ein, dass sie sich nur mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiß" (ebd.: 69-70 - Hervorh. im Orig.). Nun ist nicht alles wissenswert, was das Fernsehen an Audiovisionen zirkulieren lässt. Doch dass es sie zirkulieren lässt, in noch viel unüberschaubarer Mannigfaltigkeit und in einer unaufhörlichen tagtäglichen Fülle, ist unbestreitbar. Der gesteigerte Umfang der Wissenszirkulation belegt seine Abhängigkeit vom technologischen Wandel. Wissen ist nicht nur schneller verfügbar, sondern auch aus einer zunehmenden Menge diversifizierter Quellen: Neben hunderten von Fernsehkanälen, die dem durchschnittlichen Rezipienten zur Verfügung stehen, öffnet sich im Internet zusätzlich ein weites Feld von Videoangeboten, die nicht ausschließlich von professioneller Hand, sondern auch von Laien aus der Gruppe der Nutzer selbst produziert werden (vgl. auch Lull 2000:223). Innerhalb weniger Stunden ist es möglich, an den Ort eines Geschehens zu kommen, audiovisuelle Aufnahmen zu erstellen und in Echtzeit zu versenden. Seit der Verbreitung von Kameratechnik für den Heimgebrauch spielen auch Amateuraufnahmen eine immer wichtigere Rolle: Seit Jahrzehnten haben sich Filmkameras und ab Mitte der 1980er Jahre die Videokameras in den Privathaushalten etabliert (König 2000: 383) und lieferten schon früh Material, das für die Ausstrahlung im Fernsehen in Frage kam. Selbst audiovisuelle Aufnahmen mit dem Mobiltelefon dienen mittlerweile als geeignete Quelle für Fernsehsender. Die Pluralisierung von Produktion und Rezeption hat eine Dynamisierung des Wissens zur Folge, das nicht mehr nur bestimmten Bildungseliten vorbehalten ist, sondern durch eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung formbarer, schneller falsifizierbar und überholt wird: „Diese Innovation in Permanenz hat ein exponentielles Wachstum neuer Wissensbestände hervorgebracht [...], die in immer kürzeren Zeitintervallen wieder unbrauchbar werden. Bildung bzw. Wissen, das gestern noch Distinktionsgarant war, ist heute distinktionsloser Standard und wird morgen zum Distinktionsstigma herabsinken. [...] [D]ie einmal erworbenen kognitiven Kompetenzen und Bewertungsmaßstäbe veralten immer rascher; sie müssen verlernt bzw. revidiert und durch neue Kenntnisse und Fähigkeiten ersetzt werden" (Kraemer 1997: 369-370 - Hervorh. im Orig.). Die beschleunigte Produktion und Streuung von Wissensbeständen führen dazu, dass bisheriges Wissen schneller überholt wird68 und den Raum für Ungewissheit vergrößert (Kraemer 2001: 769; Kraemer 2004: 34). Gleichzeitig wächst der Bedarf an neuem Wissen, das sich durch technologische Hilfsmittel etwa alle sieben Jahre verdoppelt (Davis/ Botkin 1994: 170). Wie Kraemer am Beispiel der Nachhaltigkeit im Umweltschutz zeigt, ist die Sicherstellung einer ungehinderten Verfügbarkeit durch Zirkulation die Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Anwendung innovativen Wissens (Kraemer 2001: 771). Zugleich wird durch die medial gesteuerte Beschleunigung und den Wechsel von

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So stieg die „knowledge obsolescence rate" von drei Prozent pro Jahr (um 1900) auf zehn bis zwölf Prozent pro Jahr (1990) (Caballero/Jaffe 1993: 19).

111.5. Bilder am laufenden Band

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Gewissheiten, Mentalitäten und Moden der Situationsdruck auf das Individuum verschärft und eine Resistenz und Beharrlichkeit in der Kontinuität des persönlichen Wirkens erschwert, worin der Soziologe Oskar Negt einen „chronische Gedächtnisverlust der Menschen" zu erkennen glaubt (Negt 1989: 266). Von der beschleunigten Frequenz der Überholung von Wissensbeständen ist nicht nur die Wissenschaft, sondern in erster Linie auch das Nachrichtengeschäft betroffen. Dort drückt sich die zuspitzende Situationen in einer Verkürzung von Themenkarrieren aus, die kaum noch mit Begriffen der Tagesaktualität zu fassen sind, da sich die Nachrichtenlage durch die mediale Dauerthematisierung mehrmals täglich und innerhalb von wenigen Stunden ändern kann. Das Beispiel der politischen Berichterstattung zeigt, wie sehr der Exklusivitätsdruck im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zugenommen hat und als Folge der Ausbreitung der elektronischen Medien gewertet wird (vgl. Kramp/Weichert 2008b: 72; Kramp/Weichert 2010: 67-102). Nur Rundfunkveranstalter und Informationsanbieter im Internet scheinen mit dieser Entwicklung noch Schritt halten zu können, sind sie es doch, welche zur Entschleunigung schon strukturell nicht fähig sind, wie die Hörfunkjournalistin Sabine Adler vom Deutschlandradio in Berlin meint (vgl. Kramp/Weichert 2008b: 32). Die ständige Verfügbarkeit von frischen Informationen verursacht einen unaufhörlichen Aktualitätsdruck, da nur informativen Wert besitzt, was überrascht: „In diesem Sinne handelt es sich bei einer Informationsgesellschaft - bei einer Gesellschaft, die ihre Entscheidungkriterien auf der Basis der Verfügbarkeit über Information stellt - um eine Gesellschaft, die sich auf eine zirkuläre Weise in der ständigen Erwartung und Abhängigkeit von Überraschung permanent selbst überraschen muss" (Esposito 2002: 78). Ein geschulter Umgang mit dem raschen Wechselspiel obsolet werdender und neu hinzukommender oder reaktivierter Wissensbestände ist also die wesentliche Qualifikation auf Seiten des Mediennutzers; denn eine Aneignung des Wissens in gegebener Komplexität ist derweil noch unwahrscheinlicher geworden als zu General Stumms Zeiten. Die Diffusion von Wissen hat durch seine beflügelte Zirkulation Ausmaße angenommen, die für das Individuum in seiner Breite schon ansatzweise kaum zu bewältigen ist. Durch das informationelle Überangebot wird es auf der Produzenten- wie auch der Rezipientenseite schwierig, den Überblick zu behalten; die Gefahr der Inaktivierung von Wissensbeständen oder auch des Übersehens von relevanten Informationen steigt. 5.2.5. Der Bilderfluss des Fernsehens

Die Visualität seiner Darbietung hat dem Fernsehen zum Massenerfolg verholfen und ließ es zum ungeschlagenen Leitmedium des 20. Jahrhunderts aufsteigen. Doch die Betonung seiner Bildlichkeit ergab im selben Maße Anstoß für fundamentale Kritik: Wie viel Bilder kann der Zuschauer vertragen? Wie viel Ruhezeiten sind nötig, um das Gesehene zu verarbeiten? Kann eine „Bildermaschine" (Hickethier 1990a: 140) wie das Fernsehen seiner eigenen Augenscheinlichkeit überhaupt Einhalt gebieten, ja entsagen? In

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

den frühen Jahren des regelmäßigen Sendebetriebs überwogen die Zweifler, die bereits ein Übermaß des Visuellen kritisierten: „Die Hauptkategorie, das Hauptverhängnis unseres heutigen Daseins heißt: Bild. Unter ,Bild' verstehe ich jede Darstellung von Welt oder Weltstücken, gleich, ob diese aus Photos, Plakaten, Fernsehbildern, Filmen besteht. ,Bild' ist Hauptkategorie deshalb, weil heute Bilder nicht mehr als Ausnahmen auch in unserer Welt vorkommen, weil wir von Bildern vielmehr umstellt, weil wir einem Dauerregen von Bildern ausgesetzt sind. Früher hatte es Bilder in der Welt gegeben, heute gibt es ,die Welt im Bild1, richtiger die Welt als Bild, als Bilderwand, die den Blick pausenlos fängt, pausenlos besetzt, die Welt pausenlos abdeckt" (Anders 1961: 628 - Hervorh. im Orig.). Hans Magnus Enzensberger nahm einen gegensätzlichen Ausgangspunkt ein, um die Bedeutung des Fernsehens, das sich damals erst im sechsten Jahr seines regelmäßigen Programmbetriebs in Deutschland befand, in Frage zu stellen: „Man fragt sich nur, woher die Psychologen [...] den Mut hernehmen, von Bilderschwemme und Reizüberflutung zu reden. Sie müssten es doch gemerkt haben, dass es auf dem Fernsehschirm keine Überraschungen gibt, und dass die Monotonie, die da herrscht, dem Betrachter das Erlebnis einer idealen Reizlosigkeit beschert, wie man es sich früher nur mit Hilfe bestimmter Yoga-Praktiken zu verschaffen wusste" (Enzensberger 1959). Zu Beginn des regelmäßigen Fernsehbetriebs konnte von einer Reizüberflutung tatsächlich kaum die Rede sein, wurde doch nur für wenige Stunden am Tag und auf nur wenigen oder nur einem Kanal gesendet. Die Empfangsmodalitäten waren ebenfalls wenig reizvoll, zumal die Qualität des Fernsehbildes durch seine Monochromie, die geringe Größe und das Flimmern des Bildschirmes, welche die Augen des Zuschauers zusätzlich anstrengte, Vieles zu wünschen übrig ließ. Diese Wünsche indes wurden im Laufe der Karriere des Fernsehens zum Leitmedium der Gesellschaft(en) durch ökonomische und technologische Fortschritte schon bald erfüllt. Das Fernsehen wurde von einer Ära des Mangels, die der britische Fernsehwissenschaftler John Ellis in Teilregionen bis in die späten 1970er und frühen 1980er Jahre hinein feststellte, in eine Ära der totalen Verfügbarkeit katapultiert (vgl. Ellis 2000: 39). Das auffälligste Merkmal dieser Ära war der Ausbau des Angebots zu einem pausenlosen Rund-um-die-Uhr-Programm ohne Sendeschluss bei gleichzeitiger Multiplikation der Programmveranstalter auf verschiedenen Distributionswegen. Bekamen in Nordamerika die drei großen Sende-Networks ABC, CBS und NBC ernst zu nehmende Konkurrenz durch eine unüberschaubare Zahl von Kabelkanälen (darunter auch der Nachrichtenanbieter CNN - siehe oben) und weiteren Networks wie unter anderem FOX unter dem Dach des globalen Medienkonzerns Newscorp unter Führung des Australiers Rupert Murdoch, wurde in Deutschland das Programmmonopol der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten aufgelöst, indem ihnen ab Mitte der 1980er Jahre kommerzielle Anbieter langsam, aber nachhaltig Zuschaueranteile abwarben. Die veränderten bzw. neuen Wettbewerbsverhältnisse führten zu Anpassungseffekten, die eine

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Band

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Ausweitung des Sendebetriebs auf 24 Stunden am Tag nach sich zogen und langfristig zu einer starken Dynamisierung des Programmgeschehens führten. Die Masse an parallel verfügbaren Programmangeboten machte allzu deutlich sichtbar, was sich bereits seit Anbeginn der Programmgeschichte des Fernsehens abgezeichnet hatte: Für den Fernsehtheoretiker und -kritiker Raymond Williams wurden die gesendeten Audiovisionen zu einem scheinbar nimmer versiegenden Fluss an Bildern, der das Konzept des Programms als zeitliche Sequenz von Sendeeinheiten ablöste (Williams 2003: 89). Zielinski sprach enstsprechend vom Fernsehen als einen festinstallierten Bilderrahmen, in dem ein nicht enden wollender Strom von Visionen in den Wahrnehmungsraum des Zuschauers fließe (Zielinski 1989: 249). Grundlegend für das Konzept des Programmflusses ist die ausgeprägte Zersplitterung sowie die Intervallverdichtung und -füllung innerhalb und zwischen Fernsehsendungen. Am aussagekräftigsten ist das Phänomen des Flusses anhand der Platzierung von Werbung beobachtbar: Im kommerziellen Programmbetrieb der USA mussten Filme, die nicht für das Fernsehen, sondern primär für das Kino produziert worden waren, in mehrere Sequenzen unterteilt werden, um zwischenzeitlich Werbespots senden zu können, die für die Finanzierung des Senders notwendig war. Diese unnatürliche Aufspaltung von Sendeeinheiten wirkte nur anfänglich wie eine Unterbrechung und fand als integraler Bestandteil kommerzieller Programmschemata schließlich Einzug in die Fernsehdramaturgie, indem Produktionen (z.B. Unterhaltungsshows oder Fernsehserien) im Hinblick auf die Binnenteilung konzipiert wurden, um jeweils vor einem Werbeblock einen Spannungshöhepunkt aufzubauen (vgl. Schwarzkopf 2006: 76; Eder 2007: 89). Werbung im laufenden Programm69 stellte schon früh keinen Fremdkörper mehr da (obwohl von vielen Zuschauern auch heute noch so empfunden) 70 , sondern gehört ebenso zur Strömung des Programmflusses wie die Sendung, in die sie eingefügt wird. Durch das Gesamtgefüge entsteht die fernsehspezifische Ästhetik des Programms als Fluss: ,,[I]t is now obvious [...] that the notion of .interruption, while it has still some residual force from an older model, has become inadequate. What is being offered is not, in older terms, a programme of discrete units with particular insertions, but a planned flow, in which the true series is not the published sequence of programme items but this sequence transformed by the inclusion of another kind of sequence, so that these sequences together compose the real flow, the real .broadcasting'" (Williams 2003: 90-91).

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Werbung wird nicht mehr ausschließlich in Form von Blöcken gesendet, sondern auch in den Verlauf von Sendungen integriert, beispielsweise mit Laufbändern, graphischen Hinweisen oder inhaltlichen Verweisen. Die Fremdbestimmung bzw. Unausweichlichkeit von Werbung im Fernsehen (und Radio) und die daraus resultierende Ablehnung dieses Programminhalts durch den Rezipienten mit gleichzeitiger Reduzierung von Aufmerksamkeit wird als ein wesentliches Indiz für die vergleichsweise geringen Erinnerungsleistungen von Probanden an Fernsehwerbespots in Relation zu ignorierbaren Werbeanzeigen in Presseerzeugnissen bewertet (Furnham/Williams 1987).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Im Unterschied zu „diskreten" Medien wie Büchern oder Theateraufführungen wird Fernsehprogramm als Sequenz mit einer ganzen Reihe von Alternativsequenzen in derselben verfügbaren Dimension angeboten (vgl. Williams 2003: 86-87). Ein Buch steht für sich, wird als Verlagserzeugnis als singulare Einheit und nur im Ausnahmefall als Reihenstück publiziert. Fernsehen ist dagegen als Programmerlebnis konzipiert und wird auch in dieser Weise rezipiert, wenn beispielsweise vom sogenannten ,Fernsehabend' gesprochen wird: Man schaltet zwar auch ein und danach wieder ab, wenn nur eine bestimmte Sendung von Interesse ist, doch ist es möglich und wird auch dementsprechend praktiziert, Fernsehen am laufenden Band für eine bestimmte Dauer zu schauen, den zusammenhängend ersonnenen Sendeplan (bzw. die Sendepläne) also auf sich wirken zu lassen. Während das deutsche Fernsehen in seiner wettbewerbslosen Anfangszeit fast ausschließlich diskrete Sendungen anbot, wenn beispielsweise an einem Abend nur eine Theateraufführung oder ein Konzert übertragen wurde, und auch im Fortlauf der Entwicklung zunächst eine Abfolge von Sendeeinheiten zum Programm verbunden wurde, ihre Autonomie indes erhalten blieb und sie sich nicht zwangsläufig nach dem Sendeplan des Fernsehens richten mussten, wurden die Inhalte zu Rationalisierungs- und Strukturierungszwecken bald in die lineare Zeitachse des Programms gezwängt: Die festgelegte und nur bedingt wandelbare Programmstruktur gab den Sendetermin, die Sendedauer und den Sendeinhalt vor, nicht etwa das zur Sendung in Frage kommende Geschehen. Natürlich gab und gibt es Ausnahmen von der Regel, so wenn beispielsweise aktuelle Ereignisse den Programmfluss durchbrechen; und dennoch: „Die Ereignisbezogenheit der Sendung bestätigt als Ausnahme die Ereignisunabhängigkeit des Programms als Regel" (Nevería 1992: 65). Mit dem Rund-um-die-Uhr-Fernsehen kann der Nutzer im Bilderfluss mitschwimmen, wann immer er möchte. Wenn der Fernseher aber erst einmal läuft, wird das Abschalten umso schwieriger: „Dem Kreislauf der Bilder ist nicht zu entkommen, denn ein Bild kann nur durch ein anderes Bild verdrängt werden" (Spangenberg 2001: 213). Nevería bezeichnet dieses temporale Charakteristikum des Fernsehens als Endloszeit (Nevería 1992: 63), welche sich aus den zusammenhängenden Endlosprogrammen des zeitgenössischen Fernsehbetriebs ergibt. Die ausgegebene Devise heißt: dranbleiben, den Zuschauer an das spezifische Programmangebot zu binden, um Reichweite und Marktanteile auf möglichst hohem Niveau zu stabilisieren bzw. zu steigern: „Die Abfolge kurzfristiger Unterhaltungsangebote bezieht ihre Zuschauerbindung aus dem beständigen Wechsel, mit dem immer wieder Neues, oder doch zumindest Anderes als das Vorangegangene angeboten wird" (Hickethier 1994b: 57). Die Attraktivität des Programms als Einheit soll durch „Interludien" (Cavell 2002: 146) gewährleistet werden, welche die Intervalle zwischen einzelnen Sendeeinheiten für den Zuschauer so ansprechend wie möglich überbrücken und gleichzeitig perspektivisch auf herausragende Sendungen in der Zukunft hinweisen bzw. die Senderidentität im Bewusstsein des Zuschauers stärken sollen. Diese „Trailer, Teaser, Appetizer" (Hickethier/

III. 5. Bilder am laufenden

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Bleicher 1997) zielen auf teils offensichtliche, aber auch teils filigrane Weise auf die Erinnerungsbildung des Fernsehzuschauers, rhythmisieren indes auch den Programmfluss und führen zu einer weiteren Beschleunigung, indem reihenweise „Attraktionsmontagen" aneinandergereiht werden (vgl. Hickethier 1997a: 33). Mit unterschiedlichen Dosierungen werden Programmhinweise und Senderkennungen zum Zwecke der medialen Markenbildung eingesetzt. Diese meist nur wenige Sekunden dauernden Trailer sind in ihrer Schnittfolge zumeist äußerst dichte Bewegtbildkompilationen, die in der Grauzone zwischen Programmfortsetzung und Werbung in eigener Sache zu verorten sind (Krzeminski 2004: 96). Sie verknüpfen mit dem Verweis auf den Gesamtzusammenhang des Programms und der .Corporate Identity' des jeweiligen Senders aufeinanderfolgende Sendungen oder weisen noch innerhalb einer Sendung auf kommende konkrete Ausstrahlungstermine oder anderweitige Programmangebote hin. Eingeflochten in das sendertypische Fernseh-Design, sollen sie sicherstellen, dass der Zuschauer nicht nur dranbleibt, sondern auch wieder einschaltet. Die Sender verlassen sich nur bedingt auf die intermedialen Hinweise auf das eigene Programm wie zum Beispiel in Fernsehzeitschriften, Programmübersichten in Tageszeitungen oder im Internet. „Immer dort, wo der Fernsehsender seine Anwesenheit zeigt, wirbt er für sich" (Adolph/Scherer 1997: 60). Die Medienwissenschaftler Jörg Adolph und Christian Scherer nennen fünf maßgebliche Erscheinungsbilder, die zur (Wieder-) Erkennbarkeit des .Corporate Design eingesetzt werden (ebd.: 61-62). Die Sendungszusammenschnitte, also Trailer bzw. Teaser, wenn es sich um einen kurzen Clip zum Verweis auf eine nachfolgende Sendung handelt, stellen dabei die variabelste Werbeform dar, die sich auf jeweils andere Sendungen bezieht. Dagegen sind Senderkennspots, in denen das Signet (meist das Senderlogo) mit der Philosophie des Senders (z.B. jugendlich-dynamisch bzw. seriöskompetent) verknüpft wird, in ihrer Machart zwangsläufig stabil, obgleich es auch hier je nach strategischer oder zeitgemäßer Neuausrichtung der Senderidentität zu teils starken Wandlungen kommen kann. Auch die sogenannte „Fliege", eine graphische Sendesignatur, die meist statisch während der kompletten Sendedauer in einer Ecke des Bildes platziert ist, oder Eröffnungssequenzen zur Einleitung bestimmter wiederkehrender Programmformate einer bestimmten thematischen oder stilistischen Zuordnung innerhalb des Programmablaufs sind aus Gründen der leichten Identifizierung und Erinnerbarkeit in ihrem Design langfristig stringent. Eine Sonderrolle nehmen „Passagen" ein, welche zum nahtlosen Übergang zwischen Sendung und Werbung, aber auch innerhalb der Werbung, eingesetzt werden. Die „Mainzelmännchen" des ZDF sind ein Beispiel für ein besonders erfolgreiches, langfristiges Konzept für den Einsatz von Passage-Sequenzen. Die kurzen, pointierten Abenteuer der Zeichentrickfiguren steigern als „Inserts" (Linxweiler 2004: 362) zwischen einzelnen Werbespots seit Jahrzehnten den Wiederkennungswert des Senders und nehmen durch die dadurch erfolgende Aufgliederung von Werbeblöcken wiederum eine Klammerung der ansonsten in Bezug auf das Programm unspezifischen Werbeinhalte in den übergeordneten Programmkontext vor.

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

Ein weiteres Beispiel der geglückten Implementierung eines Markenzeichens ist die rosa Handpuppe Karlchen, die seit dem Sendebeginn des kommerziellen Fernsehveranstalters RTL Plus im Jahre 1984 zeitweise zu festen Terminen, aber häufig auch sporadisch und unvorhersehbar als humorvolles Zwischenspiel die Nachrichtenlage kommentierte, Sendungen ankündigte oder für kurzweilige, wenn auch inhaltsleere Unterhaltung sorgte und nach einigen Jahren Pause71 weiterhin zum Programm des Senders gehört, wenn auch nur noch einmal pro Woche in einem Morgenmagazin. „Ich habe mit Karlchen sieben Jahre lang, fast täglich, ein paar Minuten lang herumgeblödelt, manchmal auch bissige politische Bemerkungen losgelassen", resümiert Björn Hergen Schimpf, Hörfunkjournalist, Fernsehmoderator und Sprecher Karlchens, die Funktion der Kurzauftritte vor seinem temporären Wechsel zur ARD (Schimpf 1993:230). Die vorgeblich laxe Form der Konzeption der Figur als „RTLümmel" (Preissner-Polte 1986) war indes mehr als blanker Nonsens. Der Kommunikationswissenschaftler Peter Ludes sah darin einen Bestandteil der „institutionalisierten Ironisierung" (Ludes 1994: 77) von Seiten des Privatfernsehens, welche dem Markenbild von RTL in klarer Abgrenzung zu den in ihrem Design und Inhalt eher gesetzten und bedächtigen öffentlich-rechtlichen Anstalten zu mehr Profil verhelfen sollte. Mit anderen Worten: Indem das Gespann Karlchen/Schimpf schnoddrig Tabus brach und unter anderem ranghohe Politiker wie Gorbatschow und Reagan als „Gorby" und „Ronnie" bezeichnete (vgl. Ludes 1989: 77), wurde es zum „Maskottchen" des Senders (Anonym 2003a). Die Einblendungen der eigenwilligen Handpuppe lassen sich auch als Hybrid zwischen Passagen und Programmansagen klassifizieren. Programmansager spielen vor allem in der deutsch-deutschen Fernsehgeschichte eine hervorgehobene Rolle, indem sie über mehrere Jahrzehnte hinweg als Schnittstelle zwischen Fernsehsender und Publikum fungierten und nicht selten als Herz und Seele einer Senderidentität galten. Vor und nach bestimmten Sendungen bzw. Programmblöcken kamen sie mit einer Rück- und Vorschau auf das Programm einem Orientierungsbedarf seitens des Zuschauers entgegen und nahmen zugleich die Rolle von Mediatoren ein, die das Medium, seine Inhalte, Strukturen und Prozesse bis zu einem gewissen, wenn auch überwiegend geringen Grad erklärten: „Die Fernsehansage setzt Zäsuren in den Programmfluss, stoppt den Strom der Bilder, schafft Orientierungspunkte, die in die Zukunft verweisen, aber auch Inhalte des gerade Vergangenen aufarbeiten können. Programmansagen fungieren als Schnittstellen im Fernsehprogramm, indem sie den Anschluss und den Beginn von Sendungen kennzeichnen. Sie markieren neben unterschiedlichen Fernseh-Erzählungen auch den Wechsel zwischen Programmblöcken etwa des Vorabend- und des Hauptabendprogramms, zwischen Programmformen und den Übergang zwischen non-fiktionalen und fiktionalen Inhalten. Ansagen fungieren als Metaerzählungen 71 Nach dem zeitweisen Wechsel des Sprechers Björn Hergen Schimpf zur ARD wurde die Puppe kurzzeitig im Morgenmagazin des öffentlich-rechtlichen Senders reaktiviert, galt aber weiterhin als historisches Markenzeichen von RTL, zu dem es einige Jahre später wieder zurückkehrte (Anonym 1999).

III.5. Bilder am laufenden Band

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des Fernsehens, indem sie Textstrukturen markieren und über Inhalte informieren" (Bleicher 1997:187). Als audiovisuelle Führer durch das Programm handelten die Ansager zweifellos im Interesse des Senders und erfüllten in ihrer Orientierungsleistung einen bestimmten Bias. Dennoch reicht die Beschreibung ihrer Tätigkeit als bloße Anmoderation zum Zwecke des Weckens von Interesse zu kurz, um die Bedeutung der Fernsehansagen als Marker im Programmfluss zu erfassen: Der Strom schien zwar nicht zu versiegen, wenn eine Ansage begann, doch unterbrach sie den Bilderfluss merklich durch die direkte Ansprache des Zuschauers und die oft geruhsamen, prägnant formulierten Programmhinweise zur Kontextualisierung, Hintergrundinformation und Rückschau auf die vorangegangene(n) Sendung(en) vor statischer Studiokulisse. Obwohl es sich auch bei den Ansagesequenzen um audiovisuelle Sendebeiträge handelte, wog ihr Einschnitt durch das gedrosselte Tempo des Programmablaufs offenbar so schwer, dass selbst die dritten Programme im Laufe der 1990er Jahre keine Nachfolger für ihre Ansager wie Dénes Törzs vom Norddeutschen Rundfunk, die es teils zu bescheidener Prominenz gebracht hatten, zu suchen und das Format personalisierter Programmführung gänzlich durch vorproduzierte Sendungszusammenschnitte oder Hinweise durch Moderatoren beispielsweise auf die nachfolgende Sendung zu ersetzen. Beliebt wurde auch der rein verbale Hinweis auf das Folgeprogramm noch während der Schlusssequenz einer Sendung. Durch die restliche Beseitigung der Programmansage als eigenständige Sendeeinheit wurde die ungebremste Beschleunigung zu einem maßgeblichen Charakteristikum des kommerziellen wie öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramms. Verschärft wurde diese Entwicklung noch durch die Kürzung, das Senden im Zeitraffer bzw. Abschaffung von Abspännen beispielsweise nach Filmen, aber auch Shows oder Fernsehserien, die Informationen über das beteiligte Personal, die Kreatiwerantwortlichen und allerlei sonstiges Wissenswertes aus dem Hintergrund der Produktion bereitstellen. In der gedrängten Visualität des Fernsehens glaubt Hartmut Winkler indes keine Vitalität, geschweige denn innovative Schübe hinsichtlich der Fernsehästhetik zu erkennen, sondern eine ,,veritable[.] Krise", die sich in Ermüdungserscheinungen artikuliert (Winkler 1992: 228). Die visuelle Dichte vor allem des Musikfernsehens, aber auch die rapide Zunahme der Geschwindigkeit in den übrigen Programmsparten lassen Winkler vermuten, das Medium befinde sich in einer Art Todesspirale, aus der es sich selbst nicht mehr retten könne: „ [V] erglichen mit dem Trailer wirkt die Übertragung des eigentlichen Rennens wie eine Seniorensendung", schreibt er mit Blick auf Sportsendungen, die trotz ihrer inhärenten Dynamik nicht gegen den geballten Zusammenschnitt in Form von Trailern ankommen könnten (ebd.: 230). Eine solche der Beschleunigung verpflichtete Fernsehästhetik müsse notwendigerweise irgendwann an ihre Grenzen stoßen (ebd.). Dass der Zuschauer indes lern- wie anpassungsfähig ist und sich imstande sieht, der televisualen Geschwindigkeit zu folgen, lässt sich am Beispiel der US-amerikanischen Fernsehserie „24" vermuten, die das Tempo-Motiv auch inhaltlich aufnimmt, ohne es zu karikieren. Die Filmwissenschaftlerin Deborah Jermyn erkennt weder Ermüdung

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

noch Resignation auf Seiten der Zuschauer, schließlich hat die Action-Serie seit ihrer ersten Staffel weltweit steigende Einschaltquoten verzeichnet. Darin muss der Held, ein stets wiederkehrender Anti-Terror-Agent, im Laufe von 24 Stunden die USA vor einem Anschlag mit Massenvernichtungswaffen schützen. Die Handlung wird in suggerierter Echtzeit ausgestrahlt, wodurch die abstrakte Zeit zum konkreten Protagonisten wird, was sich auch im Titel „24" in Anspielung auf die zu vergehenden Stunden bis zur Lösung des Falles ausdrückt. Die Erklärung für die produktive und nicht destruktive Wirkung der Beschleunigung auf den Zuschauer sei dessen Engagierung, da Geschwindigkeitsästhetik mit der Botschaft in Einklang gebracht werden: Tempo sei nicht als Selbstzweck zu verstehen, sondern als dramaturgisches Element, das den Umgang mit neuen Technologien und des Mediums Fernsehen mit seinen audiovisuellen Eigenschaften an sich reflektiert (Jermyn 2007: 57). Der Zuschauer wird durch ein Gefühl von „innovation, immediacy and excitement" gefesselt (Furby 2007: 60), indem stilistisch regelmäßig mit der Einblendung einer tickenden Digitaluhr und dem Einsatz des Split-Screen-Verfahrens zur dynamischen Darstellung gleichzeitiger Handlungsstränge an die Komplexität und Zeitnot des Alltags in der zeitgenössischen Gesellschaft angeknüpft wird (ebd.: 64). Fernsehen wird dadurch zu einer Fluchtmöglichkeit in eine hyperstilisierte Gegenwart, deren erodierenden Zeitreserven auf überzeichnete Weise zur Schau gestellt werden, damit der Zuschauer den realen Alltagsdruck kompensieren kann. Nur auf den ersten Blick kann es paradox erscheinen, dass der Fernsehnutzer ob der sendungsimmanenten Beschleunigung, die sich reibungslos in den Programmfluss einfügt, nicht mit ausbleibender Aufmerksamkeit reagiert oder überfordert zu sein scheint, sondern durch die Beschleunigungsästhetik vielmehr an das Programmgeschehen gebunden wird und keine Sättigung einzutreten scheint. Speziellen Ausdruck erhält dieser Effekt durch die Herausbildung von Nutzungskonventionen wie die Rezeption einer gesamten Staffel auf DVD an einem Stück, wodurch der eigentliche Programmfluss des Senders (einschließlich der Werbeblöcke) zwar umgangen wird, jedoch der formatspezifische Narrationsfluss umso deutlicher hervortritt. Durch die kohärente Inszenierung des Zeitmotivs auf allen Ebenen der sinnlichen Erfahrung wird eine gefühlte Nähe des Dargestellten zur gegenwartszentrierten Lebenswelt des Zuschauers konstruiert, die den Eindruck stärkt, dass weder auf vorhandene, noch auf zukünftige Erfahrungen zu verzichten ist, um zukünftige Herausforderungen zu bewältigen. Der Mensch muss also mit der Gegenwart und ihren Zwängen zurechtkommen, weil ihm keine Alternativen zur Verfügung stehen - „we cannot access the future, or the dénouement, without experiencing, or enduring, the sequential and linear series of ,nows', the present moments, that lead us to that future time" (Furby 2007: 69). Fernsehen erhält dadurch kathartische Qualitäten und hilft bei der Erkenntnis und der kritischen Reflexion einer gegenwartsfixierten Zeit, die nur ein Leben im Moment zuzulassen scheint und doch nicht ohne die Besinnung auf das Vergangene auskommen kann. In seiner audiovisuellen Flussdramaturgie und Ästhetik sorgt Fernsehen also ebenso für

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III.5. Bilderam laufenden Band

Unsicherheit im „Age of Uncertainty", das John Ellis postuliert (Ellis 2000), wie es sie auszuräumen sucht. Die technischen Konstituenten des Programmflusses haben sich nicht allein am Quellort, dem Sender, ständig weiterentwickelt. Durch die Verbesserung der Bild- und Tonqualität sowie die Vergrößerung der Bildschirmausmaße wurde der audiovisuelle Reichtum des Fernsehsignals erhöht und die Gestaltungsmöglichkeiten der Attraktionsdichte erheblich erweitert, so dass es immer angenehmer wurde, sich dem Bilderreigen auszusetzen. Seit der Bilderfluss in Farbe durch die Wohnzimmer fließt, seit Projektoren und Großbildfernseher ein Fernseherlebnis in Heimkinoatmosphäre ermöglichen und die Marktreife der HD-TV-Technologie einen Bildempfang in nicht gekannter Detailgenauigkeit erschwinglich macht, sind die Empfangsmodalitäten ungemein attraktiver als zuvor. Gleichsam hat sich der Bilderfluss durch die neu hinzugekommenen Distributionsmöglichkeiten in verschiedenen Verteilnetzen (zu nennen sind vornehmlich Rundfunk, Kabel, Satellit, Mobilfunk, Internet-Streaming)72 erheblich verbreitert. Bereits Ende der 1980er Jahre schrieb Siegfried Zielinski, die Distribution audiovisueller Waren sei grenzenlos (Zielinski 1989: 215), doch zu diesem Zeitpunkt war das enorme Ausmaß der Ausweitung des Programmvertriebs noch nicht abzusehen. Heute ermöglichen selbst alltägliche Kommunikationsgeräte wie Mobiltelefone den Fernsehempfang und werden zu „Watchmen", kleinen tragbaren Fernsehgeräten. Der sesshafte Nomade wird so auch physisch wieder mobil, bleibt aber durch die noch zunehmende mediale Durchdringung der Kommunikationskanäle mit Audiovisionen ein Fernsehnomade (vgl. Zielinski 1989: 227). 5.2.6. Die Beschleunigung der

Fernsehnutzung

So breit und reißend der Programmfluss aber unterdessen in verschiedenen Distributionskanälen fließen mag: Die Nutzung entbehrt jedweder Kontinuität und Homogenität und zeichnet sich vielmehr durch Diskontinuität, Zersplitterung und Retardierung aus (vgl. Zielinski 1989: 228). Was mit der Fernbedienung begann, setzt sich bis heute durch technologisch erleichterte Steuerungsinstrumente fort und führt zu einer immer schnelleren, ausschnitthaften Rezeption. In seinem literarisch geformten Fernsehprotokoll „Bloomsday '97" (Kempowski 1997) machte Walter Kempowski seinem Ärger über die Bilderflut und die Aussichtslosigkeit des Navigierens durch sie hindurch Luit: Kempowski entlehnte den Titel seines Buches einem traditionsreichen wie mythisch aufgeladenen literarischen Gedenktag zu Ehren Leopold Blooms, dem Alter Ego des Schriftstellers James Joyce in dessen epochalem Werk „Ulysses". Während Joyce Leopold Bloom, der gänzlich ohne technologische Instrumente zum Zeitvertreib auskommen musste, einen Tag voller Ereignisse und Überraschungen erleben ließ, karikiert Kempowski sein 1972

Der Begriff des Streamings schließt an die Fluss-Metapher an und bezeichnet die Übertragung (= Strömung) digitaler Videodaten von einer Quelldatei auf einem Fremdserver zum Heimcomputer.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

stündiges Fernseherleben als sinnfreie Erfahrung qua Umschaltvorgang per Fernbedienung. Hierauf wird im Folgenden zurückzukommen sein. Die Fernbedienung wurde zu einem der einflussreichsten technologischen Phänomene der Fernsehentwicklung, da sie einen wichtigen Teil der Programmhoheit: die freiheitliche Selektion dessen, welches Programm in welcher Länge und welchem Kontext rezipiert wird, in die Hände des Zuschauers gab. Schon vor dem Advent dieses handlichen Gerätes, das mit einer leichten Fingerbewegung vollkommene Angebotstransparenz verspricht (Karstens/Schütte 2005: 69-70), war es dem Zuschauer freilich vorbehalten, den Sender ohne jegliche Auflagen zu wechseln, doch erforderte dies die Anstrengung, die eigene Trägheit zu überwinden aufzustehen und die betreffenden Knöpfe am Fernsehapparat zu bedienen, was das Umschalten unkomfortabel machte und wesentlich erschwerte (Wysterski 2 0 0 4 : 2 7 6 ) ; schließlich wurde und wird Fernsehen als Freizeitbeschäftigung größtenteils mit der Suche nach Entspannung verbunden (vgl. Hickethier 1 9 9 8 : 3 8 2 ) . Mit der Fernsteuerung der Auswahl des Programmgeschehens bedeutete es für den Nutzer keine Mühe mehr, sich die Inhalte zusammenzustellen, die ihn interessieren, bzw. jene zu meiden, die ihm missfallen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang daraufhinzuweisen, dass es sich bei dem Flussmodell auch um ein Geschäftsmodell handelt, in dem der Zuschauer nur eine abstrakte kumulative Größe ist. Wer nicht konkret an der telemetrischen Messung der Einschaltquoten beteiligt ist, dessen Fernsehnutzung findet de facto keinerlei Berücksichtigung in den Statistiken, auf die sich die Programmplanung gründet (vgl. Meehan 1990). Die Programmentscheidungen werden also unter weitgehendem Ausschluss des einzelnen Zuschauers gefällt: Die Fernsehveranstalter erwerben von Produzenten Senderechte für deren audiovisuelle Produkte und verkaufen wiederum ihre damit aufgewertete Sendezeit an Werbekunden, die ein Interesse daran haben, Zugang zum Publikum des Senders zu erhalten. Doch hat die Fernbedienung freilich auch bei der übersichtlichen Zahl an Nutzern, deren Fernsehkonsum von einem PeopleMeter bzw. dem Nielsen Diary in Nordamerika oder dem GfK-Meter in Deutschland erfasst werden, ihre Spuren hinterlassen. Die Fernsehindustrie reagierte auf diese Ermächtigung der Zuschauer, die zu „restless viewers" wurden und die konventionellen Praktiken der Programmerstellung herausforderten (Bellamy Jr. 2004: 1918) mit einer Reorganisation der Programmstrukturen. Der Beschleunigung des Umschaltvorgangs, die durch die Fernbedienung als „Verdinglichung mobilen Sehverhaltens" (vgl. Mikos 1994: 97) bewerkstelligt wurde, begegnete die Fernsehindustrie mit einer Verdichtung der Programmelemente, ihrer inhaltlichen Straffung sowie mit der Entwicklung von Formaten, die als „zap-proof " galten (Bellamy Jr./Walker 1996: 12). „A key factor will be something that network programmers are just coming to grips with: the escalating savvy of technologically literate viewers who may quickly recognize flow strategies as efforts to funnel viewers into advertising messages. Demonstration of the networks' recent focus on program transitions [... ] provides evidence

111.5. Bilder am laufenden

Band

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that the networks are actively reacting to audience self-empowerment through the remote control. For viewers, the experience of television increasingly becomes a further problematized version of Raymond Williams' [...] concept of televised flow - a kind of hyperflow in which the pace of viewing has seemed to speed up. [... ] It is increasingly challenging for network strategists to maintain any sort of stronghold in this new, hyperflow environment. [... ] The increasing technological sophistication of viewers may herald a era of less durable conventions to manage program transitions in what has become an environment of hyperflow" (Eastman/Neal-Lunsford/Riggs 1995: 105-106). Diese Strategien des beschleunigten Programmflusses auf allen Kanälen haben sich durch die Kopplung an eine Beschleunigung des Umschaltverhaltens73 offenbar zu einem „Teufelskreis" (vgl. Opaschowski 2001: 126) verselbstständigt. Das Fernsehen wird hinsichtlich des unsteten Umschaltverhaltens zum „Opfer und Motor zugleich" (ebd.). Während die Fernsehindustrie versucht, möglichst exakt auf die veränderten Sehgewohnheiten ihres disparaten Publikums einzugehen und ihr Heil in einer weiteren Ausformung und Verdichtung des Programmflusses vermutet, erhöht dies wiederum die Wahrscheinlichkeit der Überforderung des Zuschauers, der zu anderen Programmen .flieht', indem er nach und nach die Kanäle wechselt, also einem Programm nach dem anderen - für den Moment - den Garaus macht.74 Der Begriff des Zapping wird vornehmlich zur Beschreibung der „Werbeflucht" des Zuschauers benutzt (Rossmann 2000), da dieser Wegschaltvorgang in der Regel aufgrund von Verärgerung bzw. Störung durch Werbespots erfolgt. Das (geistige) Umschalten kann als Teil der Kulturgeschichte gelten: „Das Zapping ist vermutlich so alt wie die Menschheit, und es ist Zeit zu bekennen: Die Anlage zum Zapper steckt in uns allen" (Scherer 1994). Abgesehen davon kann der Programmwechsel aber noch andere Beweggründe haben. Bei der „Programm-im-Programm-Selektion" (Niemeyer/Czycholl 1994: 40-45) werden drei maßgebliche Formen unterschieden: Beim sogenannten .Hopping' springt der Fernsehnutzer zwischen einer festen Auswahl mehrerer Sendungen hin und her und versucht, den Verlauf aller dieser Sendungen mitzuverfolgen. Beim .Flipping' handelt es sich um die Eruierung des Gesamtprogrammangebots aller bzw. vieler der empfangbaren Kanäle durch schnelles Umschalten, um ohne die Verwendung eines Hilfsmittels wie beispielsweise einer Programmzeitschrift eine interessante Sendung zu finden. .Switching'

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Das Fernsehverhalten hat sich seit Einführung der Fernbedienung merklich beschleunigt: Der Trendforscher Horst W. Opaschowski führt auf, dass fast jeder dritte Zuschauer im Durchschnitt mindestens fünfmal am Abend den Fernsehkanal wechselt und dass fast jeder zehnte Zuschauer sogar auf eine Frequenz von neun Wechseln kommt; „1994 gab es unter den TV-Zuschauern 63 Prozent Hopper, fünf Jahre später waren es 77 Prozent" (Opaschowski 2006:172; siehe diesbezüglich auch die Sekundäranalyse telemetrischer Fernsehnutzungsdaten bei Ettenhuber 2007). Diese Umschreibung leitet sich von der ursprünglichen Bedeutung des Zapping-BegrifFs in der Comicsprache ab, wo mit dem Ausdruck „ZAP" das Beseitigen von unangenehmen Dingen untermalt wurde (Wysterski 2003: 55).

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

wiederum bezeichnet jeglichen Selektionsvorgang, der im laufenden Programmangebot durchgeführt wird, um eine interessantere Sendung als die derzeit rezipierte zu finden. Walter Kempowskis Umschalt-Marathon nun mutet in diesem Licht wie eine kumulierte (und daher zwangsläufig simplifizierende) Exegese des comichaften Motivs des Zappings an: ,,[B]eim Zappen wendet sich das Fernsehen gegen sich selbst. Der Zuschauer emanzipiert sich von den Vorgaben und gestaltet sein eigenes Programm", äußerte sich Kempowski zu seinem Selbstversuch (zitiert nach Hetzeid 1997). In seinen Händen wird das populärkulturelle Zepter in Gestalt der Fernbedienung zum barbarischen Morgenstern eines Zuschauers, der sich gegen die Übermacht audiovisueller Reize mit oberflächlichem Flanieren wehrt und doch am Ende derjenige ist, welcher der Bilderflut ermüdet unterliegt (vgl. ebd.). Er ist gelangweilt und gebannt zugleich, vermag es aber nicht, einen Sinn aus der zweifellos breiten Themenpalette des schließlich zusammengefasst auf zwei Registerseiten aufgelisteten Sendetages zu konstruieren: von Aids bis Wunderkindern, dazwischen Brustvergrößerung, Albert Einstein, Home-Trainer, Pythagoras, Todesschussautomaten und Wrestling. Das Tohuwabohu hat freilich Methode, ist es doch Kempowskis Ziel, weniger den „Aberwitz des nervösen Zeigefingers" (Huber 1997) des Zappers selbst zu illustrieren, sondern zu zeigen, dass sich alles „aufeinander zu beziehen [scheint]. Ob Soap-Opera, Talkshow, Werbung, Volksliedersingen alles antwortet aufeinander, es ist ein endloser Dialog zwischen Irrsinnigen... Alles passt zu allem" (zitiert nach Luyken 1997). Für Kempowski liegt die Verantwortlichkeit solch kohärenter Sinnenstellung bei den Programmmachern, nicht beim Zuschauer. Die verschriftlichte Banalität des Fernsehtages von 1997 sticht bereits nach dem ersten Umblättern ins Auge, und doch ist Kempowski selbst ihr Produzent: durch das unkoordinierte Umschalten entsteht ,,[o]hne die vielfältigen Kontextualisierungen [...] ein Medienbrei, dessen Ingredienzien alle gleichermaßen je nach Standpunkt sinnlos oder sinnhaft erscheinen", wie die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Klaus anmerkt (Klaus 2004: 119). Man könnte es auch folgendermaßen ausdrücken: „Leopold Bloom erlebte alles mögliche, Walter Kempowski überhaupt nichts" (Bahners 1997). Nichtsdestotrotz ist sein 391 Seiten umfassendes Protokoll treffender Beleg für das memorative Assoziationspotenzial der televisualen Audiovisionen selbst dann, wenn nur ihr gesprochenes Wort zu lesen ist: „Es zeigt sich, zunächst einmal, wie ausgezeichnet Fernsehen ohne Bilder funktioniert. Mit dem Nachlesen korrespondiert das Nachsehen. Was Kempowski aus dem Medium eindimensional abzieht, entfaltet sich in der Bildermaschine des Leserhirns ohne größere Anstrengung mehrdimensional. Das Buch belegt das Instanthafte des Fernsehens und seines Erlebnisses. Deja vu? Allerdings" (Huber 1997). Die Tour de Force durch die bunte Programmvielfalt des Fernsehens macht in anschaulicher Form auf die Präformierung des Fernsehnutzers durch die „inhaltlichen und zeitlichen Vorgaben einer fremden Intention" aufmerksam, die notwendig ist, um Sinn aus dem Gesendeten zu erzeugen, ohne sich nur auf die eigene Phantasieproduktion verlassen

III. 5. Bilder am laufenden Band

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zu müssen (vgl. Winkler 1991: 64). Zapping löst diese vorgegebenen Rezeptionseinstellungen zum Teil auf - zum Preis einer Zusammenhanglosigkeit der Fernsehbotschaften: „Living in a world of schizophrenically fragmented instants, he cruises the surfeit of channels available to him, zapping his remote control and hopping between channels and programmes unconnected by time, space or genre. He is unconcerned with narrative, coherence or rational understand; rather, he constructs largely random bricolage out of bits and pieces of television, which he connects with only in a bored and distracted fashion" (O'Day 2005:107). Hauptsächlich wurde diese Entwicklung durch die Vervielfachung des Angebots in den 1980er und 90er Jahren verursacht, die zu einer Entwertung der einzelnen Programminhalte geführt hat: „Die Entwertung fand auch durch das veränderte Zuschauen statt. Der Zuschauer switcht durch die Programme, verlässt kühl die Sendung, wenn er anderswo etwas zu sehen erhofft, was ihm mehr liegt. Damit werden tendenziell nicht nur alle Programmplanungen, sondern auch alle Formen der Erzähl- und Darstellungsdramaturgie außer Kraft gesetzt" (Hickethier 1998: 491). Kritisiert wird demzufolge ein „Sinnzerfall", der sich an der Rationalität linearen Sinns des Schriftparadigmas misst (Winkler 1991: 39). Ein Programmwechsel, aus welchen Intentionen er auch immer motiviert ist, bedeutet primär einen Ausstieg aus dem Rezipierten: „Switcht der Rezipient, ist das Programm als Programm, als allgemeine Vorgabe, zunächst gescheitert" (ebd.: 63 - Hervorh. im Orig.). Es wird nicht nur ein neuer Kanal eingeschaltet, sondern auch im Kopf des Zuschauers wird im übertragenen Sinne ein Schalter umgelegt, da ein neues Programm neue Anforderungen an die kognitive Informationsverarbeitung richtet. Gleich aus welcher Motivation umgeschaltet wird: Die vorgegebenen Sinninhalte können nur unvollständig erfasst werden, wenn eine Sendung partiell rezipiert wird. Das Zerstreuungspotenzial des Umschaltens wird gemeinhin als „Unsitte" aufgefasst (vgl. ebd.: 51). In seiner vielzitierten Polemik „Die vollkommene Leere" hat Hans Magnus Enzensberger dem Fernsehen diesbezüglich eine pessimistische Diagnose erteilt: Der Zuschauer schalte das Fernsehgerät ein, um abzuschalten (Enzensberger 1988: 236). Zuvor hatte er das Fernsehprogramm an sich noch als egalitär gelobt, weil es Bildungsprivilegien aufhebe und das kulturelle Monopol der bürgerlichen Intelligenz zerstöre (Enzensberger 1970: 107). Seine Botschaften seien nicht bloß der Gelehrtenkaste vorbehalten: „Es ist gesellschaftlich. Die gespeicherte Information steht dem Zugriff aller offen, und dieser Zugriff ist ebenso augenblicksbestimmt wie die Aufnahme" (ebd.: 108). Doch Mitte der 1980er Jahre sei eine „innige Allianz von Kunden und Lieferanten", also von Zuschauern und Sendern, entstanden, die aufzeige, dass die Potenziale des Mediums nicht ausgeschöpft worden seien. Vielmehr werde, und hier kommen das Switching, Zapping, Hopping und Flipping allesamt ebenso ins Spiel wie die sich in vielseitiger Verdichtung äußernden Anpassungsbestrebungen der Programmmacher, auf energetische Weise ein Zustand der „Programmlosigkeit" angesteuert (Enzensberger 1988: 236). Konform geht eine solche Sichtweise auch mit dem Phänomen des „psychischen Zapping" (Rossmann 2000: 36-41), das aufritt, wenn sich der Zuschauer, obwohl sich weiter-

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

hin vor dem angeschalteten Apparat aufhaltend, gedanklich von dem Geschehen auf dem Fernsehbildschirm abwendet und es nicht mehr aufmerksam verfolgt. Das kann einerseits mit Paralleltätigkeiten zusammenhängen, aber auch ein Indiz für die wachsende Distanz zwischen Medium und Nutzer gewertet werden. Für Enzensberger geriert sich das Fernsehen als Nullmedium, das seine „immer lästiger werdenden Inhalte" (Enzensberger 1988:238) gegen den Charme einer massenhaft verbreiteten Psychotherapie eingetauscht hat (ebd.: 244) und als willkommene Gelegenheit zur Zerstreuung auf Knopfdruck dient. Daher spricht Enzensberger auch lieber ganzheitlich von einer Bewusstseinsindustrie und nicht bloß einseitig die Produzentenseite fokussierend von einer Kulturindustrie. Seine Zerstreuungsthese wird nicht nur von der Medienmacht genährt, sondern ebenso eifrig von den Medienkonsumenten: So ermöglichen die elektronischen Massenmedien zwar erstmals die massenhafte Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen, doch gleichzeitig verhindern sie nach Enzensbergers Ansicht Kommunikation, weil sie tatsächliche Wechselwirkungen zwischen Sendern und Empfänger, die weit über die Analyse des Umschaltverhaltens hinausgehen, nicht zuließen (vgl. Enzensberger 1970: 99). Der Empfänger, so der Autor, hat daran aber offenbar nichts auszusetzen: „Der Zuschauer ist sich völlig darüber im Klaren, dass er es nicht mit einem Kommunikationsmittel zu tun hat, sondern mit einem Mittel zur Verweigerung von Kommunikation, und in dieser Überzeugung lässt er sich nicht erschüttern. Gerade das, was ihm vorgeworfen wird, macht in seinen Augen den Charme des Nullmediums aus. So erklärt sich auch eine Eigenschaft des Fernsehens, die unter jeder anderen Prämisse rätselhaft wäre: seine transkulturelle Reichweite. Ein und dieselbe Serie, ein und derselbe Video-Clip, ein und dieselbe Show entfaltet, unabhängig von allen gesellschaftlichen Voraussetzungen, die gleiche Anziehungskraft in Lüdenscheid, Hongkong und Mogadischu. So unabhängig von jedem Kontext, so unwiderstehlich, so universell kann kein Inhalt sein" (Enzensberger 1988: 244). Demnach sind die technischen Errungenschaften zur Stärkung des Zuschauers in seiner Funktion als Selekteur und vor allem Kompilateur von Programminhalten Fluch und Segen zugleich, und zwar für den Zuschauer und für die Veranstalter gleichermaßen. Freilich haben die Rezipienten durch die Fernbedienung allein keinen distinktiven Machtgewinn gegenüber der Produzentenseite erhalten, da die technologische Determinierung des Produktions-, aber vor allem auch des Distributionsvorgangs immer den Fernsehinstitutionen vorbehalten war und immer noch ist. Die Fernsteuerung der Programmauswahl ermächtige den Nutzer aber zur Übernahme der Regie bei der Zusammenstellung und Wahrnehmung des phantasiegeleiteten Fernseherlebens. Die Programmflüsse werden durch das Umschalten zwar noch unübersichtlicher, als sie auf der Angebotsseite ohnehin schon sind (vgl. Hickethier 1997a: 37). Doch spielt das bei der Konstruktion des .individuellen Programmflusses keine Rolle: „Hierbei werden die ursprünglichen Bedeutungen der Inhalte, des Gesehenen, zerschnitten und die einzelnen Elemente (Szenen, Menschen, Einstellungen, Objekte usw.) vom Zuseher selbst zu einem kaleidoskopischen Programm ornamental an-

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einandergereiht und können u.U. sogar zu einem neuen sinnhaften Weltausschnitt zusammenmontiert werden" (Soeffner/Raab 1998:143). Die Verantwortung für die Sinnkonstruktion verbleibt stets beim Zuschauer, der mit seinem Rezeptionsprozess ebenso an der Produktion von Fernsehbotschaften teilnimmt wie der Fernsehveranstalter. Der Zapper als Collage-Künstler eines „reinen Bildwertes" (vgl. Winkler 1991: 81), als Kompositeur seines eigenen Programms von audiovisuellen Versatzstücken, indem sie ihres eigentlichen Kontextes entledigt werden: Die Fernbedienung wurde hierbei zu einem „Editiergerät", das millionenfach eingesetzt wird, um einen jäh individuellen Sekundärfluss an Programmexzerpten zu erstellen, „eine heterogene Zusammensetzung von zeitlich, räumlich, in Sujets, Farben und Stimmungen zerrissenem Material, programmierte Unregelmäßigkeit, Brüche, auch Dekonstruktionen" (Zielinski 1989: 265). „Es ist eine Rezeptionsweise denkbar - und im Switching zeichnen sich ihre Konturen ab - die auf die .Entfaltung der Bilder' (Kracauer) mehr Wert legt als auf den Verlauf der Handlung. Eine Rezeptionsweise, die die Einzelereignisse des Films, kleine Verblüffungen oder völlig untergeordnete Details zum Ausgangspunkt eigener Assoziationen macht und einen Phantasiestrom initiiert, der nicht mehr in den Dienst des Filmverstehens tritt" (Winkler 1991: 69-70). Der Nutzer befreit sich förmlich von den engen Vorgaben des Programminhalts und assoziiert, wie Winkler es ausdrückt, phantasievoll in Form eines neuen Typs von Kontemplation, bei dem „der Betrachter sich nicht sammelt und der Gegenstand der Betrachtung nicht in sich ruht, und der erstere dennoch in einem quasi zeitenthobenen Rezeptionserlebnis versinkt" (ebd.: 153). Umso intensiver bemühen sich die Fernsehveranstalter, mit ihren Programmangeboten ein klares attraktives Profil, eine unverwechselbare Identität zu entwickeln, um möglichst viele Zuschauer an sich zu binden (Steiner 1993: 64) bzw. um in ihrer eigenwilligen, oft zufälligen Selektion, in den unkalkulierbaren mélanges confus der Heimregisseure die Hauptrolle zu spielen. 5.2.7. Staudämme im Bilderfluss Wenn die Fernbedienung bereits als einschneidendes Instrument der „medialen Revolution" im Wohnzimmer (vgl. Reckmann 1995) gefeiert und gerügt wurde, war es erst der Videorekorder, der die Beziehung des Zuschauers zum Fernsehen vollständig veränderte. Als „audiovisuelle Zeitmaschine" (Zielinski 1989: 232 - Hervorh. im Orig.) versetzte das Aufzeichnungsgerät den Fernsehnutzer erstmals in die Lage, sich aus der Determinierung seiner Rezeptionsgepflogenheiten durch die Fremdbestimmung der Programmstruktur zu befreien und der flüchtigen Bilderhatz auf dem Bildschirm ein Ende zu setzen. Zielinski spricht von „anarchischen Fern-Sehverhältnissen im zeitbezogenen Sinne" (ebd.: 235). Bis zum schicksalshaften Jahr 1975, als der Elektronikkonzern Sony den ersten erschwinglichen Videorekorder für Endkonsumenten in Japan und den USA auf den Markt brachte und damit den Weg des Gerätes zum Massenerfolg ebnete, war das Fernsehen ein

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

ephemeres Medium, dessen Sendungen in den Äther versandt, aber vom Nutzer nicht festgehalten wurden, weil die Aufzeichnungstechnologien wie Ampex oder U-Matic für den laienhaften Privatverbraucher zu teuer und kompliziert waren. In den Jahren zuvor war es allenfalls möglich, mit einer Filmkamera die Sendung vom Bildschirm abzufilmen, was indes für den durchschnittlichen Zuschauer keine Alternative war, schließlich war das notwendige Equipment teuer, und der Sendung musste beigewohnt werden. Auf Videokassette aber konnte komfortabel aufgezeichnet werden, ohne den Fernsehapparat anzuschalten, womit es dem Nutzer freigestellt blieb, sich anderen Tätigkeiten zuzuwenden und das aufgenommene Fernsehprogramm später anzuschauen. Die Wucht, mit der diese technologische Innovation in den Medienalltag des Zuschauers Einzug hielt, kann durch diese elementaren Eingriffsmöglichkeiten nicht groß genug eingeschätzt werden. „Tape is everywhere, and everyone seems conscious of its presence. For all those who thought that television was defined by the flow think again. Increasingly, television has come to be associated more with something you can hold, push into an appliance, and physically move around with a controller. With the widespread dissemination of the tape and the VCR, the very status of the television and its image has been altered" (Caldwell 1995: 264). Die Technologien zur audiovisuellen Aufzeichnung haben sich unterdessen immens weiterentwickelt. Neben VHS-Videokassetten werden auch vermehrt DVD- und Festplattenrekorder eingesetzt, um Fernsehsendungen auf Nutzerseite zu speichern.75 Das Ergebnis ist indes dasselbe: Dem Zuschauer wird eine Bandbreite von Nutzungserleichterungen zur Verfügung gestellt, um Fernsehprogramm so angenehm und zweckdienlich wie möglich zu rezipieren. Der Programmfluss kann durch die Aufzeichnung je nach individuellen Vorlieben unterbrochen und sogar neu arrangiert werden: zum Beispiel unter Umgehung von Werbung - und dies nicht während der Ausstrahlung, also unter dem permanenten Druck, etwas zu verpassen, wie es bei Umschaltvorgängen der Fall ist, sondern zeitversetzt in der entspannten Atmosphäre des selbstbestimmten Rezeptionskontextes. Die Dekonstruktion des heteronomen Programmmuster macht die Last des hastigen Lebenstempos erträglicher (vgl. Dijck 2007:160). Die im „Gegenwarts-Zeitfenster der Monitore" erscheinenden Audiovisionen lassen sich also wie durch ein Sieb filtern, „einfrieren" (vgl. Zielinski 1989: 236) und immer dann wiederholt vergegenwärtigen, wenn einem danach der Sinns steht (vgl. Großklaus 1995: 38). Die Gedächtnisrelevanz medial vermittelter Inhalte ist abhängig von ihrer Bestandhaftigkeit, da sie der Erinnerungsarbeit nur dienlich sein können, wenn auf sie rekurriert werden kann. Dies aber wiederum erfordert eine vom Menschen unabhängige Manifestation bzw. Objektivierung. Techniken ermöglichen die temporale Stabilisierung von immateriellen Zeichen: Meißel und Hammer beim Bau eines Denkmals, die Druckerei bei der Herstellung eines Buches, und der Rekorder bei der magnetischen oder digitalen 75

Die Ausstattung mit diesen digitalen Rekordertechnologien nahm erst seit dem Jahr 2 0 0 5 Konturen an, verzeichnete aber bereits innerhalb weniger Jahre starke Wachstumsraten (vgl. ARD 2008; Winston 2007).

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Speicherung des elektronischen Fernsehsignals. Technologie übernimmt dabei nicht nur Handlungsfunktionen, die vom Menschen selbst durchgeführt werden können (wie im Fall des eigenhändigen Schreibens und der Fernbedienung), sondern kommen auch dort zum Einsatz, wo die Kompetenz des Menschen nicht ausreicht, um ein Ziel zu erreichen. Damit erweitern Techniken die menschlichen Handlungsmöglichkeiten (Ropohl 2008: 270). Aufzeichnungsgeräte leisten eben dies: Große Mengen an audiovisuellen Inhalten kann sich niemand merken. Sie müssen technisch gespeichert werden, um für die (wiederholte) Rezeption nach Bedarf zur Verfügung zu stehen. Im Sinne Latours tragen auch Rekorder dazu bei, das Soziale haltbar zu machen (vgl. Kapitel Π.8.5.): Sie fungieren als nicht-menschliche Ersatz-Zuschauer, die dem Sendegeschehen stellvertretend für den eigentlichen Nutzer beiwohnen und diesem zu einem beliebigen Zeitpunkt den nachträglichen Fernsehgenuss erlaubt.76 Das Aufzeichnungsgerät ist daher als mnestische Investition des Zuschauers zu verstehen, die sich für ihn durch das (je nach Aufzeichnungsformat) verlustfreie Vorhalten des jeweiligen Fernsehprograms auszahlt; denn erst die Aufnahmetechnik macht möglich, was der (technische) Programmfluss im Hier und Jetzt behindert oder teilweise gänzlich verhindert: die Aneignung und das Verständnis für das Rezipierte zu optimieren sowie die Intensität des kollektiven Fernseherlebens durch mehrmaliges Wiederholen der Rezeption zu steigern, um sich damit der Zugehörigkeit zu einer kollektiven Fernsehgemeinschaft zu vergewissern (vgl. Dobrow 1990:191). Dies mutet zunächst Paradox an, da der Rezeptionsprozess singulär erfolgt und nicht gleichzeitig mit Millionen anderer Zuschauer während der eigentlichen Ausstrahlung stattfindet. Durch die mittels Speicherung erreichte Dehnung der zeitlichen Verfügbarkeit einer Audiovision jedoch stellt sich das kollektive Erleben innerhalb der imaginierten Gemeinschaft (vgl. Kapitel III.4.) asynchron ein: Egal wann eine bestimmte Fernsehsendung rezipiert wird, kann sich der Nutzer einer Aufzeichnung sicher sein bzw. durch die bereits dokumentierten Einschaltquoten der (Erst-) Ausstrahlung sogar noch sicherer sein, dass er nicht der einzige Zuschauer der Sendung ist oder sogar einer Gruppe von Millionen anderen Zuschauern angehört, die sich ebenfalls für die Rezeption entschieden haben. Die Zirkulation von Fernsehsendungen wird durch individuelle Aufzeichnungen und ihren gemeinschaftlichen Austausch noch erhöht, da es unwahrscheinlich ist, dass alle potenziellen Zuschauer, die gerne einschalten würden, wegen anderweitiger Vorhaben oder Verpflichtungen auch tatsächlich einschalten können. Auch findet eine Verstetigung

76

Diese technoiden Ersatz-Zuschauer machen den Fernsehanstalten in den USA mittlerweile schwer zu schaffen, weil Einschaltquoten dadurch keine repräsentativen Ergebnisse mehr liefern können und Werbung kurzerhand herausgefiltert wird. „Who stole six million viewers?", fragte die „New York Times" und lieferte die Antwort gleich mit: (Zu) viele Zuschauer nutzten die Annehmlichkeiten des zeitversetzten Fernsehens, unter anderem mittels „TiVo", dem Sammelbegriff für digitale Videorekorder, benannt nach dem führenden Hersteller der entsprechenden Geräte. Die Fernsehindustrie suche daher eifrig nach Wegen, um die veränderten Nutzungsvorlieben ihrer Zuschauer zu erfassen und ihre Werbekunden zu halten (Stelter 2008).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

statt, dadurch dass die gespeicherten Inhalte als Anlass für ein gemeinschaftliches Beisammensein genutzt werden und somit auch eine Ritualfunktion erfüllen können, die sich wiederum förderlich auf die Erinnerung an den jeweiligen Fernsehinhalt auswirkt: „The preference for repeated media experiences provides people with a common set of images, symbols and narratives, possibly connecting diverse groups of people through providing them with a basis for common memories. Just how strong and how widespread this behavior is has yet to be tested. But repetitive exposure to repetitive content - both visual and aural - and the act of watching it, again and again, is a ritual that may reinforce our cultural patterns as they've never before been reinforced" (ebd.: 192). Ein Schlüsselfaktor zur Erfassung der Tragweite der televisualen Aufnahmeinstrumente ist die ,Objektwerdung' des Fernsehinhalts in Gestalt der Videokassette oder DVD. Seine Speicherung auf Magnetband oder Silberscheibe macht erst das private Sammeln von Fernsehsendungen möglich. Das Ziel ist die Inbesitznahme des Sendeproduktes und seine möglichst dauerhafte Verfügbarkeit für das eigene Wohlgefallen. Aufzeichnungen machen die Begeisterung für die Lieblingssendung(en) ort- und zeitunabhängig mit anderen Gleichgesinnten teilbar, und der stolze Besitz kann in dinghafter Präsenz des Speichermediums vorgezeigt werden. Die Emanzipierung des Zuschauers vom Programmplan durch die Rekordertechnologie führte darüber hinaus zu einer gewissen Abkehr vom Sendegeschehen, da die Geräte vermehrt zum Abspielen von Kauf- oder Leih-Videos benutzt wurden. Nach Ansicht des Kulturwissenschaftlers Ien Ang ist dies weniger Ausdruck eines der Einflusssphäre der Fernsehindustrie entfliehenden Publikums, sondern vielmehr der Beleg für den aktiv selektierenden Mediennutzer, der sich verschiedener Distributionszweige bedient, um seine Gratifikationsinteressen zu befriedigen: „Significantly, the VCR was (and is) especially popular among groups who have traditionally been poorly served by centralist, modernist television (such as migrant groups) or is used to watch material generally excluded from the official imaginary of .normal' social order (such as hardcore porn). What we have here is a clear manifestation of the .active audience', but of course this does not imply a conscious intentionality on the part of VCR users to .resist'. It would make more sense to suggest that when given the opportunity, people opted for .choice': they wanted to decide for themselves what to watch (and thus contributed to the successful emergence of the video shop), or at least they wanted to be able to watch programmes at times convenient to them (using the .time shift' facility of the VCR). In other words, audiences simply retreated from the integrative pull of modern television here" (Ang 1996: 11). Mit dem rapiden Ausbau von Video-on-Demand-Angeboten im Internet, die sich durch die massenhafte Bereitstellung von digitalisierten Videoinhalten auf Abruf auszeichnen, wird die Notwendigkeit der Materialität von Speichermedien von den Nutzern zunehmend in Frage gestellt. Video-on-Demand (VoD) hat sich durch die technologischen Innovationssteigerung erheblich verbilligt, und es ist aufgrund der Erhöhung der Kompressionsraten, der Leistungsfähigkeit der Kommunikationskanäle und des Volumens

III. 5. Bilder am laufenden

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241

der Speicherkapazitäten für die Anbieter mit verhältnismäßig geringem Aufwand verbunden, audiovisuelle Inhalte über Datenleitungen zu veräußern.77 Die virtuellen Speicher- und Kommunikationsmöglichkeiten des weltumspannenden Computernetzwerks komplementieren nach den Formen physischer Zusammenkünfte nun auch die in Form von Videokassetten oder DVD-Boxen materialisierten Audiovisionen und beginnen diese sogar zu substituieren „The internet has served the video collector well in building trading networks and fan communities, yet it ultimately runs counter to the TV collector s chief aim: to make the immaterial material" (Bjarkman 2004: 240). Mehr noch als die analogen und digitalen Aufzeichnungsgeräte setzt VoD die „zentrale Organisation von Zirkularwirkungen" (Zielinski 1989: 235) außer Kraft, da die Befreiung des Nutzers von den Prinzipien des Programmflusses (feste Sendetermine, Auswahlbeschränkung durch das zeitlich linear strukturierte Programmangebot) eine zeitlich vollständig disparate und in ihrer individuellen Selbstbestimmung unvorhersehbare Rezeption ermöglicht. „It's the triumph of pull over push. And further, while watching a program (live or recorded) they can pause it or rewind it. In essence, they control TV's time. They have removed the time-based, horizontal axis of the programming grid. They are not picking something from the vertical axis of what is on at one point in the horizontal axis. Instead they are selecting, pulling, .demanding,' programming on their own schedule, their own time grids. [...] These new technologies and services have not just interrupted televisionsflow,they have actually brought it to a complete halt" (Butler 2007: 14) Das VoD-Prinzip leitet das Ende des Zeitalters des Fernsehens als Rundfunk ein. Die Angebotsstruktur wechselt von der temporalen Linearität des Programms zur gleichberechtigten, zeitunabhängigen Parallelität der Datenbank: Der Nutzer greift über Zusatzgeräte, die an den Fernsehapparat angeschlossen sind, oder über den Computer auf das Angebot zu und durchsucht es nach Schlagwörtern oder stöbert nach voreingestellten Themenkategorien. Der Abruf erfolgt entweder per sofortigem Start der Vorführung oder nachdem die Daten auf die Festplatte des Empfangsgerätes vollständig heruntergeladen wurden. Durch die distinkte Angebotsform und den obligatorischen Einzelabruf von Fernseheinheiten werden Audiovisionen (wieder) diskret rezipiert. Der Nutzer konstruiert seinen eigenen Fluss aus dem bereitstehenden Repertoire, entweder er klickt selbst mit der Computermaus, schaltet mit der Fernbedienung oder lässt Software-Agenten für sich arbeiten und Videos nach eigens festgelegten Filterregeln selektieren und zusammenstellen. Das Sendeschema des Fernsehens wird auf diese Weise einer elementaren Reorganisation unterzogen. Der französische Kommunikationswissenschaftler Bernard Miège unterscheidet drei zentrale Gesetzmäßigkeiten, die innerhalb der massenmedialen Pro77

Video-on-Demand wird seit Anfang der 1990er Jahre in den USA angeboten, doch die noch geringen Geschwindigkeiten bei der Datenübertragung bereiteten den Betreibern große Kapazitätsprobleme und führten zu Beeinträchtigungen beim Empfang der audiovisuellen Inhalte (vgl. Wirtz/Schwarz 2003: 298-299).

242

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

duktion miteinander konkurrieren (Miège 1989:12): Als „publishing logic" bezeichnet er den direkten Vertrieb einzelner kultureller Erzeugnisse an den Kunden. Mit „flow logic" knüpft Miège an Williams' Fluss-Begriff an und versteht darunter die quasi-industriellen Operationen der audiovisuellen Medien, deren Ziel es ist, ein Publikum herzustellen, da sie sich durch Werbung, die Öffentlichkeit oder Institutionen finanzieren und sich daher über die Nutzung ihres Angebotes rechtfertigen. Weiterhin nennt Miège „the logic of the written press", die darauf angewiesen ist, dass sie von Konsumenten regelmäßig käuflich erworben wird. Wesentlich für den beschriebenen Paradigmenwechsel bei der Distribution von Fernsehprogramminhalten durch VoD-Angebote und vollständig nutzergesteuerte Sendungs- und Programmkompilation ist die wachsende Dominanz des „Publishing" über den „Flow". Harmut Winkler spricht entsprechend von „Und-Medien" (Aneinanderreihung, Kontinuität, Fluss: z.B. Fernsehen) und „Oder-Medien" (Auswahl diskreter Einheiten: z.B. aus Bücherregal, CD-Sammlung, Datenbank): „Mit Video on Demand greift die Auswahl-Logik der Datenbank auf das Feld der Und-Medien zu, und wie in der Spannung zwischen Fernbedienung und Programmangebot [...] beginnt das ,Oder' das ,Und' zu dominieren" (Winkler 2003: 326; vgl. auch Hachmeister 2008). Da der „Flow" nach Mièges Darlegung und in Anlehnung an die Einführung des Fließbands durch Henry Ford weitaus umfassender industrialisiert ist, steht die „Publishing"Logik indes weiterhin unter dem Druck, sich nach den Gesetzmäßigkeiten des „Flow" zu richten (McGuigan 1996: 81). Übertragen auf das Verhältnis von Programmfluss und VoD wird deutlich, dass der Abruf von singulären Sendeeinheiten zumindest auf absehbare Zeit weiterhin dem etablierten Modell der Zweitverwertung unterliegen wird (vgl. Fischer 2008b: 217) und sich ihre Verfügbarkeit (noch) an der Erstausstrahlung eines Formats im regulären Fernsehprogramm orientiert. 78 Die fortschreitende Verzahnung der kulturindustriellen Vertriebsprinzipien führt zu einer Supplementierung der ihnen jeweils zugrundeliegenden Ziele und können für eine Steigerung der mnestischen Qualitäten von Fernsehprogrammen und ihren Inhalten sorgen: Die Loyalität eines möglichst umfassenden Publikums zu einer Sendemarke („Flow") und die Absatzmaximierung einer Produkteinheit durch die Attraktionssteigerung bestimmter Sendungen („Publishing") gleichen sich in dem Bestreben, Nutzer für ein abstraktes (Programm in Gänze) bzw. konkretes (distinkte Produktion) Medienerzeugnis zu gewinnen. Dadurch dass einerseits die Marke des Programmveranstalters stärker ins Bewusstsein gehoben wird, 78

Auch gab es bereits exklusive Veröffentlichungen als VoD, diese beschränken sich aber größtenteils auf genuine und plattformunabhängige Filmproduktionen. Im Falle von Fernsehproduktionen wird eine ausschließliche Veröffentlichung als VoD vor allem bei Formaten in Erwägung gezogen, wenn das Abruf-Angebot exklusiver Inhalte einen komplementären Mehrwert und eine Attraktionssteigerung des Originalformats verspricht. Auch wird VoD als sekundäre Verwertungsalternative benutzt, wenn beispielsweise die reguläre Ausstrahlung einer Serie im Programm die in sie gesetzten Erwartungen hinsichtlich des kommerziellen Erfolgs, gemessen an den Einschaltquoten, nicht erreicht hat und das Format abgesetzt wird. Der Vertrieb der restlichen bereits produzierten Episoden einer solchen Serie wird dann auf Online-Dienste und die DVDVermarktung ausgelagert.

III. 5. Bilder am laufenden

243

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andererseits einzelne Formate beworben werden, haben diese Strategien im Verbund ein höheres Potenzial bei der Ausprägung von Konsumenten-Produkt-Bindungen und steigern potenziell die Wahrscheinlichkeit, sich eines Fernsehinhalts und seines Kontextes zu entsinnen. Mit den Abrufmöglichkeiten zu jeder Tages- und Nachtzeit sowie den potenten Aufzeichnungsinstrumenten wird ein bewusster Selektionsprozess, die Entscheidung für eine spezifische Sendung, praktikabler, stellt aber durch die wachsende Dichte an Auswahlmöglichkeiten eine Herausforderung für das Orientierungsvermögen des einzelnen Nutzers dar. Konkomitierend vergrößert sich der Fundus an Audiovisionen, die permanent für eine Vergegenwärtigung zur Verfügung stehen (vgl. Großklaus 2003: 36). Wie Peter M. Spangenberg resümmiert, geht es „vornehmlich nicht mehr um ein drohendes Vergessen als zentrales Problem, sondern um die Verarbeitung von stets abrufbaren Speicherinhalten" (Spangenberg 1994: 120).

5.3.

Verdichtete Audiovisionen

- Verdichtung des

Gedächtnisses?

Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan ist vorrangig für zwei Thesen bekannt: Die technologische Massenkommunikation habe mit besonderem Augenmerk auf das Fernsehen die Welt in ein „Globales Dorf" verwandelt, das den Bevölkerungsstrukturen des Stammeszeitalter nicht unähnlich sei, da nun jeder (wenn auch medial vermittelt) in audiovisuell vermittelter Präsenz miterleben könne, wie ein Mensch auf der anderen Seite des Globus lebe und was seine Sorgen und Wünsche seien (McLuhan/Fiore 1969: 67). Das Fernsehen sei außerdem als eine Extension des Auges, ergo des menschlichen Nervensystems zu verstehen, da mittels des Fernsehschirms in Sphären geschaut werden könne, die dem Menschen zuvor raum-zeitlich unsichtbar bleiben mussten (McLuhan 1968). Beide Thesen sind zunächst einmal mit den zentralen Charakteristika des beschleunigten Bilderflusses des Fernsehens vereinbar: Televisuelle Audiovisionen speisen sich aus Quellen, die überall auf der Erde zu finden sind, und werden (teils) mit globaler Reichweite gesendet. Darüber hinaus sind sie genauso flüchtig und gegenwärtig wie der Blick des Menschen. Doch auch wenn das Fernsehbild in der Wahrnehmung des Menschen tatsächlich seinem Wirklichkeitsverständnis so nah kommen sollte, was im späteren Verlauf noch zu problematisieren sein wird (Kapitel III.6.L), bedeutet das mit Blick auf die erhöhten Anforderungen der Informationsverarbeitung durch Beschleunigung der audiovisuellen Stimuli nicht unbedingt eine Erweiterung der Merkfähigkeit. Nachfolgend wird erörtert, wie die vorangegangenen Erkenntnisse über den verdichteten Bilderfluss und das beschleunigte Fernsehverhalten in den Gedächtniskontext eingeordnet werden können: - Wie gezeigt wurde, ist die Bildhaftigkeit des menschlichen Gedächtnisses als zentral für jeglichen Erinnerungsprozess zu bewerten. Mit dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk lässt sich zunächst zusammenfassend konstatieren, dass Erkenntnis nicht möglich ist ohne Erinnerung und Erinnerung nicht möglich

244

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

ist ohne bildhafte Vorstellung, „ohne eine Vergegenwärtigung vergangener sinnlicher Eindrücke aus der Außen- oder Innenwelt. Wo Geschehnisse keine noch so flüchtigen visuellen Eindrücke hinterlassen, da ist der Weg zur Erinnerung abgeschnitten" (Müller-Funk 1993: 24-25). - Fernsehen stellt als Triebfeder der Verdichtung auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens das Rüstzeug für die Bewältigung alltäglicher individueller und sozialer Aufgaben bereit: „In diesem Sinn bietet die Fernsehnutzung ein tägliches Übungsfeld zur Bewältigung von Zeit-Rationalität und Temporausch, und in diesem Sinn wirkt das Medium wegweisend im .modernen Umgang mit Zeit. Wir wissen aber nicht, wohin dieser Weg führt" (Nevería 1992:14). Damit diese hilfreiche Funktion zum Tragen kommen kann, wird dem Zuschauer eine mit den Transformationen technologischer Entwicklung einhergehende Adaptionsfähigkeit abgefordert. Diese jedoch wird durch den hochfrequenten Wechsel technologischer Innovationen besonders gefordert: „Hence television is a somewhat difficult object, unstable, all over the place, tending derisively to escape anything we can say about it: given the speed of its changes (in technology, economics, programming), its interminable flow (of images and sounds, their endlessly disappearing present), its quantitative everydayness (the very quality of this medium each and every day)" (Heath 1990: 267). - Mentale Bilder werden bei ausgiebigem Medienkonsum der Hegemonie externalisierter, medialer Bilder unterworfen. Besonders deutlich zeigt sich diese Auslagerung an der Erstellung von Home Videos, die „Stücke von Lebenszeit" (Zielinski 1989: 232 - Hervorh. im Orig.) repräsentieren und nicht bloß eine Ergänzung zur Erinnerungskonstruktion darstellen können, sondern auch als eine Alternative (vgl. Moran 2002). Es besteht die Möglichkeit, dass Erinnerungen durch die Reduzierung auf ihre rein audiovisuelle Dimension verarmen, da andere Sinneseindrücke wie Gerüche, Berührungen oder Geschmack nicht aufgezeichnet werden können (Vale 1990:207). Der französische Philosoph Georges Duhamel schrieb unter dem überwältigenden Eindruck des Films: „Ich kann schon nicht mehr denken, was ich will. Die beweglichen Bilder drängen sich an die Stelle meiner eigenen Gedanken" (Duhamel 1931: 49). Dieses Problem äußert sich auch und deutlicher noch bei der Fernsehrezeption: Indem das Fernsehen das Gedächtnis entlastet, wenn es für einen steten Fluss an audiovisuellen Informationen sorgt, stiftet und schwächt es gleichermaßen das Erinnerungsvermögen. Die Bilder und Töne des Fernsehens korrespondieren mit dem „Bildüberlegenheitseffekt" bei der Bildung von Erinnerungsspuren und können als Auslöser für Erinnerungskonstruktionen dienen. Wer indes extensiv auf solche externen - in diesem Fall technologischen - Speicher und Stimuli vertraut, kann dazu neigen, sein eigenes Erinnerungsvermögen zu vernachlässigen (vgl. Hornig/Müller/Weingarten 2008). Damit geht das Risiko einher, individuelle Erinnerungsbilder auf buchstäblich Gedeih, aber auch Verderb dem Medium zu überlassen und auf fremdgesteuerte Erinnerungsimpulse und -inhalte angewiesen zu sein. Wie das menschliche Gedächtnis sind auch technische Speicher nicht unfehlbar und können beschädigt oder zerstört werden. Eine weitere Folge ist die

III.5. Bilder am laufenden Band

245

erhöhte Wahrscheinlichkeit (z.B. ideologischer) Fremdeinwirkung auf das individuelle Gedächtnis. Mit anderen Worten: Die Imaginationskraft leidet, weil sich der Zuschauer zunehmend auf visuelle Repräsentationen verlassen kann: „Die kollektiv mediale Leistung der Vorstellung und Erwartung oder Antizipation in Form computerieller Simulation übertrifft unsere subjektive Imagination bei weitem an Genauigkeit und Anschaulichkeit" (Großklaus 2003: 36). Die schier endlosen Optionen der Visualisierung selbst für das menschliche Auge nicht sichtbarer Vorgänge, aber auch prä-televisueller Ereignisse oder gar Zukunftsvisionen reduzieren die Einsatzmöglichkeiten und -notwendigkeiten der eigenen Phantasie. - Dem Zuschauer kann angesichts der atemberaubenden Geschwindigkeit des Bilderflusses das Hören und Sehen vergehen. Er steht förmlich in einem ,Bann der Bilder'. Die Welt wirkt „verwirrend vielfältig [...] wie keine andere zuvor" (Müller-Funk 1993: 26). Der Mediennutzer hat das Gefühl, „immer schon zu spät dran zu sein" (Rosa 2008: 13 - Hervorh. im Orig.). Trotz technischer Zeiteinsparungen entsteht der subjektive Eindruck, dass die vorhandenen Zeitressourcen nicht ausreichen, um seine Ziele zu erreichen. Es entstehen Stresssituationen, die Erinnerungsbildung und -rekonstruktion beeinträchtigen können. Durch die Vielzahl der Programmflüsse entsteht ein (für den überforderten Zuschauer sinnentleerter) Meta-Bilderfluss, der als Einheitsbrei erscheint und keine eindeutige Abgrenzung mehr zulässt. Da Fernsehbotschaften Anlässe für kognitive und kommunikative Folgeoperationen darstellen (vgl. Schmidt 1994a: 248), ist ihre Wahrnehmbarkeit ausschlaggebend für die Enkodierung und die Stimulierung von Erinnerungen. Doch können ständig wechselnde Aufmerksamkeitserregungen zu einer oberflächlichen und unreflektierten Rezeption führen: „Die Dauerpräsenz von Medienereignissen, die angebliche Memorabiliaten des Tages aus aller Welt ohne jede Sättigung durch eigene Erfahrungen vorbeiflutet, lässt primär Bilder aufeinander folgen, die schon gar keinen Anspruch auf Erinnern mehr erheben" (ebd.: 248). Eine denkbare Folge ist eine gleichgültige Rezeptionshaltung. Durch die nahtlose Füllung von Intervallen mit werbenden Bewegtbildkompilationen, die als Programmklammern selbstreferentielle Funktion erfüllen und in einem fort auf zukünftige Sendeeinheiten verweisen, wird Reflexion des Rezipierten zugunsten einer Aufmerksamkeitsbindung an die Fortführung des Programms erschwert. Dadurch geht der Überblick verloren, und die Anschlusspotenzial für Erinnerungsbildung wird nivelliert: „Die gesteigerte Sichtbarkeit spielt sich kulturhistorisch in einem Zusammenhang ab, in dem die Regeln des .Ganzen für alle undurchsichtig geworden sind" (Reck 1993: 2). Gleichzeitig steigt der Orientierungsbedarf auf Rezipientenseite (Hickethier 1997a: 18), der kaum noch von wenig verlässlichen Programmstrukturen innerhalb eines fragmentarisierten Medienfeldes und sonstigen Beschäftigungsangeboten gewährleistet werden kann: Wahlfreiheiten zu haben ist daher nicht grundsätzlich als positiv einzuschätzen (Ellis 2000: 171). - Dass Wahlfreiheit (und Selektionsdringlichkeit) im Umgang mit Medieninhalten keine erdrückenden und Konfusion auslösenden Ausmaße annehmen muss, ist an jüngeren

246

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Generationen von Fernsehnutzern zu beobachten, die vom Kindesalter an gelernt haben, aus einem vielfältigen Angebot aus hunderten von Fernsehkanälen, einer Vielzahl von Video- und DVD-Veröffentlichungen sowie Abrufmöglichkeiten aus dem Internet auszuwählen, und die ihre Medienvergangenheit lebendig erinnern und ihr einen gehobenen Stellenwert innerhalb ihrer Autobiographie zuweisen (vgl. Matthews 2003). Jüngere und im Umgang mit neuen Medientechnologien kompetente Rezipienten sind es auch, die zumindest teilweise eine Umkehrung der Prinzipien der .Symbolherrschaft' herbeigeführt haben: Autodidaktische Nutzer bemächtigen sich früher als andere durch ihre pionierhafte Nutzung, die nicht selten einem neugierigen Experimentieren gleichkommt, neuer elektronischer Medientechniken und wandeln sie durch ihre eigene Produktivität zu Kulturtechniken um. Damit sind sie jenen älteren Nutzern überlegen, welchen üblicherweise die Aufgabe zukam, die Weisheit ihrer Kultur zu tradieren. Medienaffine Jugendliche können daher als „Semiotiker und Medienregisseure" (Steiner 1993:67) begriffen werden. So tragen auch sie ihren Teil zu einer extremen Verdichtung des Bewegtbildangebots im Internet bei, indem sie selbst zu Produzenten werden und ihre Videos als personalisiertes Fernsehen im virtuellen Netz veröffentlichen. Vilém Flusser stellte diesbezüglich schon früh dem Rundfunk- bzw. Fernsehmodell das eines Netzwerks gegenüber: ,,[B]eim ersten System wird eine in einem .Sendegedächtnis' aufbewahrte Information an andere .Gedächtnisse' gesendet; beim zweiten System wird eine Information erarbeitet, die vorher nur bruchstückhaft - und daher andersartig - in den beteiligten Gedächtnissen gelagert war" (Flusser 1974: 117). Eine solche .Demokratisierung' des von Flusser apostrophierten „Sendegedächtnisses" birgt aber auch das Risiko, dass zwar die Auswahl an audiovisuell kommunizierten Inhalten vergrößert wird, der einzelne Beitrag aber durch die Masse an Material nur schwer bis kaum auffindbar ist und damit sein Publikationsziel verfehlt. - Aufzeichnungstechniken dienen dem Zuschauer zur Durchbrechung des steten wie schnellen Programmflusses. Dies sorgt zudem für eine materielle Manifestation von sonst flüchtigen Sendungen auf physischen Datenträgern. Diesbezüglich gilt die ausgegebene Formel plattformübergreifender Verwertung audiovisueller Fernsehinhalte: ,,[C]ontent is king. It will seek out the vehicle best suited to ist absorption or enjoyment. Sometimes, it will occupy multiple mediums at the same time, in order to appeal to the largest audience" (Klein 2008: 37). Selbst der geübte Mediennutzer kann durch die Vielfalt des Angebots im Fernsehprogramm und den zusätzlichen Vermarktungssegmenten überlastet werden: Paul Virilio bemängelt das „Wettrennen zwischen der Text- und der Bildübertragung",

das eine „unmittelbare

Ubiquität der audiovisuellen

Geräte" zur Folge gehabt habe: „Mit der industriellen Verbreitung von visuellen und audiovisuellen Prothesen und dem unmäßigen Gebrauch dieser Gerätschaften zur unmittelbaren Übertragung seit dem frühesten Kindesalter erlebt man von nun an eine immer stärkere Codierung von mentalen Bildern, die kaum noch gespeichert und wiederverwertet werden, einen schnellen Zusammenbruch der mnestischen Konsolidierung, der Erinnerungsfähigkeit" (Virilio 1989: 24-25 - Hervorh. im Orig.). Ähnliches

III. 5. Bilder am laufenden Band

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beobachtet auch Hartmut Rosa, der ein „Kurz-Kurz-Muster" des subjektiven Zeitgefühls zu erkennen glaubt: Stimulationsreiches Fernseherleben führe zu kurzweiliger Aufmerksamkeitsbelegung, wodurch die tatsächlich gelebte Zeit kaum wahrgenommen werde, sozusagen wie im Fluge vergehe, und auch in der Erinnerung scheine die mit dem Fernsehen verbrachte Zeit „auf nahe Null" zusammenzuschrumpfen, weil es in solchen Fällen keine bleibenden Erinnerungsspuren erzeugen könne (Rosa 2004: 24). Ob die Verdichtung des Fernseherlebens nun aus programmimmanenten Merkmalen resultiert, durch häufiges Umschalten verursacht wird oder durch fernsehfremde Ablenkungen: Die Erinnerungslosigkeit daran wird durch die schnelle, dichte und direkte Übertragungsweise erklärt - es bleibe keine Zeit, um Identifikationen aufzubauen oder Sinn zu konstruieren. So bleibt es bei reiner Stimulation ohne Inhalt. „Nicht alles und nicht jedes Ereignis kann für alle Rezipienten aktuell, das heißt sinngeladen sein" (Nevería 1992: 67). Folgt man dieser Feststellung, die sich auf der Tatsache des begrenzten Auffassungs- und Aufmerksamkeitsvermögens des Fernsehnutzers gründet, besteht innerhalb des Programmflusses die latente Gefahr, dass durch die Ballung der Geschehensabfolge ein Großteil nicht mehr tiefgehend mit Sinn versehen werden kann, wenn die Kapazitätsgrenzen der individuellen Informationsverarbeitung erreicht sind. - Die Verdichtungstendenz ist ebenso eine Begleiterscheinung der Globalisierung: Mit den weltweit in Lichtgeschwindigkeit fließenden Bildströmen wandelte sich das Verständnis von Zeit, Raum und nationalen Identitäten grundlegend und veränderte die Art und Weise, wie sich Individuen als Teil der (Welt-) Gemeinschaft verstehen (vgl. Monge 1998: 144-146). Für den Theologen Fulbert Steffensky weist die innere und äußere Lebenswelt des zeitgenössischen Rezipienten Zugvogelcharakter auf. Mit den elektronischen Massenmedien seien die „Welten der Immobilität" (Steffensky 2008) untergegangen. Darunter zu verstehen sind in seinem Sinne Erinnerungslandschaften, die von Stabilität, klaren Zugehörigkeiten, Verhaltensregeln und Identitäten gekennzeichnet waren (ebd.: 241). Mit Weibel lässt sich dagegen argumentieren, dass auch die von Virilio beklagte Extinktion eines topographischen Gedächtnisses eben nicht auch das Schwinden von „Generationen des Sehens" und eine „Abtreibung der Vielfalt von mentalen Bildern" (Virilio 1989: 37-38 - Hervorh. im Orig.) bedeuten muss, sondern dass die Massenkultur mit ihren elektronischen Medien für die Anforderungen und Veränderungen durch den beschleunigten Fortschritt viel besser gewappnet sind: Soziale Veränderungen und ästhetische Innovationen hingen in der modernen Gesellschaft direkt von der technischen Entwicklung ab (vgl. Weibel 1987: 122). Durch technologische Innovationen werden Informationen schneller und dadurch dichter vermittelt. Durch die Schnelligkeit der Berichterstattung in den elektronischen Massenmedien ist der Mensch heute früher im Bild als jemals zuvor. Die Folge sind Zeitgewinne auf Seiten der Rezipienten und dies grenzüberschreitend, vollständig gelöst von geographischen Determinanten. Ein Teufelskreis der Über-Information entstünde nur, sollte die gewonnene Zeit wiederum für die Nutzung medialer Angebote eingesetzt werden, die in extremo bei fehlenden kognitiven Ressourcen in einer Spirale nicht zu bewälti-

248

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

genden Wissens münden würde, das nicht nur selbst nicht mehr angeeignet werden, sondern auch die übrigen Lebensbereiche in Mitleidenschaft ziehen könnte. Der entscheidende Faktor ist also die Fähigkeit jedes einzelnen Fernsehnutzers, mit dem ihm zur Verfügung stehenden Angebot - so verdichtet es sich auch darstellen mag - emanzipiert umzugehen. Gleichwohl ist es umso schwieriger, kulturelle Eigentümlichkeiten durch die von den Fernsehbildern ausgehenden Einflüsse der Kulturen der Welt auf das eigene Weltbild zu erhalten. Moden, Ideologien, Werte und Normen verbreiten sich dank der elektronischen Medien rasant über den gesamten Erdball und stellen bisher ungekannte Anforderungen an die Erhaltung distinkter Kulturmerkmale. - Durch die Verdichtungsprozesse werden Erinnerungskarrieren von Themen, die auf gesellschaftlicher Ebene darauf angewiesen sind, von den Massenmedien aufgegriffen zu werden, zunehmend verkürzt. So kann gefolgert werden: Je mehr Präsenzen, desto weniger Erinnerungen - Harald Weinrich knüpft zur Untermalung dieser These an Goethes „Faust" an, um aufzuzeigen, das die Raserei zu immer neuen Aufgaben und Gestaden unmittelbar zu Gedächtnislöschungen führen kann (Weinrich 1996: 23-24). Auch Spangenberg beobachtet eine „Organisation des Vergessens durch die schnelle Abfolge von Themen und Inhalten in der Produktion der veröffentlichten Meinung" (Spangenberg 1994: 120). Auf Wissen, so lässt sich resümieren, ist kein Verlass mehr, weil es sich schnell überholt, vermehrt und zunehmend externalisiert vorgehalten wird. Das Fernsehen trägt zur Totalisierung des Wissbaren bei, indem es Informationen in einem unstillbaren Strom zirkulieren lässt und damit die Horizonte von Kulturen stetig erweitert, damit aber zugleich für eine latente Instabilität der Identität sorgt und Anpassungsprozesse erforderlich macht. Dies betrifft auch und in erster Linie Wissen über die Geschichte, das schon aus Nietzsches Sicht drohte, wie gezeigt, einer breiten Gedächtnislosigkeit den Hof zu bereiten: „Oscillating between excessive hypostatization of the past and relentless erosion of the stability on which the very possibility of historical knowledge is thought to depend, camera technologies stand charged with ushering in a shadowy age in which collective memory gives way to generalized amnesia" (McQuire 1998: 130). Damit wird auch auf die Flüchtigkeit des (natürlich nicht allein) medialen Beschleunigungsprozesses hingewiesen: Kulturelles Wissen wird durch die unablässige Erneuerung, Ersetzung und Entwertung von zirkulierenden Sinninhalten immer weniger greifbar und immatriell im doppelten Sinne: durch das Bildflackern auf dem Bildschirm ist es in erster Instanz nur schwer festzuhalten, aber auch die Erinnerung kann sich oft nicht auf .Verewigtes' stützen. So veraltet Wissen immer schneller. Der einzige Ausweg: „die Verstärkung des Gestern durch Anreicherung des kulturellen Speicher-Gedächtnisses" (Assmann/Assmann 1994: 140). Ob dies von dem präsentistischen Medium Fernsehen aus eigener Kraft geleistet werden kann, wird von Aleida und Jan Assmann zwar in Zweifel gezogen. Letztlich liegt es aber auch in der Verantwortung des jeweiligen Nutzers, als Akteur im Kommunikationsverhältnis mit dem Fernsehen seine Reflexionsfähigkeit und den Willen dazu einzusetzen, einhergehend mit der Erfüllung jener Anforderungen, welche die Bedienung und Aneignung des sich

III. 5. Bilder am laufenden Band

249

wandelnden Medienfeldes bereithalten, um sich, gewappnet mit den verfügbaren Aufzeichnungs- und Navigationsinstrumenten den Herausforderungen des „Erkenntnisdschungels" (vgl. Kreimeier 1988) zu stellen. Fernsehveranstalter zu einer Entschleunigung zu ermutigen, kann durch den wettbewerblichen Druck als aussichtslos bewertet werden. Bereits umgesetzte Strategien der Sender zur Markenbildung und einer weitgehenden Angebotstransparenz können die weiterhin zunehmende Verdichtung in allen Bereichen nur bedingt abfedern, ist doch Transparenz im Hinblick auf die Produktions- und Distributionslogiken des Fernsehbetriebs im laufenden Programm nur schwerlich herzustellen, die indes notwendig wäre, um dem Zuschauer nicht nur ein Drauf- sondern auch ein Durchschauen des Programmgeschehens zu ermöglichen.

5.4.

Zusammenfassung

Das Fernsehen transformiert seine Inhalte in ein egalitäres Nacheinander und Nebeneinander von Programmflüssen, die rund um die Uhr nicht zum Stocken kommen und doch - dem Ausdruck Paul Virilios folgend - in ihrem nimmermüden, reißenden Strom mit einem „rasenden Stillstand" verglichen werden können. Der Stillstand ist hier als mögliche Diagnose des überforderten Zuschauers zu verstehen, dessen Wahrnehmungsfähigkeit der Masse an audiovisuellen Eindrücken nicht mehr gewachsen ist. Ein „Bildüberlegenheitseffekt" ist mit Blick auf schnelle Bildabfolgen im Fernsehen also anzuzweifeln, da trotz der Effektivität des kognitiven Verarbeitung von visuellen Eindrücken ein Aufmerksamkeitsdefizit die erfolgreiche Enkodierung der Information verhindert und Probleme bei der späteren Erinnerung der Inhalte bereitet. Dennoch versuchen Fernsehveranstalter, ihr Senderimage zu stärken, indem sie Graphiken, Personen oder Figuren als Klammern im Programmfluss einsetzen, und damit die Zuschauerbindung zu erhöhen, deren Kern eine starke mnestische Komponente aufweist: Sender wollen wiedererkannt werden, um eine möglichst große Zahl von Nutzern zum Einschalten zu bewegen. Gleichzeitig sind sie den Imperativen der gesamtkulturellen Dynamik des sozio-technischen Wandels unterworfen, an deren Gestaltung sie selbst Anteil haben. „Gebräuche und Protokolle sind nicht weniger, sondern mehr und verzwickter geworden; es gibt nicht weniger Vermittlungen, sondern mehr, sehr viel mehr" (Latour 2000:240). Latour bemerkt in diesem Zuge eine „tiefe Intimität" zwischen Gesellschaft und Technik in der Moderne (ebd.: 239 - Hervorh. im Orig.). Das Fernsehen ist dabei nur ein (wesentliches) Instrument von vielen, das hohe Nutzungswerte in allen Teilen der Gesellschaft verzeichnet und daher prädestiniert ist, die Verdichtungstendenzen im Sozialgefüge zu moderieren, ohne sich von ihnen distanzieren zu müssen: Das Fernsehen kann durch behutsame Transformation seinen Zuschauer eine Anpassung an die sich verändernden Bedingungen der kollektiven Wissensverwaltung und -Zirkulation ermöglichen, schafft indes gleichzeitig vollendete Tatsachen, indem es eine Rückkehr zu .altmodischen Konzepten der (Massen-) Kommunikation ausschließt. Fest eingebunden in technologische Innovationszyklen und das mentalitätsbedingte Streben nach Weiter-

250

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

entwicklung und Veränderung sind Besinnung und Einhalt Funktionen, die auf das Fernsehen, die elektronische Massenkommunikation überhaupt, kaum zutreffend erscheinen: „Auch in der Welt der elektronischen Audiovision ist Bewegung alles geworden. Was hier alltäglich in Form von elektrischen Wellen, digitalisierten Daten oder Medienkonserven verteilt, verschickt und über Satelliten, durch Kabel oder auf herkömmlichen terrestrischem Wege gesendet wird, ist quantitativ kaum mehr zu erfassen und wird auch von niemandem mehr genau kontrolliert" (Zielinski 1989: 214). Die Adaption des für das Fernsehen ebenso untypischen „Publishing"-Konzepts durch das Angebot von digitalisierten Sendungen zum Abruf über Internet-Datenleitungen stellt insofern keine grundlegende Veränderung der Verdichtungsproblematik dar, weil die vielkanalig fließenden Programmflüsse damit durch ein komplexes Reservoire an Sendeinheiten ergänzt werden, die wiederum die Auswahlmöglichkeiten erhöhen, nicht aber notwendigerweise die Orientierung. Selektionskompetenz beim Zuschauer ist daher eine der zentralen Anforderungen in einem Medienumfeld, das mit immer neuen Aufzeichnungstechniken, Such- und Findmechanismen sowie Publikationsmöglichkeiten für jedermann aufwartet und eine nie dagewesene Wahlfreiheit verspricht, die von der Seite der Nutzer konstruktiv angenommen werden muss, damit sich die Störfaktoren der Verdichtungsprozesse in Bezug auf Erinnerungsbildung und Wissensökonomie gewinnbringend in Vorteile ummünzen lassen.

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

6.

Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

6.1.

Die Authentizität

6.1.1. Fenster, Spiegel oder

der

251

Fernsehbilder

Zaubermaschine?

„Aus dem Fenster zu schauen", glaubt der Schriftsteller Michael Rutschky, „das möchte man für eine der einfachsten und plausibelsten Übungen in Realitätsprüfung halten" (Rutschky 2005: 1007). Mit einem kurzen Blick könne Gewissheit darüber erlangt werden, ob in nächster Nähe alles wie immer sei oder - im extremen Fall - der Weltuntergang bevorstünde. Nimmt man das frühe Versprechen des Fernsehens ernst, nicht nur ein, sondern das „Fenster zur Welt" zu sein, verwundert es nicht, dass Generationen von Fernsehzuschauern sich in den vergangenen 50 bis 60 Jahren seit Aufnahme des regelmäßigen Programmbetriebs nicht selten die Augen gerieben haben: ungläubig und fasziniert, schockiert und gerührt, was sie auf kleinem oder großem Schirm, in schwarzweiß oder Farbe, in flimmernder Vagheit oder brillanter Bildschärfe zu sehen bekamen. Das Fernsehen machte seine Nutzer in dieser Zeit etliche Male zu Zeugen von Naturkatastrophen, Kriegen und Terroranschlägen, aber auch von Momenten kollektiven Glücksgefühls und epochalen politischen Umbrüchen. Als die damals 26-jährige Elizabeth Alexandra Mary Windsor am 2. Juni 1953 in Londons Westminster-Abtei zur britischen Königin Elizabeth II gekrönt wurde, feierten zwar Millionen Menschen bei widrigen Wetterverhältnissen auf den Straßen und in den Parks an der Themse (Anonym 1953a), doch zu Zeugen des prunkvollen Aktes wurden - abgesehen von den geladenen Gästen und Würdenträgern vor Ort - nur die etwa 20 Millionen Fernsehzuschauer, die vor ihren heimischen Geräten in Großbritannien, Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland die Live-Übertragung der BBC empfingen (Anonym 1953b: 30). Von Zeugenschaft kann gesprochen werden, weil sich bei diesem spektakulären, vom Fernsehen vermittelten Ereignis der kollektive Eindruck einstellte: Was selbst auf dem monochromen Bildschirm des Fernsehempfangers trotz vorübergehender technischer Qualitätsmängel inhaltlich so wirkmächtig ins Wohnzimmer gesendet wurde und ein solch tiefes Gefühl des Miterlebens auslöste, musste einfach real sein (vgl. Haensel 1953).79 Die neue Qualität der Fernseherfahrung, etwas mitzuerleben, Augen- und Ohren-Zeuge zu sein, übertraf die reine Repräsentationsleistung des Fernsehens durch das Abspielen von Filmen wesentlich. Der Zuschauer wähnte sich vor Ort, erhaschte die glücklichen Blicke zwischen der Prinzessin und ihrem Gemahl Prinz

79

Zeugenschaft bezieht sich daher nicht auf das tatsächliche Beiwohnen einer Handlung, sondern auf den bloßen lebendigen Eindruck an sich: „Witnessing is a lived experience; it is an awareness of receiving another's testimony, and of having the impact of that experience remain as part of one's historical knowledge" (Crane 1997a: 1382). Das Erkennen seiner persönlichen Rolle als Zeuge durch den Rezipienten ist also eine Grundvoraussetzung für die Verbindung zwischen Zuschauer und Fernsehgeschehen und somit auch für die Gedächtnisrelevanz dieser Erfahrung.

252

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Philip, wohnte der Zeremonie, zu der er selbst niemals eingeladen worden wäre, scheinbar in aller Leibhaftigkeit bei. Das zweidimensionale Bewegtbild erschuf eine perspektivische Räumlichkeit, die den Betrachter in die abgebildete Szenerie hineinzog (vgl. Hikkethier 2007a: 43). Wenn Carl Haensel in seiner Analyse der „Fernseh-Lehren aus dem Krönungstag" für die „Frankfurter Allgemeine" davon berichtete, zwei (überdies ihm fremde) Frauen hätten sich während der gemeinsamen Rezeption der Krönungsfeierlichkeiten bekreuzigt, „weil sie sich bei der liturgischen Handlung anwesend fühlten und so benahmen, wie sie es in der Kirche getan hätten" (Haensel 1953), zeigt sich die große Stärke des Fern-Sehens, der Tele-Vision, dem Zuschauer das Gefühl zu geben, in die scheinbar unvermittelte Ferne schauen zu können und dem Geschehen beizuwohnen. 55 Jahre später, eine gänzlich andere Zeremonie: Das Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft der Herren zwischen Deutschland und der Türkei am 25. Juni 2008. In den Public Viewing-Arenen, versammelt vor den Fernsehgeräten in Kneipen, Wohnzimmern und Gärten, fieberten 29,54 Millionen Zuschauern in Deutschland mit, als seien sie vor Ort im Baseler Stadion - bis zur 57. Spielminute, als im europäischen Sendezentrum in Wien der Strom ausfiel und für einige Minuten kein Bild oder Ton übertragen wurde. Das Spiel nahm ungetrübt seinen Lauf, doch die Zuschauer, die sich gerade noch dabei gefühlt hatten, blieben schlagartig sich selbst überlassen. Dann setzte per Telefonschaltung der einsame Kommentar des verunsicherten Reporters Béla Réthy wieder ein und letztlich die um wenige Sekunden zeitversetzten Bilder des Schweizer Fernsehens (vgl. Hoeltzenbein 2008). Es fielen noch insgesamt drei Tore, eines für die Türkei, zwei für Deutschland, doch sie wirkten durch die Zeitverzögerung bei der Bildübertragung auf die Zuschauer surreal, wie eine (gesprochene) Prophezeiung, da der Kommentator bereits über das Tor des Stürmers Miroslav Klose jubelte, als noch nicht einmal die Flanke des linken Außenverteidigers Philipp Lahm - im Fernsehbild - ausgeführt war. Hier offenbarte sich, wie abhängig der Rezipient in seiner Realitätswahrnehmung von den technischen Wäg- und Unwägbarkeiten des Fernsehens ist - und dass das Verhältnis zwischen Fernsehbild und Realität ein volatiles ist. Die kritische Diskussion um die Leistung des Fernsehens, Realität abzubilden oder nicht, rankt sich weniger um spezifische Inhalte, sondern um den Anschein des Bildes an sich. Der kanadische Filmemacher David Cronenberg karikierte in seinem Klassiker des Horrorgenres „Videodrome" die McLuhansche These von der televisuellen Erweiterung der menschlichen Sinne, indem er die Figur des Professors Brian O'Blivion 80 (sie!) mantra-artig die Kernaussage des Films rezitieren ließ:

80

Dass David Cronenberg, der auch zahlreiche Kurz- und Werbefilme für das Fernsehen gedreht hat, mit der zentralen Figur des Medienpropheten den realen Medienwissenschaftler (und seinen ehemaligen College-Professor) Marshall McLuhan parodierte und sie zudem mit dem englischen Begriff für Vergessenheit („Oblivion") benannte, kann - wie im Übrigen der gesamte Film - als beißende Kritik an McLuhans Medientheorie gewertet werden: Das von McLuhan so euphorisch behandelte Fernsehen wird in „Videodrome" zum zerstreuenden und das Gehirn zersetzenden Gift, das die naive Auffassung ad absurdum führt, sich durch Fernsehauftritte (Prof. O'Blivion ,lebt' quasi auf Videokassetten weiter) unsterblich bzw. unvergessen zu machen.

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

253

„The television screen is the retina of the mind's eye. Therefore the television screen is part of the physical structure of the brain. Therefore whatever happens on the television screen emerges as raw experience for those who watch it" (Videodrome 1983, Regie/Buch: David Cronenberg, zitiert nach McQuire 1998: 92). Ob es sich also bei der televisuell übermittelten Audiovisionen tatsächlich u m ein Abbild der Realität oder nur u m ein Trugbild handelt, ist eine Frage der grundsätzlichen Bildkritik, die seit der Antike klar und oft mit moralischem Impetus zwischen Original und Fälschung unterscheidet (vgl. Caldwell 1995: 339). Artizifizielle Bilder wurden bereits bei Piaton hinsichtlich ihres Täuschungspotenzials in ihrer scheinbaren Originalität und Wahrhaftigkeit als bloße „Schattenbilder" abgelehnt: „Gar weit also von der Wahrheit ist die Nachbildnerei; und deshalb, wie es scheint, macht sie auch alles, weil sie von jeglichem nur ein Weniges trifft und das im Schattenbild. Wie der Maler, das leugnen wir doch nicht, der wird uns Schuster, Tischler und die anderen Handwerker nachbilden, ohne irgend etwas von diesen Künsten irgend zu verstehen; aber doch, ist er nur ein guter Maler und zeigt, wenn er einen Tischler gemalt hat, ihn nur hübsch von fern, so wird er doch Kinder wenigstens und unkluge Leute anführen, dass sie das Gemälde für einen wirklichen Tischler halten" (Piaton 1958: 598b-c) Die Nachbildung ist in Piatons Sinne ein nach der Schönheitsillusion des Volkes und der Unkundigen ausgerichtetes Spiel - „und kein Ernst" (ebd.: 602b). Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit nun ließe sich mit Walter Benjamin sprechen, dass zwar alles immer schon durch Menschenhand reproduzierbar gewesen sei, die Technologie des bewegten Bildes jedoch einer tatsächlich ganzheitlichen Wahrnehmung eines Gegenstandes in seiner urtümlichen auratischen Wesensart (sei es so etwas Konkretes wie ein dinghaftes Kunstwerk oder etwas Abstraktes wie eine Landschaft) im Wege stehe: „Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die historische Zeugenschaft der Sache ins Wanken. Freilich nur diese; was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache, ihr traditionelles Gewicht. [...] Die Reproduktionstechnik, so lässt sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab." (Benjamin 1936: 438 - Hervorh. im Orig.). Wie ist also das Fernsehen einzuordnen in die zeitlos aktuelle Debatte um medial oder genauer: audiovisuell vermittelte Wirklichkeiten? Welchen Realitätsgehalt, welchen Wahrheitsanspruch, welche Wirklichkeitsintensität können Fernsehbilder im besten Fall haben? Bei der grundsätzlichen, medienkritischen Auseinandersetzung stehen sich zwei extreme theoretische Ansätze gegenüber: Der eine begreift das Film- bzw. Fernsehbild als Abbild physischer Realität und bejaht damit die Metaphorik des Fensters zur Welt, der andere versteht das Fernsehen als Zauber- bzw. Illusionsmaschine, die nicht mehr oder weniger leistet als die totale Simulierung der Lebenswelt. Dem Zuschauer wird demnach

254

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

nur eine Wirklichkeit vorgegaukelt, während die vollständig mediatisierte Welt selbst zur Simulation verkomme. Im Folgenden werden diese gegensätzlichen Positionen ausführlich dargestellt, um einen Ausgangspunkt für die Erfassung der Ambivalenz des Fernsehbildes in Bezug auf die Erfahrungswirklichkeit des Zuschauers zu erhalten, die der Soziologe Thomas Kleinspehn wie folgt ausdrückt: ,,[I]ndem die Bilder der Moderne gleichzeitig unermessliche Grandiositätsvorstellungen und die Einsicht in die eigene Nichtigkeit gegenüber der Übermacht des Sozialen enthalten, kann man aus ihnen ihren zerstörerischen Gehalt ebenso ablesen wie die Suche nach der Lebendigkeit und verschütteten Erfahrungen" (Kleinspehn 1989: 325).

6.1.2. Die filmische Errettung der physischen

Realität

Inwiefern das Fernsehen als das führende Repräsentationsmedium von Wirklichkeit seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diese auch tatsächlich wiedergeben kann, wird in der Medieninhaltsforschung traditionell rege diskutiert. Die Authentizitätsthese des Filmwissenschaftlers Siegfried Kracauer würdigt das technizistisch bewegte Bild als realitätsgetreues Abbild der physischen Wirklichkeit. Obwohl Kracauer seine Theorie explizit auf den Schwarz-Weiß-Film bezog, sah er darin bloß den Kern eines audiovisuellen Medienkonvoluts, das sich seiner Ansicht nach aus Elementen und Derivaten ein und desselben Ausgangsmediums gebildet habe und noch bilden würde (vgl. Kracauer 1973: 9). Volker Wortmann sieht in seiner kulturhistorischen Arbeit über die Authentizität von Bildern denn auch die Fähigkeit von (Speicher-) Medien als ausschlaggebend an, eine Spur des Originals zu konservieren: „Jedes Mal geht es um einen Abdruck, einen Kontakt oder eine Verletzung, geht es um die evidente oder auch ambivalente Spur, die ein Darstellungsgegenstand durch Berührung (und sei es durch eine photo-chemische) auf dem Bildträger hinterlässt - eingeschrieben bleibt das authentische Zeugnis seiner nichtmedialen Existenz" (Wortmann 2003: 219). So wie der Film das Wesen der Fotografie annahm und fortführte, sei laut Kracauer auch das Fernsehen dem Kino wesensverwandt und müsse allein schon daher „zumindest einige der Befriedigungen gewährten], die so viele Leute ins Kino treibt oder doch trieb" (Kracauer 1973: 227), weil es sich, einem „Eroberer ähnlich, der die Kultur der Unterworfenen annimmt" (ebd.), zunehmend und erfolgreich Filmprodukten bediene und damit die Magie des Kinos in die Zukunft rette. Alle Bewegtbildmedien können nach Kracauer als „in einzigartiger Weise dazu geeignet" bezeichnet werden, „physische Realität wiederzugeben und zu enthüllen" (ebd.: 55). Im Vordergrund seines Interesses standen die genuinen Darstellungsmerkmale des Films und erst nachrangig die Gestaltungs- oder auch Manipulationsmöglichkeiten durch den Bildproduzenten. Dass jegliche Darstellung von Wirklichkeit auch Manipulationen ermöglicht, verleugnet Kracauer nicht. Realiter stehen für ihn die Vorzüge der filmischen Erfassung von Abläufen im Kontrast zur abstrahierenden Sinnzuteilung und Bedeutungskonstruktion in schriftlichen und auch mündlichen Darstellungen von Wirk-

III.6. Die Glaubwürdigkeit

des Fernsehens

255

lichkeit im Vordergrund. Kracauer war überzeugt: Ein perfekter Film zeige die Wirklichkeit so, wie sie ist. Das filmische Einfangen von Bewegung war für Kracauer daher eine besonders bedeutsame und einzigartige Leistung der Film- bzw. Videokamera (vgl. ebd.: 72). Das Kino scheine vom Wunsch beseelt zu sein, vorübergleitendes materielles Leben festzuhalten: „Leben in seiner vergänglichsten Form" (ebd.: 11). Der Film fange die physische Realität um ihrer selbst willen ein und gebe sie entsprechend wieder, nicht simulativ, sondern in ihrem eigentlichen Realitätscharakter, der sich in den Bildern wiederfände. Der Zuschauer könne daher nicht anders, als „auf sie so zu reagieren, wie er auf die materiellen Aspekte der Natur im Rohzustand reagieren würde, die durch diese fotografischen Bilder reproduziert werden" (ebd.: 216). Der Film zeige die „Welt in Bewegung", was wiederum eine objektive Bewegung induziere und auf den Zuschauer physiologisch stimulierend wirke und Reaktionen „wie zum Beispiel Muskelreflexe, motorische Impulse und ähnliches" auslöse (ebd.). Aber nicht allein die vom Menschen wahrnehmbare Realität vermöge der Film einzufangen, sondern darüber hinaus auch „Wirklichkeitsbereiche", die den menschlichen Sinnen in natürlicher Umgebung verborgen blieben und nur mithilfe „filmischer Techniken und Tricks" wahrnehmbar würden (ebd.: 217). Damit meint Kracauer Dinge, die entweder zu klein oder zu groß sind, um vom menschlichen Auge erfasst zu werden (ebd.: 77), flüchtige Erscheinungen wie ein Lächeln, rasante Abläufe oder selbst Vorgänge, die zu langsam ablaufen, als dass sie vom Menschen in ihrer Bewegung nicht wahrgenommen werden können (wie das Wachstum von Pflanzen) (ebd.: 85), sowie sogenannte „Ausfallerscheinungen" (ebd.: 86), die normalerweise durch unsere Voreingenommenheit - unter den dadurch erfolgenden Ausfall des Wahrnehmungsvermögens - nicht bemerkt werden, auf die jedoch eine filmische Aufnahme Aufmerksamkeit lenken kann. Weitere Phänomene, die erst der Film in wahrnehmbarer Weise wiedergeben kann, seien den menschlichen Geist überwältigende Ereignisse wie Naturkatastrophen, Gewalttaten oder Tod (vgl. ebd.: 91): Hier wirke der Film wie ein Katalysator, der das kaum zu Bewältigende verträglich erfassbar macht. Dass er gleichzeitig auch sensationalisiere, begründe seinen Charakter als Massenmedium und sei keinesfalls als Affekthascherei zur Passivierung des Publikums zu verstehen, sondern im Gegenteil als Mittel zur Wandlung des „innerlich aufgewühlten Zeugen in einen bewussten Beobachter" (ebd.: 92). Schließlich zeige der Film wie kein anderes Medium den Menschen in seiner unverstellten Gefühlslage, schenke in seiner Beschränkung auf die audiovisuelle Aufnahme Verständnis und bringe dadurch die Menschen einander näher (vgl. ebd.: 93). Ob diesbezüglich die Wirklichkeit in irgendeiner Form nur simuliert wird, spielte für Kracauer keine Rolle, solange nur die Illusion von Wirklichkeit vorhanden sei (ebd.: 95). Die Kamera nimmt in diesem Sinne immer die physische Realität auf, es kommt alleine darauf an, wie durchschaubar das Aufgenommene gestellt ist und daher die Illusion zerstört. Das kommt vor allem dann zum Tragen, wenn es sich um Aufnahmen handelt, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung ein bereits vergangenes Ereignis einfangen sollen: Das Bewegtbild werde so zur Scheinwelt, es sei denn, der Zuschauer identifiziere sich mit der

256

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Kamera und werde dadurch zu einem Beobachter einer vermeintlich „unverfälschten Natur" (ebd.: 115). So wird „der Rand der Bilder [zum] Ende der Welt" (ebd.: 117). Ob Film oder Fernsehen: Wenn die Audiovision dazu führe, im Zuschauer ein Gefühl dafür zu erzeugen, dass es sich dabei um ein authentisches Abbild der Wirklichkeit handelt, hat das Medium nach Kracauer seinen Zweck erfüllt. Daher dient Kracauer besonders der Dokumentarfilm als Phanal gegen die „Lüge der ,Kunst'" (ebd.: 391), weil damit der „realistischen Tendenz" gefolgt werde. Aber auch Spielfilme, die sich „weitgehend auf die Suggestivkraft des von der Kamera eingeheimsten Rohmaterials" verließen, trügen zur Errettung der physischen Realität bei. Damit bezieht sich Kracauer nicht auf fiktive Szenerien eines Schauspiels, sondern auf all jene Merkmale der Inszenierung, welche die physische Realität der jeweiligen Umgebung der Aufnahme wiedergeben. So können historische Aufnahmen oft genauso viel über die Zeit, in der sie gedreht wurden, aussagen, wie über den jeweilig szenischen Inhalt. Kracauers Theorie, so unterstreicht Jochen Hörisch, sei „von wunderbarer Schlichtheit", (Hörisch 2003: 25) und gekennzeichnet von der „tiefe[n] Binsenweisheit [...], dass der Film und alle AV-Medien anders als das mit Übersetzung in Zeichensymbole arbeitende Medium Schrift/Buch das Reale (im Sinne von Schall- und Lichtwellen) registrieren kann" (ebd.: 26). Die Bildaufnahme mittels einer Kamera unterliegt den physikalischen Gesetzmäßigkeiten der abgefilmten Szenerie, wodurch die mehrkanalige Bildübertragung und multisensorische Bildwahrnehmung bei der Wiedergabe einen Realitätseindruck vermitteln kann, wie der Fernsehtechniker Gerhard Mahler ausführt: „Der Bildeindruck in der Aufnahmeszene entsteht durch das Licht, das von den Objekten in der Szene ausgeht, also durch die elektromagnetische Strahlung [...]. Ob dieses Licht nun von den Objekten selbst produziert wird (.Selbstleuchter') oder aber durch Remission infolge der Beleuchtung durch eine Lichtquelle - jedenfalls ist die Szene charakterisiert durch eine Lichtemission in Abhängigkeit von den Ortskoordinaten χ, y, ζ und bei einer Bewegung in der Szene auch von der Zeitkoordinaten t. Daneben ist für den Farbeindruck die Spektralverteilung [...] wichtig. Bei der Bildübertragung haben wir es also mit einer mehrdimensionalen Signalübertragung zu tun" (Mahler 2005: 2 - Hervorh. im Orig.). Der Soziologe Markus Schroer macht darauf aufmerksam, dass dies nicht mit „einer Art Unmittelbarismus" oder einem naiven Realismus verwechselt werden dürfe, sondern vielmehr eine Form des konstruktivistischen Realismus entspreche (Schroer 2007: 4). Wenn Kracauer schreibt, dass Bewegtbilder in der Lage seien, den „Gehinderte [n] und Enttäuschte [n] zum König der Schöpfung" zu machen, in dem der an der Komplexität der modernen Welt zunehmend verzweifelnde Mensch durch sie die Direktheit der audiovisuellen Filmerfahrung die Welt ein bisschen besser verstehen lerne (vgl. Kracauer 1973: 232), dann offenbart dies das Grundanliegen des Kracauers, Kulturtechniken zu propagieren, die dabei helfen, die aus vielerlei Gründen für den Einzelnen unsichtbar gewordene Welt wieder sichtbar zu machen. Bewegtbilder haben nach Kracauer die Macht, „das wahre Angesicht von Dingen" in das Gedächtnis einzuprägen, „die zu furchtbar

7/7.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

257

sind, als dass sie in der Realität wirklich gesehen werden könnten." Und weiter: „Wenn wir die Reihen der Kalbsköpfe oder die Haufen gemarterter menschlicher Körper in Filmen über Nazi-Konzentrationslager erblicken - und das heißt: erfahren - , erlösen wir das Grauenhafte aus seiner Unsichtbarkeit hinter den Schleiern von Panik und Fantasie" (ebd.: 396). Film und Fernsehen versteht Kracauer damit in erster Linie als aufklärerische, weil die Augen öffnende, die Aufmerksamkeit erzwingende Medien, denen es durch die audiovisuelle Prägnanz der Bilddarstellung gelingt, dass der Mensch die Welt wieder konzentriert dinghaft wahrnimmt; denn - um die Kernaussage des vorangegangenen Zitats noch einmal hervorzuheben - „erblicken [...] heißt erfahren". Anders als sein dem Fernsehen gegenüber überaus skeptischer Jugendfreund Theodor W. Adorno (der in seinem Essay „Der wunderliche Realist" an Kracauer eine ,,naive[.] Sehlust" diagnostizierte - Adorno 1965: 94) glaubte Kracauer an den positiv-konstruktiven Kern der audiovisuellen Medien, die das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt inniger gestalten könnten (vgl. Kracauer 1973: 14). Mit seiner diametral zur herrschenden Medien- und Kulturkritik der damaligen Zeit ausgerichteten „rettenden Kritik" (Koch 1996)81 propagierte Kracauer Zuversicht in Bezug auf die audiovisuelle Medienentwicklung hinsichtlich des Festhaltens von physischer Wirklichkeit im Bild, wodurch in notwendiger Konsequenz all das, was mit eigenen Augen erblickt werden kann, auch eine dauerhafte Erinnerungsspur im Bewegtbild zu hinterlassen verspricht, sollte es mit einer Kamera aufgezeichnet worden sein. Auch das Fernsehen fungiert somit als Instrument, um den Fundus der erinnerungsinduzierenden Kulturgüter um audiovisuelle Abbilder des gesellschaftlichen Lebens, sei es in Form eines Spielfilms oder mit dokumentarischem Impetus inszeniert, zu erweitern. Als problematisch ist das von Kracauer induzierte Vertrauen des Zuschauers in die audiovisuelle Medienerfahrung zu verstehen, was die Gefahr birgt, dass das gesehene Bild nicht weiter hinterfragt wird. So wird Wahrheit nicht vertikal durch die tiefgründige Beschäftigung des Rezipienten mit dem Dargestellten gesucht, sondern horizontal durch die Aneinanderreihung von Bildern bzw. „Erscheinungen"82 (vgl. Wagener 1996: 106). 6.1.3. Baudrillards

Simulakren

Die Wahrnehmung des Fernsehbildes als Scheinbild entspricht der Simulationsthese des französischen Kulturkritiker Jean Baudrillard, der konstatierte, dass die originäre Leistung des Fernsehens (zudem die einzige, zu der es fähig sei) darin bestehe, Zeichen zu 81

82

So bezeichnete der Philosoph Günther Anders das Fernsehbild als ein Phantom, als „NippesVersion der Welt", das die Wirklichkeit vielmehr verdecke als sie zu erretten: „Die Absicht der Bildlieferung, ja die Lieferung des ganzen Weltbildes besteht eben [...] darin, das Wirkliche abzudecken, und zwar mit Hilfe des angeblich Wirklichen selbst; also die Welt unter ihrem Bilde zum Verschwinden zu bringen" (Anders 1980a: 153-154). Klaus Kreimeier spricht von „unserer eigenen routinierten Sehbehinderung, die es uns ermöglicht, die Zeichen von Krieg und Terror wiederzuerkennen, ohne das, was sie bezeichnen, wahrzunehmen" (Kreimeier 1995: 37).

258

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

produzieren, wodurch es folgerichtig in einem fort Ereignisse herstelle, die es in der dargestellten Form gar nicht gibt, also „Nicht-Ereignisse" (Baudrillard 2000: 180). Sinn und Zweck des Fernsehens sei es, mit der Semiotisierung von Ereignissen einen Tauschwert auf dem „Markt der Ideologie, des Starsystems, der Katastrophe usw." zu schaffen (ebd.). Um ein Ereignis austauschbar und ersetzbar, das heißt: handelbar zu machen, wird es nach Baudrillard im Zuge dieser Kodierung zuerst seiner Substanz beraubt, um es in massenmedialer Form für die Rezipienten erfahrbar zu machen: Fernsehen wird also damit verstanden als „Reagenzglaszeugung eines Ereignisses" (Baudrillard 1998). So stellt in Baudrillards Sinne jeglicher Prozess der massenmedialen Informationsverarbeitung und -Vermittlung nur die Simulation eines tatsächlichen Ereignisses dar: „Wenn man die Geschichte als einen Film betrachtet (wozu sie gegen unseren Willen geworden ist), dann besteht die .Wahrheit' der Information in der nachträglichen Synchronisierung, dem Doubeln und Untertiteln des Films der Geschichte" (Baudrillard 2000: 181). Die Simulationsthese hat - glaubt man Baudrillard - fundamentale Auswirkungen zur Folge: Da die heutige Wirklichkeitswahrnehmung von den elektronischen Massenmedien geprägt sei (vgl. Baudrillard 1978a: 38), ließen sich Illusion und Wirklichkeit nur noch schwer unterscheiden und höben sich gegenseitig in reiner Simulation auf. Es entstehe ein Simulakrum, das lateinische Wort für ein Abbild oder auch Gespenst: ein Zeichen. Baudrillard unterscheidet drei Ordnungen von Simulakren in der Geschichte: Während der klassischen Epoche der Renaissance bis zur französischen Revolution habe die Imitation das öffentliche Leben bestimmt. Besonders im Theater des Barock erkennt Baudrillard die Vortäuschung des Natürlichen. Die Simulakren dieser Zeit seien nicht bloß, aber auch als Zeichenspielereien zu verstehen, als klassenübergreifende „Transsubstantiation der gesamten Natur in eine einzige Substanz, theatralisch wie die vereinheitlichte Sozialität im Zeichen der bürgerlichen Werte, jenseits der Unterschiede von Abstammung, Rand oder Kaste" (Baudrillard 1982: 81). Darauf folge das industrielle Zeitalter mit seinen Marktgesetzen, für Baudrillard eine Zwischenphase, in der das Diktum der seriellen und technischen Reproduktion die Oberhand gewonnen habe. Während die Imitation noch stets den Widerspruch zwischen Original und Simulakrum feiere, löse die industrielle Produktion eben diesen Widerspruch auf und gehorche nur dem „operationalen Prinzip[.]" zum Zwecke der vielfachen Reproduktion des Entwurfs (Baudrillard 1982: 85). Der Mensch wurde dadurch seiner aktiv ausgeübten Kreativität entledigt und musste sich nun - zur Passivität verdammt - nach der maschinellen Logik richten. In der schließlich dritten Ordnung der Simulakren sei alles nur noch Simulation, da die gegenwärtige Phase der Wirklichkeitskonstruktion durch den massenmedialen Code beherrscht werde. Wurde in der Produktionsära noch das Original als Ausgangspunkt genommen, um massenweise Simulakren zu erstellen, gibt es das Reale nun schon gar nicht mehr, sondern nur noch originäre Reproduktionen: Die „operationale Simulation" (Baudrillard 1982: 89) macht die Unterscheidung zwischen Original und Kopie hinfällig. Das Bild wechselt von Repräsentation zur Selbstreferentialität: Es dient nicht zur Abbildung, sondern nur seiner selbst. Es entsteht eine Realität über der Realität: Hyperrealität,

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

259

eine Obszönität der allzu visuellen Visualität, die sichtbarer ist als das Sichtbare (Baudrillard 1983: 131). Günter Anders beschreibt das Paradox folgendermaßen: „Es gibt keine Originale mehr, sondern nur noch Kopien. Oder, wenn man will: nur noch Originale" (Anders 1958/1961: 80 - Hervorh. im Orig.). Das Fernsehen spielt in dieser Phase eine herausragende Rolle, ist es doch eines der Massenmedien, denen Baudrillard bescheinigt, dass sie die Kommunikation moderner Gesellschaften in Zeichenmodelle zwingen, die jegliches Zeichen neutralisieren und ihres Sinns entleeren, indem sie ihm eine „tödliche Öffentlichkeit" verschaffen (Baudrillard 1978b: 96). Der Zweck des Fernsehens bestehe ausschließlich darin, auf sich selbst und die Oberfläche zu verweisen: „Im Rausch der elektronischen Bilder, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, hat das Wirkliche keine Zeit zu passieren" (Baudrillard 1991: 220). Diese Form ermögliche einerseits die Ausstrahlung in die „abstrakte Allgemeinheit der öffentlichen Meinung" (ebd. - Hervorh. im Orig.), raube dem Ereignis aber gleichsam seinen eigenen Rhythmus und Sinn. Trotzdem sei das Nicht-Ereignis kaum vom Ereignis zu unterscheiden, da letzeres selbst bereits hyperreal geworden sei, weil die erlebte Realität erst durch Medien konstruiert werde, wodurch sich die gesamte Wirklichkeit als Ensemble von Zeichen darstelle, seit es Massenmedien gebe (Baudrillard 1978a: 38). In diesem Sinne stellt das Fernsehen Realität nicht dar, sondern stellt sie als Hyperrealität her. So kann selbst die individuelle Rezeptionssituation des Fernsehnutzers hyperreal werden, wenn er beispielsweise im Fernsehen verfolgen kann, wie sich ein Kamerateam auf sein Haus zu bewegt, um ihn live zu überraschen - und das Unvermeidliche in Echtzeit in einer überzeichneten Realität erlebt wird. Dieses Beispiel kann in seiner theoretischen Hyperstilisierung als Sonderfall gelten, und doch beschreibt es die besondere Taktilität der Fernsehübertragung, die dem Betrachter keine Zeit mehr lässt, sich über die Darstellung des angeblich Realen Gedanken zu machen, sondern ihm keine andere Möglichkeit lässt, als sich der medial erzeugten Hyperrealität zu fügen (vgl. Baudrillard 1991:220). Nach Baudrillard geschieht etwas nur, wenn es in Wort und Bild gesendet wird, eine medienfreie Realität ist für ihn seit dem 20. Jahrhundert unvorstellbar. Das führt so weit, dass eine Vielzahl von Ereignissen speziell für das Fernsehen inszeniert wird, ja nur seinetwegen stattfindet oder eine bestimmte Wendung nimmt. So unterliege alles der „unendliche [n] Rekurrenz der Simulation" (Baudrillard 1978a: 38), und der Hyperrealismus der Simulation äußere sich überall „durch die halluzinierende Ähnlichkeit des Realen mit sich selbst" (ebd.: 41). Baudrillard wählt das Beispiels des Freizeitparks Disneyland nahe Los Angeles, um zu zeigen, dass Menschen aus der Realität in eine scheinbar imaginäre Welt flüchten, um nicht zugeben zu müssen, dass Los Angeles, sogar ganz Amerika nicht mehr als real zu bezeichnen seien, sondern bereits als hyperreal: Disneyland sei eine „Dissuasionsmaschine, eine Inszenierung zur Wiederbelebung der Fiktion des Realen. [...] Man will verbergen, dass die wirkliche Infantilität überall ist und dass die Erwachsenen selbst hier Kind spielen, um ihre reale Infantilität als Illusion erscheinen zu lassen" (Baudrillard 1978a: 25-26). Übertragen auf das Fernsehen bedeutet das: Je exzessiver die Transpa-

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

renz der suggerierten, oder treffender: tatsächlichen Authentizität einer Sendung, desto deutlicher manifestiert sich eine „Ästhetik des Hyperrealen" (Baudrillard 1978b: 45). Das heißt: Der Zuschauer hat das Gefühl, dabei zu sein, ohne dass er (konkret) dabei ist und doch dabei zu sein hat. Denn sonst hätte die Simulation ihr Ziel verfehlt. Mit anderen Worten: „Auflösung des Fernsehens im Leben, Auflösung des Lebens im Fernsehen - eine nicht mehr zu unterscheidende, chemische Lösung: wir alle sind Louds;83 wir sind zwar nicht den Einbrüchen und dem Druck, der Gewalt und der Erpressung der Medien und Modelle ausgeliefert, aber dafür ihren Induktionen und Infiltrationen, ihrer unsichtbaren und unlesbaren Gewalt" (Baudrillard 1978a: 49 - Fußnote nicht im Orig.). Die Medien versteht Baudrillard als genetischen Code, der „die Mutation des Realen und Hyperrealen bestimmt" (ebd.). Die Simulation beginne dort, wo der Sinn implodiere, was er mit dem Begriff des Fingierens beschreibt: „[E]twas zu haben, was man nicht hat. [...] Doch die Sache ist noch komplizierter, denn simulieren ist nicht gleich fingieren: Jemand, der eine Krankheit fingiert, kann sich einfach ins Bett legen und den Anschein erwecken, er sei krank. Jemand, der eine Krankheit simuliert, erzeugt an sich einige Symptome dieser Krankheit'" (Baudrillard 1978a: 10). Zu simulieren bedeutet also, die Differenz zwischen zwei Sinn-Polen aufzuheben, so dass nicht mehr entschlüsselt werden kann, ob etwas wahr oder falsch, real oder imaginär ist (vgl. ebd.: 51). Wenn Baudrillard von der „Erschütterung der Ordnung der Dinge" oder der „Opferung der glorreichsten Figuren (Stars, Politiker...)" schreibt (Baudrillard 2000: 187), dann meint er darin den Wunsch des Menschen nach wahrer Authentizität zu erkennen, dem nicht mit dem Begriff der „Sensationsgesellschaft" (ebd.) beizukommen sei. Vielmehr sind die Massen in der dem Medium und damit der gesellschaftlichen Wirklichkeit immanenten Dauer-Simulation gefangen, die Sehnsucht nach der Realität nur eine „Szene im Drehbuch der Medien" (Baudrillard 1991: 221), zu der Sender wie Gesendete, Empfanger wie Empfangene gleichermaßen ihren Beitrag leisten. Der Zuschauer werde - ob er wolle oder nicht - in einen Zustand „glasig dreinschauender oder durchscheinender und völlig verantwortungsloser Komplizenschaft" versetzt (Baudrillard 1998). Dabei handele es sich aber keineswegs um ein Kommunikationsmodell, sondern um ein „Simulationsmodell der Kommunikation" (Baudrillard 1978b: 104 - Hervorh. im Orig.). Sender und Empfänger werden demnach durch ihr jeweils isoliertes Verhältnis zum Code des Fernsehens auf Distanz gehalten, der in Form der Fernsehbotschaft eine kommunikative Nähe simuliert. In Wirklichkeit aber „zirkuliert Information als lesbar und eindeutig unterstellter Sinngehalt" (ebd.: 105). Eine ambivalente Beziehung zwi83

Baudrillard nennt das Beispiel der Familie Loud, deren Alltag von einem amerikanischen Fernsehsender begleitet wurde und allabendlich ein Millionenpublik fand. Als sich das Ehepaar Loud im Laufe des Sendezeitraums trennte, stellte sich die Frage, ob der Druck der öffentlichen Zurschaustellung des Privatlebens im Fernsehen zu dieser Entscheidung geführt haben könnte (vgl. auch Ruoff 2001).

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

261

sehen Sender und Empfänger sei nicht möglich, und doch sei diese Ambivalenz eben das Wesensmerkmal authentischer Kommunikation. ,,[D]as Fernsehen ist die Gewissheit, dass die Leute nicht mehr miteinander reden, dass sie angesichts einer Rede ohne Antwort endgültig isoliert sind" (Baudrillard 1978b: 94 - Hervorh. im Orig.). In Erwiderung der Fernsehkritik Enzensbergers erteilt Baudrillard der Möglichkeit „der Beziehung und des Austauschs" durch den Fernsehapparat eine Absage, schließlich sei diese Möglichkeit nicht besser oder schlechter als bei einem Eisschrank oder Toaster (ebd.: 94). Durch die massenmediale Sättigung des öffentlichen Lebens sei der Austausch verlustig gegangen. Eine tatsächliche Mittlerposition laufe dem Wesen des Fernsehens zuwider. Daher plädiert Baudrillard für eine Überwindung der Massenmedien und Rückwendung zu den „wahren revolutionären Medien" (vgl. ebd.: 100), die er im Freiraum Straße erkennt, auf der sich Menschen mithilfe der „ephemeren und sterblichen Rede" (ebd.: 101) austauschen, gegenseitig stimulieren und Botschaften gleichsam generieren und vermitteln: „Wird sie institutionalisiert durch Reproduktion und zum Spektakel durch die Medien, muss sie krepieren" (ebd.). Baudrillard wünscht sich den im eigentlichen Sinne des Wortes persönlichen zwischenmenschlichen Austausch zurück, der in unmittelbarem Mit- oder Gegeneinander, aber garantiert von Angesicht zu Angesicht ein „simultane [s] Antwort [en]" ermöglicht (ebd.: 111). Die von Enzensberger propagierte aktive Sendetätigkeit eines jeden Mediennutzers in einem emanzipatorischen Fernsehmodell (welches ja bereits in gewandelter Form durch die Möglichkeiten der Internet-Videographie in die Praxis umgesetzt wurde) ist für Baudrillard dagegen nicht verhandelbar, da damit die Hegemonie der televisionären Simulation nicht durchbrochen werde, sondern in einem „personalisierte [n] Dilettantismus" münde, der das System der Massenmedien nicht in Frage stelle. Doch genau das sei notwendig; denn: ,,[I]n einer symbolischen Tauschbeziehung gibt es simultane Antwort, es gibt auf beiden Seiten weder Sender noch Empfänger von Botschaften, es gibt auch keine .Botschaft' mehr, also kein in eindeutiger Weise unter der Ägide des Codes zu entzifferndes Informationskorpus. Das Symbolische besteht eben darin, mit dieser Eindeutigkeit der .Botschaft' zu brechen, die Ambivalenz des Sinns wiederherzustellen und im gleichen Zug die Instanz des Codes zu liquidieren" (ebd.: 111). Baudrillards Forderung nicht der Reformierung des Fernsehens, sondern seiner Abschaffung ist zweifellos radikal. Sein Streben nach authentischer Face-to-Face-Kommunikation propagiert die Ausschließlichkeit des kommunikativen, gelebten Gedächtnisses nach der Welzerschen und Assmannschen Konzeption. Dass massenmediale Kommunikation als Einwegkommunikation in Baudrillards Sinne Nicht-Kommunikation darstellt, da keine Reziprozität des Gesprochenen und der jeweiligen Entgegnungen zwischen gleichwertigen Kommunikatoren gewährleistet ist, stellt die organische Qualität der Wissensvermittlung durch das Fernsehen ebenso in Frage wie die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens als Medium. Individuelle Erinnerungen, kulturell bedeutendes Wissen, die Gesellschaft an sich ist nach dieser Argumentation der Ubiquität des massenmedialen simulativen Codes unterworfen: Wenn alles nur noch Simulation ist und die Grenzen

262

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

zwischen Fiktion und Realität verschwimmen, dann wird auch das Gedächtnis durch die Erinnerung an Simulationen selbst hyperreal. Baudrillards Überlegungen lenken in ihrer Radikalität den Blick auf zahlreiche Programmphänomene des Fernsehens, darunter beispielsweise auf den erinnerungsinduzierenden Charakter von Medienereignissen, auf inszenatorische Starkulte, auf parasoziale Beziehungen usf. - und auf die Frage, welche Formen Erinnerungen an massenmediale Simulationen (bzw. Illusionen) annehmen. 6.1.4. Ein Kompromiss zwischen den Extremen: Die Genese der

Fernsehwirklichkeit

Was tatsächlich geschieht, wie .korrekte' Wirklichkeit audiovisuell wahrnehmbar ist, kann das Fernsehen nicht beantworten, ist dies doch eine metaphysische Frage, welche die Fähigkeiten der elektronischen Übertragung von Audiovisionen übersteigt (Schulz 1976: 27). Nichtsdestotrotz sieht Kracauer in der kameratechnischen Aufnahme das Potenzial zur Abbildung von .Realität' und betont die erfahrungsvertiefenden Eigenschaften der audiovisuellen Vermittlung durch Medien für den in seiner Wahrnehmung örtlich, zeitlich und kognitiv beschränkten Menschen. Worin Baudrillard dagegen die Simulation der Welt begründet sieht, ist eben diese semiotische Übersetzung der .objektiven Realität in audiovisuelle Zeichen, also die Mediatisierung der Erfahrung von Welt. Die evolutionäre Erkenntnistheorie besagt, dass sich der menschliche Erfahrungsbereich eng an der wahrgenommenen (biologischen, sozialen, technischen, etc.) Umwelt orientiert, die daraus gewonnene Erkenntnis aber immer Vermutungswissen bleibt (Popper 1973: 25). Obgleich die kognitiv eingeschränkten Wahrnehmungsstrukturen durch technische Hilfsmittel erweitert werden können, stellt die Realitätserkenntnis immer eine hypothetische Annäherung an die Wirklichkeit dar, die in ihrem ontologischen Charakter mit wissenschaftlichen Mitteln nicht zu fassen, also weder zu falsifizieren, noch zu verifizieren ist (Schulz 1976: 29). Es ist nur möglich, sich einer .objektiven Realität anzunähern, die durch ein Wunschbild, das auf einem intersubjektiv geteilten Konsens beruht, konstruiert wird, also durch die gesellschaftliche Norm der Wirklichkeitsauffassung (vgl. ebd.: 27-28). Bei der positiven Beurteilung des Realitätsgrades wird durch den Vergleich mit der .realen Welt eine Ähnlichkeitsvermutung aufgestellt, die auf dem „Passungscharakter" der menschlichen Wahrnehmung an die Umwelt beruht: „Die Gesetze der Evolution besagen, dass nur überlebt, wer hinreichend angepasst ist" (Vollmer 1975: 103). Realismus ist zu verstehen als zentraler Bestandteil des Alltagsverstandes, der die lebenswichtige Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit zu leisten verspricht, um das individuelle wie soziale Handeln mit den Umweltgegebenheiten in Relation zu bringen und damit handlungsfähig zu bleiben (vgl. Popper 1973: 49). Popper stellt heraus, dass auch Erscheinungen einen Wirklichkeitsgehalt haben und differenziert somit zwischen einer Oberflächen- und einer Tiefenwirklichkeit (ebd.). Je tiefer der Eindruck ist, es handele sich um ein Abbild der Realität, desto weniger widerspricht das Bild den subjektiven und intersubjektiv objektivierten Vorstellungen von Realität. Subjektive Erkenntnis kann weder echt noch unverfälscht noch rein subjektiv sein, da sie auf der nicht verallgemeinerungsfähigen Beschaffenheit des jeweiligen Individuums

III. 6. Die Glaubwürdigkeit

des Fernsehens

263

beruht, das in einen komplexen Entwicklungszusammenhang mit organischen, physikalischen und sozialen Determinanten eingebunden ist. Objektive Erkenntnis dagegen als logisches Korrelat der subjektiven Erkenntnis kann sehr wohl wahr oder falsch sein, da sie - als wissenschaftliche Theorie beispielsweise, welche eingehend diskutiert und akzeptiert wurde - die wesentliche Orientierungsgrundlage für das Selbstbewusstsein des Menschen bildet (vgl. ebd.: 87-88). Die Realitätswahrnehmung hängt also davon ab, wie das subjektive persönliche Erkenntniswissen über die Welt konstruiert wurde und im unablässigen Fortlauf weiterhin ergänzt, bestätigt oder korrigiert wird. Dies geschieht im Regelfall unter den Bedingungen des ,„naive[n]' Realismus des common sense" (Willaschek 2005: 762), also unter der Annahme des Individuums, dass die es umgebende Realität etwas objektiv Gegebenes darstellt, das unabhängig von Denken und Sprache existiert (ebd.: 772). Entscheidend ist dabei, welchen Zugang das Individuum zu dieser .objektiven Realität hat. Hier spielen Faktoren wie der Bildungsstand, persönliche Interessen, aber allen voran die Art und Weise der Mediennutzung eine Rolle; denn - und es schadet nicht, hier ein weiteres Mal Niklas Luhmann zu Wort kommen zu lassen: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien" (Luhmann 2004: 9). Längst nicht alles, so muss korrigierend angemerkt werden, erfährt der Mensch aus den Massenmedien, geschweige denn aus dem Fernsehen: Nicht alles, sondern allenfalls ein geringer Anteil unseres Wissens über die Welt, in der wir leben, wird von den Massenmedien gespeist. Jo Reichertz betont: „Das meiste davon haben wir von unseren Mitmenschen oder unseren Begegnungen mit der Welt gelernt: wir haben es gehört, gesehen, gerochen, gespürt, gefühlt und (was für Wissenschaftler besonders wichtig ist): wir haben es erkannt. [...] Medien sind nicht (und schon gar nicht die Massenmedien) die Quelle des Wissens, sondern ein Lager und ein Transportmittel für besondere Formen des Speziai-Wissens. Das gilt auch und vor allem für das Fernsehen. Es zeigt nur - wenn auch viel" (Reichertz 2007a: 147-148). Zu einem wesentlichen Teil sind es Sozialisationsinstanzen wie die Schule und die Familie und auch im weiteren Lebenslauf vor allem unmediatisierte Erfahrungen in konkreter körperlicher Auseinandersetzung mit der dinghaften Umwelt, aus dem sich die Erfahrung eines Menschen speist. Nichtsdestotrotz kann als zutreffend gelten, dass die gesellschaftliche Rezeption von Realität zu einem erheblichen Teil (auch) durch organisierte Massenkommunikation vermittelt wird, in erster Linie im Hinblick auf Entitäten, die außerhalb des direkten Erfahrungsradius des Individuums liegen (Böckelmann 1975: 49). In Ermangelung von genuinen Direkterfahrungen bedient sich das Individuum Medien wie zum Beispiel des Fernsehens als „Erfahrungssurrogate" (Siegert 2005: 59), um äquivalente Erfahrungen zu sammeln. Das Fernsehen schweigt sich über seine vielfältigen Annäherungsformen an die .objektive' Realität, sie entweder abbilden zu wollen oder sich so weit wie möglich von ihr zu distanzieren, nicht aus, sondern stellt sie selbstbewusst als seine beispiellose Eigentümlichkeit zur Schau:

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens „Das Fernsehen ist so realistisch, noch die Grenzen eines naiven Realismus stets mitzukommunizieren. Jeder weiß: Das Fernsehen könnte in anderer Perspektive, anderen Ausschnitten und anderer Präsentationsform auch anderes, Wichtigeres, weniger Ordinäres, Tiefsinnigeres bringen als das, was ich gerade sehe. Doch noch dies, nämlich stets anders zu sein und anderes zu bringen, leistet das Fernsehen ja. Man braucht nur zu zappen, um das zu erfahren.,Kulturzeit' oder ,Sportstudio', ein schwachsinniges, teuer über Telefonkosten finanziertes Rätselspiel oder Iphigenie auf dem Theaterkanal, das .Wort zum Sonntag' oder ,Wer wird Millionär?', hinter einem Ball herrennende Männer oder ein erotischer Spielfilm, eine Pressekonferenz oder Börsenkurse, der Wetterbericht oder eine Talkshow, Menschen im Container oder die Reportage aus dem Frauengefängnis: All dies und vieles mehr bringt das Fernsehen, und all das gibt es wirklich. [...] Man muss kein theoretisch versierter Konstruktivist, sondern eben nur fernsehender Zeitgenosse sein, um zumindest eine Ahnung davon zu entwickeln, dass Realität sich so oder anders erfahren, konstruieren und inszenieren lässt. Und eben dies führt das Fernsehen realistisch vor" (Hörisch 2005: 984-985).

Es ist freilich unbestreitbar, dass Fernsehinhalte etwas darstellen bzw. an etwas anknüpfen, das es konkret oder im übertragenen Sinne wirklich gibt, sonst wären sie für die Zuschauer nicht verständlich. Doch ist die Vermittlung dieser Mannigfaltigkeit wirklicher Dinge, Personen u n d Begebenheiten im direkten Vergleich mit ihren natürlichen Formen notgedrungen verzerrt, weil sich die mediale Darstellung nach technischen, ästhetischen u n d ideologischen Determinanten u n d Selektionskriterien richtet. Fernsehen war u n d ist dabei immer ein Medium seiner Zeit: Die verfügbare Technik, die dominante Ästhetik u n d die herrschende Ideologie in den 1950er Jahren unterschieden sich ebenso wie die Lebensart von ihren jeweiligen Entsprechungen im f r ü h e n 21. Jahrhundert. Wahrend in der Frühzeit Schwarzweiß-Bilder, Live-Übertragungen von Schauspielen u n d ein konservatives Familienideal die Realität der Massenmedien prägten, sind es heute lebensnahe Audiovisionen in High Definition, in ihrem Detailreichtum so hochauflösend wie das echte Leben, das der Zuschauer vor der Haustür auch in direkter Erfahrung (mit Aug u n d Ohr) wahrnehmen könnte. So sehr das Fernsehen den sozialen Wandel begleitete, brach es im Laufe der Jahrzehnte in seinen fiktionalen u n d non-fiktionalen Sendungen auch reihenweise Tabus bei der Darstellung von Realität. Sexualisierung, Fäkalisierung, Folter oder Bilder von Leichen: Mittlerweile gibt es nur noch wenige Grenzbereiche, die im Fernsehen ausgespart werden. Selbst ethisch fragwürdige Extremfälle wie die Ermordung von Geiseln in Krisenregionen wurden bereits von Fernsehanstalten auch einiger europäischer Staaten ausgestrahlt. Demgegenüber steht der moralische Aufschrei der US-amerikanischen Medienöffentlichkeit über die halbnackte Brust der Popsängerin Janet Jackson, die (versehentlich durch eine „wardrobe malfunction" oder mit Kalkül) während eines Auftrittes im Rahmenprogramm des Sportereignisses „Super Bowl" im Jahre 2004 einen Moment lang für ca. 90 Millionen Zuschauer live zu sehen war u n d als ein derartig verheerender Verstoß gegen das Realitätsempfinden des Publikums gewertet wurde, dass Live-Über-

III.6. Die Glaubwürdigkeit

des

Fernsehens

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tragungen ab sofort mit einigen Sekunden Verzögerung gesendet wurden (vgl. Fallow 2004).84 Die technische Aufnahme-, Übertragungs- und Empfangsstruktur des Fernsehens lässt zwischen Zuschauer und Objekt jegliche Distanz verschwinden (Marchai 2005:241-242). Fernsehen macht die Welt transparent, weit transparenter noch als der Film, seit sich die ubiquitäre Omnipräsenz der Television mit kinematographischer Bildpräzision verband. Es vermehrt die Kenntnisse des Zuschauers über Vorgänge, die ihm ansonsten versperrt bleiben würden und vergrößert den Umfang dessen, was der Mensch über die Welt weiß (vgl. Früh 1994: 62). Aber zu welchem Preis? Fernsehdarstellungen sind immer perspektivisch-selektiv, da sie zur Gesamtdarstellung aller zu einem bestimmten Zeitpunkt wahrnehmbaren Aspekte technologisch nicht imstande sind (ebd.: 57), und bleiben in ihren Präsentationen der „Kristallisationspunkte des Geschehens" (ebd.: 67) immer ausschnitthaft, zweidimensional und stimulieren den Zuschauer immer nur bisensual. Wie der Medienwissenschaftler Heinz Buddemeier in seiner Beschäftigung mit Illusions- und Manipulationswirkungen von Film und Fernsehen herausgestrichen hat, unterscheidet sich die Rezeptionssituation audiovisueller Medieninhalte entscheidend von der natürlichen Wahrnehmung der Umwelt: Die ganzheitliche Aktivierung körpereigener Sinne wird beim Fernsehen ersetzt durch ein bloßes Starren auf ein fest umrissenes Blickfeld, in dem sich die medialen Bewegungsbilder abspielen (Buddemeier 1987: 38-39). Mit dem Fernsehen begann „eine neue Geschichte der Wahrnehmung" (Kreimeier 1996a: 307), das Wahrnehmungsfeld wurde für den Einzelnen in den engen Bildschirmgrenzen „auf Weltformat" erweitert (Gumbrecht 1988: 245). Es gehört mittlerweile weltweit zur Kulturpraxis, Geschehnisse televisuell, also aus einer Remote-Umgebung wahrzunehmen. Gumbrecht spricht diesbezüglich von einer „Vorzugsrealität", die das Fernsehen darstelle (ebd.: 249). Die individuelle Aneignung des Fernsehens als Realitätsvergewisserungsmaßname ist daher abhängig vom kulturellen Gewöhnungsgrad und dem individuellen Habitualisierungsfaktor: Je .gängiger' es in einer Kultur ist, sich die Welt (bzw. fiktionale Welten) per Fernsehschaltung in den unmittelbaren Wahrnehmungsbereich zu holen, desto grundlegender sind die Auswirkungen auf die persönlichen Wirklichkeitskonstruktionen in Bezug auf diese Welt(en) sowie in Rückbezug auch auf die eigene Lebenswelt. Der Zuschauer sieht nur das, was ihm der Sender zeigen möchte: „Statt des realen Geschehens bekommt der Zuschauer ein synthetisches Produkt zu sehen. [...] Was außerhalb des Bildausschnitts passiert [...], bleibt außerhalb der Sicht der Fernsehzuschauer" (Kreimeier 1997: 57). Durch die ausschnitthafte Fokussierung des Kamerablickes müssen die Fernsehbilder in ihrer Unvollständigkeit vom Zuschauer vervollständigt werden: Ein Großteil der Fernseherfahrung geschieht also im Kopf des Nutzers, wo per Imagination der Bildkontext komplettiert wird.

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Diese „Unanständigkeitsregulierung" soll ein Eingreifen der Sendeverantwortlichen möglich machen, welche die Übertragung unterbrechen können, sollte sich das dargebotene Geschehen als, gemessen an den herrschenden Moralvorstellungen, zu unanständig erweisen (vgl. Rooder 2005).

266

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Und doch beansprucht der televisuell übertragene Realitätseindruck weniger intellektuelle Ressourcen seiner Zuschauer als beispielsweise eine Schriftaufzeichnung, die viel höhere Abstraktionsgrade erreicht und die Imaginationskraft des Rezipienten viel stärker fordert. Der Kommunikations- und Medienwissenschaftler Werner Früh betont, dass jede Form von Realitätswahrnehmung nur ein Konstrukt sei, und es daher keine unverzerrte Realität geben könne (Früh 1994: 58). Gleichwohl verzerrt das Fernsehen die Realität insofern, als dass es jene Realität, welche wahrzunehmen wäre, sollte der Zuschauer persönlich am Ort des Geschehens sein, durch die Mediatisierung in einer Weise determiniert, dass die Aufmerksamkeit des Zuschauer gelenkt und die ganzheitliche Erfahrung einer Situation verhindert wird: Dies geschieht nicht allein durch die Perspektive, die von der bzw. den Kameras eingenommen wird, sondern auch durch Kommentierung, Dramaturgie, kurz: inszenatorische Maßnahmen. Jede überindividuelle Vorauswahl des zur Wahrnehmung zur Verfügung stehenden Materials stellt eine Beschränkung derselben und eine Lenkung dar. Fernsehen fabriziert Realität nach eigenen Regeln und bezieht diese Realität nicht mehr (allein) aus der Vermittlung fernsehunabhängiger kultureller Inhalte, sondern durch die Konstitution einer medium-eigenen Fernsehwirklichkeit, die sich kaum noch von der Alltagswirklichkeit seiner Nutzer unterscheidet (Gumbrecht 1988:243). Die Grenze zwischen der Wirklichkeit der Alltagswelt und der massenmedialen Wirklichkeit verwischte mit der rasch ansteigenden Nutzungsdauer und -intensität über die Jahrzehnte immer mehr, so dass es bald keine Hierarchie in der Unterscheidung der verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen mehr geben konnte, sondern Privatsphäre und Fernsehgeschehen eine enge Symbiose eingehen konnten (vgl. ebd.: 247). Zuvor war mediales Geschehen, der Gang ins Kino oder ins Theater, als klar unterscheidbare Provinz, als Enklave in der Realitätswahrnehmung abgegrenzt. Berger und Luckmann zeigen am Beispiel des Theaters, wie die Zuschauer stets zwischen künstlicher und natürlicher Wirklichkeit, zwischen dem Geschehen auf der Bühne und im persönlichen Leben unterscheiden können, indem sich der Vorhang hebt und wieder fällt und dadurch der Ein- bzw. Ausstieg aus der Wirklichkeit des jeweiligen Stückes ermöglicht wird (Berger/Luckmann 1980: 28). Durch die Integration des Fernsehens in den Alltag des Rezipienten indes verschwand diese klare Grenze zwischen Fernseh- und Alltagswirklichkeit zunehmend, wodurch der Nutzer anfälliger für eine Verquickung von Realität und Fiktion wird. Abhängig ist diese Fähigkeit zur Differenzierung von der Erkennbarkeit medialer Inszenierung, die jeglichen Programminhalt bestimmt und gerade daher leicht in den Hintergrund des Verstehensprozesses rückt. Das epistemologische Dilemma der Audiovisionswahrnehmung ist deren latenter Faktizitätsanschein, der leicht als .objekte' Realität missverstanden werden kann, weil die „in die Darstellung eingeschriebenen Entscheidungen im Produkt selber nicht mehr sichtbar sind" (Wintsch 2006: 428): „Zwar scheinen die Fernsehbilder die Authentizität der alltäglichen visuellen Wahrnehmung-als ... zu simulieren; aber nur, weil der Beobachter und seine Beobachtungs- wie Transmissionsinstrumente unsichtbar gemacht werden, weil Selektion

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

267

und Formgebung ausgeblendet sind und erst dem Beobachter zweiter Ordnung beobachtbar werden.,Medienrealität' ist allemal eine Konstruktion unter höchst voraussetzungsreichen operativen Bedingungen; und zwar eine Konstruktion, die sich immer auf Kommunikation und auf andere Medienangebote bezieht und die wahrnehmungssteuernden Möglichkeiten der Materialitäten von Medien unsichtbar ins Spiel bringt" (Schmidt 1994b: 15). Fernsehwirklichkeit ist eine konstruierte „Zeichenwirklichkeit" (vgl. Schulz 1993: 20), die wie jeder Text kritisch gelesen werden muss: „Im Prinzip jedenfalls gleichen sich alle Medien in Beziehung auf Wahrnehmung: Sie sind Zeichenmittel zwischen Sachverhalten und Interpretanten, sie bewirken Wahrnehmungsurteile über Wahrnehmungsobjekte, die ohne diese Medien so nicht zugänglich wären" (Roesler 1999: 211). Wenn Medien Realität dokumentieren, können sie dies nur durch eine Übersetzung in die ihnen jeweils eigentümlichen Zeichen: In die Schrift des Buches oder der Zeitung, in die Sprache und Laute des Radios, in den digitalen Code des Internets oder eben in die Audiovision des Fernsehens. Zeichen sind nach Eco eine „gesellschaftliche Kraft" und kein bloßes Hilfsmittel zur Widerspiegelung der gesellschaftlichen Kräfte (Eco 1977:189). Das Bewegtbild ist dabei in seiner visuellen Prägnanz eine außerordentlich wirklichkeitsnahe Kraft: „Schon im Schwarzweiß-Bild kommt der Eindruck von Wirklichkeit durch die Lükkenlosigkeit der tonalen Abstufung des Schwarzweiß zustande, die keine distinkten Unterschiede zwischen dem einen als Zeichen und dem anderen als Nicht-Zeichen zulassen, sondern die diese Miteinander in einen unauflösbaren Zusammenhang bringen: Figur und Raum gehen geradezu ineinander über, bilden eine Einheit. Noch mehr geschieht dies im Farbbild, in dem es nicht mehr nur um Helligkeitsstufen, sondern um Farbtöne in einer ineinander greifenden Vielfalt von Valeurs geht" (Hikkethier 2007a: 42). Angesichts der hohen Bedeutung der televisuellen Zeichen für die gesellschaftliche Verständigung und die individuelle Lebenswelt, ist die Entlarvung ihrer Hintergründe, das Erkennen ihrer Ambivalenz, die allzu oft dem Schein einer alleingültigen Wahrheit unterliegt, umso schwieriger, aber auch umso notwendiger. Dennoch hält Spangenberg die Frage, ob das Fernsehen Realität abbilde oder sie kreiere, wegen der kaum noch zu treffenden Unterscheidung für irrelevant (Spangenberg 1994: 121). Durch die Verschmelzung von digitaler Computer- und Fernsehtechnologie wurde selbst die Erschaffung komplexer virtueller Realitäten praktikabel, die sich nicht allein auf die vollständig künstliche Generierung von realitätsnahen Animationen beschränkt, sondern auch die Manipulation von realitätsgetreuen Bild- und Tonaufnahmen ermöglicht (dazu näher Kapitel III.6.2.3.). Klaus Kreimeier hat das zu einer pessimistischen Folgerung hinsichtlich der Realitätstreue medialer Audiovisionen angestiftet: „Die Bilder sind, aber sie bilden nicht mehr ab. Dass sie, sozusagen nebenbei, auch Realität abbilden können, ist nur noch eine beliebige und zufällige Funktion ihrer autonomen Existenz" (Kreimeier 1997: 58). Daher kommt es darauf an, wie genau die für den Rezipienten unzugängliche objektive Realität durch das Fernsehen - ob analog oder digital - repräsen-

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

tiert wird (Bentele 2005: 138) und ob sich die Fernsehwirklichkeit mit ihren komplexen Voraussetzungen und Konstruktionseinflüssen noch als solche zu erkennen gibt; denn das eigentliche Skandalon, so der Kunsthistoriker Christian Demand, bestand bereits im vordigitalen Zeitalter darin, dass „das Medium einerseits die Realität durch Zeichen substituiert, der Unterschied zwischen beiden Sphären andererseits aber durch die suggestive Wirkung dieser Zeichen methodisch verwischt" (Demand 2005: 974). Damit unterscheidet es sich diametral von anderen Medien wie dem Buch, der Zeitung, selbst dem Radio, da es seine Rezipienten wie kein zweites Medium Sachverhalte durch den bürgenden Authentizitätsschein der dynamischen Audiovision wiedererkennen lässt, was als pragmatischstes Kriterium für eine realistische Anmutung gelten kann (Hörisch 2005: 982): „The greater the capacity to bind messages to context, the greater the validation powers of the medium. Television appears most valid because statements made by its scources can be contextualized in the real places in which they were made" (Ericson/ Baranek/Chan 1991: 23). Vor allem der Live-Charakter des Fernsehens suggeriert automatisch den Eindruck von Authentizität, der nicht zwangsläufig mit der Echtheit der Bilder korrespondieren muss, sondern sich unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt auf ästhetischer und emotionaler Ebene einstellt. Letztlich ist es aber dem Realitätsglauben des Zuschauers überlassen, was für authentisch und was für falsch bzw. weltfremd gehalten wird, wodurch die Kopplung der Welterfahrung an den Fernsehschirm bei einer Vielzahl von Rezipienten die Auffassung gelten dürfte: „Wer kein Fernsehgerät besitzt, der kennt die Wirklichkeit nicht" (Schümer 1992). 6.1.5. „Seeing is Believing": Fernsehwirklichkeit im Auge des Zuschauers Fakt ist, dass die Fernsehtechnik eine dem tatsächlichen Erleben eines Geschehnisses in körperlichen Anwesenheit ähnliche Wahrnehmung verspricht, egal welcher Inhalt, ob Nachrichten oder Science-Fiction, kommuniziert wird: „Die Aufgabe der Bildübertragung im Fernsehen ist es, dem Beobachter am Wiedergabeort den gleichen Bildeindruck zu vermitteln, den er bei Betrachtung der Szene am Aufnahmeort haben würde" (Mahler 2005: 1). Es handelt sich bei der angestrebten Erfahrungswirklichkeit also um einen audiovisuellen Eindruck, ein subjektives Empfinden der Realität. Das trifft nicht allein auf non-fiktionale Inhalte zu, in denen ,echte' Menschen und ihre .echten Schicksale gezeigt werden. Fiktionale Formate entwickeln vor allem dadurch ihre Wirkung, weil ihre Erzählung ein Involvement, ein Gefühl des Beteiligtseins, ermöglicht und daher im engen Rahmen des fiktionalen Erlebens im Moment der emotionalen Verstrickung mit dem Fernsehinhalt für wahr gehalten wird. Ein lebensnaher Krimi, die mit alltäglichen wie banalen Problemen bestückte Seifenoper, eine Samstagabend-Show und nicht zuletzt Reality TV (vgl. Kapitel III.6.2.4.): Die audiovisuelle Authentizität des Fernsehens wurde zu einem Klischee (Conrad 1983: 132), das sich hartnäckig in den individuellen

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Femsehens

269

Wahrnehmungsstrukturen hält. Mit jedem Programmwechsel kann sich der Zuschauer in eine neue .Realität' versetzen. So potenziert sich die Fernsehwirklichkeit potenziell ins Unendliche (vgl. Hachmeister 1996: 7). Immer wenn das Fernsehen verspricht, Welt in all ihren Facetten noch realistischer ins Heim zu bringen, zeigen sich weite Zuschauerkreise zumeist empfänglich. Als der damalige Vize-Bundeskanzler Willy Brandt auf der Internationalen Funkausstellung im Jahr 1967 symbolisch den Startknopf für das Farbfernsehen drückte, fanden die entsprechenden Empfangsgeräte in den Folgejahren, als auch das Fernsehprogramm nach und nach auf Farbproduktionen umgestellt wurde und die Gerätepreise sanken, reißenden Absatz, näherte sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen damit doch zumindest visuell dem Farbspektrum der Lebenswirklichkeit der Zuschauer an. Knapp 40 Jahre später versprach die HDTV-Technik eine Bilddarstellung in bisher ungekannter Schärfe und Detailreichtum und sorgte anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland für einen Ansturm auf Flachbildfernseher (vgl. Hahn 2005a: 76). Der Erfolg von HDTV-Geräteverkäufen zeigte eindrucksvoll den Bedarf vieler Zuschauer an einem höheren televisuellen Illusionspotenzial: Die Zuschauer wollten .wirklich' dabei sein - wie im Stadion. Die Frage ist also, wie Spangenberg zur Debatte stellt, ob „ein medientrainiertes Bewusstsein auch die Gleichzeitigkeit der Telepräsenz, erzeugt durch die Bilder hochauflösender digitaler Maschinen wie Grafikcomputer und,Highdefinition TV', unterlaufen können wird, bzw. ob es dies überhaupt will" (Spangenberg 1994: 122). Zahlreiche Rezeptionsphänomene geben Grund zu der Annahme, dass der Zuschauer sich nur allzu gerne von der Fernsehwirklichkeit illusionieren lässt und sie - natürlich in unterschiedlicher Intensität - für wahr hält, um einen ungetrübten Fernsehgenuss zu ermöglichen. „Gerade weil die Weltdarstellungen, wie sie das Fernsehen vorgibt, sich im Bewusstsein der Zuschauerinnen und Zuschauer verankern, wie sie das Fernsehen vorgibt, lösen sich diese als Fernsehdarstellungen auf, verlieren ihren Charakter als Elemente einer medialen Bilderwelt - und sind deshalb in den Fernseherinnerungen kaum noch in Details vorhanden" (Hickethier 2007b: 68). Wie bereits eingangs am Beispiel der Krönungsfeierlichkeiten von Elizabeth II erwähnt, ist das Gefühl der Anwesenheit im Fernsehgeschehen trotz Gebundenheit an eine Remote-Umgebung ein wesentlicher Faktor für das Involvement des Zuschauers in den Fernsehinhalt. Diese sogenannte Telepräsenz, das Gefühl, trotz körperlicher Ferne präsent zu sein, kann sich bei jedwedem Sendeformat einstellen, ob es sich um eine LiveÜbertragung, einen Spielfilm oder eine historische Dokumentation mit Original- oder Spielszenen handelt. „,Being there' was always an important prompt to remembering, and cuts across the distinction of mediated and lifeworld memories" (Teer-Tomaselli 2006: 236). Die Medien- und Kommunikationswissenschaftler Taeyong Kim und Frank Biocca haben die besondere Bedeutung dieses intensiven Rezeptionsmodus für die Erinnerungsbildung herausgestellt (Kim/Biocca 1997). Sie unterscheiden zwischen einem „Arrival"- und einem „Departure"-Status: Während ersterer dadurch gekennzeichnet ist, dass der Rezipient zwar stark in das Fernsehgeschehen involviert ist und sich in der für

270

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

ihn virtuellen Umgebung präsent fühlt, beschreibt der letztgenannte Status die völlige psychische Loslösung von der Rezeptionsumgebung und ein imaginatives Eintauchen in die Fernsehwirklichkeit. Die Untersuchung der Auswirkungen beider Dimensionen von Telepräsenz auf die Erinnerungsqualität ergab einen signifikanten Unterschied: Aus dem „Being There"-Gefühl des „Arrival"-Zustandes allein resultieren keine intensiven Erinnerungen an die (Fernseh-) Erfahrung, da der Zuschauer noch stark an seine physische Umgebung gebunden und sich der Mediatisierung des Wahrgenommenen bewusst ist. Erst wenn sich ein „Being Not Here'-Gefühl einstellt, das mit dem „Departure"-Zustand verbunden ist, verschwindet der Eindruck der Medienvermittlung, und das Wahrgenommene erscheint als tatsächlich hautnah Erlebtes, wodurch der Zuschauer selbst zum Akteur innerhalb des Fernsehinhalts wird: „When this occurs they had better remember where they have been because they are no longer aware of the technology. Therefore, subjects experiencing the departure dimension of telepresence were able to deny that ,the television-generated world seemed to me only .something I saw' rather than,somewhere I visited'" (ebd.). Die erstaunliche Qualität der Fernsehrezeption als simulatives Vor-Ort-Erleben mit taktilen Referenzen hebt die Medienwahrnehmung unter dargestellten Umständen auf die gleiche Ebene wie unvermittelte Direkterfahrungen. Kims und Bioccas Untersuchungsergebnis, dass Telepräsenz bei vollkommener Verwischung der medialen Rahmungen eine stärkere erinnerungsbildende Kraft entfaltet, als wenn sich der Rezipient weiterhin über die Vermittlungsleistung des Fernsehens im Klaren ist, entsprechen der Feststellung, dass körperliches Eigenerleben durch multisensorische Wahrnehmung einen höhen erinnerungsbildenden Wert hat als auf auditive und visuelle Signale reduzierte Medien- bzw. Symbolisierungserfahrung.85 Natürlich gibt es individuelle und interessensgesteuerte Abstufungen in der Intensität, wie sehr sich Zuschauer in die Fernsehdarstellung hineinversetzen und sie teils sogar als Direkterfahrung wahrnehmen, und natürlich fühlen sich viele Rezipienten mittlerweile immun gegen die realistischen Wirkungen der Medieninhalte. Dass das Fernsehen aber generell einen zumindest moderaten Einfluss auf die Wirklichkeitskonstruktionen seiner Zuschauer hat, gilt als allgemein anerkannt und wurde mehrfach nachgewiesen (vgl. Übersicht in Busselle 2001). Jegliches Format kann je nach Zuschauer realistisch wirken, gleich welchen Inhalts eine Fernsehsendung ist. Wer als eingefleischter Fan die Fernsehauftritte der Beatles in der „Ed Sullivan Show" verfolgte, brauchte nicht körperlich vor Ort zu sein, um ob der augenscheinlichen Nähe zum Geschehen auf der Studiobühne in begeistertes Geschrei zu verfallen. Wer über George Carlins Einstiegsscherze in der ersten Episode der Comedy-Show „Saturday Night Live" (NBC) lachte, mag sich dem Moderator an jenem Samstagabend ebenso nah gefühlt haben wie das Publikum im Saal - oder sogar näher, da 85

Anke Abraham argumentiert, dass Körpererfahrung durch seine „Ankerfunktion" für Erinnerungen deren plastische Präsenz ermöglicht (Abraham 2002: 332). Fernsehen, so eindrucksvoll und lebensecht seine Inhalte auch erscheinen mögen, entbehrt jedoch durch seine technisch determinierte Bisensorik einer solchen Plastizität und kann diese nur suggerieren.

III.6. Die Glaubwürdigkeit

des

Fernsehens

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Carlin sich über die auf ihn gerichteten Kameras direkt an das Fernsehpublikum wandte. Am nachdrücklichsten zeigt sich die Realitätsgläubigkeit von Fernsehzuschauern an nur scheinbar spleenigen Irrtümern, wenn beispielsweise Zuschauer der „Lindenstraße" (ARD) oder der US-amerikanischen Politserie „The West Wing" (NBC) die Serienhandlungen und Seriencharaktere für authentisch hielten und bei direktem Kontakt von der wahren Existenz des Schauspielers, die natürlich gemeinhin nichts mit der Fernsehhandlung gemein hat, (zwangsläufig) enttäuscht wurden. 86 Auch wenn die Ursache für solche Irrtümer auf einen Mangel an Urteilskompetenz beim Zuschauer zurückgeführt werden kann (Roesler 1999: 217) oder in bestandhafter Form komplexe psychopathologische Störungen vermuten lassen (Schabedoth 1995: 157), weisen sie doch auch auf die enge Beziehung des Zuschauers zum Fernsehgeschehen hin, so facettenreich sich dieses darstellt. Auch unterstreicht es die Auffassung, dass Fernsehnutzer den Realitätsgehalt des Inhalts in der Regel nicht hinterfragen, es sei denn, sie werden (z.B. von der Wissenschaft oder den Medien selbst) dazu animiert, eine kritische Misstrauenshaltung gegenüber Fernsehinhalten zu entwickeln (Busselle/Ryabovolova/Wilson 2004: 372). Wenn nach Kracauer „erblicken" gleichsam „erfahren" heißt, setzt dies voraus, dass das Erblicken den Glauben an das Erblickte voraussetzt. Findet der Zuschauer in der Audiovision eine Entsprechung seiner Realitätskonstruktion? Erst wenn Glauben geschenkt, Vertrauen gefasst, für wahr gehalten wird, ist eine Repräsentation aneignungsfähig und erinnerungswürdig. Beispielsweise gelten Fernsehnachrichten in der Rezipientenschaft gemeinhin als vertrauenswürdiger, weil sie einen Vertrauensvorsprung genießen, der auf der Idee des „Seeing is Believing" (Collins 1990: 257-258) basiert: „Der Realitätsglaube gegenüber bildhafter Wahrnehmung - ihr ontologischer Schein - ist jedenfalls weiterhin sehr schwer zu hintergehen, weil in der visuellen Präsenz die Gleichzeitigkeit von Bewusstsein und Umwelt, die Anwesenheit in dieser Umwelt und die Authentizität der eigenen Erfahrung zu einer Einheit verschmelzen" (Spangenberg 1994: 123).

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Nach Auskunft von Wolfram Lotze vom 03.06.2008, Leiter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Geißendörfer Film- und Fernsehproduktion KG, welche die „Lindenstraße" produziert, gab es im Laufe der Seriengeschichte zahlreiche Verwechslungen von Fiktion und Realität: So wurde die Schauspielerin Irene Fischer im Alltag von Menschen auf der Straße verbal angegriffen, weil sie in ihrer Rolle als Anna Ziegler der Serienfigur Helga Beimer deren Mann Hans ausgespannt und damit die Scheidung des Ehepaars provoziert hatte. Darüber hinaus erreichen den Darsteller Ludwig Haas, der 23 Jahre lang den „Lindenstraßen"-Arzt Dr. Dressler verkörperte, regelmäßig Bitten um ärztliche Tipps. Im Falle der US-Serie „The West Wing" wiederum wurde der Darsteller Richard Schiff, der den Leiter der Kommunikationsabteilung des Weißen Hauses mimte, von Mitgliedern der Demokratischen Partei angesprochen, ob er für ein politisches Amt zur Verfügung stehe, weil sie ihn für einen erfahrenen Politiker hielten (Richard Schiff im persönlichen Gespräch mit dem Autor am 24.05.2005). Ob es sich bei den genannten Beispielen tatsächlich um eine Verwechslung von Fiktion und Realität gehandelt hat, kann zwar nicht als gesichert gelten, ist aber auch nicht auszuschließen.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Ob Live-Sendung oder Konserve: Das Fernsehbild wirkt gegenwärtig - „whatever the status of the material transmitted, the image as series of electric impulses is necessarily ,as it happens'" (Heath/Skirrow 1977: 53). Die Gegenwärtigkeit der Fernseherscheinung trägt wesentlich dazu bei, dass der Zuschauer die Charaktere auf dem Bildschirm als real akzeptiert und dadurch Empathie oder Sympathie für sie zu empfinden imstande ist. Eine empathische Beziehung basiert auf einer emotional kongruierenden Erwiderung einer Gefühlsäußerung durch einen Betrachter. Sympathie umfasst über ein (flüchtiges) Mitgefühl hinaus ernsthafte Anteilnahme, einschließlich einer loyalen Verhaltenskomponente (vgl. Chismar 1988: 257). Das Mitgefühl mit fremden oder auch vertrauten Menschen basiert auf einer „verkörperten Simulation", der wiederum eine neuronale Emotionsspiegelung zugrundeliegt, das heißt: Ein mimischer Gefühlsausdruck führt bei dem Betrachter zur Aktivierung derselben neuronalen Strukturen: „This shows that when we see the facial expression of someone else, and this perception leads us to experience a particular affective state, the others emotion is constituted, experienced and therefore directly understood by means of an embodied simulation producing a shared body state. It is the activation of a neural mechanism shared by the observer and the observed to enable direct experiential understanding" (Gallese 2007: 9). Obgleich die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen und in der Folge auch Sympathie für sie zu entwickeln, mit steigender räumlicher und zeitlicher Distanz stark abnimmt, ist das Fernsehen in der Lage, durch die Überwindung dieser räumlichen und zeitlichen Distanzen die „emphatische Kurzsichtigkeit" (Grau 2008: 35) zu beheben und ihr ein tiefes Einfühlungsvermögen auf Zuschauerseite entgegenzusetzen. Durch die direkte Kopplung von „Sprecher und Angesprochenem" durch das televisionale Bild stellt sich Verstehen, anders als bei der Rezeption abstrakter Schriftsprache, intuitiv ein, als befinde sich Zuschauer und Fernsehakteur im selben Raum: „Man versteht den anderen, meist ohne angeben zu können, weshalb man ihn verstanden hat - nicht nur, weil wir uns dabei erworbener und nicht mehr bewusster Deutungsroutinen bedienen, sondern vor allem, weil die Körper sich als Teil und Ausdruck einer bestimmten sozialen Praxis verstehen" (Reichertz 2007b: 301). Empathie entsteht daher eher bei audiovisuellen Medieninhalten als bei solchen, deren Zeichencode sich wie zum Beispiel im Falle der Schrift dem Rezipienten komplizierter darstellt. Ausschlaggebend ist, wie nah die Darstellung durch ein Medium der multisensorischen Direkterfahrung des Menschen kommt: Auch wenn ein audiovisuelles Medium wie das Fernsehen zwar Gleichzeitigkeit in Ton und Bild bieten kann, entbehrt es doch die olfaktorischen und taktilen Qualitäten der Naturerfahrung. Nichtsdestotrotz macht es im Medienvergleich einen großen Unterschied, ob etwas gesehen und gehört oder nur gehört, nur gesehen oder nur gelesen wird. Das Fernsehen erweist sich damit schon wahrnehmungstheoretisch als die wichtigste mediale Emotionsagentur seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die den Bedarf der Menschen an emotionalen Stimulanzien sowie emotionaler Steuerung „im Rahmen ihrer Modellierung als Subjekte"

III.6. Die Glaubwürdigkeit

des

Fernsehens

273

sowie zur „Synchronisation ihrer emotionalen Dispositionen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen" befriedigen (Hickethier 2007c: 118-119). Die spezifische Fernsehwirklichkeit muss vom Rezipienten jedoch immer in die eigene(n) Vorstellung(en) von Realität „rückübersetzt" bzw. „umgearbeitet" werden, um ihrer habhaft zu werden (vgl. Früh 1994: 67-68). Die persönliche Lebenswelt des Zuschauers dient als Bezugsgröße, um den Wirklichkeitsbezug des Inhaltes zu beurteilen (KepplingerMathias/Tullius 1995: 141). Selbst scheinbar vollkommen realitätsfremde Fiktionen können so auf die eigene Lebenswelt bezogen werden: „Indeed, being able to see beyond the atypical to the typical may help people make sense of stories across a wide variety of genres. It is this mixture of typical and atypical elements that allows people to talk about nonexistent creatures or characters as realistic in some way. Klingons on Star Trek eat, love, fight, die, play poker, and have personalities that may be reminiscent of someone familiar" (Shapiro/Chock 2003: 168).

Doch auch die von Baudrillard diagnostizierte Hyperrealität des Fernsehinhalts, der mit Zoom, Zeitlupe, Rückblende, Split-Screen, Hintergrundinformation, Querverweisen, usf. die Welt umfassender, detaillierter, deutlicher und interpolierter darstellen bzw. .simulieren kann, als der Zuschauer sie jemals in persona selbst zu Gesicht bekommen könnte, mag ihr Potenzial des erweiterten Wahrnehmungsspektrums nur entfalten, wenn der Fernsehnutzer sie zu den Bedingungen seiner Realitätsauffassung verstehen und einzuordnen vermag. Geprägt wird dieser Transformationsprozess zwischen der medialen Wirklichkeit und der individuellen Lebenswirklichkeit des Zuschauers durch ein „emotionales Band" zwischen technisch-apparativer Audiovision und ihrem Rezipienten (vgl. Hickethier 2007c: 121). Audiovisuell vermittelte, erzeugte oder beförderte Emotionen sind auch die Grundlage für ein interessengesteuertes Attachement des Zuschauers zu bestimmten Personen87 im Fernsehprogramm. Donald Horton und Richard Wohl gingen ebenfalls von einem „intimen Band" zwischen Zuschauer und Fernsehinhalt aus, als sie mit ihrem wegweisenden Aufsatz „Mass Communication and Para-Social Interaction" (Horton/Wohl 1956) einen Begriff einführten, der es im Verlauf der Rezeptionsforschung der Folgejahrzehnte zu ungeahnter Popularität brachte.88 Unter „para-sozialer Interaktion" verstanden sie eine „seeming face-to-face relationship between spectator and performer" (ebd.: 215). Horton und Wohl nannten als Gründe für diese scheinbar reale Beziehung des Zuschauers zu Fernsehcharakteren die nuancenreiche und lebensechte Darstellung ihrer Erscheinung und die Angewohnheit von Moderatoren, den Rezipienten direkt anzusprechen, als gäbe 87

88

Wie jeglicher Fernsehinhalt handelt es sich auch bei Personen im Fernsehprogramm um „allgemeinverständliche Zeichen" (Keppler 1996: 17), welche von den Zuschauern z.B. als Identifikationsfiguren gelesen werden können. Zunächst blieb die Theorie der para-sozialen Interaktion weitgehend unbeachtet, bis die Kommunikationswissenschaft in den 1980er Jahren das Konzept für sich entdeckte und weiterentwickelte (Giles 2002: 280; vgl. auch Hagen 2010).

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

es tatsächlich eine Konversation. Dies zeigt bereits das eklatante Ungleichgewicht der para-sozialen Verbindung zwischen Fernsehperson und Zuschauer: Während der Moderator, Sprecher oder Schauspieler trotz suggerierter Intimität zu einem Millionenpublikum spricht, das er weder überblicken noch in seiner Vielschichtigkeit auch nur annähernd adäquat adressieren kann, hat der Fernsehnutzer das Gefühl, dass die Frau, der Mann oder das Kind im Fernsehen direkt zu ihnen spricht. Das sensibel austarierte Mittelmaß der mit Ziel der Massenakzeptanz homogenisierten Fernsehbotschaft trifft auf die individuellen Eigenheiten und Erwartungen des Rezipienten. Dass es unter diesen Bedingungen überhaupt zu einer gefühlten Nähe kommen kann, erscheint in dem Wissen der Realitätsfremde einer solchen Beziehung zweifellos paradox. Aus Sicht des Zuschauers aber macht eine solch para-soziale Interaktion aus vielerlei Gründen Sinn, ist sie doch trotz ihrer Einseitigkeit real und kann dabei helfen, soziales Handeln gefahrlos auszuprobieren und zu lernen (Mikos 1994: 87). Dadurch erfolgt eine Vergewisserung des Selbst im sozialen Kontext als Ergebnis der Erprobung interpersonalen Kontakts am simulativen Beispiel des vorgegebenen Programminhalts. Vor allem Kinder sind bei ihrer Sozialisation angewiesen auf die Beobachtung und Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld, wobei das Fernsehen als para-soziales Übungsfeld benutzt werden kann, weil es Kindern Einblicke in die Welt der Erwachsenen, ihres Denkens, ihres Fühlens und ihres Verhaltens gewährt, die ihnen in ihrem Lebensumfeld üblicherweise versperrt bleiben: „Wenn sie dann andere als intentionale Akteure wie sich selbst verstehen, beginnt sich eine ganz neue Welt intersubjektiv geteilter Wirklichkeit für sie zu öffnen. Eine Welt, die von materiellen und symbolischen Artefakten und von sozialen Praktiken bevölkert ist, die Angehörige ihrer Kultur sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart für den Gebrauch anderer geschaffen haben. Um diese Artefakte gemäß ihrem intendierten Zweck verwenden zu können und um an diesen sozialen Praktiken gemäß ihrer intendierten Bedeutung teilhaben zu können, müssen Kinder in der Lage sein, sich an die Stelle der erwachsenen Benutzer und Teilhaber zu versetzen, die sie beobachten" (Tomasello 2006:121). Die para-soziale Interaktion mit Fernsehcharakteren weist zahlreiche Übereinstimmungen mit der sozialen Interaktion auf, indem sie unter anderem gegenseitige Akzeptanz voraussetzt und nach bestimmten kommunikativen Mechanismen erfolgt, welche den flexiblen Rollenwechsel durch Identifikation ebenso miteinschließen wie die Determinierung des Austauschs durch die jeweiligen medialen und im Rückschluss dazu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: „The acceptance by the audience of the role offered by the program involves acceptance of the explicit and implicit terms which define the situation and the action to be carried out in the program. Unless the spectator understands these terms, the role performances of the participants are meaningless to him; and unless he accepts them, he cannot enter into' the performance himself. But beyond this, the spectator must be able to play the part demanded of him; and this raises the question of the compati-

III.6. Die Glaubwürdigkeit

des Fernsehens

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bility between his normal self - as a system of role-patterns and self-conceptions with their implicated norms and values - and the kind of self postulated by the program schema and the actions of the persona. In short, one may conjecture that the probability of rejection of the proffered role will be greater the less closely the spectator 'fits' the role prescription" (Horton/Wohl 1956: 220). Die Interaktionen des Zuschauers mit Fernsehinhalten können in ihrer wandelbaren Intensität dieselbe Qualität erreichen wie unvermittelte Formen der interpersonalen Kommunikation. Ein Moderator kann zwar nicht zu einem Freundesersatz, aber zumindest zu einem gern gesehenen Bekannten mit der Qualität eines „guten Nachbarn" (Gleich 1996: 140) werden, über dessen Wiedersehen auf dem Bildschirm man sich freut. Hier kommt die Überkreuzung zweier Rezeptionsmodi zum Tragen, die der Theaterwissenschaftler Uri Rapp als Illusion und Inlusion bezeichnet hat: Illusion als Identifikation mit dem Bühnengeschehen und Eintritt in dessen Scheinwirklichkeit; Inlusion als distanziertes Miterleben (Rapp 1973: 75-76). Mikos sieht in der Wechselbeziehung von emotionaler Nähe und kognitiv-reflektierter Distanz die Bedingung für eine sinnvolle Implementierung para-sozialer Interaktionserfahrungen in den Alltag des Mediennutzers: „Bedeutsam ist der Wechsel von Nähe und Distanz, von Illusion und Inlusion, der wesentliches Merkmal der .distanzierten Intimität' ist, die die parasoziale Interaktion kennzeichnet. Gerade an diesen Bruchstellen zwischen Nähe und Distanz wird für die Zuschauer Identitätsarbeit möglich, da sich hier der Wechsel von auf psychische Mechanismen gründender emotionaler Erlebnisweise in der Intimität des Mitliebens, Mitleidens und Mitlebens zu reflexiver Distanziertheit in der Beobachtung des anderen in der Abgrenzung zum eigenen Ich vollzieht" (Mikos 1994:202). Der Zuschauer muss also wohlbedacht zwischen analytischer Distanz und Involviertheit pendeln können, um die Identitätsarbeit aufzunehmen; und nicht selten begeben sich Rezipienten auf Identitätssuche im tiefen Fundus der bunten televisionalen Vielfalt. Während der para-sozialen Interaktion setzt er sich im Grunde vor allem mit sich selbst, seinen Bedürfnissen und Motiven auseinander, indem er sie auf den (realen oder fiktiven) Charakter im Fernsehen projiziert bzw. sich mit ihnen in der jeweiligen szenischen Bildschirmsituation auseinandersetzt (Charlton/Neumann 1986: 32). Durch diesen fließenden Übergang vom Sehen zur Imagination rückt der Charakter des Fernsehinhalts als Trigger der Zuschauerimagination in den Mittelpunkt, wobei es zu einer assoziativen Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Vorstellung, einer Überblendung kommen kann (vgl. Schwender 2006: 63). Die menschliche Vorstellungskraft kennt bekanntlich keine Grenzen, und auch wenn es sich dabei um eine Redensart handelt, wird dies doch dann anhand der Fernsehrezeption ersichtlich, wenn das Bildschirmgeschehen als Anlass genommen wird, eigene Denkinhalte oder Sehnsüchte mit den Fernsehinhalten zu korrelieren und dabei individuelle Identitätsentwürfe neu auszurichten, zu korrigieren oder zu bestätigen. Mithilfe des Fernsehens kann der Zuschauer also auch etwas über sich selbst lernen, wenn die dadurch animierte Imagination hilft, „to make unconscious thoughts and desires manifest in consciousness" (Kosslyn 1980: 456).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

„Für den Bürger der Moderne sind deshalb Fremd- und Selbstbild zur Identitätsbildung konstitutiv. Diese Bilder jedoch sind in hohem Maße gesellschaftlich geprägt, die individuelle symbolische Verarbeitung deshalb von vornherein abgeschnitten. In der Anpassung an soziale Normen rückt deshalb die Täuschung und Selbstinszenierung in den Vordergrund. Die seit dem frühen Bürgertum weit verbreitete Frage nach dem .Echten hat hier ihre Wurzel und lässt sich vor dem Hintergrund eines unsicher gewordenen Bildes verstehen" (Kleinspehn 1989: 319-320). Das Fernsehen wird somit zum Teil zu einem .Spiegel' der Rezipientenseele: Der Zuschauer sieht (vornehmlich) das, was er sehen will, nicht nur durch den Selektionsprozess auf programmlicher Ebene, sondern auch auf inhaltlicher Ebene, indem er grundsätzlich als aktiver Konstrukteur dessen handelt, was er sieht. Die Folgen selbst banal erscheinender Unterhaltungssendungen für die seelische Balance des Zuschauers und seine memorative Aneignung sind daher nicht zu unterschätzen (vgl. auch Kepplinger/Tullius 1995: 155-156). Fernsehinhalte werden auf diese Weise in das Selbstbild des Zuschauers integriert und nehmen einen festen oder dynamischen Platz in dessen autobiographischem Gedächtnis ein. Dies geschieht nicht in individueller Autonomie des Interpretationsprozesses, wie Mikos anmerkt, sondern unterliegt intersubjektiven Einflüssen, da jeder Rezipient in soziale Kontexte eingebunden ist und auf sozial und kulturell vorstrukturierte Wissensbestände und Erfahrungskontexte zugreift (Mikos 1994: 202-203).89 Kepplinger und Tullius haben ein Referenzsystem konzipiert, das die Analyse der Wirklichkeitsannahmen der Fernsehnutzer in Bezug auf fiktionale Inhalte ermöglicht: Liegt eine „Realitätstäuschung" vor, missversteht der Zuschauer einen fiktionalen Inhalt als eine Darstellung von Realität, wie eine Dokumentation sich ihr annähern würde. Beim „Realitätsspiel" lässt sich der Zuschauer bewusst auf die Realitätsillusion ein, zu der ein fiktionaler Inhalt einlädt, weiß aber weiterhin um den fiktionalen Charakter. Sollte eine „Fiktionsbetonung" vorliegen, wird ein fiktionales Geschehen vom Zuschauer als Erfindung identifiziert und in keiner Weise mit der Realität in Verwechslung gebracht (Kepplinger/Tullius 1995: 142). Der Rezeptionsprozess als kommunikatives Handeln setzt soziale wie auch medienspezifische Kompetenz bei der Interpretation von Medieninhalten und ihres Realitätsgrades voraus. Die Kommunikationswissenschaftler Rick Busselle und Bradley Greenberg identifizierten auf Basis vorliegender Forschungsliteratur sechs verschiedene Konzeptdimensionen, mit denen Zuschauer ihre Realitätsurteile über Darstellungen im Fernsehen fällen (Busselle/Greenberg 2000: 257): 1. Magisches Fenster: Inwieweit lässt das Fernsehen es zu, einen bestimmten Ablauf an einem anderen Ort oder im Fernsehgerät selbst zu verfolgen? 2. Sozialer Realismus: Inwieweit weisen Fernsehinhalte, ob real oder fiktional, eine Ähnlichkeit zur realen Welt auf?

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Intersubjektivität ist ein Elaborat der alltäglichen Interaktion, das sich dadurch auszeichnet, dass sich Menschen in ihren Lebenswelten bedingt einander annähern und damit eine gemeinsame Basis für das soziale Handeln gewinnen (vgl. Reichertz 2007: 306).

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

277

3. Plausibilität: Inwieweit könnte das, was im Fernsehen verfolgt wird, in der realen Welt existieren? 4. Wahrscheinlichkeit: Ist es wahrscheinlich, dass ein rezipierter Fernsehinhalt in der realen Welt existiert oder dass er häufig(er) auftritt? 5. Identität: Inwieweit können Zuschauer Fernsehinhalte in ihr Leben integrieren oder sich mit einzelnen Inhaltselementen in Beziehung setzen? 6. Nützlichkeit: Wie viele Informationen oder Ereignisse aus dem Fernsehen kann sich der Zuschauer in seinem realen Leben zu nutze machen? Eine weitere Dimension wird in der Typizität gesehen, also in einer Bewertung, wie nah die Repräsentation im Fernsehen dem Verhalten der meisten vergleichbaren Menschen oder der Art der meisten vergleichbaren Situationen in der .realen Welt kommt (Shapiro/Chock 2003). Sie kann der zweiten Dimension (Sozialer Realismus) zugeordnet werden, stellt aber in ihrer Spezifizität eine Sonderform der Realitätsevaluierung dar: Der Zuschauer urteilt hierbei auf Basis seiner persönlichen Vorstellung davon, wie typisch ein Vorgang im wahren Leben ist, was eine über die reine Dichotomisierung realistisch/ unrealistisch hinausgehende Differenzierung der Qualität des Realismus von sehr realistischen bis weniger realistischen Szenarios erlaubt (Busselle/Greenberg 2000: 263). Ob ein Fernsehinhalt als Resultat dieses Abgleich als typisch oder untypisch eingestuft wird, hat einen erheblichen Einfluss auf die Erinnerungsfähigkeit des Fernsehinhalts: „Typical information could be more influential in the long run, not because people remember it better, or because they tend to fill gaps with typical information when they cant remember the story, but because of the judgments people make about the likelihood of typical and atypical information. Familiar topics may be more immune than unfamiliar topics to atypical information because people are even more reluctant to accept atypical information as true for those topics" (Shapiro/Fox 2002:131). Was wiederum in einer Gesellschaft als typisch aufgefasst wird, entscheidet in einem erheblichen Maße das kollektive Selbstverständigungsinstrument Fernsehen: Hier werden die herrschenden Ideologien verbreitet, das Selbstbild einer Nation gefestigt und gewandelt, multi-kulturelle Strömungen in die Hauptströmungen des Identitätsdiskurses integriert und in stetem Rückbezug auf das konsensierte Werte- und Normensystem gesellschaftliche .Realität' hergestellt. Das Fernsehen geriert sich auf diese Weise als Referenzinstanz, die selbst in ihren fiktionalen Inhalten Orientierung im komplexen wie komplizierten sozialen Miteinander und bei der Suche nach Verständnis von Welt bietet. „Da es keine Erzählungen mehr gibt, welche den Lebensentwurf der Menschen - wie früher die Religion [...] - bestimmen, und in die man eingebunden ist, klammert man sich an Surrogate, wie sie die Medienwelt vermittelt. So verkehren sich die Relationen: ein Medium wie das Fernsehen scheint besonders geeignet, Relevanzen an sich zu binden und .wahre' und .lebenswichtige' Geschichten zu verkörpern. Die Wirklichkeit dagegen verkümmert zum bloßen Widerschein dieser glitzernden Medienwelt - mit ihren starken Gefühlen und dramatisch inszenierten Lebensschicksalen" (Moser 2006: 64).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

6.2. Die Informationsleistungen 6.2.1. Informationsformate

des Fernsehens

im Fernsehen

Als eines der stärksten gesellschaftlichen Informationsmedien leistet das Fernsehen einen kontinuierlichen Rückbezug auf den kulturellen Konsens und trägt gleichzeitig auf diese Weise zum Wandel bei, indem es beständig neue Konsensgenerierung mediatisiert. Hieraus leiten sich die zentralen Herrschafts-, Ordnungs- und Informationsfunktionen von Nachrichtensendungen ab, welche die Bereiche der individuellen und öffentlichen Sinnstiftung verknüpfen und damit tagtäglich einen Beitrag leisten, den „Wert und Sinn des menschlichen Lebens durch die Rolle des Individuums in der sozialen Gemeinschaft" festzulegen (Bleicher 1999: 278). „Das Fernsehen gilt, bedingt durch seine besonderen Vermittlungsmöglichkeiten, seine Rezeption im privaten Umfeld und seine hohe Reichweite, als Agenda-Setter, als Themenlieferant für öffentliche Diskussionen" (ebd.: 274). Die Themensetzungskompetenz des Fernsehens findet Ausdruck in einer Reihe von Informationsformaten, die im Programmfluss jeweils eigene Vermittlungsfunktionen übernehmen: Die klassische Nachrichtensendung ist mit der regelmäßigen Informierung der Zuschauer über tagesaktuelle Geschehnisse betraut. Zu den Hauptnachrichten am Abend gesellte sich im Laufe der Fernsehgeschichte eine Vielzahl von ergänzenden Nachrichtensendungen, die über den Tag (und die Nacht) verteilt in unterschiedlichen Sendelängen und mit variierenden thematischen Schwerpunkten die informationelle Grundversorgung des Zuschauers sicher stellen sollen. Das deutsche Fernsehen war viele Jahrzehnte von einer Monopolstellung der beiden öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen „Tagesschau" (ARD) und „heute" (ZDF) geprägt.90 Trotz Auflösung des Monopols nach Einführung der dualen Rundfunkordnung sind diese Sendungen in der televisuellen Nachrichtenversorgung weiterhin führend. In Nordamerika dagegen war der Fernsehnachrichtenmarkt seit den 1950er Jahren durch einen starken Wettbewerb zwischen den kommerziellen Programmveranstaltern gekennzeichnet. Durch das Oligopol der drei großen Networks CBS, NBC und ABC musste deshalb stärker als in Deutschland auf Personalisierung Wert gelegt werden, um mittels eines charismatischen Nachrichtensprechers die Zuschauerbindung an eine spezifische Sendung zu erhöhen (vgl. Ludes/ Schütte/Staab 2002: 2312). Bruns und Marcinkowski differenzieren zwischen zehn verschiedenen Nachrichtenformaten (Bruns/Marcinkowski 1995: 70),91 wobei weiterhin den Abendausgaben der

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In der DDR hatte die Sendung „Aktuelle Kamera" durch die zentralistische Rundfunkorganisation ebenfalls eine Monopolstellung inne, doch nutzten viele Fernsehnutzer in der DDR auch die westdeutschen Programm- und speziell Informationsangebote. Die Nachrichtenformate im Einzelnen: Hauptnachrichten, Kurznachrichten, Nachrichtenschlagzeilen, Nachrichtenmagazine, regionale Nachrichten, Nachrichten mit Wochenrückblick, Wetternachrichten, fremdsprachliche Nachrichten, Presseschau und sonstige Nachrichten wie vor allem Nachrichtformate speziell für Kinder.

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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führenden Nachrichtensendungen der Sender die zentrale Aufgabe des „Welterklärers" und „Synchron-Regisseurs" (Ludes 1994) zukommt. Zu festen Sendeterminen stellen sie Informationen zur jeweils aktuellen gesellschaftlichen Lage mit grundsätzlich offener Themenkonstellation bereit. Charakteristisch für diese konzentrierte Zusammenfassung in Form von vorgelesenen Meldungen, redaktionellen Bildbeiträgen und Live-Übertragungen ist die aktive Suche der Nachrichtenjournalisten nach „Schlüsselbildern", die das Tagesgeschehen so verständlich wie möglich veranschaulichen, damit eine immer größere Zahl von Zuschauern die Nachrichtensituation immer schneller verstehen kann (Ludes 1999). Allgemeine Verständlichkeit, Aktualitätsdruck und der eng begrenzte Zeitrahmen für die einzelne Nachricht zwingen die klassische Nachrichtensendung in das Korsett eines leicht verdaulichen Potpourris, das ohne Vorwissen rezipiert und angeeignet werden kann und die Handlungsfähigkeit des Zuschauers als sozialer Akteur in einem für das Individuum zunehmend unübersichtlicheren Lebensumfeld ermöglicht. Komplementiert wird das Nachrichtenangebot in einigen Ländern Europas von Textinhalten, die mit dem Fernsehsignal gesendet und mit einem ins Empfangsgerät integrierten Decoder als sogenannter Teletext, in Deutschland auch Videotext genannt, empfangen werden. In Kanada wurde ein ähnliches Angebot von der CBC unter dem Namen „IRIS"92 von 1983 bis 1986 in den Ballungsräumen Calgary, Toronto und Montreal erprobt, nach dieser Testphase aber wieder eingestellt (vgl. Aumente 1987:41). In den USA verschwand das Teletext-Angebot nach ungefähr fünfzehn Jahren Betrieb ebenfalls von den Bildschirmen. Als Vorläufer des Internets (vgl. Sterling 2006: 46) liegt der Vorteil des Teletexts in der Aktualität seiner Inhalte, die jederzeit unabhängig vom Programmschema des jeweiligen Senders ergänzt, überarbeitet oder ersetzt werden können. Dass das informationell kompakte und graphisch anspruchslose Angebot auch in Zeiten von Breitband-Internet und TV-PC-Lösungen seine Stellung behauptet, zeigt die Entwicklung der Nutzungszahlen: So war seit 1997 ein kontinuierlicher Anstieg zu verzeichnen (vgl. ARD-Projektgruppe Teletext 2001: 55); im Jahre 2009 nutzten sogar über 16 Millionen Rezipienten täglich die Teletext-Angebote der öffentlich-rechtlichen und privaten Sender in Deutschland (Leber 2009). Videotext ist ein zusätzliches, programmbegleitendes Informationsangebot ohne den Anspruch auf Eigenständigkeit, das zwar auch über Unterhaltungselemente verfügt, diese aber nur nachrangig genutzt werden (vgl. An 1997: 131: 134). Das Publikumsinteresse umfasst hauptsächlich die Programmauskunft, Programmvorschau, Nachrichten und Sportergebnisse (ARD-Projektgruppe Teletext 2001: 63). Weitere Angebote betreffen Servicedaten wie Wasserstandsmeldungen und Wetterbericht, Lottozahlen oder Börsenkurse sowie Rezensionen und Termine. Doch auch auf Alltagsinformationen wie „Kochrezepte, Warentests, Gewinnzahlen, einen Reiseteil, Spiele und die Weltzeituhr" (An 1997: 61) wird zugegriffen. Kommerzielle Programmanbieter konzentrieren sich im Vergleich dazu vermehrt auf Verbrauchertipps, Kontaktanzeigen, Erotikangebote und 92

Hinter dem Akronym verbirgt sich die Projektbezeichnung „Information Relayed Instantly from the Source".

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

Werbung. Die Attraktivität resultiert unter anderem aus der Service-Orientierung der dargebotenen Information mit engem Programmbezug, die eine wichtige Ergänzung zum audiovisuellen Programmgeschehen bietet: „Der Teletext bereitet u.a. die Informationen aus den Sendungen auf und stellt sie zur Wiederholung zur Verfügung. Er ist damit eine Art Gedächtnis des Programms. Dies spielt besonders für Sendungen eine Rolle, die sich durch einen hohen Informationsgehalt auszeichnen, etwa Nachrichten und Service-Magazine. Vom Börsenkurs bis zum Kochrezept - vieles bleibt nicht gleich bei den Zuschauern haften und erzeugt den Wunsch nach dauerhafter Verfügbarkeit" (Karstens/Schütte 2005: 301-302). Freilich sind die Informationsangebote auch im Teletext mitnichten dauerhaft verfügbar, sondern allenfalls für eine begrenzte Zeit, deren Dauer jedoch die Lauflänge eines gesendeten Nachrichtenbeitrags bzw. der Verlesung einer Meldung signifikant übersteigt. Die besondere Relevanz des Teletexts als Informationsinstrument liegt darüber hinaus in den Nutzungsvorteilen für Zuschauer mit Gehörbeeinträchtigungen. Wie eine Befragung von 174 gehörlosen Fernsehnutzern aus Deutschland in den Jahren 1999 und 2000 ergab, werden Fernsehen und Teletext zusammen von dieser Rezipientengruppe sogar noch häufiger genutzt als Tageszeitungen, um sich über das Weltgeschehen zu informieren (Prillwitz/Fintel 2001: 139). Darüber hinaus wird auch vereinzelt mittels Dolmetschern auf die Bedürfnisse von schwerhörigen und gehörlosen Zuschauern eingegangen wie im Programm des öffentlich-rechtlichen Informationskanals Phoenix, welche die „Tagesschau" simultan in Gebärdensprache übersetzen. Vermehrten Einsatz findet aber vor allem die schriftliche Untertitelung von Sendungen.93 Während in Deutschland die Live-Untertitelung von Nachrichtensendungen bei der ARD verhältnismäßig früh im Jahre 1984 mit der „Tagesschau" um 20 Uhr begann, folgte das ZDF erst im Jahre 2001. In seinem tatsächlichen Anteil am Gesamtprogramm ist diese Aneignungshilfe noch ein recht junges Phänomen, das aber nach und nach ausgebaut wird: „Live subtitling is fast gaining popularity: ,in the first quarter of 2006: 9371 minutes were subtitled live, an increase of 6433 minutes over the same period in 2005'" (Remael 2007:32). In den USA wurde bereits Anfang der 1970er Jahre der Startschuss für das sogenannte Closed Captioning gegeben: Nach ersten Gesprächen unter Sendervertretern, Produzenten, Entwicklern und Vertretern von Gehörlosenorganisationen auf der „First National Conference on Television for the Hearing Impaired" an der Universität

93

In Nordamerika unterscheidet sich die Terminologie wie folgt: Unter „captions" wird eine Untertitelung speziell für Zuschauer mit Hörbeeinträchtigungen verstanden, weshalb nicht nur die Sprache transkribiert wird, sondern zusätzliche Beschreibungen bestimmter Laute integriert werden, die relevante Informationen transportieren. Als „subtitles" dagegen wird in Nordamerika die Untertitelung bezeichnet, wenn es sich um Übersetzungen einer Fremdsprache handelt (vgl. Harkins/Bakke 2003: 410). „Closed captioning" bzw. „closed subtitling" bezeichnet wiederum die manuelle Ein- und Ausblendbarkeit der Untertitel durch den Zuschauer. „Open" sind solche Untertitel, welche in das Fernsehbild „eingebrannt" sind und sich nicht ausblenden lassen (vgl. Anderson 2004: 218).

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

281

von Tennessee in 1971 wurden zwei erste untertitelte Sendungen in den USA ausgestrahlt: Eine Episode von „French Chef" (PBS) und eine Episode von „Mod Squad" (ABC) im Jahre 1972 (Neves 2007: 91). Seit der Vorgabe der Federal Communications Commission, dass alle Fernsehempfangsgeräte, die ab dem 1. Juli 1993 hergestellt wurden, mit einem Empfangsmodul für Untertitel ausgestattet sein müssen, 94 wird ein Großteil der Programme der marktführenden Networks mit Untertitelung angeboten (vgl. Jordan/ Albright/Branner/Sullivan 2003).95 Auch dies trug zum Misserfolg des Teletextes in den USA bei, da die Hersteller das Textangebot angesichts der reichhaltigen Untertitelung für entbehrlich hielten und auf die Implementierung eines Anzeigemoduls verzichteten. Ein weiteres Genre an Informationsformaten sind Magazinsendungen, die vom Druck kurzfristiger Aktualitätsinteressen zumindest teilweise enthoben sind und sich aufgrund größerer Zeitressourcen einem Thema ausführlicher widmen können als die reinen Nachrichtenformate (Ludes/Schumacher/Zimmermann 1994:15). Die Live-Berichterstattung gehört daher nicht zu den charakteristischen Angeboten von Magazinen, wenn auch die einzelnen Informationsbeiträge der Sendung live von einem Moderator in einer Studiokulisse präsentiert werden. Das Augenmerk liegt auf der Behandlung von Hintergründen nicht vorrangig (aber auch) zu aktuell drängenden, doch in erster Linie längerfristig relevanten Themen mit Konzentration auf der Analyse und Einordnung. Der nahtlose Einstieg des Zuschauers in fortlaufende tagesaktuelle Berichterstattung über ein Thema setzt teils detailiertes Vorwissen voraus, um die tagesaktuelle Nachrichtenlage einordnen zu können. Magazine tragen zu dieser (Re)Kontextualisierung bei und ergänzen durch eigenständige, auch investigative Thematisierung die Nachrichtenlage, wodurch sich Magazin-Redakteure eher als „Nachrichten-Produzenten" denn als „Nachrichten-Präsentatoren" verstehen (Nellessen/Frey 2002: 2293). Magazine sind nach dem „Baukastenprinzip" strukturiert, der die Zusammenführung thematisch vielseitiger Einzelbeiträge in einen festen äußeren Rahmen ermöglicht (Kreuzer 1988: 9-10). Kreuzer nennt drei Bereiche, auf die der Magazin-Begriff bezogen wird: Erstens die allgemeine Form des „Magazin-Formats", das für alle denkbaren Inhalts und Präsentationsformen eingesetzt werden kann. Zweitens das „Magazin als Fernsehgattung", das sich nach Urhebern (bestimmte Sender), Distribution (z.B. Morgenmagazine), Zielgruppen (z.B. Jugend, Frauen, Senioren), Inhalten (z.B. Autos, Literatur, Reise) und Funktionen (z.B. Ratgeber, Unterhaltung) bzw. nach einer unbestimmten Zahl von Subgenres kategorisieren lässt. Drittens das „Magazin in Gestalt historischer Gattungstypen", die aufgrund ihrer besonderen Vergangenheit von den Zuschauern als eigenständige Programmelemente wahrgenommen werden und ,für sich stehen bzw. stilbildend für eine bestimmte Magazinform wurden. Kreuzer nennt hier das Beispiel des politischzeitkritischen Magazins im westdeutschen Fernsehen der 1960er und 70er Jahre. Poli94 95

Die Regelung ist ein Bestandteil des Code of Federal Regulations (47 C.F.R. 15.119). Mittlerweile sind die Fernsehveranstalter mit nur wenigen Ausnahmen gesetzlich dazu verpflichtet, alle neuen Produktionen sowie 75 Prozent des erneut gesendeten älteren Programmmaterials mit einer Untertitelung auszustrahlen (47 C.F.R. § 79.1).

282

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

tische Magazine errangen in Deutschland nach dem Vorbild des „medialen Designs" des klassischen US-Magazinformats ab den 1970er Jahren eine bedeutsame Stellung innerhalb des öffentlich-rechtlichen Programmangebots (Schumacher 1994: 102). In den USA gewannen Nachrichtenmagazine wie Edward R. Murrows „See It Now" (CBS) in den 1950er Jahren und ab 1968 die bis heute populäre Sendung „60 Minutes" (ebenfalls auf CBS) durch investigativjournalistische Exklusivität einen legendären Status. Auch in der westdeutschen Fernsehgeschichte waren und sind einige wenige politische Magazine als Aufklärer und Aufdecker geschätzt wie gefürchtet: Prägend waren hier vor allem das NDR-Magazin „Panorama" und „Monitor" beim WDR. Während diese Politmagazine sich einen Ruf als generalistisch-kritische und dem linksliberalen Spektrum zuzuordnende Beobachter des politischen Geschehens erarbeiteten, wurde das ab 1969 ausgestrahlte ZDF-Magazin mit Gerhard Löwenthal vor allem für seine harsche wie grimmige DDRkritische Tonart bekannt und galt als rechtskonservativer Gegenpol zu den übrigen Sendungen (vgl. Roll 1998). Auf DDR-Seite wiederum bewegte bereits ab 1960 das Magazin „Der schwarze Kanal" von Karl-Eduard von Schnitzler als korrigierende Instanz des von DDR-Bürgern im Westfernsehen Gesehenen die Gemüter (Hoff 1998b: 283), da es sich bei der Sendung um eine offensichtliche Propagandamaßnahme handelte (Bleicher 2004: 983). Beim DDR-Publikum waren aber eher Ratgebermagazine wie „Du und Dein Garten", „Hobbys, Tips - so wird's gemacht" oder „HAPS (Haushalts-Allerlei praktisch serviert)" beliebt. Dabei standen die Adaptionsmöglichkeiten der Anleitungsszenarien im Alltag im Vordergrund, da die Mangelwirtschaft der Bevölkerung Erfindungsreichtum und handwerkliches Geschick abverlangte, um bei den chronischen Versorgungsengpässen dennoch ein geordnetes und befriedigendes Leben zu führen. Nachrichtensendungen und Magazine haben also den Anspruch, über die .Realität' zu informieren. Als handwerkliches Mittel dient den Nachrichtenproduzenten das journalistische Ideal der Objektivität.96 Um die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Objektivität in der Berichterstattung hat sich eine lange historische Debatte entzündet, die in ihren polaren Argumenten von einer Ausschließlichkeitsforderung im Streben nach Objektivität einerseits und deren vollständigen Negierung andererseits an der alltäglichen Nachrichtenpraxis vorbeizielte. Objektivität ist vielmehr konstruktiv zu verstehen als „strategisches Ritual" (Schmidt/Weischenberg 1994: 227), das einen verbindlichen Rahmen für die journalistische Arbeit darstellt und daher auch nicht auf metaphysische Kategorien wie Realitätsnähe oder Wahrheit abstellt, sondern auf Nützlichkeit und Glaubwürdigkeit bzw. Neutralität, Ausgewogenheit und Fairness (vgl. ebd.: 228; Weischenberg 2004: 54). Der Dokumentarfilm ist in dieser Hinsicht ein problematisches Genre im Kreis der Informationsangebote im Fernsehen. Durch seine cineastischen Wurzeln steht beim Dokumentarfilm die ästhetische Qualität der Repräsentation von faktischen Informationen im Vordergrund (vgl. Corner 2005). Die Darstellung erfolgt in einer zielgerichtet 96

Dies schließt nicht aus, dass in Nachrichten- und vor allem in Magazinsendungen auch Kommentierungen in klar ersichtlicher Subjektivität geleistet werden. Die Hervorhebung solcher Kommentare innerhalb der Sendung unterstreicht indes das .objektive' Profil des Formats noch.

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

283

dramatisierten Form, welche die Nähe des Dokumentarfilms zum Spielfilm verdeutlicht. Überspitzt ließe sich in Anlehnung an Richard Barsam formulieren, dass beim direkten Vergleich allein die Art des Inhalts variiert (Tatsachen versus Fiktion), die künstlerischkreative Auseinandersetzung jedoch in beiden Fällen Interpretation und Dramatisierung beinhaltet (vgl. Barsam 1992: 378). In der mit konkreten Intentionen verbundenen Thematisierung dokumentationswürdiger Angelegenheiten liegt die wesensgemäße Qualität des Dokumentarfilms. Auf beiden Seiten des Atlantiks als willkommenes Instrument zur ausgiebigen Beschäftigung mit einem relevanten und oftmals vernachlässigten Thema verstanden, feiert der Dokumentarfilm die subjektive Sichtweise seines Produzenten. „Part of the fascination with documentaries lies in their unique blend of writing, visual images, soundtracks, and the individual style of their producers" (Mascaro 2004: 740). Als künstlerische Arbeit weisen sie nicht selten eine poetische Ausdrucksform auf (vgl. Renov 1993). Die stilistische Variationsbreite von Dokumentarfilmen reicht von Anleihen bei aufwändig produzierten fiktionalen Dramen bis hin zu naturalistischen Einschlägen, die eine Ähnlichkeit zu Nachrichtensendungen suggerieren sollen (Corner 2005: 49). Die Ausgewogenheit von Nachrichtensendungen ist bei Dokumentarfilmen indes nicht gewünscht, sondern weicht meist einer teils klaren, teils impliziten, aber grundsätzlich wertenden Positionierung des Produzenten, der den Anspruch erhebt, die Wahrheit herausfinden oder darstellen zu wollen. Eine .objektive' Wahrheit indes ist aus Dokumentarfilmen selbst nur schwerlich zu destillieren: ,,[T]he truth figured by documentary cannot be a simple unmasking or reflection. It is a careful construction, an intervention in the politics and the semiotics of representation" (Williams 2005: 72). Da im Fernsehdokumentarfilm die vorherrschenden Rollen des Produzenten und des Regisseurs97 umverteilt werden, war das Genre innerhalb der Programmangebote schon immer eine Ausnahme und konnte sich erhöhter Aufmerksamkeit sicher sein. Wegweisende gesellschaftliche Umbrüche und historische Prozesse wurden von Dokumentarfilmern begleitet, welche mit ihren Arbeiten die allzu oft kurzatmige Nachrichtenkommunikation mit ihren individuellen wie teils auch polarisierenden Blickwinkeln belebten und öffentliche Diskurse anstießen. Das Bild der politischen Talkshow in ihrer heutigen Konzeption als Gesprächsrunde mit einem Moderator und mehreren Gästen aus Politik und verschiedenen Gesellschaftssparten, die zu dem jeweils live diskutierten Thema eine hinlängliche Expertise vorweisen, wurde in Deutschland maßgeblich von der ehemaligen „Tagesthemen'-Moderatorin Sabine Christiansen geprägt, deren Sendung durch ihren Erfolg bei Politik und Publikum

97

Während das Fernsehen durch seinen strukturbedingt immensen Bedarf an Sendematerial als „producer's medium" gilt, sich die Entscheidungsgewalt also vornehmlich in Produzentenhand befindet, ist der (Kino-) Film traditionell ein „director's medium", da hier (zum überwiegenden Teil) die inhaltlichen und nicht die quantitativen Elemente entscheidend sind. Dokumentarfilme stellen durch die zentrale Frage des „point of view" innerhalb der Fernsehangebote ein unantastbares Refugium des Regisseurs dar (vgl. Friedmann 2006: 140).

284

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

als „Ersatzparlament"98 galt: Hier wurde die Talkshow als Entscheidungsinstanz entworfen, welche die Politik einer „Talkshowisierung" (Tenscher/Geisler 2002:170) unterzieht, indem Abgeordnete und Spitzenpolitiker ihre Ansichten lieber im Fernsehen diskutieren als in ihren Wahlkreisen oder auf anderweitigen gesellschaftlichen Foren: „Die Debattenshow tritt in aller Regel mit dem Anspruch auf, tatsächlich so etwas wie eine massenmediale Agora, ein sachorientiertes Argumentations- und Streitforum zu bieten" (Dörner 2001: 138). Seit dem Erfolg von Sabine Christiansen, die sich in 2006 mit ihrer Sendung von der ARD verabschiedete, erlebte das öffentliche-rechtliche Fernsehen eine zuvor nicht gekannte Ausweitung des Angebotes an politischen Talkshows in der Hauptsendezeit am Abend, die sich zeitweise auf drei unterschiedliche Sendungskonzepte erstreckte." So wird die politische Talkshow zwar als Innovation des gesamtdeutschen Fernsehens nach 1990 angesehen, doch gab es schon früh in der deutschen Fernsehgeschichte Gesprächsrunden über politische Themen und mit Gästen aus der Politik, die Einblick in die administrativen Prozesse der Republik geben sollten: „Vor dem Hintergrund der audiovisuellen Wahrnehmbarkeit von Politikern als Staatsbürger und als Menschen und mit der Vorgabe, einen .Erstbedarf' für diejenigen Zuschauer zu decken, die noch nie ein Parlament in Funktion für diejenigen Zuschauer zu decken, die noch nie ein Parlament in Funktion gesehen hatten, versprach das Fernsehen [...] die kommunikative Funktion der bekanntmachenden Vermittlung zwischen fernsehenden Staatsbürgern und Regierung zu erfüllen" (Elsner/Müller/Spangenberg 1993:45). „Der internationale Frühshoppen' mit Werner Höfer kann als erste populäre Polittalkshow bezeichnet werden. Die von Höfer moderierte Gesprächsrunde mit sechs Journalisten aus fünf Ländern wurde zu einer der „wichtigsten Institution [en] der Öffentlichkeit in der noch jungen Bundesrepublik" (Foltin 1994: 74). Die Sendung vermochte sich als unabhängige Größe in der politischen Diskussion zu positionieren, indem Höfer unter anderem bei der „Spiegel-Affäre" Partei für das Hamburger Magazin ergriff und den „Stern'-Verleger Henri Nannen einlud, der bei der Bundesregierung wegen eines kritischen Kommentars über den damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke in Ungnade gefallen war. In den USA schrieb die von NBC ausgestrahlte und ursprünglich als Pressekonferenz konzipierte Politiktalkshow „Meet the Press" Fernsehgeschichte (vgl. McKinnon 2004). In der ältesten noch existierenden Sendung im US-Fernsehens waren in den Jahren 1947 bis 2004 insgesamt 1582 Kongress-Abgeordnete zu Gast und stellten sich

98

99

Der damalige Bundestagespräsident Wolfgang Thierse hat die ARD-Sendung angesichts ihrer augenscheinlichen Wirksamkeit trotz fehlender demokratischer Legitimation als „Ersatzparlament" bezeichnet (vgl. Gaschke 2003). Siehe dazu auch die Bemerkungen von Dan Nimmo und Chevelle Newsome über „politics by talk show" (Nimmo/Newsome 1997: 79). Neben Sabine Christiansen sendete auf dem ZDF bereits Maybrit Iiiner mit ihrer Sendung „Berlin Mitte". Nach Christiansens Entschluss, ihre Talkshow zu beenden, ging die Nachfolgerin Anne Will mit ihrem eigenen Konzept auf Sendung. Die ARD hob zudem die WDR-Talkshow „Hart aber fair" mit Frank Piasberg ins bundesweite Abendprogramm.

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

285

den Fragen der Presse: „Thus, .Meet the Press' serves both as a means fort he elite to frame issues for the general population, and to communicate to one another" (Harmon/Foley 2007: 122). Moderatoren politischer Talkshows treten zum Teil als Mediatoren, zum Teil auch als Ankläger auf, agieren dabei aber stets als Journalisten, die ihren Gästen Antworten auf wichtige Fragen der Zeit zu entlocken suchen. Die unprätentiöse wie gelassene Art des ehemaligen „Spiegel"-Chefredakteurs Erich Böhme, in seiner Sendung „Talk im Turm" acht Jahre lang bei der Anrede seiner Gesprächspartner auf das höfliche „Herr" und „Sie" zu verzichten (Schmoll 1998), seine Gäste mit provokanten Fragen aus der Reserve zu locken, die Streitkultur zu kultivieren, aber gleichsam das bisweilen launische Publikum zu beschwichtigen (vgl. Tilmann 1998), entsprach diesem Grundsatz ebenso wie die emotionalen, teils auch aggressiven Befragungsmethoden im US-Nachrichtenfernsehen wie beispielsweise in den Sendungen Keith Olbermanns (MSNBC), Bill O'Reillys (Fox News) oder bei den zahlreichen Formaten auf CNN (vgl. Boyer 2008). Eine weitere wesentliche Kategorie des Informationsfernsehens ist das sogenannte Bildungsfernsehen als supplementäres Lehrangebot zu formal-institutionalisierten Bildungsanstrengungen in Schule und Beruf (siehe Kapitel III.7.), einschließlich Programmangeboten für Kinder sowie Wissenschaftssendungen, in denen als eigenständige Programmteile „Informationen über und aus den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften mit explizitem Bezug auf wissenschaftliche Verfahren und Ergebnisse präsentiert werden" (Freund/Köck 1994: 177). 6.2.2. Vertrauenswürdigkeit

von

Fernsehinformationen

„Der tägliche Abgleich mit dem Weltgeschehen via Fernsehen ist mehr als ein Ritual. Es geht um die Beantwortung einer wichtigen Existenzfrage, bei der nur die zuverlässige Quelle akzeptiert wird" (Göbbel 2005: 164-165). Andererseits wurde die Rezeption der allabendlichen Nachrichtenprogramme häufig als „Kontrollsehen" bezeichnet: ein Ritual mit vor allem habituellen Merkmalen, durch das die Menschen sicher gehen wollen, das nichts Weltbewegendes geschehen sei, zumindest nicht in Bezug auf ihre persönlichen Lebensumstände (vgl. Hickethier 1998: 205). Daraus erklärt sich auch, weshalb viele Zuschauer die Nachrichteninhalte nach Ende der Sendung sofort größtenteils wieder vergessen und sich dennoch gut informiert fühlen (vgl. Bolz 1998: 43). Ob das Ritual inhaltsvoll oder inhaltsleer ist: Seit Jahrzehnten schalten täglich mehrere Millionen Fernsehzuschauer um 20 Uhr die „Tagesschau" im „Ersten" ein, um 15 Minuten lang das „Wichtigste vom Tage" (Hasebrink 2002: 379) zu sehen. In Nordamerika wechseln nicht weniger Menschen den Kanal, um von der prominenten Nachrichtenfrau oder dem charismatischen Nachrichtenmann ihres Vertrauens ein Stück des Weltgeschehens erklärt zu bekommen. Entgegen der Ansicht der Journalistik-Professorin Beatrice Dernbach, Vertrauen ersetze Wissen (Dernbach 2005: 137), sollte vielmehr auf die wissenskonsolidierende Funktion von Vertrauen hingewiesen werden. Ein Vertrauensverhältnis kann zwar von der eigenverantwortlichen Wissensaneignung entlasten, aber im allgemeinen

286

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Fall ist eine solche Beziehung (zu einem Mitmenschen, zu einem Medienangebot) doch die Voraussetzung für die Akzeptanz von kommunizierten Informationen als verlässliche Quelle und damit ihrer Aneignung. Auf die Fernsehnachrichten ist zumindest innerhalb der temporalen Tagesplanung Verlass: Sie versehen den Programmfluss mit einer Gitterstruktur, die zu festen Zeiten einen Blick auf eine Auswahl dessen gewährt, was nach journalistischem Ermessen die Welt bewegt. In Deutschland wird das Fernsehen seit Jahrzehnten rege zur Beschaffung politischer Informationen genutzt, teils sogar häufiger als die anderen Massenmedien Hörfunk und Tageszeitung (vgl. Kiefer 1978:93; Kiefer 1982:67; Reitze/Ridder 2006: 65). In den USA führt das Fernsehen mit seinem Nachrichten- und Informationsangebot traditionell die Rangfolge der vertrauenswürdigsten Massenmedien an (vgl. Epstein 1973: 42). Die Rezeption von Nachrichtensendungen und non-fiktionalen Informationsformaten gehört traditionell zum Rüstzeug, um die individuelle politische Informiertheit sicher zu stellen, die als grundlegend gilt, um seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachkommen zu können (vgl. Kirchhoff 1989: 455). In der Selbsteinschätzung der deutschen Zuschauer ist das politische Interesse beständig gewachsen, was vermutlich auch mit dem mit der Zeit gestiegenen formalen Bildungsniveau zusammenhängt (Berg/Ridder 2002:118). Das Fernsehen wurde so zum Leitmedium in Bezug auf die Wahrnehmung und Darstellung von Politik (Sarcinelli/Tenscher 1998: 304). In den USA lag die Einschaltquote beim ersten Fernsehduell um die Präsidentschaft zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon im Jahre 1960 während der vier Sendetermine jeweils bei rund 60 Prozent (Nielsen Media Research 2004: Political Debates - Presidential Debates). 16 Jahre später erreichte sie bei der Präsidentschaftsdebatte von Gerald Rudolph Ford und Jimmy Carter etwa 50 Prozent, in der Folge bei Reagan vs. Mondale noch 45 Prozent und sank später auf 25-31 Prozent bei AI Gore vs. George W. Bush im Jahr 2000 bzw. 32-39 Prozent bei George W. Bush vs. John Kerry in 2004. Trotz erkennbarem Abwärtstrend zeigen diese Beispiele, dass das Fernsehen als Informationsmedium kontinuierlich eine wichtige Rolle gespielt hat und immer noch spielt. Als der damalige Präsident George W. Bush nach den Terrorattacken auf New York und Washington, DC am 20. September 2001 eine Fernsehansprache über den „War on Terror" hielt, lag die Quote immerhin bei 50 Prozent. Fraglich ist, was Mediennutzer an bestimmte Informationsformate im Fernsehen und an das Fernsehen an sich bindet, um sich politisch zu informieren. Den televisuellen Angeboten steht ein umfangreiches Medienensemble gedruckter, digitaler und (per Radiowellen) gesendeter Inhalte gegenüber, das auf vielfältigste Arten zur Aneignung relevanter Informationen genutzt werden kann (und natürlich auch genutzt wird, nicht aber zu Lasten des Fernsehkonsums). Umso eindrucksvoller mutet die hohe Glaubwürdigkeit an, welche der Fernsehinformation schon seit frühen Jahren von weiten Gesellschaftskreisen zugeschrieben wird. Dies setzt voraus, dass der Rezipient der journalistischen Selektionskompetenz weitgehendes Vertrauen schenkt und die medialen Vermittlungsanstrengungen als konstruktives Sinnangebot akzeptiert:

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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„Dass Medienwirklichkeiten - auch in ihrer visualisierten Form - keine Abbilder einer jenseits menschlicher Vorstellungen und Entwürfe existierenden Realität sind, sondern vielmehr sozial orientierte Wirklichkeitsentwürfe, die einen erheblichen Kontingenzgrad aufweisen, lässt sich gerade am Beispiel von Fernsehnachrichten sehr plastisch illustrieren. Jenseits jeglicher Manipulationsversuche liegt jeder Form der Fernsehberichterstattung ein Konstruktionsprozess zugrunde, durch den Fernsehnachrichten als solche überhaupt erst möglich werden. [...] Das Ergebnis kann nie mehr sein als ein journalistischer Wirklichkeitsentwurf, dem die Zuschauer aufgrund der Bilder einen besonderen Authentizitätsgrad zuweisen" (Meckel 2001: 133). Glaubwürdigkeit soll dementsprechend mit dem PR-Professor Günter Bentele als Eigenschaft definiert werden, die „Menschen, Institutionen und deren kommunikativen Produkten (mündliche oder schriftliche Texte, audiovisuelle Darstellungen) von jemandem (Rezipienten) in Bezug auf etwas (Ereignisse, Sachverhalten usw.) zugeschrieben wird" (Bentele 1988:408). Dadurch ergibt sich, dass die Anbieter von Informationen den bei der Glaubwürdigkeitszuweisung und Sinnproduktion aktiven Zuschauer umwerben müssen, um ihre Inhalte erfolgreich vermitteln zu können. Eine seitens der Sender vorangetriebene vertrauensbildende Maßnahme stellte der vermehrte Einsatz von Nachrichtenbildern dar, welche in Informationssendungen die Authentizität der vom Blatt oder Teleprompter abgelesenen Information unterstreichen sollte. Wie Peter Ludes skizziert, setzte schon früh eine intensive Visualisierung in der Nachrichten-Präsentation ein, die im Laufe der Zeit von einer fortschreitenden Kommerzialisierung und Personalisierung beeinflusst wurde (Ludes 1993: 33-34). Diese zunehmende Visualisierung hat John Caldwell mit dem Begriff der Televisualität zu fassen versucht: „The televisual paradigm, with its semiotic appetite for effects, looms over the documentary even as it threatens to infiltrate every genre of television" (Caldwell 1995: 237). Das bereits auf seine wahrnehmungs- und erinnerungsseitigen Qualitäten hin erörterte Sprichwort, dass ein Bild mehr zähle als tausend Worte, wurde spätestens seit Mitte der 1980er Jahre zum Leitspruch der Fernsehnachrichtenbranche. CNN ging auf Sendung und lieferte bald weltweit rund um die Uhr Nachrichten, die in ihrer audiovisuellen Evidenz jedem (vorgelesenen) Wort überlegen waren. Daran hat sich bis zum heutigen Tage nichts geändert: Nicht nur die reinen Nachrichtenkanäle vertrauen ihrerseits auf die Macht der Bilder (nicht selten in Dauerschleife), sondern auch die Vollprogramme, die in ihren Informationsangeboten nicht mehr auf visuelle Veranschaulichungen verzichten wollen. Der Vorteil der bildlichen Ergänzung einer Fernsehnachricht liegt in der audiovisuellen Direktheit ihrer Vermittlung: „When television viewers see the visual image of someone talking on camera, they see the direct source of the information, rather than relying on a journalist to translate information into writing" (Lapin 2006: 110). Die Gefahr indes, gepaart mit der Dynamisierung von Bildschnitten und Beschleunigung von Inhaltsabfolgen, ist eine audiovisuelle Überfrachtung, die zugunsten von Attraktivität auf Verständlichkeit verzichtet (vgl. Goertz/Schönbach 1998).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

Im Zug dieser „totalen Visualisierung" der (nachrichtlichen) Welt durch das Fernsehen (vgl. Mathiesen 1997) hielt aber auch aller Schrecken u n d alles Leid der Welt in dem Furcht einflößenden Schein der Unmittelbarkeit Einzug in das private Refugium. Zu festen Tages- u n d Nachtzeiten kann sich jedermann der Schlechtigkeit der menschlichen Natur vergewissern, kann sich verunsichern lassen, sich darüber echauffieren, fasziniert sein oder alles zugleich. Die Erkenntnis, dass nicht erst die Fernsehsprache, sondern auch die Fernsehbilder der journalistischen Kontrolle unterliegen u n d daher ebenso mediiert sind wie abstrakte Formulierungen, fallt bei der Bemessung des Vertrauens zunächst einmal hinter die Eindrucksfülle des scheinbar unvermittelten Erlebens zurück: Wenn ein Politiker im Interview in Erklärungsnöte kommt, sieht der Zuschauer mit eigenen Augen, wie sich Schweißperlen auf der Stirn des Bedrängten bilden, u n d muss nicht erst die abstrakten Schilderungen eines Redakteurs rückübersetzen. Das Fernsehbild an sich ist leicht verständlich, leichter als jeder andere Medieninhalt, weil es den optischen u n d auditiven Wahrnehmunghabiti seiner Nutzer am nächsten kommt. Der Zuschauer fühlt sich als (Augen-) Zeuge: .Witnessing' kann daher als spezifische Qualität des televisuellen Realitätsempfindens bezeichnet werden: „Witness is a new form of experience; it arrived with the development of mechanical media which accord with how we perceive everyday reality" (Ellis 2000: 15). Etwas ist erst wahr, wenn m a n es selbst gesehen hat, wenn auch ,nur' im Fernsehen. Die zugrundegelegte A n n a h m e audiovisueller Evidenz lässt jegliches Nachrichtenbild im Fernsehen zunächst authentisch wirken. In Nordamerika avancierte dieser Glaube zum mächtigen Qualitätsmerkmal in der Berichterstattung: Selbst kleine Lokalsender verfügen über Übertragungswagen u n d sogar teilweise Helikopter, die schnelle, rohe Bildinformationen in Echtzeit liefern; Nachrichtensendungen der zahlreichen Lokalstationen des Networks ABC erhielten den Titel „Eyewitness News". Das Ideal der Augenzeugenschaft, verbunden mit dem Anspruch, die unübersichtlichen Vorgänge in der Welt zu erklären, wird als besondere Leistung u n d Verantwortung der televisuellen Nachrichtenvermittlung bewertet, indem die Fernsehveranstalter darum bemüht sind, abstraktes Weltgeschehen leicht verständlich zu kommunizieren: „In seiner Berichterstattung reduziert das Fernsehen die undurchschaubare Komplexität der Welt auf einfach rezipierbare, formal und inhaltlich geschlossene Informationseinheiten. In den Nachrichten beispielsweise vermittelt sich dem Zuschauer durch die Ausbildung von Darstellungsritualen, Stereotypen und Symbolen der Eindruck von Übersichtlichkeit und Verstehbarkeit der dargestellten Ereignisse, der dargestellten Wirklichkeit. In der Reduktion von Komplexität und der Verständlichkeit von Information sehen Programmverantwortliche der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten eine grundsätzliche Verantwortung des Fernsehens" (Bleicher 1999: 284). U m maximale Verständlichkeit zu garantieren, werden bei der Nachrichtenvermittlung Evidenzen hergestellt. Die Schlüssigkeit der Inhalte wird durch die Aufbereitung von Informationen in narrativer Form erreicht (Hickethier 1997b). Nachrichtensendungen folgen dem Muster einer „Endlosserie" (Mikos 2001: 204), deren Erzählung wie im Falle fiktionaler Formate (z.B. Seifenoper) eine offene Struktur aufweist, also kein Ende kennt,

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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und einem standardisierten Aufbau folgt (Hickethier 1997b: 8-9). Gleichsam sind die Inhalte von Nachrichtensendungen themenbedingt hochvariabel und dadurch chaotisch. Sporadisch indes werden nachrichtliche „Langzeiterzählungen" (vgl. ebd.: 11) weitergeführt, die vereinzelt jähre- oder jahrzehntelang andauern können. 100 Die Kohärenz der Nachrichtenformate wird darüber hinaus durch vielerlei Vermittlungshilfen sicher gestellt, welche die narrative Form der journalistischen Aufbereitung der Sendungen ergänzen. So spielten im Laufe der Fernsehgeschichte die visuellen Präsentationsformen von Nachrichten eine immer tragendere Rolle. Nicht erst die Entscheidung, ob sie seriös oder eher jugendlich-flippig oder sensationsheischend daherkommen soll, ist relevant bei der Kreierung von Glaubwürdigkeit. Auch die Darstellung des Undarstellbaren wurde zum Instrument, um dem Zuschauer nichts mehr vorenthalten zu müssen. Mittels der Möglichkeiten digitaler Animationstechnik lassen sich .reale' Abläufe simulieren und somit überall dort visuelle Lücken schließen, die durch das Fehlen von Bildmaterial entstehen: „Durch die lückenlose visuelle Beweisführung werden Evidenzen aus Bildercollagen produziert" (Adelmann 2004: 54). Der Einsatz von Simulationstechnologien hat nicht, wie teils befürchtet, zu einer .Entwirklichung' der Informationsvermittlung geführt, sondern eine gar noch größere Nachfrage nach weiteren solcher „visuellen Schließungen" (ebd.: 54) angestoßen. Auf Seiten der Produzenten wie auch auf Seiten der Rezipienten konnten Gewöhnungseffekte an eine hybride neuartige Form der Ästhetik als „Teil einer medienkulturellen Entwicklung mit jeweils eigenen Wirklichkeitskonstruktionen und Wirklichkeitsrepräsentationen" beobachtet werden (Meckel 2001: 136). Die negative Konnotation von digitalen Animationselementen zwecks Simulation versperrt den Blick auf das Wesen der Fernsehnachricht selbst: Jegliche intendierte mediale Informationsvermittlung ist eine Inszenierung, wenn darunter zuallererst ein „kalkuliertes Auswählen, Organisieren und Strukturieren von Darstellungsmitteln" verstanden wird, das „in besonderer Weise strategisch auf Wirkung berechnet ist" (Meyer/ Ontrup/Schicha 2000: 13), oder noch allgemeiner eine „Handlung zur Darstellung eines Rahmens, der seinerseits eine Handlung oder Handlungsabsicht begründet" (Hoffmann 2003: 81). Übertragen auf das Fernsehen bedeutet Inszenierung im speziellen Sinne eine Anordnung von Bildern und Tönen zum Zwecke ihrer Zurschaustellung und der Kommunikation bestimmter Inhalte (vgl. Hickethier/Bleicher 1998: 369). Dabei können die vermittelten Sachverhalte und Prozesse vom Rezipienten im Regelfall nicht einmal annähernd überprüft werden. Angesichts dieser „Doppelstruktur" aus vormedialer und medialer Inszenierung (ebd.: 371), die für den Journalisten, aber nicht für den Nutzer erfahrbar ist, wiegt das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen umso schwerer.

100 Die Berichterstattung über den europäischen Einigungsprozess ist ein Beispiel für eine außergewöhnliche lange Nachrichtenerzählung, die bereits Anfang der 1950er Jahre begann und in unregelmäßigen Abständen die tagesaktuelle Nachrichtenlage bestimmte und weiter bestimmt wie unter anderem bei der Uneinigkeit einiger EU-Mitgliedsstaaten in Bezug auf die Unterzeichnung der Europäischen Verfassung.

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

Zentrale Bereiche des gesellschaftlichen Lebens haben sich nach den Medien und speziell dem Fernsehen ausgerichtet und stellen damit die Authentizität vormedialer Prozesse und Handlungen in Frage. Altheide und Snow haben gezeigt, wie bereits Anfang der 1990er Jahre die gesellschaftlichen Institutionen Unterhaltung, Nachrichten, Politik, Religion und Sport unter dem Einfluss televisueller Prinzipien standen (Altheide/Snow 1991). Augenscheinlichstes Beispiel sind den Autoren Fernsehprediger, welche den Sinn und Zweck religiösen Handelns vollständig dem Rahmen der Fernsehinszenierung überantwortet haben. In Deutschland untersuchte unter anderem Andreas Dörner das Phänomen „Politainment", einer bestimmten Art von Mediatisierung der Politik, die maßgeblich von den Medien und speziell vom Fernsehen vorangetrieben wurde und auch weiterhin wird (Dörner 2001). Problematisch werde diese Entwicklung, wenn dadurch die journalistische Aufgabe des Hinterfragens und In-Frage-Stellens untergraben werde und einer kritiklosen Affirmation den Weg bereite (vgl. auch Schicha 2003). Das einzig verbleibende Positiv-Potenzial der Politikinszenierung beispielsweise bei einer politischen Talkshow leite sich am Show-Begriff selber ab: Der Zuschauer sieht die Akteure und ihre Konflikte, wie sie sich vor laufender Kamera zutragen und ihm gezeigt werden. „Das Publikum wird jenseits aller Spezialdiskurse in ein gemeinsames Gespräch über relevante politische Entwicklungen und Probleme eingebunden" (Dörner 2001: 140-141). Journalisten fallt die Aufgabe zu, sich mit ihrer professionellen Expertise und dem ihnen zur Verfügung stehenden Handwerkszeug dem wahrhaftigen Kern ihrer Beobachtungen zu nähern und den Rezipienten darüber in Kenntnis zu setzen. Daher können und wollen Fernsehveranstalter die klaffende Wissenslücke zwischen sich und ihren Zuschauern nicht schließen und den Wissensvorsprung ihres Nachrichtenpersonals nicht schwinden sehen, ist es doch deren Aufgabe, Aufklärungsarbeit nach ihren eigenen standardisierten Regeln zu leisten und sich dadurch in ihrer herausgehobenen Kommunikatorfunktion zu legitimieren. Diese etablierten Vermittlungsstandards richten sich nach journalistischen wie auch nach technischen Kriterien. Die Bewertung der Glaubwürdigkeit hängt indes nicht ausschließlich vom Kontingenzgrad der medial vermittelten Informationen und ihrer Übereinstimmung mit dem „journalistischen Code" (vgl. Hickethier 1997b: 17) ab, sondern gründet sich zu einem erheblichen Teil auch auf weitere Rahmenfaktoren, die einen hohen Subjektivitätsgrad aufweisen, wie unter anderem die Reputation der vermittelnden Instanz. Die Anmutung von Seriosität kann ganz unterschiedlich heraufbeschworen werden: Versachlichung und Entemotionalisierung bei der Nachrichtenpräsentation sind klassische Maßnahmen, um einen Eindruck von Glaubwürdigkeit zu generieren. Bei weiten Publika als besonders vertrauenswürdig geltende Sendungen wie in Deutschland die „Tagesschau" und „heute'-Nachrichten bzw. in den USA „See It Now" in den 1950ern und die „CBS Evening News" mit Walter Cronkite in den 1960er und 70er Jahren, errangen ihren Zuspruch vor allem von der seriösen Ausstrahlung ihrer Nachrichtensprecher bzw. Moderatoren. Cronkite zum Beispiel galt dem Fernsehpubli-

III. 6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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kum lange Jahre als „Most Trusted Man in America" (vgl. Westman/Sandland 1980).101 Es waren und sind solche Sendungen, die stellvertretend für alle Senderaktivitäten und sogar das Medium Fernsehen selbst Glaubwürdigkeit und Vertrauen fördern. Der Zuschauer tariert die Vertrauenswürdigkeit gemeinhin nicht nach der abstrakten Mediengattung (z.B. Fernsehen/Radio/Zeitung) aus, sondern nach konkreten Sendern und Sendungen, wie Bentele am Fallbeispiel von Einzelmedien in West-Berlin zeigte (Bentele 1988:415) - ganz nach dem klassischen Motto von Carl Hovland und Kollegen: „The effectiveness of a communication is commonly assumed to depend to a consderable extent upon who delivers it" (Hovland/Janis/Kelley 1953: 19 - Hervorh. LK). Das Vertrauen in die Mise-en-Szène von Informationssendungen gründet sich nach Auffassung des Kommunikationswissenschaftlers Wolfang Schweiger auf ein Sechs-Stufen-Modell, das sich durch die Möglichkeit des Glaubwürdigkeitstransfers von einer Stufe zur anderen auszeichnet (Schweiger 1999: 92-93): Die Hierarchie der Stufen richtet sich nach der Reihenfolge der Konfrontation des Zuschauers mit dem Medium, seinen Akteuren und Inhalten. An oberster Stelle steht der Präsentator, dem eine Schlüsselfunktion bei der Attestierung von Glaubwürdigkeit zukommt. „Die Nachrichtenerzähler .organisieren durch ihre Erzählung das berichtete Geschehen, geben diesem Form und Struktur, ordnen das Geschehen in größere Zusammenhänge ein, liefern Orientierungen über das, was zu vermitteln ist. Sie leiten die Beschreibungen und Darstellungen ein, führen aus sie heraus und schließen sie ab" (Hickethier 1997b: 7). Dem Nachrichtensprecher bzw. -moderator und seiner Arbeit zu vertrauen, ist ein ausschlaggebendes Kriterium für die Glaubwürdigkeit des Nachrichteinhalts. Sie fungieren als .Gesicht' der Sendung bzw. sogar als Aushängeschild eines ganzen Senders.102 In Nordamerika hat sich der Begriff .Anchorman bzw. .Anchorwoman oder kurz und geschlechtsneutral: .Anchor', durchgesetzt, und die metaphorische Rede vom Präsentator als „Anker" ist mehr ein griffiges Schlagwort zur Ikonisierung von „Talking Heads" (Fentsch 2001: 1) in Fernsehnachrichten: 103 „The world changes, but the television personality stays the same" (Langer 1981: 187). Je länger ein Akteur im Fernsehen agiert, je repetitiver also seine Erscheinung in der Medienöffentlichkeit ist, desto vertrauenswürdiger erscheint er, desto mehr Gewicht wird seinen Einschätzungen gegeben, desto stärker wird sein Status als „guarantatorf.] of truth": ,,[V]iewers [...] are taken by the hand and

101 Cronkite selbst hatte dagegen eine zunehmend kritische Haltung gegenüber dem Fernsehbetrieb (Rottenberg 1994). 102 Dies ließ z.B. Christiane Amanpour zur Werbeträgerin von CNN werden. Auch in Deutschland werben Sender gerne mit ihren leitenden Nachrichtenmoderatoren und entwerfen sie als Botschafter für ihre Senderphilosophie wie beispielsweise im Falle von Peter Kloeppel von RTL, „Mister Charming" Klaus Kleber vom ZDF (Stopp 2007) oder .Mister und Miss Tageschau' KarlHeinz Köpke und Dagmar Berghoff. 103 Wobei natürlich die Zuschauerbindung aus Sicht des Fernsehveranstalters bei der Begriffskultivierung im Vordergrund steht.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

carefully guided through the daunting, potentially chaotic complexities of life with the assurance that there will always be someone there to advise them" (ebd.: 194). Das Charisma der .Anchors' ist ihr wichtigstes Gut (vgl. Westin 1982:121), ist es doch Ausdruck ihrer .unvergleichlichen Fernsehidentität und damit Haltepunkt für die Sympathien der Zuschauer. Sie sind beständige Bezugsperson des Zuschauers, geben ihm die Möglichkeit zur para-sozialen Interaktion, die sich auch darin ausdrücken kann, dass der Zuschauer den Fernsehcharakter am Ende der Sendung ebenso (z.B. in die Nacht) verabschiedet wie dieser ihn bzw. die Zuschauer als abstrakte Masse (Levy 1979). Während üblicherweise gepflegtes Äußeres, gedeckte Kleidung und ein sachliches Verhalten als seriös und glaubwürdig gilt (vgl. Karstens/Schütte 2005: 156), mögen jugendliche Zuschauer womöglich eher den VJ auf MTV für authentisch und glaubwürdig halten, weil er ihrer Lebenswirklichkeit vom Alter, Ausdruck und Gestus nahekommt. Auf der zweiten Stufe werden die Akteure bzw. Urheber verortet, die in der Fernsehsendung auftreten und deren Aussagen erörtert werden. Bereits hier zeigt sich, wie die einzelnen Glaubwürdigkeitsfaktoren sich untereinander stören oder stärken können: Eine Person des öffentlichen Lebens wie beispielsweise ein Spitzenpolitiker, der in der Bevölkerung hohe Glaubwürdigkeitswerte erzielt und als authentisch gilt, kann mittels eines Interviews der Fernsehsendung mit seiner Präsenz ehren und ihre Reputation und Glaubwürdigkeit erhöhen. Anders herum aber kann ein Gesprächspartner während einer Live-Schaltung von dem renommierten Anchor auch bloß gestellt werden, wenn es zu Ungereimtheiten in seinen Antworten kommt. Auf der dritten Stufe folgen die redaktionellen Einheiten, unter die Schweiger Sendungen, aber auch einzelne Meldungen einordnet. Dies lässt sich am Beispiel der „Tagesschau" illustrieren: Über fünf Jahrzehnte ist das Nachrichtenformat aus Hamburg auf Sendung und hat sich als „überragende Marke" (vgl. Kramp 2009) etabliert, die darüber hinaus auch erfolgreich als „Inbegriff von distanzierten, objektiven, seriösen und kompetenten Nachrichtenvermittlern" (Dernbach 2005: 144) ins Internet expandierte. Das Vertrauen in die „Tagesschau" ist so groß, dass sie auch in neuen Medienumgebungen als zentrale Anlaufstelle für die Nachrichtenvermittlung fungiert (vgl. Kramp 2009). Ähnlich einer vertrauten Person, die immer da ist, die Ordnung hütet und Orientierung gibt, inszeniert die „Tagesschau" ihre dokumentarische Authentizität als Marke doch subjektlos (Heller 1994: 100): „Was die Concierge als Person betreibt, besorgt die,Tagesschau' als Betrieb. Information ist sein Auftrag, Ordnung der Weltwahrnehmung und damit indirekt Herrschaft über Köpfe seine zweite, keineswegs dysfunktionale, doch selbständig erworbene Macht. Die .Tagesschau' ist eine desubjektivierte, immaterielle und also invertierte Concierge. Sie handelt nicht in persönlichem, sondern in öffentlich-rechtlichem Auftrag, und nicht als Person, sondern als Instanz" (Schmitz 1990:271). Die vierte Stufe nehmen Medienprodukte, also die einzelnen Programmangebote der Fernsehveranstalter ein. Die Glaubwürdigkeit der ARD überträgt sich in gewisser Weise auch auf die Dritten Programme, ebenso wie sich Lokalsender in der US-amerikanischen

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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Provinz gern als Partner eines der großen Networks rühmen. Genuine Informationspartensprogramme wie CNN, FOX News, Bloomberg bzw. die deutschen Sender η-tv und N24 werben für sich mit einer ausgeprägten Expertise im Nachrichtenjournalismus wie beispielsweise CNN USA mit dem Slogan „The most trusted name in news" und CNN International mit „Be the first to know" (vgl. Tungate 2004: 16). Mit der fünften Stufe werden die Subsysteme innerhalb von Mediengattungen ins Auge gefasst, also das öffentlich-rechtliche und das kommerzielle Fernsehen in Deutschland sowie die „Big Three" bzw. mittlerweile „Big Five" (neben ABC, CBS und NBC auch FOX und The CW) in Nordamerika versus die Kabelindustrie versus die öffentlichen Sender. In Deutschland wird den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten von Seiten der Nutzer regelmäßig Sachlichkeit und Glaubwürdigkeit bescheinigt und eine hohe Kompetenz bei der Nachrichtenaggregation und -Vermittlung zugeschrieben, den kommerziellen Fernsehprogrammen dagegen eher Qualitäten wie Unterhaltsamkeit, Modernität und Lockerheit attestiert (Reitze/Ridder 2006: 81). In den USA ist eine solch deutliche Unterscheidung durch die marktbeherrschende Dominanz der privaten Fernsehveranstalter nicht zu treffen. Der öffentliche Sender PBS hat unter anderem aufgrund latenter Budgetprobleme traditionell ein nur schwaches Profil im tagesaktuellen Nachrichtenjournalismus. 104 So stellte sich den US-amerikanischen Zuschauern bereits in den 1950er Jahren die schwierige Frage, welchem der großen Networks, die keinen genuin öffentlichen Auftrag erfüllten, sondern kommerziellen Zielen folgen, sie ihr Vertrauen schenken sollten. Auf der sechsten Stufe der Glaubwürdigkeitsbemessung differenziert Schweiger schließlich zwischen den einzelnen Mediengattungen wie Fernsehen, Radio, Presse und Internet. Die Informationsangebote des Fernsehens können also auf verschiedenen Ebenen die Problemlösungsfähigkeit der Gesellschaft erhöhen, weil sie Informationen zirkulieren lassen, die von der mit Abstand höchsten Zahl an Mediennutzern rezipiert werden. Dass Fernsehnachrichtenformate von vielen Rezipienten verfolgt werden, wird täglich durch Einschaltquoten belegt. Bezogen auf einzelne Sendungen wie „Tagesschau" und „heute" bzw. auch „CBS Evening News", „60 Minutes" oder die kanadischen „CBC News" wiederum lässt sich konstatieren, dass sie aufgrund ihrer Erfolgsgeschichten hohe gesellschaftliche Relevanz besitzen und seit Generationen als „Verallgemeinerungsinstanzen" akzeptiert werden (vgl. Halff 1998: 134). Diese historisch gewachsene Setzung hat eine autarke Kompetenz zur Folge, durch welche die betreffende Fernsehsendung bezogen auf ihre Glaubwürdigkeitsstatus letztlich bis zu einem hohen Grad unangreifbar wird: „Die Relevanz von Tagesschau und heute macht sie relevant. Ihre Glaubwürdigkeit wird für des Glaubens würdig befunden. Sie sind glaubwürdig, weil sie glaubwürdig sind" (ebd.: 134 - Hervorh. im Orig.).

104 PBS substituierte diese vornehmlich ressourcenbedingte Schwäche mit der vorrangigen Entwicklung investigativer, weitgehend aktualitätsunabhängiger Magazinformate wie „PBS Frontline".

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Diese keinesfalls tautologische Formulierung macht noch einmal deutlich, wie eingreifend inter-generationale sowie wiederholt gefestigte kollektive Wertzuschreibungen individuelle Vertrauensschenkung leiten. 6.2.3. Erschütterung der

Glaubwürdigkeit

„TV News constitutes the viewer as a member of a public that is removed from its own collective experience and memory", konstatierte der schwedische Kommunikationswissenschaftler Peter Dahlgren (Dahlgren 1981: 301). Beschrieben wird hier die vollkommmene Abhängigkeit des Rezipienten vom Diskurs der Fernsehnachrichten, deren Hintergründe dieser nicht kontrollieren kann und sie oft nicht einmal versteht. Dahlgrens Schlussfolgerung, die Nutzer seien in ihrer Konsumfunktion abgekoppelt von einer organischen Wahrnehmung der Welt, unterstreicht die Dominanz der Fernsehkommunikate im gesellschaftlichen Diskurs über die Wirklichkeit. Nicht jedes Fernsehbild ermöglicht dieselbe Intensität des Erlebens: Live-Übertragungen signalisieren dem Zuschauer Aktualität und erhöhen allein durch ihre scheinbare Unmittelbarkeit den vermuteten Informationswert. Aufgezeichneten Bildern wird dagegen allenfalls illustrierender Charakter zugeschrieben, da sie gestrig und veraltet und somit inaktuell wirken. Die Kulturwissenschaftlerin Mary Ann Doane folgerte daraus, dass Glaubwürdigkeit von Fernsehinformationen an die Direktheit der Nachrichtenbilder gekoppelt sei: „Television thrives on its own forgettability. While the concept of information itself implies the possibilities of storage and retrieval (as in computer technology), the notion of such storage is, for television, largely an alien idea. Some television news stories are accompanied by images labeled .file footage,' but the appellation itself reduces the credibility of the story. Reused images, unless carefully orchestrated in the construction of nostalgia, undermine the appeal to be ,live' and the instantaneous which buttresses the news" (Doane 1990: 226) Authentizitätsfördernd ist dieser Ansicht nach vor allem die Echtzeit-Berichterstattung. Wiederverwandte Bilder aus dem Archiv dagegen unterminieren zwar nicht die Glaubwürdigkeit, sie verfügen aber im direkten Vergleich nicht über einen ähnlich hohen Informationsgehalt, da einerseits nichts tatsächlich Neues kommuniziert wird, sich andererseits eine Barriere zeitlicher Distanz zwischen Bild und Zuschauer aufbaut. Die Audiovisionen an sich werden jedoch durch die fließende Sendeabfolge egalisiert: Alle Bilder werden in dem Moment gesendet, in dem sie empfangen werden. Es macht keinen fühlbaren Unterschied, ob sie live gesendet werden oder nicht (Cavell 2002: 145). Es braucht vielmehr Hinweise darauf, dass es sich (nicht) um die Jetztzeit', also u m LiveBilder handelt, damit erkennbar wird, ob es zwischen Aufnahme und Sendevorgang eine zeitliche Diskrepanz gibt.

III.6. Die Glaubwürdigkeit

des

Fernsehens

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Die Live-Fixierung ebnete auch den Weg der sogenannten „Eyewitness"- und „Action News" in den USA, die den Zuschauer durch völligen Distanzverlust,105 Populismus, Simplifizierung und Emotionalisierung zu packen suchen (vgl. Knight 1989: 106-107). Diese von Hyperaktivität und Hyperrealismus gekennzeichneten Nachrichtenformate verlagern den Anspruch von Authentizität hin zu einem Anschein von Authentizität: „TV has helped to shift the grounds of news judgement from accuracy to credibility, from what is true to what can be believed to be true, and from factuality to authoritative statement" (ebd.: 102). Durch ihre Gatekeeper- bzw. Schleusenfunktion unterschlagen Nachrichtenredaktionen mittels klar priorisierender Auswahl der zur Vermittlung in Frage kommenden Kommunikate regelmäßig Informationen, was die Gefahr birgt, dass dadurch nicht nur eine journalistisch genormte Wirklichkeit suggeriert wird, sondern auch Verfälschungen von Sachverhalten und Geschehnissen entstehen, die auf fehlenden oder falschen Kontextualisierungen basieren: „Die technischen Mittel, die uns die Wirklichkeiten dieser Welt bis unter die Haut nahebringen, sind die gleichen, die auch bestimmte Wirklichkeiten buchstäblich verschwinden und ins Vergessen absinken lassen" (Kreimeier 1993: 12). Sollte beispielsweise kein Bildmaterial über einen Sachverhalt vorliegen, ist die Wahrscheinlichkeit der ausführlichen und anschaulichen Berichterstattung geringer, da die Priorität des Fernsehnachrichtenjournalismus auf der bildhaften Darstellung basiert (Yorke 1987; Frost 2002: 115). Hinzu kommen handwerkliche oder der „Wort-Bild-Differenz" (vgl. Hickethier 1997b: 16) innewohnende Mängel, wenn sich die Diskrepanz zwischen dem visuell Dargestellten und dem sprachlich Dargebotenen zu einer „Wort-Bild-Schere" ausweitet und beim Zuschauer Irritationen auslöst, da missverständliche Botschaften gesendet werden. So kann der evidente Anschein von Bildern die Glaubwürdigkeit mancher Aussagen unterspülen und Glaubwürdigkeitskonflikte verursachen (vgl. Schütz 2003: 198). All dies mag Zweifel an der Kompetenz und der Leistungsfähigkeit eines Senders bzw. einer bestimmten Nachrichtenredaktion schüren. Ist das Vertrauen des Fernsehnutzers in einen Sender oder eine Sendung beschädigt, steigt die Wahrscheinlichkeit einer oppositionellen Haltung des Zuschauers, welche seine Aufnahmefähigkeit reduziert. Schon der Verdacht ideologischer Prägung von Nachrichtensendungen erzeugt auf Seiten des Rezipienten die Gefahr der Entstehung von „cognitive roadblocks", die die Informationsaneignung einschränken (Turner 2007: 442). Das Vertrauen in die journalistische Unabhängigkeit bei der der Erstellung des Nachrichtenangebots und die Glaubwürdigkeit der Fernsehcharaktere sind die wohl wichtigsten Konstituanten für die Akzeptanz der Fernsehwirklichkeit als adaptierbar und die Wirksamkeit der medialen Informationsleistung. Sollte sich der Zuschauer um sein Recht auf unverfälschte Information betrogen fühlen, gerät das fragile Verhältnis zwischen der Vermutung von Manipulation hinter 105 Knight sah in dieser Form von „Tabloid News" eine effektvolle Kombination aus der Erzählinstanz des Nachrichtensprechers und der Übertragungstechnologie, „to envoke an effect of participation, involvement, and caring on the one hand, and immediacy, rawness, and closeness on the other" (Knight 1989: 106).

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Femsehens

der televisuellen Inszenierung auf der einen und der Glaubwürdigkeit gegenüber dem Evidenzcharakter der Fernsehbilder auf der anderen Seite ins Ungleichgewicht. Nun gehört die Täuschung (auch die Täuschung seiner Selbst) zu den intimsten Schutz- und Durchsetzungsmechanismen des Individuums in ständiger Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt: „Der Mensch täuscht sich und die andern über das, was er ist und will", schreibt der Philosoph Hans Barth (Barth 1945: 223). Und weiter: „Der Mensch ist nicht an der Wahrheit interessiert, sondern an den nützlichen Folgen, die sie für ihn hat. [...] Nicht die .angebliche Wahrheit' verpflichtet, sondern ,ein Glauben, Wahrheit zu haben" (ebd.: 225). Vorgeben, etwas anderes zu sein, zu haben, zu machen oder zu beabsichtigen, gehört zu den Handlungskonventionen der alltäglichen Selbstinszenierung (vgl. Goffman 1969), wenn auch nur in gradueller Abweichung vom Tatsachenbestand und zwecks Durchsetzung von gesteckten Zielen; aber ebenso sich Täuschungen hinzugeben, sie für ,bare Münze' zu nehmen. Getäuscht zu werden wiederum, gar arglistig, setzt voraus, dass zuvor ein Vertrauensverhältnis bestanden hat, das mit Absicht hintergangen wurde, um ein Ziel zu erreichen. Ist eine Täuschung erfolgreich, handelt es sich also um einen einseitigen Verstoß gegen das Privileg des Vertrauens. Je nach Ausmaß des Vertrauensbruches und der konjunktierten Gefühle bleibt die mit dem Bruch einhergehende Enttäuschung, also die desillusionierende Erkenntnis, dass man hintergangen wurde, zwar gemeinhin in Erinnerung, nicht aber die Folgeinteraktion mit der betreffenden Person bzw. Instanz, da ihren Aussagen kein oder nur noch wenig Glauben geschenkt wird. Auch das Fernsehen täuscht, wie dargelegt wurde, gern darüber hinweg, dass es mit jeder Sendung seine eigene(n) Wirklichkeit(en) inszeniert, um dem Zuschauer zu suggerieren, es handele sich um die .Realität', und damit die Informationshoheit zu behalten. Diese Täuschung ist jedoch gesellschaftlich anerkannt, entbehrt also das wesentliche Merkmal des betrügerischen Hintergehens. Auch wenn Zuschauer sich die Realitätsakzente bei jeglichen Inhalten selbst konstruieren und durchaus um die simulativen Merkmale der Fernsehdarstellung wissen, diese Kenntnis aber für ihre Handlungsziele wie Zeitvertreib durch Spiel oder generell Unterhaltung umsetzen (vgl. Leister 2001), sind sie in erheblichem Maß intendierten Täuschungen durch Fernsehproduzenten hilflos ausgeliefert, da sie in der Regel die vormediale .Realität' bzw. Inszenierung nicht kennen und nur Zugriff auf das Sendeprodukt, nicht aber auf die Hintergründe der medialen Inszenierung haben. „Da vom Zuschauer weder die gefälschten noch die echten Nachrichten in ihrer übergroßen Mehrheit auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden können (es sei denn durch den Vergleich mit ähnlichen Nachrichten in anderen Medien, was aber auch keinen Wahrheitsbeweis darstellt), ist schon der Verdacht, auch nur einiges an diesen Nachrichtenerzählungen könnte erfunden sein, gefährlich für die gesamte Konstruktion" (Hickethier 1997b: 16) Seine ungebrochene Popularität und die televisuelle Durchdringung des Alltags machen das Fernsehen zum willkommenen Ziel für diverse Versuche der externen Einflussnah-

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me. Sendezeit ist in mehrfachem Sinne kostbar: Die Reichweiten sind hoch, ebenso die Glaubwürdigkeitswerte, was Fernsehpräsenz zu einem gewinnbringenden Publizitätsvehikel macht. Andererseits verschlingt das Füllen von Programmzeit auch hohe Geldsummen, weshalb die Veranstalter mitunter dankbar auf kostenlos oder günstig zur Verfügung gestelltes Fremdmaterial zurückgreifen. Die Instrumentalisierung von Informationssendungen für eigennützige Interessen ist eine latente Gefahr, der Redaktionen mit journalistischen Filtern begegnen. Diese aber können auch versagen: In den USA sorgte die Anfälligkeit dieser ethischen Instanz wiederholt für Aufregung. Der Hang von Nachrichtenredaktionen, sogenannte ,Video News Releases' von öffentlichen und unternehmerischen Stellen ungeschnitten in ihre Berichterstattung zu übernehmen und teilweise als eigenes Filmmaterial auszugeben, ließ die Medienkritik um die journalistische Unabhängigkeit bangen (vgl. Kleinfield 1989). Die Video News Release sei „heat-and-serve coverage, a fully-polished news segment created by PR professionals to be seamlessly blended into local and national broadcasts. As long as it looks like news, acts like news, and smells like news, stations have no problem running the piece as their own. The publicists, unlike the rest of us, enjoying having their work stolen without credit" (Price 2004). Dass äußere Einwirkungen der Glaubwürdigkeit von Fernsehangeboten schaden können, liegt in der Verantwortung der Sender selbst. Kosteneinsparungen und Ressourcenmangel lassen die journalistische Gatekeeper-Funktion in den Hintergrund treten und öffnen die Kanäle für eben jene externen Interessensvertreter, welche die US-amerikanischen Networks in den 1940er und 50er Jahren in Form der Sponsorenprogramme ein für allemal als Programmmacher zu vertreiben suchten. Zudem setzen Konkurrenzdruck und Profilierungsabsichten das Fernsehen einem Generalverdacht aus, zugunsten von Wettbewerbsvorteilen die Berichterstattung zu sensationalisieren und es mit der Wahrheit nicht mehr so genau zu nehmen. Wenn der inszenatorischen Illusion von .Realität' mehr Gewicht gegeben wird als der ethischen Verpflichtung, transparent und nachvollziehbar über die Konstruktion von Fernsehwirklichkeit zu unterrichten, werden televisuelle Fälschungen beliebig. Zwar wird der Golfkrieg 1990/1991 mitunter als Auslöser der Jagd nach sensationellen Bildern bezeichnet (Bickenbach 2005: 340), doch war dieses „Fernsehspektakel" (Schuster 2004: 26) nur der auffälligste Anlass, den Bilderhunger, der dem Rund-um-die-Uhr-Fernsehen entwuchs, stillen zu wollen. Fälschungen oder Verstöße gegen das Diktum der Überparteilichkeit werden meist erst offensichtlich, wenn sie von anderen Medien oder vom Fernsehen selbst aufgedeckt werden und Aufmerksamkeit generieren. Vertrauensverlust in Bezug auf bestimmte Medienangebote geht in der Regel von spezifischen Vorfällen aus, die intramedial als Störung des Systems und intermedial in vielen Fällen als Skandal thematisiert werden (vgl. Bentele/Seidenglanz 2008). Kein Massenmedium ist vor solchen Skandalen gefeit. Prominente Beispiele sind die größtenteils erfundenen Berichte des Reporters Jayson Blair in der „New York Times" (vgl. Kramp 2008), die angebliche Entdeckung der Hitler-Tagebücher inklusive Fotobeweis durch den „Stern" (vgl. Seufert 2008) oder der im Jahre 1990

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weltweit für erhitzte Gemüter sorgende Fälschungs-Coup des Produzenten Frank Farian, der sein mit dem Grammy ausgezeichnetes Pop-Duo Milli Vanilli zwar auftreten ließ, aber das Singen lieber anderen (u.a. sich selbst) überließ (vgl. Auslander 1999: 61-111). Große Fälschungsskandale im Fernsehen gab es seltener. In den USA sorgten mehrere gefälschte Fernsehbilder für nicht mehr als ein kurzes Aufhorchen der Medienkritik: Als die Nachrichtenmac/ier von „World News Tonight" des Senders ABC im Mai des Jahres 1989 kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs zwar spektakuläre Enthüllungsinformationen über einen US-Spion mit Diplomatenstatus vorliegen hatten, aber die passenden Bilder fehlten, schössen sie kurzerhand ein Foto von zwei ABC-Fernsehproduzenten mit einem Aktenkoffer und bearbeiteten das Foto so, dass einer der Männer dem Diplomaten verblüffend ähnlich sah. Zusammen mit einer illustrierenden Stadtaufnahme Wiens aus dem Archiv wurde der Geheimnisverrat per Kofferübergabe simuliert, nur war allein die Archivszene als „Simulation" gekennzeichnet, nicht aber das Foto (Wise 1990). Der Vorfall schlug kurz hohe Wellen und war nach einer Entschuldigung des angesehen Anchorman Peter Jennings im laufenden Programm schnell vergessen. Ähnlich ephemer erwies sich die Empörung über die .Branding'-Tätigkeit der Informationsabteilung des Senders CBS, welche mehrere Bildberichte in Sendungen wie den Magazinen „The Early Show" oder „48 Hours", aber auch in den Abendnachrichten mit digitalen CBS-Logos angereichert hatte. Die virtuellen Logo-Projizierungen auf Gebäuden wie dem Hauptsitz des Automobilkonzerns General Motors oder auf einer durch den New Yorker Central Park rollenden Pferdekutsche muteten offenbar so echt an, dass sie erst auffielen, als bei den Silvesterfeierlichkeiten im Jahre 1999 auffällig viele Leuchtreklamen am New Yorker Times Square mit den großen drei Buchstaben des Senders warben (Kuczynski 2000). Andere Fälschungen dagegen sind nur selten für den Zuschauer zu erkennen und gehörten schon früh zum dramaturgischen Handwerkszeug von Produzenten wie im Fall der Deklarierung von Dokumentarfilmen als „True Stories", die entgegen dem dokumentarischen Authentizitätsversprechen aus vielerlei durchaus auch nachvollziehbaren Gründen nicht ohne fiktionale Adjustierungen auskommen (vgl. Davidson 1976). Während solche Vergehen im Rückblick wie mindere Skandälchen mit dem Charme einer harmlosen Fopperei106 wirken, weil sie nicht nachhaltig und konsequent genug als Gefährdung des Konstrukts Fernsehwirklichkeit eingestuft wurden, erregte der deutsche Journalist Michael Born internationales Aufsehen, als bekannt wurde, dass er privaten wie auch öffentlich-rechtlichen Sendern zahlreiche gefälschte Magazinbeiträge verkauft hatte. In seinen Filmen zeigte er all das, was die Redakteure der Fernsehmagazine seiner Aussage nach für erfolgsversprechend hielten: Aufregerthemen, schockierende Sensationen. Unter anderem zeigte Born indische Kinder beim Teppichknüpfen, angeblich im Auftrag von IKEA, oder einen Jäger, der wahllos wilde Katzen im Wald erlegte, oder 106 Mit dem saloppen Begriff der Fopperei, der im heutigen Sprachgebrauch zwischen Scherz und Betrug zu verorten ist, soll keineswegs die negative Tragweite der Verstöße gegen das journalistische Ethos verharmlost, sondern vielmehr auf das Ausbleiben nachhaltiger Kritik und Problematisierung im intermedialen Diskurs verwiesen werden.

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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sogar einen Bombenanschlag in Bethlehem zur Weihnachtszeit (vgl. Friedrichsen 1996). Keiner der Filme zeigte .reale' Begebenheiten, obwohl Born anfangs noch den Anspruch hatte, zumindest .wahre' Themen zu bebildern, für die ein tatsächlicher Dreh aber zu gefährlich gewesen wäre wie im Falle eines Films über Drogenkuriere. Er bezahlte Laiendarsteller oder fügte am Schneidetisch Archivaufnahmen zusammen, um eine Sensation nach der nächsten liefern zu können. Schließlich sorgten Ermittlungen des Bundeskriminalamtes anlässlich eines Born-Filmes über angebliche Aktivitäten des Ku-Klux-Klans in Deutschland für die Enthüllung der unlauteren Praktiken des freischaffenden Fernsehfilmers, der sogar seine Mutter zu einer schauspielerischen Mitwirkung überredet hatte. Born selbst rechtfertigte sich damit, dass die Sender selbst die Fälschungen in Auftrag gegeben hätten, weil sich „Infofiktion" gut verkaufe (vgl. Born 1997: 182). „Meine Verhaftung kam leider zu früh. Schon länger hatte ich, anfangs zusammen mit einem Kollegen aus der Branche, an meinem eigenen Outing gearbeitet. Teile dieses Buches habe ich vor meiner Festnahme verfasst, wollte eigentlich die ganze Szene hochgehen lassen. Heute werfe ich mir vor, dass ich viel zu lange mitgespielt habe, doch wenn man einmal dabei ist..." (ebd.: 174). Klaus Kreimeier nannte Born einen „klassischen Dokumentarfilmer, der die Geschehnisse vor seiner Kamera so arrangiert hat, wie sie sich hätten ereignen können" (vgl. Kreimeier 1996b - Hervorh. LK). Angesichts der schier grenzenlosen Manipulationsmöglichkeiten mittels Digitaltechnik in den Folgejahren sei Born einer der letzten „vor-digitalen Handwerker der Fälscherinnung" gewesen (vgl. ebd.). Andere gestanden Born den guten Willen zu, weniger aus Habgier als aus Gründen der Demaskierung televisueller Produktionspraktiken gehandelt zu haben. Seine Filme erscheinen damit als „wahrhaftige Berichte von der Fernsehwirklichkeit" (vgl. Bickenbach 2005: 333), die nicht zu bestrafen seien, sondern dem geschützten Recht der freien Meinungsäußerung unterlägen (vgl. Winston 2000: 120). Dann aber ist die Skandalisierung des Mediums durch die Skandalisierung ihrer selbst das Ziel der Fälschung; denn nur der Skandal führt dem Massenpublikum die „Spezialität des Bildermediums" (Weischenberg 1997: 48), die weiche Grenze zwischen der geduldeten und der verwerflichen Inszenierung vor Augen: „Given the ideological power of the realist image in claiming to be trustworthy, it is clearly legitimate to use a faked documentary form to force the audience, as it were, to confront its credulity in such images and its prejudices about what they might represent" (Winston 2000:37). Erst durch die Entlarvung einer Fälschung und ihre Skandalisierung wird diese erinnerungswürdig - unentdeckt blieben solche Beiträge Ephemera im Fluss der Dauersensationen. Der Skandal bleibt in Erinnerung, weil er eine Ausnahmeerscheinung darstellt: Skandale brandmarken einen Makel im öffentlichen Leben, sind je nach Ausprägung ein bloßes Ärgernis, eine Affäre oder ein tiefgreifender Bruch mit den Konventionen (vgl. Neu 2004: 7) und entsprechen damit einem gesellschaftlichen Unwohlsein, das schleunigst in Ordnung gebracht werden muss. „Das ultimative Korrektiv ist die Skandalisierung" (Schendelen 2006: 158). Durch sie werden Fälschungen zu Ausnahmefällen stilisiert und

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

als anormal exkludiert. Durch solche Formen intramedialer Brandmarkung soll die bedrohte Glaubwürdigkeit geschützt werden. 107 Das durchschnittliche Individuum kann im Alltag schwerlich für einen Skandal sorgen, weil ihm der Einfluss - auf die Massenmedien - fehlt (Neu 2004: 4): „Ein auf der Handlungsebene auftretender Skandal muss immer medial transportiert (also öffentlich gemacht) sowie von Rezipienten wahrgenommen und kommuniziert werden. Es braucht Massenmedien, um einen Skandal zur Entfaltung kommen zu lassen, um ihn vom Skandal an sich zum Skandal an und für sich zu machen" (ebd.: 6 - Hervorh. im Orig.). Die Bedeutung des gesellschaftlichen Debattierens über die Falschheit medialer Unachtsamkeiten, und multiplizierten sie sich womöglich zum Betrug am Zuschauer, lässt sich an der Alltäglichkeit des Verfálschens durch simple Maßnahmen erkennen: Gestellte Szenen gehören zum Alltag von Fernsehjournalisten und werden ihnen weitestgehend nachgesehen. Wenn Bild-Lücken geschlossen werden müssen, werden Menschen darum gebeten zu posieren, Tätigkeiten zu simulieren, Aussagen zu wiederholen. In einen Telefonhörer zu sprechen, obwohl niemand am anderen Ende lauscht, nur um Füllmaterial für einen Nachrichtenbeitrag zu liefern, mag zwar keine folgenreiche Fälschung sein, eine Fälschung aber bleibt es dennoch (vgl. Lilienthal 1996). Schon hier, nicht erst beim Skandal (vgl. Bickenbach 2005: 335) wird die Grenze zwischen Beobachtung und manipulativer Beteiligung überschritten, nur werden solche Eingriffe als Marginalie geduldet. Bei Dokumentarfilmern wird sogar ein intentionales Eingreifen vorausgesetzt: „Documentary is the neuralgic point in establishing factuality in broadcasting. Broadcast television mixes ,the factual' and ,the fictional' and attempts to establish a boundary between them. The boundary is a soft one, pushed at from both sides: not only by programme-makers but also by .members of the public', or the .subjects of documentary'. [...] The boundary may be soft, but it is essential. It defines two distinct regimes of attention, two distinct regimes of response: those of the factual, ,our world', and those of fiction ,a parallel world'" (Ellis 2005: 351). Beim Arrangieren von Inhalten gehört der ,Fake' zur alltäglichen Sendepraxis, in der „die offensichtliche Manipulation und Fälschung nur die Spitze des Eisbergs darstellt. [...] Er ist in gewisser Weise die Normalität der Herstellung von Fernsehbeiträgen. Der Senderfake erinnert an die Medialität des Fernsehens in ihrer aktuellen Form der sensationellen Darstellung von news und facts, von infotainment" (Bickenbach 2005: 338 - Hervorh. im Orig.) Dies betrifft nicht nur Informationsformate allein, sondern auch Unterhaltungssendungen, wie der Quiz Show-Skandal im US-amerikanischen Fernsehen von 1958 eindrucksvoll gezeigt hat: Die beliebten Ratesendungen, in denen Kandidaten mehrere zehntausend US-Dollar als Gewinn in Aussicht gestellt wurden, waren als strategischer Betrug

107 Zur Genealogie von Medienskandalen und ihrer wichtigen wie auch problematischen Funktion in der Gesellschaft siehe Burkhardt 2006.

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am Publikum konzipiert, indem gezielt auf die Telegenität der ausgewählten Kandidaten sowie auf die Dramatisierung der Inszenierung geachtet wurde. So wurde unter anderem die Ventilation in den Befragungskabinen abgestellt, so dass die Kandidaten ins Schwitzen gerieten, um dem Zuschauer den Eindruck zu vermitteln, sie stünden unter Stress. Doch ganz im Gegenteil: Fragen und Antworten wurden im Vorfeld mit den Kandidaten abgesprochen, Gewinner und Verlierer von langer Hand festgelegt und im Zweifelsfall erpresst, wenn sie dem vorgefassten Drehbuch nicht folgen wollten (vgl. Doren 2008). Dennoch hat das Fernsehen bei zahllosen Gelegenheiten eine verblüffende Regenerationsfähigkeit bewiesen und Vertrauenskrisen bewältigt. Deren ephemeren Qualitäten resultieren aus der Unvereinbarkeit eines andauernden Vertrauensverlustes in die medialen Grundfesten der Gesellschaft (vgl. Ellis 2005: 356). Dies ist auch an den weiterhin hohen Einschaltquoten der Sendung „Stern TV" auf RTL zu erkennen, welche nach dem Skandal um Michael Born ins Kreuzfeuer der Kritik geraten war. Der Fall Born zeigt auf augenfällige Weise, wie sich das Vertrauen in ein Fernsehformat auf mehrere voneinander abhängige Faktoren stützt, welche im Krisenfall ein Ungleichgewicht ausbalancieren können: Moderator Günther Jauch gelang es, die Verantwortung auf das System Fernsehjournalismus abzuschieben und sich - selbst ein Teil dieses Systems - von dem Verdacht der Mittäterschaft freizumachen sowie seinen Ruf als (laut Umfragen) einer der beliebtesten deutschen Fernsehmoderatoren zu erhalten bzw. sogar später zum „beliebtesten Deutschen" gekürt zu werden (Anonym 1994; Anonym 2005; Behr 2002; Hielscher 2006; Wegener 2008: 99). Eine interessante These zu diesem rätselhaften Mechanismus wurde von Andreas Bernard in der „Süddeutschen Zeitung" formuliert: Er stellte die Frage, ob der Zuschauer möglicherweise nicht sogar eine gewisse künstlerische Freiheit selbst bei Informationssendungen erwarte, die den Unterhaltungswert steigerten. Bernard bezeichnete diese Haltung als „Wrestling-Phänomen": „Jeder weiß, dass die Kämpfe abgesprochen und gestellt sind, doch keinen stört es" (Bernard 1996). Spätestens seit der Inflation der sogenannten Reality-TV-Shows zu Beginn der neunziger Jahre, auf die im folgenden Kapitel noch näher eingegangen wird, bestehe der ungeschriebene Vertrag zwischen Fernsehsendern und Zuschauern darin, dass alle Fernsehbilder inszeniert seien (ebd.). Inwiefern es sich bei der aufgeregten Debatte im Fall Michael Borns um Bigotterie gehandelt hat, wurde ebenfalls in Frage gestellt; denn schließlich werde bei Unterhaltungssendungen und Boulevardberichterstattung ganz offen gefälscht und nur der Anschein von .Realität' gepflegt (vgl. Röser 1996). Im US-Fernsehen gebar die Glaubwürdigkeitskrise ein ungemein erfolgreiches Subgenre des Informationsfernsehens: Mit humorvollen Showkonzepten nehmen Moderatoren wie John Stewart („The Daily Show") und Steven Colbert („The Colbert Report") die Schwächen des Nachrichten- und Politikgeschäfts aufs Korn und avancierten auf diese Weise zu einer der wichtigsten Informationsquellen für junge Erwachsene (vgl. Klinenberg 2007: 111): „Stewart himself seemed to have a hard time wrapping his mind around the fact that out of TV's many journalistic outlets, it took a fake news show to expose a

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real news show for passing fake news off as real" (Price 2004). Das Mittel der Satire dient hier zur Entschleierung von Fehlentwicklungen, trägt dabei aber als Kontrollmechanismus gleichzeitig zur Regeneration des Fernsehens als balancierte Glaubwürdigkeitsinstanz bei. 6.2.4. Reality TV als Factual

Entertainment

6.2.4.1. Realitätsbemessung zwischen Intellekt und Gefühl „Real or Not, It Doesn't Matter", konstatiert der Fernsehkritiker Richard Huff mit Blick auf jene exorbitant angewachsene Zahl an Sendungen, die sich mit spielerischer Agenda der .Realität' verschrieben haben (Huff 2006: 167). Nicht der .Realitätsgehalt', sondern vielmehr die Frage nach guter Unterhaltung sei entscheidend (ebd.: 176). Auch der Kommunikationswissenschaftler Justin Lewis unterstreicht: ,,[I]t is neither clear what is meant by real life or how it is signified televisually. Thus, we cannot that reality TV - or even news and current affairs - is, despite its privliged status, any more or less successful in the signification of real life than television fantasy" (Lewis 2004: 291). Tatsächlich stellt sich die Frage, weshalb Sendungen, die offensichtlich nicht den wahren Gegebenheiten entsprechen, zu Publikumserfolgen werden. Als der US-Fernsehsender CBS im Jahre 2000 für seine Show „Survivor" 16 abenteuerlustige Wettkämpfer auf der Insel Borneo aussetzte, um sie dort ums Überleben kämpfen zu lassen, war deren vermeintliche Einsamkeit und Hilflosigkeit eine nicht einmal geschickte Illusion, schließlich wollten unter anderem Fernsehkameras bedient werden, Produzenten den reibungslosen Fortgang ihrer Sendung überwachen und zur Not eingreifen sowie schon aus rechtlichen Gründen die medizinische Versorgung im Notfall sicher gestellt sein. „Survivor" war nicht mehr als ein Abenteuerausflug mit doppeltem Netz, für sich genommen also kein außergewöhnliches Fernsehexperiment. Die Show ist nur eines von unzähligen Beispielen für die televisuelle Dramatisierung von .Realität' zum Zwecke der Unterhaltung. Das von der Medienwissenschaftlerin Annette Hill in ihrer Arbeit zum hohen Publikumsinteresse an Reality TV genannte Paradox, dass non-fiktionale Fernsehinhalte eigentlich an Glaubwürdigkeit einbüßen, je unterhaltsamer sie präsentiert werden (Hill 2005), rückt den Aspekt der Neugierde (z.B. Schaulust) und des emotionalen Involvements (z.B. Sensationslust) in den Mittelpunkt der Zuschauermotivationen. Neugierde geht mit dem Wunsch einher, Entdeckungen zu machen, überrascht zu werden, etwas Ungeahntes herauszufinden. Sie triumphiert gar über die Erkenntnis, dass die Verschleierung bereits zu den Grundfesten des Enthüllungsjournalismus gehört, und verdrängt die Verunsicherung: „If journalists will lie to those they investigate, how can we be sure they will not lie to us, the audience?" (Calvert 2004: 242). Aus Rezipientenperspektive stellt sich das Paradox als „Bauch-Kopf-Schere" dar, mit der Bernward Wember ursprünglich die Diskrepanz zwischen rationaler Aufklärung und emotionaler Effekthascherei in Informationssendungen beschrieben hat und eine „Diktatur der dumpfen Emotionen" kritisierte

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(Wember 1993: 34): Der Zuschauer weiß zwar im Grunde um die Inszenierung, blendet diese Erkenntnis aber aus Gründen der emotionalen Gratifikation durch das Miterleben des vermeintlich ,realen Geschehens aus. Unter dem Begriff Reality TV trat in den 1980er und 90er ein Fernsehgenre seinen Siegeszug an, das in Zeiten zunehmenden Konkurrenzkampfs unter den Fernsehveranstaltern aus einem gewachsenen Bedarf an günstig zu produzierenden, aber effektvollen, aufmerksamkeitsheischenden und quotensteigernden Formaten geboren wurde (vgl. Moran 1998: 18; Waisbord 2004). Der anglizistisch-moderne Genrebegriff des Reality TV, der umgehend auch in den deutschen Sprachgebrauch überging, war eine Erfindung des Programmmanagements, das sich davon bessere Vermarktungsmöglichkeiten der dispersen Sendeformate mit .Realitätsanleihen versprach, indem es die Programm(zu)ordnung erleichterte (vgl. Mielich 1996: 7). Reality TV wurde zum „promotional marketing tool" für die explizite Vermarktung von Fernsehsendungen als Repräsentation der .Realität' (Friedman 2002: 7) und damit zum Deckmantel für das unverblümte Experimentieren mit alledem, was dem Zuschauer und der medialen Öffentlichkeit insgesamt zugemutet werden kann. Die Emphase liegt dabei auf der Unterhaltung, im Einzelfall auf informierender Unterhaltung. Jedoch ist die dokumentarische und informierende Intention im Laufe der Jahre immer stärker in den Hintergrund gerückt. Grundsätzlich kann Information natürlich ebenso unterhaltend sein wie Unterhaltung informativ: „Unterhaltung meint hier noch nicht,Gegenwelt'. Erst seit wir beides institutionalisieren, signalisiert .Unterhaltung' ein von der Lebensnormalität abweichendes Verhalten zur Weltwirklichkeit" (Thomas 1992: 385). Die negative Konnotierung von Unterhaltung seitens der Kulturkritik (vgl. Kapitel III.8.1.2.) hat einen wesentlichen Anteil daran gehabt, dass die Dichotomisierung von Information und Unterhaltung mit moralisch aufgeladenen Polarisierungen wie zwischen Aufklärung und Zerstreuung einherging. Dass die „unproduktive Verausgabung" (Thomas 1992: 391) durch Unterhaltung nicht als Störfaktor zu werten ist, sondern eine nicht mindere Relevanz im öffentlichen Programmauftrag genießt als Informationsangebote, wird mitunter auch heute noch leicht übersehen. Die Problematik besteht in der Hybridisierung von klassischen Informations- und Unterhaltungsformaten, die für Unklarheit sorgen können, wie ernsthaft Informationsvermittlung angestrebt wird und wie .wahr' die vermittelten Inhalte tatsächlich sind. Ein Schlagwort wie .Intotainment' wurde zum Inbegriff der „scary world of commercial television" (vgl. Brants 1998:317). Bereits erwähnt wurde Andreas Dörners Begriff des „Politainments", auch dies ein kritischer Frontalhieb gegen die Profaneität der Unterhaltungsöffentlichkeit (aber freilich nicht ohne Hoffnung in die positiven „Bilder des Politischen" zu äußern) (Dörner 2001: 244). Im Folgenden sollen indes nicht die unterhaltsamen Tendenzen in der Entwicklung des Informationsfernsehens behandelt werden, sondern die Faktualisierung der Unterhaltung, die sich seit über zwei Jahrzehnten im Fernsehprogramm proliferiert: „Factual entertainment comprises hybrid genres such as .docusoaps', CCTV footage-based programmes and lifestyle and make-over programmes"

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(Brunsdon u.a. 2001: 29). Dies sind nur einige wenige Beispiele für die Vermischung einstmals getrennter Genres wie Dokumentarfilm und fiktionaler Endlosserie (,Soap'), die nun mit unterschiedlicher Gewichtung als .Reality TV' firmiert und ein reichhaltiges Spektrum von „video compilations to made-for TV spectacles, newsmagazines, and game shows" umfasst (Friedman 2002: 7) und im Kontext eines allgemeinen Trends zur Dramatisierung und Emotionalisierung von Information im Fernsehen beurteilt werden muss (Wegener 1994:146). Für das Reality TV wesentlich sind die starken verbleibenden Wurzeln im Dokumentarfach, die den steten Zweifel nähren, das Gezeigte könnte doch etwas .Wahres', etwas Authentisches darstellen (vgl. Corner 2002: 260; Hill 2002: 324). „For audiences, reality TV is part of the landscape of factual television. When a new reality format arrives, audiences understand it in relation to other reality programmes, and other factual programmes as well. In many ways, audiences define reality TV in relation to what it is not: it's not fiction, but it's entertaining; it's not informative, but it's factual; it's not real, but it's sometimes true" (Hill 2005:192). Die Kritik am Sensationalismus des Genres folgte denn auch maßgeblich drei Argumentationslinien, die sich an dem „kognitiven Schwindel" der Reality TV abarbeiteten (vgl. Corner 2004: 293-294): Erstens werde durch die Suggestion einer falschen .Realität' Betrug am Publikum begangen. Zweitens werde einer unverantwortlichen Trivialität Vorschub geleistet und dadurch die gesellschaftlichen Werte und Normen gefährdet. Und drittens seien ernsthafte, gehaltvolle Programminhalte von der Formatvielfalt des Reality TV bedroht. Umgreifend war in erster Linie die moralische Entrüstung über die Überschreitung ethischer Grenzen. Die Autoren Achim Baum und Martin Muser begleiteten den Einzug der „Reality" als Genre ins deutsche Fernsehen mit düsteren Thesen: „Die journalistische Verpackung soll eine Ideologie kaschieren, die die Begriffe Wirklichkeit und Wahrheit vorsätzlich verwischt und zu Werbeträgern einer Unterhaltungssparte degradiert, deren wichtigstes Kriterium die dampfende Blutspur ist", schrieben sie und sahen eine gefährliche Überwältigung des Zuschauers durch affektive Provokationen: „Der inszenierte Blick in die Abgründe des Unheils lässt uns zum Spielball unserer eigenen Angstlust werden." Dies könne nicht erst ad ultimo, sondern habe längst sogar schon der journalistischen Berichterstattung in Deutschland „einen einschneidenden Glaubwürdigkeitsverlust" beschert (Baum/Muser 1992). Wie die Autoren schon im Untertitel ihres Textes mit dem Titel „Bestandsaufnahme eines angeblich neuen Fernsehgenres" indirekt anmerkten: Mit Reality TV solle dem Fernsehzuschauer etwas schmackhaft gemacht werden, was längst immanent zum Fernsehen und seiner Geschichte gehörte. Keppler definiert Reality TV bzw. ,performatives Realitätsfernsehen als „Unterhaltungssendungen, die sich zur Bühne herausgehobener Aktionen machen, mit denen gleichwohl direkt oder konkret in die Alltagswirklichhkeit der Menschen eingegriffen wird" (Keppler 1994b: 8-9). Mit der Betonung der Alltagswirklichkeit der Rezipienten im Wirkungszusammenhang nahm das Genre also bereits mit Ratgebersendungen wie „Der siebte Sinn" früh erste Konturen an. Auch eine Familienserie wie „Unsere Nachbarn heute abend: Familie Schölermann" war demnach zweifelsohne eine Form von Reality TV:

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„Schölermanns lieferten Reality TV, lange bevor es den Begriff überhaupt gab. [...] Man spielte live, was zwar Textunsicherheiten unbarmherzig bloßstellte, aber mit allen möglichen kleinen Unkorrektheiten - räuspern, husten, stolpern, Griff in die Haare - die Suggestion des Hier und Jetzt stärkte. Damit jeder Zuschauer sicher sein konnte, wieder einmal Voyeur gewesen zu sein, fehlten im Abspann lange Zeit die Schauspielernamen. [...] Familie Schölermann lieferte die verlogenste Familienidylle jener an Selbstbetrug nicht gerade armen Ära. Aber sie log mit der Wahrheit. Denn was sich in ihren fiktiven vier Wänden abspielte, war, was die fremdelnde kleinbürgerliche Republik auf Biegen und Brechen anstrebte: die handfeste Illusion heiler Zeiten und intakter Familienbande" (Bartetzko 1999). Einen soziologischen Ansatz verfolgte dagegen der Produzent und Dokumentarfilmer Allen Funt mit seiner äußerst populären und ab 1948 auf dem US-Sender ABC, dann auf NBC und CBS ausgestrahlten Comedy-Show „Candid Camera" (ähnlich der Show „Verstehen Sie Spaß?" im deutschen Fernsehen). Seine kurzen Filme mit versteckter Kamera, die er mit ernsthafterem Bias auch für die Bildungssendung „Omnibus" drehte, wurden von der Wissenschaft begeistert als „social realism" aufgenommen und als willkommene Möglichkeit gewertet, „gewöhnliche" Menschen und ihr Agieren abzubilden (vgl. McCarthy 2004). Auch zeigte sich an dem Sendeformat das Aufgreifen des damaligen Zeitgeistes, indem die allgegenwärtige Paranoia, ausgelöst durch die Angst vor der Infiltration der US-amerikanischen Gesellschaft von Kommunisten und die daraus folgenden Überwachungsmaßnahmen, durch den scherzhaften Umgang mit heimlichen Filmaufnahmen abgemildert wurde (Clissold 2004: 36: 38: 51). Überwachungsmaterial leitete dann später in den 1980er Jahren die Erfolgsgeschichte des Genres ein, das erst in dieser Zeit seinen eigentlichen Namen bekommen sollte und sich von dem ursprünglichen soziologischen Einschlag löste: Unter dem Signum Reality TV jagen US-Polizisten seither mit hohen Motordrehzahlen und laufender Kamera Verbrecher oder versorgen Fernsehsendungen mit Bewegtbildmaterial aus im öffentlichen, aber auch privaten Raum installierten Kameras, um Täter - oder Opfer - mit Hilfe des Publikums zu identifizieren. Die Ausbreitung von Video-Überwachungssystemen, dem sogenannten Closed Circuit Television (CCTV), eröffnete dem nordamerikanischen Fernsehen im Laufe der Jahre eine seiner reichhaltigsten und günstigsten Quellen für die Bestückung von Sendezeit (vgl. Doyle 2003). Bankräuber, Einbrecher, Schläger, Betrüger, Mörder usf. sind zwar üblicherweise auf den qualitativ minderwertigen Aufnahmen nicht zu erkennen, doch Spannung versprechen sie dem Zuschauer allemal - und das für die ganze Familie (vgl. Biressi/Nunn 2005: 121). Die Überwachungsbilder sollen die Authentizität der Sendung belegen und die Aktualität des wahren Verbrechens unterstreichen - was zugleich eine höhere Aufmerksamkeit seitens der Zuschauer verspricht: „Through CCTV the audience can actually experience a heightened sense of realism; they don't have to go through any superfluous narrative [...]. What CCTV enables them to get is pure adrenaline, the moment of high drama, ,the punch-line'; and the pleasure it offers audiences is inextricably bound up in this" (Jermyn 2004: 84).

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Schon hier zeigt sich, weshalb Crime TV zu einem der langlebigsten Sub-Genres des aufstrebenden Reality T V wurde.108 Die sozusagen behördlich verbriefte Wahrhaftigkeit der körnigen Schwarz-weiß-Videos und der Zitatcharakter der Fernsehsendung, die sich des .unabhängigen Bildmaterials bedient, entspricht der Wahrnehmung eines „real life drama" (Presdee 2000: 74). Auch Amateuraufnahmen fallen in dieses Segment, die stiltypisch häufig durch ihre dilettantische Anmutung erkennbar sind (vgl. Mielich 1996: 36). Doyle erkennt fünf prägende Eigenschaften des Einsatzes von Überwachungsmaterial, das im Fernsehen Verbrechen dokumentieren soll: Solche Sendungen seien „gefühlsgeladen", „verkörpernd", „erkenntnistheoretisch kraftvoll", „zugleich kollektivierend und individualisierend" und „voyeuristisch" (Doyle 2006: 210). Während die erstgenannten vier Punkte auch als charakteristisch für andere Programmgenres gelten können, ist die voyeuristische Anziehungskraft das wohl stärkste, weil hemmungslos instrumentalisierte Spezifikum von Inhalten des Reality TV: ,,[V]oyeurism on television - be it the contrived voyeurism in which humorous gags are created or the vérité voyeurism in which realty unfolds unscripted and unceremoniously - is not necessarily a new phenomenon but one that is today more prevalent, more ambitious, and more sensational" (Calvert 2004: 42-43). Voyeurismus versteht Calvert als „consumption of revealing images of and information about others' apparently real and unguarded lives, often yet not always for purposes of entertainment, but frequently at the expense of privacy and discourse" (ebd.: 2). Wie bereits die frühe .Reality Life-Serie „An American Family" anhand der kalifornischen Familie Loud in den 1970er Jahren vorführte, beschränkte sich das Interesse der Medienöffentlichkeit nach dem GucklochPrinzip auf die Sensation, den Konflikt, die alltäglichen und grundsätzlichen Probleme des Zusammenlebens, die schließlich zum Auseinanderbrechen der Familie führten (vgl. Ruoff 2001). 108 Crime TV wurde dementsprechend harsch kritisiert, „representing] all that is generally condemned in popular culture; tending towards the reactionary and the retributive, exciting, exploitative, voyeuristic and entertaining" (Biressi/Nunn 2005: 121). Dem Crime TV zuzurechnen sind u.a. international bekannte Sendungen wie „Cops" (1988), in der Polizisten auf Streife begleitet werden, oder auch „America's Most Wanted" (1988), wo nach Verbrechern gefahndet wird. Auch fallen Formate darunter wie das Sendekonzept zu „Aktenzeichen XY", das in Deutschland bereits seit 1967 gesendet wird, jedoch mit nachgespielten Kriminalfállen in Zusammenarbeit mit lokalen Polizeidienststellen das Publikum um Mithilfe bittet. Die in Deutschland bekannten Gerichtsshows (z.B. „Wie würden Sie entscheiden" im ZDF, „Richterin Barbara Salesch" bei Sat.l oder „Das Familiengericht" bei RTL) unterscheiden sich wiederum in ihrer gestellten Fallaufbereitung und Inszenierung vom klassischen Court TV in den USA: Der 24 Stunden am Tag sendende Kabelkanal startete mit dem Anspruch, Gerichtsverhandlungen live zu übertragen, um die aktuelle Rechtssprechung zu dokumentieren sowie über Prinzipien und Hintergründe der Jurisdiktion zu informieren. Da die juristischen Prozesse in ihrer dokumentarischen Reinform indes bald als langweilig wahrgenommen wurden, näherte sich der Sender den Sensationalisierungstendenzen des Reality TV an und setzte stärker auf unterhaltende Elemente sowie „dense visualizations and constant commentary, while its prime-time programming, which once focused on replaying trial highlights, follows the trends established by the major networks" (Kleinhans/Morris 2004:157).

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Typische Themen des Reality TV sind Gewalt, Beziehungsstreitigkeiten, Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm in ihrer breiten Variabilität. Mit seiner breiten Formatpalette öffnet(e) das Fernsehen Tür und Tor für exhibitionistisch veranlagte Personen, die ihr Privatleben in aller Öffentlichkeit auszustellen oder zu problematisieren gewillt sind. Der „Menschenzoo" von „Big Brother" (Tuma 2000: 118; Bleicher 2002: 230), einem in den Niederlanden konzipierten und weltweit adaptierten Format, das mit Anleihen bei der Zukunftsvision einer totalen Überwachungsgesellschaft nach George Orwells Schilderung in seinem Roman „1984" (Orwell 1949) spielte, entspricht dieser Neigung nur allzu sehr: In 38 Ländern bewarben sich Zuschauer darum, ihre Intimität gegen ein Leben in einem Containerhaus einzutauschen, wo sie bei Wettkampf, Streit und Liebesdingen bei Tag und bei Nacht unter ständiger audiovisueller Beobachtung standen.109 In bestimmten Abständen muss ein Kandidat das Container-Camp verlassen, abgewählt vom Publikum, was für den einzelnen Teilnehmer den Druck erhöhte, sich bei den Zuschauern interessant und beliebt zu machen, im Zweifelsfall also mehr Haut und Seele zu zeigen. Dieser freiwillige Verzicht auf Schamgrenzen (Pundt 2002: 299) unter panoptischer Rund-um-die-Uhr-Überwachung110 wurde treffend als „Experiment TV" (Fetveit 2004: 554) bezeichnet, weil das Augenmerk auf der Beobachtung der freiwilligen Insassen im „TV-Knast" (Ebert 2000) durch den Zuschauer liegt, der erfahren möchte, welche interessante sensationelle Entwicklung die Sozialbeziehungen unter dem Druck der Öffentlichkeit nehmen. Ein thematisch ähnlicher Vorläufer war die Sendung „The Real World", die der internationale Musikkanal MTV seit 1992 ausstrahlt. Auch hier kamen Kandidaten zusammen, um sich bei ihren Alltagsverrichtungen filmen zu lassen. Obwohl sie nicht ständig vor Ort sein mussten, sondern während der Laufzeit der Serienproduktion ihr normales Leben weiterlebten und nur zu bestimmten Drehterminen anwesend sein mussten, wurde hier dem Zuschauer bereits der Reiz des Lagerkollers suggeriert, was Thaddäus Podgorski zu seiner Feststellung animiert haben mag: „Die Fernsehspiele und -serien scheinen die Verfilmung jener Publikationen zu sein, für deren Besitz und Lektüre wir als Jugendliche bestraft wurden: von ,Schundheftin. Junge Menschen werden vom Fernsehen beim Wohnen beobachtet und bald auch beim Kopulieren" (Podgorski 2005: 201). Die gefühlte Nähe und das voyeuristische Interesse an den Akteuren in Reality TVFormaten wird auf die Fokussierung auf gewöhnliche, nicht-prominente Menschen - „people like us" (Lewis 2004: 300) - zurückgeführt, in die sich der Zuschauer hineinversetzen kann und die er zu durchschauen glaubt, auch wenn sie ihm etwas vorzuspielen scheinen. „Generalisiert gesprochen hängt die mit Blick auf diese Angebote bereits

109 Aus der reichhaltigen Forschungsliteratur zum „Big Brother'-Phänomen sollen hier in Bezug auf die Ausstellung von Intimität in der Öffentlichkeit die folgenden Bände empfohlen werden: Schweer/Schicha/Nieland 2001; Bignell 2005. 110 Zur Gesellschaftstheorie des Panopticons als „die Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt" siehe Foucault 1976: 251-291 (Zitat: 258).

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frühzeitig krtisierte Grenzverwischung von Öffentlichkeit und Privatheit bzw. Intimität mit der unterschiedlichen Nutzbarmachung von Strategien der Emotionalisierung, Personalisierung, Privatisierung und Intimisierung zusammen" (Göttlich 2001: 79). Freilich zeigen selbst fernsehunerprobte Akteure nicht ihr eigentliches Inneres, sondern unter dem Eindruck öffentlichen Interesses eine Selbstinszenierung, zu der sie das jeweilige Format zwingt. Dennoch lassen sich „Blicke auf die authentische Auseinandersetzung mit der außeralltäglichen Situation" werfen (ebd.: 87). In dem Maße, wie Reality TV das zeitgenössische Leben ausstellt bzw. unter der Ägide des Realismus inszeniert, gibt es also Einblicke in das, was zur jeweiligen Zeit als common sense der gesellschaftlichen (Medien-) Realität gehalten wird. Dazu tragen auch seit den 1990er Jahren in ausgiebiger Weise Talkshows bei, in denen nicht die Adaptionsfähigkeit von Menschen an künstlich generierte Lebensumstände zu beobachten ist, sondern die verborgene Privatheit der Show-Gäste von diesen in initialer Freiwilligkeit ausgebreitet wird.111 In der sogenannten „daytime trash talk show" (vgl. Mittell 2004:100) nach Machart eines „Jerry Springer" oder „Ricki Lake" (vgl. kritische Perspektive in Shattuc 1997) offenbart sich bei einschlägigen Aufregerthemen wie sexuelle Potenz, Arbeitslosigkeit oder Fettleibigkeit der Hang zur Selbstinszenierung besonders deutlich: Der gewöhnliche Mensch wird in der Öffentlichkeit zum Darsteller, zum „geplagte [n] Erzeuger von Eindrücken, der mit der allzumenschlichen Aufgabe beschäftigt ist, ein Schauspiel zu inszenieren" (Goffman 1969: 230), um seine Identität öffentlich zu rechtfertigen und zu bestärken, aber weniger um sie anzupassen (Plake 1999: 79). Dem Zuschauer wiederum wird vorgemacht, es handele sich um Durchschnittsmenschen, die die Chance bekommen, sich mit ihren Ansichten und Problemen direkt an das Publikum zu wenden, wodurch der Rezipient in seinem Eindruck bestärkt wird, er selbst könne ebenso mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen (vgl. Biressi/Nunn 2005: 103). Ohnehin handelt es sich dabei um intersubjektive Wirklichkeiten, deren .Wahrheitsgehalt' niemand überprüfen kann oder möchte (vgl. Plake 1999: 82) - erst recht nicht die Talkshow-Redaktion, die nur allzu gerne glaubhafte Selbstinszenierungen protegiert, um sich selbst nicht in Frage stellen zu müssen. Das voyeuristische Interesse des Zuschauer kann vielerlei Gründe haben: Ein Gefühl der Überheblichkeit (vgl. Calvert 2004: 71), die simple Lust, sich über andere Menschen auszulassen, oder ein tatsächlicher Bedarf an Lebenshilfe. Vor allem für Zuschauer, die sich mit den Talkshow-Gästen aufgrund ähnlicher sozialer Schicht- oder Milieuzugehörigkeiten oder Alltagsprobleme identifizieren können, können Talkshows ein wichtiges Ratgeberangebot zur Lebenshilfe bereitstellen (vgl. Krieger 2002:66-68). Für andere wird Reality T V zum sogenannten „Watercooler TV" 1 1 2 (Holmes/Jermyn 2004: 14).

111 Das schließt nicht aus, dass der Gast unter dem Druck des Moderators, des Publikums und anderer Gäste in eine Zwangssituation gerät und schließlich mehr preisgibt, als er ursprünglich beabsichtigte. 112 Diese Bezeichnung resultiert aus der Gesprächsumgebung der Zuschauer am Arbeitsplatz: Der Wasserspender dient nach Ansicht der Autoren als Ort für die kurzweilige Unterhaltung unter Kollegen über die Fernseheindrücke vom Vortage.

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,,[A]us meiner Sicht handelt es sich [...] um Elemente der traditionellen Face-toface-Kommunikation des Alltags. Die Kommunikationsinhalte jedoch werden erkennbar ins Spektrum kleinbürgerlicher Kulturpraxis gedreht, wenn in Talkshows kein Blatt vor den Mund genommen; wenn schmutzige Wäsche gewaschen wird; wenn Klatsch-und-Tratsch die Kaffeetafelsymposien füllt; wenn einem der Mund mit dem Geheimnis anderer überläuft; wenn die moralische Integrität von Prominenten durchgehechelt und Unerhörtes gebrandmarkt wird" (Schilling 2003: 239). Ob Hans Meiser, Ilona Christen (beide RTL), Jürgen Fliege (ARD), Jörg Pilawa (Sat.l), Arabella Kiesbauer (ProSieben) oder die US-amerikanischen Talkgrößen Oprah Winfrey, Phil Donahue, Howard Stern, Maury Povich oder Tyra Banks: Sie alle haben eine neue Form von „Bekenntniskultur" (Burkart/Heidel 2006) im öffentlichen Bewusstsein installiert, indem sie ihre Gäste dazu brachten, Details aus ihrem Leben zu verraten, die bisher nicht einmal ihre engsten Verwandten und Freunde bekannt waren (vgl. McNair 2002:97). Wenn Oprah Winfrey und ihr Show-Arzt Dr. Phil (der später seine eigene Sendung bekommen sollte) mit verständigem Blick und einfühlenden Ratschlägen ihre TalkGäste und indirekt sogleich auch ihr Fernsehpublikum zu therapieren suchen, mag man darin eine Trivialisierung „toxischen Geredes" und in letzter Konsequenz einen sozialen wie kulturellen „fallout" erkennen (vgl. Abt/Mustazza 1997: 167). Bei Krawallshows werden sich zwar nur eng umgrenzte Publika in ihrem naiven Medienverständnis persönlich bei der Identitätsbildung angesprochen fühlen. Anders indes wird es sich beim ,Schicksalsfernsehen verhalten, wo zwar in dramatisierter Atmosphäre Problemthemen verhandelt werden, diese jedoch mit ernsthafter Attitüde, was in generalistischer Manier beim Zuschauer Empathie triggern soll. Das Konzept einer „umfassenden telematischen Sozialfürsorge", die Talkshow als „psychologisch-pädagogischer Komplex" (vgl. Hachmeister 1992: 67), hat offensichtlich gefruchtet: Die Langlebigkeit der „,talk shows' for the ordinary person to ,speak their mind"' (McCarthy 1996: 86) und die mit ihnen verbundenen unternehmerischen Erfolge (nicht nur, aber sehr augenfällig in den USA) lässt nicht daran zweifeln, dass die Normverletzung: die Exploitation intimster Thematiken und Praktiken aus dem geschützten Bereich der Privatsphäre vor Millionenpublika, durch Reality TV zum Normalfall bei der Verhandlung der gesellschaftlichen Realität wurde - mit versteckter Kamera oder in Studio-Atmosphäre vor Live-Publikum. Durch die beständige Zirkulation kontroverser sozialer oder moralischer Reizthemen, die es in ihrer audiovisuellen Aufdringlichkeit und weltweit synchronen Rezipierbarkeit zuvor nie gegeben hat, macht Reality TV „moral panics" zur Methode (vgl. Biltereyst 2004). Dies wiederum erhöht die Attraktivität dieser Schablonen televisueller Verwerflichkeiten für die populäre Medienkritik, die sich der Panik bedienen kann, um sich selbst zu legitimieren und Publikumsinteresse an sich zu binden, dadurch aber die Zirkulation des Skandaltopos zu verstärken und zu verlängern. Die lang anhaltende Problematisierung im gesellschaftlichen Diskurs hat zur Folge, dass „das allgemeine Verständnis von Privatheit und Öffentlichkeit" auf Dauer geprägt wird (Hickethier 2002a: 412-413). Wenn sich die Debatten abschwächen oder beendet werden, ist der Tabubruch moralisch

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verarbeitet und entbehrt seiner Skandalträchtigkeit, was zumeist auch das Ende des spezifischen Sendekonzepts bedeutet. Jedes neue .Reality'-Format wird zu einem weiteren Teil der Rohmasse für zukünftige Reality TV-Erfahrungen, die stets einem ähnlichen Muster folgen: Reality TV wurde als Genre, das die .Prime Time', die Abendunterhaltung zur besten Sendezeit eroberte (vgl. Carter 2003) und zwar dadurch, dass es Konventionen brach, selbst zur Konvention. Indem es sich dergestalt in die kulturelle Praxis einschrieb, das Private öffentlich, das Intime frei verhandelbar und den Tabubruch salonfähig machte, standardisierte es im vielseitigen Gleichklang seiner Disharmonien den Skandal; denn alle Spielarten des Realitätsfernsehens zielen in dieselbe Richtung: Das Gewöhnliche zur Sensation emporzuheben, die Archaik des Alltags dabei weder zu extinguieren, noch sonderlich zu demaskieren, sie aber zu provozieren und inszenatorisch auszuwalzen, um sie letztlich in der Konstanz und Redundanz ihrer Thematisierung bis ins Phantastische zu steigern (vgl. Hachmeister 1992: 66) und dieserart interpoliert zu versenden. Die Enttabuisierung der Grenzüberschreitung bei alledem, was Reality TV als „Privatsphären(fern)sehen" (vgl. Henning 2001) in den geschützten Wohnbereich bringt, revidiert die Moralvorstellungen über das, was die Öffentlichkeit an „selbstinszenierten Intimitätsdarstellungen" (Pundt 2002: 345) verträgt, und greift sonach auch ein in Modifikation von Erinnerungskulturen, indem sie das Individuum (und nicht einmal nur den einzelnen Zuschauer, sondern potenziell alle am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmenden Personen) dazu zwingt, sich mit dem Zustand vor dem Tabubruch auseinanderzusetzen. Diese mediale Zwangskonfrontation einer Gemeinschaft mit der Sinnhaftigkeit ihrer Wertvorstellungen und deren Gültigkeit macht eine Reflexion der Rechtfertigungszusammenhänge notwendig und wandelt die Erinnerungspraxis nachhaltig, wobei die Wandlungsextreme in der Ausformung strikt traditionalistischer Abschottung mit der Propagierung des „ästhetisch Erhabenen" (Hachmeister 1992: 70)113 auf der einen und in der vollkommenen Öffnung des intimen Relationsspektrums auf der anderen Seite liegen. 6.2.4.2. „Everyone will remember me": Der Lockruf der

Prominenz

Reality TV hat nicht nur scheinbar zu einer „Verlagerung der Kommunikationsprivilegien" geführt, wie Hachmeister in seinem Essay über die „Talkshowisierung" der Gesellschaft anmerkte (Hachmeister 1992: 61): Auch wenn die „Regeln des Spiels" im Fernsehprogrammbetrieb weiterhin durch systemische und speziell korporative Machtverhältnisse diktiert werden (vgl. Poecke 2000:132) und dadurch der Eindruck hinterlassen

113 Ästhetische Erhabenheit (nicht erst das Gefühl, sondern das .Sein' des Erhabenen) ist mit dem Grundsatz des Reality TV, in intensiver Weise Authentizität und Nähe zu suggerieren, unvereinbar, ist sie doch geknüpft an Distanzierung, die dem Mythos Vorschub leistet (vgl. Hartmann 1953:365) und einer Demystifizierung im Sinne einer angestrebten Darstellung authentischer Lebensrealität durch das betreifende Individuum selbst entgegensteht.

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wird, es handele sich bei Reality TV um eine „zynische Version" der Demokratisierung des Fernsehens, weil unprofessionelle Akteure zur Mitwirkung veranlasst werden, um den Fernsehproduzenten Zugang zu ihren persönlichen Lebensumständen und Autobiographien zu verkaufen (vgl. Andrejevic 2004: 6), wurde dem zuvor nur bei der Programmauswahl und Interpretation des Gesehenen aktiven Zuschauers nun erstmals in Quiz Shows, Talkshows und ,Real Life' bzw. ,Docu-Soaps' die körperliche Teilhabe an der Fernsehproduktion ermöglicht. Zuvor war es nur möglich, als Gast in bestimmten Unterhaltungsshows wie z.B. Ratesendungen aufzutreten oder per Einsendung von Home Video-Bändern buchstäblich ins Fernsehen zu kommen.114 So stärkt das Fernsehen die Bindung an seine Zuschauer über deren Partizipation bei der Bestückung des Sendeablaufs und zugleich auch das Realitätsbild durch die Beteiligung .authentischer' Akteure aus der Masse. Nie zuvor konnten Zuschauer so vielseitig - von der fernsehfinanzierten Renovierung ihres Zuhauses bis zur Dokumentation ihres Auswanderungsvorhabens durch ein Fernsehteam - in physischer Anwesenheit Erfahrung mit dem Fernsehen machen - und nicht nur vor dem Fernseher. Die Beweggründe für den Blick hinter die Kulissen des Fernsehbetriebs, gepaart mit der Preisgabe der eigenen Person vor der Kamera, mögen so unterschiedlich sein wie die Teilnehmer aus der Zuschauerschaft und ihre Lebensumstände. Im Allgemeinen lässt sich aber davon ausgehen, dass der Fernsehauftritt für den Normalbürger, der sich ansonsten nur in der Rolle des Zuschauers wiederfindet, ein besonderes Erlebnis darstellt, das im autobiographischen Gedächtnis einen ,Sonderplatz' bekommt. Das Fernsehen lockt außerdem unverhohlen mit der Aussicht auf Aufmerksamkeit und Bekanntheit, mit der Erfüllung des klischeehaften Traums, berühmt zu werden. Dass Prominente in einer schöneren Wirklichkeit leben, ist ein Bild, das die Unterhaltungsindustrie traditionell und nicht immer trügerisch pflegt. Prominenz gaukelt in der Regel Zugriff auf scheinbar unerschöpfliche Finanzmittel vor sowie Luxus und Sorgenfreiheit, zumindest was die Probleme und Anforderungen des gewöhnlichen Alltags angeht. Während das Kino Stars glorifiziert und verherrlicht, holt sie das Fernsehen in seiner Berichterstattung auf den sprichwörtlichen Boden der Tatsachen zurück und rückt sie näher an die Lebenswelt des Zuschauers heran: „Die Figuren erscheinen dem Betrachter nun nicht mehr als überhöhte Leitbilder (deshalb gibt es im Fernsehen den Star im übernommenen Sinne nicht mehr), als Träger von Ideen, als Exponenten eines überindividuellen Schicksals, sie treten ihm fast wie Privatpersonen entgegen" (Gottschalk 1966: 77; vgl. auch Bennett

114 Trotz der Offerte, Amateuraufnahmen für die Ausstrahlung im Fernsehprogramm einzusenden, wusste der Fernsehbetrieb stets seine Hoheit zu wahren, indem rigide Auswahlmethoden angewendet und die in Frage kommenden Home Videos in bestimmte vorgefasste Sendekonzepte integriertwerden.DasInternetbietetdemgegenübereinSpielfeld vollkommener Entfaltungsfreiheit: Die Nutzer können ihre eigenen .Fernsehkanäle' produzieren, ihr Material auf Videoportalen veröffentlichen und unter Umständen weltweite Bekanntheit erringen. Die Selbstthematisierung und -darstellung erfolgt nicht mehr in einem institutionalisierten Senderahmen, sondern ohne jegliche Auflagen (selbst die Veröffentlichung pornographischer Inhalte ist möglich).

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2008). Die Doppeldeutigkeit des Starseins wird zum Spiel zwischen vorgeblicher Realität und Phantasie: „Are they just like you or me, or do consumption and success transform them into (or reflect) something different?" (Dyer 1979: 158). Gleichzeitig wird Medien- und speziell Fernsehpräsenz zur zwar weichen, aber wertvollen Währung der Prominenten: „Mass communication preserves the cultural capital of celebrities and increases their chance of becoming immortal in the public sphere" (Rojek 2001: 78). Diese „symbolische Unsterblichkeit" (vgl. Giles 2000: 4 8 1 - 4 8 4 ) ist gebunden an die Zirkulation medialer Präsenz der betreffenden Person: Nur wer in Shows auftritt, Interviews vor laufender Kamera gibt, von einschlägigen Magazinen mit Sendezeit bedacht wird usf. verbleibt im televisuellen Kreislauf und erhält sich seinen Prominenzwert. Wer für längere Zeit von den Bildschirmen verschwindet, muss bereits darüber nachdenken, wie das mediale Comeback gelingen könnte. Mit seiner unentwegten Konzentration auf aktuelle Prominentenangelegenheiten füttert das Fernsehen das kommunikative Gedächtnis derer, die sich für solcherlei Informationen empfänglich zeigen. Kein Themenfeld lädt in seiner Latenz so sehr zur trivialen Anschlusskommunikation ein wie die „Prominenz als Medieninhalt" (Schierl 2007). Anders verhält es sich bei ernsten, das eigene Leben betreffenden Angstthemen wie Arbeitslosigkeit, Gesundheitsgefährdungen oder Krisenentwicklung in Natur und Politik, wo Kommunikation eben nicht auf trivialem (Klatsch-) Niveau stattfindet, sondern zur existenziellen Auseinandersetzung innerhalb der angestoßenen Identitätsarbeit wird (vgl. auch Kapitel III.6.2.5.1.). Stars unterfüttern ihre Prominenz nicht allein mit ihren unregelmäßig in den Kinos startenden Blockbustern oder ihre alle Jahre erscheinenden Musikalben, sondern aus der begleitenden und im Einzelfall unermüdlichen Thematisierung in den Massenmedien wie zum Beispiel bei der „heavy rotation" im Musikfernsehen (vgl. Giles 2000: 483). Im US-Fernsehen sorgen Showbiz-Kanäle wie E! Entertainment für einen steten Fluss an Prominentenbildern und Informationen über deren persönliche Belange. Das Fernsehen ist im Vergleich zur intensiven Ästhetik des Kinofilms auf der großen Leinwand zwar nicht das geeignetste Medium, um einer Person „luminosity", Leuchtkraft, zu verleihen (vgl. King 1991: 248). Doch zu unterschätzen ist die illuminierende Kraft des Fernsehens nicht, schließlich wäre ein Fußballspieler wie Franz Beckenbauer weder ohne die Fernsehübertragungen seiner sportlichen Erfolge noch ohne die regelmäßigen Auftritte als Fußballexperte in Fernsehsendungen wohl kaum zu einer solch angesehenen „Lichtgestalt" (vgl. Schulze-Marmeling 1999: 383) geworden. Auch Prominente treten in Reality TV-Formaten auf: Beispielhafte Quotenerfolge sind die vermeintliche Kulturschock-Sendung „A Simple Life", in der die betuchte Hotelierstocher Paris Hilton mit ihrer Freundin Nicole Richie, Tochter des Sängers Lionel Richie, dem Luxus entsagten und .gewöhnliche' Menschen bei ihrer Arbeit besuchten und unterstützten, sowie das international erfolgreiche Format „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!", in dem Prominente im Dschungel um Essensrationen kämpfen müssen, indem sie ihre Ekel- und Angstzustände zu kontrollieren versuchen. Entsprechen solche Beispiele eher der Metapher des „Menschenzoos", der von vielen Zuschauern belustigt wie

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hämisch beäugt wird, nutzt das Fernsehen in reichhaltigem Maße seine Möglichkeiten zur gefühlten Distanzverringerung zwischen dem Prominenten als „the spectacular representation of a living human being" (Taylor/Harris 2008: 127), aber doch alles in allem als Menschen, und dem gewöhnlichen Zuschauer aus der Masse. Ob Stars im Stil des „Tabloid Television" (vgl. Glynn 2000) entweder in werbefördernder wie euphemistischer Harmlosigkeit befragt werden (vgl. Gamson 1994) oder in sogenannten Starmagazinen - auf Grundlage vermeintlich investigativer Paparazziaufnahmen - anprangernd und demystifizierend über ihren Lebensstil hergezogen wird oder sie sogar zum Thema in seriösen Nachrichtensendungen werden wie im Falle von Paris Hiltons Inhaftierung im Jahre 2007: Prominente werden durch ihr televisuelles Erscheinungsbild für den Durchschnittsmenschen erreichbarer, in ihrem Handeln verständlicher und in gewisser Weise auch .gewöhnlicher'. Der sonst nur sporadische wie diskrete Kino-Eskapismus des Mediennutzers wird durch Boulevardisierungstendenzen im Programmfluss des Fernsehens veralltäglicht und die einstige Traumwelt dadurch zugleich realer, indem der Zuschauer Stars als angeblich normalen Bürger wie du und ich kennenlernt: Der Rezipient flüchtet nicht mehr aus der Realität, sondern in die Realität „and away from fictional entertainment that reality TV fans describe as formulaic, predictable, and, hence, boring" (vgl. Andrejevic 2004: 8). „Television, both in its conception of programming and in its social setting suggests that there is a reduction of distance between itself and the viewer, that both television personalities and viewers exist within a common universe of experience, a kind of community of like minds where television is merely an extension of everyday life. By reducing this distance and creating what might be seen as a pseudo-gemeinschaft television ostensibly reduces social distance between those who appear and those who watch" (Langer 1981: 193-194). So ist es unter anderem der televisuell bewerkstelligten Dauerpräsenz von Starmotiven geschuldet, dass sich bestimmte modische Stereotype und Ideale rasant verbreiten und sich auch auf das Wunschdenken einzelner Zuschauer auswirken. Wenn Rezipienten in sogenannten Makeover- oder Coaching-Shows dazu eingeladen werden, sich von Experten verschönern oder Benimmregeln antrainieren zu lassen (vgl. Hallenberger 2008: 274) - to look and act like the stars - legt die Ideologie der Celebrity Culture ihr Wesen als Phantasma ab und wird in der (chirurgischen bzw. verhaltensgebundenen) Verwandlung des Individuum konkret (vgl. Hearn 2006: 622-623). 115 Die hohen Bewerberzahlen für Casting Shows, ein weiteres Erfolgsformat des Reality TV, weisen darauf hin, zu welcher Stärke sich das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und medialem Ruhm vorzugsweise unter jugendlichen Fernsehnutzern entwickelt hat: Sendungen wie „American Idol" oder das deutsche Äquivalent „Deutschland sucht den 115 Dies kann im Einzelfall zu übertriebenen Ausformungen von Star-Vergötterung führen, indem Fans sich nach einer exklusiven Beziehung zu dem Subjekt ihrer Leidenschaft sehnen. Als Folge können Erotomanie, also die sexuelle Anziehung zu einem unerreichbaren Menschen, sowie Stalking-Handlungen auftreten (Giles 2002: 299-300; Lohr 2008).

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Superstar" versprechen bislang anonymen Kandidaten, zu Starruhm zu gelangen, indem ihnen die Gelegenheit gegeben wird, das Publikum, das in den Aussortierungsprozess der Bewerber miteinbezogen wird, von ihrem Talent zu überzeugen (vgl. Nüesch 2007: 98). „At the level of narrative, reality television shows offer instruction about how to become a media celebrity" (Hearn 2006: 622). Als Schablonen dienen solchen Sendungen berühmte Vorbilder, ihre Songs, aber auch ihr Auftreten, ihre performance' auf der Bühne, ihr ,Style', ihr Charisma. Wem es gelingt, die fremden Kreativleistungen für die Inszenierung seiner selbst zu adaptieren, ohne sie bloß zu imitieren, mithin geschickt Identitätskonstruktion und Erinnerungsarbeit in Bezug auf die prominenten Vorbilder zu verbinden und etwas Neues zu generieren, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit als Teil der Starsphäre wahrgenommen und dieser oder jener .Celebrity Tradition zugeordnet werden. Zugleich suggerieren die „gemachten Stars" (vgl. Steinkrauß 2005: 31) dem Zuschauer latent, jeder könne es ihnen gleichtun, von der Sphäre der Gewöhnlichkeit in die schönere Welt der Prominenz zu wechseln (vgl. Couldry 2003: 107), und sorgen damit für einen unaufhörlichen Kreislauf der Prominenz innerhalb der Starmanufaktur Fernsehen; denn geläufiges Ergebnis dieser medialen Fabrikation von Prominenz sind kurzlebige Karrieren: Sanges-Superstars werden schnell wieder vergessen, verschwinden aus dem Rampenlicht, das sie so schnell in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stellte, um Platz zu machen für neue Stars. Geläufig sind daher auch Bezeichnungen wie B- oder C-Prominenz, die eine erkennbare Unterscheidung zu den eigentlichen Stars der Kulturindustrie schaffen sollen. Diese Form des Berühmtseins entspricht am ehesten der Definition des Historikers Daniel Boorstin: „The celebrity is a person who is known for his well-knowness" (Boorstin 1961: 57): Allein die Bekanntheit zählt, die sich jedoch im medialen Personalisierungskarussell als flüchtig erweist. Während Helden nach Boorstins Auffassung bekannt sind für ihre Ausnahmeleistungen, sind es Prominente allein aufgrund ihrer Prominenz. Diese Unterscheidung werde indes häufig nicht getroffen, wodurch jene, die sich ihren Sonderstatus innerhalb der Gesellschaft verdient hätten, in Gefahr gerieten, als Celebrity, also als bloße Berühmtheit in den Verdacht ungerechtfertigter Prominenz zu geraten (vgl. ebd.: 48). Prominent ist jemand, der für eine bestimmte Dauer zum Thema im medialen und außermedialen Diskurs wird und somit einen wie auch immer gearteten Platz im kommunikativen Gedächtnis einer Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen beansprucht. Die Ausprägung der Prominenz ist daher freilich unterschiedlich ausgeprägt und im seltensten Fall dauerhaft. Beispielsweise können Menschen zu bescheidener Prominenz gelangen, wenn sie nur ein oder wenige Male im Fernsehen erscheinen, dieser Auftritt aber nur von einer bestimmten Nutzerklientel wie den Einwohnern der Heimatstadt der betreffenden Person Relevanz zugeschrieben bekommt. Prominenz erweist sich nichtsdestotrotz als Stabilisator bei der Aufrechterhaltung der Bindung zwischen Nutzern und Medium. Zur horizontalen binnenreferentiellen Dimension der sozialen Beziehungen unter Fernsehakteuren kommt somit eine vertikale (soziale/para-soziale) Dimension hinzu: Durch Fernsehauftritte prominenter Personen wird

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die Distanz zwischen diesen TV-Personae und dem Rezipienten verringert. Dieser hat Teil an ihren Äußerungen, an ihrem im, für das und durch das Fernsehen inszenierten Leben, kurz: an ihrem mediatisierten Image. Zugleich kann jeder Zuschauer selbst durch vielgestaltige Teilhabe am Fernsehproduktionsprozess Prominenz erringen, aber auch wieder in das Feld der .gewöhnlichen Zuschauer zurückkehren, wenn eine Deprominenzierung einsetzt (siehe Abbildung 1).

TV-Personae •

Zuschauer Abbildung 1: Soziales und parasoziales Beziehungsgeflecht und Kreislaufdynamik zwischen Publikum und Fernsehakteuren (eigene Darstellung). Auf diese Weise entstehen genuin mediale Erinnerungsgemeinschaften, deren Referenzobjekt das Fernsehen ist. Auf horizontaler Ebene handelt es sich entweder um eine imaginäre oder eine tatsächliche Zuschauergemeinde bzw. um Selbiges in Bezug die Fernsehakteure; auf vertikaler Ebene wiederum bilden sich durch para-soziale Beziehungen zwischen Rezipienten und Fernsehakteuren ebenfalls je nach Erfolg einer Sendung und der Popularität einer TV-Persona imagined communities: Zwar teilen die Zuschauer und die Fernsehprominenz nicht dieselben Erinnerungen an ein bestimmtes Fernseherlebnis, da die Produktionsumstände sich gemeinhin diametral von der typischen Rezeptionssituation unterscheiden. Dennoch rekurrieren beide sozialen Gruppen auf denselben televisuellen Kontext: Ein prominenter Fernsehakteur mag sich nicht mehr an einen bestimmten Auftritt erinnern, weil es eine .promotional appearance von vielen gewesen

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sein mag. Doch dem Zuschauer ist möglicherweise die besondere Erscheinung des Prominenten, seine Aussagen und sein Aussehen in Erinnerung geblieben. Umgekehrt wird ein einstiger Star sich womöglich nur zu gut an bestimmte Etappen seiner Karriere erinnern, die Zuschauer ihn und seine Auftritte aber längst vergessen haben. Dies wird im Besonderen zutreffen auf Kurzzeitprominente, die aus der Publikumsmasse ins Licht der Fernsehöffentlichkeit gelangen, bald indes wieder in die Unkenntlichkeit zurückfallen. Insofern sind auf Seiten des Prominenten stete Anstrengungen erforderlich, im Gespräch zu bleiben und somit von Medium und Publikum nicht vergessen zu werden. Während Heldentum einzigartig und subjektgebunden ist sowie einen hohen Erinnerungswert aufweist, wird Prominenz in der Gegenwart stets neu ver- und gehandelt. Sie kann verliehen und wieder entrissen werden, abhängig von der Gunst und dem Bedarf der Massenmedien. Die vielsagende „Fahrstuhl-Metapher" stammt zwar von dem Boulevardjournalisten Kai Diekmann, Chefredakteur der „Bild"-Zeitung, doch trifft sie ebenso sehr auf das Fernsehen zu: „Grundsätzlich gilt: Wer die Presse einlädt, wenn es im Fahrstuhl des Lebens nach oben geht, darf sie nicht aussperren, wenn er wieder nach unten fährt" (zitiert nach Langner 2007). Auch Fernsehprominenz ist kulturelles Kapital: Lohn für jene Identitätsarbeit, die der Prominenzanwärter und der Prominenzinhaber gleichermaßen im Dienste des Mediums leisten (vgl. Hearn 2006: 630). Durch die globale Reichweite der Celebrity Culture wird dem Prominenten eine erhöhte Flexibilität bei seiner Identitätsarbeit und Anpassungsfähigkeit an international konformisierte Stilformen abverlangt. Der internationale Fernsehmarkt machte es möglich, dass ein englischer Telefonhändler und Amateurtenor wie Paul Potts auch in Deutschland zum Star wurde, nachdem die Deutsche Telekom seinen Aufritt in einer Talentshow des britischen Fernsehens im Rahmen einer Werbekampagne als emotionales Ereignis inszenierte, um für das mobile ,Überall-Fernsehen zu werben.116 Die Celebrity Culture wurde schon deshalb zur Vehikel der Westernisierung kultureller Unterhaltungskonventionen, weil sich die Hollywood-Prominenz, zu der Fernsehakteure ebenso gehören wie Filmschauspieler, in ihrer interpretativen Flexibilität und Universalität, das heißt in ihren ätherischen und repräsentativen Qualitäten, als außergewöhnlich kompatibel zu vielen Kulturkreisen der Erde erwiesen hat, welche die Star-Images wiederum in zueinander ähnlichen diskursiven Feldern adaptierten (vgl. Marshall 2006: 801).117 Ein weiteres Spezifikum kulturimperialistischer Strömungen auf dem Medien116 Der mit eineinhalb Minuten ungewöhnlich lange Werbefilm wurde über Monate auf allen großen Fernsehsendern in Deutschland gezeigt und avancierte - immerhin erst ein volles Jahr nach dem Ausstrahlungstermin von Potts' Auftritt bei „Britain's Got Talent" im Juni 2007 auf IT V - selbst zu einem Medienereignis, das durch die Zirkulation des Spots im Internet wiederum internationale Wirkung erzielte (vgl. Schmitz 2008). 117 Dass jedoch Starmoderatoren des Fernsehens internationale Bekanntheit erringen, kommt seltener vor. Ausnahmen sind beispielsweise Model Heidi Klum, die in den USA und in Deutschland als Fernsehmoderatorin arbeitet, sowie Jon Stewart oder Oprah Winfrey, die sich durch die internationale Vermarktung ihrer Sendungen per Satellitenfernsehen, Kontextveröffentlichungen wie Bücher sowie eine starke Internet-Präsenz auch im Ausland einen Namen gemacht haben.

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markt ist die global erfolgreiche Adaption von Unterhaltungsformaten bzw. Sendekonzepten wie beispielsweise im Fall des Reality TV (vgl. Bignell 2005:38): Hier sind es nicht einzelne Fernsehprominente, denen weltweiter Ruhm beschert ist, sondern vielmehr das Konzept der televisuellen Prominenzierung von Zuschauern, die vom Starruhm träumen - und dies egal in welchem Winkel der Erde. Unter diesem Blickwinkel geriert sich das Fernsehen als Mischinstanz kultureller Originalität: Schablonen werden international gehandelt, ihre Lebendigkeit aber entsteht erst durch die konkreten sozialen Bedingungsverhältnisse der laienhaften Akteure vor Ort vor den jeweiligen kulturellen Kontexten. Die Debatte um kulturimperialistische Medieninhalte ist lang.118 Die Orientierung oder gar Ausrichtung kultureller Typologien an fremden Traditionen hat - und das ist gerade am Beispiel der Prominenzkultur offensichtlich - häufig kommerzielle Gründe: „Geschäft und Erinnerung sind in einer mediatisierten Welt immer schon miteinander verkoppelt. [...] Die Massenmedien verbünden sich mit der Aufmerksamkeit, die flüchtig ist, nicht mit dem Gedächtnis, das nachschmeckt und wiederkäut" (Assmann 2006: 242). Zum Geschäft werden unter anderem auch die Autobiographien von Prominenten, die nicht selten aufgrund ihrer spezifischen Persönlichkeitsentwicklung zu Idealbildern stilisiert werden und weltweit Jugendliche dazu anspornen, dem jeweiligen Star nachzueifern und sich von den kulturellen Traditionen ihres eigenen Lebensumfeldes abzuwenden. So geriert sich das Fernsehen unter anderem auch als Internationalisierungsagentur der Kulturindustrie und ist verantwortlich für eine mögliche Homogenisierung kultureller Ausdrucksformen. 6.2.5. Die Faszinationskraft

von

Medienereignissen

„The more persons affected by a news story the better the story", schrieb schon der Chefredakteur der Tageszeitung „Toledo Blade" und Journalismusdozent Charles Corbin im Jahre 1928 in seinem Grundlagenwerk „Why News is News" (Corbin 1928:138). Insofern liefert das Fernsehen immer dann die besten Geschichten, wenn es eine größtmögliche Masse an Zuschauer betroffen macht, ihre Gefühle erregt und sie an die mediale Darstellung bindet: „Die Tage und Stunden, da alle Sender weltweit dasselbe bringen, sind die Sternstunden der Realitätsmaschine Fernsehen" (Hörisch 2005: 986). In solchen Fällen manifestiert sich die Glaubwürdigkeit des Fernsehens durch das eindrucksvolle Monopol eines Themas und zerstreut zumindest zum Zeitpunkt der Instantaneität des Erlebens jegliche Zweifel über die Authentizität des medialen Bildes. In krisenhaften Ausnahmesituationen beispielsweise herrscht bei den offiziellen Administratoren einer Gesellschaft Ratlosigkeit und Unsicherheit, die Kontrolle muss erst wieder hergestellt werden. Indem das Fernsehen seine Zuschauer daran teilhaben lässt, sorgt es für gesamtgesellschaftliche Partizipation und eine Transparenz des mit aller Aufmerksamkeit beobachteten Hann s Zur Rolle der Medien in der Streitfrage um Kulturimperialismus: Tomlinson 1991; Golding/Harris 1996. Zur Amerikanisierung des deutschen Fernsehens vgl. u.a. Thomsen 1986; Schneider 1987; Kohlenberger 2007.

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delns der politischen Führung mit all ihren Schwächen, aber auch Stärken, die sonst nie auf solch komprimierte und offensichtliche Weise ersichtlich wären. In solchen Momenten werden Heldenbilder konstruiert oder Ikonen zu Fall gebracht: Politiker laufen zur Hochform auf, wenn sie sich in Krisenzeiten als starke Führungspersönlichkeit und Retter in der Not inszenieren wie Gerhard Schröder in seinem Amt als Bundeskanzler, als im Jahr 2002 die Elbe aus ihrem Flussbett trat und viele Teile des Ostens Deutschlands überflutete, oder verlieren an Wählergunst, wenn sie in ihrem Handeln versagen wie im Falle von George W. Bush, der während seiner Amtszeit als US-Präsident bei der durch Wirbelsturm Katrina verursachten Katastrophe in und rund um New Orleans zu spät Präsenz zeigte. Ereignisse können allgemein beschrieben werden als konkrete Veränderung von Zuständen (vgl. Keil 2000:376). Ereignisse treten immer als Folgeerscheinung eines Zustandes, einer Handlung oder Entwicklung auf, sind trotz ihrer singulär auffälligen Erscheinung nie ablösbar aus dem Kontinuum der Zeit und müssen daher mit dem vorherigen und nachfolgenden Geschehen in Bezug gesetzt werden (vgl. Demandt 2003: 66). Sie stechen aus der Gleichförmigkeit des Alltags hervor und stellen laut „Duden'-Definition einen besonderen, nicht alltäglichen Vorgang dar, der gemeinhin von herausgehobener Bedeutung und signifikanter emotionaler Bindung der Beteiligten gekennzeichnet ist.119 Ereignisse irritieren, sonst wären sie nicht mehr als bloße Zustandsveränderungen bzw. bloßes Handlungsgeschehen. Sie stellen Zäsuren dar, indem sie Kontinuitäten unterbrechen: „Eine Umfrage würde wohl zu Tage fördern, dass ein Ereignis als Einbruch oder Einschnitt begriffen wird, etwas, das überrascht und wonach das eigene Leben, das Umfeld, die Lebenswelt nicht mehr die sind, die sie vorher waren" (Rathmann 2003: 3 - Hervorh. im Orig.). Die Erschütterung von kollektiv geteilten Vorstellungen und die Überraschung bei der Außerkraftsetzung des sozial geteilten Erwartungshorizonts durch ein Geschehen gilt als vorrangiges Kriterium bei der Bestimmung der Ereignishaftigkeit (vgl. Suter/Hettling 2001: 24). An der Messung eines Ereignisses an den kulturell verankerten Mustern einer Gemeinschaft zeigt sich die enge Kopplung des aktuellen Geschehens an den kollektiven Erfahrungen, die entweder biographischer Natur sein können oder als ,objektivierte' Mythen oder Geschichtsbilder die Dispositionen gesellschaftlicher Wahrnehmung bestimmen. Ereignisse verändern zudem die Welt, also jene Strukturkontexte, denen sie entstammen (ebd.: 25). Doch nicht nur der Welt widerfährt eine aufrüttelnde Veränderung, sondern auch und vor allem dem Weltverständnis (vgl. Seel 2003: 39). 119 Im deutschen Sprachgebrauch ist dies bereits an der unterschiedlichen Wortwahl bei der Beschreibung eines Geschehens ersichtlich: Etwas „geschieht" versus etwas „ereignet" sich. Obgleich beide Begriffe häufig auch synonym verwendet werden, bezieht sich letzterer stichhaltig auf das mittelhochdeutsche Wort „(er)öugen" bzw. auf das altdeutsche „(ir)ougen", was mit „vor Augen stellen" oder „zeigen" übersetzt wird (Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion 1999: 1071). Etwas geschieht, auch ohne dass der Mensch es optisch wahrnimmt. Ereignen kann sich aus etymologischer Perspektive also nur etwas, dass nicht nur optisch wahrnehmbar, sondern auch tatsächlich optisch wahrgenommen wird. Selbst bemerkenswerte Res gestae sind also nur ereignishaft, wenn sie als solche mit Bedeutung aufgeladen werden.

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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Das Fernsehen war von Anbeginn an das Ereignismedium schlechthin, zunächst weil es allabendlich die weite Welt mit all ihren Umwälzungen in die Beschaulichkeit des Zuhauses zu bringen versprach und sich dergestalt einer besonderen Faszinationskraft auf Seiten der Zuschauer erfreuen konnte, und im späteren Verlauf seiner Geschichte in Folge attraktiver (medialer) Konkurrenzangebote durch gezielte ,Eventisierung' seines Programms. Skandale, Katastrophen, Krisen: Das Fernsehen berichtet zuverlässig und beteiligt sich an Tabubruch, Revolution und sozialem Ungehorsam ebenso wie an der Festigung geordneter Verhältnisse. Klaus Kreimeier meint in einer Überfrachtung der Fernsehinhalte mit Ereigniskaskaden eine relative Folgenlosigkeit zu erkennen: „Wer viel fernsieht, hat sich damit abgefunden, dass die Weltgeschichte, bei allen Turbulenzen, sich nicht in eine bestimmte Richtung bewegt, sondern heftig zuckend auf der Stelle tritt. Der routinierte Fernsehzuschauer hat einen Pakt mit der Monotonie abgeschlossen und setzt darauf, dass es Langeweile ohne Reue, ohne ein Gran Unbehagen gebe. Der Bildschirm spiegelt ihm die Gleichförmigkeit der Welt und bewahrt ihn gleichzeitig davor, exzentrisch zu reagieren" (Kreimeier 1995: 34). Dennoch vermögen es nur Ereignisse, den Zuschauer aus eben jener beschriebenen Lethargie zu reißen, in die das Fernsehen sie nach Kreimeiers Auffassung getrieben hat. Das Fernsehen war stets Akteur bei der Inszenierung von Ereignissen, ebenso wie die übrigen Massenmedien, die durch ihre Berichterstattung selektierend, abstrahierend und simplifizierend Ereignisse abzubilden versprechen, und doch bereits Deutungshegemonien etablieren. Medienereignisse sind unter der Dominanz des Leitmediums Fernsehen vornehmlich zu audiovisuell wahrgenommenen Ausnahmevorfällen geworden, denen große Menschenmassen am Bildschirm beiwohnen und einen spezifisch televisuellen Eindruck von ihnen erhalten. Der Begriff des Media Event120 wurde paradigmatisch von den Mediensoziologen Daniel Dayan und Elihu Katz geprägt (Dayan/Katz 1992). Doch nicht etwa die mediale Thematisierung des Überraschenden und Erschütternden wurde von den Autoren als Medienereignis tituliert, sondern vielmehr ein ausschließlich feierliches Zeremoniell. Sie beschreiben drei Hauptszenarien von Media Events: Wettbewerbe, Eroberungen und Krönungen, die den jeweiligen narrativen Ereignisrahmen vorgeben und dem Rezipienten des Medienereignisses von vornherein die Sicherheit suggerieren zu wissen bzw. zu erahnen, wie das Ereignis ausgeht, u m damit Einheit unter den Zuschauern unter Rückbesinnung auf das gemeinsame Ganze zu stiften. 121 Gefeiert wird demnach nicht nur auf kollektive Weise, sondern gefeiert wird das Kollektiv (Dayan/Katz 1995:102). Die bereits beschriebene Krönung von Queen Elizabeth II ist ein archetypisches Beispiel für

120 Im Folgenden werden die Begriffe „Media Event" und „Medienereignis" synonym verwendet. 121 Martin Seel betont dagegen, dass sich Ereignisse einer „durchgehenden Regie" entziehen (Seel 2003: 40). Selbst penibel organisierte Zeremonien weisen seiner Ansicht nach entscheidende Charakteristika auf, die im Vorfeld nicht determiniert werden können und dadurch eine latente Ungewissheit bei den Beteiligten und Beobachtern verursachen: So kann nie ausgeschlossen werden, ob es während eines Ereignisses zu Zwischenfällen kommen wird.

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des

Femsehens

die Typologie des Media Events nach Dayan und Katz, da in diesem Fall Auffälligkeit, Aufmerksamkeit und vorgebliche Unmittelbarkeit vorlagen (vgl. Dayan/Katz 1992: 5-9): Viele Fernsehsender unterbrachen ihre Programmstruktur und die Zuschauer ihre Alltagsroutinen, um dem Geschehen telepräsent beizuwohnen. Die Außergewöhnlichkeit des Ereignisses ist also gekennzeichnet durch den „Bruch mit der erwartbaren medialen Präsentation" (Seel 2003:44). Das Geschehen hat durch die Außerkraftsetzung des Regelfalls schon von vornherein einen herausragenden memorativen Wert. Die Authentizität der Krönungszeremonie wurde durch die Live-Übertragung sowie die Tatsache gestärkt, dass es ohne direkte Beteiligung der Medien organisiert wurde. Zudem wurde es von langer Hand geplant, angekündigt und gezielt beworben. Die Präsentation der Krönung im Fernsehen war darüber hinaus feierlich und zeremoniell und zielte nicht auf Konflikt, sondern auf Versöhnung und Einheitsstiftung, was eine feierliche, ja elektrifizierte Rezeption auf Seiten der Zuschauer anregte. Das Direkt-Erleben des Medienereignisses in Echtzeit ist schon daher konstitutiv, da nur hierdurch die Suggestion von Teilhabe und Teilnahme sowie das Gefühl von Telepräsenz auf besonders eindrückliche Weise erfolgen kann. Weil Auffälligkeit aber auch Aufmerksamkeit voraussetzt, ist nicht jedes Ereignis für alle Rezipienten ein solches, sondern nur für jene, welche sich mittelbar oder unmittelbar von der Ereignishaftigkeit eines Geschehens involvieren lassen. Über konfliktfreie Ereignisse hinaus werden indes auch konfliktreiche vom Zuschauer mit überwältigender Ergriffenheit begleitet und der Programmfluss ins Stocken gebracht. Eine elektrifizierende Atmosphäre kann jegliches Ereignis kennzeichnen, wenn es in ausgeprägter Weise von (freudiger, neugieriger oder banger) Ungewissheit über seinen Ausgang begleitet wird. Der Zuschauer wird affektiv angesprochen und kann sich über die Dauer des Ereignisses sowie im Nachhinein auch tiefgreifend emotional angesprochen fühlen.122 An der einschneidenden Schockwirkung von Krisenereignissen, die den ideologischen (z.B. Kubakrise 1962-1963) oder humanitären Konflikt (z.B. Sturmflut in Hamburg 1962) zwangsläufig in sich tragen, zeigt sich die hinderliche Enge der Definition von Dayan und Katz: Dass sie den mächtigen Begriff des Media Event für eine vergleichsweise eng umgrenzte Form von (positiv konnotierten) Ereignissen zu reservieren suchen, fand berechtigte Kritik (u.a. Weichert 2003; Hepp 2004: 327-328). Tatsächlich stellt sich die Frage, weshalb die Beerdigung des US-Präsidenten John F. Kennedy ein Media Event sein soll, seine Ermordung aber nicht. Warum gilt den Autoren die Hochzeit von Diana Frances Spencer und Charles Mountbatten-Windsor, Prince of Wales, als Medienereignis, aber die Berichterstattung über den späteren Unfalltod der Prinzessin sowie die kollektiven Trauerbekundungen nicht? Auch mutet es seltsam an, dass die Olympischen Spiele in trauter Wiederkehr alle vier Jahre in ihrer Hyperstilisierung als Medienereignis anerkannt werden, aber die schockierenden Terrorakte von 122 Affekte werden hier als kurzzeitige, impulsive Gefühlsreaktion verstanden. Affekte sind daher instinktiv und kaum kontrollierbar. Emotionen dagegen sind reflektierter, indem sich der Mensch auf Basis seiner autobiographischen Erfahrung mit dem Ereignis auseinandersetzt und daraus lernt (vgl. Spitczok von Brisinki 2006: 99)

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III. 6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

1972 während der Spiele in München von dieser Bezeichnung ausgenommen und als bloße „News Events" (Dayan/Katz 1995:105) deklariert bzw. deklassiert werden.123 Weichert schlägt vor, unter einem Medienereignis eine außeralltägliche Erzählung zu verstehen, „die von den Medien in besonderer Weise inszeniert und zelebriert wird, und die - wenn das Publikum sie als integrierendes Sinnangebot akzeptiert - nicht nur eine Vergemeinschaftungsfunktion entfaltet, sondern auch Rückwirkungen auf den Ereignisverlauf sowie anderer Ereignisse haben" (Weichert 2006: 144). Diese Definition schließt keine Form von mediatisierten Ereignissen aus: Katastrophen und Zeremonien ebenso wie Unterhaltungsangebote und fiktionale Inhalte können als Medienereignis inszeniert und zelebriert werden - wobei unter ,Zelebration eine ausgiebige Widmung medialer Aufmerksamkeit in Kombination mit einer außergewöhnlichen Bereitstellung von Sendezeit und Produktionsaufwand zu verstehen ist - und können den Rezipienten als Anlass der Vergemeinschaftung dienen sowie unvorhersehbare Reaktionen auslösen und Fremdentwicklungen beeinflussen. 6.2.5.1. Event-Traumata

und Flashbulb

Memories

Die Einwirkungen von Medienereignissen auf das individuelle Gedächtnis sind besonders eindrucksvoll an Krisenereignissen nachzuweisen wie beispielsweise im Falle der Explosion des Space Shuttles „Challenger" nur wenige Minuten nach dem Start im Jahre 1986 (vgl. Bohannon 1988). Der Start jener Raumfahrtmission am 28. Januar 1986 wurde von CNN und einem Lokalsender übertragen. Der Reporter Kent Schocknek von der NBC-Partnerstation KNBC-TV, Channel 4 kommentierte das Ereignis live: „My god. An explosion. This is not standard. This is not something that is planned of course". Die „Challenger"-Katastrophe ist eines von vielen Beispielen für die Exzeptionalität der Berichterstattung über Krisen als Spezialfall von Medienereignissen, der von einem starken Überraschungseffekt sowie einer ausgeprägten Dominanz, Dynamik und Dramaturgie gekennzeichnet ist (vgl. Weichert 2006: 268). Das 21. Jahrhundert war bereits in jungen Jahren reich an Katastrophen, die das öffentliche Leben auf nationaler und teils gar globaler Ebene zum Erliegen brachte und von großen Publika als „televisions disaster marathons" (Liebes 1998) erlebt wurden. Vor allem die US-amerikanische Bevölkerung litt unter einschneidenden Krisen wie ausgelöst durch die Terroranschläge vom 11. September 2001, den Zerstörungen durch Hurrikane Katrina, dem Einsturz einer Autobahnbrücke während der Rush Hour zwischen den Zwillingsstädten Minneapolis und St. Paul im Bundesstaat Minnesota oder mehreren Massakern an Schulen und Universitäten. All 123 Ereignisse zeichnet per definitionem grundsätzlich eine hohe Relevanz in Bezug auf Nachrichtenfaktoren aus, da sie die herrschende Ordnung durchbrechen, grundlegende Veränderungen herbeiführen und neue Prozesse anstoßen. Da Nachrichtenereignisse stets an massenmediale Informationsangebote gebunden sind, sind sie zwar durchaus als eine Sonderform von Medienereignis zu beschreiben. Der Begriff des Medienereignisses selbst indes sollte terminologisch nicht gesondert differenziert werden, sondern in seiner Allgemeingültigkeit als Oberbegriff für alle in den Medien stattfindenden Ereignisformen eingesetzt werden.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

diese Ereignisse forderten Menschenleben in hoher Zahl und lösten nicht nur bei den Angehörigen der Opfer, sondern auch bei der allgemeinen Öffentlichkeit hoch-emotionale und dadurch extrem ausgeprägte Formen autobiographischer Erinnerung aus (vgl. auch Cohen 2006). Allesamt wurden durch die umfassende Echtzeit-Berichterstattung einer Vielzahl von Fernsehveranstaltern zu Medienereignissen. Viele Menschen erfuhren zuerst aus dem Fernsehen über die Katastrophen 124 und können sich auch nach längerer Zeit noch überraschend gut an die Rezeptionsumstände erinnern, wie das Beispiel der Terroranschläge vom 11. September zeigt: „Der Anteil der Leute, die mittlerweile vergessen haben, ob und wann sie wie reagiert haben, ist verschwindend gering. Da sich in Deutschland für die allermeisten Menschen das Handeln auf Medienrezeption und interpersonale Kommunikation beschränken konnte oder musste, hat sich das kommunikative Erleben und Handeln rund um das Ereignis tief in das Gedächtnis eingegraben" (Emmer u.a. 2002:175). Das Fernsehen fungierte als „Alarmmedium" ersten Ranges (ebd.: 169), da es die Menschen durch seine ubiquitäre Verbreitung allerorten von dem in seiner Extremität zunächst unwirklich erscheinenden Terrorereignis in Kenntnis setzte: „Wer hat die Wahrheit dieser Bilder unverzüglich fassen können? Ich sah im Elektronikmarkt des Rathaus-Centers Berlin-Pankow den qualmenden Turm, das Flugzeug von rechts, wie es kurz verschwand und sich dann von hinten durch den zweiten Tower brannte. Ekelwut befiel mich, üblicher Reflex auf Hollywood-Apokalypsen, wie auch dies eine sein musste, im Idioten-TV. Immer, wenn ich herkam, lief auf dem großen Vorführschirm ein Krieg der Pyromanen. Jetzt las ich die Senderkennung: ntv. Die Menschen glotzen stumpf, wie fensterlose Seelen. Aus der CD-Abteilung plärrt Whitney Houston. Ein paar Halbwüchsige verfolgten das New Yorker Spektakel in der HiFi-Grotte. Erschütterung ließ sich nicht spüren. Aber was sah man mir an? Draußen war übliche Welt. Die Straßenbahnen schnurrten über den Markt, die Airbusse pflügten den nassen Himmel und landeten sich in Tegel. Unser Rathaus stand, die Kirche, die Buchhändlerin lachte und bestellte das Buch, der Photohändler händigte die Urlaubsdias aus. Durch die Welt ein Riss?" (Dieckmann 2001: 216). Der Schock resultierte aus der Unfassbarkeit der evidenten Bilder aus New York, die nicht in die heile Lebenswelt des Großteils der Rezipienten passen wollten. Der Kontrast zwischen Bildschirmwirklichkeit und der organisch erfahrenen Rezeptionsumgebung erschaflte reflexartige Zweifel an der Echtheit des Ereignisses, verstärkt durch die manufaktierten Katastrophenszenarien aus den Fiktionsfabriken der Unterhaltungsindustrie, die von Generationen von Kinogängern, Videonutzern und Fernsehzuschauern konsumiert worden waren. Als Phantasiekonstrukt existierten die Terroranschläge schon lange vor ihrer tatsächlichen Ausführung und stimulierten kollektive Erinnerungen an die Bewegtbilder dessen, was nie zuvor gewesen war: 124 Eine Repräsentativbefragung in Deutschland ergab, dass beispielsweise fast die Hälfte der Befragten über die Anschläge vom 11. September 2001 als erstes aus dem Fernsehen erfahren hatte (Emmer u.a. 2002: 169).

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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„Man versicherte sich gegenseitig vor dem Bildschirm und an den Radios: Das kann nicht wahr sein. Und jedesmal lautete die Antwort auf den frisson der schockierenden Erinnerung an längst Befürchtetes: Das ist kein Traum, es ist Wirklichkeit. Wo so eine Feststellung sich aufdrängt, um dem Bewusstsein die doppelte Abwehr sowohl der Schreckensnachricht wie des damit einhergehenden Wirklichkeitsverlusts zu ermöglichen, ist das größte Grauen offenbar nicht das der Überraschung, sondern des Wiedererkennens" (Dath 2001: 53). Jean Baudrillard sprach dementsprechend gar von einem „absoluten Ereignis [...], das in sich alle Ereignisse vereint, die niemals stattgefunden haben - die,Mutter' aller Ereignisse" (Baudrillard 2001). In der wahr gewordenen Terrorphantasie verband sich Fakt mit Fiktion, eben jener Fiktion, die schon so häufig und nicht ohne spannungsgeladene Faszination in den Kinosälen (und damit kurze Zeit später auch auf den Fernsehschirmen) in pyromanischer Phantasiefülle inszeniert worden war: „Wirklichkeit und Fiktion sind nicht auseinander zu halten, und die Faszination des Attentates ist in erster Linie eine Faszination durch das Bild. In diesem Fall also addiert sich das Reale zum Bild wie eine Schreckensprämie, wie ein zusätzlicher Schauder. Es ist nicht bloß erschreckend, sondern auch wirklich geschehen. Nicht die Gewalt des Realen war zuerst da, gefolgt vom Gruseleffekt des Bildes, sondern es verhält sich eher umgekehrt: Am Anfang war Bild, und erst dann kam der Schauder des Realen. Gleichsam eine zusätzliche Fiktion, eine Fiktion, welche die Fiktion übertrifft" (ebd.). Die Beispiellosigkeit der Terroranschläge vom 11. September in der Geschichte der Fernseh-Live-Übertragungen liegt vor allem darin begründet, dass Kamerateams meist zu spät kommen, u m den Ausgangspunkt einer Krise bildhaft einfangen zu können. An jenem Dienstagmorgen war zwar die Kollision des zweiten von Terroristen gelenkten Flugzeuges in den Südturm des World Trade Centers (WTC) am Bildschirm live mitzuverfolgen (was die initialisierende Sensationalität dieses Fernsehereignisses ausmachte), nicht aber wie das erste Flugzeug den Nordturm rammte. Das Medium Fernsehen ist zwar schnell vor Ort, sogar manchmal schneller als die Menschen, die unweit des Geschehens leben. Live berichtet werden kann aber in der Regel erst über den Fortlauf der Krise oder, wie hauptsächlich der Fall, über die Rettungs- und Aufräumarbeiten. Gleichzeitig greifen Ersatzmechanismen, um trotzdem auch für vergangene Ereignisabläufe eine Live-Atmosphäre zu generieren: In solchen Situationen bekommen Amateuraufnahmen wichtige Relevanz, die in die laufende Berichterstattung implementiert werden und durch regelmäßige Wiederholung ein direktes Erleben suggerieren. „Hierbei ist neben dem tatsächlich simultan ablaufenden Geschehen und seiner Übertragung bzw. Präsentation durch das Fernsehen entscheidend, dass die Liveness-Phase von vornherein als Genre des Authentischen angelegt ist" (Weichert 2006: 257-258 - Hervorh. im Orig.). Weichert erkennt im Ablauf ritualisierter Krisenereignisse einen dialektischen Phasenzyklus, den er wie folgt gliedert (ebd.: 258): Auf die Liveness-Phase folgt eine Ästhetisierung durch technische und stilistische Eingriffe seitens der Fernsehveranstalter, die

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

mit Logos, Split-Screens, Computeranimationen usf. eine „Etikettierung" der Ereignisses vornehmen. Daraufhin erfolgt eine Dramatisierung, in deren Verlauf interpretative Schwerpunktsetzungen, moralisch wertende Dichotomisierungen und normative Bedeutungszuschreibungen vorgenommen werden. In der anschließenden Ritualisierungsphase erfolgt die eigentliche Mythenbildung, die den Status des Medienereignisses als exzeptionell kennzeichnet. Letztlich setzt eine Historisierung ein, die das Medienereignis in den geschichtlichen Kontext einordnet und memorative Funktionen erfüllt (ebd.: 265). Alle fünf Phasen, die chronologisch nicht klar voneinander abzugrenzen sind, sondern ineinandergreifen und sich überlagern, tragen auf signifikante Weise zur Formung nachdrücklicher Erinnerungen an das Ereignis bei. Dadurch ist es auch möglich, dass Zuschauer erst später in die Berichterstattung einsteigen und dennoch die volle Wucht der Erlebnisqualität zu spüren bekommen. Durch starke Affektivität des Erlebens können auch Geschehnisse wie die einstürzenden Türme des New Yorker World Trade Centers, denen eine Person nicht persönlich an Ort und Stelle beigewohnt hat, sondern indirekt über Massenkommunikationsmittel wie das Fernsehen wahrnimmt, traumatische Symptome wie beispielsweise extreme Angstzustände auslösen (Talarico/Rubin 2003: 460). Die populäre Bezeichnung des angeführten Beispielereignisses als .nationales Trauma ist ein weiterer Hinweis auf die besondere Gedächtnisrelevanz derartiger Katastrophen. Obwohl es natürlicherweise in verschiedenen Teilen der Erde Unterschiede in der Intensität der Betroffenheit gab, wurde 9/11 zu einem globalen Erinnerungsphänomen. Wie die Psychologen Antonietta Curci und Olivier Luminet feststellen, werden in diesem Zusammenhang nicht nur die Anschläge selbst erinnert, sondern auch die persönliche Situation, in der man sich befand, als man von ihnen erfuhr: „People from different countries appeared to have developed a consistent memory for the event and its reception context, although the underlying processes of formation and maintenance would differ across different countries" (Curci/Luminet 2006: 343). In welche Kategorie fallen Erinnerungen an solch bedeutsame, traumatische öffentliche Ereignisse, deren Folgen sich tief greifend auf emotionale Seelenlagen, Wertevorstellungen und sogar Weltbilder auswirken? Unterscheiden sich diese besonders intensiv wahrgenommenen Erfahrungen und die daraus resultierenden scheinbar lang anhaltenden Erinnerungsphänomene von herkömmlichen autobiographischen Erinnerungen? Das landläufige Verständnis eines Traumas geht von einer Erfahrung aus, die einen emotionalen Schock auslöst und eine psychische Verletzung zur Folge hat, wobei die Erinnerung daran unterdrückt wird und nur schwer oder nicht geheilt werden kann (vgl. Payne u.a. 2004: 78). In ihrem Lehrbuch der Psychotraumatologie definieren Fischer und Riedesser Trauma unter Vermeidung einer verbindlichen Bestimmung der Verarbeitungsmechanismen als „vitales Diskrepanzverhältnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt" (Fischer/Riedesser 2003: 82). Nach dem weithin akzeptierten Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung folgt einer zentralen traumati-

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sehen Situation eine Notfallreaktion, woraufhin sich der traumatische Prozess anschließt (ebd.: 62-63; vgl. auch Horowitz 1986: 86). Ein Schockzustand entsteht, wenn sich eine Person in einer lebensbedrohlichen Situation wähnt, die sich in einem unfreiwilligen Kontrollverlust und damit verbundener Hilflosigkeit ausdrückt sowie eine extreme emotionale Belastung bewirkt. Diese subjektive Bedeutungszuschreibung erfolgt stets unter Rückbezug und Abgleichung mit im autobiographischen Gedächtnis vorhandenen Erfahrungen. Damit spielt das extreme affektive Erregungsniveau des Organismus eine Schlüsselrolle bei der Wahrnehmung traumatischer Erlebnisse. Durch diese emotionale Überlastung wird die normalerweise angestrebte Anpassung an Umweltfaktoren und die Resistenz gegenüber Gefahrensituationen gestört oder sogar vollständig verhindert.125 Da der Trauma-Begriif generell mit einem Gefühl der Angst in Zusammenhang gebracht wird, sind die ersten Reaktionen meist geprägt von (Er)Schrecken, Trauer oder Wut (Horowitz 1986: 17-21). McNally sieht indes nicht allein Angst als zentralen Gefühlszustand, sondern ergänzt noch Scham und Schuld (McNally 2003: 104). Im weiteren Lebensverlauf setzt sich das Trauma-Opfer mit dem traumatischen Erlebnis entweder in Form passiver oder aktiver Erinnerung auseinander, das heißt, das Erlebnis wird entweder unbewusst nacherlebt oder bewusst zum Zwecke der Verarbeitung und Bewältigung erinnert. Im günstigsten Fall kommt es zu einem Abschluss („completion"), der darin Ausdruck findet, dass das Ereignis erinnert werden kann, ohne aber davon überwältigt zu werden und/oder es zwanghaft erinnern zu müssen (Fischer/Riedesser 2003: 96). Die Psychotraumatologie ist eines der kontroversesten Gebiete der psychologischen Gedächtnisforschung. So wird in Frage gestellt, ob es sich bei traumatischen Erinnerung überhaupt um einen Sonderfall autobiographischer Erinnerung handelt, also ob Traumata tatsächlich besonderen Charakters sind (Porter/Birt 2001; Byrne/Hyman, Jr./Scott 2001). Grund dafür ist auch die Subjektivität und damit Divergenz bei der Stresswahrnehmung. Wie McNally zeigt, entwickeln manche Menschen emotionalen Stress traumatischen Ausmaßes, selbst wenn sie in Situationen geraten, die keineswegs katastrophalen oder lebensbedrohlichen Ausmaßes sind (McNally 2003:97). Als Beispiele nennt McNally Scheidungsfälle, Geburten genauso wie Fehlgeburten, Panikattacken ohne besonderen Auslöserreiz, sogar die unbeabsichtigte Tötung von Fröschen mit einem Rasenmäher oder das Schauen eines Horrorfilms.126 Ein umso stärkeres Wirkungspotenzial haben Medienereignisse: Durch das scheinbar unvermittelte Erleben einer realen Katastrophe

125 Bei der sogenannten „Victimisierung" wurde indes eine Umkehr dieser Schema-Funktion beobachtet, die als „Bizarres Schema" bezeichnet wird. Dabei erfolgt eine Assimilation negativer Umweltfaktoren und eine Nachaußenkehrung persönlicher positiver Eigenschaften, die in Kombination dazu führen können, dass der Trauma-Auslöser eine Aufwertung erfährt, die traumatisierte Person indes einer rapiden Selbstentwertung ausgesetzt ist (Fischer/Riedesser 2003: 128). 126 Bozzuto wies im Jahre 1975 nach, dass die Rezeption des Spielfilms „Der Exorzist" bei einigen Versuchspersonen eine „cinematische Neurose" auslöste (Bozzuto 1975).

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es selbst in einer sicheren Remote-Umgebung zu der Ausprägung traumatischer Eindrücke kommt. Bei der Analyse neuester Forschungsergebnisse identifizierte Brewin in seinem Forschungsüberblick neben der Debatte um die Signifikanz von Traumata drei maßgebliche Streitfragen, die jeweils auf zuwiderlaufenden Ergebnissen basieren: Inwiefern traumabezogene Erinnerungen besser oder schlechter127 sind als nicht-traumatische, ob Erinnerungen für besonders starke Traumata vergessen und später im Leben wieder rekonstruiert werden können und ob es einen spezifischen Mechanismus wie Unterdrückung oder Dissoziation braucht, um das Vergessen zu verursachen (Brewin 2007). Brewins Schlussfolgerungen sind keineswegs eindeutig: So resümiert er, dass traumatische Erlebnisse mal besser und mal schlechter erinnert werden könnten als nicht-traumatische (ebd.: 237). Christiansen und Engelberg führen diese gegenläufigen Befunde darauf zurück, dass es keine einheitlichen Auswirkungseffekte von Traumata aufs Gedächtnis gibt (Christianson/Engelberg 2006: 76): Während generell (extrem) negative Emotionen bei Opfern und Zeugen zu einer meist überdurchschnittlich guten Erinnerung führe, die sich auf das Emotionen auslösende Element des Erlebnisses beziehe, hätten Vergewaltigungs-, Missbrauchs- oder generell Gewaltopfer große Schwierigkeiten, sich genau an ihre traumatischen Erlebnisse zu erinnern. Auf die Fernsehrezeption bezogen, ließe sich also schlussfolgern, dass die emotionale Betroffenheit durch telepräsente Erfahrungen durchaus ein höheres bewusstes Erinnerungspotenzial entwickelt als die direkte körperliche Erfahrung eines Ereignisses vor Ort. Brewin zeigt auch, dass es immer noch kein allgemeingültiges und erhellendes Verständnis davon gibt, wie traumatische Erinnerungen vergessen werden könnten, um im späteren Leben plötzlich wieder ins Bewusstsein zu drängen (Brewin 2007: 239), und dass bisher nur Hinweise, aber keine triftigen Belege dafür existieren, dass Personen, die gelernt haben, unangenehme Erinnerungen zu unterdrücken oder zu dissoziieren, diesbezüglich auch bei traumatischen Erfahrungen erfolgreich sein können (ebd.: 241). Außerdem sei immer noch nicht schlüssig untersucht worden, ob sich die Ergebnisse klinischer Untersuchungen an Trauma-Patienten, die auf eine Sonderstellung von traumatischen im Vergleich zu herkömmlichen autobiographischen Erinnerungen hinweisen, auf gesunde Personen übertragen lassen (ebd.: 236). Goodman und Paz-Alonso weisen diesbezüglich indes darauf hin, dass Dissoziation wahrscheinlich eine Rolle spielen mag, wenn ein Trauma chronische Ausmaße hat und während der Kindheit erlebt wurde (Goodman/Paz-Alonso 2006: 248). McNally bezeichnet es aber zusammenfassend als „psychiatrische Folklore" (vgl. McNally 2003: 275), dass sich das menschliche Bewusstsein selbst beschütze, indem es traumatische Erinnerungen unterdrücke oder verdränge. So sei es zwar möglich, dass sich Betroffene über längere Zeit nicht an die traumatische Situation erinnern. Dennoch bleibe der Vorfall im Gedächtnis wie jede andere autobiographische Erinnerung und unterliege nicht automatisch einer Amnesie. 127 „Besser" beschreibt hier eine hohe Genauigkeit und „schlechter" eine geringere Detailfülle der Erinnerungen.

111.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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Die jahrzehntelange Auffassung, Traumata könnten Amnesien auslösen, ist also mittlerweile der Auffassung gewichen, dass traumatische Erfahrungen vom überwiegenden Teil der Betroffenen nicht vergessen werden, sondern im Gegenteil sehr lebendige und lang anhaltende Erinnerungen auslösen. Kihlstrom fasst die derzeitige Forschungslage zusammen: „Nothing in the case literature justifies assertions that trauma impairs memory as a matter of course, or in the majority of cases, or often - even sometimes seems to extreme" (Kihlstrom 2006: 283 - Hervorh. im Orig.). Ein Trauma lässt sich bei pathologischen Fällen eindeutig feststellen. Schwieriger ist es im Alltagsgeschehen: Die wenigsten Menschen entwickeln nach dem Erleben traumatischer Situationen ein eindeutiges Krankheitsbild und zeigen allenfalls vereinzelt und oft nur sehr schwache Symptome (McNally 2003: 104). Was also als Trauma bezeichnet werden kann, ist ebenso fraglich wie die Bemessung des Merkmals „substantiellen Stresses" (vgl. ebd.: 279). Während für die Diagnose und Behandlung des posttraumatischen Stresssyndroms sowie für den Umgang mit Erinnerungselaborationen von diesbezüglich betroffenen Patienten beispielsweise vor Gericht eine klare phänomenologische Identifikation von Trauma zwingend erforderlich ist, kann es in Bezug auf das Alltagsleben im Zusammenhang mit der persönlichen Fernsehnutzung als aussichtsreicher bewertet werden, den Trauma-Begriff weiter gefasst als mit extremem Stress verbundenen Wahrnehmungen zu verstehen, die das Individuum emotional überlasten, die psychische Balance gefährden und damit nachdrücklich Auswirkung auf das seelische Gleichgewicht haben, indem sich der Rezipient durch die Eindrücke der traumatische Situation verfolgt fühlt. Brown und Kulik stießen mit ihrer Untersuchung über diese nach ihrer Auffassung als „Flashbulb Memories"128 zu bezeichnenden Erinnerungen eine lebendige Forschungskontroverse an, die bis heute unvermindert anhält (Brown/Kulik 1977). Anhand einer Untersuchung von individuellen Erinnerungen von 80 Versuchspersonen über das Attentat an John F. Kennedy wiesen sie nach, dass nicht nur das Ereignis an sich auch noch nach Jahren lebendig erinnert wurde, sondern auch die persönliche Situation, in der sich die Befragten befanden, als sie zum ersten Mal von der Nachricht erfuhren. Diese Erfahrung sei so neu, überraschend, wichtig, für die eigene Persönlichkeit folgenreich bzw. emotional ergreifend, dass das Nervensystem davon ein Bild aufnehme (ebd.: 84).129 Angelehnt an die Auffassung des Neurobiologen Robert B. Livingston, der davon ausging, dass bestimmte Erfahrungen ins Gehirn wie auf Papier „gedruckt" würden (vgl. Livingston 1967), knüpften Brown und Kulik an diesen sogenannten „Now Print!"-Mechanismus an und erklärten ihr Vorgehen mit einem Beispiel, das Livingston in einem Aufsatz als Beleg für seine Theorie anführte:

128 Im Folgenden werden „Flashbulb Memories" und dem deutsche Begriff „Blitzlichterinnerungen" synonym verwendet. 129 Brown und Kulik schrieben hierzu im Wortlaut: „Indeed, it is very like a photograph that indiscriminately preserves the scene in which each of us found himself when the flashbulb was fired" (Brown/Kulik 1977: 74).

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„I suggest that almost all of you will remember exactly where you were on November 22:1963, when you heard the news that President Kennedy had been assassinated. You can probably tell us where you were, with whom, and very likely whether you were sitting, standing, or walking ~ almost which foot was forward when your awareness became manifest. [...] Whenever you experience an abrupt and highly meaningful event, everything will get printed, and printed elaborately on the basis of one experience" (ebd.: 576). Blitzlichterinnerungen müssten sich demnach stets durch Vollständigkeit und Detailtreue, Korrektheit, Lebhaftigkeit und durch permanente Resistenz gegen das Vergessen auszeichnen. Diese strengen Anforderungen an das Flashbulb Memory-Konzept konnten aber nicht aufrechterhalten werden. Schon die Analogie zu einem Blitzlicht, das quasi eine Fotografie von einem Ereignis erstellt und im Gedächtnis deponiert, war ein maßgeblicher Kritikpunkt an der Brown/Kulik-Studie. Conway und Kollegen (Conway u.a. 1994) sowie Finkenauer und Kollegen (Finkenauer u.a. 1998) entwickelten das Flashbulb Memory-Modell unter verschiedenen Gesichtspunkten weiter. Allen drei Konzepten gemein sind vier Faktoren, die für die Entstehung von Blitzlichterinnerungen verantwortlich sein sollen: Die Überraschung bezüglich eines Ereignisses, die Zuschreibung von Wichtigkeit und Folgenreichtum, ein intensiver Gefühlszustand und mentale wie kommunikative Wiederholung. Dennoch wird die Entstehung wie die Transformation von Blitzlichterinnerungen immer noch kontrovers diskutiert, worauf im Folgenden näher eingegangen werden soll. In den nunmehr 30 Jahren Forschung über Flashbulb Memory wurden vor allem klassische Medienereignisse, also Attentate bzw. Attentatsversuche (z.B. auf John F. Kennedy, Ronald Reagan, Itzhak Rabin), Todesfälle (z.B. Prinzessin Dianas, Mutter Theresas, des belgischen Königs Baudouins), Unglücke (z.B. Explosion des Space Shuttles „Challenger", Nuklearer Unfall in einem japanischen Atomkraftwerk) und die Terroranschläge vom 11. September 2001, untersucht. Wie die Auflistung der thematischen Untersuchungskontexte zeigt, konzentrierten sich die Forscher allesamt auf öffentliche Ereignisse, die eine intensive Berichterstattung in den Massenmedien erfuhren, wobei schon Brown und Kulik in ihren Schlussfolgerungen anmerkten, dass auch Ereignisse aus dem Privatleben, die keinerlei Aufmerksamkeit von der breiten Öffentlichkeit bekommen und daher auch nicht von öffentlicher Relevanz sind, Blitzlichterinnerungen auslösen können wie zum Beispiel bei einem Autounfall. Hierbei sind die Begleitumstände sehr viel eindeutiger in Relation zum Ereignis zu sehen: Der Protagonist des Ereignisses sei dann gleichzeitig auch die erinnernde Person und die Umstände seien das Ereignis selbst, zumindest Teile davon (Brown/Kulik 1977: 98). Sieben Jahre später appellierte auch Pillemer - indes weitgehend folgenlos - an eine Ausweitung der empirischen Anstrengungen auf alltäglichen Lebensbereiche und führte als Begründung an, nur so könnten verallgemeinerte Interpretationen der im Rahmen von attentatsfokussierten Erhebungen gewonnenen Daten validiert werden (Pillemer 1984: 79).

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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Die durchgeführten Studien zu „Flashbulb Memories" wiesen besondere Kennzeichen der Erinnerungen an das jeweilige Ereignis und seine Umstände nach, doch mit teils höchst unterschiedlichen Ergebnissen im Detail, auf die im Laufe dieses Kapitels noch einzugehen sein wird. Gemeinsam ist allen, dass der von Brown und Kulik angenommene Entstehungsprozess, die entsprechend der Blitzlichtmetapher erfolgende Momentaufnahme des Selbst in Relation zur ursprünglichen Wahrnehmungssituation eines Medienereignisses, nicht unterstützt wird. Neisser favorisierte stattdessen den „Benchmark"Begriff und sieht Blitzlichterinnerungen als Fixpunkte und Verbundstellen der eigenen Autobiographie, welche die Webstellen zwischen privatem und öffentlichem Leben kennzeichnen: „They are the places where we line up our own lives with the course of history itself and say ,1 was there" (Neisser 1982: 48). Das allein erklärt indes nicht die Frage, wie die jeweilige Person einem Ereignis besondere Bedeutung zuschreibt und erkennt, dass es sich um einen auch für die eigene Biographie bedeutenden Moment handelt. Die Präsentation eines Medienereignisses lässt den Zuschauer indes schnell erkennen, dass es sich zumal um einen außergewöhnlichen Moment auf Gesellschaftsebene handeln muss. Die Unterbrechung des Programms, die parallele Zuwendung gleich mehrerer Sender im Hinblick auf das Thema, der logistische Aufwand bei der Übertragung und Berichterstattung über das Ereignis usf.: Die Konstituenten allein auf Produktionsseite sind starke Signale, welche die Relevanz des Ereignisses auch für die Lebensgeschichte des Individuums vor allem in prospektiver Sicht anzeigen. Eine Untersuchung der Kognitionspsychologin Kathy Pezdek ergab, dass es ein Großteil der Befragten für notwendig hielt, sich nach der Katastrophe vom 11. September mit Familie, Freunden und Bekannten auszutauschen, überwiegend über das Telefon (Pezdek 2003: 1042). Pezdek interpretiert daraus den Drang, eine kohärente Narration erstellen zu wollen, „to be reassured that some aspect of life was secure and normal" (ebd.). Diese beständige verbale und mentale Wiederholung des Ereignisses und seiner Begleiterscheinungen sorgte in diesem Sinne für die lebendigen und lang anhaltenden Erinnerungen sowie ihr hoher Rang in der persönlichen Betroffenheit. Neisser betonte dagegen, dass auch Ereignisse, die nicht überraschend auftreten und keinen Neuheitsfaktor hätten, entsprechende Erinnerungen ermöglichen könnten. Als Beispiel führte er den Rücktritt des US-Präsidenten Richard Nixon an, der im Vorfeld zumindest von weiten Teilen der Bevölkerung erwartet worden war: „I vividly recall the circumstances and the company in which I watched the resignation speech, but my memory includes no element of surprise" (Neisser 1982: 46). Das Ereignis wurde hier durch seine gespannte Erwartung bereits schon in dem Moment als wichtig bewertet, als es geschah, und nicht erst durch eine wiederholte Rückbesinnung. Es gibt also zwei Möglichkeiten der Bedeutungszumessung: Entweder ein Ereignis wird wichtig durch mentale und kommunikative Verarbeitung oder es ist wichtig und wird deshalb mental und kommunikativ verarbeitet, was wiederum zu einer Verstärkung der Erinnerung führt. Neisser hat sich auch als einer der vehementesten Verfechter der Auffassung profiliert, dass Blitzlichterinnerungen erst durch diesen Wiederholungsprozess ihre enorme

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III. Die Gedächtnisrelevanz

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Bedeutung und Wirkung im Gedächtnis bekommen: Wie ein Ereignis zum ersten Mal wahrgenommen werde, erhalte erst nachträglich im kommunikativen Austausch und durch mediale Thematisierung eine Bedeutungszuschreibung und werde nicht sofort und unwiderruflich zu einer unzerstörbaren Erinnerung: „Moments like these are sure to be pondered discussed, and redescribed on subsequent occasions: why shouldn't we suppose that their persistence is due to the frequent reconsideration they receive?" (ebd.: 45) Wiederholung erscheint auch anderen Forschern als einer der maßgeblichen Faktoren für die Stärkung und Ausbildung von Blitzlichterinnerungen zu sein (Smith 2000a; Davidson/Glisky 2002: 108). Damit wird das Ereignis nachträglich durch kommunikative Anforderungen in ein narratives Gerüst gezwängt, was zu der Annahme führte, Blitzlichterinnerungen wären in einer kanonischen Struktur organisiert (vgl. Brown/Kulik 1977: 80). Conway hielt dagegen, dass eine solche nach narrativen Konventionen strukturierte Enkodierung zu einer irrealen Verlangsamung von Gedächtnisprozessen führen würde (Conway 1995: 26). Neisser schlug stattdessen vor, dass es sich dabei vielmehr um eine narrative Struktur handele, die sich an den weithin bekannten Anforderungen an eine Zeitungsmeldung orientiere: Wer ist beteiligt, was ist geschehen, wo hat es sich zugetragen, wann und warum? (Neisser 1982: 47). Dies ermögliche eine verständliche und reibungslose Elaborierung der Erinnerung. Die Bedeutungszuschreibungen eines Ereignisses durch kulturelle und soziale Prozesse machen deutlich, dass Überraschung oder Neuheit keine essentiellen Faktoren für Blitzlichterinnerungen sind. Wie das Beispiel des Nixon-Rücktritts gezeigt hat, können sie auch von Ereignissen verursacht werden, die sich schon lange vor dem eigentlichen Geschehen abzeichnen. Andere Beispiele sind der Rücktritt der britischen Premierministerin Margaret Thatcher oder das Sterben Papst Johannes Pauls II. Die Gedächtnisforscher Edery-Halpern und Nachson schlugen dementsprechend vor, weniger zu untersuchen, inwieweit ein Überraschungseffekt zur Enkodierung von Blitzlichterinnerungen führt, sondern welche Rolle es spielt, wie markant Ereignisse sind (Edery-Halpern/Nachson 2004). Smith sieht dies in der Summe von Erinnerungsfragmenten begründet, die je nach Aufwertung eines einzelnen Bruchstücks zur Erstellung eines Erinnerungskomplexes mit besonderer Stärke führen können. Diesem sogenannten „Jigsaw"-Effekt (PuzzleEffekt) liegt die Annahme zugrunde, dass Blitzlichterinnerungen aus Wahrnehmungsfragmenten zusammengesetzt werden können, zu denen auch persönliche Erinnerungen gehören, die konkret keine Relevanz für das Ereignis an sich haben. Die schiere Masse an Fragmenten könne dann sogar zu dem bemerkenswerten Fall führen, dass eine Blitzlichterinnerung ohne nennenswerte emotionale Erregung entsteht: „On the Jigsaw-model view, particularly long-lasting and vivid memories may derive from rehearsal, resulting in a detailed permanent addressed memory, but such memories could also be assembled from the exceptionally large number of little-rehearsed fragments that derive fromthe event having general significance, even the event has little personal significance. For me, Princess Dianas death belongs to this latter category: I felt the regret I would feel when I learn that anyone has died in a

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crash, but nothingmore; the subsequent reaction, particularly in themedia, meant I couldnot avoidcreating a largenumber of Diana-related fragments which conspire, according to the Jigsaw model, to help activate the average-importance flashbulblike fragments relating to the circumstances surrounding my learning of her death" (Smith 2000a: 254). Smith attestiert dem Wiederholungsprozess also sogar die bemerkenswerte Wirkung, zuvor in der persönlichen Wahrnehmung nur bedingt wichtige Ereignisse derart mit Bedeutung aufzuladen, dass der Flashbulb Memory-Effekt erst nachträglich eintritt. Maßgeblich ist aber allen voran die emotionale Erregung durch ein Ereignis bei der Entstehung von Blitzlichterinnerungen (Scott/Ponsoda 1996; Talarico/Rubin 2003).130 Finkenauer und Kollegen arbeiteten heraus, dass Emotionen eine entscheidende Funktion bei ihrer Formierung einnehmen: „The intensity of the emotional feeling state determines subsequent rehearsal. It should be noted that these rehearsal processes are likely to address information about the original event rather than information relative to the reception context. Hence, we propose that the intensity of emotional feeling state determines event rehearsal and, as a consequence, the long-term memory of the original event. The memory of the original event, in turn, influences the maintenance of FBM [Flashbulb Memory Mechanism - LK]" (Finkenauer u.a. 1998: 520). Die persönliche Konsequenzen im Moment des Erlebens, vor allem wenn es sich um ein öffentliches Ereignis handelt, sind aber nicht immer sofort abzusehen, und damit auch die emotionale Teilhabe an einem solchen Ereignis nicht verallgemeinerbar: Neisser wischte diesen bei Brown und Kulick als „consequentiality" bezeichneten Faktor mit der Begründung fort, er resultiere aus einer „Great Man"-Geschichtstheorie, die davon ausgehe, dass das gemeine Individuum vom Handeln und Schicksal einer besonderen Person der Zeitgeschichte persönlich betroffen sei. Diese deterministische Verknüpfung des eigenen Schicksals mit dem einer öffentlichen Person könne so nicht akzeptiert werden und werde von Befragten als Zumutung empfunden. Vielmehr seien es kulturelle und wirtschaftliche Umstände, die dies bewirkten (Neisser 1982: 46). Man müsse also von einer Art „Metakognition" (vgl. ebd.: 47) sprechen, also das Erkennen der gesellschaftlichen bzw. historischen Bedeutung eines solchen Ereignisses: „How dramatic was the event, how central, how ,big'?" (ebd.). Untersucht wurde der durch eine mögliche Interrelation von öffentlich kommunizierten und persönlichen Schicksalen ausgelöste Folgenreichtum für die individuelle Biographie aber nur spärlich: Brown und Kulik verglichen die Betroffenheit von Personen afroamerikanischer Abstammung mit jener kaukasischer

130 Die Genauigkeit fehlt, weil Emotionen zu einer verengten Aufmerksamkeit führten (Neisser 1982: 46). Wie gezeigt wurde, können Emotionen im Gegenteil sogar die Erinnerungsfähigkeit verbessern. Für Talarico und Rubin ist die emotionale Erregung im Zuge eines Ereignisses für das hohe Maß an Überzeugung verantwortlich, die mit Blitzlichterinnerungen einhergeht (Talarico/ Rubin 2003).

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Abstammung im Zusammenhang mit neun öffentlichen Ereignissen131 sowie mit einem nicht näher spezifizierten persönlichen Negativerlebnis und konnten zeigen, dass Letztere sich eher mit dem Schicksal Kennedys verbunden fühlten, erstere dagegen eher mit den Schicksalen von Martin Luther King und Malcom X. Sie folgerten daraus, dass die Befragten afroamerikanischer Abstammung eine Art Verpflichtung darin sahen, „to rank Martin Luther King and Malcolm X above any white man" (Brown/Kulik 1977: 94). Wie bereits zuvor angesprochen, arbeitet das Gedächtnis bei gesunden Menschen häufig mit visuellen Repräsentationen von Erinnerungen, besonders wenn es sich um autobiographische handelt. Ebenfalls wurde betont, dass Erinnerungen, die mit visuellen Vorstellungen einhergehen, allgemein zu einer stärkeren Überzeugung bei der betreffenden Person führen, die Erinnerung sei korrekt (u.a. Rubin/Kozin 1984; Brewer 1988, 1996; Rubin 1995; Pillemer u.a. 1995; Rubin/Schrauf/Greenberg 2003; Greenberg 2004). Nach Brewer scheinen die meisten und vermutlich sogar alle Blitzlichterinnerungen mit starken visuellen Vorstellungen einherzugehen (Brewer 1992:285). Auch Pillemer (1984) und Greenberg (2004) betonten die visuelle Kraft von Blitzlichterinnerungen, die ursprünglich auch Brown und Kulik zu der Annahme verleitete, es handele sich bei den Erinnerungen um eine Art fotografischen Mechanismus. Unter dem Eindruck der zahlreichen Studien zu Erinnerungen über Attentate halten Nachson und Zelig Angst für einen möglichen wichtigen Faktor für die Verstärkung mentaler Bilder, die wiederum die Erinnerungsfähigkeit stärke (Nachson/Zelig 2003: 529). Conway meint dementsprechend: „Extremely high levels of arousal associated with the experience of trauma often lead to intrusive and highly detailed FMs" (Conway 1995: 25). Starke Visualität bei der Rekonstruktion einer zurückliegenden Erfahrung wiederum kann die Überzeugung des Individuums kräftigen, dass es sich um akkurate Erinnerungen handelt, oft so sehr, dass selbst Forscher von der Überzeugung der Befragten irregeführt werden und aus ihr die Richtigkeit der Antworten folgern. Wie Talarico und Rubin sowie unter anderen Neisser (1982) kritisierten, hätten Brown und Kulik die Aussagen ihrer Befragten nicht hinterfragt, sondern sie als wahrhaftig akzeptiert. McCloskey u.a. schlugen angesichts der notwendigen Abkehr von den strengen Anforderungen an das Konzept von Blitzlichterinnerungen vor, die strengen Maßstäbe zu lockern und vielmehr schwächere Faktoren anzunehmen: Solche Erinnerungen seien markant, aber nicht so vollständig, akkurat, lebendig und langlebig wie erwartet (McCloskey/Wible/Cohen 1988: 181). Dies, so die Autoren, sei freilich nicht ausreichend, um einen eigenen Mechanismus für Flashbulb Memories zu postulieren. Doch fraglich ist, ob so weit zu gehen ist wie Christianson, der konstatierte, dass darunter keine besondere

131 Bei den öffentlichen Ereignissen handelte es sich ausschließlich um Attentate (bzw. im Fall des Generals Francisco Franco um einen natürlichen Todesfall) auf zur damaligen Zeit bekannte Personen der Zeitgeschichte: den Bürgerrechtsaktivisten Medgar Evers, den US-Präsidenten John F. Kennedy, die Bürgerrechtler Malcolm X und Martin Luther King, den US-Senator und Bruder John F. Kennedys Robert F. Kennedy sowie Senator Ted Kennedy, den ehemaligen Gouverneur George Wallace und den Präsidenten Gerald Ford.

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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Art von autobiographischer Erinnerung zu verstehen sei, sondern „merely reconstructions that follow the same pattern of recollection as has been demonstrated in laboratory studies involving highly emotional events" (Christianson 1989:442). Diese Abkehr vom Flashbulb Memory-Paradigma wurde in ihrer Radikalität indes von anderen Forschern kaum unterstützt, obgleich auch Rubin und Kollegen zunächst in Erwägung zogen, die Blitzlichtmetapher mit dem Begriff „Lebendige Erinnerung" zu entschärfen: „If vivid and flashbulb memories were nothing more than the autobiographical memories that contain the most and clearest details then normal verbal learning mechanisms such as spaced practice (i.e., rehearsal), imagery (i.e., vivid pictorial representations), numerous links to other memories in a network or space (i.e., importance and consequentiality) and novelty or distinctiveness (i.e., surprise) might be enough to explain their existence" (Rubin/Kozin 1984: 94). Charles A. Weaver III kam deshalb zu dem Schluss, es brauche zwar keinen gesonderten Flashbulb-Mechanismus, um das Phänomen zu erklären (Weaver III 1993). Dennoch seien diese Erinnerungen „rare, unique, and universal" (ebd.: 45) und wären daher von spezieller Natur, die es weiterhin zu ergründen gelte. Zusammenfassend lassen sich Blitzlichterinnerungen als lebendige, verhältnismäßig langlebige und in Bezug auf den Rezeptionskontext eines öffentlichen, aber unter Umständen auch persönlich wichtigen (Medien-) Ereignisses relativ detaillierte Erinnerungen definieren, die jedoch ebenso störanfällig sind, verblassen können und Veränderungen unterliegen wie gewöhnliche Erinnerungen. Mit Blick auf die vorliegenden Untersuchungen lässt sich feststellen, dass überwiegend die Gedächtnisrelevanz genuiner Medienereignisse mit nationaler bis globaler und traumatischer Bedeutung analysiert wurde. Neuere Forschungsanstrengungen wie die von Pezdek (2003), die eine Trennung des Phänomens in „Event Memory", also die Erinnerungen an das jeweilige Ereignis, und autobiographische Erinnerung vertritt, bedeuten aber nicht, dass es zu Grabe getragen wird. Der Vorschlag stellt vielmehr einen neuen Forschungsansatz dar, der helfen könnte, die immer noch im Detail ungeklärten Abläufe bei der Entstehung von Blitzlichterinnerungen zu erklären. Winninghams Forderung aus dem Jahr 2000, schnellstmöglich herauszufinden, wie das .Indexing' von Blitzlichterinnerungen funktioniere, da sie sich nach der Informationskodierung zu schnell und radikal veränderten (Winningham/Hyman, Jr./Dinnel 2000: 215), konnte bis dato nicht entsprochen werden. 6.2.5.2. Medienereignisse

als

Sozialstabilisatoren

Talarico und Rubin führten den Begriff der Flashbulb Memories zu seiner Kernfunktion im Rahmen des autobiographischen Gedächtnisses zurück und strichen die Bedeutung dieser spezifischen Form von Erinnerungen für die individuelle Identitätsbildung und ihre narrative Pflege heraus: „The desire to .never forget' results in overconfidence in the accuracy of our memory for hearing the news because the alternative is to admit being a callous observer and,

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in the case of the 11th September attacks, a poor patriot. Instead, we maintain vivid recollections and retell our stories in order to achieve social goals, not memorial ones" (Talarico/Rubin 2007: 575). ImVordergrundderErinnerungskonstruktionstehtdemnachdie(Re)Integrationsfunktion von Medienereignissen in sozio-kulturelle Strukturen. Dass Erinnerungen nie Selbstzweck sind, sondern stets zur Verfolgung eines Ziels in der Gegenwart dienen, zeigt sich an Krisenereignissen besonders deutlich. In dem Bedürfnis, sich mitzuteilen, seine individuelle Sicht auf die Dinge zu artikulieren, seine Ängste ebenso zum Ausdruck zu bringen wie sich untereinander der Sicherheit in und durch die gemeinschaftliche Einigkeit zu vergewissern, äußern sich eine ganze Reihe von memorativen Funktionen, die von Identitätsarbeit über die Verständigung auf gemeinsame Normen und Werte bis hin zur dezidierten Erinnerungsarbeit in Bezug auf ähnliche Erfahrungen in der Vergangenheit reichen. Die Herstellung gesellschaftlicher Normalität nach unheilvollen Eingriffen in die soziale Ordnung erfordert Solidarisierungsmaßnahmen seitens Unbeteiligter mit den Betroffenen, die sich nicht in direkter Kontaktaufnahme ausdrücken (müssen), sondern sich auch in symbolischen kollektiven Akten äußern können. Der Ausdruck der Anteilnahme und Zugehörigkeit durch kommunikative Überwindungsversuche des emotionalen Ausnahmezustands mittels der Elaboration von Erinnerungen an die Katastrophe wirkt sozial stabilisierend,132 weil selbst unter sich wildfremden Menschen Einheit gestriftet wird. Medienereignisse setzen Partikularisierungstendenzen in den Gesellschaften (und speziell bei der Fernsehnutzung) vorübergehend außer Kraft und vereinen große Menschenmengen vor den Bildschirmen. Das Fernsehen liefert dadurch das Material für den Rückbezug auf das gemeinsam (wenn auch nicht vor Ort) Erlebte und macht dadurch aufrichtige Solidarisierung erst möglich. Das Konzept der „imagined community" zeigt sich hier besonders deutlich an der Erschaffung eines Kollektivbewusstseins qua Fernsehübertragung: „Gleichzeitig reagiert das Publikum auf das Medienangebot anlässlich mediatisierter Krisenereignisse in Form einer rituellen Teilnahme, infolge derer ein emotionales Wir-Gefühl aufkommen kann, das nachhaltig zur Integration des Publikums über soziale Unterschiede hinweg und zur Prägung nationaler bzw. kultureller Identität beiträgt" (Weichert 2003: 97). Nicht erst die Bereitstellung eines audiovisuellen Fundus, auf den sich die Menschen besinnen und ihre Erinnerungen fußen können, machen das Fernsehen zum mächtigen Solidarisierungsagenten, sondern vor allem die Ausstellung konzentrierten menschlichen Leids, das Mitgefühl auslöst und den Rezipienten zum Handeln motiviert. Harald Wenzel und Tobias Scholz kommen in ihrer Fallstudie über die mediale Begleitung der asiatische Tsunami-Katastrophe vom Dezember 2004 zu dem Schluss: „Massenmedien berichten nicht einfach von einer Katastrophe oder einem Schreckensereignis, sie übernehmen eine koordinierende Rolle in der sozialen Reintegration" (Wenzel/Scholz 2006: 132 Die Erinnerungsarbeit setzt in der Regel sofort nach der Ersterfahrung des Ereignisses ein und kann sich beispielsweise durch Gespräche ausdrücken, in denen sich darüber ausgetauscht wird, wie man das Ereignis jeweils wahrgenommen hat und welche Schlüsse daraus gezogen werden.

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249). Sie bescheinigen dem Fernsehen in dieser Rolle eine Managementfunktion, welche bei der Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit der Betroffenen zum Tragen kommt. Dies wird erreicht durch die deeskalierende Aufbereitung des Krisenereignisses, die auf eine Wiedergewinnung der Kontrolle durch Schabionisierung der schockierenden Nachrichten in journalistische und programmliche Narrationsmuster abzielt (vgl. auch Kitzinger 2000). Diese Ritualisierung zwecks Bewältigung setzt aber erst nach einer von der Aufmerksamkeitslogik her durchaus verständlichen Befürwortung einer Schockwirkung bzw. Sensationalisierung des Ereignisses ein, die zwar als Untermalung der rituellen Verarbeitung des Ereignisfortgangs erhalten bleibt, ihrer lähmende Wirkung indes enthoben wird: „Es sind die vielfältigen Inszenierungs- und Dramatisierungsstrategien des Fernsehens, die das Krisenereignis zunächst als etwas Wirklichkeitsbedrohendes darstellen, aber kurze Zeit später signalisieren, dass die Situation unter Kontrolle sei. Dieser rituelle Prozess von einer professionellen Ausnahmesituation zur Routine suggeriert die Wiederherstellung von lebensweltlicher Kontinuität, Ordnung und Normalität und hilft dem Publikum dabei, das Krisenereignis einzuordnen, es zu verstehen und letztlich auch zu bewältigen" (Weichert 2006: 276). Die sozialstabilisierende Funktion von Medienereignissen zeigt sich darüber hinaus auch an einer Vielzahl anderer mediatisierter Rituale, die auf gesamtgesellschaftlicher Ebene auf ganz unterschiedliche Art integrierend wirken können. Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Simon Cottle definiert diese Ereignissen wie folgt: „Mediatized rituals are those exceptional and performative media phenomena that serve to sustain and/or mobilize collective sentiments and solidarities on the basis of symbolization and a subjunctive orientation to what should or ought to be" (Cottle 2006: 415). Die Integrationsfunktion hat bei der Ritualisierung von Medienereignissen also oberste Priorität. Cottle unterscheidet dabei auf Basis der Forschungslage und vorherrschenden Terminologien sechs verschiedene Typologien von Ritualen, die (unter anderem) vom Fernsehen aufgegriffen werden: Zelebrierende Medienereignisse, konfliktgeladene Medienereignisse, Mediendisaster, moralische Panikzustände, Medienskandale und mediatisierte öffentliche Krisen (ebd.: 426). Obgleich alle Ritualformen in ihrer spezifischen thematischen Ausrichtung Ereignischarakter aufweisen können bzw. diesen von den Medien zugewiesen bekommen, ist der Event-Fokus nur genuiner Bestandteil der drei erstgenannten Typologien. Auffällig ist, dass die überwiegende Mehrheit, nämlich fünf der sechs genannten Formen, von Konfliktsituationen geprägt sind und allein Medienereignisse nach der Konzeption von Dayan und Katz der konsensualen Leitkategorie folgen und zudem nicht einmal von angenehmen Gefühlen begleitet werden müssen, wie die Beispiele von Beerdigungen oder Kriegen belegen.133 133 Welche Intentionen, Inhalte und Wirkungen mit einem bestimmten Medienereignis verbunden sind, können nur empirische Untersuchungen beantworten. Die theoretische Modellierungen zur Eingrenzung spezifischer Ritual- und Ereignistypologien dienen allein der Optimierung bei der Umsetzung dieser notwendigen empirischen Ansätze (vgl. Cottle 2006: 416).

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Verwunderlich ist, dass positive Affekt- und Emotionszustände bei der Untersuchung der Gedächtnisrelevanz von Medienereignissen weitestgehend vernachlässigt wurden. So beschäftigten sich alle maßgeblichen Studien zum Theorem der Blitzlichterinnerungen mit Ereignissen, die mit negativen Gefühlen konnotiert waren und für die betroffenen Individuen oftmals traumatische Auswirkungen hatten. Keine der Studien setzte sich ausführlich mit der Entstehung von Blitzlichterinnerungen durch frohe Botschaften bzw. euphorische Situationen wie beispielsweise den Gewinn einer Fußball-Weltmeisterschaft durch eine Nationalmannschaft oder die Befreiung einer Geisel auseinander.134 Inmitten der Flut an Forschungsanstrengungen über öffentliche Traumata nimmt sich die Studie von Scott und Ponsoda aus (Scott/Ponsoda 1996). Die Autoren stellten dieselbe Frage und verglichen in ihrem Experiment Blitzlichterinnerungen an negative und positive Ereignisse. Ihr Ergebnis, es gebe keine signifikanten Unterschiede, belegt, dass sich auch positive Erlebnisse sinnvoll und ergiebig auf ihre Rolle als Auslöser von Blitzlichterinnerungen analysieren lassen. Die Fernsehgeschichte ist gespickt mit Medienereignissen positiver Konnotation, wobei sportliche Erfolge nicht die einzigen Beispiele sind. Die Anerkennung humanistischen Engagements durch die Verleihung des Friedensnobelpreises für eine Identifikationsfigur einer bestimmten Gruppe von Menschen oder die Nachricht über eine bewegende Heldentat eines Menschen sind Ereignisse, die Millionen Menschen stets aufs Neue anrühren. Doch auch hier stechen einzelne Medienereignisse besonders hervor wie die erste Mondlandung: Wer keinen Fernseher hatte, mietete sich ein Gerät und besuchte Nachbarn oder Freunde, um Neil Armstrong bei seinem ersten Schritt auf den extraterrestrischen Erdtrabanten beobachten zu können (vgl. Hilliard/Keith 2005: 197). Auch diesbezüglich werden sich Zuschauer wahrscheinlich genau an die Rezeptionsumstände erinnern, wie sie voller Staunen die Szenerie verfolgten, als sich die amerikanische Flagge in den Mondstaub bohrte.135 Dies lenkt den Blick auf einen Typus von Medienereignis, der weitaus häufiger und facettenreicher auftritt als kulturell mit Bedeutung aufgeladene Zelebrationen nach Dayan und Katz oder überraschende Krisenereignisse nach der Weichert'schen Auffassung. Die antipodischen Konzeptionen von Medienereignissen als zeremoniell- bzw. krisenzentrische Ausnahmeerscheinungen machen bereits deutlich, dass unterschiedliche Programminhalte zum Ereignis werden können, so lange der Rezipient es als solches erkennt, und eine Eingrenzung auf positive Emotionen kein zwingendes Kriterium sein

134 Dies wird auch von den Ergebnissen einer Studie von Berntsen (2001) unterstrichen, die ergab, dass Erinnerungen an extrem fröhliche Ereignisse genauso zu unerwarteten Flashbacks führen können wie an traumatische. 135 Die Macht der Bilder verdrängte hier bald ein anderes Ereignis aus dem Gedächtnis: Die geglückte Positionierung des ersten Satelliten in der Erdumlaufbahn durch die Russen im lahre 1957 war ebenfalls ein großes Medienereignis im Wettrennen zwischen den Supermächten Sowjetunion und USA um die Eroberung des Weltraums. Damals waren jedoch keine Bilder zu sehen, sondern nur die Funksignale von Sputnik zu hören.

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sollte. Medienereignisse sind zwar in ihrer Ausprägung durch organisations- und distributionsseitige Merkmale bestimmt (wie zum Beispiel durch Sondersendungen), doch letztlich ausschlaggebend ist die Sinnkonstruktion der Rezipienten, die eine fiktionale Sendung ebenso zu einem Ereignis stilisieren können wie eine faktische Katastrophe. Cottle macht noch einmal ausdrücklich auf diese Grundbedingung für die Entfaltung der integrativen Wirkung von Medienereignissen am Beispiel des Rituals aufmerksam: „The paradox of ritual, then, is that it only 'works' when we want it to, when we volunteer something of ourselves, our collective identities, sentiments and aspirations within it. This is not to say that media performance is thereby rendered irrelevant or impotent, since it is often only through this media performance that mediatized ritual can come into being and discharge its affects and effects. But we can say that ritual only comes alive experientially, emotionally, subjunctively, when actively read by audiences/readerships who are prepared to 'participate' within it as symbolically meaningful to them, and who are prepared to accept the imagined solidarities on offer" (Cottle 2006:428-429). Es besteht also dringender Nachholbedarf, sich mit jedweder Art von Ereignisproklamation (durch die Medien, Organisatoren, Zuschauer) sowie mit deren Inszenierung und nicht zuletzt mit ihrem Einfluss auf die Erinnerungen der Rezipienten auseinanderzusetzen. Hepp betont in dieser Hinsicht die Sättigung des medialen Diskurses mit populären Medienereignissen. Dabei handelt es sich um kommerzialisierte Veranstaltungen, deren Spaß- und Unterhaltungsfaktor den der Ernsthaftigkeit weit überschreitet und die meist nur bestimmte Gesellschaftsteile, dabei indes grenzüberschreitend adressieren: Konzerte zum Beispiel, die Prêt-a-porter-Schauen in Paris oder natürlich auch das internationale Phänomen Big Brother (vgl. Hepp 2004: 331).136 Ihre Ereignishaftigkeit wird geprägt durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den Organisatoren und den Medien, wobei Letztere im Regelfall die Inszenierung und teils auch die temporale Struktur der Veranstaltung diktieren. Mit Ronald Hitzler soll hier davon ausgegangen werden, dass solche Events „im Zusammenwirken mannigfaltiger Akteure und Akteursgruppen hergestellt [werden], deren Aktivitäten letztlich nur dann einen Sinn ergeben, wenn man sie als durch einen .Ereigniskern' fokussiert begreift, der generell am Prinzip ,Ein bisschen Spaß muss sein!' orientiert ist" (Hitzler 2000:403). Nur wenn alle Beteiligten, Produzenten wie Rezipienten, das Ereignis als solches begreifen und annehmen, kann es seine integrative Kraft entfalten (vgl. ebd.: 404). Welche Integrationskraft populäre Medienereignisse in sich tragen, konnte bereits an der Vergemeinschaftungsfunktion von Public Viewing-Events zu Sportveranstaltungen wie der Fußball-Weltmeisterschaften der Herren in den Jahren 2006 und 2010 sowie in 136 Hier zeigt sich, dass es zwischen den verschiedenen Medienereignistypologien Überschneidungen gibt: Auch bei Zeremonien wie der Hochzeit eines prominenten Paares kann die Ernsthaftigkeit des Ereignisses in den Hintergrund rücken, wie an der Trauung der Fernsehmoderator Gülcan Karahanci und des Bäckereiunternehmers Sebastian Kamps zu verfolgen war, die einer Fernsehparty glich und eine ehrwürdige Feierlichkeit vermissen ließ (vgl. Wieschowski 2007).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

nicht minderer Intensität bei der Fußball-Europameisterschaft 2008 beobachtet werden: Zehntausende Menschen versammelten sich vielerorts vor einer der unzähligen Großleinwände, um zusammen die im Wettbewerb als nationales Symbol fungierende Mannschaft, aber vor allem sich selbst zu feiern. Translokales Integrationspotenzial entfalten gemeinhin auch große Konzertereignisse, die, häufig auch koproduziert von Fernsehveranstaltern, weltweit bestimmte Zielgruppen ansprechen und grenzüberschreitend Menschen verbinden. 137 Andere Beispiele für populäre und zudem globale Medienereignisse sind die jährliche Verleihung des Filmpreises Oscar im Kodak Theater in Los Angeles (vgl. Real 1985), das vor allem auch bei Nordamerikanern (und ihren Fernsehsendern) beliebte Oktoberfest in München sowie die Kunstinstallationen des Ehepaares Jean-Claude und Christo. 138 Die Akzeptanz solcher kommerzialisierten (wenn auch teils wohltätigen) Ereignisse unterscheiden sich durch ihren medialen Fokus wesentlich im Vergleich zu klassischen Medienereignissen (vgl. Hallenberger 1998: 80). Populäre Events werden von vornherein und umfassend von den Fernsehveranstaltern kontrolliert, sind daher einheitlicher in den Programmfluss eingebettet und führen zu einer allenfalls beabsichtigten Außerkraftsetzung bestehender Programm- und Erzählmuster, die als standardisierte Ausnahme zur Regel wird. Populäre Medienereignisse finden spätestens seit den 1990er Jahren in verlässlicher Regelmäßigkeit statt und besetzen alle thematischen und regionalen Ebenen: von der viel beachteten Präsentation des Apple-Handys iPhone bis zum rauschenden Vodafone-Firmenfest oder anderen Branchen-Events in Berlin-Mitte, von global bis lokal. Auch diese als Ereignis inszenierten Veranstaltungen zielen auf eine integrative Wirkung, zwar nicht zur Stärkung einer nationalen oder kulturellen Identität, aber zur Festigung eines Konsumentenstamms. Übergreifend lassen sich mit Kepplinger drei allgemeine übergeordente Formen von Medienereignissen differenzieren: Genuine Ereignisse, mediatisierte Ereignisse und inszenierte Ereignisse (Kepplinger 1992: 52). Die Bezeichnung der dritten Kategorie ist etwas irreführend, da eine Mediatisierung zugleich immer auch eine Inszenierung darstellt und Inszenierung nicht mit Erfindung gleichzusetzen ist. Doch möchte Kepplinger diese Form von Ereignis als media-born specter unterstreichen, das allein für den Zweck seiner medialen Inszenierung stattfindet. Ein treffendes Beispiel ist das künstliche Medienereig-

137 Die zeitlose Faszination, die solche Medienereignisse ausüben, zeigt sich beispielsweise an der epochal-stilbildenden und mentalitätshistorischen Wirkung des Woodstock-Rockkonzertes im Staate New York im Jahre 1969 und an dem globalen Zuspruch, den die zehn zeitgleich stattfindenden „Live 8"-Konzerte im Jahre 2005 zur Bekämpfung des Hungers in Afrika erfuhren und damit das erste bereits legendäre „Live Aid"-Konzert von 1985 bei weitem an (medialer) Aufmerksamkeit übertrafen (vgl. Compton/Comor 2007). 138 Der bulgarischstämmige Künstler Christo und seine französische Ehefrau Jean-Claude wurden mit der symbolischen Verhüllung von bekannten Gebäuden und Landschaftsteilen bekannt. Zu ihren spektakulären Aktionen, die weltweit von Medien aufgegriffen wurden, gehörte die Verhüllung des Berliner Reichtstages im Jahre 1995, die Aufstellung von über 3.000 sechs Meter hohen Schirmen in Kalifornien und Japan im Jahre 1990 sowie die Errichtung von über 7.500 Toren mit Stoffbahnen im New Yorker Central Park im Jahre 2005.

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

339

nis „Big Brother", das an keinerlei Vorereignisse anschloss, sondern quasi aus dem Nichts erschaffen wurde (vgl. Gouldry 2002: 287) und nicht mehr ist als „only a television game show" (Scanneil 2002: 280 - Hervorh. im Orig.) Unter genuinen Ereignissen versteht Kepplinger dagegen solche, die unabhängig von der Berichterstattung der Massenmedien ablaufen. Meist handelt es sich dabei um Naturkatastrophen oder Unfälle. Mediatisiert sind in seinem Sinne Ereignisse, die durch die Einwirkung der Massenmedien einen spezifischen mediengerechten Charakter erhalten. Hierunter fasst Kepplinger beispielsweise Parteitage, Produktvorstellungen, Olympiaden und Buchmessen. Was Kepplinger als inszenierte Ereignisse bezeichnet, fallt also als klar unterscheidbare Kategorie in das Feld der „Pseudo-Events", deren Begriff auf Daniel Boorstin zurückgeht. In seinem viel beachteten Buch „The Image: A Guide to Pseudo-Events in America" charakterisierte Boorstin diese selbstreferentielle Form von Medienereignissen wie folgt (Boorstin 1961: 11-12): - Sie finden nicht spontan statt, sondern werden von langer Hand geplant und speziell für die mediale Berichterstattung initiiert. - Sie dienen zum Zwecke ihrer medialen Thematisierung bzw. Reproduktion. Daher sind die Medien und vor allem das Fernsehen die primären Adressaten der Organisatoren. - Die Unsicherheit des Rezipienten, ob es sich bei dem Pseudo-Ereignis tatsächlich um ein Abbild der Realität handelt, ist beabsichtigt, um Neugier zu schüren und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. - Es handelt sich bei „Pseudo-Events" darüber hinaus um selbst erfüllende Prophezeiungen, weil die mit ihnen verbundenen Intentionen von ihnen selbst herbeigeführt werden: „The hotel's thirtieth-anniversary celebration, by saying that the hotel is a distinguished institution, actually makes it one" (ebd.: 12). Der (schöne) Schein verdrängt bei „Pseudo-Events" also nach Boorstins Konzeption die harten Fakten; fehlenden Nachrichtenfaktoren werden vorgegaukelt, um Beachtung zu finden: „The question, ,1s it real?' is less important than, ,Is it newsworthy?'" (ebd.: 11). John Fiske schrieb über diese Ereignisform, es handele sich eindeutig um einen .„discourse event' [...], not a discourse about an event" (Fiske 1994:4 - Hervorh. im Orig.). Der Diskurs ist hier wichtiger als das Ereignis selbst. Es sind künstlich geschaffene Ereignisse mit stark selbstreferentieller Funktion. Dieser „Ereignis-Autismus" (Schulze 2000: 93) entleert den wissenswerten Gehalt des Geschehens durch notorische Eigenbezüglichkeit und audiovisuelle Überfrachtung. Schulze erkennt in dieser „Folklorisierung" von Ereignissen eine Homogenisierung (ebd.: 97) im Zeichen eines „Drei-Sphären-Paradigma" des Erlebens, der Gemeinsamkeit und des Glaubens an die Wirklichkeit des Rezipierten: „Hier begegnen sich die drei Sphären des Subjektiven, des Intersubjektiven und des Objektiven so wirkungsvoll wie nirgendwo sonst. Es ist die brisante Mischung von Gefühlsbewegung, Publikumsgemeinschaft und Weltbilddramaturgie" (ebd.: 82). Durch die Vielfalt solcher sich abwechselnder „Pseudo-Events" sind weder Überraschungseffekte noch tatsächliche Umwälzungen wahrscheinlich, da sich schnell eine Gewöhnung beim Rezipienten einstellt und die Intentionen der Organisatoren durchschaut werden. Integration geschieht unter diesen Voraussetzungen nur noch beliebig, gar lau-

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

nisch, da die Authentizität des Ereignisses in Frage gestellt wird. Ein angebliches Spektakel jagt das nächste. Dies hat auch Auswirkungen auf traditionelle Medienereignisse wie die Olympischen Spiele, die im Laufe der Jahrzehnte durch die totale Vermarktung und Mediatisierung ihren ursprünglichen Charakter mehr und mehr einbüßten und einen zunehmenden Pseudo-Charakter erhielten. Seit das Fernsehen seinen regelmäßigen Sendebetrieb aufgenommen hat, kann nur noch schwerlich eine klare Unterscheidung zwischen den aufgeführten Ereigniskategorien getroffen werden. Probleme bereitet vordringlich die Bestimmung des inszenatorischen Gehalts eines Medienereignisses, wodurch die daraus resultierende Unsicherheit in der Kernfrage kulminiert: Was ist echt, was nur mediales Hirngespinst? 6.2.5.3.

Fernsehen als

Symbolproduzent

„Modern history's another name for television", äußert sich der fiktive US-Präsident Josiah Bartlet in der US-amerikanischen Serie „The West Wing" (Episode 52: „The Women of Qumar") unverhohlen abfallig über den Einfluss des Fernsehens auf die Zeitgeschichte. Dass die erfolgreiche und von Kritikern gepriesene (fiktionale) Politik-Serie über das Innenleben des Weißen Hauses und die Regierungsarbeit eines zum Präsidenten gewählten Kandidaten der Demokratischen Partei, den der Zuschauer zwei Legislaturperioden lang begleiten konnte, dem Anspruch nacheiferte, politische Entscheidungsprozesse, Mechanismen und Probleme möglichst authentisch darzustellen und weitgehend auf Klischees und Symbole zu verzichten, macht nur noch nachdrücklicher darauf aufmerksam, wie sehr das Fernsehen nach dem Zweiten Weltkrieg Geschichte geschrieben hat: Denn selbst ein anspruchsvoll auf komplexe Dialoge setzendes, sich nicht vor Fachausdrücken scheuendes und Sensationalisierung ablehnendes Format wie „The West Wing" wurde zu einem Fernsehereignis - nicht in Bezug auf die Einschaltquoten, die zwar guter Durchschnitt waren, aber keine Rekorde markierten; auch nicht in Bezug auf die Langlebigkeit der Serie, die mit ihrer Absetzung nach sieben Staffeln bzw. Jahren weit hinter anderen Formaten zurückblieb. „The West Wing", gestartet während der Präsidentschaft Bill Clintons, ihren maßgeblichen Erfolg aber erst unter jener des Republikaners George W. Bush erreichend, wurde vielmehr angesichts der Missstimmung über die US-amerikanische Regierung zu einem allwöchentlich wiederkehrenden Symbol für einen Idealtypus von Präsidentschaft, das sich weltweit in den Gesichtszügen des Bartlet-Darstellers Martin Sheen materialisierte (vgl. Weintraub 2000; Parry-Giles/Parry-Giles 2002: 223; Philpott/ Mutimer 2005; Holbert u.a. 2005; Lawrence 2006; Parry-Giles/Parry-Giles 2006: 45).139 139 Auf die (Scherz-) Frage eines Programmmagazins, welcher fiktive Fernsehcharakter den besten Präsidenten abgeben würde, entschied sich die Mehrheit der britischen Leser zwar für die Trickfigur Homer Simpson, auf den zweiten Platz indes landete Josiah Bartlet alias Martin Sheen (Anonym 2004). Mit Recht kann der Kontext und die Durchführung dieser Umfrage in Frage gestelllt werden, schließlich wurden mehrere fiktive Figuren und Komiker auf die übrigen Rangplätze gewählt. Die Zweitplatzierung Bartlets als einzig .ernsthafte' Fernsehfigur im Ranking ist aber ein Hinweis auf die Symbolwirkung, die ihr von einem internationalen Publikum zugemessen wird.

III.6. Die Glaubwürdigkeit

des Fernsehens

341

Dass sich Fernsehbilder zu Symbolen verdichten (vgl. Kreimeier 1992: 59) geschieht nicht häufig und selten so instantan wie bei den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die Zwillingstürme des WTC, als sich die Rolle des Fernsehens zunächst darauf beschränkte, die Kameras statisch auf die Skyline des Finanzdistrikts im Süden Manhattans zu richten und in Ungewissheit verharrend all das zu übertragen, was da komme: als erstes die Kollision des zweiten Flugzeugs mit dem Gebäude, dann der kurz aufeinander folgende Einsturz beider Türme. Hier mussten die Nachrichtenredakteure nicht lange nach Schlüsselbildern suchen, sie mussten einfach nur abwarten. Durch die pure Visualität dieses Medienereignissen (denn tatsächliche Wortinhalte waren durch die ungeklärten Umstände der Katastrophe in den ersten Stunden nicht zu erwarten) erlebte der Zuschauer ad oculos, wie sich die Einschlags- und Einsturzbilder zu Symbolen für den globalen Terrorismus verdichteten. Der Literatur- und Medienwissenschaftler Reinhold Viehoff wählte dagegen das Beispiel der Zerstörung der Statue Saddam Husseins nach dem Sieg der alliierten Truppen unter Führung der USA gegen den Irak am 9. April 2003 in Bagdad aus, um zu zeigen, dass die alltägliche Berichterstattung des Fernsehen (und der übrigen Massenmedien) einem „historienfähigen Ereignisteppich" gleiche (Viehoff 2003: 101). Das Ziel sei es, Symbole zu erschaffen, Bilder, die sich in den visuellen Leitmedien der Gesellschaft(en) „festsetzen" (ebd.: 102). Die (gezielte oder unbeabsichtigte) Aufladung eines für das Medienereignis repräsentativen visuellen Ausschnittes mit symbolischer Aussagekraft - wie im Fall der Hussein-Statue durch die Zerstörung eines Machtsymbols - führt zu einer Simplifizierung der Erinnerung an das Ereignis, da seine ohnehin schon durch die mediale Vermittlung reduzierte Komplexität mittels der Ikonisierung vollends einem Sammelsymbol weicht. Diese televisuelle Ereignissymbolik kann sich durch die beständige Zirkulation der Bilder im medialen Diskurs derart mächtig ausgestalten, dass selbst die Erinnerung an den,realen Ereignisablauf von den Fernsehbildern überlagert wird: „Blessed, then, are television viewers for they (may) have inherited reality. We say this not in the sense that television is a substitute for everyday reality, but because these great events may have their primary effect, and certainly their place in the collective memory, not in the form in which they were originally staged but in the form in which they were broadcast. Most events are radically transformed by television, often becoming unrecognizable to people who attended them in person" (Dayan/ Katz 1992: 77). Medienereignisse etablieren nicht nur Symbole, sondern auch die dazugehörigen Interpretationsperspektiven, um Orientierung zu geben und emotionales Ungleichgewicht auszubalancieren (vgl. ebd.: 151). Schulze sieht darin nicht nur eine Chance, sondern auch eine Gefahr, schließlich entwickele das gemeinsam Erlebte nicht selten eine hypnotische Kraft (Schulze 2000: 85). Die zu Symbolen avancierten Schlüsselbilder: Jimi Hendrix mit seiner brennenden Gitarre auf dem kalifornischen Monterey Pop Festival in 1967, Neil Armstrong 1969 im Raumanzug auf dem Mond mit der US-Flagge in der Hand, der 19-jährige Mathias Rust 1987 nach seiner illegalen Landung mit einer Cessna

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

unweit des Roten Platzes in Moskau, der zum letzten Mal vor seinem Tod Ende März 2005 winkende Papst Johannes Paul II. am Fenster seiner Residenz im Vatikan, werden in den Fundus kultureller Symbole aufgenommen, auf den im Fernsehzeitalter nicht mehr allein von einer einzigen Gesellschaft für Erinnerungszwecke zugegriffen wird, sondern der vielmehr weltweit Menschen zur Verfügung steht.140 Der Media Event-Leitspruch des „History in the Making" (vgl. Dayan/Katz 1992) verdeutlicht zunächst zweierlei: Erstens ist für den Ereignischarakter das Gefühl der Beteiligten und Zeugen konstitutiv, einem Geschehen beizuwohnen, dem durch seine Exzeptionalität ein historischer Stellenwert zugeschrieben wird. Die Historisierung von Medienereignissen durch das Fernsehen und die Rezipienten setzt also nicht erst nach dem eigentlichen Geschehen ein, sondern ist ein Bestandteil des eigentlichen Ereignisverlaufs. „Die Idee der Moderne, dass ein Ereignis erst nach dem Ablauf einer gewissen Zeit .Geschichte' wird, dass die Zeit des Ereignisses und die seiner Repräsentation voneinander zu unterscheiden sind, wurde durch die Technologie des Fernsehens tendenziell in Frage gestellt. Das Fernsehen ermöglicht zumindest die Vorstellung, einfach hinauszugehen und gewissermaßen unmittelbar ,in der Geschichte' zu sein, Teil des .historischen Augenblicks' zu werden" (Bernold 2001: 12). Zweitens ist der konstruktive Charakter des Geschichte-Machens Ausdruck dafür, dass Medienereignisse nicht schlagartig eintreten müssen, um Relevanz zu erhalten, sondern aus langen Zeitläuften bestehen und erst nachträglich durch das „Von-Sich-Reden-Machen" (vgl. Rathmann 2003: 14) zu einem .Ereignisbündel' zusammengefasst werden können. Das Fernsehen bewerkstelligt die Orientierung im Ereignisverlauf und begleitet die voranschreitende Entwicklung der Geschehnisse mit der Ikonisierung bestimmter Ereignisausschnitte, die sich nach und nach in einem additiven Prozess zu einem Ereignis formen (vgl. Hepp 2004: 329), das retrospektiv anhand derjenigen Symbole erinnert wird, die sich nach und nach im medialen Diskurs herauskristallisiert haben. Welch profunde Wirkung das Fernsehen bzw. die Massenmedien dabei in Bezug auf ein Ereignis haben, lässt sich oft kaum eindeutig bestimmen: „It is a difficult thing deciding the start and end of a media event. It is even more difficult still distinguishing the features of events that are purely media effect from

140 Die daraus erwachsene Macht audiovisueller Symbole haben auch Terroristen erkannt und versuchen sie für ihre Zwecke einzusetzen, indem sie ihre Attacken im Hinblick auf ihre Medienwirksamkeit planen oder gleich selbst Videos von sich bzw. von Hinrichtungen ihrer Opfer erstellen, um sich als Helden im kollektiven Gedächtnis ihrer Gesinnungsgenossen und als Phanal in jenem ihrer Feinde zu verewigen. Solch audiovisuell festgehaltene Gewalt wird als symbolische Fertigware über das Internet in den Umlauf gebracht, in der Hoffnung auf eine breite Rezipientenschar sowie eine mögliche Multiplikatorwirkung durch die Übernahme des Videomaterials durch Fernsehsender im arabischen oder auch westeuropäischen und nordamerikanischen Raum (vgl. auch Münkler 2008). So konkurrieren die selbstreferentiellen Terrorsymbole mit jenen Ereignissymbolen, die sich in der professionellen Berichterstattung der Fernsehveranstalter herausbilden.

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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those that might come to have more lasting significance in quite other forms of discourse - in history, in diplomacy, in political struggles, in popular memory" (Wark 1994: 7) Wie im Folgenden anhand der Beispiele des Berliner Mauerfalls, der internationalen Protestbewegung des Jahres 1968, der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und des Mordprozesses gegen O.J. Simpson überblicksartig gezeigt werden soll, haben solche televisuell additiv konstruierten Symboliken das Potenzial, das jeweilige Ereignis nicht erst im Nachhinein zu repräsentieren, sondern den Ablauf des Ereignisses selbst zu beeinflussen, indem sie mit nationaler und internationaler Tragweite ein Bewusstsein für das Ereignis und seine speziellen Problemkonstellationen generieren. Der trotz jeglicher ideologischer Dominanz stets für die Interpretation seitens des Rezipienten offene Text der Ereignisübertragung durch das Fernsehen begünstigt eine große Variationsbreite bei der Engagierung der Zuschauer: Wichtig ist, dass Medienereignisse überhaupt dazu animieren, sich mit herrschenden Ideologien und der übergeordneten gesellschaftlichen Problematiken auseinanderzusetzen (vgl. Sturken 1997: 24). Der Fall der Berliner Mauer als Symbol für die friedliche Revolution gegen die Staatsführung der DDR stand am Ende eines monate- bzw. sogar jahrelangen Entwicklungsprozesses, der sich seit Mitte der 1980er Jahre abzeichnete und sich in anwachsenden Flüchtlingsströmen aus der DDR über Polen, Tschechien und Ungarn in die Bundesrepublik artikulierte. Im Oktober 1989 erreichte der 50.000. DDR-Flüchtling über diesen Umweg sein Ziel: Schon hier formte sich eine Massensymbolik, welche sinnbildlich für die Abwirtschaftung des DDR-Staates und die Hoffnungen seiner Bürger auf Freiheit verwies. Die im Jubel hunderter Flüchtlinge im Garten der Prager Botschaft untergehende Verkündung des BRD-Außenministers Hans-Dietrich Genscher, ihre Ausreise in den Westen sei genehmigt, addierte eine emotionale Symbolik, die ebenso vom WestFernsehen an und auf weite Bevölkerungskreise übertragen wurde. Die Sprechchöre auf den Montagsdemonstrationen - „Die Mauer muss weg", „Wir sind ein Volk" bzw. später „Tor auf" und „Wir sind das Volk" - konkretisierte wiederum die Gemeinschaftssymbolik der Demokratiebewegung in der DDR. Schließlich kulminierten alle drei vom Fernsehen ausgiebig kommunizierten und dadurch aufgewerteten Symboliken in der Miene des SED-Sprechers und Politbüromitglieds Günter Schabowski, als er vor der internationalen Presse am 9. November 1989 die allgemeine Reisefreiheit für alle DDR-Bürger verlas, in einem Überraschungseffekt, der, wiederum von Fernsehkameras eingefangen und in die Haushalte und Kneipen beider deutscher Teilstaaten gesendet, in eben jener ereignishaften Überwältigungssymbolik mündete, die Ausdruck fand in kilometerlangen TrabbiKolonnen bei der Durchfahrt an den Grenzübergängen zur Bundesrepublik, dem begeistert von Westdeutschen bereiteten Empfang und den fahnenschwenkenden Berlinern auf der Mauer, die mit Hammer und Meißel klopfend deren Rückbau initiierten - ohne das Fernsehen wäre die Wende letztlich nicht so schnell und druckvoll eingetreten: In der Bundesrepublik, aber vor allem in der DDR machten sich die Fernsehzuschauer in großer Zahl auf, um mit eigenem Leib zu überprüfen, was sie soeben in der Nachrich-

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

tensendung vernommen hatten. Zehntausende waren auf den Straßen auf dem Weg zu den Grenzübergängen. Auch hier war das Fernsehen zur Stelle und beschleunigte die Entwicklungen (vgl. Ludes 1991: 212), was das reziproke Verhältnis zwischen Medium und Ereignis veranschaulicht: Einerseits animierte das Fernsehen durch seine Berichterstattung zum Handeln, andererseits dokumentierte es wiederum dieses Handeln durch direkte Übertragung und verstärkte damit wiederum die Handlungsbereitschaft: „In der Nacht, als die Trabis kamen, wie auch in den Tagen und Wochen danach war das Fernsehen überall; es griff in das Geschehen ein und griff ihm vor [...]. In der ersten bislang glücklich verlaufenen Revolution auf deutschem Boden hat dieses LiveMedium seine zeitgeschichtliche Feuertaufe bestanden. Wenn wir in zehn, zwanzig Jahren an diese Tage denken, werden wir an Fernsehbilder denken. [... ] Die Zukunft unserer Erinnerung wird das Fernsehen sein, uns unser an Filmbildern geschultes Gedächtnis ist schon heute im Begriff, umzulernen und ein Fernsehgedächtnis zu werden: Die von Aktualität aufgeladenen Niederschriften der Live-Kamera, diese baren Münzen der Wirklichkeit, werden noch dem Nachgeborenen suggerieren, dabeigewesen zu sein" (Kreimeier 1992: 62). Noch 28 Jahre zuvor war das Fernsehen nicht in der Lage gewesen, den Mauerbau am 13. August 1961 zu einem Medienereignis aufzuladen und damit Druck auf die Politik auszuüben: „John Kennedys eight-day public silence about the Berlin Wall would be inconceivable today. The drama conveyed by live television coverage would almost certainly make the public feel more part of events than was the case in 1961. Such participation - vicarious though it may be - is enough to generate political heat" (Seib 1997: 106).

Ende der 1980er Jahre hatte sich das Blatt vollständig gewandelt: Die Globalisierung des Fernsehnachrichtenmarktes und die Mobilisierungskraft der Live-Berichterstattung durch das Fernsehen ließ den Druck auf die politischen Entscheider immens anwachsen und ließ kaum Zeit für lange Überlegungen (ebd.: 115). Der internationalen Dimensionen der symbolischen Kraft der aus dem Herzen Europas in alle Welt strömenden revolutionären Bilder hat zum Beispiel Michael Geisler am Beispiel der USA untersucht: Vorrangig war es der Sender NBC mit seinem Anchor Tom Brokaw, der die Umwälzungen inmitten Berlins mit intensiver Berichterstattung und einer Vielzahl von Sondersendungen begleitete (Geisler 1992: 260-262). Die grenzüberschreitende symbolische Ausdruckskraft des Medienereignisses wurzelte freilich in der weltpolitischen Situation der Blockbildung zwischen Ost und West, dem latenten, wenn auch immer schwächeren Angstklima des Kalten Krieges und der Scharnierstellung des deutsch-deutschen Territoriums in diesem Konflikt. Die erwarteten Konsequenzen aus der Grenzöffnung hatten zweifellos epochale Qualität, wenn auch die Ereignissymbolik nicht überall identisch ausfiel, worauf die Behandlung des Themas im US-Fernsehen hindeutet. Geisler isolierte sieben Konstanten der US-amerikanischen Fernsehberichterstattung über den Fall der Mauer und der sich abzeichnenden Deutschen Einheit: Zwar überwog zunächst

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III.6. Die Glaubwürdigkeit des Femsehens

die genuine Freude und Empathie für die fröhlichen DDR-Bürger, was mit einem ansteigenden Interesse für deutsche Kultur und Geschichte einherging, und eine „naiv-ahistorische Genugtuung über den ,Sieg' der westlich-kapitalistischen Ideologie über die östlich-kommunistische Staats- und Wirtschaftsordnung" (ebd.: 258). Doch stellte sich auch ein gewisses, wenn auch unspezifisches Furchtmoment ein hinsichtlich eines wiedererstarkenden Gesamtdeutschlands, das durch die Nutzung seiner doppelstaatlichen Wirtschaftspotenziale und durch eine mögliche Wiederkehr militaristischer oder auch faschistischer Ideologien die Stabilität Europas und speziell die Zukunft der NATO gefährden könnte, was letztlich, so die unterschwellig wahrzunehmende Befürchtung, auf lange Sicht die Hegemonialstellung der USA unterminieren könnte (vgl. ebd.: 259). So wurde die Rezeption in den USA „ebenso gesteuert von den Traumata (Angst vor Relegation in die zweite Liga) und Metaphern der eigenen .national narrative' (Deutschland als das Absolut Böse), wie von der Praxis der unmittelbaren Reaktion auf die Ereignisse selbst" (ebd.: 274). Nichtsdestotrotz wurde mithilfe des Fernsehens dies- und jenseits des Atlantiks ein starkes nationales Integrationssymbol, aber darüber hinaus auch ein nicht minder ausdruckstarkes Symbol für den Zerfall des politischen Blockstaatensystems und der aufstrebenden Globalisierung geschaffen. Im Falle des zweiten Beispiels, das „Symboljahr 1968 als Epizentrum

einer

Umbruch-

periode" (Schmidtke 2003: 11 - Hervorh. LK), nahm das Fernsehen in Nordamerika und Deutschland eine weitaus ambivalentere Rolle als zentrale Vermittlungsinstanz zwischen den politischen Aktivisten der Studentenbewegung und der allgemeinen Bevölkerung ein. Die Protestbewegung, die in Deutschland unter anderem die Abschaffung des sprichwörtlichen „Muff von tausend Jahren" (nicht nur) in den Universitäten und die Durchsetzung einer linksgerichteten Politik propagierte, die .Vergangenheitsbewältigung' ihrer Elterngeneration kritisierte und in den USA in der Antikriegsbewegung gegen das militärische Engagement in Vietnam ihren wirkungsvollsten Ausdruck fand, stellte den Massenmedien ein reiches Angebot an symbolischen Akten und Motiven zur Verfügung, um damit Synergien zum Zwecke einer möglichst breiten Publizität herzustellen: „Das Fernsehen produzierte, den Gesetzen seiner aktionsaffinen Ästhetik folgend, Bilder von ,Ho-Ho-Ho Chi Minh' skandierenden Studenten, von Wasserwerfern und Steinewerfern, prügelnden Polizisten und verletzten Demonstranten" (Schwirkmann 2008: 51). Als ,Initialzündung' für den breiten studentischen Protest in Deutschland galt der Tod des 26-jährigen Studenten Benno Ohnesorg: Dokumentarfilmer Roman Brodmann filmte gerade im Auftrag der „Zeichen der Zeit"-Redaktion des Süddeutschen Rundfunks, als Ohnesorg am 2. Juni 1967 von einer tödlichen Kugel aus einer Polizeipistole in den Hinterkopf getroffen wurde.141 Als Vertreter der Stuttgarter Schule des Dokumentarfilms

141 Im Mai 2009 stellte sich durch einen Zufallsfund im Archiv der Birthler-Behörde zur Aufarbeitung der Aktenüberlieferungen des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit heraus, dass der für den Tod Ohnesorgs verantwortliche Polizist Karl-Heinz Kurras zum Zeitpunkt der Tat Mitglied der SED und Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen war, was eine rege Debatte über die tatsächlichen Hintergründe auslöste und Fragen aufwarf, wie sich der Studentenprotest in der Folge entwickelt

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

wollte Brodmann in seinem Film „Polizeistaatsbesuch - Beobachtungen unter deutschen Gastgebern" zeigen, wie der Besuch des Schahs von Persien von den Organisatoren zum Ereignis stilisiert wurde (vgl. Hickethier 1998: 272), wodurch seine Aufzeichnungen den Anmut einer „living camera" bekamen (Zimmermann 1994: 246). Das Fernsehen mag hier noch eine nur marginale Rolle bei der Formierung und Eskalation des Protests gespielt haben, doch wurde es ab dem Schlüsseljahr 1968 zu einem wichtigen Verständigungsmittel zwischen den Studenten und weiten Teilen der übrigen Bevölkerung. Provokationen sorgten für die Aufmerksamkeit der Medien und wurde zum Erfolgsrezept der Wahrnehmungsstrategie der Studentenbewegung, deren Sprachführer Rudi Dutschke darin ein wirksames Mittel sah: „Mit Provokationen schaffen wir uns einen Raum, in den hinein wir unsere Ideen, unsere Wünsche, unsere Bedürfnisse legen können, ohne Provokationen werden wir gar nicht wahrgenommen" (zitiert nach Schwirkmann 2008: 51). In einem Fernsehinterview stellte sich Dutschke den Fragen von Günter Gaus, äußerte sich dabei aber auch kritisch über das Fernsehen, das seiner Ansicht nach der Öffentlichkeit wichtige Informationen vorenthalte (Gaus/Dutschke 1968). Dennoch war die Beziehung zwischen der Protestbewegung und dem Fernsehen gekennzeichnet von Affirmation und Verweigerung. Reporter bekamen nicht zu allen internen Versammlungen Zutritt, sondern mussten sich auf die tatsächlichen Aktionen konzentrieren: „Im Ergebnis ist daher das, was im öffentlichen Raum stattfand, viel umfassender im bewegten Bild festgehalten und überliefert als die diskursiven Prozesse im Inneren der Bewegung, die viele Mitglieder der Erlebnisgeneration für kennzeichnender halten als das Spektakel auf der Straße" (Schwirkmann 2008: 52). 142 Das Fernsehen personalisierte und prominenzierte in seiner Berichterstattung die Protestbewegung und orientierte sich an einigen wenigen Vertretern wie Rudi Dutschke oder Daniel Cohn-Bendit, was durchaus auch in deren Sinn war, schließlich orientierte sich die deutsche Studentenbewegung in Teilen am „radikalen Amerika", namentlich Gruppierungen wie den Weathermen, den Black Panther oder Ikonen wie Malcolm X (vgl. Baumann/Meyer 2007). In den USA wurde das Fernsehen von der Protestbewegung gezielt genutzt, um ihre Wunschvorstellungen zu realisieren143 und gingen dadurch das Risiko ein, einer Stereotypisierung unterworfen zu werden, die aus dem stets unter Zeitdruck ablaufenden Nachrichtengeschäft des Fernsehen resultierte (vgl. Gitlin 1980: 264-265). Der Versuch, die Medien und speziell das Fernsehen zu instrumentalisieren, sorgte indes erst für die Durchführung zahlreicher, kreativer Protestaktionen. Mit dem sich wandelnden poli-

hätte, wäre die mutmaßliche Involvierung der DDR-Staatsführung bekannt geworden (vgl. Küpper 2009). 142 Dabei kam es auch zur Zusammenarbeit zwischen Studenten und Fernsehteams wie beim sogenannten „Pudding-Attentat" auf den US-Vizepräsidenten Hubert Humprhey, dessen Probe einige Studenten später noch einmal inszenierungswillig für die Fernsehkameras nachstellten (vgl. Schwirkmann 2008: 51). 143 Zum Beispiel wurde unter anderem illegal die amerikanische Flagge vor dem Pentagon eingeholt, Sitzstreiks oder sogenannte „Love Ins" (öffentlicher Sex) veranstaltet (vgl. Schmidtke 2003: 106).

III. 6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

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tischen Klima schlug sich das Fernsehen auf die Seite der Protestbewegung, stellte die moderaten Wortführer der Studentenbewegung nicht mehr als radikale Minderheit dar, sondern als respektable Opposition, die als Alternative zum gewaltbereiten Rest der Antikriegsbewegung bewertet wurde (vgl. ebd.: 209-210). Auch in Deutschland wurden die studentischen Aktivisten vom Fernsehen nicht mehr vornehmlich als radikal wahrgenommen, sondern in ihrer Funktion als Außerparlamentarische Opposition. Mit der langsam wachsenden Akzeptanz der Protestbewegung entfaltete das Fernsehen auch in Reihen der allgemeinen Bevölkerung eine faszinierende Wirkung für die Angelegenheiten der Studenten und „synchronisierte erheblich die Wahrnehmung der allgemeinen Aufbruchsstimmung" (Schmidtke 2003:13), die letztlich in der symbolischen Jahreszahl 1968 bzw. in der kollektiven Bezeichnung der Generation der Achtundsechziger mündete und zu runden Jahrestagen den Massenmedien Anlass dafür bietet, den Blick oftmals klischeehaft und verklärend auf den gesellschaftlichen Wandel jener Zeit zu wenden, der unter anderem in den Fernsehbildern revolutionärer Proteste oft nur einseitige Berücksichtigung findet (vgl. auch Kapitel III.9.2.L). Deutlich stärker und konkreter noch als im Falle der weltpolitisch ausgerichteten Studentenproteste wurde die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung zur gesellschaftlichen Gleichstellung der afroamerikanischen Bevölkerung durch das Fernsehen begleitet, befördert und symbolisch verdichtet: „American television coverage of the Civil Rights Movement ultimately contributed to a redefinition of the country's political as well as its televisual landscape" (Everett 2004b: 520). Wie Anna Everett argumentiert, wurde der sich zögerlich entwickelnde gewaltlose Protest afroamerikanischer Aktivisten, unterstützt von einer wachsenden Zahl von Bürgern, ab Mitte der 1950er Jahre von wegweisenden Innovationen in der Fernsehtechnik wie portablen Kameras und der elektronischen Berichterstattung begleitet, was der Bürgerrechtsbewegung direkt zu Gute kam. In dieser Zeit erzielte die Marksättigung mit Fernsehgeräten bereits Höchstwerte (vgl. Kapitel III.3.1.), die besten Voraussetzungen also für einen aufklärerischen Impetus, der von den Bürgerrechtlern schnell erkannt wurde (Everett 2004b: 522). Das Fernsehen erwies sich als das prädestinierte Medium, um die ungleiche Kräfteverteilung zwischen der afroamerikanischen Minderheit und der weißen Bevölkerung sowie gleichsam die gegensätzlichen Einstellungen zur Gewaltbereitschaft darzustellen. Der oftmals stumme, aber immer gewaltlose Protest löste teils brutale Aktionen von Befürwortern der Rassentrennung und ein unverhältnismäßiges Vorgehen der Staatsgewalt aus, welche über die für sich selbst sprechenden Fernsehbilder landesweit in die Wohnzimmer der Zuschauer übertragen wurden und die gesellschaftlichen Missstände offenbarten: „Most memorable, perhaps, of all these dramatic video images is the 1963 attack on young civil rights protesters by the Birmingham, Alabama, police and their dogs, and the fire departments decision to turn on fire hydrants to disperse the young black demonstrators, most of whom were children. Television cameras captured the waters force pushing young black protestors down flooding streets like rubbish during a street cleaning. In contrast to the typical televisual landscape of formulaic

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens game shows, ,vaudeo' (video variety programs), westerns, and situation comedies, this was unquestionably compelling and revolutionary television" (ebd.; vgl. auch Streitmatter 1997: 170-171).

Die Fernsehberichterstattung über die Bürgerrechtsbewegung wurde zur nationalen Sternstunde des Mediums als Aufklärungs- und Integrationsinstrument: Die Bevölkerung rückte ungeachtet ihrer Herkunft ob der unfassbaren Verletzungen der Menschenwürde und offenen Rechtsverstöße näher zusammen. „When those images became imbedded into the nations consciousness, public opinion suddenly galvanized in support of the Civil Rights Movement" (Streitmatter 1997:171). Martin Luther Kings historische Rede mit der memorablen Zeile „I Have A Dream" wurde zu einem televisuell zirkulierten Symbol, das zusammen mit einer ganzen Reihe symbolträchtiger und vom Fernsehen begleiteter Aktionen in den kulturellen Bewusstseinshaushalt der USA einging und den Weg bereitete für den Erfolg der Bewegung, der sich auch und vor allem auf die Unterstützung durch eine jähre- und jahrzehntelange unablässige Thematisierung des Protestanliegens in den .Headline News' stützte. Der O.J. Simpson-Prozess ist dagegen ein Beispiel für eine neue Qualität von Medienereignis, die sich in der Begleitung der Verhaftung des Footballstars und Schauspielers und der nachfolgenden Gerichtsverhandlung durch das Fernsehen zeigt. Zum ersten Mal drängte das Privatleben eines Prominenten in Echtzeit und mit nicht gekannter Brachialität unfreiwillig ins Licht der Öffentlichkeit. Das intime Schicksal des ehemaligen Footballspielers und Schauspielers wurde zum Vehikel der Sensationslust vieler Fernsehzuschauer und ging weit über voyeuristische Anwandlungen hinaus, indem das Medium einlud, das sich vor der eigenen Haustür (in Beverly Hills) abspielende Ereignis hautnah zu erleben und sich selbst zu einem Teil der Fernsehinszenierung zu machen: „There is [...] the case of a young woman standing in a crowd on an L.A. freeway overpass in the summer of 1994, waiting for O.J. Simpson to pass by in a white Ford Bronco, trailed by police who were trying to arrest him. A reporter from CNN asked her why she was there. She explained that she had been watching it all on television, and realized that O.J. would pass near her house and, she said, ,1 Just wanted to be a part of history.' In the logic of contemporary television culture she achieved her goal, because she was on television and was able to write history in her own voice, live, with her presence and participation in a major televised event" (White/Schwoch 2004: 1100). Die ausgedehnte und von Fernsehhelikoptern übertragene Verfolgungsjagd auf den Straßen rund um Los Angeles, mit der sich Simpson der Verhaftung entziehen wollte, war nur der Beginn einer Ereigniskaskade, die sich unter minutiöser Begleitung durch das Fernsehen bis hin zum überraschenden Freispruch vom Vorwurf des Doppelmordes an seiner Frau und ihrem Liebhaber ausdehnte und aufgrund des kontrovers bewerteten Urteils selbst dann nur langsam abflaute. Die Dauerbeobachtung des Falls und die eigenen Ermittlungen und Spekulationen der Nachrichtenredaktionen ließen Zweifel daran entstehen, dass die Unbeeinflussbarkeit der Jury tatsächlich noch gewährleistet werden

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

349

könne. So boten die Reaktionen auf das Nachrichtengeschehen um den O.J. SimpsonProzess gerade kein anschauliches Beispiel für eine integrative, sondern für eine desintegrative Funktion von Medienereignissen, indem das Fernsehen zum Schauplatz widerstreitender politischer Ideologien wurde, die gegenseitig die Lesarten des medialen Textes um die Gerichtsverhandlung zu dominieren beabsichtigten (vgl. Hunt 1999: 48). Durch den angeregten, teils hitzigen Diskurs in der Öffentlichkeit wurde das allgemeine Interesse an dem Sachverhalt noch erweitert und die Memorabilität des Ereignisses sukzessive gesteigert. ,,[P]olls following the acquittal of sports and TV star O.J. Simpson on charges of brutally murdering his former wife and a friend of hers, indicate that many blacks and whites were worlds apart in their reactions to the trial. The majority of whites could not believe that Simpson was let off after all the evidence that was presented against him. The majority of blacksfelt that the justice system itself was on trial as an oppressive and illegitimate extension of white and upper-class power in a racist society" (Bennett 2000: 207). Dass Fernsehbilder trotz ihrer inhärenten Flüchtigkeit Symbolcharakter erhalten und zu Kristallisationspunkten kollektiver oder gar kultureller Erinnerung werden, kann somit zusammenfassend auf sieben Determinanten der televisuellen Ereignisthematisierung zurückgeführt werden, welche sich als Eckpfeiler für die Einprägsamkeit des Medienereignisses darstellen lassen: Präsenz, Prägnanz, Personalisierung, Parallelität, Penetranz, Persistenz sowie Hypermedialität. Die Präsenz der televisuellen Ereigniswahrnehmung gibt dem Rezipienten ein (intensives) Gefühl des Dabeiseins. Die Suggestion von Telepräsenz ist eines der wertvollsten Inszenierungsmittel des Medienereignisses. Die Live-Übertragung lenkt den Blick auf das Geschehen, als wäre der Zuschauer vor Ort, und weist darüber hinaus eine „Besessenheit für die tausend Flüchtigkeiten des realen Lebens" auf, indem es jedes Detail eines „Augen-Blicks" für den Zuschauer wahrnehmbar macht (Kreimeier 1992: 63). Affektreaktionen wie Schock oder Freue und die Stimulation von Emotionen wie Trauer oder Euphorie beruhen größtenteils auf dieser Determinante. Die Prägnanz der Fernsehberichterstattung über ein Medienereignis im Allgemeinen und ihrer Visualität im Speziellen ermöglicht es einer breiten Zuschauerschaft jeglicher Bildungsschicht und jeden Sprachraums, die Darstellung effektiv zu perzipieren und schnell zu erfassen. Die Klarheit der Bildsprache motiviert den Rezipienten, die mediale Konstruktion zugespitzter Symbole zu verfolgen und diese mit der eigenen Priorisierung der unterschiedlichen Bildeindrücke in Bezug zu setzen. Medienereignisse gehen mit einer starken Personalisierung einher, da stets Menschen und ihr Handeln, ihr Leid, ihr Glück o.ä. im Mittelpunkt stehen. Die Fokussierung spezifischer Protagonisten oder repräsentativer Einzelschicksale versetzt den Rezipienten in die Lage, sich mit dem Geschehen zu identifizieren, mit den Beteiligten Anteil zu nehmen und je nachdem para-sozial mit ihnen zu interagieren. Die dadurch ermöglichten Anknüpfungspunkte können auch persönliches Engagement anstoßen, seien es zum Bei-

350

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

spiel die finanzielle oder tatkräftige Unterstützung vor Ort im Falle von Katastrophenopfern oder die Aufnahme von Fan-Aktivitäten durch eine besonders eindrucksvolle Konzerterfahrung. In Erinnerung bleibt das Ereignis also (auch) durch die herausstechende Erkennbarkeit ausgewählter Beteiligter,144 welche die faktische Kluft zwischen komplexen Ereignisabläufen und dem unbeteiligten Zuschauer überbrücken. Durch die Parallelität der Fernsehinszenierung auf mehreren (nationalen und internationalen) Sendern wird ein thematischer Gleichlauf initiiert, der dem Fernsehnutzer eine Ausblendung des Medienereignisses erschwert, wenn nicht unmöglich macht. Medienereignisse beschränken sich zudem meist nicht allein auf ein einziges Medium, sondern bestimmen die intermediale Themensetzung, die nicht selten von den vom Fernsehen vermittelten Bildern geleitet werden. Dies bindet die Aufmerksamkeit einer breiten Masse von Mediennutzern an das Ereignis und generiert einen gemeinsamen Bezugspunkt für kollektive Erinnerungen. Die Penetranz von Medienereignissen drückt sich in der Aufdringlichkeit ihrer Bilder und Thematik aus. Die durchdringende Kraft der medialen Ereignisvisualisierung ist pompös oder schockierend, in jedem Fall aber spektakulär und verdrängt jene anderen Themen aus dem Programm und dem Bewusstsein des Zuschauers, die mit weniger Eindrucksfülle behafteten Bildern aufwarten. Gepaart mit der Monopolisierung der Themen-Agenda durch die parallele Konzentration mehrerer Informationsanbieter auf ein und denselben Media Event wirkt sich die Penetranz ungemein symbolverhärtend aus. Demgegenüber zeigen die oftmals vergeblichen Bestrebungen von Veranstaltungsorganisatoren, ein populäres Medienereignis allein durch Penetranz zu ikonisieren, dass es in der Regel aller hier aufgeführten Determinanten bedarf, damit sich Fernsehbilder zu Symbolen verdichten. Eine wichtige Voraussetzung für die Dauerhaftigkeit der Symbolität von Fernsehbildern ist die Persistenz eines Medienereignisses und seiner Schlüsselbilder, die für eine vergleichsweise überdurchschnittlich lange Dauer die Medien-Agenda bestimmen und im öffentlichen Bewusstsein präsent sein müssen. Dies wird einerseits durch stete Wiederholung der betreffenden Schlüsselbilder gewährleistet, andererseits durch die Generierung neuer Nachrichten, die mittels der leicht wiederzuerkennenden Bilder kontextualisiert werden und dadurch ein kontinuierlicher Bezug auf die zentralen Szenen des Ereignisses geschaffen wird. So erhält die zirkulierende Fernsehsymbolik umso mehr mnestisches Gewicht, je länger das betreffende Ereignis zurückliegt, da die Erinnerungsfähigkeit mit der Zeit nachlässt (vgl. Kumar/Hug/Rusch 2006: 218-219).

144 Die Personalisierung durch das Fernsehen, die auch starkes Prominenzierungspotenzial birgt (vgl. Kapitel III.6.2.4.2.), beschränkt sich zwar keineswegs auf, zeigt sich aber besonders offensichtlich an der bevorzugten Erinnerbarkeit von öffentlichen Persönlichkeiten, sogenannten „elite persons" vornehmlich aus „elite nations", die durch ihre hervorgehobene Stellung in der Gesellschaft zu Medienpersönlichkeiten werden und in ihren Funktionen in Ereignisse involviert sind (vgl. TeerTomaselli 2006: 234).

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

351

Ein leicht in den Hintergrund rückendes Merkmal von Medienereignissen ist ihre Hypermedialität, welche die Produktionsmechanismen des Fernsehens offenlegt. Die Außergewöhnlichkeit des Ereignisses dient als Anlass, die besonderen Leistungen, aber auch Grenzen der medialen Vermittlung des Fernsehens transparent aufzuzeigen. Das Interesse des Veranstalters besteht darin, dem Rezipienten die spezifischen Vorteile seines Angebots nahe zu bringen. Üblicherweise erfolgt diese offensive Thematisierung bei der Kommentierung der (Live-) Bilder, um deren Glaubwürdigkeit zu untermauern. Diese Eigenschaft von Medienereignissen ist daher auch mit der gleichzeitig intentionierten Unmittelbarkeit des dokumentarischen Bildes vereinbar, wie Bolter und Grusin schreiben: „Where immediacy suggest a unified visual space, contemporary hypermediacy offers a heterogenous space, in which representation is conceived of not as a window on to the world, but rather as .windowed' itself - with windows that open to other representations or other media. The logic of hypermediacy multiplies the signs of mediation and in this way tries to reproduce the rich sensorium of human experience" (Bolter/Grusin 2000: 34). Die Authentizität der Fernsehübertragung wird durch Hypermedialität nicht unterminiert, sondern verstärkt. Der Rezipient erhält einen multi-dimensionalen Eindruck von dem jeweiligen Ereignis, den nur das Fernsehen in dieser Form bereitstellen kann. Die eingehende Problematisierung von Vernachlässigungen bestimmter Themen in der Berichterstattung ist die Sache des Fernsehens indes nicht. Können Medienereignisse dazu genutzt werden, um auf die Logiken des Produktionsprozesses einzugehen, gibt ihr Ausbleiben nur selten Anlass, die Gründe dafür zu erklären. Ludes identifiziert fünf zentrale Merkmale der kollektiven Vernachlässigung durch Fernsehnachrichtensendungen, die als grundsätzliche Probleme der televisuellen Fixierung auf die Ereignissymbolik gelesen werden können (vgl. Ludes 1999: 181-184): - Durch national geprägte Weltbilder werden bestimmte Regionen der Erde nur selten von der Berichterstattung erfasst bzw. es werden höhere Ereignismaßstäbe an dortige Geschehnisse angelegt, um berücksichtigt zu werden oder sogar zu einem Medienereignis werden zu können. Was weit weg und für die nationalen Belange irrelevant erscheint, erregt keine bzw. nur eine begrenzte Anteilnahme (vgl. auch Hanfeld 2000). - Die Relevanz von Themen richtet sich nach der Zugänglichkeit relevanter Themenbereiche. Informationen, vor allem auch Bildinformationen sind Grundanforderungen für die Thematisierung in der Fernsehberichterstattung. Liegen solche nicht oder nicht ausreichend vor, sinken die Veröffentlichungschancen sowie konsequenterweise das Ereignispotenzial im Fernsehen. - Vorrangig ist stets die Tagesaktualität, was langfristige Themen, die nicht täglich wichtige Neuigkeiten generieren, in den Hintergrund rückt und zu einer schlaglichtartigen Nachrichtenkompilation führen kann. Fernsehen werde dadurch zu einem „Desorientierungsmittel", da es sich nicht ausführlich genug zentralen Themen widmet.

352

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

- Zudem wird die fortschreitende Personalisierung der Komplexität sozialer Vernetzungen nicht gerecht und blendet diese Kontexte allzu sehr aus, so dass sich beim Zuschauer ein falscher Gesamteindruck einstellen kann. - Ereignisentwicklungen, die sich erst mit der Zeit abzeichnen und deren Zusammenhänge erst ihre jeweilige Relevanz begründet, sind besonders von anschaulichem Illustrationsmaterial abhängig, dessen Fehlen dazu führen kann, das sie nur unzureichend und oberflächlich behandelt werden. Es gibt etliche Beispiele, in denen (politische, humanitäre oder Natur-) Katastrophen nicht zu Medienereignissen wurden: Die Kriegsgräuel in Bosnien-Herzegowina, der Genozid in Ruanda, die Naturkatastrophe in Birma sind einige jüngere Fälle, in denen sich weder das Medien- noch das Zuschauerinteresse auf eine Weise ballte, dass es zu einer der Tragweite der Ereignisse entsprechenden Berücksichtigung kam. So ist die teils einseitige Fixierung der öffentlichen Wahrnehmung auf die Fernsehinszenierung als hochproblematisch zu bewerten, da durch eine rigide Vorauswahl dessen, was Ereignischarakter erhält und was nicht, ein erheblicher Einfluss nicht allein auf die informationelle Versorgung der Rezipienten, sondern auch auf die Erinnerungskultur(en) ausgeübt wird. 6.2.5.3. Medienereignisse

als beispiellose

Erinnerungsgeneratoren

In den vorhergehenden Kapiteln wurde zum Teil bereits ausführlich auf gedächtnisrelevante Spezifika von Medienereignissen eingegangen. Im Anschluss soll hier noch einmal zusammenfassend auf die Leistungen des Fernsehens als Erinnerungsgenerator im Ereignisfall eingegangen werden. Mit Einschränkungen lässt sich unter Rückgriff auf die Ausführungen von Dayan und Katz die Gedächtnisrelevanz von Medienereignissen wie folgt differenzieren (Dayan/Katz 1992: 211-213): - Medienereignisse sind elektronische Monumente, welche die kollektive Erinnerung entweder durch ihre analeptische Funktion bei der Verarbeitung von sozialen Krisen oder durch die mit dem televisuellen Erleben verbundenen positiven Gefühle prägen. Wie jedoch am Beispiel der Blitzlichterinnerungen und Traumata dargelegt wurde, sind Medienereignisse, die mit negativen Emotionen einhergehen, oft ein stärkerer Auslöser von Erinnerungen auf individueller Ebene und haben dadurch auch in kollektiv-gesellschaftlicher Dimension tendenziell ein größeres Erinnerungspotenzial als positiv wahrgenommene Ereignisse. - Medienereignisse schaffen kollektive Bezugspunkte für die Erinnerung einer Vielzahl von Zuschauern, kreieren Sinn für eine gemeinsam geteilte Vergangenheit und verbinden dadurch individuelle mit kollektiver Erinnerung. Mit internationaler Perspektive muss angemerkt werden, dass die diskursive Autonomie der jeweiligen Kulturkreise erhalten bleibt, auch wenn die zirkulierenden Fernsehbilder aus einem bestimmten Land kommen. Die Interpretationshoheit liegt immer bei den ausstrahlenden Sendern und der jeweiligen Zuschauerschaft (vgl. auch Hepp 2004: 336).

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

353

- Medienereignisse markieren Zäsuren im Lauf der Geschichte und erhalten durch ihre disruptive Natur besondere mnemonische Funktion. Dabei sind Medienereignisse auch planbar und müssen keinen Überraschungseffekt in sich tragen. Ihre historische Bedeutung entfaltet sich einzig und allein durch die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen und ihren Einfluss auf die Lebens- und Weltbilder ihrer Zeit. - Medienereignisse bearbeiten und verändern kollektive Erinnerungen, indem sie auf frühere oder aktuelle Ereignisse Bezug nehmen und als diskursiver Angelpunkt bei der Perspektivierung von Geschichte fungieren. So erfolgt also auch die .Überschreibung' von individuellen Erinnerungen an ein Ereignis, das ohne Zuhilfenahme des Fernsehens erlebt wurde, mittels der zeitversetzten, nachhaltigen Konfrontation mit Fernsehbildern, die in der dominanten Deutungskraft ihrer audiovisuellen Evidenz die organischen Eindrücke vom Ort des Geschehens zurückdrängen können. - Da Medienereignisse auf populäre, rituelle und auch inszenatorisch-fiktionale Weise Art und Inhalt kollektiver Erinnerungen definieren, treten sie in Konkurrenz mit der Geschichtsschreibung und sind mitverantwortlich für die Diskrepanz zwischen der professionellen Aufarbeitung von Historie und dessen, was tatsächlich erinnert wird. Der erinnerungskulturelle Wert von Medienereignissen kann gerade in Bezug auf das Fernsehen nicht hoch genug eingeschätzt werden: Durch die personalisierte Hinwendung zum Geschehen und eines unter Einbindung beispielsweise von Augenzeugen oder Teilnehmern eines Ereignisses demokratischen Historisierungsprozesses modelliert das Fernsehen Geschichte als Konvolut von Einzelerinnerungen und stellt zugleich mächtige Symbole für die kollektive Bezugnahme bereit. Auf diese Weise kulminieren in Fernsehereignissen gleich mehrere Dimensionen gesellschaftlichen Erinnerns: - Als technologischer Agent gewährt das Fernsehen dem Menschen die gleichzeitige Teilhabe an ein und demselben (globalen) Medienereignis und macht die integrative Erinnerungsbildung erst möglich. Durch Medienereignisse wird die nationalistisch bzw. lokalistisch ausgerichtete Themensetzung überwunden und der Blick auf andere Kulturen und fremde Lebenswelten gelenkt. Die sozio-technische Dimension des Erinnerns wird so prototypisch in Fernsehbildern erfahrbar, da sie in einem regelmäßigen Zyklus zurück auf die Bildschirme kehren können, um das menschliche Gedächtnis herauszufordern, sich des historischen Moments zu entsinnen, dessen das Fernsehen gedenkt. Wie Marita Sturken anmerkt, ist die technisch ermöglichte Herstellung eines globalen Publikums die Voraussetzung dafür, dass sich Zuschauer unterschiedlicher Nationalitäten mit einer ausgewählten Kultur solidarisieren, sich mit ihr identifizieren und dadurch die Nationalgrenzen überwinden: „The experience of the television viewer is an essential component in generating the sense that a national culture, a .people,' exists, even as globalism imagines we have gone beyond the nation" (Sturken 2002: 186). So beeinflussen Medienereignisse die Erinnerungspraxis mit potenziell weltwei-

354

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

ter Reichweite und dienen als gemeinsamer Bezugspunkt für eine Vielzahl von Erinnerungskulturen. „Media events offer the best examples of the ability of television to encourage the formation of a global identity or global memory" (Bourdon 2003:21). Kollektive Identität(en) werden durch die Mediatisierung von Ereignissen in Feier-, aber auch Krisensituationen gestärkt. Als Beispiele können dienen: die „Tsunami"-Katastrophe von 2004, die durch Amateuraufnahmen für alle Welt schockierend nachfühlbar wurde und eine globale Welle der Anteilnahme und Spendenrekorde auslöste; oder die Olympischen Spiele, die trotz starker Kommerzialisierung als fairer Wettkampf der Nationen und ehrbares sportliches Messen begriffen werden. Hierbei solidarisieren sich Zuschauer untereinander, aber auch mit den Menschen, deren Freud oder Leid sie auf dem Fernsehschirm verfolgen. Im Fall von Terrorakten indes sind auffallige Disparatitäten in der Rezeption zu beobachten: Während nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in einigen arabischen Staaten teilweise euphorische Reaktionen zu registrieren waren, lösten die Fernsehbilder in anderen Teilen der Welt tiefe Trauer und Solidarisierungsbekundungen aus. Hier einte das Symbol des einstürzenden World Trade Centers die Gegner der USA, dort diejenigen Menschen, die Mitgefühl mit dem Leid der Opfer und Angehörigen nahmen. - Durch die symbolische Verdichtung von Fernsehbildern wird das Generationengedächtnis all derer gespeist, die das Medienereignis am Bildschirm miterlebt haben. So entsteht ein (weitgehend unspezifisches) Zusammengehörigkeitsgefühl, dabei gewesen sein, wenn auch nur mittels Fernsehübertragung. So wurden Ereignisse wie die Ermordung John F. Kennedys, die Mondlandung, der Vietnamkrieg, der Berliner Mauerfall oder auch der Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft im Finale der WM 1954 in der Schweiz, der als Wunder von Bern in die Annalen einging, zu prägenden Erinnerungsmarkern für die jeweiligen Zeitzeugen. - Durch das intensive Erleben von Medienereignissen können kollektiv-semantische Erinnerungen mit gelebter Qualität zu kollektiv-episodischen Erinnerungen im Sinne Hirsts und Maniers transformiert werden. Je nach emotionaler Teilhabe des Zuschauers an dem Geschehen und der daraus folgenden Bedeutungszuschreibung ist die Wahrscheinlichkeit besonders bei Medienereignissen hoch, von einer Vielzahl an Fernsehnutzern in die individuelle Lebensgeschichte als wichtiger Punkt in der persönlichen Entwicklung integriert zu werden. - Medienereignisse, in erster Linie feierliche Zeremonien, aber auch im Fall von Krisensituationen, können Pathosformeln kommunizieren, die durch das Fernsehen inszenatorisch, mitunter auch künstlerisch eingefangen werden und mit denen sich die Gesellschaft auf gemeinsam geteilte, identitätsstiftende Topoi verständigt. So ist bestimmtes Trauerverhalten ebenso als kulturell geformte Ausdrucksweise zu verstehen wie die nicht weniger energetisch aufgeladenen Abläufe einer königlichen Hochzeit.

355

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

Medienereignisse können auch für die Stärkung oder Schwächung politischer und wirtschaftlicher Machtkonstellationen eingesetzt werden. Als Ereignisse, denen besondere Aufmerksamkeit seitens der Gesellschaft zukommt, stellen sie ideale Instrumente dar, Herrschaft bzw. Dominanz zu legitimieren oder zu de-legitimieren. Machtinstanzen können durch ihre exklusive gesellschaftliche Stellung Zeremonien dazu nutzen, Publizitität zu erlangen und in Ansprachen bestimmte Deutungen vorzugeben und sich somit in einem öffentlichkeitswirksamen Umfeld der Vergangenheit zu bemächtigen, um die eigene Position in historisch-kultureller Herleitung zu stärken. Das Beispiel des Berliner Mauerfalls hat indes im Gegensatz dazu auch gezeigt, dass die „Ubiquität des Fernsehen [...] das Medium zu einem politischen Faktor [macht]: Es ist nicht nur einfach das Beobachten der laufenden Ereignisse, das interessenlose Zuschauen. Gerade dort, wo die realen Machtverhältnisse ins Rutschen gekommen sind, gewinnen die Bilder an Macht" (Hickethier 1990a: 143). Hier wurde der bereits geschwächte Zustand des DDR-Staatsapparats durch die Ereignisse weiter zugespitzt und führte schließlich - auch hier durch den wesentlichen Faktor des Vergangenheitsbezugs - zum Fall des politischen Systems. - Das Fernsehen nutzt zudem Medienereignisse, um Erinnerungsorte in seinem Sendebetrieb zu manifestieren. Der Kniefall Willy Brandts am Ehrenmal des Jüdischen Ghettos in Warschau, die „Das Volk sind wir"-Ausrufe während der Montagsdemonstrationen, die 68er-Bewegung und selbst die Fußball-Bundesliga: Die beliebig erweiterbare Liste von Erinnerungsorten (vgl. Kapitel II.8.3.) macht deutlich, dass das Fernsehen Ereignissen durch seine Repräsentationen, die gespeichert und jederzeit wieder abgespielt werden können, zu einer raumzeitlich unabhängigen Plastizität verhilft, die durch ihre symbolische Aufladung oftmals die einzigen .örtlichen Bezugspunkte für die Erinnerungsgenerierung sind, weil sich die physischen Orte längst gewandelt haben oder verschwunden sind. Die Rezeptionsmodalitäten führen darüber hinaus dazu, dass der Ort, wo die Fernsehbilder rezipiert wurden, für den Zuschauer zu dem Ort wird, an den auch die Erinnerungen gebunden sind - und eben nicht das Mahnmal, die Berliner Mauer, das Stadion oder Ground Zero im Finanzdistrikt Manhattans (vgl. auch Slade 2006: 210). Das schließt indes nicht aus, dass beim Zuschauer das Interesse geweckt wird, den real-physischen Ort des Ereignisses zu besuchen.

6.3.

Falsche Erinnerungen durch televisuelle

Suggestion

Dass Erinnerungen als Gegenwartskonstrukte stets subjektiv sind, wurde bereits dargelegt. Doch sind auch zahlreiche Fälle bekannt, in denen Erinnerungen an Erlebnisse beschrieben werden, die nachweislich nicht selbst erlebt wurden oder sich gar nicht erst zugetragen haben, aber von den betreffenden Personen ebenso erinnert werden wie tatsächliche Erlebnisse (u.a. Loftus/Feldman/Dashiell 1995: 65). Wie sind solche Einbil-

356

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

düngen möglich, und was verrät dies über die Anfälligkeit des Gedächtnisses für Verfälschungen durch Medieninhalte, vor allem durch die Suggestionskraft des Fernsehens? Zwischen wahrgenommener Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden, ist mit aufwendigen kognitiven Operationen verbunden, da in beiden Fällen dieselben neuronalen Strukturen zuständig sind (Ganis/Thompson/Kosslyn 2004:239). In einer grundlegenden Untersuchung dieses Phänomens zeigten Roediger und McDermott im Anschluss an Deese (1959) anhand von Wortlisten, die Begriffe aus einem Wortfeld enthielten, dass bis zu 55 Prozent der Versuchspersonen ein thematisch kongruentes Wort erinnerten, das nicht auf der Liste zu finden war (Roediger III/McDermott 1995). Ein weiteres, im Zusammenhang mit dem autobiographischen Gedächtnis oft zitiertes Experiment führten Elizabeth Loftus und ihre Kollegin Pickrell durch, um Hinweise für die Hintergründe von Fällen zu bekommen, in denen Personen starke Erinnerungsverzerrungen aufwiesen, indem sie beispielsweise einen bärtigen Mann erinnerten, obwohl er auf dem gezeigten Bild glatt rasiert war, oder zerbrochenes Glass, wo keines war (Loftus/Pickrell 1995:720). Probanden wurden nach Rücksprache mit ihren Familienangehörigen eine Reihe von Kindheitserlebnissen in Form einer Broschüre zur Lektüre vorgelegt mit der Bitte, sich an diese Ereignisse zu erinnern. Die Versuchspersonen wurden in dem Glauben belassen, alle dort aufgeführten Erlebnisse entsprächen der Wahrheit. Doch eine der Geschichten war mit Bezug auf ein tatsächliches, aber gewöhnliches Erlebnis von den Forschern frei erfunden worden: So hatten sich die Personen in jungen Jahren zwar hin und wieder mit ihren Eltern in Einkaufzentren aufgehalten, waren aber nie verloren gegangen. Die Geschichte besagte, dass die Personen im Alter von fünf oder sechs Jahren in einem Einkaufszentrum von ihren Eltern getrennt wurden, dies eine starke emotionale Trauersituation ausgelöst hat, doch sie schließlich von einer netten älteren Person angesprochen und wieder zu ihren Eltern gebracht wurden. Ein Viertel der Versuchspersonen war auch nach mehreren Befragungen nicht davon abzubringen, dieses Erlebnis als authentisch zu erinnern (Loftus/Palmer 1974). Lindsay und Kollegen nannten diesen Fall von Fremdeinwirken auf die individuelle Erinnerungskonstruktion die „familial-informant false-narrative procedure" (Lindsay u.a. 2004: 149). Die Forschungsgeschichte hat eine Vielzahl ähnlicher Fälle nachgewiesen, bei denen durch Sprache (u.a. Loftus/Palmer 1974), aber auch durch Bilder Erinnerungen an nicht erlebte Tatsachen hervorgerufen werden konnten (u.a. Arndt/Reder 2003; Lindsay/Hagen/Read/Wade/Garry 2004; vgl. auch Loftus 2003: 871).145 Kopelman unterscheidet mehrere Voraussetzungen für falsche Erinnerungen beim gesunden Menschen: Schwache Erinnerungsspuren, die zur Konfabulierung anregen, anormale Verarbeitung von Wahrnehmungen, hervorgerufen durch das persönliche Selbstverständnis, was zu Wahnvorstellungen bzw. Wahnerinnerungen führen kann, sozialer Zwang und Störungen des Zuordnungsfähigkeit von Erinnerungen, die gemeinhin mit geringem Selbstbewusstsein einhergehen und zu Falschaussagen führen, sowie anor-

145 Eine Forschungsübersicht findet sich bei Johnson/Raye 2000.

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

357

maier, voreingenommener oder selektiver Abruf von autobiographischen Erinnerungen, was bei der Ausbildung multipler Persönlichkeiten auftreten kann (Kopelman 1999:210). Loftus spricht gar von einem „Rezept", dass es der Forschung mittlerweile zumindest theoretisch ermögliche, Personen zu falschen Erinnerungen anzustiften: „First, the individual gets convinced that the false event is plausible. Even events that start out being rather implausible can be made to seem more plausible by simple suggestion. Next, the individual gets convinced that the false event was personally experienced. Plying the person with false feedback is a particularly effective way to accomplish this. At this point, the individual might merely believe that the event is true but have no sense of recollection. But with guided imagination, with visualization of the stories of others, and with suggestive feedback and other sorts of manipulations, a rich false memory can develop" (Loftus 2003: 871). Tulving konstatiert unter Bezug auf den Ekphorie-BegrifF (vgl. Kapitel II.2.) zwar, dass Erinnerungen niemals falsch oder richtig, sondern immer nur in der Gegenwart konstruiert und Ausdruck des aktuellen Selbstverständnisses seien (Tulving 1983: 182-183). Auch wenn sich die terminologische Einschränkung angesichts der zahlreichen Fälle von extremen Erinnerungsverzerrungen als Wortklauberei entpuppt, macht Tulvings Erklärung noch einmal deutlich, dass das Gedächtnis vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten ausgesetzt ist. Loftus weist auf eine Reihe unterschiedlicher Fehlinformationen hin, die eine Verzerrung von Erinnerungen verursachen können: Durch Kommunikation mit anderen Personen, durch suggestive Befragung, aber auch durch Medienrezeption kann der Glaube entstehen, selbst ein bestimmtes Erlebnis mit Haut und Haar erfahren zu haben. Dabei sind Erinnerungen umso leichter modifizierbar, je länger sie zurückliegen und verblassen (Loftus 1997: 71). Erklärt wird die Angreifbarkeit des autobiographischen Gedächtnisses mit einer Verwirrung des sogenannten Quellengedächtnisses. Lindsay macht im Anschluss an die Arbeit Johnsons darauf aufmerksam, dass ein funktionierendes Quellengedächtnis die Grundlage für unsere Fähigkeit ist, eingebildete und tatsächliche Erinnerungen zu unterscheiden (Lindsay 2002: 83). Die New Yorker Psychologieprofessorin Marcia Κ. Johnson hat mit ihren Kollegen das sogenannten „Source Monitoring Framework" vorgestellt, mit dessen Hilfe das „False Memory'-Problem erklärt werden kann (Johnson 2001: 5255). Die Grundlage des Modells ist die Annahme, dass mentale Vorstellungen durch kognitive Bewertungsprozesse Erinnerungen zugeschrieben werden. Demnach lassen sich Erinnerungszuschreibungen durch qualitative Kennzeichen der mentalen Vorstellungen und den Grad ihrer Einbettung identifizieren. Wichtig erscheint Johnson die flexible Handhabung der Kriterien, da Ziele, Auffassungen sowie motivationale und soziale Faktoren einen starken Einfluss auf die Erinnerungskonstruktion haben und unter bestimmten Umständen eine Einbildung mal als eben solche oder aber auch als realistische Erinnerung wahrgenommen werden kann. Die vielfältigen Manipulations- und Verzerrungsfälle von Erinnerung zeigen, wie anfällig das menschliche Gedächtnis hinsichtlich der Informationen ist, welche die Quelle der Erinnerung enthält. Als „Kryptomnesie" wird die Form von Erinnerungstäuschung

358

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

bezeichnet, durch die scheinbar spontane Einfälle als Produkte des eigenen Vorstellungsvermögens wahrgenommen werden, obwohl sie unbewusste Erinnerungen an eine frühere Erfahrung sind. Der Begriff geht auf C.G. Jung zurück, der das Phänomen als Vorgänge bezeichnet, bei denen „eine automatisch schaffende Kraft verlorene Gedächtnisspuren in größeren Fragmenten von photographischer Treue wiedererscheinen lässt" (Jung 1966: 114). Dies führe dazu, dass unbewusst Aussagen oder Werke anderer Personen plagiiert würden (vgl. ebd.: 109). 1 4 6 Seitdem gab es zahlreiche Untersuchungen, in denen nachgewiesen werden konnte, dass dies keine ungewöhnliche, sondern eine alltägliche Gedächtnisverzerrung ist (u.a. Brown/Murphy 1989; Baker 1992; Marsh/Bower 1993; Marsh/Landau 1995; vgl. auch Schacter 1999b). Schacter dagegen zeichnet den tragischen Fall einer Verwechslung nach, die unter dem expliziten Einfluss des Fernsehens entstand und den Gedächtniswissenschaftler Donald Thompson zum Tatverdächtigen in einem Gewaltverbrechen machte: Eine Frau hatte ein Live-Interview mit Thompson im Fernsehen verfolgt, kurz bevor sie überfallen und vergewaltigt wurde. In ihrer Erinnerung wurde Thompson zum Täter (Schacter 1999b: 189). Hierbei wurde ein tatsächliches Erlebnis einer falschen Quelle zugeordnet, trotzdem aber lebhaft erinnert. Im Falle der Erinnerung frei erfundener Erlebnisse liegt indes ein besonders schwerer Fall von Quellenamnesie vor. Als Beispiel erwähnt Schacter das des US-Präsidenten Ronald Reagan, der während des Wahlkampfes im Jahre 1980 wiederholt von einem persönlichen Kriegserlebnis sprach, bei dem ein Kamerad schwer verwundet wurde, als ihr Flugzeug, vom feindlichen Feuer getroffen, dem Absturz nahe war. Reagan erinnerte sich, dass der Pilot der Mannschaft befahl abzuspringen. Doch als sich herausstellte, dass der Verwundete nicht evakuiert werden konnte, soll der Pilot die heroischen Sätze gesagt haben: „Never mind. We'll ride it down together" (zitiert nach Schacter 1996: 287). Die Presse fand später heraus, dass es sich dabei um eine Szene aus dem Film „Mission im Pazifik" 147 aus dem Jahr 1944 handelte - mit beinah exaktem Wortlaut.

146 Jung fuhrt als Beispiel Nietzsches Erzählung „Also sprach Zarathustra" an, deren Passus über die Höllenfahrt Zarathustras ganz offensichtlich unter dem Einfluss einer Szene aus einer Erzählung von Justinus Kerner in der schwäbischen Reihe „Blätter aus Prevorst" stand. Nietzsche, so Jung, sei aber dadurch nicht zu unterstellen, er habe bei Kerner abgeschrieben. Es handele sich vielmehr um eine unbewusste Reproduktion von Gedächtnisinhalten (Jung 1966: 112). In der Literatur finden sich auch andere Beispiele wie jenes Albert Einsteins, dessen Relativitätstheorie Ähnlichkeiten zu der mathematisch komplexeren Version von Relativität des französischen Mathematikers, Physikers und Philosophen Henri Poincaré aufwies, Einstein in seinen Arbeiten aber nicht auf Poincares Berechnungen eingegangen war (Gruber 2007:1946; vgl. auch Pais 1982). 147 Im Original lautete der für einen Oscar nominierte Kriegsfüm „Wing and a Prayer" (Regie: Henry Hathaway, Produktion: Twentieth Century Fox). Ronald Reagan arbeitete vor seiner Präsidentschaft über dreißig Jahre als Filmschauspieler. 1953 stand er zudem mit Charles Bickford, der in „Wing and a Prayer" die Rolle des Captains Waddell spielte, für eine Episode der Fernsehserie „The Revlon Mirror Theater - Next Stop Bethlehem" gemeinsam vor der Kamera.

III.6. Die Glaubwürdigkeit

des

Fernsehens

359

Obgleich es sich bei dieser Rede mutmaßlich um keine spontane Elaboration handelte, sondern um ein Skript, dessen erzählende Darbietung Teil des Wahlkampfauftritts war, lässt die emotionale Erregung Reagans - er hatte bei der Erzählung Tränen in den Augen (ebd.) - Rückschlüsse darauf zu, welche außerordentlich wichtige Rolle auch Emotionen nicht nur bei der Rekonstruktion von autobiographischen Erinnerungen, sondern wie in diesem Fall auch bei der Einbildung falscher Erinnerungen einnehmen. Auch Johnson und Raye machten auf diese bewusstseinsimmanente Problematik aufmerksam: „Nevertheless, where veridicality is concerned, it is difficult to draw a sharp distinction between the concept of memory and belief. Memories are beliefs about what happened, and beliefs are constructed from, and reinforced by, memories" (Johnson/Raye 2000: 36). Schacter ermahnte daher, dass immer auch der Kontext, in dem Erinnerungen geäußert werden, geprüft werden müsse genauso wie das auslösende Erlebnis selbst (Schacter 1999: 175). Wie gezeigt wurde, stärkt jeder Abruf die jeweilige Erinnerung und verändert sie auch durch die betreffende Abrufsituation. Eine Folge kann die Verstärkung der Überzeugung sein, die Erinnerung sei wahrheitsgemäß. Diese Erinnerungskonsolidierung durch Wiederholung mag sich also beispielsweise in Form der Elaboration von Erinnerungen positiv auf die Verarbeitung von persönlichen Negativerlebnissen auswirken (vgl. Fischer/ Riedesser 2003:206), doch genauso kann sie auch falsche Konstruktionen stärken und zu einer dauerhaften Verzerrung von Gedächtnisinhalten führen. Besonders bei Erinnerungen an vermeintlich traumatische Erlebnisse wird dieser Mechanismus brisant. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit weit über die Grenzen der wissenschaftlichen Debatte hinaus erhielt das Phänomen der False Memories durch eine Reihe von Gerichtsprozessen in den USA im Laufe der 1990er Jahre, bei denen Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindergarten- und Schulkindern verhandelt wurden. Durch langwierige und suggestive Befragungen der angeblich betroffenen Kinder durch die Strafverfolgungsbehörden ergaben sich größtenteils obskure und widersprüchliche Aussagen, die unter anderem einen Kindergartenleiter in North Carolina ins Gefängnis brachte. In diesem Fall wurde der Angeklagte 1992 unter zweifelhafter Beweisführung zu einer zwölfmaligen lebenslangen Haftstrafe verurteilt, weil er nach Auffassung von Gericht und Staatsanwaltschaft zwölf Kinder 99 mal missbraucht haben soll (Thomson 1995). Die Psychologen Bruck und Ceci beschäftigten sich ausführlich mit dem Fall der Erzieherin Margaret Kelly Michaels, der angelastet wurde, Vorschulkinder zu sexuellen Praktiken gezwungen zu haben, unter anderem Marmelade und Erdnussbutter von ihren Genitalien abzulecken.148 In ihrem Resümee kommen die Forscher zu einer eindeutigen Schlussfolgerung: Je jünger ein Kind, desto anfälliger sei es für Suggestionen (Bruck/Ceci 1995: 309):

148 Bruck und Ceci dokumentieren in ihrem Beitrag Auszüge aus den Vernehmungsprotokollen im Wortlaut (Bruck/Ceci 1995: 277-278). Die Aufzeichnungen belegen die stark suggestiven Befragungsmethoden. An einigen Stellen scheinen die Kinder sogar am Fragesteller vorbeizureden und keine Antworten zu geben, die dann aber wiederum als Bestätigung einer Aussage des Fragenden gewertet wurde.

360

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

„Although young children are often accurate reporters, some do make mistakes-particularly when they undergo suggestive interviews; and these errors can involve not only peripheral details, but also central, predictable (i.e., scripted) events that involve their own bodies. It is also the case that suggestive questioning not only distorts children's factual recall, but it also has a strong influence on their interpretation of events" (ebd.). Wurde der Kindergartenleiter trotz entlastender Forschungsergebnisse nicht von den Anschuldigungen und seiner Haftstrafe befreit, konnte Michaels nach fünf Jahren wieder aus dem Gefängnis entlassen werden. Die zwei Beispiele zeigen Extremfálle von Erinnerungsverfälschungen, wie sie vor allem bei Kindern leicht entstehen können. Loftus führt indes auch einige Fälle auf, in denen selbst Erwachsene durch Suggestionen falsche Erinnerungen konstruierten (Loftus 1997). Aus dem allgemeinen Glaubwürdigkeitsvorsprung des Fernsehens kann also die Gefahr entstehen, dass nicht nur eigene medienunabhängige Erinnerungen durch Fernsehbilder verfälscht werden, sondern auch dass die Suggestionsleistung der medialen Darstellung zu Phantomerinnerungen führt, die jeder Grundlage entbehren. Wie ausführlich gezeigt wurde, verleiht das Fernsehen seinen Botschaften einen verlockenden Wirklichkeitsanschein, selbst wenn es sich um fiktionale Inhalte handelt, die kommuniziert werden. Diese Form der impliziten „Tele-Authentifizierung" (vgl. Bernold 2002) kann den Zuschauer leicht in dem Glauben lassen, er könne sich dessen sicher sein, was er sieht, was letzten Endes nicht selten dazu führen mag, dass er sich auch daran zu erinnern glaubt, was .wirklich' geschehen sei, ja sogar selbst vor Ort und Stelle gewesen zu sein. Solche ,Erinnerungsstreiche' können vom Fernsehen durch seine implizite Suggestivkraft ständig gespielt werden, zum Beispiel dann, wenn Fernsehnachrichten durch das Vertrauen des Zuschauers in das Gesendete nicht aufmerksam genug rezipiert und daher gemeinhin nicht gut erinnert werden, sich der Zuschauer aber dennoch gut informiert fühlt: Diese alltäglich zu nennende Form von falschen Erinnerungen fällt dem BetrofFenden indes erst auf, wenn er versucht, sich das Nachrichtengeschehen im Detail tatsächlich wieder in Erinnerung zu rufen, aber an dieser Aufgabe scheitert.

6.4.

Zusammenfassung

Glaubwürdigkeit steht am Anfang allen Erinnerns. Diese zunächst etwas banal anmutende Feststellung bildet jedoch die allgemeine motivationspsychologische Grundlage für die Informationsaneignung, das Glauben von und das Vertrauen in Informationen

jedweder Natur und jedweden Kommunikators. Die Reputation des Fernsehens resultiert aus der Authentizitätsanmutung seiner Angebote, dem Wirklichkeitsschein seiner Audiovisionen und den damit verbundenen Strategien der Vertrauensbildung wie beispielsweise durch charismatische Bezugspersonen, zu denen die Rezipienten para-soziale Beziehungen entwickeln können. Daher sind für das Fernsehens nicht erst als Informationsmedium, sondern auch als Unterhaltungsinstrument Nachvollziehbarkeit, Plausi-

III.6. Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens

361

bilität und das Identifikationspotenzial seiner inhaltlichen Angebote von inkrementeller Bedeutung, um von Gesellschaften zum Zwecke ihrer Selbstverständigung und vielmehr noch als kulturelles Forum wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Wie anhand der Problematisierung von Realitätsbildern und der Wirklichkeitsdebatte untersucht wurde, weist das Fernsehen eine außerordentlich hohe Suggestionskraft auf und neigt dazu, seinen inszenatorischen Charakter zugunsten der Wahrheitsbehauptung zu verbergen. Dies kann im Alltag selbst bei erfahrenen Rezipienten dazu führen, dass die Fernsehwirklichkeit als referenzielles Abbild einer allgemein verbindlichen .Realität' angenommen wird - Wahrnehmungstäuschungen inklusive, wie im Falle falscher Erinnerungen. Freilich trägt dies - in der Regel auch aus Ermangelung anderer epistemologisch gleichwertiger Quellen - zu einem eingeschränkten, dezidiert televisuellen Blick auf das Weltgeschehen bei. Trotz der sporadisch ins Bewusstsein drängenden, dem Medium strukturell innewohnenden Anfälligkeit für Manipulationsversuche sowie eine intentionale Verfälschung von Fakten, die durch die Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitungen noch um ein Vielfaches gesteigert wurde, hat sich der Glaubwürdigkeitsvorsprung des Fernsehen als zentrales, regenerationsfähiges Massenkommunikationsmittel unter Beweis gestellt. Fälschungsskandale, so eine Schlussfolgerung dieses Abschnitts, sind vielmehr ein Mittel, das mit Rückgriff auf Aufmerksamkeitsstrategien durch die intra- und intermediale Brandmarkung von Verletzungen des Vertrauensverhältnisses zwischen Medium und Publikum zur Gesundung beiträgt, gerade weil sie ein starkes mnestisches Potenzial besitzen. Damit wird durch die Skandalisierung suggeriert, dass die medialen und gesellschaftlichen Kontrollsysteme im Zweifelsfall greifen und Verfehlungen augenscheinlich nachdrücklich verfolgt werden, und lenken somit von den alltäglichen Eingriffen und Manipulationen bei der Konstruktion von .Realität' ab, die weniger auffällig sind. Verstärkt wird der realistische Eindruck des Fernsehgeschehens zudem von der Miteinbeziehung des Publikums in den Sendebetrieb. Unter dem Schlagwort Reality TV entstand ein Genre, das Rezipienten einen Zugang zur .Fernsehweit' verschaffte, indem sie selbst zu Akteuren auf der Mattscheibe avancieren können. Talkshows, Coaching Shows oder ,Gamedocs' wie „Big Brother" bzw. „Survivor" stellen es jedem Zuschauer frei, Publizität im Fernsehprogramm zu erhalten. So verfügen nicht nur immer mehr Menschen über besondere autobiographische Erinnerungen über das Medium Fernsehen, seine Produktionsweisen und sonstigen Hintergründe, sondern sie selbst können zu Subjekten von Fernseherinnerungen der Zuschauer werden. Die Tendenz zur Prominenzierung der Gewöhnlichkeit konnte sich erst durch die Karriere des Reality TV auf breiter demographischer Basis entwickeln, hat aber auch zu einer immer unübersichtlicheren und damit kurzlebigeren Starkultur geführt, deren Gedächtnisrelevanz sich zwar auf bis dato unbehelligte Bevölkerungsteile ausgedehnt, jedoch auch an Oberflächlichkeit gewonnen hat. Seine herausragenden Qualitäten als Erinnerungsgenerator stellt das Fernsehen immer dann unter Beweis, wenn es Ereignisse zu genuinen Fernsehereignissen von nationaler, internationaler oder gar globaler Bedeutung transformiert, indem es das Geschehen

362

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

in seine Bildsprache übersetzt und mit Vehemenz in das Bewusstsein seiner Zuschauer drängt. Dabei kann es entweder von der bereits vorhandenen Relevanz vor-medialer Ereignisse zehren oder diese Relevanz erst durch seine publizistischen und inszenatorischen Mittel kreieren. Die dieser Fähigkeit zugrundeliegenden Kraft des Fernsehens als Sozialstabilisator und Symbolproduzent macht es im Ereignisfall trotz stark fragmentarischer Programmentwicklungen und einem gewachsenen Wettbewerb auf dem Markt der elektronischen Medien weiterhin zum primären Anlaufziel für die Wahrnehmung von Welt, mit der Konsequenz, dass das Gedächtnis der Menschen in medial gesättigten Gesellschaften wie in Deutschland und Nordamerika und damit auch der Zugang zur Zeitgeschichte zuallererst durch die Macht der televisuellen Audiovision geprägt sind.

III.7. Bildung durch Fernsehen

7.

363

Bildung durch Fernsehen ,,[F]irst, the Cyclops imprisons these men in darkness, and second, he beats their brains out before he devours them. It doesn't take much imagination to apply this to the effects of TV on us and our children" (Woiwode 1993: 84).

7.1.

Bildung in der

Mediengesellschaft

„Wir reisen mit beängstigend leichtem Gepäck", schreibt Thomas Hettche in seinem Essay „Sammlung und Zerstörung" (Hettche 2003:223). Er kritisiert eine Kultur der Listen, dem Anschein nach eine standardisierte Häppchenkultur, die er durch die Dominanz der Marktideologie auszumachen glaubt: „Listen normieren das persönliche Urteil, machen die eigene Erfahrung datenbankkompatibel und reduzieren Auseinandersetzung auf das Mantra des Erfolgs bei Amazon: Es gibt, was es gibt. Doch nichts bleibt" (ebd.: 222). Ähnlich schwarz malt Aleida Assmann die Zukunft der Bildung und proklamiert eine dreifaltige Krise der Bildung, die sich in einer Krise des Wissens, der Medien und der Identität äußere (Assmann 2004a: 29-30). Mit dieser Terminologie erscheint die Situation der Bildungsarbeit nicht allein in Deutschland, sondern genauso in Nordamerika wie ein Teufelskreis (vgl. Hutchins 1995: 32), aus dem es in der Mediendemokratie kein Entrinnen gibt: Zur einer Explosion des Wissens, die sich in einer Überfüllung des kulturellen Fundus ausdrücke und zu Unsicherheit angesichts von Unübersichtlichkeit, Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit führe, geselle sich der Niedergang elitärer Hochkultur, der einen Werteverfall und Ratlosigkeit zur Folge hätte, was Bildung sei, womit schließlich der Vermischung von Kulturen Vorschub geleistet und die Konstitution des zeitgenössischen Selbst in ihren Grundfesten erschüttert werde (Assmann 2004a: 29-30). Aleida Assmann kommt zu dem Schluss, dass der fundamentale kulturelle Wandel auch zu einer Rückbesinnung auf althergebrachte Werte und Traditionen führen könnte, doch überwiegen bei ihr die Zweifel: „Der Dynamisierung von Information im elektronischen Zeitalter sind Modelle der Bildung und des Gedächtnisses immer weniger gewachsen" (Assmann 2003). Bildung werde nicht bloß individueller, sondern mutiere auch zu einer Teilkultur, der die Verbindlichkeit abhanden gekommen sei und sich allenfalls in der selbstmotivierten Teilhabe des Einzelnen am kulturellen Gedächtnis ausdrücken könne (Assmann 2004a: 32-33). Diese Überlegungen verweisen auf die historisch gewachsenen Modelle des Bildungsdiskurses, der sich besonders in Deutschland an einem spezifischen Kanon von Themen und Gegenständen ausrichtete (vgl. De Haan 2008: 41). So stimmt die Feststellung nicht wunderlich, dass solch traditionalistisch konstruierte Begrifflichkeiten in der aktuellen Bildungs- und Erinnerungsarbeit Konfusion heraufbeschwören. Den „Unterrichtspflichtgesellschaften" (Sloterdijk 1990: 183) mit ihrem Prinzip der Kanonisierung von Wissen,

364

III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

die sich ohnehin durch die Partikularisierung der Gesellschaftsstruktur und steten Wertund Deutungsverschiebungen als immer schwieriger erweist, erwächst in der Form eines Informationsüberangebots ein potenter Gegner. So ist es nicht ungewöhnlich, dass sich der Eindruck einstellt, es komme nicht auf die Tiefe der tatsächlichen Bildung an, sondern nur auf das Geschick im Umgang mit Wissensfragmenten. Als der Philologe Dietrich Schwanitz sein knapp 700-seitiges Werk „Bildung: Alles was man wissen muss" (Schwanitz 1999) veröffentlichte, wurde der Ratgeber umgehend zum Dauer-Bestseller. Nach knapp zehn Jahren waren insgesamt etwa zwei Millionen Exemplare des Buches, einschließlich Sonderausgaben und einer Hörbuchfassung, verkauft 149 - zwar kein Beleg für ein mögliches Bildungsbedürfnis innerhalb der Gesellschaft, aber immerhin ein mengenmäßig beeindruckender Hinweis. Schwanitz versteht Bildung, zweifellos mit ironischem Einschlag, als Wissen, dessen sich jeder in nur geringer Menge bemächtigen braucht, um bei seinen Mitmenschen gebildet zu wirken. Nicht ohne Grund widmet sich der Autor weniger dem eigentlichen Bildungskanon, den er eigenwillig auf die Wissensbereiche „Geschichte Europas", „europäische Literatur", „Geschichte der Kunst", „Geschichte der Musik", „Philosophen, Ideologien, Theorien, wissenschaftliche Weltbilder" und „Geschichte der Geschlechterdebatte" festlegt. 150 Vielmehr führt er in der zweiten Hälfte seines Buches eloquent aus, wie der Leser seine soziale Umwelt glauben lassen kann, er sei gebildet. Hier wird mit einem zweifelhaften Bildungsbegriff im Sinne eines bestimmten Wissensbestandes kokettiert, um ihn sogleich lächerlich zu machen, indem seine soziale Substitutionsanfälligkeit durch kommunikativen Einfallsreichtum unterstellt wird. Ist der Erfolg des Bandes allein schon Ausdruck einer verkommenden Bildungsgesellschaft? Findet die Philosophie vom Wissensmanagement verstärkt Einzug in das Bildungsideal, womit die Fernbedienung in der Hand des Zuschauers oder die Suchmaschinen im Internet zu Instrumenten der Demontage fundierter Bildung zugunsten schnellen Wissens auf Abruf würden? Fest steht, dass ein allgemein verbindlicher, gar monolithischer Bildungskanon in der heutigen Zeit als kaum noch haltbar erscheint und einer nunmehr bloßen Verabredung von Pädagogen, Politikern, Massenmedien und Intellektuellen darüber weicht, was als wichtig, was als wissenswert gilt (vgl. Assmann 2004a: 28) und der ganzheitlichen Entwicklung des Individuums zugute kommt. Was Schwanitz mit seiner populären Zusammenstellung inklusive Anwendungstipps beigesteuert hat, ist dann nicht mehr als eine Landkarte klassischer Wissensbestände, die Orientierung

149 Verlagsangabe Juli 2008. 150 Schwanitz wandte sich bewusst gegen die Aufnahme beispielsweise der Naturwissenschaften in den von ihm aufgestellten Kanon: „So bedauerlich es manchem erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht" (Schwanitz 1999:482). Er knüpfte damit an die Auffassung von Rüdiger Proske an, der naturwissenschaftliches Wissen für vernachlässigbar hielt und die Vorrangstellung der Anwendbarkeit gesellschaftlichen Wissens propagierte (Proske 1983: 19). Die Ausgrenzung fand durch Ernst Peter Fischer eine differenzierte Kritik und Erwiderung (Fischer 2001).

III. 7. Bildung durch

Fernsehen

365

bietet, aber eben nicht - und das war ein Auslöser von Kritik - zur tiefergehenden Lektüre und Auseinandersetzung mit dem kompakt angerissenen Wissen anregt, damit es zu Bildungsinhalten transformiert werden kann, sondern im Gegenteil nur einen Reiz zur oberflächlichen Beschäftigung, geleitet von Nützlichkeitskriterien, bietet und kulturelles Wissen zu nicht mehr als einem Erkennungszeichen zwischen Halbgebildeten macht (vgl. Kempter 2006: 5). Dagegen sind Orientierungspunkte in der Bildungsarbeit unabdingbar geworden: Angesichts beschleunigter Themenkonjunktur, verursacht durch massenmediale Einflüsse sowie Auswirkungen der Massenproduktion wechseln sich die Bedeutungsträger in immer höherer Frequenz ab, wodurch der Zwang zur Selektion eben dessen, was sich im Diskurs als bedeutend abzeichnet, immer überwältigender wird (Bretthauer 2003: 115; vgl. auch Kapitel III.5.2.). In bestimmten Bereichen werden fundamentale Erkenntnisse in einer derart hohen Frequenz aktualisiert, dass herkömmliche Bildungsmedien wie Bücher der Rasanz der Erneuerung von Wissensbeständen nicht mehr gewachsen sind. Unter diesen Bedingungen sind Vermittlungsformen elektronischer Medien im Vorteil, weil sie zeitnah anpassbar sind und zudem eine Vielzahl unterschiedlicher Präsentationsformen integrieren können (Engesser 2006: 217). In einer solch dynamisierten, eine Vielzahl von unterschiedlichen Quellen umfassenden Lernumgebung können sich traditionelle Bildungsideale leicht auflösen, da ein erhöhtes Maß an Selbstbestimmung im Lernprozess trotz (sich ohnehin jährlich abwechselnder) Lehrpläne zu einer Pluralisierung bei der Bewertung kulturellen Wissens führt und allenfalls Mehrheitsentscheidungen kurzweilige Verbindlichkeit erlangen können. Dass eine Einengung der Begrifflichkeiten in der Bildungsfrage eher hinderlich ist, als dass sie nützte, zeigt das Beispiel George Steiners, der seinen Kulturbegriff an einen Bildungskanon klassisch antiker Muster gekoppelt hat, was zu einer ausgeprägten elitären Auffassung führte (Steiner 1981). Nach dieser Auffassung hat das kulturelle Gedächtnis durch die Dominanz der Massenmedien und durch die Auflösung des literarischen Kanons in der neuen Medienlandschaft einen schweren Bedeutungsrückgang erlitten (ebd.: 430). Ein solch eng an einem Klassiker-Kanon ausgerichtetes Verständnis der kulturellen Erinnerungsarbeit suggeriert automatisch auch Zwang und Stillstand. So ist in der Vergangenheit der starke, historisch gewachsene und von einer national ausgerichteten Pädagogik verbreitete Geschichtskonsens der USA zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, da Minderheitenproblematiken und auch internationale Perspektiven in Lehrplänen weitgehend unberücksichtigt blieben (vgl. Nash 1997). Interessanterweise sieht Bertman einen Ausweg aus der von ihm auch in Nordamerika diagnostizierten Bildungskrise in einer „nationalen Therapie" mithilfe des Mediums Buch und formellen Unterrichtsinitiativen, um kulturelle Kenntnisse in der Gesellschaft zu vermehren (Bertman 2000: 107-112). Es muss nicht explizit daraufhingewiesen werden, dass derlei Anstrengungen längst zum Alltag in Bildungsinstitutionen und -ministerien gehören. Entsprechend richtet Bertman seinen Appell offener, aber auch erheblich unspezifischer an jeden Einzelnen in der Gesellschaft, der Vergangenheit mehr Platz im persönlichen

366

III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

Seelenleben einzuräumen und ihr mehr Wert beizumessen, als es offensichtlich bisher der Fall war. Faktenwissen gilt zwar weiterhin als wichtiger Bestandteil des Bildungssegments, aber längst nicht mehr als ausschließlicher. Ertragreicher ist die Bewertung semantischen Wissens als nur ein Bestandteil einer ganzheitlichen Bildung, welche die Persönlichkeitsentwicklung in ihrer kompletten Bandbreite erfasst und bei weitem nicht allein unter Nützlichkeitskriterien erlerntes Wissen umfasst (De Haan 2008: 40). So misst de Haan auch den Lernumwelten mehr Bildungswert zu als den Lehren an sich (ebd.: 42). Für die Zukunft der Bildung bedeutet das: Die Bildungsarbeit richtet sich an spezifischen Werten, Handlungs- und Symbolrahmen einer Kultur aus, die in lebensweltlichen Kontexten Orientierung bieten können, in denen Wissen nicht mehr als eindeutig und gesichert, also für alle Zeit festgeschrieben gelten kann: „Knowledge does not know any more what knowledge is. Not only has not-knowing grown exponentially side by side with knowledge, but it is increasingly less able to fulfil its task of making determinate statements about the present" (Wimmer 2003: 180).

Auch erfahren universelle Leitlinien, die transkulturelle Gültigkeit besitzen, verstärkte Geltung (Mittelstrass 2007: 254). Zwar sind Globalisierung und Diversifizierung mit Risiken für kulturspezifische Lernformen verbunden, aber ebenso mit Chancen: Letztlich hängt es davon ab, inwiefern die Bildungsarbeit von den Lehrplänen der formellen Bildungsorganisationen bis hin zu den Anstrengungen informellen Lernens die eigenverantwortliche Bereitschaft, sich zu bilden, motivieren und daraus auf individueller wie kollektiver Ebene Kooperationen im nationalen und internationalen Bildungsfeld entstehen. Für das betreffende Bildungsproblem ist dabei vor allem die Vorhaltung eines breiten Lernansatzes wichtig, der sich nicht allein auf aktuell Relevantes beschränken darf, und doch mit einer fundamentalen Verunsicherung bei der Frage nach den Auswahlkriterien in Bezug auf das kulturelle Erbe umzugehen hat: ,,[S]owohl von den historischen Wissenschaften, dem Erinnerungsbedarf und von den Strukturen moderner Gesellschaften her [kann] keine eindeutige Direktive ausgehen [...], die man als hilfreich für eine gelenkte Sicherung der Überlieferung einer Gesellschaft bezeichnen könnte. Das Bild bleibt undeutlich: Mehrdeutigkeit und Vielfalt, das Nebeneinander kultureller Prägungen und allgegenwärtige Widersprüchlichkeit sind noch am ehesten geeignet, den Zustand moderner segmentierter und säkularisierter Gesellschaften zu charakterisieren" (Schulze 2000: 25). Eine wesentliche Rolle spielen in dieser Entwicklung die Massenmedien und speziell das Fernsehen, das mit einer egalitären Ausrichtung an Prinzipien der Ausgewogenheit und seinem Angebot an Information und Unterhaltung dem traditionell engen und instruktiven Bildungsverständnis von der ersten Sendeminute an (überwiegend) widersprochen hat. In Kapitel III.2. wurde bereits näher auf die mit der Etablierung des Fernsehbetriebs in Nordamerika und Deutschland verbundenen Ziele eingegangen sowie diesbezüglich der Dienst an der Öffentlichkeit hervorgehoben, der die Bildungsaufgabe mit einschließt.

III. 7. Bildung durch Femsehen

367

Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, in welcher Form dieses Bias in den ersten sechs Jahrzehnten des Fernsehschaffens in Korrelation zu dem sich wandelnden Bildungsbegriff eingehalten werden konnte.

7.2.

Verblödungsmedium

Fernsehen?

Dadurch dass das Fernsehen mit seiner unablässigen Sendeleistung Aufmerksamkeitsregeln diktiert, verhindert es bis zu einem gewissen Grad, dass der Zuschauer ihm selbstbestimmte Selektionsregeln auferlegt (vgl. Böckelmann 1975: 48). Der Medienwissenschaftler Neil Postman leitete daraus seine Verdummungsthese ab: Zu beobachten sei eine fatalistische Spirale des Amüsements, die das Fernsehpublikum durch wachsende Abhängigkeit von neuen Medientechnologien unterwerfe und in seiner kulturellen Entwicklung störe, indem es Traditionen auflöse, um sie durch standardisierte Trivialisierungen zu ersetzen: „In einer Technokratie spielen die Werkzeuge für die Gedankenwelt der Kultur eine zentrale Rolle. Alles muss sich bis zu einem gewissen Grad ihrer Entwicklung fügen, das gesellschaftliche Leben und die Sphäre der Symbole werden in zunehmendem Maße den Anforderungen, die sich aus dieser Entwicklung ergeben, unterworfen. Die Werkzeuge werden in die Gesellschaft nicht integriert; sie attackieren die Gesellschaft. Sie legen es darauf an, selbst die Kultur zu werden. Infolgedessen müssen Tradition, Sitte und Brauchtum, Mythos, Politik, Ritual und Religion um ihr Überleben kämpfen" (Postman 1992: 36). Anfang der 1990er Jahre seien die USA aber bereits zu einem „Technopol" avanciert, das als totalitär gewordene Technokratie zu bezeichnen sei (ebd.: 57). Dieser Kulturzustand bzw. Geisteszustand drücke sich in der „Vergöttlichung der Technologie" aus, was wiederum bedeute, dass die Kultur ihre Beglaubigung in der Technologie suche, dass sie ihre Befriedigung aus der Technologie gewinne und sich ihre Befehle von der Technologie erteilen lasse. Die Folge sei daher schon zwangsläufig eine neue Gesellschaftsordnung, verbunden mit der Auflösung traditioneller Überzeugungen (ebd.: 80). Postmans Medienkritik fußt auf einer post-kannibalistischen Verdrängungstheorie, deren Argumentation auf der Überzeugung aufbaut, dass neue Technologien keineswegs bisherige Kulturtechniken auslöschen, ihre massenhafte Nutzung jedoch weitgehend einschränken. Ihre Anwendung werde nur noch bei einer reduzierten Zahl von Gesellschaftsmitgliedern lebendig gehalten, da sich mit neuartigen Möglichkeiten der Übertragung, Aufzeichnung und Aneignung von Wissen die Denkweise einer Kultur sowie die Kulturinhalte selbst veränderten (Postman 1988: 23). Besonders Kinder sind nach Postman die führenden Wegbereiter und ersten Opfer der elektronischen Medienrevolution, da ihr Denken schon lange vom Streit der rivalisierenden Medientechnologien um die kulturelle Herrschaft bestimmt sei: Während in der Schule noch die Vorzüge der gedruckten Schrift propagiert würden „mit ihrer Betonung von Logik, Folgerichtigkeit, Historie, gegliederter Darstellung, Objektivität, Distanz und

368

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Disziplin", sei die Freizeit der Schüler geprägt von der Welt des Fernsehens „mit ihrer Betonung der Bildlichkeit und des Anekdotischen sowie von Augenblicklichkeit, Gleichzeitigkeit, Intimität, unmittelbarer Befriedigung und schneller emotionaler Reaktion" (Postman 1992: 24). Die Folge sei eine „innerpsychische Schlacht" mit vielen Opfern, da ihr Weltbild durch die Verquickungen zerrüttet werde (vgl. Postman 1988: 130). Die Bildungstheorie des Fernsehens lässt sich laut Postman auf drei Gebote reduzieren: „Du sollst nichts voraussetzen", „Du sollst nicht irritieren" und „Du sollst die Erörterung meiden wie die Zehn Plagen, die Ägypten heimsuchten" (ebd.: 180). Der zynische Subtext dieser Kategorisierung suggeriert freilich ein gänzliches Fehlen jeglicher Bildungstheorie des Fernsehens, das sowieso drauf und dran sei, mit seiner Ideologie der Trivialisierung den Schulunterricht zu zerstören (ebd.: 178). Mit seiner Warnung vor dem „Verschwinden der Kindheit" (Postman 1983) stimmte der wohl bekannteste US-amerikanische Fernsehkritiker des ausgehenden 20. Jahrhunderts ein in den Chor einer allgemeinen Gemütslage der Medienpädagogik, die das Fernsehen seit seines Massenerfolgs misstrauisch begleitet hat. So ließ der jährlich durchgeführte „Scholastic Aptitude Test" in den USA negative Rückschlüsse auf den Zusammenhang zwischen Fernsehhäufigkeit und schlechten Schulleistungen zu (vgl. Huth 1982: 207). Zwar räumte Postman die informativen Qualitäten des Fernsehinstruments ein, da nun auch Kinder durch die Dominanz des Bildes über die Sprache Zugang zu Wissen ermöglicht werde, das ihnen zuvor verstellt gewesen sei: Fernsehen bedürfe keiner Unterweisung, um rezipiert zu werden, stelle keine hohen Anforderungen und gliedere sein Publikum nicht, was dazu führe, dass jeder Eintritt in die Fernsehwelt erhalte und Kinder dieselben Informationen rezipieren könnten wie Erwachsene, was beispielsweise bei Büchern aufgrund der notwendigen Alphabetisierung in dieser umfassenden Form nicht garantiert sei (vgl. Postman 1983: 94-100): „Für Bilder gibt es kein ABC" (ebd.: 93). Die Folge sei aber keine verbesserte Informiertheit, Reifung und Erziehung der fernsehenden Kinder, was dem Bildungsideal entspräche. Vielmehr werde es den Kindern unmöglich gemacht, ihre Kindheit zu leben, wenn sie bei jeder Gelegenheit auf der Mattscheibe mit Erwachsenenwissen in Berührung kämen (ebd.: 104). Wer Postmans Überlegungen folgt, dem fällt es ohnehin schwer, an eine Vermittlung wertvollen Wissens durch das Fernsehen zu glauben. Die Unterhaltung sei der natürliche Rahmen jeglicher Fernsehdarstellung und damit die „Super-Ideologie des gesamten Fernsehdiskurses" (Postman 1988: 110). Die damit einhergehende Trivialisierung von Inhalten führe zu einer „Entleerung der Symbole", mit der die Wirtschaft - hier schließt Postman an die Kritik Adornos und Horkheimers an - ihre Konsumenten umwerben wolle (Postman 1992: 177-178). Jedes Thema werde als Unterhaltung präsentiert, selbst Nachrichten, da sie ohne jeden Kontext und Folgen aneinandergereiht versendet und mit zwischen- und nachgeschalteten Werbespots ummantelt und sogar gefüttert würden (Postman 1988: 124, 129). Am trivialsten und gefährlichsten sei das Fernsehen daher, wenn es sich anspruchsvoll gebe und sich als Vermittler bedeutsamer kultureller Botschaften geriere (ebd.: 27).

III. 7. Bildung durch Fernsehen

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Die massenmediale Grundintention, möglichst breite Bevölkerungsteile zu erreichen, wurde von Postman bereits als Beleg für die Trivialisierung des Fernsehprogrammbetriebs verstanden: Um die medialen Angebote möglichst barrierefrei, das heißt: für alle demographischen Schichten verständlich anzubieten, dürfen nur minimale Anforderungen an das Auffassungsvermögen der Zuschauer gestellt werden. Um dennoch in seinen Botschaften effektiv und in seinen Angeboten attraktiv zu bleiben, konzentrierten sich die Fernsehveranstalter laut Postman darauf, Gefühle zu wecken und sogleich auch zu befriedigen (vgl. ebd.: 109). Das erkläre sich auch aus der fernsehideologischen Bildzentrierung: Durch die audiovisuellen Eigenschaften des Fernsehens, die Aug und Ohr anzusprechen haben, müsse der Gehalt von Themen notgedrungen unterdrückt werden, um nicht abzulenken von der hypnotisierenden und narkotisierenden Funktion der Bilderflut, die den Verstand ebenso einschläfere wie die Wahrnehmungsfähigkeit (ebd.: 115; Postman 1983: 122). Einen Ausweg gebe es wohl kaum, da die Medienschaffenden durch die systemimmanenten Regeln des Erfolgs dazu angetrieben würden, trivial und sensationalistisch zu arbeiten, weil nur dies hohe Einschaltquoten erbringe, Werbekunden anlocke und daher mit hohen Gagen belohnt werde (vgl. Postman 1988: 131). Eine weitere Determinante der Trivialisierung erwachse den Fernsehproduzenten in der Angst vor der Lücke im Programm: Durch die Not, immerfort Sendeplätze füllen zu müssen, um den 24-stündigen Sendebetrieb aufrechtzuerhalten, ist die Gefahr der Verflachung und Entleerung der Inhalte nach Postman latent. So seien auch Pseudo-Ereignisse zu erklären, die seitens der Massenmedien und vorrangig vom Fernsehen speziell für den Publikumskonsum geschaffen werden (Postman 1983: 97-99). So verwandle sich Information leicht in Desinformation im Sinne „unangebrachte [r], irrelevante[r], bruchstückhafte [r] oder oberflächliche[r] Information" (Postman 1988: 133). Postman spricht in seinen Streitschriften zur Verdummung von Millionenpublika durch das Fernsehen nicht nur Medienereignisse als typische Inszenierungsform an, sondern unterzieht auch Werbung und das Phänomen der Prominenzierung einer kritischen Analyse. Beides sei ebenso verwerflich wie in seiner Effektivität kontra-produktiv. Dieses Paradoxon beschreibt den Widerspruch zwischen kurzfristigem Streben der Konsumgüterindustrie, zu der Postman auch das Fernsehen rechnet, nach hohen Aufmerksamkeitswerten und Absatzzahlen und der Verdummung der Konsumenten, die aufgrund intellektueller Degeneration langfristig kaum noch Kaufkraft entwickeln können. Werbung mache emotionale Anziehungskraft zur Basis der Kaufentscheidung, nicht die rationale, bedachte Überlegung (Postman 1988: 157). Der Grund sei unabsehbar: „Irgendwo nahe dem Zentrum des Technopols gibt es also eine riesige Industrie, die sich die Freiheit nimmt, alle verfügbaren Symbole den Interessen der Wirtschaft dienstbar zu machen, indem sie die Psyche der Konsumenten verschlingt" (Postman 1992:183). All dies geschehe zur Steigerung des Konsumrausches, für den alle traditionelle Erzählungen und Symbole, die Stabilität und Ordnung garantieren, beiseite gewischt würden (Postman 1988: 192) - es sei denn, sie haben noch mythologischen Nutzwert, um den Zuschauer mit Identi-

370

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

fikationsangeboten zu manipulieren. So habe die Marktforschung die Produktforschung abgelöst: Die Werbung biedere sich daher eher der vermeintlichen Seelenlange des Massenkonsumenten, als dass sie mit tatsächlichen Argumenten zu überzeugen suche (vgl. ebd.: 158). Im Kampf um die Gunst des Massenpublikums verkommt nach Postman alles zur Werbung, auch die Politik, die sich mit Image-Beratern und Wahlkampfinszenierungen in den Auf- und Abwärtsstrudel der Prominenzierung begibt, der die Inhalte fortspült und das Karussell der Unterhaltung an der Oberfläche antreibt (vgl. ebd.: 162-166). Politische Entscheidungen würden vom Fernsehpublikum längst nicht mehr aufgrund von Sachthemen und Überzeugungen getroffen, sondern auf der Basis, wie sympathisch ein Politiker im Fernsehen wirke (Postman 1983: 118). Die Furcht vor dem .Verblödungsmedium' Fernsehen hat sich als zeitloses Phänomen erwiesen: So konstruiert der Journalist und Schriftsteller Andrew Solomon eine Kausalität zwischen Depressionen und (in seinem Sinne falschen) Mediengebrauch. Ein Rückgang in der Leseleistung des Durchschnittsamerikaners und der gleichzeitigen Zunahme an Fernsehkonsum könne mit einem Ansteigen der Zahl an Depressionskranken in Zusammenhang gebracht werden (vgl. Solomon 2004). Selbst Alzheimer erscheint in Solomons Statusbeschreibung als direkte Folge einer von einem Konvolut elektronischer Medien verursachten Lethargisierung der Betroffenen, die sich mit Bücherlesen hätten fit im Kopf halten können. „You are what you read. If you read nothing, then your mind withers, and your ideals lose their vitality and sway" (ebd.). Damit werde die Krise der gedruckten Schrift zu einem Dilemma politischen Ausmaßes. Für die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens hat die Verdummungsthese weitreichende Konsequenzen. Postman selbst bewertete das Fernsehen als ein Medium, das „uns Informationen in einer Form präsentiert, die sie versimpelt, die sie substanzlos und unhistorisch macht und ihres Kontextes beraubt, ein Medium, das die Informationen auf das Format von Unterhaltung zurechtstutzt" (Postman 1988:173). Postmans Argumentation folgt auf Basis der Grundannahme, es handele sich bei Fernsehinhalten grundsätzlich um Unterhaltungsangebote, der ebenfalls simplen Analogie, dass der Mensch in seinen Denkoperationen beeinträchtigt werde, wenn er sich Unterhaltungsangeboten aussetze. Sollte dies zutreffen, würden Postmans Schlussfolgerungen bedeuten, dass das Fernsehen nicht nur das formale Bildungssystem auf die Probe stellt und damit langsam aber sicher die Grundlage für (hoch-) kulturelle Gedächtnisoperationen mündiger Staatsbürger korrodiert, sondern auch ein schleichender Prozess der Desinteressierung der Fernsehrezipienten für ihre kulturelle Herkunft und historisch begründeten Gesellschaftskontexte in Gang gesetzt wurde. Postman sah eine „Tendenz zu einer Psychologie der Diesseitigkeit" (ebd.: 147). Dahinter steckt die Annahme, dass die Befriedigung von Unterhaltungsinteressen und Konsumreizen im Hier und Jetzt erfolgen muss, um sich auszuzahlen. Ebenso verhalte es sich bei der Inszenierung von Politik: „Im Zeitalter des Showbusiness und der Image-Politik wird die politische Urteilsbildung nicht nur ihres gedanklichen und ideologischen, sondern auch ihres historischen Inhalts beraubt" (ebd.: 168). Demnach gewinnt jener die Wahl, der in der Gegenwart Eindruck schinden kann und die abstrakt

III. 7. Bildung

durch

Femsehen

371

gewordene Vergangenheit ruhen lässt. Allenfalls erinnere sich der Zuschauer an Profanes (ebd.: 147) - und hat damit den Kopf frei für neue Entertainment-Stimulationen aus dem Fernsehen, dessen Grammatik allein schon keinen intellektuellen Zugang zur Vergangenheit gewähre (ebd.: 167).

7.3.

Bildungsmedium

Fernsehen?

Postman argumentiert von der Warte eines literarischen Bildungsideals aus, das schulische Unterrichtung und Buchlektüre als die klassischen Ideale der Wissensvermittlung propagiert. Aus dieser Sicht ist eine Skandalisierung des Störfaktors Fernsehen mit seinen ununterbrochenen Bilderreigen, seinen das Gefühl und weniger den Verstand ansprechende Unterhaltungsformate und seine sensationalistische Informationsaufbereitung sogar verständlich. Leicht wird darüber vergessen, dass jedes Massenmedium, jede Kulturpraktik künstlerische wie auch triviale Attribute besitzt: Die Literatur umfasst Jahrhundertwerke von Ernest Hemingway, Thomas Mann, Günter Grass, Arno Schmidt, Tom Wolfe oder innovativen Jungautoren wie Mark Z. Danielewski („House of Leaves"), nicht zu vergessen das weite Feld der Wissenschaftspublizistik, aber auch Banales wie Perry Rhodan, Cora-Liebesromane oder zwangsläufig bruchstückhafte Memoiren junger Popstars.151 Die Musikkultur beinhaltet Haydn, Tschaikowsky, Dylan, Springsteen, Biermann und Mey ebenso wie vermeintlich simple Genre wie Volksmusik, respektive das Country-Genre, oder Stimmungsmusik. Und selbst im Theater als raumzeitlich gebundenes Massenmedium wechseln sich Anspruch und Stumpfsinn ab. Das Fernsehen nun soll, so ist Postmans radikale Kritik zu verstehen, offenbar „alles" sein und alles leisten können (vgl. Hörisch 2005:987) - und zwar reproduktiv, nicht adaptiv. Solche Erwartungen müssen in Falsifikationen münden, weil das Fernsehen in seiner technisch und sozial manifestierten ontologischen Eigenwertigkeit seinen originären Prinzipien gehorcht und gehorchen muss. Postmans Postulierungen sind in ihrer Pauschalität zweifellos problematisch und wurden selbst Anlass von weitaus stichhaltigerer Kritik. Hertha Sturm legte dar, dass Postman die differenzierten Befunde der US-amerikanischen Rezipientenforschung nahezu vollständig ausgeblendet hat und seine Schlussfolgerungen auf Mutmaßungen und Stereotype fußte: „Vernachlässigt er [...] den Rezipienten in seinem So-Sein und seinen kognitiven Strukturen (und die Rezipienten in all ihren personalen Unterschieden), so vernachlässigt er ebenso, dass unterschiedliche Laufbilddarstellungen höchst unterschiedliche Wirkungen haben" (Sturm 1986: 5). Die populärwissenschaftliche Herangehensweise Postmans - und anderer Autoren wie Marie Winn (1979) und Jerry Mander (1979) - traf in der Medienwissenschaft auf Unverständnis. So apostrophierte Gerhard Maletzke das ,,einfache[.] Denken" (Maletzke 1988:92) der Kulturkritiker und des Publikums gleichermaßen, bei dem die Schmähschriften rasanten Absatz fanden. Das Fern151 Zum Phänomen der Trivialliteratur vgl. Kreuzer 1975.

372

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

sehen sei einer „Sündenbock-Technik" zum Opfer gefallen (ebd.: 99), die ihm den lang anhaftenden Makel des Schlimmen, Verderblichen und Gefährlichen eingebracht (ebd.: 102) und dazu geführt habe, dass „die Tätigkeit Fernsehen gerade bei .Gebildeten oft von Schuldgefühlen begleitet ist" (ebd.: 101). „Die Teilnehmer versichern einander gegenseitig, der von Adorno prophezeiten Rückbildung des Bewusstseins dank eigener kritischer Reflexionsleistung noch immer nicht erlegen zu sein. Gleichzeitig aber gehen sie ganz selbstverständlich davon aus, dass die Masse der Zuschauer im Gegensatz zu ihnen als willfahrig passives Publikum dem verführerischen Glanz der Fernsehbilder hilflos ausgeliefert und deshalb pädagogisch zu begleiten sei" (Demand 2005: 974). Die radikale Negierung des Fernsehprogrammbetriebs als Distributeur erbaulicher Sinnangebote resultierte auch aus einer empfindlichen Enttäuschung der Erwartungen hinsichtlich des Erfolges des „Fernsehens als Bildungsmedium" (vgl. Baacke 1999: 512). Die fernsehenden Publika erwiesen sich mit Blick auf die Einschaltquoten dezidierter Bildungsformate in erheblichem Maße als ignorant und bevorzugten eher (im Sinne ihrer Beanspruchung kognitiver Ressourcen) leichtere, unterhaltsamere Sendungen, was wiederum Rückwirkungen auf die Ausgestaltung der Fernsehprogrammpläne hatte. Boorstin meint eine Abneigung beim Rezipienten zu erkennen, Wissensinhalte kognitiv aufwendig zu prozessieren, um sie sich dauerhaft anzueignen, zugunsten einer stets nur kurzfristigen Auseinandersetzung mit aktuellen Nachrichteninhalten, die für sich keinen Anspruch auf einen dauerhaften Bildungswert erheben: „Wissen ist daran gebunden, dass es bleibende Bedeutung hat, langfristig wirkt. Normalerweise hat man wenig Bereitschaft, altes Wissen, das sich bewährt hat, durch neues zu ersetzen. Bei der Information ist dies ganz anders; sie ist neuartig, vielseitig, zufällig und daher jederzeit ersetzbar durch noch neuere Information. Während Wissen nur selten Neuigkeitswert hat, ist Information - bestehend aus Einzelheiten, die noch nicht als Wissen abgesichert sind - vielfach kontrovers, zieht also notwendigerweise weitere Information nach sich" (Boorstin 1988: 29-30). So war den mit der Entwicklung des Bildungsfernsehens einhergehenden Ideale bezüglich seines Dienstes an der Öffentlichkeit zumindest in dem historisch gewachsenen kommerziellen Rundfunksystem der USA von vornherein enge Grenzen gesetzt (vgl. Zechowski 2004b: 789). Die Dominanz der U - über die Ε-Kultur und die zwar nicht generelle, aber verbreitete Alibi-Funktion von Bildungssendungen in den kommerziellen Programmen wurzelt in den USA in der Vormachtstellung der privatwirtschaftlichen Fernsehveranstalter, die Werbekunden gewinnen müssen und den Erfolg ihrer Programmangebote nicht an ihrem pädagogischen Wert, sondern an der Nachfrage seitens der Nutzer messen. Doch auch in der Bundesrepublik Deutschland zeichnete sich trotz des Bildungsauftrags der öffentlich-rechtlichen Anstalten ein „stiefmütterliches Dasein" von genuinen Bildungssendungen am Rande des Programmgeschehens ab (vgl. Schorb 1 9 9 4 : 2 0 6 ) . Die ursprünglich als reine Bildungssender konzipierten Dritten Programme entwickelten

III. 7. Bildung durch

Fernsehen

373

sich im Laufe der Zeit zu Vollprogrammen, die sich bald auch den Einschaltquoten als maßgebliches Relevanzkriterium beugten. Schorb sieht in dieser Orientierung am Nutzungsverhalten der Rezipienten den Ausgangspunkt eines „Teufelskreises" (ebd.: 207): Das Attraktionspotenzial von Bildungsprogrammen wurde von vornherein als geringwertiger eingestuft, da sie im direkten Vergleich zu Unterhaltungs- oder auch Nachrichtensendungen niedrigere Quotenergebnisse erzielten. Daraus folgten eine Kürzung der finanziellen Budgetierung solcher Sendungen sowie ihre Verschiebung auf Sendeplätze, an denen die Nutzungszahlen für gewöhnlich besonders gering ausfallen. Diese Maßnahmen verstärken den Sinkflug dieser Formate, gemessen an den Einschaltquoten, nochmals und führen zu weiteren Beschränkungen der Produktion auf ein Minimum des Aufwandes, was wiederum Einbußen in der Qualität der Sendungen verursacht (vgl. auch Laurent 1956:159; Sargant 1997:67). So trugen Programmveranstalter und das Publikum gewissermaßen in synergetischer Verantwortlichkeit sukzessive zum Bedeutungsverlust von Bildungsprogrammen bei. Nichtsdestotrotz gibt es seit Anbeginn der Fernsehgeschichte in Nordamerika und in Europa eine starke Bildungstradition, die trotz oder vielmehr aufgrund einschneidender Restrukturierungs- und Rekonzeptionsprozesse weiterhin Bestand hat und sporadisch sogar überraschende Publikumserfolge feiert. Die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland sehen die Bildungsfunktion weiterhin als einen wichtigen Bestandteil ihres Auftrags (vgl. u.a. ZDF 2006) und auch die kommerziellen Sender haben nach anfänglichem Zögern die Marktchancen von Bildungssendungen im weitesten Sinne über die gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtprogrammteile hinaus erkannt: So erfreuen sich unter anderem Wissenschaftsshows und unterhaltende Informationsformate wachsender Beliebtheit. In den USA haben sich zwar seit der Rede Newton Minows über das US-amerikanische Kommerzfernsehen als „Vast Wasteland" von 1961 die Nutzungspräferenzen kaum geändert: Weiterhin genießen Unterhaltungsformate vom Gros der Zuschauer die meiste Beachtung. Doch erzielten die deutlichen Worte Minows über die nichtsnutzige Trivialität des Programmangebotes der privaten Fernsehveranstalter einen anhaltenden politischen Rückhalt für die Institutionalisierung eines öffentlichen Bildungsfernsehens in den USA und dessen finanzielle Grundsicherung (vgl. Jarvik 1997: 16-17). Seit 1967 wurden die televisuellen Bildungsanstrengungen in den USA gebündelt und in Form des,public television als „collective alternative to commercial television" entworfen (vgl. Zechowski 2004b: 788). Schon lange bevor der Public Broadcasting Service eine Kampagne zur Markenbildung startete, um so private Sponsoren von der Gewinnträchtigkeit eines Engagements für modernes Bildungsfernsehen zu überzeugen (vgl. Kelley 2008) wurde PBS zu einem Markenzeichen für vorbildliche Programmangebote zum Zwecke des lebenslangen Lernens vom Vorschulalter („Sesame Street") bis hin zum Erwachsenenalter („Frontline", „American Experience") und erarbeitete sich als nicht-kommerzielle Anbieter von Informationen eine vorbildliche Reputation. Seit 1959 gab es auch im DDR-Fernsehen explizite Bildungssendungen, jedoch stets unter der Maßgabe staatlich-sozialistischer Erbauung. Die Nutzungswerte spielten bei

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

der Konzeption solcher Formate kaum eine Rolle: „Das Fernsehen wird in der DDR also zum Bildungsmedium im sozialistischen, dezidiert anti-bürgerlichen Sinne, wenn dies auch auf Kosten seiner eigenen Inhalte geht" (Hahn 2005b: 208). Die Zensurmaßnahmen für publizistische Sendungen wurde Anfang der 1980er Jahre nach einem Parteitagsbeschluss über einen „volkswirtschaftlichen Leistungsanstieg" verschärft und führte durch die Genehmigungspflicht aller Produktionsvorhaben zu einer starken Einschränkung von kreativen Bildungskonzepten und kritisch-reflektierten Thematisierungen (vgl. Kreutz 1998: 267-268). Erst ab 1987 wurde durch die Veränderung des politischen Klimas eine Ausweitung des Bildungsfokus auf ausgewogene Thematisierung westlicher und explizit westdeutscher sowie US-amerikanischer Kulturerzeugnisse möglich (ebd.: 270). Generell wurde bei Sendeformen mit Lehrbezug im DDR-Fernsehen darauf geachtet, einen Alltagsbezug für den Zuschauer herzustellen. In Wissenschaftsmagazinen wie beispielsweise der „Neuen Fernseh-Urania" wurde, hier in Kooperation mit der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, vor allem auf die Bildungsfunktion und den Praxisbezug der behandelten Themen Wert gelegt (vgl. Ilsmann/Kirpal 2005:125). „Wenn ihre Antworten auf die Probleme der modernen Naturwissenschaften auch mitunter von ideologischen Vorbehalten und politischen Erwägungen geprägt waren, ist ihr Anspruch hervorzuheben, Wissenschaftspublizistik nicht auf spektakuläre Entdeckungen und sensationelle Entwicklungen zu beschränken, sondern nach der Relevanz von Naturwissenschaft und Technik für das Leben der Individuen und der Gemeinschaft zu fragen" (Warnecke 1998: 224). Der Rezipient sollte sich in den Darstellungen wiederfinden und das präsentierte Wissen so gut wie möglich aneignen können, um es - wie vor allem bei den über ein Dutzend Ratgebersendereihen - für seine eigenen Belange und Vorhaben umsetzen zu können (vgl. Rosenstein 1998). Bildung im Fernsehen entspricht dem eingangs hergeleiteten weiten Bildungsbegriff, der sich nicht auf statische Wissenskanons stützt und traditionelle Arten der Vermittlung wählt, sondern Form und Inhalte dem Bildungsziel nachordnet. Fernsehen bietet in seiner vielgestaltigen Struktur-, Themen- und Stilpalette Wissen von Welt: spielerisch-unterhaltend, aktuell-informativ, aber auch sensationalistisch, serös, banal, anspruchsvoll, usf.: All diese Angebote können auf je eigene Art zur Bildung des Zuschauers beitragen, fächern sie doch vor dessen Augen ein disperses Feld an Möglichkeiten auf, aus dem sich herauszusuchen gilt, was hilft, sich in der komplexen Gesellschaft zurechtzufinden. Die Europäische Rundfunkunion (European Broadcasting Union), kurz: EBU, definierte den Grundansatz für die (Erwachsenen-) Bildung im Fernsehen wie folgt: „ Adult education programmes aim to give adults progressive comprehension of a body of knowledge or help them acquire skills in a defined field or equip them better for participation in community life. This should contribute to the development of the individual and increase his understanding of a changing society" (zitiert nach Meyer 1997: 6).

III. 7. Bildung durch Fernsehen

375

Diese verhältnismäßig offene Definition vermeidet eindeutige Festlegungen und öffnet die Bildungsfunktion des Fernsehens in alle denkbaren thematischen und konzeptionellen Richtungen, allerdings mit der Zielformulierung, dass die betreffende Sendung zu einem Reifungsprozess des Zuschauers beitragen soll. Fernsehen bietet Bildung, doch nur selten schematisiert und größtenteils informell wie indirekt. „Ohne das Fernsehen gäbe es einfach kein realistisch-allgemeingültiges Weltwissen", meint der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch (Hörisch 2005: 986). Als „Sinnesmedium" (Hörisch entwirft hier bewusst den Gegensatz zu einem „Sinnmedium" - ebd.) weist es immense Potenziale auf, die für die Vermittlung von wertvoll erachteten Bildungsinhalten gerade auch in bewusster Abgrenzung zu dem klassischen Bildungsmediun Buch nutzbar gemacht werden können (vgl. auch Kozma 2001: 150-157):152 „Sprache stabilisiert, macht gleichförmig, entpersonalisiert. Fernsehen hält Schritt mit allen Veränderungen, ist offen für Vielfalt und erlaubt persönliche Interaktion zwischen jenen, die durch Kameras und Empfänger miteinander verbunden sind. Schrift und Schriftkultur sind hochentwickelt, kompliziert, anspruchsvoll und träge. Fernsehen ist spontan und augenblicksbezogen. Daneben leistet es wissenschaftliche Dienste, für die sich die Sprache nicht eignet. Wir können mit der Sprache keine Dinge erfassen, die wir uns nicht vorstellen können. Wir können in der Sprache keine Abläufe erfassen, die wir auf einem Fernsehschirm modellhaft darstellen und mit denen wir zukünftiges Handeln entwerfen können. [...] Entscheidend ist [...], dass das Fernsehen mit allen seinen möglichen und Anwendungen den nächsten Schritt zu einer Sprache der Bilder vollzieht, die die Möglichkeiten der Computertechnologie und der Vernetzung bewusst mit einbezieht" (Nadin 1999: 247 - Hervorh. im Orig.). Die gedächtnisfördernde Qualität von Bildinformationen für das Erinnern von Wahrnehmungen wurde bereits ausführlich erörtert. Eine Zusammenfassung der expliziten Vorteile von audiovisuellen Medien für den Lernprozess gibt es bei Kittelberger und Freisleben: Filme weisen eine hohe Anschaulichkeit auf, indem sie komplexe Vorgänge mittels bildlicher Darstellung kommunizieren; Filme sind von einer hohen Informationsdichte gekennzeichnet, die in Bild und Ton kulminiert; Filme bieten differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten, weil sie durch das Zusammenwirken von bewegtem Bild und Ton Informationen über eine Vielzahl von Wahrnehmungskategorien vermitteln können; und letztlich hat der Film durch seine differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten eine augenfällige ,Realitätsnähe' und darüber hinaus die Fähigkeit, für das menschliche Auge nicht oder kaum wahrnehmbare Dinge zu audio-visualisieren (Kittelberger/Freisleben 1994: 16-17).

152 Hier soll und muss zugleich Hörisch widersprochen werden, wenn er schreibt: „Nicht jede Botschaft, nicht jede Reflexion, nicht jede Analyse, nicht jede Meinung passt in jedes Medium" (Hörisch 2005: 987). Das bi-sensual wahrnehmbare Fernsehen hat mehr Möglichkeiten als jedes andere Massenmedium, Inhalte zu präsentieren, und zwar durch Adaption nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten und ästhetischen Erfordernissen - und nicht durch bloßes Kopieren, was tatsächlich die intuitive Reaktion auslösen kann: „Das passt nicht recht ins TV-Format" (ebd.).

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Femsehens

Bei der Umsetzung des instruktiven Ansatzes von Fernsehbildung wurde in Nordamerika wie in Deutschland mit der zunehmenden Emanzipierung des Fernsehens und seiner Gestalter auf starr an althergebrachten Lehrkonzepten aus medienfremden Unterrichtsumgebungen orientierte Sendungen verzichtet und Vermittlungsformen vorgezogen, welche die Stärken des Mediums aufgriffen. In den Anfangsjahren hatten weitgehend medienunerfahrene Pädagogen es noch dabei belassen, ihre Erfahrungen aus der Schul- und Weiterbildung auf das Fernsehen zu übertragen. In den USA wurde bereits Anfang der 1960er Jahre die Notwendigkeit erkannt, auf die Übernahme herkömmlicher Unterrichtsmethoden zu verzichten und sich mit der Entwicklung fernsehspezifischer Vermittlungskonzepte zu befassen (vgl. Asheim 1962: 38). „Television is an important, perhaps even necessary, ingredient of high-quality open and distance education, but only when it exploits fully its unique teaching characteristics" (Bates 1988: 213). Die Stärke des Fernsehens als Bildungsmedium liegt in seiner Unabhängigkeit vom staatlichen Bildungsapparat und dessen Bedingungen. Das eröffnet gestalterische Freiheiten und Spielräume für Experimentierfreude bei der Ausarbeitung pädagogischer Ansätze, von denen nicht erst der durchschnittliche Rezipient, sondern auch Lehrkräfte noch etwas für ihre Unterrichtstätigkeit in anderen Institutionskontexten der Bildungsarbeit lernen können (wie beispielsweise auch durch sogenannte „Teleconferences" wie bei PBS - vgl. U.S. Congress, Office of Technology Assessment 1989:41). Aussichtsreich ist Bildung mittels Fernsehenprogrammangeboten schon durch den gegensätzlichen Zugang zu den Bildungsinhalten im Vergleich zur Schule. Während Schulbildung bis zu einer gewissen Altersgrenze einem staatlich reglementierten Zwang unterliegt und sich der Schüler auch bei freiwilliger Fortsetzung des Schulbesuchs nach der Pflichtdauer in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Lehrer und der Schulverwaltung befindet, ist Fernsehbildung von Zwanglosigkeit gekennzeichnet. Der Philosoph Peter Sloterdijk sieht in der Schule „das, was man für immer hinter sich haben möchte" (zitiert nach Kahl 2001:41). So ließe sich mit dem Schulkritiker hypothetisieren, dass Fernsehen in seinem Gegenentwurf freiheitlicher und selbstgeleiteter Bildung ein wichtiger Impulsgeber sein kann, die Schultradition zu überdenken: „Gewöhnlich versuchen wir Bildungsfragen zu verdrängen: Sie gehören zu den unangenehmsten Themen. Mit ihnen verglichen ist das Krankenhauswesen geradezu angenehm und faszinierend, wie die Massenmedien deutlich zeigen. Wir haben endlose Serien von Krankenhaus- und Chefarztfilmen. Die Herren in Grün, die an Körpern herumschneiden, sind zu Helden geworden. Intuitiv würde man sagen, das kann doch nicht sein - etwas so Unangenehmes wie einen Operationssaal möchte man doch nicht abends im Wohnzimmer sehen. Aber nein, man möchte. Das wirklich Unangenehme ist die Schule" (ebd.: 40-41). Sloterdijk wünscht sich von der Fernsehbildung, dass es „Fenster aufmache" und „kreative Personen in voller Aktion" zeige, die einen Lernprozess auch in den Schulen in Gang brächten, der ultimativ zu einer Entprofessionalisierung des Unterrichts führen könne (vgl. ebd.: 45). Doch auch solche Szenarien sind nur denkbar, wenn es gelingt, den Re-

III. 7. Bildung durch Fernsehen

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zipienten in seiner selbstbestimmten Nutzung dort abzuholen, wo er sich entwicklungsphysiologisch, intellektuell und emotionell befindet. Über einen Kamm scheren lassen sich die Zuschauer ohnehin nicht - für die Bildungsarbeit, die im Fernsehprogramm monologisch erfolgen muss und nur zeitversetzt auf Rückmeldungen eingehen kann, ein inkrementelles Problem. Fernsehen kann nie mehr sein als Angebot, allenfalls ein „zumutbares Angebot" (vgl. Hackenberg 2008: 189), da es nicht in der Gewalt des Mediums liegt, seine Instruktionen auf Rezipientenseite umzusetzen. Der Lernprozess ist von Seiten der Produzenten nicht steuerbar und der Lerneffekt nur dann zu kontrollieren, wenn eine Sendung durch entsprechende Forschungsbemühungen begleitet werden. Weil Fernsehbildung immer auch Massenbildung ist, muss oftmals die Einschaltquote als alleiniges und trügerisches EfFektivitätsmerkmal des Lernerfolgs dienen; doch kann anhand der Nutzung einer Sendung allenfalls geschlussfolgert werden, wie beliebt sie im Vergleich zu anderen gleichzeitigen Programmangeboten gewesen ist, nicht aber der Umfang des angeeigneten Wissens. Der Rezipient kann sich dem auch noch so lehrreichen Programm jederzeit entziehen. Der Erziehungsphilosoph Achim Hackenberg sieht die Massenmedien daher auch nicht in der Lage, konkrete Lernvorgaben beim Rezipienten umzusetzen: „Die Trivialmaschine .Zögling', welche für die Interaktion zwischen Erzieher bzw. Lehrer und Zögling als simples Modell noch praktikabel erscheinen mag, ist nun bei der Kontrolle einer massenmedialen Kommunikation nicht mehr brauchbar. Denn die besondere Form der Kommunikation als selbstzugeschriebenes Verstehen bietet nur durch mediale Instruktionsmuster Interventionsmöglichkeiten an. Diese werden aber in der Regel [...] .selbstzugeschrieben verstanden und könnten innerhalb des Rezeptionsprozesses nicht durch das Medium, sondern nur durch den Rezipienten reguliert und gesteuert werden" (Hackenberg 2008:185-186). Ausschlaggebend für die erfolgreiche Aneignung eines Bildungsangebotes sind das Interesse und der Lernwillen des Zuschauers. Die gewachsene Vielfalt des Fernsehangebots ist diesbezüglich des Bildungsfernsehens mächtigster Konkurrent. Dezidierte Bildungsinhalte sehen sich bei wachsender Komplexität der Programmstruktur einer immensen Zahl von Alternativen gegenüber. Wie Hasebrink zusammenfasst, können die vielseitigen Gratifikationsanforderungen der Zuschauer durch die Vielfalt von Fernsehangeboten befriedigt werden, wobei die Rezipienten sich dabei wesentlich schon bei der Zusammenstellung ihrer „television menus" unterscheiden (Hasebrink 1997:139), was eine Fluktuation in der Nutzung wahrscheinlich macht und für die pädagogische Konzeption einer Sendung eine grundsätzliche Unsicherheit bei Fragen der Vorbildung oder der Lernkapazitäten im Publikum zur Folge hat. Bildung im Fernsehen muss also attraktiv sein, um Zuschauer zum Lernen zu animieren. Gleichzeitig muss sie intellektuell barrierefrei zugänglich gemacht werden, was es für die Programmgestalter schwierig macht, Wissen vorauszusetzen und die Vermittlungsart und nicht zuletzt deren Geschwindigkeit zu tarieren. Die Programmveranstalter müssen sich entweder an diejenigen Zuschauer wenden, die zu lernen gewillt sind, oder sie müssen Zuschauer zum Lernen verleiten. Hierbei

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

sind zwei maßgebliche Ansätze zu unterscheiden: Fernsehbildung kann entweder Strategien formeller (Schul-) Bildung folgen oder seine Inhalte informell kommunizieren. Dies muss nicht zwingend faktuell geschehen, sondern kann sich auch fiktionalen Motiven bedienen. 7.3.1. Formelle Bildungsangebote

des Fernsehens

Fernsehveranstaltern ist es zwar nicht möglich, auf den Rezeptionsvorgang ihrer Sendungen Zwang auszuüben. Dennoch haben sich mehrere Formen formeller Bildungsangebote entwickelt, die im Rahmen institutionalisierten Erwachsenenbildung in ein betreffendes Curriculum integriert sind und obligatorisch rezipiert werden müssen, um einen Lernerfolg zu erzielen und nachweisen zu können. Indem die Rezeption einzelner Fernsehsendungen im Unterrichtszusammenhang zur Auflage gemacht wird, um beispielsweise einen Bildungsabschluss zu erhalten, wurde das Medium zu einem anerkannten Instrument in der Bildungsarbeit. Schorb differenziert im Anschluss an Hüther (1979) zwischen drei Sendeformaten, die dem formellen Bildungsbereich zugerechnet werden können: Kontextprogramme, Kursprogramme und Lehr- bzw. Lernsysteme (Schorb 1994: 208-211): Unter Kontextprogrammen sind Schulfernsehprogramme zu verstehen, die in Nordamerika wie in Deutschland eine lange Tradition haben und - mit unterschiedlichem Erfolg - zur Unterstützung des Unterrichts in klassischen Bildungsinstitutionen eingesetzt werden. In Deutschland werden solche Sendungen seit jeher größtenteils im Vormittagsprogramm der öffentlich-rechtlichen Dritten Programme ausgestrahlt. Heute verfügen noch der Bayerische Rundfunk, der Südwestdeutsche Rundfunk, der Westdeutsche Rundfunk, der Hessische Rundfunk sowie der Rundfunk Berlin-Brandenburg über ein solches Lehrangebot. Teilfinanziert von den Bildungsbehörden, ist das Schulfernsehen gebunden an die Lehrpläne, die von den Kultusministerien erstellt werden. Die spezifische Leistung der Kontextprogramme besteht darin, den Schülern über den Schulunterricht hinaus anschauliche Anknüpfungspunkte aus dem Alltagsleben zu geben, damit schwierige Sachverhalte besser verstanden werden können. So war in 2008 in „Planet Schule", dem Kooperationsprogramm von SWR und WDR, unter anderem die gefährliche Einnahme von Anabolika durch Jugendliche ein Thema, das in Form einer lebensnahen Erzählung mit Laiendarstellern vermittelt wurde. Eine vollwertige Kompensation für Bildungsversäumnisse an den Schulen, wie mancherorts durch den Lehrermangel Mitte der 1960er gehofft wurde, konnte das Schulfernsehen aber nicht leisten (vgl. Meister 2004: 484). In Nordamerika wurde Schulfernsehen schon früh ab 1952 zu einem wichtigen Bestandteil des Unterrichts an High Schools, Colleges und Universitäten (vgl. Knowles 1960: 316). Im Vordergrund stand der instruktive Nutzen für den Schulunterricht (vgl. Saba 2003: 6). Während die Programme in West-Deutschland in überwiegendem Maße einer freiwilligen Nutzung unterlagen und durch schlechte Geräteausstattung in den Schulen nur ein „Schattendasein" (Schorb 1994: 209) führten und nicht zu der erhofften

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„curricularen Innovation" (Meister 2004:484) führten, anders als in der DDR, wo sie fest in den Schulunterricht integriert wurden, waren die audiovisuellen Vermittlungsangebote durch zentrale Bildstellen in den USA für Lehrer ein populäres Mittel, um ihre Schülern an bestimmte Themenbereiche auf medial aufbereitete Weise heranzuführen. Die Sendungen folgten überwiegend dem Direct-Teaching-Modell, das den Lehrer für die Lauflänge des Programmmoduls ersetzen sollte (vgl. Graf 2002: 2375). Als Grund für die Popularität galten die „schier unbegrenzte[n] Möglichkeiten", die dem Fernsehlehrer in Form von Grafiken, Filmausschnitten, Animationen und sonstigen pädagogischen sinnvollen Hilfsmitteln zur Verfügung standen, auf die nicht jeder Lehrer ohne weiteres im Klassenraum zugreifen konnte (vgl. Joeressen 1961). Dies hatte sogar teilweise zur Folge, dass der virtuell anwesende Lehrkörper für die Schüler zur wichtigen Bezugsperson wurde: „Für die Schüler ist der Studiolehrer bald eine bekannte Persönlichkeit, der man mit der gleichen Ehrfurcht begegnet wie der Filmdiva und dem Starreporter" (ebd.). In Kanada wurde Schulfernsehen zunächst durch Lokalsender und Bildungseinrichtungen auf regionaler Ebene vorangetrieben und stieß eine rege Diskussion um die Vor- und Nachteile televisueller Produktionen in die Bildungsarbeit an (vgl. Shobe 1986: 217). Mit sogenannten Kursprogrammen bezeichnet Schrob weiterhin Sendungen wie Sprachkurse, die als eigenständiges Format im Medienverbund konzipiert werden. Das crossmediale Angebot von Fernsehinhalten, Begleitmaterialien in gedruckter Form und Kursen an der Volkshochschule wendet sich zuallernächst an Erwachsene, die sich weiterbilden wollen, steht aber generell jeder Altersgruppe offen (vgl. Schrob 1994:210-211). Shobe unterstreicht entgegen dem sich tatsächlich einstellenden Lerneffekt die Motivationswirkung, die von solchen Kursen ausgehen kann: „[A] number of individuals are enticed to re-enter the education system in order to systematically strengthen and expand their formal educational backgrounds. These significant and desirable spin-offs form telecourses may ultimately be as important as or more important than the direct instructional impact on registered telecourse students" (Shobe 1986:221). Bei den eigenständigen Lehr- bzw. Lernsystemen handelt es sich um Programme wie das „Telekolleg" in Deutschland oder bestimmte „Telecourse"-Angebote an nordamerikanischen Universitäten. Der entscheidende Unterschied zu anderen Kurs- oder Kontextprogrammen ist die vollwertige Eingliederung von Fernsehproduktionen in ein formales Bildungsprogramm, an dessen Ende der Teilnehmer ein staatlich anerkanntes Abschlusszertifikat erhält. Mit dem „Telekolleg" kann in Deutschland in den Bundesländern Bayern, Brandenburg und Rheinland-Pfalz die Mittlere Reife, also ein Realschulabschlussäquivalent, sowie die Fachhochschulreife erworben werden. Dabei werden eigens erstellte Fernsehsendungen mit Begleitunterricht, Kontextmaterialien und neuerdings auch Internet-Angeboten kombiniert, um vorrangig Erwachsenen, die im Berufsleben stehen, eine weiterführende Qualifikation zu ermöglichen. „Telecourses" in Nordamerika werden vornehmlich von lokalen Fernsehstationen und von Universitäten sowie Weiterbildungsinstitutionen eingesetzt, um Studenten, Arbeitstätigen, aber auch Senioren

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

einen Zugang zu Bildungsprogrammen zu ermöglichen, ohne jedesmal physisch in einer Lehreinrichtung erscheinen zu müssen (vgl. Moore 1995: 33). Solche in sich geschlossenen „distance education classes" treffen sich je nach Länge des Programms nur ein bis wenige Male zu gemeinsamen Evaluationsgesprächen beispielsweise auf dem Campus, um Zielvorgaben abzustimmen und Probleme zu erörtern. 7.3.2. Informelle Bildungsangebote des Fernsehens Sein Attraktionspotenzial vermag das Fernsehen in ergiebigster Variationsbreite durch informelle Bildungsangebote zu entfalten. Es gilt, den Wirkradius der jeweiligen Botschaften zu vergrößern und solche Kohorten anzusprechen, die sich üblicherweise nicht oder nur wenig für ausgewiesene Bildungsprogramme empfänglich zeigen. Unter dem mehrdeutigen Begriff des „enrichment programming" werden Sendungen gefasst, die im weitesten Sinne des Wortes zur Bereicherung des Rezipienten beitragen und zu dessen Persönlichkeitsentwicklung beitragen sollen. Die prinzipielle Offenheit macht den Begriff zwar vage, wirkt aber auch einer hinderlichen Schematisierung entgegen. „Populär entertainment programs such as Masterpiece Theater, public affairs and news programs such as Frontline and The MacNeil/Lehrer News Hour, and nature programs such as Nova all attempt to meet the requirements of ETV as defined by broadcast law in the United States" (Zechowski 2004b: 790 - Hervorh. im Orig.). Kurzum: Jeglicher Fernsehinhalt kann, sollte entweder die Intention des Produzenten oder die Wahrnehmung des Rezipienten in diese Richtung tendieren, zum „enrichment" beitragen. Sendungen, die sich der Bildung des Zuschauers verschrieben haben, sind leicht der Gefahr ausgesetzt, als Top-Down-Kommunikation (miss-) verstanden zu werden (vgl. Sood 2002: 167), auch weil der Zuschauer Bezüge zum Lehrer-Schüler-Verhältnis herstellen mag, die (freilich nicht immer) unangenehme Konnotationen hervorrufen können. Die Negativpotenziale eines solchen Verlaufs lassen zuweilen die Attraktivität von Bildungsinhalten im kommerziell finanzierten Programm sinken. Ein Ausweg besteht in der Entwicklung von „Edutainment"-Formaten (vgl. Reinhard 2005), die entweder den Spaßfaktor beim Lernen akzentuieren oder erst die Entdeckungslust, also die Lernbereitschaft wecken sollen. So bekannte wie langlebige Erfolgssendungen wie die Endlosreihe an Rateshows (u.a. in Deutschland „Der Große Preis", „Wer wird Millionär"; in den USA: „Jeopardy", „Truth or Consequences", „Quiz Kids"), Ratgebersendungen wie „Hobbythek" oder ganze Sender wie der US-amerikanische „Discovery Channel" oder das „Do It Yourself "-Network sind nur einige wenige Beispiele für die starke Stellung, die Edutainment im Laufe der Fernsehgeschichte zuteil wurde. Welche Lerneffekte sich dagegen durch dieses reichhaltige Angebot einstellen, ist mehr als fraglich. Wie der WDRWissenschaftsjournalist Alexander von Cube am Beispiel der Wissenschaftssendung „Knoff Hoff-Show" (ZDF) argumentierte, sei es für die Verdeutlichung wissenschaftlicher Sachverhalte von Nachteil, wenn sie zum „Zirkus" verkäme (Cube 1994: 149). Von Cube bemängelte hier eine seiner Ansicht nach nicht ausreichende Aufklärung über die Hintergründe der vorgeführten physikalischen Experimente, deren Verzicht er darauf

III. 7. Bildung durch Fernsehen

381

zurückführt, dass der Showeffekt offenbar nicht beeinträchtigt werden solle. Spätere Wissenschaftsshows in derselben Tradition setzten noch deutlicher auf humorvolle Präsentation und Spielelemente wie beispielsweise „Clever" (Sat.l) mit dem ehemaligen „Samstag Nacht"-Komiker Wigald Boning (vgl. Boning/Eligmann 2006; Boning/Eligmann 2007). So lädt Edutainment ein Spannungsfeld auf zwischen Faszination und Verständlichkeit. Solcherart entertainisierte Bildungsarbeit gereicht zwecks Maximierung der Reichweite eher zur Unter- als zur Überforderung des Fernsehnutzers und entscheidet den Widerstreit zwischen Unterrichtung und Unterhaltung nicht selten zugunsten der Letzteren, was Alexander von Cube auch auf die geläufige Rezeptionssituation von Fernsehprogrammen zurückführte: Schon das Fernsehumfeld, das zur Zerstreuung, also zur Ablenkung und zum beliebigen Umschalten einlade, wirke wie eine „Membran", die nur den Unterhaltungsreiz durchlasse und die Unterweisungsabsicht unterdrücke: Der Teil des Publikums, der sich tatsächlich für die Lerninhalte interessiere, werde dadurch eher abgeschreckt und der Lerneffekt eingeschränkt (vgl. Cube 1994: 156). Die Saturiertheit von Staaten wie den USA und Deutschland mit massenmedialen Angeboten mag eine Ursache dafür sein, dass der Wettbewerbsdruck auch im Bildungssegment des Fernsehprogrammbetriebs angestiegen ist und sich daraus Probleme für die ausgewogene Planung und Platzierung von zielgruppengerechter Unterhaltungsbildung ergeben (Sherry 2002: 207). Ungeachtet dessen erfährt seit den 1990er Jahren vermehrt eine Strategie weltweite Beachtung, die im Gegensatz zum unspezifischen und daher störungsanfälligen Edutainment in enger Zusammenarbeit mit Fachpersonal aus Bildungseinrichtungen sicherstellen soll, dass auf dezidiert mit pädagogischen Absichten verbundene Weise konkretes Wissen an den Zuschauer herangetragen wird, ohne dass dieser notwendigerweise von der Lehrabsicht Notiz nimmt, sondern den Bildungsinhalt als originäres Charakteristikum einer unterhaltsamen Erzählung versteht und sich von der als wertvoll bzw. vernünftig erachteten Botschaft beeinflussen lässt, weil bei seiner Wahrnehmung keine Distanzierungs- oder Exklusionsmechanismen greifen. Singhai und Rogers bezeichnen diese Art informell-kontextualisierter Bildung als „entertainment-education": „Entertainment-education is the process of purposely designing and implementing a media message to both entertain and educate, in order to increase audience knowledge about an educational issue, create favorable attitudes, and change overt behavior. This strategy uses the universal appeal of entertainment to show individuals how they can live safer, healthier, and hapiier lives" (Singhal/Rogers 1999, xii). Beispiele für eine erfolgreiche Implementierung von instruktiven Botschaften in Unterhaltungsformate sind zum Beispiel die Aufklärung junger Zuschauer über die Notwendigkeit von Hautkrebsfürsorge in der populären Serie „Beverly Hills 90210" oder die Problematisierung der .Pille danach' in der nicht minder quotenstarken Arztserie „Emergency Room" (vgl. Harris/Cady/Tran 2006: 78). Die Hauptthemenfelder der Entertainment-Education kommen entsprechend aus dem medizinischen Sektor wie Fortpflanzungsgesundheit und HIV-Prävention, häufig ergänzt um das kontroverse Thema der

382

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

Familienplanung, doch stehen vermehrt auch weitere drängende Themen wie solche, die das soziale Miteinander betreffen, auf der Agenda (Singhal/Rogers 2002:133). Zuschauer können sich in einer unterhaltsamen Erzählung wiederfinden und Lösungsvorschläge, welche von den Fernsehcharakteren anhand konstruierter Problemfälle demonstriert werden, für ihre eigene Situation adaptieren (Sood 2002:167).

7.4.

Kinderfernsehen

Fernsehen für Kinder war und ist wegen der befürchteten Negativeffekte auf ihre geistige Entwicklung eine hochsensible Angelegenheit. Selten gelingt es einer Produktion, ungeteilten Zuspruch zu erhalten, vor allem wenn es sich um die Erprobung neuer Bildungskonzepte handelt. In der Regel gibt es Vorbehalte gegenüber Formaten, die mit innovativen Vermittlungsansätzen aufwarten, aber durchaus auch gegenüber solchen, die als veraltet geltende Methoden aufgreifen. Nach dem „Sputnik-Schock"153 von 1957 setzte jedoch in Nordamerika und auch in der Bundesrepublik ein breites Umdenken hinsichtlich des Bildungspotenzials des Fernsehens für Kinder ein, und mehrere einstmalige ,Hardliner' unter den Pädagogen, die das Fernsehen zu verteufeln gewohnt waren, machten eine Kehrtwende und gerierten sich als Pioniere des erzieherischen Kinderfernsehens (vgl. Kübler 1994: 359). So wurden Sendungen wie „Rappelkiste" (ZDF), deren Abzählreim aus dem Vorspann auch noch lange nach Einstellung der Sendung im Jahre 1984 im allgemeinen Sprachgebrauch vorkam, zu Wegbereitern eines ungezwungenen, manchmal auch provokanten Umgangs mit pädagogischen Zielsetzungen (vgl. Lutz-Saal 1998: 165): „Ene meene miste / Es rappelt in der Kiste / Machste

mal zu Hause Krach / Kriegste

gleich eins aufs Dach / Willste übern Rasen laufen / Mußste dir ein Grundstück / Spielste mal im Treppenhaus

/ Schmeißt

meek / Und du bist weg/Eins,

zwei, drei...

dich gleich der Hauswart ich

raus / Ene

kaufen mene

komme!"

Spätestens seit den 1970er Jahren wurde Kinderfernsehen in Deutschland allgemein positiv als „Gesellschaftslehre für Kleinkinder" begriffen (vgl. Schneider 2004: 219), avancierte gar zum „bildungspolitischen Nothelfer" (Stötzel 1990: 232). Besondere Berücksichtigung bei der Konzeption von Bildungsformaten für das Kinderfernsehen findet traditionell die Altersgruppe der Vorschulkinder. Sie sind es aber auch, denen gleichsam die Sorge gilt, sie könnten durch die seit den 1990er Jahren umgreifenden Kommerzialisierungstendenzen und die Degradierung des Kinderfernsehens zum marktwirtschaftlich verfassten Zielgruppenfernsehen Schaden nehmen. In Deutschland stehen traditionell die Privatsender in der Kritik, das „Kind als Kunde" zu begreifen 153 Der betreffende Schock resultierte aus dem überraschenden (Bildungs-) Vorsprung der Sowjetunion bei der Eroberung des Weltraums, wodurch die Bildungsproblematik sowie das Wettrennen um Qualifikationen zu einem Bestandteil des Kampfes zwischen Blockstaaten des Westens und des Ostens während des Kalten Krieges wurde.

III. 7. Bildung durch Fernsehen

383

(vgl. Hollstein 1998: 182) und es nicht auf dessen Wohl, sondern auf seine Kaufkraft abgesehen zu haben. Aus ökonomischen Beweggründen finden sich in kommerziellen Fernsehprogrammen vermehrt Kaufproduktionen aus dem Ausland, vor allem Importe aus USA. Beispiele hierfür sind die Trickserien „Ghostbusters" (Tele 5), „Familie Feuerstein" (Sat.l) oder „Transformers" (RTL); Letztere feierte auch mit einer breiten Palette an Begleitprodukten Erfolge wie mit Actionspielfiguren, die entsprechend der Darstellung im Fernsehen in Tiere, Autos oder sonstige Maschinen umgebaut werden können. Der starke Vermarktungsfokus bei der Programmpräsentation einschließlich Werbeblöcken, die speziell auf Kinder zugeschnittene Spots enthielten, wurde mit einer pessimistischen Beschreibung der Gesamtsituation des Kinderfernsehens bedacht: „Fernsehen hat einen Wandel vollzogen, vom Primärmedium mit Bildungsanspruch zu einem Sekundärmedium mit Unterhaltungsfunktion. Ob Bim Barn Bino, die .Morgenschiene' am Wochenende bis hin zum KRTL-Programm mit den Power Rangers, das möglichst noch vor der Schule konsumiert wird: Niemand fragt mehr ernsthaft nach pädagogischem Nutzeffekt (ausgenommen in Diplom- und Magisterarbeiten pädagogischer Fakultäten)" (Stötzel 1998: 223 - Hervorh. im Orig.). Längst vergessen zu sein scheinen die zahlreichen Formate, die „Verzauberung auf Zeit" boten, um das Unterhaltungsbedürfnis von Kindern bei der Vermittlung von Inhalten mit einzubeziehen (vgl. Erlinger 1998: 134). Zweifellos hatten auch Sendungen wie die vielseitigen Produktionen aus dem Hause Disney oder andere von den öffentlich-rechtlichen Anstalten ausgestrahlten Serien wie „Pan Tau", „Biene Maja" oder „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt" in erster Linie unterhaltenden Charakter. Ihren herausgehobenen Stand in der Fernsehgeschichte erhielten sie durch ihren ästhetischen und kindgerechten Mehr-, das heißt Nährwert, der meist auch moralische Tugenden wie Loyalität und Toleranz implizierte und sie von standardisierten Film- und Fernsehprodukten der international florierenden Kinderunterhaltungsindustrie absetzte. Wer sich an „Michel aus Lönneberga", „Pippi Langstrumpf" oder die „Kinder aus Bullerbü" erinnert, tut dies im Kontext der ambitionierten Tradition von Kinderbuchadaptionen der schwedischen Schriftstellerin Astrid Lindgren, die durch ihre mit erzieherischen Motiven gespickten Geschichten über Jahrzehnte das Kinderfernsehen in Deutschland prägte (vgl. Lindenschmidt 1998). Kaum anders wird es sich bei der Reminiszenz an das „Sandmännchen" verhalten, das auf eine deutsch-deutsche Fernsehvergangenheit zurückblickt (Stock 1998: 94-96; vgl. auch Petzold 2008). Gleich ob Zuschauer vor der deutschen Wiedervereinigung eher den Abendgruß aus der DDR oder der BRD bevorzugten, wurden das Ost-Sandmännchen und seine Mitstreiter Schnatterinchen, Pitti Platsch, Herr Fuchs und Frau Elster usf. nach der Wende zu Symbolen einer abgeschlossenen DDR-Vergangenheit und Kristallisationspunkt nostalgischer Erinnerungen (vgl. Neiler 2006: 53; zum Nostalgie-Phänomen vgl. auch Kapitel III.9.2.3.).154

154 Die Sendung „Das Sandmännchen", welche in der ARD und den Dritten Programmen zu sehen war, wurde 1989 nach vierzig Jahren regelmäßiger Ausstrahlung und zahlreichen neuen

384

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Fernsehfiguren können wie im Fall der „Teletubbies" (vgl. Neuß/Koch 2001) schon f ü r Klein- u n d Kleinstkinder zu Weggefährten werden, die sie bei der Vorbereitung u n d dem Eintritt in die soziale Umwelt begleiten u n d auch noch viele weitere Jahre für eine enge Bindung sorgen, was sich in Fandom, aber auch durch angenehme Erinnerungen an die Titelmelodie des Sandmanns oder die Rededuelle zwischen Ernie u n d Bert aus der Sesamstraße ausdrücken kann. Seit seiner G r ü n d u n g im Jahre 1968 entwirft u n d produziert die gemeinnützige Organisation „Children's Television Workshop" (heute „Sesame Workshop") televisuelle Bildungsprogramme für Kinder, die weltweit vermarktet werden u n d in den USA ab 1969 auf PBS ausgestrahlt werden. Die Namensänderung im Jahr 2000 erfolgte aus globalen Vermarktungsgründen der mit Abstand erfolgreichsten Formatschöpfung des Workshops: Der „Sesame Street",155 einer auch in Deutschland seit Anfang der 1970er Jahre bekannten u n d bei Kindern im Vorschulalter äußerst beliebten Sendung, die mit einem Ensemble aus Puppen u n d erwachsenen Darstellern mit deutlich erkennbarem pädagogischen Impetus Lerninhalte mittels spielerischer u n d narrativer Inszenierung vermittelte. „Stringent geplant, wissenschaftlich geprüft u n d strategisch lanciert wurde ,Sesame Street' von vornherein als umfassendes Multi-Media-Projekt angelegt, das alle Errungenschaften u n d Vorteile der Kinderklutur in sich vereinigt: Phantastische Puppen (Muppets) fungieren als Leitfiguren u n d Stars der Serie, erwachsene Realfiguren verkörpern freundliche, immer Verständnis u n d Toleranz zeigende Vorbilder" (Kübler 1994: 360). „Although we did not camouflage Sesame Street's educational content, we did try to make it as inviting and amusing as we could. In doing so, we rejected the ideas that learning is not learning unless it hurts, that children never do what is good for them unless they are forced to, and that entertainment (acceptable as a temporary relaxation earned by diligent work but not really good for you) competes with education (which is good for you, but is earnest and hard). We relied instead on the children's personal initiative to watch what is interesting (even while being educational) and ignore what is not. It worked. Children watched in numbers that we had not guessed were possible" (Lesser 1974: 236). Die „Sesamstraße" machte das öffentliche Fernsehen in den USA salonfähig, war es doch zuvor nicht mehr als ein Nischenangebot für höher gebildete Zuschauerschichten (Polsky 1974:107). Bis zu acht Millionen Vorschulkinder verfolgten die allwöchentlichen Sendungen bereits in den ersten Jahren, u n d auch etwa 40 Jahre später hat sich diese hohe Zuschauerzahl bestätigt (Lesser 1974: 204; Sesame Workshop 2008). Die strikte Orientierung an einem Lehrplan, umgesetzt in Zusammenarbeit von Fernsehproduzenten, Pädagogen, Wissenschaftlern, (Entwicklungs-) Psychologen u n d Kulturschaffenden, sollte als Vorbereitung der fernsehenden Kinder auf ihre Schullaufbahn Figurmodellierungen eingestellt. Ab 1992 griffen ORB, NDR, MDR und SFB die vormalige Sendung des DFF „Unser Sandmännchen" für die deutschlandweite Ausstrahlung auf. 155 Aufgrund der erfolgreichen Adaption und die Bekanntheit des Formats im deutschen Fernsehen wird auch die US-amerikanische Originalsendung im Folgenden als „Sesamstraße" bezeichnet.

III. 7. Bildung durch

Fernsehen

385

dienen (Collins 2004: 2056). Mit der Engagierung junger Publika in der para-sozialen Lernsituation des televisuellen Umfeldes sollten ausdrücklich die kognitiven Fähigkeiten der Kinder trainiert werden, woraus sich folgende Lehrfelder ergaben: „Abc, Zahlen, Wortschatz, Symbolverständnis, Wahrnehmung, Ordnen, logisches Denken, Wissen über die Umwelt" (Paus-Haase 1998: 208). Die „Sesamstraße" gehört dies- wie jenseits des Atlantiks zu den am ausführlichsten von Forschungsanstrengungen begleiteten Kindersendungen. In den USA wurden über 1.000 Studien zur Wirksamkeit des Lernansatzes bei der Rezeption der Sendung durchgeführt (Collins 2004: 2057). Die Mehrzahl der Ergebnisse belegte leistungssteigernde Lernerfolge in den zentralen Vermittlungszielen. Der Direktvergleich zwischen sozial benachteiligten und sozial begünstigten Kindern nach dem ersten Ausstrahlungsjahr ergab einerseits enorme Zuwächse in der Lernleistung durch die regelmäßige Rezeption der „Sesamstraße" andererseits aber auch einen etwas höheren Wert bei den sozial schwachen Kindern, weshalb von einer kompensatorischen Funktion der Sendung ausgegangen wurde (vgl. Ball/Bogatz 1970; Schleicher 1972: 31-32). In Deutschland konnten diese optimistischen Ergebnisse später nicht bestätigt werden; hier zeigte sich eher eine supplementäre Bildungsfunktion der „Sesamstraße", die sich erst bei der Lernbegleitung durch die Eltern und durch die individuellen Bildungsvoraussetzungen des Kindes positiv einstellte und daher die These von der wachsenden Wissenskluft zwischen sozialen Bildungsschichten bereits im Kindesalter zu unterfüttern schien (vgl. Paus-Haase 1998: 210). Trotz des bahnbrechenden Erfolges der „Sesamstraße" wurde die pädagogische Strategie des „Children's Television Workshop" mit grundlegender wie substanzieller Kritik bedacht. Die Konzentration auf behavoristische Lehrmethoden, das stete Wiederholen von Wissenselementen im Stakkatotakt (vgl. Paus-Haase 1998: 208), sei zu beschränkt und trage nicht zur ganzheitlichen Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes bei, sondern im Gegenteil: Es würden Kenntnisse anstatt Erkenntnisse generiert, das Kind werde also nicht gebildet und zum Fragen und kreativer Spontaneität animiert, sondern durch vorgefertigte Antworten auf kognitive Leistungssteigerung getrimmt (vgl. Schleicher 1972: 71). Der US-amerikanische Erzieher John Caldwell Holt sah den wesentlichen Makel des Sendekonzeptes in dieser frappierenden Ähnlichkeit zur herrschenden Schulideologie, die beim Schüler Angst erzeuge, die falsche Antwort zu geben, wodurch er nach und nach das Interesse an formeller Bildung unter der Hoheit von Erwachsenen verliere: ,,[L] earning on ,Sesame Street,' as in school, means learning Right Answers, and as in school, Right Answers come from grown-ups" (zitiert nach Hilliard 2001: 105). Die Produzenten verteidigten sich indes damit, dass auch die „Sesamstraße" nicht mehr sei als eines jener Bildungsexperimente, welche das Fernsehen brauche (und nicht müde werde zu brauchen), um neue Wege in der Bildung von Kindern im Vorschulalter zu erkunden und selbstkritisch das eigene Vorgehen in Bildungsdingen zu hinterfragen (vgl. Feinstein 1972: 109). In Deutschland setzte sich bereits in der Anfangszeit der Formatadaption die Auffassung durch, dass die kognitive Frühförderung nicht die erwünschten Ergebnisse für die

386

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Persönlichkeitsentwicklung des Kindes bringen könne, wenn sie nicht in den übergeordneten Zusammenhang des sozialen Lernen gestellt werde (vgl. Paus-Haase 1986: 500). Dennoch wurde noch nach Ende der dritten Sendestaffel im Jahr 1980 kritisiert, dass die „filmische Realität" größtenteils nicht mit der „kindlichen Realität" zusammenhänge und „nur ganz selten" eine persönliche Betroffenheit und damit Interesse beim jungen Zuschauer ausgelöst werde (Scherell/Jacobi 1980: 297). Zurückgeführt wurde dieser Kritikpunkt auf die hohen Produktionsanteile von Beiträgen, die ressourcenbedingt aus dem US-amerikanischen Original synchronisiert übernommen wurden und bisweilen einen starken Kontrast zur pädagogischen Ausrichtung der deutschen Beiträge bildeten: „Amerikanische Spots, die soziale Lernziele z.B. in Märchenfilmen transportieren sollten und wenig geeignet waren, Kindern zur Selbständigkeit im Alltag zu verhelfen, standen beziehungslos neben deutschen Realfilmen, die sich an der Lebenswelt ihrer jungen Zuschauer orientieren und ihnen, wie etwa in den Geschichten um den neunjährigen Bumfidel, einen aufgeweckten lausbübischen Jungen, Hilfestellungen anboten, ihren Alltagsproblemen mutig zu Leibe zu rücken und ihre Ziele hartnäckig zu verfolgen" (Paus-Haase 1998: 208). Gleichwohl wurde die „Sesamstraße" in Nordamerika und in Deutschland zu einem beispiellos langlebigen und erfolgreichen Aushängeschild der Kinderunterhaltung mit pädagogischem Mehrwert,156 das für viele Generationen von Kindern unvergessliche Fernsehikonen schuf - wie Samson, Tifiy, den misslaunigen Herrn von Bödefeld, aber auch beliebte Akteure wie Lilo Pulver, Henning Venske, Uwe Friedrichsen und Horst Janson, die den „deutschen Kindern [...] die Hand zu einer dauerhafteren Freundschaft" reichten (ebd.: 209) - und nicht müde wurde, neben der kognitiven Stimulation auch pro-soziales Verhalten zu propagieren. Eine ähnlich steile Karriere vollzog - in Deutschland - auch die „Maus", die zum 25jährigen Jubiläum der „Sendung mit der Maus" zur Popikone stilisiert wurde und einen eigenen Soundtrack aus Feder und Kehle des Fernsehkomikers und Moderators Stefan Raab auf ihren orangen Zeichentrick-Leib geschrieben bekam. Seit 1973 auf Sendung, präsentiert die zuständige Redaktion um den Regisseur, Produzent und Autor Armin Maiwald Beiträge, deren „kindgerechte, leicht verständliche und unterhaltende Aufbereitung von Wissensbeständen auch bei Erwachsenen auf positive Resonanz stößt" (Weber 2005: 19). In Magazinform wechseln sich sogenannte „Lach- und Sachgeschichten" ab. Die behandelten Sachthemen befassen sich vorrangig mit Fragen nach dem Ablauf einer Produktion von Gegenständen (von A wie Armbanduhr bis Ζ wie Zucker) oder mit Be-

156 Die Kinderfernsehserie „Mister Roger's Neighborhood", in der das Augenmerk auf die Vermittlung pro-sozialen Verhaltens gelegt wurde und Themen wie der Umgang mit dem Tod vorkamen (vgl. Sharapan 1977), hat eine um eineinhalb Jahre längere Sendegeschichte im US-Fernsehen (Start im Jahre 1968). Die Vorläufersendung „MisteRogers" wurde sogar schon seit 1962 im kanadischen Fernsehen ausgestrahlt. Auch heute noch wird die Alltagsnähe der Sendung als wesentliches Erfolgskriterium bei der sendungseigenen Form von Bildungsarbeit verstanden (vgl. Zelevansky 2004).

III. 7. Bildung durch

Fernsehen

387

obachtungen allerlei Art: von Arbeitsprozessen, Gegenständen oder Maschinen bis hin zu Menschen (z.B. bei Arbeitstätigkeiten oder Kinder aus anderen Ländern) und Naturphänomenen, einschließlich dem Verhalten von Tieren157 (vgl. Stötzel 1990: 37-39). Die Aufbereitung der Beiträge war bewusst frech und erfindungsreich gestaltet, wollte man sich doch von dem vordergründigen Bildungsanspruch des klassischen Kinderfernsehens abgrenzen. Diese Provokation dominanter Pädagogikkonzepte gipfelte in dem lapidaren Ausspruch des Kreateurs der Sendung, Gert Müntefering: „Kinderfernsehen ist, wenn Kinder fernsehen" (Müntefering 1984: 69). Ganz so einfach machte es sich die Redaktion der „Sendung mit der Maus" nicht, sträubte sich aber gegen eine pädagogisch-didaktische Festlegung ihrer Arbeit. Unter dem Motto „Fernsehen für Fernsehanfänger" (vgl. Stötzel 1990: 49-50)158 wurde ein Weg gefunden, Alltagsfragen auf unterhaltsame Weise zu beantworten und in ihren Hintergründen selbst für gebildete Erwachsene schwer durchschaubare Themen wie die Ablaufprozesse des Internets oder wie ein Turnhallenfußboden gebaut wird, zu veranschaulichen. Was en détail aufgegriffen wird, entscheidet die Redaktion auf Basis von Zuschauervorschlägen und eigenen Themenrecherchen. Zur Auflockerung der Sachgeschichten, durch die Armin Maiwald, Christoph Biemann und seit 1999 Ralph Caspers als jüngere Identifikationsperson führen, tragen die Zeichentrickfiguren Maus, Elefant und Ente bei, welche in kurzen eigenständigen Sketchen als Lückenfüller zwischen den sich abwechselnden Sach- und Lachgeschichten fungieren. In letztgenannten werden beispielsweise, ebenfalls in Zeichentrick, Missgeschicke und Abenteuer von „Mausfreunden" wie dem Maulwurf, Käpt'n Blaubär oder Willi Wiberg gezeigt. Wie auch in den Sachgeschichten sind die humorvollen Einspielfilme trotz ihres teils phantasievollen Inhalts auf eine hohe Affinität zum Alltagsleben der jungen Zuschauer ausgerichtet, was sich in der Anthromorphisierung der oftmals tierischen Protagonisten und deren allzu lebensechten Problemen darstellt (vgl. Grimm/Horstmeyer 2003: 71). Nach harscher Kritik an der patriarchalischen Präsentationsform der Sachgeschichten, die von der Redaktion ursprünglich als bildungsfördernde, weil die Glaubwürdigkeit der behandelten Themen zertifizierende Maßnahme eingesetzt wurde, erfolgte innerhalb der Sendungskonzeption ein Umdenken bezüglich der Darstellung von Geschlechterrollen in den Darstellungskontexten der Sachgeschichten: Es wurden vermehrt Frauen in klassischen Männerberufen gezeigt, und Männer führten beispielsweise Küchenexperimente durch (vgl. Münchhausen 1991). Die Bildungseffekte einer solchen Destereotypisierung

157 Themen über und aus der Natur wurden ausgiebiger in der Sendung „Löwenzahn" von und mit Peter Lustig (ZDF) behandelt. Lustigs halbstündiges Magazin aus einem Wohnwagen erlangte seinen Status einerseits durch die typische Latzhosenkluft des Moderators und seiner Aufforderung an die zuschauenden Kinder am Ende einer jeden Sendung, den Fernsehapparat abzuschalten. Dahinter steckte der erzieherische Impetus, die Kinder zu animieren, in die Natur zu gehen, nicht zu faulenzen, sondern sich aktiv zu betätigen. 158 Vgl. auch die Themenausgabe „Fernsehen für Fernsehanfánger" der Zeitschrift „Televizion" (Televizion 20(2007), Nr. 1).

388

III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

für die Sozialisation des fernsehenden Kindes wird als erheblich eingestuft: „Research on the impact of gender representation reveals that children do understand the images and want to be like same-sex television characters, and it seems clear that counterstereotypical images are helpful in combating stereotypes" (Alexander 2004: 508). Im Laufe der Zeit - die „Sendung mit der Maus" ist bereits seit über 35 Jahren auf Sendung - wurde es jedoch auch im Hinblick auf das stark erweiterte Informationsangebot im medialen Umfeld immer schwieriger, Themen zu finden, die noch nicht behandelt worden waren und dem Anspruch einer pointierten wie zeitlosen Darstellung genügten, wie Maiwald mit Verweis auf die Anfangsjahre erklärt: „Für unsere Zuschauer war es neu, dass man sich überhaupt Alltagsgegenständen zuwandte, zeigte, wo sie herkamen und wie sie gemacht wurden. Oft übersehene .Kleinigkeiten bekamen plötzlich eine andere Bedeutung, für viele ein ,Aha-Erlebnis'. Und weil das vorher noch niemand gemacht hatte, konnte man fast jedes Thema wählen. Mittlerweile gibt es einige tausend fertige Filme und damit ebensoviele schon abgehandelte Filme" (Maiwald 1998: 289).

7.5.

Zusammenfassung

Das Bildungsproblem nimmt in der Diskussion um das Für und Wider des Fernsehens als Leitmedium ab dem frühen Kindesalter eine herausgehobene Stellung ein und hat von medienkritischer, erziehungswissenschaftlicher und vor allem bildungspolitischer Seite zu zahlreichen populistischen, weil nicht selten auch polemischen Anfeindungen gegenüber der vermeintlich schadhaften Wirkung des Fernsehens geführt. In diesem Abschnitt wurde der Frage nachgegangen, auf welche Weise und in welchem Umfang das Fernsehen Bildungsangebote macht und welchen Einfluss diese auf den Wandel des Bildungsverständnisses hin zu einem weitgefassten ganzheitlich-humanistischen Begriff sowie konkret auf die kindliche Entwicklung haben. Fernsehen kann, das sollte hier noch einmal betont werden, weder die viel gescholtene Bildungskatastrophe noch den sogenannten Pisa-Schock beheben, liegen die Ursachen dafür doch nicht in seiner Verantwortlichkeit, obwohl dies häufig behauptet wurde. Die Lesesozialisation wurde vom Fernsehen allenfalls rudimentär gefährdet und kann nicht als Opfer des audiovisuellen Zerstreuungsmonstrums angesehen werden. Im ausdifferenzierten Fernsehprogramm findet sich eine bereits unüberschaubare Vielzahl von Bildungsangeboten, die in den seltensten Fällen als solche deklariert sind oder von den Zuschauern mit dem Impetus des Lernens rezipiert werden. Fernsehbildung verläuft im Regelfall unerkannt und unterbewusst: Informations- und Unterhaltungsformate formen die Weltbilder ihrer Zuschauer, zwar nicht in der Weise, dass alles Wissen aus den Massenmedien gespeist würde, doch in signifikanter und oft identitätsstiftender Ausprägung. Mit Blick auf explizit als Bildungsfernsehen verstandene Programminhalte können diese allenfalls als eine Ergänzung zu formalen Bildungsanstrengungen verstan-

III. 7. Bildung durch

Femsehen

389

den werden, als eine zielgerichtete Maßnahme mit im besten Fall positiven Nebeneffekten, die aber keineswegs garantiert werden können, auch weil die Kontrolle des Lernerfolgs in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht überprüft werden kann. Langlebige Formate wie das „Telekolleg" in Deutschland oder einige „Telecourse"-Angebote des Bildungsfernsehens und von Universitäten in den USA sind marginale Überreste eines einstmals breit angelegten, aber im Laufe der Zeit in der Gunst gesunkenen formalen Bildungsanliegens seitens der öffentlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Fernsehveranstalter. Auch hier hat sich die Publikumsorientierung an Einschaltquoten und Marktanteilen weitgehend durchgesetzt und hob unter anderem populäre Shows über wissenschaftliche Thematiken ins Programm, deren Bildungswert nicht ohne weiteres unterschätzt werden sollte. Die Chancen lehrreicher Wissensvermittlung durch informelle Bildungsprogramme hat sich zum Beispiel am Kinderfernsehen einschlägig zeigen lassen: Sendungen wie die „Sesamstraße" oder die „Sendung mit der Maus" erwiesen sich als erfolgreiche Konzepte, um Eltern spielerisch unterhaltsam bei der Erziehung zu unterstützen und Kindern die Wissensaneignung abseits schulischer Zwänge schmackhaft zu machen.

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

390

8.

Fernsehkunst

8.1.

Fernsehen

als Kunst?!

Kunst ist ein stark wertbelasteter Begriff: Ursprünglich eine durch Übung perfektionierte handwerkliche Fähigkeit bezeichnend, wird der Kunstbegriff seit dem 19. Jahrhundert im allgemeinen Sprachgebrauch größtenteils für die Beschreibung der .schönen Künste' eingesetzt, was eine kategorische Minderwertigkeit anderer darstellenden Kreativleistungen des Menschen impliziert. Dieses enge Verständnis von Kunst hat außerdem eine problematische begriffliche Gleichsetzung von Kunst und Kultur nach sich gezogen (vgl. Wende 2004:128). Dem klassischen Feuilleton wird bekanntlich traditionell die Berichterstattung über Theater, Literatur, Film, Architektur usf. zugeschrieben. Auch die Kulturpolitik befasst sich im engeren Sinne mit der Vermittlung zwischen den verschiedenen Kunstrichtungen und -Organisationen und der Gesellschaft (vgl. Klein 2005). Hier wird der Kulturbegriff in seiner Teilbedeutung als Umschreibung für kreative Leistungen des Menschen verstanden, die primär keinen praktischen Zweck verfolgen. Im Anschluss an Dieter Stolte, ehemaliger Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens, soll hier zwischen drei Kunst-/Kulturauffassungen unterschieden werden (Stolte 1992: 72-73): - Elite- bzw. Hochkultur (= höhere Kultur im engeren Sinne): Hierzu gehört die klassische Kunst von der bildenden Kunst über die klassische Musik bis hin zum Theater, zur schöngeistigen Literatur und Philosophie. - Kultur als Inbegriff der schöpferischen Leistungen des Menschen im literarisch-künstlerischen, gesellschaftlich-politischen und wissenschaftlich-technischen Bereich (= höhere Kultur im weiteren Sinne): Hierzu gehören über die .höhere Kunst' im engen Sinne hinaus noch die kreativen Schaffensbereiche Wissenschaft, Technik, Recht, Medizin und Religion. - Massen- bzw. Populärkultur (= Kultur im weitesten Sinne): Hiermit wird der Lebensstil von größeren Gruppen in der Gesellschaft bezeichnet, der von den Massenmedien, allen voran dem Fernsehen, geprägt wird, einschließlich aller Spielformen wie Moden, Freizeitgestaltung, Fandom usf. Während die Hochkultur ein elitäres Kunstverständnis etabliert hat und weiterhin pflegt, wurde der umfassende Bereich der Popkultur zum Stein des Anstoßes für die Vertreter anspruchsvollen Kunstsinns. Vor allem das Fernsehen erfuhr eine Stigmatisierung und war bzw. ist dem steten Verdacht ausgesetzt, das Equilibrium kultureller Orientierungen in der Gesellschaft in eine Unwucht zu bringen. 8.1.1. Kunst als

Distinktionsphänonem

Ein Kunstobjekt, so Bourdieu, entstammt immer einer „Kunstwelt" („Artworld"), einem sozialen Universum, das ihm seinen ästhetischen Wert zuweist (Bourdieu 1993: 254).

II1.8. Fernsehkunst

391

Ein Bewusstsein für die Ästhetik eines Kunstwerks kann also nur in einer sozialen Umgebung entstehen, die sich in der Anerkennung von Kunst als spezifischen kulturellen Habitus, genauer: unter der Maßgabe eines spezifischen Kunstverständnisses verschrieben hat und Wertungsagenturen unterhält, welche die „illusio" (ebd.: 257) manifestiert, dass Kunstkompetenz in institutioneller Manifestation objektiviert wird. Ein Kunstwerk als solches zu dechiffrieren, wird in der Regel von Experten übernommen, deren Kompetenz kaum hinterfragt wird. Das von Bourdieu behandelte Feld künstlerischer Produktion folgt also je eigenen Logiken, mit denen der Geltungsanspruch von Kunstgattungen aufrechterhalten und gegenüber anderen kulturellen Unternehmungen abgegrenzt wird: „The player, mindful of the games meaning and having been created for the game because he was created by it, plays the game and by playing it assures its existence" (ebd.). Kunst dient nach Bourdieu als Mittel zur sozialen Distinktion und stellt damit auch ein wichtiges identitätsstiftendes Kriterium dar: „Wie jede Geschmacksäußerung eint und trennt die ästhetische Einstellung gleichermaßen. Als Produkt einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen eint sie all jene, die aus denselben Bedingungen hervorgegangen sind, unterschiedet sie aber zugleich von allen anderen vermittels dessen, was sie wesentlich besitzen. Der Geschmack ist die Grundlage alles dessen, was man hat - Personen und Sachen - , wie dessen, was man für die anderen ist, dessen, womit man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird" (Bourdieu 1987: 104). Kulturelles Kapital unterscheidet sich in seiner Wertigkeit, die ihm produktionsseitig und konsumptionsseitig zugeschrieben wird. Ob sich „Geschmacksträgertypen" durchsetzen, hängt von ihrer „Potenz im sozialen Gefüge" ab (Schücking 1961: 92). In Deutschland hat sich aufgrund der kulturgeschichtlichen Entwicklung weit intensiver noch als in Nordamerika ein starkes hochkulturelles Kunstverständnis behauptet mit Referenz auf die .schöngeistige Kunst': „Sie ist ein Werk weniger schöpferischer Geister für eine gebildete Elite" (Stolte 1992: 72). Große Werke der Literatur, epochale Theaterstücke und ihre meisterhaften Inszenierungen, die Jahrhundertwerke klassischer Musik und der Malerei: Hat die Kenntnis dieser schöngeistigen Künste zwar nicht als Bildungskanon überlebt, bleibt doch ihre Geltung als primärer Wertträger geistiger Überlegenheit ein allgemein verbreiteter Topos: „Die Zuschreibung selbst stützt sich immer auf den - impliziten - Bezug auf .Schlüsselwerke'. Diese werden bewusst oder unbewusst ausgewählt, weil sie in einem besonders hohen Grad die innerhalb eines bestimmten Klassifikationssystems als relevant anerkannten Eigenschaften mehr oder weniger explizit zur Darstellung bringen. Freilich scheint alles darauf hinzuweisen, dass die Relevanzkriterien anhand deren sich die Stileigenschaften der Schlüssewerke bestimmen, selbst bei den Fachleuten meist unausgesprochen bleiben, und dass die zur Unterscheidung, Klassifizierung und Einordnung der Kunstwerke implizit herangezogenen ästhetischen Taxonomien keineswegs die ihnen bisweilen von den ästhetischen Theorien zugesprochene Stringenz aufweisen" (Bourdieu 1987: 97-98).

392

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Von diesem „Spiel der Künstler und Ästheten und deren Ringen um das Monopol künstlerischer Legtimität" (ebd.: 106) ist auch das Fernsehen nicht ausgenommen. Bourdieu nennt den Chanson als „jedermann zugängliches und tatsächlich gemeinsames Gut" (ebd.: 111 - Hervorh. im Orig.), um ein vergleichbares Beispiel für künstlerische Versuche der Abgrenzung von sozial nachgeordneter Gruppen zu geben: „Die Intellektuellen, Künstler und Hochschullehrer schwanken offensichtlich zwischen globaler Ablehnung dessen, was im günstigsten Fall eine .mittlere Kunst' sein mag, und wählerischer Zustimmung als Demonstration der Universalität ihrer Bildung und ästhetischen Einstellung" (ebd.). Das Fernsehen steht diesem ambivalenten Verhältnis zu den intellektuellen Mitgliedern der Gesellschaft in nichts nach und muss sich trotz der Binsenweisheit, dass Kunst immer im Auge des Betrachters liege, auch heute noch in Relation zu dominanten Kunstideologien verteidigen. 8.1.2. Das Misstrauen der Intellektuellen Prominente Vertreter einer kulturkritischen Perspektive auf das Fernsehen waren die Vertreter der .Frankfurter Schule' Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die als Begründer der Kritischen Theorie die Auswirkungen einer Industrialisierung der Kultur beobachteten (Horkheimer/Adorno 1968). In der Weise, wie die (Medien-) Technik Macht über die Gesellschaft gewinne, desto mächtiger würden auch die ökonomisch Stärksten über diese Gesellschaft (ebd.: 145). In der (medien-) industriellen Standardisierung, Serienproduktion und Massenverbreitung erkannten die Autoren eine „Verarmung der ästhetischen Materialien" (ebd.: 148)159 zugunsten eines „Amüsierbetriebs" (ebd.: 162), der seine Konsumenten immerwährend um das betrüge, was er verspreche (ebd.: 166). Das Fundament der Kulturindustrie bildet nach Horkheimer und Adorno das vermasste Individuum im Sinne einer rückhaltlosen Übereinstimmung mit „dem Allgemeinen" (ebd.: 183). So werde der einzelne und doch zugleich zur kalkulierbaren Masse kollektivierte Konsument zur „Ideologie der Vergnügungsindustrie, deren Institutionen er nicht entrinnen kann" (ebd.: 188). Das Individuum werde damit austauschbar, die Aufklärung bliebe zwangsläufig ein hehres, aber angesichts der manipulativen Instrumentalisierung des Fernsehens als Anti-Aufklärungs- und Massenbetrugsmittel ein aussichtsloses Ziel: „Die Ersatzbefriedigung, die die Kulturindustrie den Menschen bereitet, indem sie das Wohlgefühl erweckt, die Welt sei in eben der Ordnung, die sie ihnen suggerieren will, betrügt sie um das Glück, das sie ihnen vorschwindelt. Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Anti-Aufklärung; in ihr wird [... ] Aufklärung, nämlich die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewusstseins. Sie verhindert die Bildung autonomer, selbständiger, bewusst urteilender und sich entscheidender Individuen" (Adorno 1967: 69).

159 Später wird Adorno diese Verarmung als Konservierung einer verwesenden Aura, als „vernebelten Dunstkreis" beschreiben (Adorno 1967: 62).

II1.8.

Fernsehkunst

393

Das Fernsehen wird von den Autoren als perfektioniertes Manipulationsinstrument der Kulturindustrie behandelt, das die letzte Lücke, „welche der Privatexistenz vor der Kulturindustrie noch geblieben war, solange diese die Dimension des Sichtbaren nicht allgegenwärtig beherrschte", verstopfe (Adorno 1963a: 69). Adorno sah das gesellschaftliche Leben im Klammergriff eines audiovisuellen Medienensembles, das mit Radio, Film und schlussendlich dem Fernsehen alle Bereiche der öffentlichen Sphären besetzt habe und mit manipulativer Unterhaltung sättige, so dass es ein kein Entrinnen gebe. Das Fernsehen ist aus dieser Perspektive nur das perfideste Instrument im Rahmen der „wirtschaftlich begründeten Gesamttendenz der gegenwärtigen Gesellschaft" (ebd.: 70). Unterstützung erfahren die Schlussfolgerungen Adornos auch teilweise noch heute, wenn über das Für und Wider der Unterhaltungsfunktion des Fernsehens, dessen Beweggründe und Auswirkungen diskutiert werden. Natürlich lässt sich mit dem Fernsehen - wie mit jedem anderen Massenmedium auch - unter „manipulative [r] Inanspruchnahme der Medienmacht zur Beschaffung von Massenloyalität, Nachfrage und .compliance' gegenüber systemischen Imperativen" (Habermas 1990: 45) Schindluder treiben: „Mit der Kommerzialisierung und der Verdichtung des Kommunikationsnetzes, mit dem wachsenden Kapitalaufwand für und dem steigenden Organisationsgrad von publizistischen Einrichtungen wurden die Kommunikationswege stärker kanalisiert und die Zugangschancen zur öffentlichen Kommunikation immer stärkerem Selektionsdruck ausgesetzt. Damit entstand eine neue Kategorie von Einfluss, nämlich eine Medienmacht, die, manipulativ eingesetzt, dem Prinzip der Publizität seine Unschuld raubte. Die durch Massenmedien zugleich vorstrukturierte und beherrschte Öffentlichkeit wuchs sich zu einer vermachteten Armee aus, in der mit Themen und Beiträgen nicht nur um Einfluss, sondern um eine in ihren strategischen Intentionen möglichst verborgene Steuerung verhaltenswirksamer Kommunikationsflüsse gerungen wird" (Habermas 1990: 28). Seine Fede gegen den diagnostizierten kulturindustriellen Missbrauch des Fernsehbetriebs führte Adorno keineswegs in blinder Missachtung der theoretischen Möglichkeiten. Er sprach dem Fernsehen nicht grundsätzlich jedwede Bildungsfunktion ab, sondern räumte ihm im Gegenteil „im Sinne der Verbreitung aufklärender Information ein ungeheures Potenzial" ein (Adorno 1963b: 52). Die düstere Analyse kulturindustrieller Allmacht resultierte eher aus seiner starken Prägung durch die bildungsbürgerliche Tradition der Frankfurter Schule (vgl. Plake 2004: 262), die auf seine Unerfahrenheit in Bezug auf das neue Medium traf und unter dem Eindruck des US-amerikanischen Programmbetriebs der 1950er und 60er Jahre zu der Annahme führte, das Fernsehen sei „durch seine bloße Existenz zum einzigen Bewusstseinsinhalt" (Adorno 1963b: 55) avanciert, was bei ihm das Schreckensbild einer ideologisch begründeten und durch ,,plebiszitäre[n] Druck" erzwungenen „Neutralisierung der Kultur" auslöste (ebd.: 66). So kam er zu dem Schluss: Im Vordergrund der Bestrebungen solle die „Impfung des Publikums gegen die vom Fernsehen verbreitete Ideologie und die ihr verwandten" stehen (Adorno 1963c: 89).

394

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Unter den schärfsten Kulturkritikern, die das Fernsehen als Grund vielen Übels identifizierten, mögen sich rückblickend viele „Fernsehanalphabeten" befunden haben, deren textuelle Erfahrungen nach Fiske „in der Hauptsache solche mit Büchern, Kinofilmen oder dem Theater sind, bei denen sich die textuellen Merkmale entscheidend von den Merkmalen des Fernsehens unterscheiden" (Fiske 1989:242). So lassen sich die Warnungen intellektueller Fernsehgegner vor dem Hintergrund klassischer Befürchtungen lesen, die mit der erodierenden Hegemonie des Schriftgelehrtentums einhergingen. Der Soziologe Gary Steiner drückte die Vorbehalte gegenüber jedweder massenkompatiblen, das heißt bei einer großen Menge von Rezipienten beliebten Fernsehsendung wie folgt aus: „By definition, the better educated, more sophisticated viewers will have tastes different from (and in their opinion, better than) those with less exposure to the finer things. So long as differential education and cultural levels exist in the population, so will different capacities to appreciate and enjoy various forms of diversion and recreation. So it is probably inevitable that programs catering to the ,mass taste' are, for the intellectual, synonymous with ,vast waste'" (Steiner 1963: 243). Dass das Fernsehen der Bildungselite nicht ganz geheuer war und in Teilen immer noch nicht ist, kann hauptsächlich mit einem bildungsbürgerlichen Gesellschaftsbegriff in Zusammenhang gebracht werden, der zwischen Elite und Masse differenziert und ein Spannungsfeld zwischen diesen gesellschaftlichen Klassen um kulturelle Macht auflädt. José Ortega Y Gasset prägte den Begriff der „sozialen Masse" (Ortega Y Gasset 1957: 72). Dabei handele es sich um das Gegenteil der Eliten, unter denen Individuengruppen mit spezieller Qualifikation im Gegensatz zur Gesamtheit der nicht besonders Qualifizierten zu verstehen seien (ebd.: 73). Dabei spielten Klassenschranken keine Rolle, allein das Selbstbild des Individuums zähle: „Masse ist jeder, der sich nicht selbst aus besonderen Gründen - im Guten oder im Bösen - einen besonderen Wert beimisst, sondern sich schlichtweg für Durchschnitt hält, und dem doch nicht schaudert, der sich in seiner Haut wohl fühlt, wenn er merkt, dass er ist wie alle" (ebd.: 74). Peter Sloterdijk spricht von „[differenzierter Indifferenz": Jedes vermasste Individuum möchte sich von den anderen unterscheiden, ohne sich allzu sehr unterscheidbar zu machen - „Masse verpflichtet" (Sloterdijk 1999: 87). Wenn aber alles ohne Unterschied ist, dann ist alles gleich Sensation oder unerheblich. Es fehlt Orientierung, es fehlt Anerkennung, es fehlt Wertschätzung. Indem sich die Angelegenheiten und konkret das Bild der Masse im öffentlichen Bewusstsein konkretisieren, an Relevanz gewinnen und das kulturelle Leben bestimmen, trägt das Fernsehen dazu bei, mit der Darstellung (massen-) gesellschaftlich akzeptierter Symbole, Lebensentwürfe oder Meinungsbilder dabei zu helfen, dass sich „die Masse, ohne dass sie aufhörte, Masse zu sein, an die Stelle der Elite setzt" (Ortega Y Gasset 1957: 76). Damit kann die Masse durch ihre schiere Masse laut Ortega Y Gasset alles vernichten, „was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist" (ebd.: 78). Masse, das kann auch bedeuten: Manipulierbar sein, von Willenlosigkeit befallen, eine rohe, formbare Masse, die zu lenken nicht mehr erfordert als der Appell an die niederen Instinkte des Herdentiers Mensch. Gustave Le Bon konstatierte in seiner Abhandlung

III. 8.

Fernsehkunst

395

über die „Psychologie der Massen" eine übermäßige Beeinflussbarkeit von Menschenansammlungen, die eine „blitzschnelle Ausstrahlung der Gefühle in einer bestimmten Richtung" zur Folge habe (Le Bon 1912: 23). „Bei den Massen ist also nichts vorbedacht. [...] Sie gleichen den Blättern, die der Sturm emporhebt, nach allen Richtungen verstreut und wieder fallen lässt. [...] Diese Wandelbarkeit der Massen macht, dass sie schwer zu regieren ist, insbesondere wenn ein Teil der öffentlichen Gewalt in ihre Hände gefallen ist. [...] Wenn auch die Massen die Dinge leidenschaftlich begehren, so wollen sie sie doch nicht für lange, sie sind ebenso unfähig zu einem Dauerwillen wie zum Denken. Die Masse ist nicht nur impulsiv und wandelbar. Gleich dem Wilden gestattet sie nicht, dass sich etwas zwischen ihr Begehren und der Verwirklichung dieser Begierde einschiebt. Das versteht sie umso weniger, als ihre Menge ihr das Gefühl unwiderstehlicher Macht gewährt. Für das Individuum in der Masse schwindet der Begriff des Unmöglichen" (ebd.: 21). Le Bon sieht Massen als unfähig, Persönliches vom Sachlichen zu unterscheiden. Sie interpretierten die Bilder, die in ihrem Bewusstsein auftauchten und sehr oft nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der beobachteten Tatsache hätten, als Wirklichkeit. Sigmund Freud zog daraus den Schluss, dass nur derjenige die Aufmerksamkeit der Masse erregen könne, der „in den kräftigsten Bildern" male, übertreibe und „immer das Gleiche wiederhole!.]" (Freud 1999b: 83). Die Massen seien zudem durch Denkhemmung und Affektsteigerung gekennzeichnet (ebd.: 95) - zweifellos eine Charakterisierung mit nicht nur denkbar beängstigenden Konsequenzen in Bezug auf ein bildmächtiges Massenmedium wie das Fernsehen, sondern auch ein Armutszeugnis für die Existenz einer,Massenkunst', die sich in repititiver Gleichförmigkeit und affektiver Übertreibung selbst negiere. „Während die traditionelle Kritik der Massenkultur deren Gewaltpotential an passiver Unterwerfung des Einzelnen unter das Diktat des Massenkonsums an wertlosen Kulturgütern und die daraus erwachsende Gefahr totalitärer und demagogischer Politik beschwor, wird heute ein Hedonismusverdacht gepflegt. Die Konsumkultur - so das Argument - verwandle die Konsumenten in kritiklose Mitglieder einer Spaßgesellschaft, der vor lauter Amüsement der Sinn für soziale und politische Realitäten abhanden komme und so zu politischer Lethargie führe" (Musner 2001). Die auf diese Weise vehemente Verteidigung der Hochkultur erscheint so als Hilferuf nach einer verlässlichen Erinnerungskultur, die mit klassischen Kanones und klaren Hierarchien unmissverständlich bestimmt, in welcher Form auf den Fundus gesellschaftlicher Erinnerung zugegriffen werden soll. Demgegenüber ist die Ausdifferenzierung eine notwendige Folge hochkomplexer Gesellschaften. Schöngeistiges Kulturschaffen ist in diesem Systemzusammenhang eines von vielen Subsystemen moderner Organisationsformen gesellschaftlichen Lebens. „Die über Konsum, Finanzkapital und Medienökonomie gesteuerten postindustriellen Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts verzichten zunehmend auf eine zentrale symbolische Instanz in Gestalt von kulturellem Konsens und Kanon, das althergebrachte Arbeitsfeld der Intellektuellen, und setzen stattdessen

396

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

auf ausdifferenzierte Lebens- und Konsumstile, die durch Information, Verhandlung und Verrechtlichung aufeinander bezogen werden" (ebd.). Dabei besteht indes der größte Frevel des Fernsehen nicht in seiner bloßen Existenz, sondern vielmehr darin, so lässt sich Lutz Hachmeisters Auseinandersetzung mit dem „Fernsehen als Antipode intellektueller Orthodoxie" lesen, dass es die Möglichkeit besitzt, intellektuelle Posen zu demaskieren, indem es die teils überhebliche, aber immer „statuarische" Erscheinung der Bildungselite mit sich selbst, dem „komplexesten Medium der popular culture" kollidieren lässt (Hachmeister 1993: 841 - Hervorh. im Orig.). Damit würden die dem intellektuellen Diskurs innewohnenden Distanzmechanismen überwunden, Öffentliches und Privates mische sich und werde zur unmittelbaren Präsenz gezwungen (ebd.: 842). Die Effizienz des Fernsehens bei der Vermittlung von Kunst an ein massenhaftes Publikum kann als Antipode zu einem Kunstverständnis interpretiert werden, das sich durch die Wertschätzung einiger weniger intellektuell Privilegierter definiert. Dieser spezifische Code des Fernsehens mache es zu einem Medium radikaler Aufklärung, das „alles zeigt und nichts für sich behält" (ebd.: 843) - und eben nicht zum Instrument einer AntiAufklärung, das zuteilt und vorenthält. Hachmeister zeichnet in diesem Zusammenhang das Bild einer kulturellen Elite, die mit ihrem Hegemonie- und Aufmerksamkeitsverlust zugunsten einer vermeintlich niveaulosen „publizistischen Großtechnologie" (ebd.: 852) hadert und nicht verstehen kann, dass im Widerstreit zwischen Hoch- und Populärkultur das Populäre auf Seiten der Masse zu obsiegen scheint. Wenn Peter Sloterdijk über „Menschenschwärze" räsoniert (Sloterdijk 1999: 9-29),160 dann ist seine apostrophierte Verachtung für die Massen (so der Titel seines Vortrags) ebenso zu spüren wie jene für das „Affektregime des entfalteten Massennarzissmus", das eine notwendige Folge der mediatisierten Massenkultur sei (ebd.: 23). Erkannt wird darin die (etymologisch durchaus zweideutig zu verstehende) Haupttriebfeder des Vorwurfs an das Fernsehschaffen, es handle sich um ein Massenvergnügungsmittel, das sich in opportunistischer Wandlungsfähigkeit dem neuen pop-kulturellen Souverän anbiedere, so dass jeder hehre Sinn verkomme. Die Masse „zerschlägt alle Spiegel, die ihr nicht versichern, sie sei die schönste im ganzen Land. Ihr normaler Zustand ist der einer permanenten Urabstimmung über die Verlängerung des Generalstreiks gegen den höheren Anspruch" (ebd.: 85). Demzufolge ist dem Fernsehen tunlichst daran gelegen, den (niederen, so die Konnotation) Unterhaltungsbedürfnissen seiner Zuschauer zu folgen, sonst wird um- oder abgeschaltet. Ein solch pauschaler Vorwurf spricht der Fernsehunterhaltung jeglichen künstlerischen Anspruch ab. Und dennoch, wie sich zeigen wird, ist die Akzeptanz des Fernsehens gerade deshalb als (ebenso hoch-) kulturell unverzichtbares Medium konstitutiv für einen Teil

160 Sloterdijk weist darauf hin, dass die „Menschenschwärze" mittlerweile unter dem Einfluss des Fernsehens von einer bunt gefärbten und molekularisierten Masse abgelöst worden sei (Sloterdijk 1999:19). Dementsprechend hatte Günther Anders dem Fernsehen zuvor in seiner Abhandlung von der „Antiquiertheit des Menschen" eine ähnliche „atomisierende Wirkung" unterstellt: „.Masse' ist nunmehr, eben als .Massenhaftigkeit', eine Qualität von Millionen Einzelnen geworden; nicht mehr deren Zusammenballung" (Anders 1958/1961: 81).

III. 8. Fernsehkunst

397

seiner Genese als Gedächtnismedium, indem es eigene künstlerische Wertungsmaßstäbe entwickelt und eine mediumspezifische Elitebildung durchläuft. 8.1.3. Der Kampf um

Wertungshegemonien

Darauf, dass das Fernsehen nicht nur bietet, wonach die Konsumenten in der abstrakten Kalkulationsgröße namens Markt verlangen, und damit nicht allein wirtschaftliche Interessen, sondern auch aufklärerische, erzieherische und im weiten Sinne gemeinnützige Zielen verfolgt, muss heutzutage ebenso wenig mehr hingewiesen werden wie auf die Tatsache, dass Fernsehzuschauer weder gänzlich passive Entitäten darstellen, die mittels des Einflussmittels Television geformt werden können, noch gänzlich aktiv über das bestimmen können, was sie zu sehen und hören geboten bekommen, aber auch wie sie es sehen und hören. ,,[D]ie kulturellen Bedürfnisse beständig wechselnder Allianzen innerhalb des Publikums zwingt die Industrie aber zu einer konstanten Suche nach Produkten, die über genügend Originalität verfügen, um diesen Veränderungen entgegenzukommen, zugleich aber auch genug Vertrautheit bieten, um den vom Publikum entwickelten Erwartungen und Kompetenzen ebenso zu genügen wie den routinierten Produktionspraktiken der Produzenten" (Fiske 1989: 240-241). Diese Suche nach Originalität ist an sich noch kein künstlerischer Akt, doch bereitet sie das nötige Fundament für die Proliferation künstlerischen Schaffens. Kunst als kultureller Leitbegriff ist als Mittel der kreativen Entfaltung ist heutzutage dank populärkultureller Unterfütterung verbreiteter denn je, aber auch breiter und vager als jemals zuvor: „Die Ungültigkeit eines bestimmten Kunstbegriffs spricht nicht prinzipiell gegen die Fortexistenz der Kunst und damit gegen die Möglichkeit einer Unterscheidung von Kunst und dem Populären, sondern erklärt vielmehr nur, warum in den letzten Jahrzehnten sich ein anders ausgerichteter Kunstbegriff durchgesetzt hat, der ein unproblematischeres Verhältnis zu Vervielfältigungs-Techniken hat, mit Adaptions- und Originalitätsfragen unbekümmerter umgeht und daher auch für die neuen Medien tauglich ist. [...] Überall wird an dem Grenzen auslotenden, sich nicht anpassenden Künstler und an einem ihm hierin folgenden Publikum festgehalten. Kunst ist zwar nicht mehr aufs Kontemplative festgelegt, aber immer noch hält sich, und zwar quer durch alle Sparten und Szenen, die Idee, dass es ein Gegenteil zur Anpassung und Konformität gibt. Dass es etwas gibt, das Neues zu formulieren sucht, Grenzen austestet, unsere Sicherheiten erschüttert und stört, seine Daseinsberechtigung nicht in Publikumsansprache, im Erfüllen von Publikumserwartungen sieht und daher unsere ungeteilte Aufmerksamkeit verlangt" (Hügel 2003:12-13). Die vehemente Ablehnung, wie sie das Mitte des 20. Jahrhunderts noch junge Massenmedium Fernsehen von Seiten kulturkritischer Koryphäen wie Horkheimer und Adorno erfahren musste, ist für Lutz Hachmeister nichts weiter als eine Phase, die direkt auf eine erste Phase utopischer Visionen folgte und sich als Gegenposition zur technizistischen Begeisterung entwickelte. Danach habe sich eine Normalisierung angeschlossen, dann eine Nostalgisierung und schließlich eine Erotisierung (Hachmeister 1990: 3-4). Bis die

398

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

kulturelle Signifikanz des Fernsehens als ästhetisches Medium erkannt und sein Ruf eines bloßen Übertragungsmediums überwunden werden konnte (vgl. Newcomb 1974: 23,245), erlebten die Fernsehindustrien in den USA und Deutschland hitzige Qualitätsdebatten um ihre Programmangebote. Bei der Bemessung des ästhetischen Wertes von Fernsehproduktionen wurde (und wird) häufig auf ältere Wertungstraditionen aus der Literatur- und Filmkritik zurückgegriffen, die sich althergebrachter narrativer, dramaturgischer und inszenatorischer Kategorien bedienen (vgl. Bolik 1997: 30). Die mediumeigene Formsprache wurde, wie bei Adorno und Horckheimer nachzuvollziehen, nicht selten durch die Angst vor der manipulativen Einflussnahme kommerzieller Agitatoren und speziell der Werbewirtschaft (Newcomb 1974: 21) ignoriert oder diskreditiert.161 Erst wenn diese Gefahr gebannt ist, das heißt: das Medium an Popularität und damit an potenziellem Einfluss auf die Massen verliert, wird es offenbar akzeptabel für Anerkennung aus den Nachbarkünsten, wie das Beispiel des Kinofilms zeigt: „Die Cinephilie, die Liebe zum Kinofilm, breitete sich in den sechziger, siebziger Jahren exakt umgekehrt proportional zum Rückgang des Kinobesuchs aus - proportional zur Verbreitung der Fernsehgeräte. Je weniger Publikum die Filme mobilisieren konnten, umso größer wurde die liebevolle Zuneigung, die die Feuilletons ihnen widmeten. Dank ihrer massiven Unterstützung stieg der Film in die Galerie der schützenswerten Kulturgüter auf" (Wetzel 1994). Die Festlegung dessen, welches Ergebnis künstlerischen Schaffens als qualitativ hochwertig erachtet wird, leitet sich aus einem komplizierten und zu keiner Zeit eindeutig nachzuvollziehenden Geflecht aus Wertestandards ab, die nicht auf einem gesamtgesellschaftlichen Konsens beruhen, sondern auf sub-kultureller Ebene in miteinander, aber auch innerhalb rivalisierenden Interpretationsgemeinschaften ausgehandelt werden (vgl. Schatz/Schulz 1992: 691). Diese „interpretive communities" zeichnen sich durch eine feste Normen- und Wertestabilität aus und sorgen für die Validierung der im Sinne ihrer bevorzugten Ideologie erfolgten Interpretationen (vgl. Fish 1980: 14). Aus der simplen wie treffenden Feststellung: ,,[Q]uality TV means different things to different people" (Thompson 1996: 17), ergibt sich ein latent vorhandener Wertekonflikt bei der Qualitätsbestimmung eines Kunstwerks jedweden Medientypus (vgl. auch Feuer 2007: 146), so auch beim Fernsehen: „Whether broadcasting is for entertainment, for enlightenment, for the creation of citizens or whole persons, for making profits, for sustaining the cultural capital of dominant classes, for uncovering the true natures of society and everyday life, or for preserving the morality and cohesion of the community, makes all the difference. Each view of broadcastings purpose brings with it a very different conception of quality. Each requires a different structure, a different set of relationships between programme-makers, administrators and audiences" (Mulgan 1990: 28).

161 Dabei wurde nicht zuletzt die Fernsehwerbung zu einem kreativen Feld künstlerischer Betätigung (vgl. Kurtz/Budin 1977; Rutherford 1994; Schmidt/Spieß 1994).

III. 8. Fernsehkunst

399

Künstlerische Interessensvertretungen, die Medienpolitik, Bildungsorganisationen, die in Journalismus und Wissenschaft institutionalisierte Fernsehkritik sowie brancheneigene Wertungskommissionen der Fernsehindustrie sind nur einige wichtige Instanzen, die bei der Auseinandersetzung über den qualitativen Gehalt von Fernsehproduktionen ihren Einfluss geltend machen und versuchen, ihre Wertenormen in der veröffentlichen und in letzter Konsequenz öffentlichen Meinung durchzusetzen. Je nach Anlass und Engagement ist eine Gruppe dominanter als die anderen und kann ihre Wertungsvorgaben wirkungsvoller im öffentlichen Diskurs durchsetzen. Allgemein anerkannte Wertungsgremien wie die jährlich wechselnde Jury des Fernsehpreises des Adolf Grimme-Instituts sind qua ihrer kulturellen Bedeutung rar. Ihre Entscheidungen über die Qualität einzelner Fernsehproduktionen und individueller Leistungen innerhalb des vorangegangenen Fernsehjahres werden von der Branche und dem Publikum als Gütezeichen akzeptiert und dient als Leiturteil für die Orientierung bei der Bewertung von Programmhöhepunkten ungeachtet des an Einschaltquoten zu messenden Publikumserfolgs. Nicht vergessen werden dürfen hier die Fernsehveranstalter selbst, die einen erheblichen Werbeaufwand treiben, um die professionelle wie auch die allgemeinen Öffentlichkeit von der exzeptionellen Güte ihrer Produktionen zu überzeugen, sich dadurch kulturell zu legitimieren und im Falle einer Auszeichnung wie beispielsweise mit dem Grimme-Preis diese Bestätigung kreativer Anstrengung an die breite Öffentlichkeit zu kommunizieren (vgl. Bolik 1997: 14). Der Konflikt zwischen den um Wertungshegenomie streitenden gesellschaftlichen Institutionen wird noch zusätzlich kompliziert, indem der Qualitätsbegriff selbst bereits stark mit Werturteilen belastet ist, obwohl Qualität an sich nur eine neutrale Beschaffenheit bezeichnet (lat. qualis = wie beschaffen) und in der wirtschaftlichen Terminologie allenfalls die Güte eines Produkts im Sinne seiner Zweckerfüllung beschreibt (vgl. die Europanorm ISO 9000:2005). Im allgemeinen Sprachgebrauch aber wird hohe Qualität oft synonym verstanden mit einem hohen kulturellen Wert, was im Hinblick auf Medienproduktionen dazu geführt hat, dass fiktionales Qualitätsfernsehen mit der Erwartung verknüpft wird, dass das betreffende Programmangebot für die Rezipienten moralisch und erzieherisch erbaulich ist und sich damit vom übrigen trivialen Unterhaltungsangebot absetzt (vgl. Cardwell 2007: 21 - Hervorh. im Orig.). Mit seiner einflussreichen Arbeit „TV: The Most Popular Art" plädierte der Fernsehwissenschaftler Horace Newcomb Mitte der 1970er für einen medienspezifischen Qualitätsbegriff, der das Fernsehen als zentrale Vermittlungsinstanz von Werten und Einstellungen für ein Massenpublikum begreift und dies nicht nur durch Informationsangebote, sondern mit den Mitteln fiktionaler Unterhaltung (vgl. Newcomb 1974: 244-245). Fernsehunterhaltung sei zwar auch trivial, aber dies dürfe nicht den Blick auf ihren künstlerischen Wert verstellen. Newcomb identifizierte drei Hauptaspekte der televisuellen Ästhetik: Intimität, Kontinuität und Historisierung (ebd.: 245). Das Fernsehen baue schon durch seine Rezeptionsverortung im privaten Schutzraum eine intime Verbindung zum Zuschauer auf und steigere diese durch die inhaltlich suggerierte Nähe der fiktionalen Spielszenen wie unter ande-

400

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

rem in Soap Operas, die den Zuschauer mit simplen inszenatorischen Mitteln mitten in das Geschehen versetzen. Hinzu kommt die Kontinuität serieller Formate, welche die Fernsehcharaktere im Auge des Zuschauers vertrauter erscheinen lassen und para-soziale Beziehungen begünstigen. Außerdem habe das Fernsehen eine effektive Formel entwickelt, um zeitgenössische Problematiken und Wertediskussion in einen historischen Kontext zu kleiden, um sie damit klarer identifizieren und thematisieren zu können. Alle drei Aspekte ergänzen sich gegenseitig und tragen zur Wertevermittlung bei: ,,[I]ntimacy, continuity, and history are devices that help to distinguish how television can best bring its audience into an engagement with the content of the medium. It is precisely because the devices are value expressions themselves, and because the content of television is replete with values, judgments, and ideas deeply imbedded in our culture that we must continually offer new and supplementary ways of observing, describing and defining it" (ebd.: 264). Aus dieser Sicht stellen auch fiktionale Fernsehproduktionen bei der Selbstverständigung einer Gesellschaft über ihre kollektiv geteilten Wertestandards ein wichtiges Regulativ dar, das bestehende Wertestandards stützen, sie aber auch herausfordern kann. Insofern kommen selbst ihrem Gehalt nach gemeinhin in Frage gestellte Formate wie Soap Operas einem aufklärerischen Kunstverständnis nah. Die Anerkennung dieser Funktion und der vielgestaltigen Mittel ihrer Erfüllung in Relation zur kulturellen und speziell künstlerischen Wertigkeit des Fernsehens blieb indes stets geprägt von einer kulturellen Elite aus Künstlern, Akademikern und Journalisten. Die Orientierung bei der Bemessung künstlerischer Relevanz für Fernsehproduktionen an signifikanten Personen des Kulturbetriebs stellt eine wesentliche Konstante im Ringen des Fernsehens hochkulturelle Anerkennung dar (vgl. Cardwell 2007: 22). Die künstlerische Bedeutung fiktionaler Werke für einen Kulturkreis misst sich indes weder am akademischen Diskurs oder an der Resonanz der journalistischen Fernsehkritik noch an Publikumsgeschmäckern allein, ist weder normativ (durch Qualitätskriterien, durch Kritikervorlieben, durch Einschaltquoten) vorhersagbar noch zeigt sie sich instantan: „Ob ein Film sinnstiftend die Situation einer Zeit ästhetisch verdichtet, ob er zum künstlerischen Ausdruck einer Epoche oder eines Zeitabschnitts wird, stellt sich allzu häufig erst im Nachhinein fest" (Hickethier 1994c: 338). Als alle Facetten einer Gesellschaft und ihrer Kultur(en) betreffende und in sie eingreifende Medienmaschinerie hat sich das Fernsehen zu einem Tummel- und Kampfplatz kultureller und künstlerischer Kreativität entwickelt, die jedoch stets von programmstrategischen und nicht selten ökonomischen Imperativen bedroht wird, schließlich jedoch ihre Nischen gefunden hat und sogar Publikumserfolge feiern konnte, wie im Folgenden gezeigt wird.

401

111.8. Fernsehkunst 8.2.

Die ,Goldenen Zeitalter' des US-amerikanischen

Fernsehens

8.2.1. Zwischen Ikonisierung und Diskreditierung: Die Fernsehkunst auf der Suche nach ihrer Identität Wie der Fernsehwissenschaftler Robert Thompson notiert, war die bis heute intakte Identität des US-amerikanischen Fernsehprogrammbetriebs bereits Anfang der 1950er Jahre ausgebildet: „Based on formulas and styles plundered from radio and the movies, most entertainment televisions signature genres - sitcoms, doctor shows, cop shows, Westerns, adventures, game shows, soap operas - had been introduced by the early 1950s" (Thompson 1996:20). Diese kurze Periode vom Ende der 1940er bis Ende der 50er Jahre, in welcher die Fernsehindustrie eine beispiellose Innovationskraft und künstlerische Bandbreite entwickelte, die sich aus einem hohen Bedarf der Fernsehveranstalter nach Sendematerial ergab, wurde später als .Goldenes Zeitalter des Fernsehens' verklärt. Doch nicht die Emanzipierung des Fernsehens als selbstbewusstes Medium, das seine eigene Ästhetik entwickelte, wurde zur Grundlage dieser Begrifflichkeit, sondern die Kombination der genuin televisuellen Fähigkeit der Live-Übertragung mit den der schöngeistigen Kunst zuzurechnenden Darbietungsformen des Theaters (vgl. Feuer 2007: 146). Es war die große Zeit der Live-Dramen, die als Stilhybride populär- und hochkultureller Traditionen in einer dynamischen Unterhaltungsdramaturgie verschmolzen. Die „Teledramen" griffen klassische Stücke auf oder setzten mit zunehmendem Bedarf an Sendematerial originale Fernsehspiele um, die sich in dem reichhaltigen Erfahrungsschatz der großen Theater-, Hörspiel- und Kinofilmtraditionen bedienten: „From radio these teledramas inherited the CBS and NBC network distribution system, sound effects, music, theme songs and the omniscient narrator, who provided continuity after commercial message breaks. From film, teledramas borrowed aging stars and emerging personalities, camera stylistics, mobility and flexibility. Imported from the theater were Broadway-inspired set designs, contemporary stage (i.e. realist and .method') acting techniques that imparted a sense of immediacy and reality to small-screen performances, and finally, teleplay adaptations of classic and middlebrow literature" (Everett 2004a: 1001-1002). 90 Prozent der Produktionen wurden live übertragen, die übrigen Sendungen waren unter anderem vom Fernsehbildschirm abgefilmte Aufnahmen von Live-Übertragungen. Die Programmpläne füllten sich mit sogenannten Anthologie-Shows, in denen sich Stück um Stück abwechselte, und der Bedarf an immer neuen, kreativen Werken stieg. Befriedigt werden konnte die Nachfrage der Fernsehveranstalter durch die Ansiedelung der Fernsehindustrie in New York, die durch ihre lange Theatertradition einen nicht enden wollenden Strom von unverbrauchten Autoren, Schauspielern, Regisseuren und Produzenten anzog und beherbergte. So gerierte sich das Fernsehen als Auffangbecken für all jene Kreativen, die in den etablierten Institutionen der Hochkultur mit Einstiegsschwierigkeiten zu kämpfen hatten, und bot ihnen ein Experimentierfeld mit bald nationaler Reichweite, um Erfahrungen zu sammeln und sich einen Namen weit über die engen

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

Grenzen des künstlerischen Schmelztiegels New Yorks hinaus zu machen. Nicht alles, was über den Sender ging, genügte freilich den qualitativen Ansprüchen eines hochkulturell gebildeten Publikums, doch war die hohe Sättigung der Programmstruktur mit der Vielfalt an Teledramen für sich allein ein eindrucksvolles Zeichen ambitionierten Kulturschaffens, auch und vor allem in Abgrenzung zu den Konkurrenzangeboten in Theater, Radio und Kino (ebd.: 1004). Zu den herausragenden Produktionen, die zu einem „memorable dramatic success" wurden (MacDonald 1994: 82), gehörten „Twelve Angry Men", „I'm No Hero" und „The Twilight Zone", dessen Schöpfer Rod Serling zum wohl prominentesten Vertreter des .Goldenen Zeitalters' avancierte und bereits vor seinem bahnbrechendem Erfolg mit der Science-Fiction-Serie für mehrere Teledramen Auszeichnungen erhielt und als Urheber von vier Anthologie-Programmen, die zwei verschiedene Networks ausstrahlten, zum gefeierten und hochdotierten Autoren wurde. Mit der durch den wachsenden Erfolg der Live-Stücke einsetzenden Reifung des Genres fanden auch ausgediente, aber landesweit bekannte Stars aus Hollywood Interesse an den Teledramen und wurden beispielsweise als Präsentatoren der Shows engagiert. Zu den erfolgreichsten, im Nachhinein glorifizierten Teletheatern gehörten das Armstrong Circle Theater, das Kraft Television Theater, Studio One, The U.S. Steel Hour, General Electric Theater und Playhouse 90. Die Zeiten überdauert hat alleinige die Hallmark Hall of Fame, aus der seit 1951 Stücke übertragen werden (Everett 2004a: 1004). Die Titel der Shows wiesen bereits auf die Dominanz der Sponsoren hin, die den Shows nicht nur ihren Namen gaben, sondern auch inhaltlichen Einfluss ausübten. Vermieden wurden größtenteils soziale und politische Reizthemen sowie konsumkritische Haltungen, obgleich im Laufe der 1950er Jahre Andeutungen auf die kommunismusfeindliche Politik der McCarthy-Ära zum probaten Mittel des Identifikationsangebot für das mittelständische Fernsehpublikum wurde. Im Vordergrund stand daher auch die Bejahung der Lebenswelt der US-amerikanischen Durchschnittsfamilie und ihrer moralischen Wertauffassungen. Das verherrlichende Schlagwort vom .Goldenen Zeitalter' resultierte einerseits aus der Prosperität der dramaturgischen Innovationen des noch jungen Mediums, andererseits aus ihrer dezidiert künstlerischen Zielrichtung. Ob dafür der Experimentiergeist der Programmpioniere oder der in der Frühzeit des Fernsehens deutlichen Mehrheit an gut gebildeten und wohlhabenden Zuschauern der New Yorker Metropolregion im Nordosten der USA Tribut gezollt werden muss, ist strittig geblieben; denn mit der zunehmenden Verbreitung des Fernsehens in das Landesinnere und vor allem in ländliche Gebiete wurde deutlich, dass die Mehrzahl der Zuschauer weniger an den ambitionierten, ernsthaften Erzählstoffen interessiert waren, sondern sich dem weniger gehaltvollen Treiben des Komödienangebots zuwandten. Manche Fernsehhistoriker sprechen daher auch ungern von einem .Goldenen Zeitalter', sondern lieber von der Ära des „Vaudeo", der vom Fernsehen adaptierten Varietytradition des Theaters (engl, „vaudeville"). Tim Brooks sieht Komiker wie Milton Berle („Mr. Television"), Ed Sullivan oder Jack Benny als die eigentlichen Triebkräfte der rasanten Verbreitung und Beliebtheit des Fernsehens

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Fernsehkunst

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als Abendunterhaltung in den 1940er und 50er Jahren, die in ihren Shows Verbalhumor mit Slapstick verbanden und jede Woche neue Sensationen boten: von Akrobaten bis zu tanzenden Bären (vgl. Brooks 2007, xiv-xv). Zugleich feierte das serielle Ensemble-Drama erste Erfolge, da es im Gegensatz zur steten Charakterfluktuation in den ernsthaften und komödiantischen Anthologie-Shows eine feste Gruppe an Fernsehcharakteren versammelte, die jede Woche in einer andauernden Narration wiederkehrte und dem Zuschauer ein Gefühl familiärer Intimität gab und damit eines der langlebigsten Motive des US-amerikanischen Fernsehens begründete (vgl. Feuer 1984: 56). ,,[T]he regular and repeated appearance of a continuing group of characters is one of its strongest techniques for the development of rich and textured dramatic presentations" (Newcomb 1974: 254). Bereits 1951 kündigte sich die langsame Abkehr von Live-Darbietung an, welche ihren prägendsten Ausdruck in der epochalen Erfolgsgeschichte der Comedy-Serie „I Love Lucy" fand. In den sechs aufeinanderfolgenden Produktionsjahren gehörte sie regelmäßig zu den beliebtesten drei genreübergreifenden Fernsehsendungen (in den ersten vier Jahren verzeichnete sie sogar die höchsten Zuschauerzahlen), konnte noch Jahre und Jahrzehnte später mit Wiederholungen einzelner Episoden und ganzer Staffeln hohe Einschaltquoten erzielen und feierte auch international in über 100 Ländern Erfolge (Leibman 2004; Anderson 2004). Möglich machte dies auch die bewusste Entscheidung gegen die Live-Übertragung der Sendung. Die in Los Angeles ansässige Schöpferin des Serienkonzepts und charismatische Hauptdarstellerin Lucille Ball hatte sich standhaft geweigert, auf Wunsch des Senders CBS nach New York zu gehen, um die Episoden ihrer Serie live senden zu lassen. Die Filmaufzeichnung enthob die Sendung von der Flüchtigkeit der Direktübertragung und ermöglichte durch die hochauflösende Speicherung eine Wiederausstrahlung der Folgen: „The appeal of reusable filmed programs, all started by ,1 Love Lucy', eventually resulted in the shift of television production from New York, where it had all started, to Hollywood, where the film facilities were" (Brooks/Marsh 2007: 653). Obwohl auf der Radiotradition fußend und die Ressourcen der Filmindustrie nutzend, können die kurzweiligen Episoden von „I Love Lucy" als Sinnbild der Emanzipierung des Fernsehens von seinen Vorgänger- und Konkurrenzmedien begriffen werden. Mit dem Aufkommen von Videotechnik und Telefilm sowie der Schwerpunktverlagerung von der Theaterstadt New York in die Filmstadt Los Angeles wurde das Ende der Live-Dramen besiegelt. Die großen Filmstudios Hollywoods hatten nach anfänglicher Oppositionshaltung zum neuen Medium das wirtschaftliche Potenzial des Fernsehens erkannt, übernahmen den Großteil der Produktionsaufträge und konzentrierten sich gemäß der Zuschauerpräferenzen auf Motive der Populärkultur. Hinzu kam der Wechsel vom Sponsorenfernsehen zum werbefinanzierten Networkfernsehen, das seine Programme nach der Sehbeteiligung der Zuschauer ausrichtete, um Werbezeit an die Konsumgüterindustrie zu verkaufen. Dieser Umstellung wird zur Last gelegt, eine knapp drei Jahrzehnte andauernde kreative Durststrecke ausgelöst zu haben, auch bezeichnet als „dark ages of television" (vgl. Thompson 1996: 24). Verlassen wurde sich in den Folgejahren auf Game Shows, Western, „Idiot

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Sitcoms" (Brooks 2007, xvi) und Actionformate, welche den hochkulturellen Anleihen, wie sie in den Live-Dramen noch ausgestellt worden waren, völlig zu entsagen schienen und Newton Minow zu seiner berühmten Rede über das Fernsehprogrammangebot als „vast wasteland" inspirierte (vgl. Kapitel M.2.). Die pauschale Aburteilung des Fernsehens als künstlerisches Brachland, das in seiner überwältigenden Fülle an anspruchslosen Sendeinhalten die kulturelle Entfaltung wertvoller Produktionen im Keim ersticke, erwies sich als passendes Gegenbild zum Etikett des .Goldenen Zeitalters', das selbst nicht mehr war als eine undifferenzierte Verherrlichung einer kurzen Periode des Fernsehschaffens, das sich fremder Inszenierungsprinzipien bediente. Der Rückgriff auf die klassische Dichotomisierung guter und schlechter Kultur lenkte den Blick auf die vermeintlich bessere, weil künstlerisch wertvollere, aber längst verlorene Fernsehvergangenheit und rechtfertigte eine anhaltend abwertende Haltung in der Kulturkritik gegenüber den Versuchen des Fernsehens, eine eigenständige Ästhetik zu entwickeln und sich nicht allein als Derivat des Theaters oder Kinofilms zu begreifen. Diese wirkungsvolle Wertbesetzung musste zur Ignoranz durch die Intelligenzia gegenüber der kulturprägenden Funktion solch beliebter Westernserien wie „Hoppalong Cassidy", „Gunsmoke" und „Bonanza" oder Comedy-Formate wie „The Mary Tyler Moore Show", „M*A*S*H" und „All in the Family" führen, die Zuschauerrekorde erzielten und ihren eigenen Beitrag zur Ausbildung einer eigenen televisuellen Formsprache leisteten. Auch spätere Publikumserfolge wie die Sitcoms „Seinfeld" oder „Friends" wirkten sich prägend auf die televisuelle Formsprache aus. Jane Feuer, die sich eingehend mit der Qualitätsdebatte im US-Fernsehen befasst hat, bemerkt eine eklatante Unstimmigkeit zwischen der wissenschaftlich fundierten Analyse von kulturell hochwertigem Fernsehprogramm und den betreffenden Wertzuschreibungen im diskursiven Kontext: So unterschieden sich viele Reality Shows in ihrem Rückgriff auf bekannte Genres nicht gravierend von jenen fiktionalen Serienstoffen, die mit einem Qualitätsprädikat versehen worden seien (Feuer 2007: 157). Wahrend erstgenannte jedoch schnell in Verruf kamen und als .Unterschichtenfernsehen verschrien wurden, fanden Letztere als Aushängeschilder televisueller Spitzenproduktion Einzug in die Fernsehgeschichte, obwohl sich auch das Reality TV mit Formaten wie „Survivor" und „Big Brother" in provokant-innovativer und moralisch-grenzwertiger Performancekunst übte. Diente die theatrale Fernsehkunst in den frühen Jahren zur Erbauung eines sich selbst als kultiviert und distinguiert von der gesellschaftlichen Masse abhebenden Publikums, formten sich um die massenkompatiblen Unterhaltungsformate Fan-Kulturen, die sich dadurch auszeichnen, eine hohe Loyalität und einen großen Erinnerungsreichtum hinsichtlich der lang laufenden Serien und Shows aufzubauen. 8.2.2. Die Formelhaftigkeit

der,

Qualitätsserie'

Der starke Begriff des .Goldenen Zeitalters' entsprach also einer gewissen Verschleierung der ästhetischen Qualitäten des Mediums Fernsehens vor allem unter Anbiederung an die Traditionen des Theaters. Dies zeigte sich auch erneut, als Anfang der 1980er Jahre

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die Polizeiserie „Hill Street Blues" Premiere hatte und als Auftakt eines zweiten .Goldenen Zeitalters' des Fernsehens gefeiert wurde. Ab der ersten Episode überraschte sie das Prime Time-Publikum mit einer verblüffenden stilistischen Integrität, komplexen Charakteren, einer ,realitätsnahen Dramaturgie, lebensnahen wie ernsthaften Themen und einer symbolischen und emotionalen Dichte, die dem an sich unspektakulären Erscheinungsbild der Serie eine auratische Qualität verlieh (vgl. Thompson 1996: 59-74). Der Quotendruck mochte das Ende der theatralischen Live-Dramen besiegelt haben: Nun wurde der Wettbewerb zwischen den großen Networks und den sich ausbreitenden Kabelfernsehanbietern zur Antriebsfeder einer neuen Tradition von fiktionalen Fernsehproduktionen, die sich in der Vielfalt der Produzenten und Programmveranstalter inhaltlich und stilistisch ähnlich breit ausdifferenzierte wie die Anthologiekonzepte in den Hochzeiten des Live-Dramas und sich nach Ansicht Robert Thompsons mit der Zeit zu einem eigenen Qualitäts-„Super-Genre" entwickelte (vgl. Thompson 2007, xvii). Anders als noch als in den 1950er Jahren, in denen Theater als eines der großen Vorbilder diente, strebten die fiktionalen Qualitätsformate nun der Ästhetik und dem Produktionsaufwand des Kinofilms nach, ohne indes auf die Errungenschaften der Fernsehdramaturgie zu verzichten wie allen voran das serielle Erzählen in Bild und Ton. Inszenatorische Filmstile aus Hollywood und die Vorbilder des europäischen Kunstkinos wurden für die Formatentwickler des Fernsehens zu Inspirationsquellen (vgl. Feuer 2007: 150). Die Anbindung an die US-Filmindustrie fand Ausdruck in einem steigenden Produktionsaufwand und einem neuen ästhetischen Selbstbewusstsein: Diese Annäherung suggerierte einen gestiegenen Anspruch, eine höhere kulturelle Relevanz, die sich zudem in der Besetzung von Fernsehrollen mit bekannten Filmstars ausdrückte. Serien wie „Twin Peaks", „Northern Exposure", „St. Elsewhere" und „thirtysomething" ernteten viel Beifall selbst von ewigen Zweiflern und steigerten auch international das Ansehen des Programmangebots der US-Fernsehveranstalter, dessen Ruf aus künstlerischer Perspektive in den Vorjahren trotz zahlreicher Publikumserfolge und Exportschlager wie „Bonanza", „Star Trek", „Dallas" oder „Denver Clan" stark gelitten hatte. Als der kanadische Regisseur Jon Cassar, der im Jahre 2006 für seine Arbeit an der innovativen Thrillerserie „24" ausgezeichnet wurde, in seiner Dankesrede sagte: „Wir arbeiten in einem neuen goldenen Zeitalter des Fernsehens! Lasst es uns genießen!" (zitiert nach Kramp 2006a), war diese Ära noch in vollem Gange. Stimmt man mit Robert Thompson überein, sind zwar verschiedene Phasen in der Karriere jenes „Quality TV" auszumachen, das mal mehr mal weniger eindrucksvoll die Innovationskraft der Fernsehkreativen belegt, doch gibt es seit der Ausstrahlung von „Hill Street Blues" eine zusammenhängende Entwicklung, die sich weiter fortsetzt. Thompson versteht unter „Quality TV" ausschließlich das Format der fiktionalen einstündigen Fernsehserie, um das die Qualitätsdebatte im anglophonen Verbreitungsraum vorzugsweise kreist (Thompson 1996:17). Mit der gebotenen Vorsicht angesichts der in ihrer Allgemeingültigkeit problematischen Bezeichnung lassen sich mit Thompson deskriptiv folgende zentrale Merkmale von .Qualitätsserien ermitteln (vgl. ebd.: 13-15). Dabei sollen in diesem Zusammen-

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des

Fernsehens

hang zugleich die gedächtnisrelevanten Qualitäten des apostrophierten „Super-Genres" erörtert werden: 1. .Qualitätsserien gehen über das gewöhnliche Produktionsschema des Fernsehens hinaus. Die Unterscheidung ist keinesfalls profaner Natur, sondern verweist auf die intendierte Transformation etablierter Konventionen. Durch die Kultivierung des Bruchs althergebrachter Genreregeln durch die Serienentwickler schaffen entsprechende Sendungen Irritationen und wandeln den Blick auf tradierte Formeln. ,,[Q]uality drama always claims to be original in relation to the regular TV norms of its era" (Feuer 2007: 148). Als Effekt stellt sich eine Adjustierung von Fernsehgewohnheiten ein, provoziert durch die Herausforderung des gewohnten Blicks auf den (eigenen) an der Fernsehvergangenheit gebildeten Erfahrungshorizont. Die Infragestellung von Sehgewohnheiten regt den Rezipienten an, sich ähnlicher zurückliegender Fernseherlebnisse zu entsinnen und sie in der Bedeutung für die eigene Biographie in Korrelation mit der neuen Erfahrung zu perspektivieren; die Fernsehindustrie wiederum wird zu einem dynamischen Spiel mit ihrer eigenen Vergangenheit, wertgeschätzten Formattraditionen und dem latenten Problem der Identitätstreue angeregt. 2. .Qualitätsserien knüpfen häufig an eine qualitativ hochwertige Vorgeschichte an: Regisseure und Autoren, die sich (auch in anderen Medien wie dem Kino) mit Ausnahmeproduktionen einen Namen gemacht haben, werden vorzugsweise mit Aufträgen für neue Serienproduktionen betraut und feiern durch ihre Reputation Erfolge. Steven Bochco, der Schöpfer von „Hill Street Blues", Dick Wolf, der eine ganze Reihe von Krimiserien („Law & Order", „Deadline", „Dragnet" etc.) verantwortet, der Filmemacher J.J. Abrams, der mit seinem kryptischen Strandungsdrama „Lost" einen weltweit einzigartigen Hype auslöste, oder Aaron Sorkin, der mit „The West Wing" einen beispiellosen Achtungserfolg im Segment der politisch-bildenden Unterhaltung verzeichnete: Ihre Namen stehen beispielhaft für eine ganze Reihe an kreativen Köpfen, die mit ihren Serienkonzepten wegweisende Impulse in der Fortentwicklung dessen lieferten, wie das Fernsehen Geschichten erzählt. Weiterhin sind .Qualitätsserien Anziehungspunkte für Stars aus dem Filmgeschäft, die dem Fernsehen vermehrt den Vorrang vor Filmprojekten geben (vgl. Kramp/Weichert 2007a). 3. Die von .Qualitätsserien angesprochenen Publika gehören zu den attraktivsten Zielgruppen für die Fernsehveranstalter: Der Anteil hochgebildeter, junger Trendsetter im urbanem Lebensumfeld, die vor allem von den Werbeanstrengungen der Konsumgüterindustrie erreicht werden sollen, ist bei solchen Programmangeboten besonders hoch. Sie gehören gleichsam zu den professionellen Fernsehzuschauern, die mit dem Medium aufgewachsen sind und gemeinhin glauben, schon alles gesehen zu haben und dazu neigen, eine kritische Haltung gegenüber Programmangeboten einzunehmen, durch die sie sich in ihrem televisuell geschulten Intellekt beleidigt sehen. Sie wollen gefordert und überrascht werden. Autoren, Regisseure, Dramaturgen, Produzenten müssen sich die Anerkennung dieses anspruchsvollen Publikums verdienen. Fernsehen in seiner gängigen Form ist Allerweltskunst, über die sich jeder ein

III. 8.

Fernsehkunst

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Urteil glaubt erlauben zu können: „Virtually everyone knows ist jargon and production secrets; could we say the same about plastics, waste disposal or even education?" (Ellis 2004: 275). Die Wertschätzung bestimmter demographischer Gesellschaftsteile mag einerseits auf die größere Kaufkraft zielen, andererseits eröffnet die Akzeptanz des Programms durch solcherlei Zielgruppen die Stärkung des kulturellen Prestiges eines Sender und ergo seiner Legitimation (vgl. auch Thompson 1996: 189). 4. Um ihren kulturellen Sonderstatus zu entfalten, müssen sich .Qualitätsserien häufig gegen geltende Prinzipien der Fernsehindustrie durchsetzen: Um ihren bleibenden kulturell-signifikanten Stellenwert zu erhalten, wollen sie von den Zuschauern erst entdeckt werden, was mitunter längere Zeit erfordert und gegen die kurzfristigen Profitziele der Programmveranstalter spricht. Die Schwierigkeiten eines Serienkonzepts, sich gegen niedrige Sehbeteiligung und die daraus resultierenden Einwände von Programmverantwortlichen hinsichtlich einer Marktuntauglichkeit zu behaupten, sind charakteristisch für eine .Qualitätsserie', die um ihre künstlerische Legitimität im disparaten Programmumfeld kämpfen muss. Dieser Legitimationsprozess verleiht der Serie bereits eine überragende Gedächtnisrelevanz, da sie sich ihren Status bei Fernsehsendern und dem Publikum erst hat verdienen müssen. Sie verfügt also über eine (Erfolgs-) Historie, die sie von anderen Formaten unterscheidet. Dass .Qualitätsserien in ihrer herausgehobenen Bedeutung nur schwer planbar sind, lässt sich daran erkennen, dass viele aufwendige Produktionen scheitern und nach wenigen Episoden oder nach Ausstrahlung der ersten Staffel abgesetzt werden wie im Falle der ambitionierte Serie „Studio 60 on the Sunset Strip" von Aaron Sorkin, die hinter die Kulissen einer fiktionalen Comedy-Show nach dem Vorbild des seit Jahrzehnten erfolgreichen Live-Formats „Saturday Night Live" (NBC) blickte. Ein Großteil aller neuen Formate wird wegen ausbleibendem Quotenerfolg wieder aus dem Programm genommen, erhält aber in Ausnahmefällen eine zweite Chance durch einen späteren Verkaufserfolg im Zuge der DVD- oder Internet-Auswertung. 5. .Qualitätsserien tendieren dazu, mit einer großen Zahl an Schauspielern aufzuwarten, deren Rollen so vielseitig sind wie die Erzählstränge komplex. Der ausgiebigen Schilderung der biographischen Entwicklung einer Figur werden mitunter vollständige Episoden gewidmet. Die Charaktere, ihre Beweggründe und Probleme stehen in der Regel im Vordergrund der Geschichte. Die mit der Zeit stark angewachsene Zahl an Charakteren innerhalb einer zusammenhängenden Serienerzählung kann unter anderem vor dem Hintergrund der Fragmentarisierung des Fernsehpublikums in einer „Multichannel-World" (vgl. Webster 2005) erklärt werden: Das sich stetig weiter ausdifferenzierende Angebot von hunderten interessensbezogener Spartenkanäle stellt die klassischen Vollprogramme wie auch die auf Spielformate fixierten Kabelkanäle vor das Problem, weiterhin ihr Zielpublikum möglichst umfassend zu erreichen. Die Konzeptualiserung einer breiten Palette an Seriencharakteren, die nach und nach im Wechsel und mit narrationsbezogen gewichteten Schwerpunkten in angemessener Tiefe portraitiert werden, breitet vor dem disparat gewordenen Zuschauerfeld ein rei-

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des Fernsehens

ches Angebot an Identifikationsfiguren aus, das für möglichst jeden Rezipiententypus einen Zugang zum Serienplot bereithält. Dass die Erzählung dadurch notwendigerweise an Komplexität zunimmt, stellt zwar erhöhte Anforderungen an die Produktion, um die Geschichte trotzdem plausibel und verständlich zu gestalten, doch birgt dies auch die Chance einer Attraktionssteigerung durch erzählerische Dichte und der Möglichkeit, bei wiederholter Rezeption stets etwas Neues zu entdecken, das einem zuvor entgangen war. Das Fernseherlebnis des Zuschauers wird also potenziell intensiviert, indem kognitive und emotionale Prozesse angeregt werden, die zu einer stärkeren Bindung des Rezipienten an die Serie führen kann. 6. .Qualitätsserien zeichnen sich häufig durch eine übergreifende Metaerzählung aus, welche die für sich stehenden Handlungsepisoden verbindet. Thompson schreibt hierzu, Qualitätsfernsehen habe ein „Gedächtnis" (vgl. Thompson 1996: 14) und meint damit die vielgestaltigen Bezugnahmen der Handlungsstränge auf Geschehnisse in den vorhergegangenen Episoden. Dieses auch mit „Story Ark" bezeichnete Narrationskonzept sorgt für eine Zunahme an Komplexität und Involviertheit des Zuschauers, der angeregt wird, sich tiefer in die Erzählstruktur und die Belange der Fernsehcharaktere hineinzufühlen und hineinzudenken. 7. .Qualitätsserien erweitern auch das ästhetische und thematische Repertoire des Mediums, indem sie alte Genres mischen und daraus neue kreieren. Todd Gitlin bezeichnete diese Methode mit dem Begriff der „Rekombination" (vgl. Gitlin 1983: 78-79). Durch die Mischung und das Neuarrangement altbekannter Stilformen und Genretypen ermuntern solche Produktionen Fernsehmacher und Rezipienten gleichermaßen dazu, implizite wie explizite Referenzen aus der Fernsehvergangenheit zu reflektieren und damit einen Sinn für die Historizität und Kontinuität des Fernsehschaffens zu erhalten. 8. Die literarischen und autorenfixierten Qualitäten des Fernsehens werden durch .Qualitätsserien protegiert, wodurch experimentelle, anspruchsvollere und insgesamt komplexere Drehbücher entstehen als für andere Programmformen. Die Nähe zum Roman drückt sich auch in der bereits erwähnten Dichte der Erzählungen aus. Wie Newcomb beobachtet hat, entwickeln sich die betreffenden Handlungen gemächlicher und bauen somit einen im schnellen, abwechslungsreichen Programmbetrieb ungewöhnlichen Spannungsbogen auf, der einer literarischen Dramaturgie ähnlich ist: „It is this sense of density, built over a continuing period of time, that offers us a fuller sense of a world fully created by the artist" (Newcomb 1974:256). Hinzu kommt eine Affinität zur Filmkunst: Die einstündigen Fernsehdramen seien nichts anderes als „art films" mit anderen Mitteln, schreibt Thompson (Thompson 1996: 16). 9. Qualitätsfernsehen wird als solches kommuniziert - in bewusster Abgrenzung zum übrigen Programmangebot, das implizit häufig als qualitativ minderwertig gilt. Umso schwerer wiegt die inhaltliche Selbstreflexivität (Feuer 1984: 44): Die fernseheigene Werbung wurde in ihrem Anliegen, die herausragenden Qualitätsformate nicht in

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Vergessenheit geraten zu lassen, immer aufwendiger, immer einfallsreicher und erreicht die potenziellen Rezipienten mittlerweile in allen nur erdenklichen Alltagssituationen, einschließlich durch Lasermarkierungen auf Hühnereiern oder den Versand von Bluetooth-Botschaften auf Mobiltelefone im New Yorker Zentralbahnhof (vgl. Kramp 2006b). 10. Außerdem verschließt sich Qualitätsfernsehen nicht gesellschaftlichen Kontroversen, sondern greift sie bewusst auf oder verursacht sie teilweise sogar. Politische und moralische Konfliktthemen wie die Abtreibungsfrage, gleichgeschlechtliche Liebe, Rassismus und Religion sind Beispiele, die häufig von entsprechenden Serien aus einer liberal-humanistischen Perspektive adaptiert werden: „So consistent have these shows been in this regard that it is hard to imagine a right-wing .quality TV' series" (Thompson 1996:15). Somit propagieren .Qualitätsserien einen ideologisch genormten Blick auf aktuelle sowie vergangene Streitfragen innerhalb Gesellschaft und können Einfluss auf die Sicht der Zuschauer sowie in der Folge auf die Ausrichtung von Erinnerungskulturen nehmen. 11. .Qualitätsserien werden gern als,realitätsnah' inszeniert und nähern sich in ihren Erzählungen und ihrer Ästhetik dem jeweiligen Zeitgeist und der gesellschaftlich geteilten Auffassung von Realität an. Sie werden dadurch zu kulturellen Phänomenen und nehmen retrospektiv den Wert von Repräsentationen einer Periode an, dessen künstlerischer Gehalt Ausdruck von Mentalitäten auf Produzenten- wie auch auf Rezipientenseite ist - je nach dem Publikumserfolg einer Serie, der sich in Einschaltquoten oder auch in Fan-Praktiken ausdrücken kann. Thematisch nähern sich .Qualitätsserien' oft der Komplexität des »normalen Lebens mit all seinen subtilen Zusammenhängen und Irrationalitäten an, die dem Zuschauer einerseits Anknüpfungspunkte für das Nachfühlen des Dargestellten bzw. die Identifikation mit involvierten Charakteren geben, ihn andererseits aber auch intellektuell beanspruchen und seine Loyalität einfordern, die Serie ohne Unterbrechungen zu verfolgen. Dazu gehören auch stellenweise Entfremdung und Abstraktion, die eine Nähe zur Erfahrungswelt des Zuschauers auf artifizieller Ebene konstruieren, um ihn dazu zu bewegen, „to interpret and ruminate on the question of human and social identity" (Cardwell 2007: 29). Solche interkulturell verbreiteten Motive (z.B. Pathosformeln) regen nicht nur eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Sendeinhalt an, der die Besonderheiten zeitgenössischer Lebensstile in all ihrer Gewöhnlichkeit aufgreift, sondern verknüpfen ihn darüber hinaus auch mit übergeordneten wie grundsätzlichen Fragen des menschlichen Daseins und stellen die Gegenwart in einen unauflöslichen Bezug zu historisch gewachsenen Werten und kulturellen Mythen, die in ihrer abstrakten Aussagekraft im Kontext der Fernsehnarration verständlich kommuniziert werden und im Zuschauer einen Sinn für das kulturelle und allgemein humanistische Erbe erzeugen. 12. .Qualitätsserien' werden regelmäßig und überschwänglich mit Auszeichnungen prämiert und mit enthusiastischem Kritikerlob bedacht. So erfolgt die professionelle Qualitätskontrolle in den USA prominent im Namen George Foster Peabodys und

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens einer Röhre namens Image-Orthikon: Fernsehpreise wie die US-amerikanischen Emmy Awards der National Academy of Television Arts and Science und die Peabody Awards vergolden zumeist den Publikumserfolg der ausgezeichneten Produktionen oder stoßen ihn erst an, Letzteres vor allem dann, wenn zutrifft, was die Zeitschrift „Newsweek" anlässlich der Emmy-Nominierungen in 2008 feststellte: „Can a highquality television show have a major impact, even if no one watches it? In the world of the Emmy Awards, the answer, more or less, is a faith-restoring yes" (Alston 2008). Obgleich den Emmys bisweilen vorgeworfen wird, sie seien eine Geste der Selbstlobhudelei der Fernsehindustrie, und die Peabody Awards weiten Teilen der US-Fernsehzuschauer nicht bekannt sind, geschweige denn einer internationalen Öffentlichkeit, sind sie doch prestigeträchtige kulturelle Trophäen, welche die Legitimität und den Geltungsanspruch des Fernsehbetriebs auf künstlerische Eigenständigkeit unterstreichen.

Es handelt sich bei .Qualitätsserien nach Thomsons Klassifikation also kurzum um Programmereignisse, die aufgrund ihrer innovativen Formsprache, ihrer literarischen und cineastischen Dimensionen, ihrer mythischen Komplexität und ebenso lebensnahen Konnotationen gleichsam Kritiker wie Zuschauer faszinieren und selbst von „Snobs" im Sinne fernsehkritischer Kunstliebhaber rezipiert werden können, ohne dass sie sich dafür schämen müssten (vgl. Thompson 1996: 17). Mit anderen Worten: Wenn es dem Fernsehen gelingt, selbst seinen unverbesserlichen Boykotteuren Interesse für seine Produktionen abzuringen, wird es mit einem hochkulturell akzeptablen Qualitätsprädikat bedacht. „Quality T V " hat sich nach Thompson zu einer industriellen Produktionsformel entwickelt, die zu einem immer höheren Output an Qualitätsserien geführt hat und sich dadurch selbst zu demontieren scheint: Was vormals innovativ und überraschend war, sei heute Standard, basierend auf einer Qualitätsformel, die nur noch besser vor Augen führe, dass eine ,Qualitätsserie' nicht immer auch .gutes Fernsehen bedeute: Obgleich er also elf Jahre nach seiner Kategorisierung dessen, womit er künstlerische Qualität in USamerikanischen Fernsehserien zu erkennen glaubte, eben diese wieder relativiert, indem er schreibt: „Now I can find a lot of shows on the air that exhibit all 12 characteristics but in the end, aren't really all that good", betont er damit nicht die Ungültigkeit seiner Beobachtungen, sondern betont die intuitiv verschriebene Wertigkeit von Qualität, die sich unbewusst auf einen Kombination eigener und fremder Erfahrungswerte stützt und begrifflich kaum zu klassifizieren ist (vgl. Thompson 2007, xx). Mit dem selbstverständlichen wie wichtigen Hinweis, es gebe genauso gutes wie schlechtes Qualitätsfernsehen, wird auf die zentrale Funktion des Rezipienten bei der Bewertung eines Formats rekurriert: „Good television is television that we experience positively: we find it engaging, stimulating, exciting, original and so on" (Cardwell 2007:31 Hervorh. im Orig.). Jeder Fernsehnutzer und jeder Fernsehmacher hat seine eigenen Vorstellungen davon, bei welcher Sendung es sich um eine Qualitätsproduktion handelt oder nicht. Natürlich ist die laienhafte Sicht des Zuschauers, dem es in der Regel an fachlichen

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III. 8. Fernsehkunst

Vergleichserfahrung mangelt, aus künstlerischer Perspektive durchaus zu vernachlässigen, weil von dieser Seite keine professionellen Bewertungsmaßstäbe zur Anwendung kommen. Diese individuellen Wertungen durch Rezipienten indes machen sich zu einem erheblichen Teil auch an allgemein geteilten Wertauifassungen in einer Fernsehkultur fest, auch wenn diese regelmäßig Fluktuationen unterworfen sind und sich nur selten auf eine stabile „group identity" stützen können, die den zeitgenössischen US-,Qualitätsserien hin und wieder attestiert wird (vgl. ebd.: 25). Nichtsdestotrotz hat der eindrucksvolle Publikumserfolg solcher Serien gezeigt, dass Kunst als kulturelles Distinktionskapital nach Bourdieus Auffassung auch auf der Distributionsplattform Fernsehen handelbar ist und sich - bei entsprechender Qualität - einer enormen Faszination erfreut. 8.2.3. „It's not TV. It's HBO": Markenbildung

als kulturelle

Leistung

„,Its not TV. It's HBO.' Oh get off it, it is too TV. The slogan is objectionable on various levels - what's wrong with being ,TV' in the first place, you stuck-up little snobs?" (Shales 2005). Das US-Kabelnetwork Home Box Office, kurz: HBO, hat nicht nur durch die Einführung seines provokanten Werbeslogans im Oktober 1996, der schnell zum untrennbar mit der Marke verbundenen Claim avancierte, die übrige Fernsehbranche in Aufruhr gebracht. Ursprünglich als exklusiver Verwerter bei der Erstausstrahlung von Kinofilmen im Fernsehen gestartet, wandelte sich das Tochterunternehmen des Medienkonzerns Time Warner seit seiner Gründung im Jahre 1972 zu einem Pionier des Bezahlfernsehens (vgl. Whiteside 1985) und revolutionierte die US-amerikanische Fernsehphilosophie, indem es sich auf ein eng umgrenztes Programmangebot konzentrierte, sich vorrangig der Eigenproduktion von .Qualitätsserien verschrieb und sich damit klar von den traditionellen, frei empfangbaren Vollprogrammen abgrenzte. Die Negierung seines Fernsehcharakters ist zweifellos irreführend: Natürlich blieb HBO immer (wenn auch werbefreies) Fernsehen, doch die Exponierung seiner Differenz sorgte für die notwendige Aufmerksamkeit, die für einen Regelbetrieb des Ungewohnten die ökonomische Voraussetzung bildete: „HBO is different enough that good, unusual ideas get turned into great, sometimes spectacular television. For that, the network deserves most of the praise it gets" (Bednarski 2003). Mit seinem Vermarktungskonzept hat HBO mehr für das Ansehen des US-amerikanischen Fernsehens im In- und Ausland bewirkt, als es irgendein Vollprogramm hätte leisten können (vgl. Power 2004). Für die Nutzung der HBO-Programme wird eine monatliche Gebühr erhoben. Auf (Fremd-) Werbung wird vollständig verzichtet, die Ausstrahlung der Sendungen erfolgt ohne jegliche Unterbrechung. Bei der Programmgestaltung liegt das Augenmerk daher alleinig auf der Zufriedenstellung der Rezipienten und nicht der Werbekunden mit ihren demographischen Präferenzen hinsichtlich junger Zielgruppen (vgl. Edgerton 2008: 1). Die Konkurrenz der frei empfangbaren Vollprogramme wie ABC, CBS, Fox und NBC können sich eine solch ausschließliche Rezipientenorientierung

412

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

nicht leisten, weil ihr (zahlender) Kundenstamm nicht in den Zuschauerreihen zu verorten ist, sondern in der Werbeindustrie. Hinzu kommen die unscharfen Senderidentitäten der großen Networks, die als Rundumanbieter von Informations- und Unterhaltungsformaten im weitesten Sinne ihrer vielgestaltigen Formen und Inhalte die allgemeine Öffentlichkeit adressieren, wodurch sich ein elitäres Senderprofil verbietet. HBO zeichnet verantwortlich für die meisten der kulturell einflussreichsten .Qualitätsserien seit Ende der 1990er Jahre: Das mafiose Familienepos „The Sopranos" wurde gelobt, es gebe „you something - almost too many things - to think about. There has certainly never been anything like it on TV, and on network TV there never could be anything like it - it goes out on a limb that doesn't even exist at the networks" (Franklyn 1999:105 - Hervorh. im Orig.); die komödiantische Beziehungs- und Geschlechtersatire „Sex and the City" geriet zum internationalen Lifestyle-Phänomen; das Aids-Drama „Angels of America", eine Adaption des gleichnamigen siebeneinhalbstündigen Theaterstücks von Tony Kushner um die Situation von Homosexuellen in den USA, markierte laut Kritikermeinung einen Triumph in wirtschaftlicher Hinsicht aufgrund seiner exorbitanten Länge, Kosten und des involvierten Starensembles (Gener 2003: 31) sowie in kultureller Hinsicht aufgrund des Aufgreifens eines gesellschaftlichen Konfliktthemas, die der Theatervorlage alle Ehre machte (McCabe 2003); und die Kriegsserie „Band of Brothers" rang Kritikern wegen ihrer komplexen Problematisierung von Kriegserinnerung und Kriegswirklichkeit auch Bewunderung ab, die selbst gefeierten Kinoklassikern wie Steven Spielberg „Saving Private Ryan" überlegen sei (vgl. Schatz 2008: 130). Komplettiert wird diese kleine Auswahl an kulturell signifikanten Beispielen durch Eigenproduktionen wie die unkonventionelle Westernserie „Deadwood", die gefeierten Kriminalserien „The Wire" und „Oz", die historischen Stoffe „Carnivale" und „Rome", Comedy-Formate wie „Entourage" und „Curb Your Enthusiasm" und Fernsehfilmproduktionen wie Gus van Sants Amoklauf-Drama „Elephant", Gewinner der Goldenen Palme des Filmfestivals von Cannes, oder „Iron Jawed Angeles" der deutschen Regisseurin Katja von Garnier (vgl. auch Kramp 2004), die allesamt wegen ihrer außergewöhnlichen Erzählformen Fernsehgeschichte schrieben, mit Auszeichnungen überschüttet wurden 162 und jene um sich greifende Innovationsfreudigkeit in der US-amerikanischen Fernsehbranche mit auslösten, die ein Umdenken in den Planungsabteilungen der Branchengrößen beförderte, ein Wettrennen um den nächsten Coup in der fiktionalen Fernsehunterhaltung anstieß und das zweite .Goldene Zeitalter des Fernsehens' Sendesaison für Sendesaison fortsetzt. 163

162 Allein in 2004 gingen nach 124 Emmy-Nominierungen 32 der Trophäen an HBO-Produktionen. 163 Auch auf HBO wurden freilich Serien abgesetzt, aber in den seltensten Fällen aus Misserfolg wie im Falle der fiktiven ,Real Life'-Show „The Comeback" mit der Komödienschauspielerin Lisa Kudrow, bekannt aus der NBC-Serie „Friends", oder der Sitcom „Lucky Louie", die vergleichsweise geringe Zuschauerzahlen für sich interessieren konnten. In 2005 sorgte die Absetzung nach zwei von sechs geplanten Staffeln des preisgekrönten Historiendramas „Carnivale" für einen Aufruhr unter den Fans der Serie, nachdem der Serienentwickler Daniel Knauf bei dem Konkurrenzsender Showtime einen Vertrag unterzeichnet hatte.

III. 8.

Fernsehkunst

413

Indem HBO schon seit Anfang der 1990er Jahre vermehrt auf die Eigenproduktion ambitionierter .Qualitätsserien setzte und diesen wachsenden Anteil an seinen Programmangeboten als genuine Fernsehkunstspektakel bewarb, schuf es mächtige „cultural force fields" (Power 2004). Wie bereits die vorigen Ausführungen gezeigt haben, hat HBO jedoch weder die .Qualitätsserie' etabliert noch die Fernsehkunst erfunden. So gilt das seit 1951 im frei empfangbaren Fernsehen ausgestrahlte Anthologieprogramm „Hallmark Hall of Fame" zwar als erste und langlebigste „TV signature" in der US-amerikanischen Fernsehgeschichte (Rosenberg 2001: 5), doch entbehrt sie durch die unregelmäßigen Sendetermine und der Traditionsverbundenheit ihrer Formate der starken Marktpräsenz von HBO. Der Verdienst des Fernsehveranstalters ist es insofern, innovative Erzählstoffe durch hohe Investitionen und stete Produktionstätigkeit ihres Nischendaseins zu entledigen und aller Welt zu zeigen, dass Fernsehkunst rentabel ist, mehr noch: dass Fernsehkunst die Marktführerschaft verspricht.164 Damit wurde HBO zum Anziehungspunkt für einige der renommiertesten Kreativen des Fernsehgeschäfts (Edgerton 2008: 13). Den Imagestrategen von HBO gelang es, aus den drei Initialen des Sendernahmens einen Inbegriff für eine Programmwelt der Superlative voller Originalität zu fertigen, der weltweite Bekanntheit und Anerkennung genießt. Die Kopplung der Senderidentität an die kreative Schaffensbreite von renommierten Autoren und Regisseuren hat Voraussetzungen geschaffen für eine Proliferation des künstlerischen Ertrags. HBO wurde durch die zweifellose Überhöhung seiner selbst mittels Distinktion zum übrigen Fernsehprogrammangebot zum Apologeten selbstbewusster Fernsehkunst und propagierte, dass Fernsehen mehr sein kann als ein zweckdienliches Informationsinstrument oder „a guilty pleasure" (Anderson 2008: 26): nämlich ein kultiviertes Genussmittel mit intellektuellem Mehrwert. HBO liefert als Pay-TV-Veranstalter ein Programmangebot für Zuschauer, die sich bewusst für das ,Besser-Fernsehen entscheiden, ein Fernsehen, das sich vom gewöhnlichen Einerlei der sonstigen Sender abhebt und dem Rezipienten das Gefühl gibt, einem sinn- wie wertvollen Vergnügen nachzugehen. Die Programmentwicklung setzt strikt auf Klasse statt Masse: Die Kosten für eine Stunde Abendprogramm schnellten auf einen Rekordwert von vier Millionen US-Dollar, während die Länge einer Serienstaffel von den üblichen 22 bis 26 Episoden auf 13 Episoden beschränkt wurde. Die Millioneninvestitionen in Produktions- und Werbeanstrengungen hatten Symbolwirkung für das Selbstbild der Fernsehindustrie weltweit. Es sind solch strukturellen Entscheidungen, mit denen HBO seine qualitativ anderen Programmanbietern überlegenen Expertise zementiert: „The ability to think of one television series as a work of art exists alongside a belief that others are nothing more than noisy diversions clattering along the conveyor belt 164 Gleichsam legitimierte es die institutionalisierte Fernsehkritik in ihren Forderungen nach einer ästhetischen Sicht auf die fiktionalen Produktionen des Fernsehens und verhalf ihr zu einer Aufwertung als Agenten bei der Bemessung kulturellen Wertes (vgl. Anderson 2008: 38). Daher seien Kritiker den HBO-Formaten gegenüber gemeinhin auch weniger kritisch eingestellt, so ein Vorwurf (Bednarski 2003).

414

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens of commercial structure. Since the rise of cable TV, American television has become organized around such extreme disparities in emerging hierarchies of taste. HBO hasn't caused these changes in the landscape of American television, but it has responded by cultivating an aura of aesthetic distinction and by positioning itself at the top of these hierarchies" (ebd.: 29).

Schon Bourdieu wies bei Zuschauern, die er der „Arbeiterklasse" bzw. dem „Kleinbürgertum" zurechnete, einen ,,heterodoxe[n] Konsum" nach, das heißt: einen gleichwertigen Geschmack für populäre Unterhaltungs- sowie für schöngeistige Kultursendungen (Bourdieu 1987: 512), während die „dem intellektuellen Pol am nächst stehenden herrschenden Fraktionen (Führungskräfte und freiberuflich Tätige) sich an die etablierte Hierarchie der legitimen Werte halten (sofern man dem verschieden stark abwertenden Effekt der Rundfunkübertragung Rechnung trägt)" (ebd.). HBO-Kunden sind daher auch keine gewöhnlichen Fernsehzuschauer, so die Botschaft des Marketings, sondern Femsehliebhaber

mit gutem Geschmack, die ein Kunstwerk in einem Stück und nicht

von Werbeblöcken unterbrochen genießen wollen. Zuschauer sollen an die hervorragende Qualität der HBO-Produktionen glauben, auch wenn sie diese nicht verstehen oder sie ihnen nicht gefallen. U m wirtschaftlich erfolgreich zu sein, musste das Network einen ausgefallenen kulturellen Wert erringen, der ihm das bleibende Interesse einer möglichst großen, wenn auch exquisiten Kundenschaft sichert. H B O sorgte für eine Kommerzialisierung von Fernsehkunst, die selbst von Vertretern der Hochkultur akzeptiert wird, weil sie das Kunstwerk feiert und nicht ausbeutet (zum Beispiel durch die Zerteilung mit Werbeblöcken). Interessanterweise wirkt die elitäre Konnotation des Programmimages offenbar nicht entfremdend auf die abstrakte Größe der Zuschauerschaft, sondern scheint bei weiten Publikumskreisen im Gegenteil Interesse auszulösen. Fernsehkunst wird nicht mit Ablehnung, Unverständnis oder Langeweile begegnet, sondern mit Neugier und Anerkennung. Indem H B O zudem die herrschende Gestaltungsgrundregel des ,Free-TV', mit Programminhalten möglichst nirgendwo anzuecken, um damit ein hohes Quotenniveau bei der Sehbeteilung zu erreichen, 165 kurzerhand verwarf und konsequent einen gegenläufigen Kurs einschlug, wurde es zur televisuellen Kunstgalerie der Avantgarde, deren Faszination sich auch nicht aus beanstandungsloser Massenware speist, sondern aus dem Unerwarteten, auch An- oder Abstößigen. 166 Die hohe Bedeutung eines Gemäldes für die bildenden Künste wird eben durch den Konventionsbruch nicht in Frage gestellt, sondern von ihm in erheblicher Weise mitbestimmt und durch die Reputation der ausstellenden Institution legitimiert. H B O bedient

165 Diese Regel wird als „least objectional programming" bezeichnet und besagt, dass simple wie konventionelle Handlungsabläufe, Dialoge und Kameraeinstellungen die beste Strategie für den nationalen und für den internationalen Markterfolg seien (vgl. Schumacher 2000: 201-202). 166 Wie Schmidt-Burkhardt ausführlich aufzeigt, stellte sich die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts zwar unter das Diktum des radikalen Traditionsbruchs, erschuf indes selbst eine neue Tradition, die sich in die Kontinuität des Althergebrachten in der Kunst einfügte, indem sie sich von ihr abzugrenzen suchte (Schmidt-Burkhardt 2005: 1).

III. 8. Fernsehkunst

415

sich einer Marketingstrategie ähnlich solcher berühmten Kunsthäuser wie das Museum of Modern Art oder die Ghetty-Museen: Das Network wurde weltweit zu einem Inbegriff für Qualität, zu einem televisuellen „gold Standard" (Edgerton/Jones 2008: 317). Die vermarkteten Formate werden nicht mit Rekordeinschaltquoten beworben, um sie mit kultureller Signifikanz aufzuladen, sondern allein die Marke HBO - „the TV equivalent of a designer label" (Edgerton 2008: 9) - reicht aus, um eine Produktion vom Gewöhnlichen abzugrenzen. HBO setzt auf eine „exclusive cultural domain, appealing to a restricted taste culture and to viewers of privileged economic circumstances" (Anderson 2008: 34), eine Zielgruppe, welche die Vorstellung der Masse hinter sich lässt, also sich in ihrem Fernsehverhalten in gewisser Weise einem kulturell elitären Topos annähert: „For those who have acquired the cultural competence needed to adopt an aesthetic disposition, it is possible to look differently upon a television series: to perceive the artistic vision of an individual creator where once one may have seen stories with no discernible author; to reflect on the meaing of form even as one feels drawn into the pleasure of a gradually unfolding narrative; to recognize the threads of cultural and historical references woven into the fabric of a story; to appreciate the subtle subversion of genre conventions and audience expectations; and, most importantly, to celebrate the transcendence of the artwork over everyday experience and more mundane forms of popular culture" (ebd.: 25). Wer an der Kunstwelt von HBO teilhaben möchte, muss erst die Aufnahmekriterien des nicht frei zugänglichen Zirkels erfüllen, sprich: ein Abonnement abschließen. Ein ausgeklügeltes Kryptographieverfahren schützt die Kunstwerke vor unlauterer Rezeption. Sie sind nirgendwo sonst zu sehen, allenfalls als Nachauswertung durch Lizenzverkäufe an andere Fernsehsender oder den DVD-Vertrieb. Hinter dem elitären Senderprofil, exklusive Inhalte, Kunst in Reinform zu versprechen, indem HBO sich vollständig den kreativen Ansprüchen seiner Talente und des Publikums verschreibt, steckt freilich eine simple marktwirtschaftliche Betriebslogik, die zum Ziel hat, die Marke stärken, um den Abonnentenstamm erweitern zu können. Die kulturelle Prägung, der kollektiv-mnestische Wert der Produktionsleistung wird bei HBO zur kalkulatorischen Größe und gerät zum Segen und Fluch zugleich: Programmhöhepunkte wollen in ihrer Exzeptionalität wiederholt oder besser noch übertroffen werden. Das gelingt freilich nur schwerlich, und so wird das Image der Kreativschmiede durch die ständige Rückvergewisserung des Publikums auf das Erbe der bisherigen Programmentwicklung gefestigt, indem nicht bloß unterschwellig, sondern explizit an die großen Serienerfolge und Programmereignisse erinnert wird. Komplementiert wird diese Unternehmung mit dem Vertrieb von DVDs, der die Sammlerleidenschaft der Zuschauer befriedigen soll: Aufsehen erregte vor allem die Vermarktung kompletter Serien in aufwendig gestalteten und mit zahlreichen Zusatzinhalten ausgestatteten Boxsets wie im Fall von „The Sopranos" oder „Six Feed Under". Henry McGee, Chef von HBO Home Video, sieht dies als zentrales Mittel bei den Anstrengungen der Kundenbindung und Markenexpansion: „I would say our video business really comes down to the three Es - exploit the assets, deriving as much revenue

416

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

as possible; extend the brand, where we're using DVDs and cassettes to take the HBO brand right to the shelf; then, thirdly, expand subscribers" (zitiert nach Wilson 2004). Mit Gary Edgerton und Jeffrey Jones lässt sich feststellen, dass HBO einen Ausnahmefall nicht nur in der US-amerikanischen Fernsehgeschichte, sondern weltweit darstellt. Die kulturelle Wucht, mit der HBO die US-Fernsehindustrie verändert hat, hat zu einer Anhäufung bedeutender (Kunst-) Werke geführt, die das Vermächtnis des Kabelnetworks bilden und seine anhaltende Relevanz unterstreichen, aber auch darüber hinaus wegweisende Vorbildfunktion für die Fernsehkultur im Allgemeinen haben, die sich wie folgt zusammenfassen lassen (Edgerton/Jones 2008): Erstens haben Innovationen in allen vier hauptsächlichen Betätigungsfeldern des Networks (Dramen, Comedy-Sendungen, Dokumentationen, Sport) das Fernsehen nachhaltig verändert. Zweitens wurde der Qualitätsstandard für fiktionale Serienformate durch die HBO-Produktionen für die gesamte Fernsehindustrie angehoben. Drittens ist das Verhältnis des Networks zu dem kreativen Personal von einem Grad an Unterstützung und Entfaltungsfreiheit gekennzeichnet, der für die Fernsehindustrie ansonsten untypisch ist. Viertens hat sich HBO zu einer international diversifizierten Marke mit hohem Bekanntheitsgrad entwickelt. Fünftens scheut sich HBO nicht davor, mit seinen Produktionen Geschlechterrollen zu hinterfragen und das Publikum in einen Diskurs über klischeehafte Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität zu bringen. Sechstens nutzt das Network Obszönitäten, Nacktheit und drastische Gewaltdarstellungen nicht zum Zwecke der Sensationalisierung und Aufmerksamkeitsgenerierung, sondern diese stellen vielmehr Begleiterscheinungen eines integeren Konzepts zur Reformulierung standardisierter Programmgenres dar, die sich nah an den Lebenswirklichkeiten bestimmter Bevölkerungsteile orientiert. Und siebtens tragen all diese Features dazu bei, die Sehgewohnheiten und Erwartungen der Rezipienten einem kontinuierlichen Wandlungsprozess zu unterwerfen.

8.3.

Das Spiegelkabinett des Fernsehspiels: Fernsehkunst in Deutschland

Während sich Fernsehkunst im US-Fernsehen als Prime-Time-Spektakel präsentiert und immer schon präsentiert hat, hielt genuin televisuelle Kunst im deutschen Fernsehen eher leise Einzug, wirkte manchmal gar wie ein Fremdkörper im Programm, verbannt in die Regionalprogramme oder auf einen der hinteren Sendeplätze spät abends oder des Nachts. Dennoch hat sich Kunst im deutschen Fernsehen als Teil des Programmauftrags in den Grenzbereichen zwischen Information, Unterhaltung und Bildung zu populären Dimensionen entwickeln können. Die Orientierung am Rundfunkauftrag sorgt bis heute für eine Dominanz normativer QualitätsaufFassungen. Die in ihrer Mehrzahl der gehobenen Bildungsschicht angehörenden Autoren, Redakteure und Dramaturgen in den Sendeanstalten standen zudem anfangs unter dem Eindruck langer Kunsttraditionen und erkannten die Qualität ihrer Arbeiten meist in deutlicher Abgrenzung zur sogenannten „Lieblingskost des Publikums" (vgl. Longolius 1973: 119,125). Während in den USA die Qualität fiktionaler Programminhalte in erster Linie am Publikumserfolg

417

III.8. Fernsehkunst

gemessen wurde und bei entsprechendem Auftreten eine sofortige Aufnahme der betreffenden Sendung in den Fundus populärer Erinnerung nach sich zog, fand in Deutschland durch die nachrangige Bewertung der Publikumsakzeptanz eine vielfach nur akademische Diskussion statt. Mit der im Laufe der Fernsehgeschichte rapide anwachsenden Zahl an Fernsehspielen - bis 1977 zählte Hickethier 4.400 Produktionen, Wiebel bis zum Jahre 1999 ca. 14.000 - verlagerte sich auch im deutschen Fernsehen der Schwerpunkt in Richtung der Zuschauerpräferenzen. In den nachfolgenden Kapitel wird am Beispiel des weiten Begriffs des Fernsehspiels zu zeigen sein, wie sich in beiden deutschen Staaten eine eigenständige, erinnerungswürdige Kunsttradition entwickelte. 8.3.1. Zwischen Adaption und Original: Das Spiel mit

Traditionen

„Es gibt kein Fernsehspiel", konstatierte der Theaterpublizist Henning Rischbieter 1975 und widersprach damit der sich hoffnungsfroh ausbreitenden Auffassung, dass das bundesrepublikanische Fernsehen über ein eigenes künstlerisches Profil verfüge: „Es ist ein reportierender Apparat. Er übermittelt: Nachrichten, Dokumentationen, Diskussionen, Shows, Interviews - und da, wo Fiktives übermittelt wird, handelt es sich um Filme, Theaterstücke, Literatur" (Rischbieter 1975: 84). Ausnahmen bildeten für Rischbieter allein solche Fernsehspiele, die mit dem Fernsehen und seinen publizistischen Möglichkeiten „spielen" bzw. sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen wie im Falle der Arbeiten von Wolfgang Menge („Millionenspiel", „Smog"), welche die Fernsehgewohnheiten des Zuschauers irritieren und so zu einem neuen Verhältnis zum Medium provozieren (ebd.: 84-85). Entsprechend identifizierte auch der Theaterhistoriker Karl Veit Riedel drei Kunstspielgattungen im Fernsehen: Fernsehspiel, Theaterspiel und Spielfilmspiel (Riedel 1963: 65). Fernsehspiele seien all solche Produktionen, die sich (als Spiel) durch Handlung, schauspielerische Darstellung und fiktive Wirklichkeit auszeichnen sowie (als televisuelle Hervorbringung) „die dem Medium zur Verfügung stehenden Möglichkeiten als gestalterische (künstlerische) Mittel" einsetzen (ebd.: 55). Dennoch hat sich unbesehen der theoretischen Konzepte in den öffentlichrechtlichen Fernsehanstalten ein eigenes Verständnis davon herausgebildet, was unter Fernsehspiel zu verstehen ist: der „Oberbegriff für alle fiktionalen Formen, die das Fernsehen selbst herstellt und für seine Programme produzieren lässt" (Hickethier 1994c: 346). Die Unterscheidung zwischen Fernsehen als Übertragungsmittel und Fernsehen als Kunstform war demzufolge bei der Beschäftigung mit dem Fernsehspiel immer schwer und in den meisten Fällen nicht eindeutig zu bestimmen: War das Fernsehspiel als eigenständige Gattung eher dem Theater verwandt oder dem Film oder war es gar keine Gattung im eigenständigen Sinne, sondern entweder Film oder Theater oder eine Mischform aus beiden? (vgl. Beling 1979: 9). Die Unklarheiten der Begriffssetzung, die dem kreativen Reichtum der Adaptionsmöglichkeiten aus dem kulturellen Fundus künstlerischer Anwendungsbereiche entwuchs, ließen die Versuche, das Fernsehspiel als solches zu definieren, als nutzlos erscheinen.

418

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

In der Fernsehpraxis herrschte ohnehin Pragmatismus vor definitorischer Schärfe. Zunächst .spielte das Fernsehspiel der 1950er Jahre in beiden deutschen Staaten wegen seiner Gebundenheit an die Live-Produktion im Studio (bzw. die Live-Übertragung von Theateraufführungen) noch mit den dramaturgischen Konventionen des Theaters und des Hörspiels und hatte somit weniger kunstschaffenden als eher kulturbewahrenden Charakter, indem es die Qualitäten des „Kammerspiels" herausstellte (vgl. Gottschalk 1966: 79; Hickethier/Hoff 1992: 241). Bereits gegen Ende des Jahrzehnts wurden in der BRD die ersten Fernsehspiele auf Film, dann auch auf Magnetband aufgezeichnet (in der DDR wurde die MAZ-Technik erst ab Mitte der 1960er Jahre eingesetzt), die den Vorteil aufwiesen, Außenszenen in die Spielhandlung integrieren zu können und damit ein komplexeres Bild einer Narration zu liefern. Bis Ende der 1970er Jahre hatte sich die „Filmisierung des Fernsehspiels" (Hickethier 1994c: 325) vollzogen, was vielseitige Montagemöglichkeiten eröffnete. Bis 1969 dominierten Literaturadaptionen die Fernsehspielproduktion in der Bundesrepublik.167 Standen zuerst Adaptionen von Theaterstücken im Vordergrund des Interesses, waren es spätestens ab 1970 in der Mehrzahl Romane, die für eine Fernsehausstrahlung verfilmt wurden (Hickethier 1980: 93). Als etwa zur selben Zeit die Produktion von Originalfernsehspielen unter den Programmveranstaltern populärer wurden und etwas mehr als die Hälfte aller gesendeten Fernsehspiele einnahmen, unterstrich diese Entwicklung nur die sich bereits seit Jahren latent äußernde Kritik an der Adaptionspraxis, die einem „Kahlschlag im Zauberwald der Literatur" (Gottschalk 1955) gleichkomme und ohnehin nicht mehr sein könne als ein Ersatz und daher künstlerisch nicht „echt" sei (vgl. Hickethier 1980: 81). Gleichzeitig verringerte sich aber auch der Einfluss der Autoren, da immer mehr Produktionen von filmerfahrenen Regisseuren verantwortet wurden, die zugleich auch das Drehbuch erstellten und in dieser Personalunion die Berufsbezeichnung des „Filmemachers" begründeten (vgl. ebd.: 232-233). Geboren wurde daraus das sogenannte Autorenfernsehen, worunter analog zum Begriff des Autorenfilms eine Produktion verstanden wird, bei der die Regieführung und das Verfassen des Drehbuchs von ein und demselben Akteur vorgenommen wird (vgl. Stöber 2003:49). Eigens für das Fernsehen verfasste Spiele waren in den frühen Jahren Mangelware, verweigerten sich doch prominente Schriftsteller wie Martin Walser, weil der Kulturbetrieb das Engagement in diesem noch jungen und weit von einer Profileration entfernten Spielfeld zu honorieren (vgl. Hickethier 1994c: 311). Erst Anfang der 1960er fanden, ähnlich der Entwicklung in den USA, ebenso solche vornehmlich junge Autoren den Weg in die Fernsehkunst, die sich in den etablierten Institutionen des Theaters und des Films nicht hatten durchsetzen können, nun aber mit Leidenschaft und Experimentierwillen die „früh festgelegten Konventionen des Fernsehspiels zwischen Theater und Film befreien, neue technische Möglichkeiten ausnutzen, neue Erfahrung mit der Fiktion machen" wollten, um sich mit der gesellschaftlichen .Realität' ihrer Zeit zu beschäftigen, die durch 167 Detailierte Auszählungen der Anzahl der Fernsehspiele in den öffentlich-rechtlichen Programmen insgesamt und nach Adaptionsformen finden sich bei Hickethier 1980.

419

III. 8. Fernsehkunst

gegenwärtige Missstände und träumerische Blicke in die Zukunft ebenso gekennzeichnet war wie durch die Last der deutschen Vergangenheit (vgl. ebd.). Obgleich in Zeiten politischer Verunsicherung durch Terrorangst wie im „Deutschen Herbst" um das Jahr 1977 auf kulturell Bewährtes wie beispielsweise Literaturadaptionen zurückgegriffen wurde, behauptete das zeitkritische Originalfernsehspiel seine bestimmende Stellung und manifestierte den Anspruch des Genres als eigenständige Kunstgattung, die sich durch die Intimität ihrer Rezeption, ihre publizistisch-aufklärerische Ausrichtung und die forcierte Annäherung an die gesellschaftliche Wirklichkeit als wertvolle Ergänzung des kulturellen Schaffensspektrums erwies. 8.3.2. Der wirklichkeitskritische

Anspruch des Fernsehspiels

„Wesentliches Bemühen des Fernsehspiels sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR richtete sich auf die Auseinandersetzung mit der Realität des eigenen Landes" (Hickethier/Hoff 1992: 244). Die Ansätze der beiden deutschen Teilstaaten indes waren grundsätzlich verschieden. Hatte sich in der DDR zunächst noch ein lebendiger und von der politischen Führung relativ unbehelligter künstlerischer Umgang mit den (beschränkten) Möglichkeiten der damaligen Fernsehtechnik und -dramaturgie entwickelt, wurde die Fernsehkunst ab 1965 als „Repräsentationskunst der DDR-Staatsführung" begriffen (ebd.: 240). Dem Fernsehspiel wurde die Aufgabe zuteil, in permanenter Anstrengung die öffentliche Meinungsbildung in positiver Weise in Bezug auf den Staat und seine Regierungspartei zu stimulieren. Im Vordergrund stand die Legitimierung der herrschenden politischen Verhältnisse, welche in Form von aufwendigen Mehrteilern über identitätsstiftende Familiengeschichten bis hin zu Erzählungen über die gegenwärtigen Lebensverhältnisse in Abgrenzung zur BRD gefestigt werden sollten (vgl. ebd.: 246). Die starke Ausrichtung auf Identifikationsstiftung zugunsten des sozialistischen Staatenmodells und der Einschwörung auf gemeinsame Rechts- und Moralnormen wurde indes im Laufe der 1980er Jahre durch eine „alternative Programmstruktur" und den zunehmenden Import von westdeutschen und US-amerikanischen Produktionen fast gänzlich verdrängt (vgl. ebd.). Die mit der Fernsehkunst verbundene Integrationsabsicht wurde jedoch schon früher von der Empfangbarkeit des Westfernsehens untergraben: War das Fernsehen der DDR nur in grenznahen Regionen der BRD zu empfangen, haben die „doch nur für ein bundesdeutsches Publikum gedachten Fernsehspiele und Filme, die Serien und Unterhaltungsspiele [...] auch in der DDR ein breites Publikum gefunden" (Hickethier/Hoff 1992: 247). Der Kontrast, den die Fernsehfiktionen aus dem Westen, einschließlich der von den öffentlich-rechtlichen und später in noch ausgiebigerem Maße von den privaten Sendern in der Bundesrepublik importierten Sendungsvielfalt aus den USA, zur Lebensund Fernsehwirklichkeit der DDR bildeten, ließ viele Zuschauer von einer besseren Welt träumen, die trotz ihrer Widersprüche, die vor allem in den politisch engagierten Fernsehspielen der BRD zum Ausdruck kamen, ihren Reiz nicht verlor. Die spürbare Staats-

420

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

ferne des westdeutschen Fernsehens machte es für die DDR-Bürger zu einem glaubhafteren Vermittler von Fernsehkunst als das staatsbejahende Programm des DFF (vgl. ebd.). In der Bundesrepublik lag das Augenmerk bei der Fernsehspielproduktion der 1960er und 70er Jahre auf der kritischen Aufarbeitung der gesellschaftlichen Lebensumstände. So verstand Egon Monk, Anfang der 1960er Jahre Leiter der Fernsehspielabteilung des Norddeutschen Rundfunks, seine Aufgabe als publizistische wie politische und protegierte Projekte, die sich durch „Engagement, Kritik, Aufklärungsarbeit [...], durch das Spiel informierende Fiktion" (Hickethier 1994c: 312) auszeichneten. Dies schloss keine unterhaltenden Stoffe aus, sondern umfasste ausdrücklich auch Komödien wie die aus der Feder von Horst Lommer und Peter Beauvais, die „zum Besten zählen, was das deutsche Fernsehspiel an Komödien bislang hervorgebracht hat" (ebd.: 315), gerade weil sie zwar einem volkstümlichen Einschlag folgten, aber immer auch gesellschaftskritische Töne anschlugen. Es galt, die Gesellschaft belastende Fragen der Zeit zu ergründen, die auch in den facettenreichen Informationssendungen auf nachrichtliche oder journalistisch-kommentierende Art thematisiert wurden. Die künstlerische Auseinandersetzung sollte diese aufklärenden Programminhalte ergänzen, ohne sie zu kopieren: „Hätte Homer die Ilias geschrieben, wenn ein Pulk von Kamerateams jede Phase des Kampfes festgehalten hätte?" (Rohrbach 1968: 26), fragte Günter Rohrbach, langjähriger Leiter der Fernsehspielredaktion beim Westdeutschen Rundfunk, und stellte den publizistischen Stellenwert des Fernsehspiels heraus, das sich der gesellschaftlichen ,Realität' auf neue, ungewohnte Weise nähern könne und müsse: ,,[W]enn ein Gaus-Interview mit Rudi Dutschke erregender ist, als ein Fernsehspiel über ihn sein könnte, warum dann noch ein Fernsehspiel?" (ebd.). Rohrbach nahm Abstand von einem naturalistischen Anspruch: dem Fernsehspiel als „Stenogramm", und plädierte für eine Inszenierung aus einem tiefen Respekt für die .Realität' heraus unter Annäherung an den Journalismus (vgl. ebd.: 28; vgl. auch Ruf 1975:148). Abseits aufoktroyierter Kunst-Klischees könne die Spielform auf diese Weise „Wirkliches durchschaubar und begreifbar" machen (ebd.: 26). Die Kunst des Fernsehspiels ist also, sich der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit auf eine Art und Weise zu nähern, dass die Subjektivität des Autors erkenntlich bleibt und dadurch ein authentifiziertes, weil in seiner künstlerischen Aufarbeitung kenntliches und nachvollziehbares Bild entsteht, das den Zuschauer in eine Auseinandersetzung mit den sozio-kulturellen Umständen bringt (vgl. Longolius 1973: 130). Die Filmemacher wurden in dieser Beobachter- und Enthüllerfunktion zu „Soziographen" (Wiebel 1973: 117), deren Aufgabe es war, ihrem Publikum aneignungsfähige Perspektiven auf Alltägliches zu vermitteln: „Weniger ein mehr oder weniger aktueller Stoff als die Art der Menschen und Konflikte, die eine im Fernsehspiel erzählte Geschichte konstituieren, lässt erkennen, ob ein Fernsehspiel die Wirklichkeit realistisch zeigt, zutreffend und damit richtig interpretiert. Richtig? Richtig ist die Darstellung von Wirklichkeit, von Gegenwart oder Vergangenheit, von privaten oder öffentlichen Konflikten, wenn die Zuschauer daraus Nutzen ziehen können, wenn sie auf unterhaltsame Weise Zusammenhänge

III. 8. Fernsehkunst

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erkennen, wenn sie Lösungen oder Ansätze zu solchen miterleben und damit ihre Tauglichkeit im wirklichkeitsbezogenen Spiel überprüfen können, wenn dadurch ihr Blick für die Konflikte und ihre Lösung in der täglich sie umgebenden Wirklichkeit geschärft wird" (Ruf 1975:147). Natürlich gab es auch das eskapistische Fernsehspiel, das sich in Phantasien entspann und vom Zuschauer als eskapistische Genussware rezipiert werden konnte. Seine künstlerisch-dokumentarische Leistung erfüllte es aber durch die aufgreifende Problematisierung dessen, was die allgemeine Öffentlichkeit bewegte: Der Zuschauer wurde konfrontiert mit der ungeschönten und oft noch dramatisierten Lebensrealität des Alltags, der vielfach gleichgesetzt wurde mit den Anforderungen und Belastungen der Arbeitswelt. Diese Fernsehspiele entlarvten das Ideal vom Wirtschaftshoch, vom Familienglück und die Traditionsverliebtheit als Trugbild, indem sie Mitgefühl mit den Widrigkeiten des Angestelltendaseins stimulierten, eine kritische Sicht auf die „Karrieremacher" einnahmen, zerrüttete Familienverhältnisse zeigten, für die Exkludierten der Gesellschaft eintraten, eine kritisch bis abwartende Haltung zu den Studentenbewegungen von 1968 an den Tag legten, die Vergangenheitsbewältigung - wenn auch erst zögerlich - begleiteten, die deutsche Spaltung thematisierten und in einem Potpourri aus Formen und Inhalten das Gesellschaftssystem überall dort kritisierten, wo es zu Fehlentwicklungen, Ungerechtigkeiten, kurz: zu „Pannen" kam, ohne aber im Gegenzug pauschale Lösungsversprechen zu äußern (vgl. Koebner 1975). Es beschwört nicht herauf, sondern dokumentiert kulturelle Konflikte mit seinen eigenen künstlerischen Mitteln: „Die früher oft realitätsferne und wenig personenbezogene Ausdrucksweise im Fernsehspiel verliert sich zugunsten quasi protokollierter Sätze aus dem Mund der Jungen, Familienväter, Arbeiter, Angestellten, Karrieremacher, Kriegsverbrecher usw. [...] In dem Bekenntnis zur Nachricht als Inhalt seiner .Sendung' hat das Fernsehspiel zugleich Medienspezifik erkennen lassen" (ebd.: 63). Das zeitkritische Fernsehspiel ist unbequem, wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet und verlässt sich darauf zu entlarven, anzuecken, nachdenklich zu machen, ganz nach dem forderndem Diktum Martin Wiebels, langjähriger Dramaturg beim Westdeutschen Rundfunk: „Fernsehspielarbeit findet nicht in einer Enklave abseits der Gesellschaft statt, sondern wird von ihr und durch sie strukturiert, in ihrer Entfaltung oder Begrenzung bestimmt" (Wiebel 1991: 83). Wiebel sieht im Fernsehspiel der Bundesrepublik daher auch einen „Spiegel der Gegenwart": Es habe stets eng den Mentalitätswandel in Politik und Gesellschaft begleitet, nicht als unabhängiger Beobachter, sondern als Teil dieses Wandels, da sich der Zustand des Fernsehens zu einem bestimmten Zeitpunkt immer nur aus den gesellschaftlichen Umständen dieser Zeit erklären könne (Wiebel 1991: 77). Das Fernsehspiel der 1960er Jahre war demnach moralisch, didaktisch, politisch ambitioniert und folgte einem streng aufklärerischen Impetus, während der Fokus durch die politische Verunsicherungen durch terroristische Übergriffe in den 70er Jahren, die Resignation angesichts wirtschaftlicher Rezession und Umweltproblemen zwar nicht ausschließlich, aber in stärkerem Maße auf die Lösbarkeit von Konflikten im Mikrokosmos

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

des Einzelschicksals gerichtet wurde und in den 80er Jahren unter dem Eindruck der „durchschlagende [n] Wirkungslosigkeit dieser zwei Dekaden Fernsehspielarbeit" in Bezug auf konkrete gesellschaftspolitische Verbesserungen eine „Sensationalisierung und Kriminalisierung aller Erzählweisen, die unterkühlte und distanzierte, fast emotionslose und unbeteiligte Personenführung in den heutigen Geschichten parallel zu einer .Antikisierung' und Trivialisierung der Erzählweisen in den Unterhaltungsproduktionen" nach sich zog (ebd.: 80). Das Augenmerk wurde nach Wiebels Analyse auch im Fernsehspiel der Bundesrepublik seit den 1980er Jahren vermehrt auf die eskapistischen Qualitäten der Fernsehkunst gelegt. Nur selten, so seine Schlussfolgerung, seien noch brisante politische Stoffe darunter, die „von Konflikten und Menschen handeln, die einen wirklich aufregen" (ebd.: 82). Freilich müssen solche Periodisierungen zwangsläufig pauschal und ungenau bleiben, gerade auch weil es immer überzeugende Gegenbeispiele zu den beobachteten Gattungsentwicklungen gegeben hat. Doch die Karriere des Fernsehspiels von einem avantgardistischen Kampfmittel der zornigen Nachkriegskinder (vgl. Wiebel 1999: 22) zur desillusionierenden Randerscheinung im Programm vor dem drohenden Exitus (vgl. ebd.: 32), die nur noch selten entscheidende Impulse für die Genese der Spielgattung oder die gesellschaftspolitische Diskussion geben konnte, macht deutlich, wie schleichend sich das Verhältnis des Fernsehspiels zur Gesellschaft, aber auch der Gesellschaft zum Fernsehspiel verändert hat. Zweifelsfrei überzeichnete Wiebel die Entwicklung des Fernsehspiels als Degeneration zu einem nichtssagenden Programmphänomen, verfolgte er damit doch selbst ein politisches Ziel, nämlich in Ermahnung des Status Quo prospektiv auf die Entwicklung der Programmgestaltung Einfluss zu nehmen und dem Fernsehspiel wieder ein stärkeres Gewicht im Fernsehdiskurs zu verleihen. Die zuständigen Redaktionen haben sich in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten behauptet und sind gemäß ihrer Tradition mit der Zeit gegangen: Insoweit es das Fernsehspiel nie gegeben hat, hat die Orientierung aller Programmveranstalter an den Einschaltquoten nach Einführung des dualen Rundfunksystems in besonderem Maße dazu beigetragen, dass sich Fernsehspielformen diversifizierten und an Zielgruppen ausrichteten, was größtenteils als Banalisierung und Zerschlagung des einstmaligen integren Kunstgenres Fernsehspiel wahrgenommen wurde (vgl. Hickethier 1994c: 337) und die Gefahr barg, sich dem Massengeschmack zu unterwerfen, der das Klischee der Berieselung durch Unterhaltung vorzieht und unbequeme Auseinandersetzungen mit den sozio-kulturellen Widersprüchen des eigenen Daseins in der Gesellschaft zu meiden pflegt. Nichtsdestotrotz war die Prädisposition des Fernsehspiels in der Bundesrepublik stets eine zeitkritische, und diese hat sich trotz der kritisierten „Krimischwemme" seit Beginn der 1970er Jahre, der eine Schematisierung und Verflachung der narrativen Aussagekraft vorgeworfen wurde (vgl. Lange 1972: 601), bewahrt. Beispielhaft kann hier die Krimireihe „Tatort" angeführt werden, welche die andauernde Erfolgsgeschichte des Fernseh-

III. 8. Fernsehkunst

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spiels im deutschen Fernsehen eindrucksvoll unterstreicht.168 Auf dem festen Sendeplatz am Sonntagabend um 20:15 Uhr nach der „Tagesschau" erzielen die 90-minütigen Produktionen regelmäßig hohe Marktanteile und verweisen nicht selten die Programmkonkurrenz auf anderen Sender auf die Plätze. Seit 1970 werden die Fälle der fiktiven Kommissare von den Landesanstalten der ARD produziert und waren regelmäßig Anlass für gesellschaftliche Debatten über das Für und Wider der Einflechtung von kulturellen Konfliktmotiven in die fiktionale Handlung. Die Ermittler von München bis Kiel wurden zu Vehikeln des Zeitgeists und waren der gesellschaftlich akzeptierten .Realität' teils weit voraus, indem die Autoren ihre Protagonisten mit Tabu- bzw. Reizthemen konfrontierten. Die damals 18-jährige Natassja Kinski wurde im Tatort „Reifezeugnis" (1977) des später in Hollywood Karriere machenden Regisseurs und Autors Wolfgang Petersen zum Dreh- und Angelpunkt einer Geschichte um die Liebe zwischen einem verheirateten Lehrer und seiner Schülerin, die eine hitzige Diskussion über die sexuelle Moral der freizügigen Jugendkultur auslöste. Götz George spürte als Kommissar Horst Schimanski aus Duisburg, meist unter der Regie von Hajo Gies, gleich mehrere Male kontroversen Themen der 1980er Jahre nach - seien es illegale Adoptionen von Kindern aus dem Ausland, die Folgen der Wirtschaftkrise im Kohlebergbau oder die grundsätzliche Frage nach der Ungerechtigkeit der sozialen Kluft zwischen Arm und Reich - und wurde zur dankbaren Identifikationsfigur für eine Generation von Revierarbeitern im Ruhrgebiet. So ging es außerdem um Wertefall und ethische Verbrechen wie Zwangsprostitution, Menschenhandel und Kindermissbrauch wie im Fall des Münchener „Tatorts" „Frau Bu lacht" von 1995 (Regie: Dominik Graf, Buch: Günter Schütter) oder auch um die Schwierigkeiten bei der deutsch-deutschen Annäherung nach der Wiedervereinigung, verwoben mit einer Kriminalerzählung wie im sächsischen „Tatort" „Bauernopfer" von 1993 (Buch und Regie: Vadim Glowna). Im Jahre 2007 wiederum führte der „Tatort: Wem Ehre gebührt" (Buch und Regie: Angelina Maccarone) mit der Geschichte eines inzestuösen Vater-Tochter-Verhältnisses und der Thematisierung der .Ehrenmord'-Problematik zu harscher Kritik vonseiten der islamischen Gemeinschaft der Aleviten in Deutschland, die sich pauschal verunglimpft sah und vom Bundesinnenministerium eine „Ehrenerklärung" als öffentliche Wertschätzung ihrer Glaubensgruppe in Deutschland verlangte (vgl. Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. 2007). Krimireihen wurden zum Refugium für die Behandlung schwieriger, das heißt kontroverser Themen in einem zunehmend popularisierten Programmumfeld. Der Schauspieler Sebastian Koch, der an zahlreichen preisgekrönten Fernsehproduktionen wie „Speer und er", „Stauffenberg" und „Todesspiel" mitwirkte, sieht in dieser programmstrukturellen Kanalisierung des Fernsehspiels jedoch eine Begrenzung seiner Möglichkeiten:

168 Vgl. hierzu unter anderem das „Große Jubiläumsheft" der Fernsehzeitschrift Hörzu Nr. 21 vom 16.05.2008.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des

Femsehens

„Man kann heutzutage fast nur noch in bestimmten Reihen wie ζ. B. .Polizeiruf' oder .Sperling' exklusive Stoffe machen. Das ist eine hochgefährliche Entwicklung, weil die Sender nicht mehr den Mut haben, außerhalb einer solchen Reihe einem wichtigen Thema erzählerischen Raum zu geben" (zitiert nach Kramp 2007b). Das Zuschauerinteresse für Kriminalgeschichten im Fernsehen ist ungeachtet dessen ungebrochen, und so wird das Traditionsgenre zum kreativen Motor des Programmbetriebs. Regelmäßig starten neue Krimiformate in den öffentlich-rechtlichen und privaten Programmen, ob als Import aus den USA oder Großbritannien oder als Eigen- oder Coproduktion hiesiger Sender. Im Jahr 2007 wurden im Rückblick auf 55 Jahre Fernsehgeschichte über 200 Krimiformate gezählt, die im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt worden sind. Allein 60 davon fanden sich aktuell in den Programmplänen der Sender (ebd.). Ein Dilemma des Krimis ist in diesem Zusammenhang die Voraussetzung für seine ästhetische Wandlungsfähigkeit: Einerseits möchte der Zuschauer immer wieder neu überrascht werden, andererseits soll die Erzählung auch stets gut ausgehen, das heißt: ein erwartetes Ende finden, indem das Recht über das Unrecht triumphiert. Willkommen ist daher alles, was den eng gefassten Rahmen des klassischen Kriminalstücks durch Variationen aufbricht, ohne sich allzu sehr vom bekannten Narrationsschema zu lösen. Dies hat trotz der dem Kriminalspiel inhärenten Nähe zur Vermittlung „krimineller Wirklichkeit" (vgl. Brück/Guder/Viehoff/Wehn 1999: 29) zu einer immer stärkeren Hinwendung zur Inszenierung von Authentizität geführt: Die Arbeit von Polizeipathologen findet eine immer detailliertere Darstellung, und eine Psychologisierung der Protagonisten hat zur Folge, dass der Erzählfokus immer häufiger vom eigentlichen Kriminalgeschehen auf die fallunabhängigen inneren Konflikte der Ermittler verlagert wird. „Die Lebensgeschichten und sozialen Spannungen zwischen den Ermittlern spielen eine immer größere Rolle", beobachtet Reinhold Viehoff (zitiert nach Kramp 2007b). Durch die Serialität des Erzählens in einer Reihe wie dem „Tatort" oder seinem Vorläufer „Stahlnetz" bzw. der ehemaligen DFF-Produktion „Polizeiruf", die auch nach der Wende weiterproduziert wurde, schaffen die Sender innerhalb ihres Programmangebots starke Marken, die Wiedererkennungswerte und Vertrautheit mit den fiktiven Leitfiguren generieren. Die Namen der bedeutenden Autorenfilmer, die ihre Aufgabe mal unter der Maßgabe eines erzieherischen Impetus, mal als Anleitung zur selbstbestimmten Aufklärung oder als künstlerische Zeitkritik verstanden, ist zwar lang: Egon Monk, Eberhard Fechner, Günter Rohrbach, Dominik Graf, Christian Petzold und viele weitere haben die Entwicklung des Fernsehspiels auf ihre ganz eigentümlichen Weisen geprägt und ihre individuellen künstlerischen Spuren hinterlassen. Doch ihre Namen sind dem Fernsehpublikum weitgehend unbekannt geblieben. Streicht dies einerseits die inhaltlichen Qualitäten der Fernsehkunst heraus, die als Gegensatz zum Personenkult in manchen anderen Kunstdomänen bewertet werden können, könnte eine transparentere Thematisierung der Fernsehproduktion mit Blick auf die beteiligten und federführenden Persönlichkeiten zu einem besseren Verständnis der Zusammenhänge und ästhetischen Eigentümlichkeiten bestimmter Akteure hinter den Kulissen beitragen.

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III. 8. Fernsehkunst 8.3.3. Experimentelle

Kunst als Fernsehspiel

„Das kleine Fernsehspiel", eine Sendereihe im ZDF für künstlerisch anspruchsvolle Fernsehprojekte mit maximal 24 Minuten und 30 Sekunden Laufzeit, beerbte ab 1963 im Vorabendprogramm, ab 1973 dann meist im späten Abend- und Nachtprogramm den Kurzfilm, der seine Heimat, das Kino, verloren hatte (vgl. Freindt 2003). Unter anderem wurde hiermit Absolventen von Film- und Fernsehhochschulen ein Podium geboten, um sich einem großen Publikum zu präsentieren, weit größer zumal als es viele Filmemacher im Kino jemals erreichen könnten. Die Einzigartigkeit des abendfüllenden Experimentalfilms „Rotmord" (Regie: Peter Zadek; Buch: Tankred Dorst) aus dem Jahr 1969 hat verdeutlicht, dass mit beeindruckendem Effekt ein Wertungskonflikt ausgelöst wurde, der zeigte, wie Publikum und Kritik in einen Diskurs über die Möglichkeiten des Mediums gebracht werden können (vgl. Ladwig 1997). In seiner künstlerischen Radikalität blieb die Theaterstückadaption für die Entwicklung des „Großen Fernsehspiels" indes folgenlos. Die ausdrucksreiche Vielfalt des wegen seiner Ausstrahlungstermine im Nachtprogramm zum Nischenformat verkommenen „Kleinen Fernsehspiel" blieb dagegen konstant auf hohem Niveau und innerhalb der Fernsehkunst hochgeachtet. „Es steht außer Zweifel, dass manches von dem, was hier als Experiment zu später Stunde über den Bildschirm läuft, in einigen Jahren Bestandteil des generellen Unterhaltungs- und Informationsprogramms sein wird, während zu diesem Zeitpunkt dann sicher andere, neue Experimente notwendig sein werden" (Reitz 1974: 52). Ein jüngeres Beispiel für eine Verknüpfung künstlerisch-handwerklicher Innovationsfreude und einer Annäherung an das, was die Menschen der Zeit bewegt, ist die dokumentarische Zeichentrickserie „Was tust du eigentlich?" von Katrin Rothe. Das Ziel der kurzen mit Papier, Stiften, Schere und Klebstoff gestalteten Animationsfilme ist, aktuelle Fragen von Stimmen aus der Bevölkerung im Originalton beantworten zu lassen und die Aussagen mit den handwerklichen Mitteln des Trickfilms zu illustrieren und zu verstärken (vgl. Wahl 2008). „Was machst du für deine Gesundheit?", heißt eine Sendung, eine andere: „Was machst du, wenn Wahl ist?". Auch wurden Menschen auf der Straße gefragt: „Was machst du gegen den Klimawandel?" und „Wie schützt du dich vor Terroranschlägen?" Die Antworten sollen ein ergänzender Kontrapunkt zur Ereignisfixierung der Nachrichtenformate im Fernsehen sein, wie Rothe betont: „Viele haben durch die zahllosen Katastrophenmeldungen in allen Medien ein Gefühl der Ohnmacht. Stattdessen sollte man den Zuschauern die Bedeutung ihres eigenen Handelns bewusst machen. Es ist wichtiger, sich mit gesellschaftspolitischen Fragen auseinanderzusetzen, als mit jeder Katastrophe" (zitiert nach Anonym 2007a). Die einzelnen Sendungen hatten jedoch mit demselben Problem zu kämpfen wie auch alle übrigen Beiträge des „Kleinen Fernsehspiels": Ihr Sendetermin lag mitten in der Nacht (vgl. Schuster 2008), was zu einer schleichenden „Ghettoisierung" und Entschärfung des Experimentellen im Format des Kleinen Fernsehspiels gesorgt hat, weil die auf der künstlerischen Spielwiese präsentierten Werke von vornherein durch die nachteilige

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

Platzierung im Programmplan nur für die Rezeption von einer geringen Zahl von Zuschauern in Frage kommt (vgl. auch Hickethier 1994c: 335). Eine weitaus ausgreifendere .Ghettobildung' vollzog sich indes an anderer Stelle: Im Programm der privaten Fernsehveranstalter RTL, Sat.l und Vox finden sich seit 1988 sogenannte .Kulturfenster' im Abendprogramm (vgl. Kammann 1984), die sich über viele Jahre als krasser Gegensatz zu ihrem direkten Programmumfeld aus Actionserien und schlüpfrigen Filmen erwiesen. Grund hierfür ist eine Vorschrift im Rundfunkstaatsvertrag, die kommerziellen Fernsehveranstaltern von Vollprogrammen mit über zehn Prozent Marktanteil vorschreibt, sogenannte „Fensterprogramme" als „Sendezeit für unabhängige Dritte" in ihr Programm zu integrieren, die „einen zusätzlichen Beitrag zur Vielfalt in dessen Programm, insbesondere in den Bereichen Kultur, Bildung und Information, leisten" ( § 3 1 RStV). Initiiert wurde diese gesetzliche Regelung von dem Filmemacher, Schriftsteller und Juristen Alexander Kluge, der die Möglichkeit und Notwendigkeit sah, eben dieses kulturelle Angebot als Gegenpol zu Monopolbildungen durch öffentlich-rechtliche wie auch kommerzielle Programmlogiken zu produzieren. 1987 gründete Kluge gemeinsam mit einer japanischen Werbeagentur die „Development Company for Television Program", kurz: DCTP, die fortan gemeinsam mit Partnern aus der Verlagsbranche wie der „Süddeutschen Zeitung" und der „Neuen Zürcher Zeitung" Formate entwickelte, die Kluges Firma mehrmalige Lizenzverlängerungen für die Bestückung der sogenannten Kulturfenster seitens der zuständigen Landesmedienanstalten garantierten (vgl. Schulte/Siebers 2002). 169 Die von Kluge selbst konzipierten und produzierten Magazinformate richten sich an ein eher intellektuelles Publikum (Hickethier 2002b: 205). Kluge selbst kokettiert mit dem scheinbaren Widerspruch, ein solches Kulturangebot in dem ansonsten als trivial geltenden Programmumfeld der privaten Abendprogramme zu zeigen: „Die Vorräte [an Bildern] versteckten wir gut, indem wir sie im privaten Fernsehen veröffentlichten" (Kluge 2007:245). Dass die stilistisch und inhaltlich eigenwilligen Sendungen Kluges von den Senderverantwortlichen als Fremdkörper im Programmprofil und unerwünschter Makel betrachtet wurden, fand seinen deutlichsten Ausdruck in den Worten des ehemaligen Geschäftsführer von RTL, der die Kulturmagazine als „Steinzeitfernsehen" und „Quotenkiller" bezeichnete (zitiert nach Huhndorf 1994). Kluge selbst sieht seine Fernseharbeiten als „Schaufenster" (zitiert nach Deuber-Mankowsky/Schiesser 1994: 361) in eine andere, fernsehuntypische Fernsehwirklichkeit, die sich dem künstlerischen Schöpfungsprozess verschreibt und nicht der in erster Linie Vermittlung von Informationen. Die Magazine heißen „10 vor 11", „News & Stories", „Primetime Spätausgabe" und „MitternachtsMagazin" und beschäftigen sich mit Themen aus Kunst und Kultur, nicht dokumentierend, sondern selbst künstlerisch produktiv:

169 Die Dauerpräsenz von DCTP beschwor auch Kritik von Mitbewerbern um die Sendelizenzen herauf, die dadurch ihre eigenen Marktchancen beschnitten sahen (vgl. Renner 2003).

III.8.

Fernsehkunst

427

„Dort senden wir in sehr begrenzter Zeit, in vierundzwanzig beziehungsweise fünfzehn Minuten den Originalton aus den Bereichen Musik, Theater, Buch und Film. [...] Wir berichten also gar nicht über Kultur. Insofern ist das Wort Kulturmagazin ein falscher Ausdruck, weil wir eine Form von Öffentlichkeit, die auf Erden Geltung hat, nämlich die Ausdrucksform dieser drei Medien, durch ihren Originalton kenntlich machen. Wir wollen die Muskeln strapazieren, die in der Wahrnehmung der Menschen ja vorhanden sind" (zitiert nach ebd.). Seine Sendungen bezeichnet Kluge ebenfalls als „Fernsehen der Autoren" (ebd.: 363): Sie bestehen hauptsächlich aus Interviews mit Kulturschaffenden wie Volker Schlöndorff, Jean-Luc Godard, Christoph Schlingensief, Jörg Immendorf, Werner Herzog und vielen anderen. Mit dem Dramatiker Heiner Müller sprach Kluge etliche Male über die Situation und Möglichkeiten der Kunst, den Gestus des Intellektualismus und die Frage nach Machtverhältnissen zwischen Kunst und Gesellschaft. Auch der Komiker Helge Schneider war mehrfach Kluges Gast und gerierte sich unter anderem anlässlich des G8-Gipfels in Mecklenburg-Vorpommern als „Kampftaucher vor Heiligendamm". Nicht nur der fragenstellende Alexander Kluge ist als Autor kenntlich, sondern auch der Interviewte und das gesamte an der jeweiligen Sendung beteiligte Kreativpersonal, das zusammen eine Einheit: die kollektive Autorenschaft bildet (vgl. Siebers 2002: 168). Kluge übertrug seinen künstlerischen Anspruch von seiner Arbeit als Spielfilmregisseur, Kinoästhet und Schriftsteller auf das Fernsehen, indem er stringent der Frage nach ,,unsere[m] heutigen Öffentlichkeitsverständnisses und [der] Herausbildung der künstlerischen und kulturellen Gefühlsbearbeitungen" nachgeht und sich des gestalterischen Reichtums des Kinofilms bedient (vgl. Hickethier 2002b: 210-211): „In den assoziativen Montagen von ,Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos' oder ,Die Patriotin ist bereits alles vorhanden, was wir heute als Charakteristikum von Kluges TV-Arbeit begreifen: Fiktive Szenen wechseln mit Interviews; auf Bilder vom Sternenhimmel (mit Musikuntermalung) folgt eine Schrifttafel, die von einem Gespräch über Opern abgelöst wird. Nur dass diese Programmfolge im Fernsehen besser aufgehoben ist, weil man dort nicht an das Format des abendfüllenden Spielfilms gebunden ist. [...] Kluges unerschütterliche Suche nach einem Möglichkeitssinn ist Grundlage seiner Utopie Film, die eigentlich schon immer eine Utopie Fernsehen war" (Heybrock 2005). Der Kulturjournalist Georg Seeßlen erkennt in den eigentümlichen Interviews eine Fortsetzung des Fernsehspiels mit anderen Mitteln, genauso wie der Fernsehfilm nach der „anerkannte [n] Lehrmeinung im theoretischen und praktischen Klugeismus" eine Fortsetzung des Kinofilms mit anderen Mitteln sei (vgl. Seeßlen 2002: 128): Das Fernsehgespräch als ebensolches Spiel also wie das der Schauspieler, wie das der Dokumentaristen, die sich der .Realität' nähern, indem sie eine Rolle spielen, indem sie montieren, die Fernsehwirklichkeit inszenieren. Tatsache und Fälschung, sagt Kluge selbst, sind in ihrem Zusammenspiel eine Notwendigkeit: „Behauptet einer, er könne mit Fakten umgehen, ohne sich etwas dazuzudenken, ohne zu fälschen, dem glaube ich nicht. Aber aus

428

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

einem, der lügt, aus dessen Lügen kann ich immer noch ein Stück Fakt herausentwickeln" (Kluge 2003: 59). Indem Kluge von vornherein Fakt und Fälschung für möglich und wahrscheinlich hält, bürstet er den Anspruch des Fernsehens, in seinen (faktuellen und fiktiven) Darstellungen authentisch zu sein, gegen den Strich und stimuliert „Gedanken [...], die wir dem Medium unter keinen Umständen zugetraut hätten" (Seeßlen 2002: 136). „Vielleicht tun wir uns ein wenig schwer dabei, diese Interviews ganz einfach als Kunstform zu akzeptieren. Kluges Fernseharbeiten werden in den Monographien und Essays häufig genug vernachlässigt, als Kompromiss, Verkleidung oder Ersatz marginalisiert - oder zur Metapher einer Besetzung von Produktionsräumen, als ginge es dabei nicht um den besagten Eigen-Sinn, sondern nur um die Präsenz in den Kanälen als solche" (ebd.: 137). Um einen Sinn aus dem Kunst-Werk zu ziehen, muss sich der Zuschauer engagieren, sich auf die oft fragmentarischen, assoziativ gewonnenen und nicht selten verworrenen Gedankengänge einlassen und in intellektueller Anstrengung partizipativ an der unsicheren Erkenntnisbildung arbeiten. Kluges Kulturmagazine stellen die Konventionen des Magazinjournalismus auf den Kopf, indem sie eben nicht Fertiges, Abgeschlossenes, Perfektes präsentieren (vgl. Schulte 2002; 66) und sich lieber nicht häppchenweise, das heißt in Einzelbeiträgen, sondern monothematisch mit der Welt auseinandersetzen (vgl. Hikkethier 2002b: 209-210), sich also trotz viertelstündigen oder 24-minütigen .Fensterblicks' Zeit lassen und eine Rohmasse an Aussagen und Eindrücken, ergänzt mit Bild- und Musikkaskaden, vor dem Rezipienten ausbreiten, welche seine Vorstellungskraft anregen sollen und ihm abfordern, den Fortlauf der Sendung mitzudenken, sich zu konzentrieren, um überhaupt aus der offenen Struktur der Inszenierung Sinn schöpfen zu können (vgl. Forrest 2007: 161). So wendet sich Kluges Fernsehen als „Nichtfernsehen" (vgl. Seeßlen 2002: 133) von der bloßen Darstellung ab und zur gemeinschaftlichen

Verständigungs-

und Imaginationsarbeit hin: Die Autoren vor (und hinter) der Kamera schaffen Inhalt und Rahmen, der Zuschauer vor dem Bildschirm als „Produzent seines Lebens" (Kluge zitiert nach Theobald 2000), der Neuartigem gegenüber aufgeschlossen ist und sich an der inhaltlichen Gestaltung der Sendung beteiligt, wenn auch nicht im Sinne einer konkreten Beteiligung via interaktivem Rückkanal o.ä., sondern in seiner Rolle als Rezipient, der die Welt in ihrem Facettenreichtum durch die Fernsehkunst für sich entdeckt. Von entscheidender Aussagekraft und -Vielfalt sind dabei die oft unerwarteten Elaborationen der jeweiligen Gesprächspartner, die nicht Statement-Geber sind, sondern, zum Nachdenken provoziert, sich auch selbst unterbrechen, ihre Aussagen revidieren und zu neuen Erkenntnissen kommen, wobei es Kluge mit seinen stimulativen, wenn auch manches Mal im Gesprächsverlauf abstrus wirkenden, aber immer wissensreichen Fragen gelingt, „längst abgelegte Erfahrungen wieder an die Oberfläche zu holen und in neue, unerwartete Zusammenhänge zu rücken" (Schulte 2002: 78; vgl. auch Forrest 2 0 0 7 : 1 5 0 ) . Dynamisch entstehen dadurch ungewöhnliche Perspektiven auf das Fernsehen selbst, indem sich Kluge bei der Verschränkung der Mediumsfunktionen als Vermittler von In-

III.8.

Fernsehkunst

429

halten und als Inhalt selbst kritisch und enthusiastisch zugleich den Möglichkeiten des Fernsehens zuwendet, mit ihnen experimentiert, sie für kulturelle Eruierungen nutzt und damit künstlerisch gestaltend wirkt. Nach der Ansicht Kluges sind es daher auch nicht die „eher komplizierten" Inhalte seiner Sendungen, die in Erinnerung bleiben, sondern der tiefe Eindruck, den die „wirklichen Menschen" hinterlassen, wenn sie sich ihrer sonst so formalistischen Fernsehmaskerade entledigen (vgl. Deuber-Mankowsky/Schiesser 1994: 364). Kluge vermeidet einen „Bewusstseinsimperialismus" (im Sinne einer Erklärungswut, so dass der Rezipient alles verstehe), den er für den Film (und implizit auch für das Fernsehen) für dominant hält, der das künstlerische Objekt kolonisiere und zu einer unvollständigen Wahrnehmung führe. Dementgegen propagiert er eine entspannte, lebendige Rezeption, die nicht vom Anspruch, alles erklärt zu bekommen und daher alles verstehen zu müssen, geleitet sei, sondern sich vielmehr an dem Moment erfreue - „allowing my senses run wild" (vgl. Kluge 1981/82: 211). Indem der Zuschauer dadurch zum Kollaborateur bei der künstlerischen Betätigung wird, kann ein schöpferisches Kraftfeld erzeugt werden, in welchem der Rezipient dazu angespornt und zugleich befähigt wird, in der interaktiven Auseinandersetzung mit Themen, Ereignissen und Ideen die eigene Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren und sich stärker mit den Schnittfeldern solcher Ideen und den eigenen Angelegenheiten, Erfahrungen und Interessen zu beschäftigen (vgl. Forrest 2007: 157).

8.4.

Zusammenfassung

Ebenso wie im Rahmen der Bildungsdebatte hatte das Fernsehen in seiner historischen Entwicklung mit der Akzeptanz seines ästhetischen und speziell künstlerischen Geltungsanspruchs zu kämpfen und diente lange und zum Teil heute noch als dankbares Distinktionsmittel zwischen einem vermeintlich guten und schlechten Geschmack. Seine künstlerische Eigenständigkeit errang das Medium erst nach einer langen Experimentierphase mit konzeptionellen und dramaturgischen Motiven des Theaters und des Films sowie der inhaltlichen Hinwendung zur Literatur. Die Genese einer televisuellen Ästhetik vollzog sich zwar schleichend in allen Programmsegmenten und darstellerischen Formen des Fernsehens, jedoch am deutlichsten in den aufwendigen fiktionalen Produktionen des Programmtypus der .Qualitätsserie' im US-Fernsehen sowie dem zeitkritischen und künstlerisch facettenreichen Fernsehspiel in der Bundesrepublik Deutschland. Die Ineinssetzung bzw. enge Verbindung von Qualität mit einem hochkulturell bzw. anspruchsvoll konnotierten Kunstbegriff ist zweifellos problematisch, doch ebenso Ausdruck der Adaption traditioneller Wertungsmotive bei der Herausbildung eines eigenen Selbstwertgefühls und Qualitätsbegriffs innerhalb des fiktionalen Programmschaffens. Definitionshoheit über das, was als qualitativ hochwertig gelte, sollte auf diese Weise nicht mehr dominanten Deutungsinstanzen außerhalb des Mediums vorbehalten bleiben, sondern sich nach den grundeigenen Prinzipien des Fernsehens richten. Der Versuch jedoch, eine Formel für die Klassifizierung US-amerikanischer .Qualitätsserien zu finden, hat

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

sich schon nach kurzer Zeit als nicht mehr als eine phänomenologische Annäherung an ein inhaltlich und stilistisch disperses Schaffensspektrum erwiesen, das seine spezifische Qualität auch und vor allem durch seine erinnerungsbildenden Potenziale erhält. Auf diese Weise entwickelte sich ein kreatives Feld reger fernsehkünstlerischer Tätigkeit, das sich auf dem nordamerikanischen Medienmarkt als außerordentlich lukrativ erwiesen hat. Fiktionale Fernsehproduktionen werden nicht mehr vorrangig als Zerstreuungsmittel gesehen, sondern als populäre Kunstwerke mit hohem Kult-Potenzial, das in der Bereitschaft der Rezipienten Ausdruck findet, für den Zugriff auf die betreffenden Sendungen (im Pay-TV, auf DVD, im Internet) zu zahlen, sowie in ihrer damit einhergehenden Sonderstellung im Programmumfeld und ergo in ihrer besonderen Erinnerungswürdigkeit. Aus der engen Bindung der Zuschauer als Konsumenten von Fernsehkunst zum jeweiligen Fernsehprodukt entstehen allzu häufig Fan-Kulturen als spezifische Form von Erinnerungsgemeinschaft (vgl. Kapitel III.4.2.). Fernsehkunst als .Qualitätsserie' hat daher wesentlich zur Legitimierung des Fernsehens als .erlesenes' Genussmittel beigetragen und das populäre Gedächtnis der Nordamerikaner geprägt. Im Gegensatz zur kommerziellen Ausrichtung fernsehkünstlerischer Aktivitäten im US-Fernsehen lag das Augenmerk der Regisseure, Autoren und Dramaturgen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Bundesrepublik zunächst auf der Aufklärungsfunktion ihrer häufig dokumentarischen Fernsehspiele. In den besten Fällen translierten sie in all ihrer unterschiedlich prononcierten Autorenschaft bei der Umsetzung eines Erzählstoffes Themen in einer zuschauerfreundlichen didaktisch unbelasteten und dramaturgisch anregenden Weise, die bei der Kommunikation der Gesellschaft mit sich selbst als relevant erachtet wurden, aber in anderen Programmkontexten nicht oder nur ungenügend behandelt werden konnten, weil sie komplexe Kontextualisierungen erforderten oder es ihnen schlicht an Neuigkeitswert mangelte. Wandte sich das .ernsthafte Fernsehspiel' der 1960er und 70er Jahre aufgrund seiner Themen und Präsentationsweisen gezielt an gebildete Publika, erweiterte sich das stilistische Repertoire der Sendegattung im Laufe der Zeit enorm und wurde zum Markenzeichen für einerseits massenkompatible Fernsehfilme, andererseits für eine genuin televisuelle Ästhetik, die zwar Referenzen an Vorläufermedien enthält, doch in ihren spezifischen Ausgestaltungen und Kontexten nur im Fernsehen oder seinen Derivaten umgesetzt werden kann, wozu auch die DVD- und InternetVermarktung von Fernsehproduktionen gehören, die wiederum auf einem Fernsehgerät rezipiert werden. Dennoch hat sich experimentelle wie zeitkritische Fernsehkunst auch in Nischenformaten abseits des 90-minütigen-Sendeschemas erhalten und macht sich um eine ständige Rekonzeptualisierung ästhetischer Stile und neuer televisueller Vermittlungsformen verdient. In ihrer Gesamtheit stellen die Fernsehspiele der Bundesrepublik durch ihre enge Orientierung an der sozialen Wirklichkeit und ihres Wandels eine kollektive Biographie des Landes und seiner Bürger mit spezieller Berücksichtigung der gesellschaftlichen Randgruppen und sozial Benachteiligten dar, die additiv mit jedem weiteren wirklichkeitskritischen und weniger konfliktsuchenden als vielmehr konfliktdokumentierenden Fernsehspiel fortgeschrieben bzw. gedreht wird.

431

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

9.

Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

9.1.

Das Fernsehen zwischen Geschichtsboom

und

Erinnerungslosigkeit

Der durchschnittliche Bürger des 21. Jahrhunderts, sofern er in einem Industriestaat wie Deutschland, den USA oder Kanada lebt, muss weitaus mehr Informationen verarbeiten können als jemals einer seiner Vorfahren. Ihm steht buchstäblich die Welt offen: Die aus wirtschaftlichen Interessen vorangetriebene Globalisierung macht das Reisen in nahezu jeden Kulturraum rund um den Globus möglich, und mithilfe globaler Mediennetzwerke, angefangen mit der weltumspannenden Live-Berichterstattung des Fernsehens, werden räumliche und zeitliche Beschränkungen hinfällig. Damit einhergegangen ist ein fundamentaler Mentalitätswandel innerhalb der Gesellschaften, der zu einer immer schnelleren Historisierung führt und die Gegenwart lieber noch heute als morgen zur Vergangenheit erklärt, um nach Neuem zu streben; der kanadische Sprach- und Kulturwissenschaftler Stephen Bertman spricht von einer Hyperkultur, die sich in immer höherer Geschwindigkeit von der Vergangenheit löst: „The speed of our ascent leaves the past far behind us, like a receding landscape viewed from the rear of a rocket, a landscape so progressively miniaturized by increasing velocity that its features lose all recognizable form. Traditions become incomprehensible; history, irrelevant; memories, a blur" (Bertman 1998: 2). Der US-amerikanische Kulturkritiker Fredric Jameson sieht darin die „geplante Obsoleszenz" einer alle Lebensbereiche umgreifenden Konsumkultur und den damit einhergehenden rapiden Wechseln von gesellschaftlichen Werten die Ursache für das Schwinden von Geschichtssinn: ,,[T]he way in which our entire contemporary social system has little by little begun to lose its capacity to retain its own past, has begun to live in a perpetual present and in a perpetual change that obliterates traditions of the kind which all earlier social formations have had in one way or another to preserve" (vgl. Jameson 1983: 124-125). Dass das Neue über das Alte, der Fortschritt über die Tradition gestellt wird, wird als Konsequenz der Industrialisierung, des privaten Unternehmertums und der massenmedialen Durchdringung gesellschaftlichen Lebens gewertet. George Steiner schreibt gar davon, die zeitgenössische Konsumgesellschaft sei parasitär geprägt (Steiner 1990: 40). Je mehr sich der damit bezeichnete simulative Charakter medialer Inszenierung offenbart, desto stärker scheint der gesellschaftliche Drang nach Authentizität zu werden. Das Sekundäre, so Steiner, habe die „dumpfe Wucht einer Flutwelle" bekommen (ebd.: 41). Die Sehnsucht nach dem Echten in der Welt manifestiert sich in mannigfaltiger Art: Großausstellungen werden - auch mit Hilfe der Fernsehberichterstattung - zu Medienereignissen wie beispielsweise der Besuch einer Sonderausstellung des New Yorker Museum of Modern Art in Berlin, die Menschen gehen wieder häufiger ins Theater, Musicalproduktionen freuen sich über monatelang ausverkaufte Häuser, Konzerte - im Großen wie im Kleinen - begeistern allwöchentlich Zehntausende, Fuß-

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

ballstadien füllen sich während der Spielzeit der Bundesliga an jedem Wochenende, und die Reiselust hat trotz und zum Teil sogar aufgrund von Terrorismus und Katastrophen Hochkonjunktur: So zeigt sich in dem noch recht jungen Phänomen des Krisen- oder Katastrophentourismus die Faszination für eine beschleunigte Historisierung: Individualreisende oder auch organisierte Gruppen suchen unmittelbar nach Natur- oder von Menschen verursachten Katastrophen die von Überschwemmungen oder Anschlägen betroffenen Gebiete auf, die bereits unmittelbar nach der Erkenntnis der Tragweite von Zerstörung und Leid durch die massenmediale Verbreitung Einzug in das globale Kollektivgedächtnis halten (vgl. Dombrowsky 2001; Opaschwoski 2001: 282-287). Doch auch beispielsweise der Besuch von historischen Schlachtfeldern, die als Formen militärischer Katastrophen verstanden werden, mag dazu gezählt werden: Erinnerung als Sensation, Geschichte als Spektakel. Es ist also zweierlei festzustellen: Die Lust an authentischen Erfahrungen, die von dem Reiz der Einmaligkeit und damit Bedeutungsfülle für die eigene Autobiographie befördert wird, und die dadurch beschleunigte Historisierung und Sensationalisierung des gegenwärtigen Erleben: Geschichte wird, Geschichte ist nach dieser Mentalität, was im Hier und Jetzt mit eigenem Auge und Ohr wahrgenommen wird. Eine Hauptursache für diese Gegenwartsfixierung des Geschichtsverständnisses ist laut Steiner der Journalismus: „Der Geist unseres Zeitalters ist der des Journalismus. Der Journalismus drängt sich in jede Spalte und jeden Riss unseres Bewusstseins. Das geschieht, weil Presse und Medien weitaus mehr als nur technische Instrumente und kommerzielle Unternehmen darstellen. Die Phänomenologie des Journalistischen ist an ihren Wurzeln in bestimmtem Sinne metaphysischer Natur. Sie artikuliert eine Erkenntnistheorie und eine Ethik trügerischer Zeitlichkeit gleichwertiger Augenblicklichkeit. Alle Dinge sind von mehr oder weniger gleicher Wichtigkeit; alle sind nur von Tageswert. Dementsprechend wird der Inhalt, die mögliche Bedeutsamkeit des Materials, das der Journalismus vermittelt, am Tag danach .verramscht'. Die journalistische Sichtweise spitzt jedes Ereignis, jede individuelle und gesellschaftliche Konstellation auf maximale Wirksamkeit zu; doch der Schliff ist uniform. Politische Ungeheuerlichkeiten und ein Zirkus, die Sprünge der Wissenschaft wie die von Athleten, Apokalypse und Verdauungsbeschwerden bekommen den gleichen ,Bissl. Paradoxerweise hat diese Monotonie anschaulicher Dringlichkeit eine Anästhesie zur Folge. Das Äußerste an Schönheit oder Schrecken kommt in den Reißwolf, wenn der Tag sich neigt. Rechtzeitig für die Morgenausgabe erstehen wir wieder als Ganzheit, und voller Erwartung" (Steiner 1990: 43-44). Schon seit dem 18. Jahrhundert ist ein spielerischer Umgang mit Zeit festzustellen, der eine Profaneisierung der Geschichte zur Folge hatte und sich durch die Massenmedien noch verstärkt hat (vgl. Dinzelbacher 1993:661). Hinzu kommt ein kaum zu bewältigender Wissensvorrat über die Vergangenheit: „Wir wissen seit rund zweihundert Jahren zunehmend mehr über die Vergangenheit der Menschheit insgesamt, als diese Menschheit in der Vergangenheit je über sich selbst gewusst hat" (Koselleck 1979:177). Die Massenmedien insgesamt und nicht allein das Fernsehen betätigen sich rege an der Verbrei-

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

433

tung dieses Wissens: Zeitungen, Magazine, Hörfunk- und Fernsehprogramme strotzen förmlich vor historischen Beiträgen, und das bereits seit Ende der 1970er Jahre (Bleicher 1993b). Gleichsam bricht der massenmediale .Geschichtsboom die Autorität des Historikers in der vielstimmigen Mediengesellschaft und degradiert die Geschichtswissenschaft von einer Leit- zur Teilkultur (Assmann 2007b: 192). Zwar hat der „immer währende[.] Kampf zwischen der wissenschaftlichen Historiographie, welche die Deutungshoheit über die ganze Geschichte beansprucht[,] und dem öffentlichen Gedächtnis, das mit der Vergangenheit recht willkürlich umgeht" (Münch 2005: 10) selbst eine lange Geschichte. Doch haben diverse Gesellschaftsgruppen heutzutage durch die Vereinfachung medialer Produktion mittels vielfältiger publizistischer Angebote die Verwaltung der Geschichte übernommen: Aleida Assmann nennt hier Professoren, Politiker, Ausstellungsmacher, Geschichtswerkstätten, Bürgerbewegungen, Filmregisseure, Künstler, Infotainer und Eventregisseure. Stimmt man in den gerade zum Ende dieser Liste deutlich herablassender werdenden Ton mit ein, müssen ebenfalls ergänzt werden: Laienhistoriker, die Journaille, PR-Manager, Demoskopen. Sie alle sind beteiligt an der medial ausgetragenen, öffentlichkeitswirksamen Debatte über die Weise, wie Geschichte gedeutet werden sollte - oder nicht. Rudolf Burger spricht gar von der Hoheit über die öffentliche Moral, die von den Machtverhältnissen in den Bildungsinstitutionen und Massenmedien abhinge (Burger 2007: 117). Die Konsequenzen sind unübersehbar: Spezialisten sind nicht mehr unter sich, die Geschichtswissenschaft hat ihren Alleinstellungsanspruch längst aufgeben müssen. „Kein Überlieferungsstrang, dem einst durch strenge Zugangs- und Auslegungsbeschränkungen der Schein des Heiligen und Unverletzlichen anhaftete, bleibt von Evaluation, Umcodierung oder auch Desemiotisierung unbetroffen" (Schmidt 2000a: 89). Die Erinnerungsarbeit hat sich aus der Universität auf den Markt der Geschichte(n) verlagert. Hier wird, begleitet von einer populären „readiness for history", entworfen, gestritten, Geschichte gemacht (vgl. Sobchack 1996: 2). Was Karl Heinz Bohrer ursprünglich noch polemisch als Kitsch-Ritual der akademischen Intelligenz bezeichnete (Bohrer 2001), ist zum Allgemeingut geworden, und zwar zu einem heftig umkämpften. Es wird auf breiter Ebene diskutiert über das, was als historischer Konsens zu gelten hat. „Die Zeiten, als die Nation selbst den Status eines Mythos hatte und die mythologisierte Einheitserzählung der Nationalgeschichte sowohl durch den weltberühmten Historiker wie auch durch den Dorfschullehrer gleicherweise unter den Bevölkerungen verbreitet wurden, sind zumindest in Westeuropa passé" (Bizeul 2005: 22). Nicht die Intelligenzia besitzt mehr die Deutungshoheit, sondern wird allenfalls noch von der partikularen Öffentlichkeit bei Bedarf konsultiert. Die Einordnungen des Historikers werden wertgeschätzt, doch nicht kritiklos übernommen: Er ist ein gern zitierter Experte, der Hintergründe liefert. Die eine Geschichte im Sinne von einer allgemeingültigen Wahrheit, wie es sie in den Naturwissenschaften geben mag, aber nicht in der Historiographie (Münch 2005: 10), ist zu einem dünnen Gerüst geworden, das zwar mit mal mehr, mal weniger stark wechselnden

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

Schwerpunkten unterrichtet wird, doch in den kollektiven Erinnerungen der fragmentierten Gesellschaft nur noch eine Rahmenrolle einnimmt. Aleida Assmann borgt sich den Begriff des „Geschichtsmarktes" bei Dieter Langewiesche, der konstatiert, dass die akademische Geschichtsschreibung nie ein Monopol besessen habe, es aber heute besonders schwierig sei festzustellen, welche Geschichtsbilder tatsächlich seitens der verschiedenen Publika akzeptiert und verinnerlicht würden (vgl. Langewiesche 2006: 311). Aleida Assmann zumindest meint, dass es nicht Wissen sei, nach dem das heutige Individuum strebe, sondern vielmehr Schaulust und Unterhaltung, gepaart mit der Bereitschaft zur emotionalen Anteilnahme (Assmann 2007b: 192). Die daraus folgende Gefahr einer um sich greifenden Beliebigkeit des Geschichtsinteresses mag auch Karl Heinz Bohrer bewegt haben, den Deutschen eine partielle „Erinnerungslosikgeit" zu bescheinigen (Bohrer 2001). Bohrers Ansicht nach ist die gesellschaftliche Erinnerung auf die jüngste Geschichte Deutschlands, speziell die Schrecken des Dritten Reichs, fixiert, was dem Fernverhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte schade. Demgegenüber meint der Historiker Charles S. Maier in den USA ein ubiquitäres Gedächtnis wahrzunehmen, eine förmliche Erinnerungsinflation, die vor allem zum Zwecke süßlicher, melancholischer Selbsterfüllung diene (Maier 1993: 150). Wenn Nora die Lust weiter Bevölkerungskreise am Archivieren beschreibt (vgl. Nora 1998: 23-24), verweist das auch auf die rapide Fortentwicklung technischer Aufzeichnungsmöglichkeiten, die es jedermann ermöglichen, sein Leben und Handeln in vielseitiger Form aufzuzeichnen, noch während gelebt und gehandelt wird. Durch diese Gleichzeitigkeit wird das Gelebte schon zum Dokument, ohne das es tatsächlich gelebt wird. In dieser Hinsicht kann wohl kaum noch von lebendiger Erinnerung gesprochen werden, da das Lebendige schon im Ursprung abhanden kommt. Gleichwohl erfährt eine Jubilarkultur neuen Aufschwung, indem ein spürbares Mehr an Festivitäten aus Anlass von privaten wie öffentlichen Jubiläen zu verzeichnen ist (Münch 2005:12). Erklärungsversuche dieses Trends setzen an verschiedenen Stellen an: Christel Köhle-Hezinger glaubt darin eine Form der Anerkennung privater Lebensläufe innerhalb der Gesellschaft zu erkennen, die das Jubiläum zu einem privaten Festakt als öffentlich zelebriertes Geschenk, als „Kleinanzeige" (Köhle-Hezinger 2005:214) avancieren lässt. Andererseits sind Jubiläumsfeiern zu einem Wirtschaftsfaktor geworden, mit dessen Hilfe Unternehmen, Verbände und Gemeinden Aufmerksamkeit auf sich und ihre besonderen Eigenschaften und Vorzüge zu lenken vermögen (vgl. Münch 2005: 18). Jubiläen können als Erinnerungsanlass fungieren, obgleich dabei Organisation, Inhalt und die Teilhabe von Gesellschaftsgruppen eine gewichtige Rolle spielen. Erst wenn sie mit lebendigen Werten und Erinnerungen verbunden und diese von den angesprochenen Gesellschaftsgruppen aufgenommen werden, erfüllt sich ihre Funktion als Aktivierungsinstanz des kulturellen Erinnerns (vgl. ebd.: 25). Vor allem Jahrestage sind dem Risiko unterstellt, in ihrer festgelegten Wiederkehr mechanisiert abzulaufen und nicht mehr zu sein als Veranstaltungen, mit denen „Gegenwartserscheinungen in sporadischen Spotlights auf ihre Anfänge hin ausgeleuchtet werden" (Assmann 2005a: 314).

III. 9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

435

Gemein ist dieser im Grundtenor durchaus einvernehmlichen Kritik am allgemeinen Zustand von Erinnerungskulturen, dass die Menschen angeblich nach Unterhaltung und Selbsterfüllung streben und nicht nach langfristiger, unbequemer Aufklärung. Wenn man Maier glaubt, sind Erinnerungsanlässe zu einem von vielen Wellnessangeboten des Informationszeitalters geworden (vgl. Maier 1993): Wer sich finden möchte, saugt sich das nötige Wissen aus den Datenkanälen oder tritt einer virtuellen Erinnerungsgemeinschaft bei - mit Benutzernamen und Passwort. Die Erlebnisgesellschaft macht Geschichte somit zum .Happening' mit Wohlfühlqualität. Ähnliches vermutet auch Bertman, der den Nordamerikanern kulturelle Amnesie attestiert. Seine Argumente entsprechen dem Phänomen der Gegenwartsfixierung: Nur was das augenblickliche Befinden verlangt, werde erinnert bzw. könne genug Interesse generieren, um eine aktive Auseinandersetzung mit historischen Belangen anzustoßen (Bertman 2000: 69). Gefühl ist demnach vorhanden, nur tatsächliche Wissensaneignung bleibt aus. Die Konsequenzen seien fatal: Bertman erkennt eine Entwertung der Vergangenheit und den Verlust an Traditionen durch eine fortschreitende Technisierung, Beschleunigung und Verwissenschaftlichung der Welt, durch den damit einhergehenden Drang nach Veränderung, das heißt: Erneuerung, und das daraus entspringende grundsätzliche Wesen der Konsumgesellschaft: „The greater the focus on the senses and sensory gratification, as we have seen, the greater the emphasis on the present as the prime source of meaning in life. As a consequence, the affluence and economic structure of our society combine to create a psychological environment in which what is old - including the past - is regarded as useless and obsolet" (ebd.: 75). Bertmans Schlussfolgerungen basieren augenscheinlich zum überwiegenden Teil auf Beobachtungen einer stereotypisierten Jugendkultur, die mit besonderem Eifer all das utilisiere, was den Charme des Neuen versprüht. Dabei ist es offenbar von sekundärem Interesse, dass (US-amerikanische) Schüler en gros anscheinend noch nie viel Ahnung von der Geschichte hatten.170 Die Institution der Schule ist demnach zu einem Marktplatz geworden, und zwar nicht des Wissens, sondern von Werbebotschaften (ebd.: 78). Die Folge sei eine engsichtige wie pragmatische Ausrichtung auf das Berufsleben und auf die Maximierung von Erfolg. Was ausbliebe, sei Idealismus und die Einsicht, dass Materialismus dem Gedächtnis eher schade (ebd.: 81). Mehr Belege, als dass Deutschland und Nordamerika im Zuge der kurzerhand diagnostizierten Genese zu Erlebnis- und Konsumgesellschaften auch etwas an ihrem herzhaften Verhältnis zur eigenen Geschichte eingebüßt hätten, werden von den Kritikern des Mentalitätswandels nicht beigebracht. Mutmaßungen aber gibt es reichlich: Bohrer erkennt in dem nur scheinbar stark angestiegenen Interesse innerhalb der Gesellschaft an früheren Zeiten einen „durchaus legitimen Voyeurismus", in dem sich „eine von Abstraktionen übermüdete Konsumentenge170 Der US-amerikanische Erziehungspsychologe Sam Wineburg kommt unter Bezug auf eine Studie des (rudimentären) Geschichtswissens von Schülern im Jahr 1917 zu dem Schluss: „Die ganze Welt hat sich in den letzten 80 Jahren völlig verändert, nur eines ist gleich geblieben: Schüler haben keine Ahnung von Geschichte" (Wineburg 2001: 180).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

sellschaft ausruht" (Bohrer 2001). In diesem Sinne hat sich nicht zuletzt durch die Omnipräsenz des Fernsehens die Gegenwart verunendlicht und lasse sowohl Vergangenheit als auch Zukunft „auf das ewige Jetzt kulturellen Konsums" schrumpfen (ebd.; vgl. auch Assmann 1996a; Hagen 2003: 7). Hier wird also davon ausgegangen, dass der interessierte Fernsehzuschauer nur auf den oberflächlichen Reiz des Vergangenen reagiert, aber sich selbst nicht in ein tatsächliches Spannungsverhältnis zur Geschichte setzt. Ob es nun einen tatsächlichen Hang zur Erinnerungslosigkeit im Sinne eines zwar emotionalen, aber oberflächlichen Geschichtsinteresses gibt oder sich ein .Erinnerungsboom' entwickelt hat, der unvermindert anhält: Es stellt sich zweifellos die Frage nach den Ursachen solcher Entwicklungen. „Befinden wir uns nostalgisch auf der,Suche nach der verlorenen Zeit', dient das geschichtliche Argument der historischen Legitimation oder bedeutet der Blick zurück, dass man sich endlich anschickt, die Vergangenheit ernsthaft als Erfahrungsbank zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsproblemen zu nutzen?", fragt Paul Münch und stellt gleichsam fest: „Es besteht kein Konsens darüber, wie man diesen Trend bewerten soll" (Münch 2005: 7-8). Hier ist die Wirkungsforschung gefragt, die Auskunft darüber geben könnte und angesichts der schwerwiegenden Vorwürfe muss, wie sich das Geschichtsverhältnis innerhalb einer Gesellschaft wandelt, welchen und ob es überhaupt tatsächlich Konjunkturen unterworfen ist und was es stimuliert, was es stört. Der Literaturkritiker Gustav Seibt hat in seiner Replik auf Karl Heinz Bohrers Essay 171 darauf hingewiesen, dass weder der von Bohrer angeführte Verfassungspatriotismus von Jürgen Habermas und seinen Schülern oder die Soziologisierung der Geschichtswissenschaft noch eine ideologisierte, supranationale Perspektive auf Europa für das schwach ausgebildete Fernverhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte sprechen können. Vielmehr sei es der Diskontinuität der historischen Entwicklung dieses Landes geschuldet, dass es keine gewachsene Tradition und Verbundenheit mit den Anfängen der deutschen Nation und ihren Vorgängern gebe: „Die objektiven Brüche der deutschen Geschichte machen es schwer, jenen epischen Gefühlsbezug zu entwickeln, den Bohrer vermisst" (Seibt 2001). Auch Aleida Assmann sieht in solchen traumatischen Brüchen, namentlich in den beiden Weltkriegen sowie im Genozid an den Juden Europas, die eigentliche Ursache für das gewachsene Interesse der Deutschen an ihrer Geschichte: „Die Geschichtstraumata, die heute den Gedächtnis- und Identitätsdiskurs antreiben, liegen zum Teil mehr als ein halbes Jahrhundert und weiter zurück" (Assmann 2007a: 23). Was speziell, aber nicht ausschließlich den Deutschen der Holocaust, ist den Amerikanern unter anderem der Makel des Indianermords, der Sklaverei und des Abwurfs der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki. Die emotional aufgeladene Diskussion um die Rechtmäßigkeit US-amerikanischer Militärinterventionen vor allem im Irak mag in Verbindung mit dem Trauma heimkehrender getöteter und schwer verwundeter Soldaten 171 Aleida und Jan Assmann veröffentlichten jeweils eine deutliche Gegenschrift zu den Ausführungen Bohrers und wiesen ihn in seiner Auffassung zurecht, das von ihm vermisste Fernverhältnis zur deutschen Geschichte werde von einer Hyperpräsenz des Holocaust in der Geschichts- und Erinnerungskultur des Landes verhindert (Assmann 2001a; Assmann 2001b).

III. 9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

437

und unter Rückbezug auf den Vietnam-Krieg ein Hinweis darauf sein, dass sich dieser historische Verarbeitungsprozess enorm beschleunigt hat. Aleida Assmann unterscheidet drei Dimensionen in der Frage nach den Gründen für die populäre Faszination an inszenierter Geschichte, wie sie unter anderen vom Fernsehen vermittelt wird: Ein Antrieb sei die Neugier, gesteuert durch den Unterhaltungstrieb, die zu einer Beschäftigung mit historischen Belangen anrege. Hinzu komme zweitens der Drang nach Identitätsvergewisserung, um Fragen nach der eigenen Herkunft und dem Sinn des eigenen Selbst in Verbindung mit seiner Verortung in der historischen Entwicklung der Kultur nachzugehen, sowie drittens die ethische Pflicht, auch um die Vergehen und Fehler der Vorfahren zu wissen und sich dementsprechend im interkulturellen Austausch verhalten zu können (vgl. Assmann 2007a: 25-26). Im Sinne Harald Welzers sollte noch eine weitere wesentliche Dimension nachgetragen werden: der Wissensdurst im Sinne eines Strebens nach der Teilhabe am semantischen Weltwissen. Aus einem Sinn der Gegenwärtigkeit heraus zu agieren, muss eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit historischen Belangen nicht ausschließen: Der Willen, aufgeklärt zu werden, ermöglicht ein effektiveres Handeln in Gegenwart und Zukunft. Dass dieser Punkt in Assmanns Aufzählung nicht vorkommt, zeigt die moralisch-normative Ausrichtung ihrer Argumentation: Der Mensch von heute sei zwar neugierig und erfahrungsoffen, doch dies nur zu Zwecken des Müßiggangs, wozu auch die Vermeidung von Konflikten durch die Wahrnehmung ethischer Pflichten gerechnet werden dürfte. Sabine Bode weist dabei auf einen eklatanten Wesensunterschied zwischen privater Erinnerung und öffentlichem Gedenken hin, um daraus die divergierende Intensität des persönlichen Engagements bei den jeweiligen Erinnerungsprozessen zu hinterfragen: „Geschehnisse werden dann tief im Gedächtnis gespeichert, wenn sie an starke Emotionen gebunden sind. Wer dem zustimmt, wundert sich nicht mehr über die große inhaltliche Kluft zwischen öffentlicher Erinnerungskultur und dem privaten Familiengedächtnis. Die erste bezieht sich auf Fakten und Forschung und präsentiert sich in feierlichen Veranstaltungen, das zweite basiert überwiegend auf gefühlsträchtigen Erzählungen" (Bode 2006: 264). Was das Individuum aus dieser Sicht antreibt, ist das Streben nach Identitätsvergewisserung in Form von Gefühlsbefriedigung. Heute muss sich Jeismanns Beobachtung demnach in extenso bewahrheiten: „Geschichtliche Wahrnehmung und Deutung im vor- und außerwissenschaftlichen Raum folgt Identifikations- und Legitimationsmechanismen; anthropologische Konstanten wie der Drang nach Selbstbestätigung und Abgrenzung, Rechtfertigung und Anklage, Verehrung und Verteufelung, vor allem aber nach Bestätigung und Erhebung filtern diese .Konstruktionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit' (Berger/ Luckmann) auch im Blick auf die historische Dimension. Geschichtsbemächtigung als elementares Lebensbedürfnis will nicht verunsichernde Kritik und emotional irritierende Erklärung, sondern Sicherheit und Selbstgewissheit der Deutung von Gegenwart und Geschichte" (Jeismann 1988:100).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Die einzelne Person bedient sich vielfältiger Informationsangebote und Erinnerungsanlässe, um im intimen Kontext historischen Sinn und Erklärungen für das persönliche Werden und die eigene Entwicklungsgeschichte zu konstruieren. Auf kollektiver Ebene macht diese Bezugnahme auf persönliche Einstellungen und Vorlieben noch einmal auf fundamentale Weise deutlich: Es war immer schon das Individuum, das sich erinnerte, selbst wenn so paradigmatisch von kollektiven Gedächtnissen, kultureller Erinnerung und nationalem Gedenken die Rede ist (vgl. Kapitel Π.9.). Das Modell History on demand mag sich letztlich (noch) nicht durchgesetzt haben, doch muss in der moralisch aufgeladenen Diskussion über Werteverfall und richtigem oder falschem Geschichtsinteresse berücksichtigt werden, von welcher Öffentlichkeit die Rede ist: Früher formte das Bildungsbürgertum eine Wissenselite, die privilegierten Zugang zu den Gedächtnisinstitutionen hatte und im doppelten, also im materiell-finanziellen und im Sinne des Bildungsstandes befähigt war, sich für Geschichte zu interessieren. Mittlerweile hat sich das Verhältnis zum historischen Wissen demokratisiert: Die Zugänge zu gesellschaftlichen Erinnerungsanlässen stehen potenziell jedermann offen. Diese Entwicklung hat auch bei Aleida Assmann dazu geführt, dass sich ihre äußerst kritische Haltung gegenüber der elektronischen Mediengesellschaft zwar nicht abgemildert hat, sie aber nun eine wichtige Erkenntnis beschreibt: Schilderte sie 1996 (Assmann 1996a), 1999 (Assmann 1999a), 2003 (Assmann 2003) und 2004 (Assmann 2004b) noch apokalyptische Szenarien über das drohende Ende jeder Erinnerung, gesteht sie mittlerweile ein produktives Spannungsverhältnis zwischen Nutzbarmachung und Distanzierung zur Geschichte zu: „Zwischen dem Wunsch nach Aneignung und dem Bewusstsein von Differenz liegt eine Arbeit an der Geschichte, die sich darum bemüht, eine fremd gewordene Vergangenheit aneignungsfähig zu halten" (Assmann 2007b: 194). Dagegen ist bei ihr nun seltener die Rede vom „kulturellen Gedächtnis", sondern vielmehr von „Geschichte im [gesellschaftlichen] Gedächtnis", mit anderen Worten: die Relevanz historischer Erfahrungen im öffentlichen Bewusstsein. Einer ähnlich konstruktiven Fährte folgend, sieht Richard Terdiman auch keine Verflachung, sondern im Gegenteil einen überwältigenden Reichtum an Erinnerungen innerhalb der Gesellschaft, der offenbare, wie kompliziert die Welt sei (vgl. Terdiman 2006: 199). Diesem Verständnis nach gehört die Krise zum Gedächtnis einer Kultur wie auch dessen Aufschwung: „The memory crisis was never a complication to be solved" (Terdiman 1993:298 - Hervorh. im Orig.). Durch die immanente Zugehörigkeit zu einer Kultur wäre die Krise also das notwendige Gegenstück zur Hypertrophie des Gedächtnisses, unentbehrlich für die Ausbalancierung des ambivalenten Machtverhältnisses zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Welche Tendenz die Oberhand gewinnt, entscheidet eine Gesellschaft demnach in der kontinuierlichen diskursiven Auseinandersetzung mit sich selbst und ihren Vergangenheitsbezügen. Assmann spricht diesbezüglich in problematischer Weise von einer „Aufmerksamkeitskultur" (Assmann 2003), die sie als Antonym für Erinnerungskultur benutzt. Aufmerksamkeit ist in diesem Sinne ein anderes Wort für Kurzzeitgedächtnis und umschreibt ein

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

439

konjunkturhaftes Aufblitzen historischen Interesses, geleitet von emotionalen Drängen und mit der Konsequenz äußerst kurzlebiger, inhaltlich oberflächlicher Erinnerungskonstruktion. Dagegen ist Aufmerksamkeit nicht nur eine grundlegende Voraussetzung für den bewussten Lernprozess, sondern auch eine ebenso fundamentale Bedingung, um Erinnerung aktiv wachzuhalten, was sie auch selbst erwähnt. Doch wird Aufmerksamkeit bei ihr zu einem Schlagwort, das mehr Schaden anrichtet, als dass es aufrüttelt: Schließlich ist gesellschaftliche Erinnerung immer mehr von der Aufmerksamkeit des Einzelnen und dessen Eigeninitiative abhängig, da die Lebendigkeit kultureller Gedächtniselemente und deren Tradierung für zukünftige Generationen von engagierten Individuen abhängt, die das Speichergedächtnis erhalten und das Funktionsgedächtnis speisen. Wenn die Massenmedien nach Assmanns Beobachtung sich damit begnügen, Aufmerksamkeit zu erregen, ohne das damit gegebene inhaltliche Versprechen einzulösen, muss das nicht heißen, dass dies deteriorativ wirkt: Wessen Interesse geweckt ist, der wird sich informieren - die Demokratisierung des historischen Wissens über unzählige mediale Kanäle bietet dafür eine Vielzahl von Gelegenheiten. Nichtsdestotrotz bemängelt Paul Nolte, dass den vermeintlich authentischen Geschichtsdarstellungen u.a. des Fernsehens mehr Geltung zugeschrieben werde als der wirklichen Geschichte an sich: „Die Übermacht der Erinnerung ist eine Kompensation der verlorenen Zukunft. Die Übermacht der Repräsentation bringt die Sehnsucht nach der Präsenz von Geschichte zum Ausdruck und versperrt doch den Zugang zu Geschichte, indem sie deren Abbildern mehr Authentizität verleiht als der vergangenen Wirklichkeit selbst" (Nolte 2005: 895). Anderswo wird die Abkehr vom Alleingültigkeitsanspruch schriftlicher Geschichtsaufarbeitung hin zu einer (audio-) visuellen Pluralisierung der Zugänge zur Vergangenheit begrüßt: „Visual culture used to be seen as a distraction from the serious business of text and history. It is now the locus of cultural and historical change" (Mirzoeff 1999: 31). Durch die Kopplung jedweder Sendetätigkeit an die Gegenwart ist Vergangenheit im Fernsehen latent präsent. Im Folgenden wird die Funktion des Fernsehens als Vermittlungsinstanz für historische Inhalte untersucht, wobei zunächst die Determinierung des journalistischen Angebots durch eine kalendarisch fixierte Zeitwahrnehmung erörtert wird. Eine weitere wichtige Programmentwicklung stellt die Thematisierung von Geschichte als Event im fiktionalen wie auch faktuellen Rahmen dar. Daraufhin wird auf die nostalgischen Qualitäten des Nachspielens von vergangenen Ereignissen und des historischen Alltagsleben sowie die damit verbundene Desillusionierung bzw. Stärkung nostalgischer Perspektiven auf die Geschichte eingegangen. Auch wird die Funktion des Fernsehens als populäres Forum für erinnerndes Erzählen hinterfragt, um die tiefgreifende Transformation der televisuellen Geschichtsaufarbeitung darzustellen.

440 9.2.

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Das Fernsehen als Historiker?

9.2.1. Das Fernsehen im Griff der

Televisuelle

Geschichtsdarstellungen

Gedenktag-Agenda

„So viel Hitler war nie", schrieb der Geschichtswissenschaftler Norbert Frei im Herbst 2004 unter dem Eindruck einer überwältigen Zahl von televisuellen Aufarbeitungen des 60. Jahrestages des Kriegsendes 1945 und glaubte einen „erinnerungspolitischen Gezeitenwechsel" zu beobachten, der Ausdruck finde in einer „Gedenkmaschine" voller „kommerzielle [r] Sensationen", die, so ist Freis Argumentation zu verstehen, einen Gedenktag nach dem anderen zum Anlass nimmt, um dem Publikum Geschichte als Programmereignisse zu verkaufen, welche die Sendepläne füllen (Frei 2004; vgl. auch eine frühere Beobachtung durch Schiller 1993a: 66). Geschichte ist also überall und allen Massenmedien und gesamtgesellschaftlichen Diskursformen voran im Fernsehen. In den sich ständig weiter ausdifferenzierenden Fernsehprogrammen wird Geschichte täglich in allen erdenklichen Formen und Themen behandelt. Jährt sich ein vergangenes Ereignis, stimmt das Fernsehen immer früher von langer Hand ein in das Konzert öffentlich zelebrierter Rückschau, das nicht zuletzt auch von Sonderveröffentlichungen der Buch- und Zeitschriftenverlage begleitet wird. Martin Walser zeigte sich anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1998 an ihn betroffen von der so regen Geschichtsaufbereitung durch die Medien, die er als „Dauerpräsentation unserer Schande" empfand (Walser 1998: 18), und nahm damit Bezug auf die schwer durch die nationalsozialistischen Verbrechen belastete Vergangenheit Deutschlands, die sich dem Mediennutzer besonders im Fernsehen aufdränge (ebd.: 10), indem es die Welt permanent als unerträgliche vorführe und dabei nicht dem Gedenken verpflichtet sei, sondern einer „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung" (ebd.: 18). Walsers Äußerungen wurden ob ihrer Abwehrhaltung gegen die .offizielle' Gedenkkultur, die sich dem Gros der Bevölkerung maßgeblich in Fernsehbildern vermittelt, harsch kritisiert (vgl. Agazzi 2005: 14-15).172 Der Philosoph Thomas Schmidt führt die von Walser angedeutete „Erinnerungsepidemie" in Deutschland auf die Sonderstellung des Landes im globalen Geflecht der nationalen Erinnerungskulturen zurück: Nach seinen Beobachtungen findet der konfliktreiche Gesellschaftdiskurs um die nationalsozialistische Vergangenheit im intermedialen Kontext just in dem Moment statt, der bereits den (schleichenden) Übergang der primären Erinnerungen aus dem kommunikativen Gedächtnis in den Fundus des kulturellen Gedächtnisses markiert. Dies habe zu einer immensen Beschleunigung bei der Produktion von Erinnerungsorten geführt, die sich zudem in einer breiten Variationsfülle ausdrücke (vgl. Schmidt 2000a: 97). Der Sonderstatus Deutschlands im Umgang mit der eigenen 172 Walser hatte weiterhin davon gesprochen, dass er habe lernen müssen wegzuschauen. Diese Reaktion sei verhältnismäßig, da er Unerträgliches nicht ertragen können müsse: „Ich käme ohne Wegschauen und Wegdenken nicht durch den Tag und schon gar nicht durch die Nacht" (Walser 1998:11). Eine Übersicht der kritischen Stimmen zu Walsers Rede findet sich bei Steckel 2001.

III. 9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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Vergangenheit drückt sich auch darin aus, dass über lange Zeit kein einheitlicher Jahrestag etabliert werden konnte, welcher eine ähnlich stabile und integrierende Funktion entwickelte wie in anderen Staaten zum Beispiel der US-amerikanische Unabhängigkeitstag am 4. Juli (vgl. ebd.: 31): Seit nunmehr über 230 Jahren wird der Independence Day in den Gemeinden der Vereinigten Staaten mit Volksfeststimmung und Feuerwerken begangen. Die umfassende soziale Einbindung des Fernsehens in die Feiertagsbegehung zeigte sich schon bei der Zweihundertjahrfeier 1976, als alle der damals vier großen Networks den gesamten Sendetag über Sondersendungen ausstrahlten und ihn mit Shows wie „Great American History Test" (CBS) oder „Inventing of America" (NBC) zu einem Erlebnis für die ganze Familie machten. Der Anchorman Walter Cronkite moderierte auf CBS eine 14 Stunden andauernde Sonderberichterstattung über die Feierlichkeiten im ganzen Land, NBC berichtete immerhin zehn Stunden lang unter dem Titel „Glorious Fourth" und ließ gleich mehrere prominente Moderatoren wie Paul Anka und Bob Hope Feiertagsshows präsentieren („Happy Birthday, America", „Bob Hopes Bicentennial StarSpangled Spectacular", „Best of the Fourth"), und ABC beschäftigte sich unter dem Titel „Great American Birthday Party" mit den lokalen Festen landein und landaus. Der 4. Juli ist für US-Amerikaner ein gern gesehener Anlass, um sich patriotisch, feierlich, auch unbekümmert und spielerisch mit der Vergangenheit ihrer Nation sowie den kulturellen Werten ihres Landes und Gründungsmythen ihres Landes zu beschäftigen. Das Fernsehen inszeniert das feierliche Geschehen unter anderem durch die monothematische Ausgestaltung der Programme und des inszenatorischen Aufwandes als Medienereignis, das ebenso verlässlich wiederkehrt wie der Feiertag selbst und sicher stellt, dass der Geist der nationalen Identität immer aufs Neue beschwört wird. Jahrestage sind, um eine Metapher von Aleida Assmann zu benutzen, „Denkmäler in der Zeit" (Assmann 2005a). Sie dienen der temporalen Konzentration versprengter Wissensbestände zum Zwecke ihrer symbolischen Nutzbarmachung, ergo der effizienten Administration ihres memorativen Potenzials. Als Erinnerungsorte sind sie auf keiner Landkarte zu finden, sondern fungieren als Markpunkte in den Kalendern der unterschiedlichen Kulturen, die der Sozialwissenschaftler und Theologe Jürgen Rinderspacher als „temporal maps" - „zeitliche Landkarten" - bezeichnet, die „es dem einzelnen und der Gesellschaft ermöglichen, sich kurz- und langfristig zurechtzufinden" (Rinderspacher 1995:961). Zu unterscheiden ist grundsätzlich zwischen drei verschiedenen Kategorien von temporalen Erinnerungsorten: Gedenktage, Jahrestage und Jubiläen. Gedenktage sind mit der Absicht verbunden, einer möglichst breiten Masse an Menschen ein historisches Ereignis oder ein .ernstes', das heißt für Gesellschaft und Kultur (identitäts-) relevantes Thema ins Gedächtnis zu rufen. Sie werden mit einem festen Tag im Jahr verknüpft, das mit einem historischen Datum korrespondieren kann, aber nicht muss. So werden viele Gedenktage unter anderem auch nach Verfügbarkeit im Gedenktagekalender festgelegt, um nicht in Konkurrenz mit den Gedenkfeierlichkeiten anderer Anlässe zu geraten. Der ursprüngliche Plan, den 9. November zum Tag der Deutschen Einheit zu erklären, scheiterte an der Befürchtung, es könne durch die Festlegung des

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positiv konnotierten Feiertags zu einem Konflikt beim Gedenken an die Eskalation der Judenverfolgung in der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 kommen: „Als ein sowohl der Feier wie der Erinnerung gewidmeter Tag hätte der 9. November gleichwohl die Möglichkeit eröffnet, das allgemeine Verständnis für die Ambivalenz deutscher Geschichte zu stärken: Der Tag hätte die positive Bedeutung von 1989 hervorgehoben und zugleich das Geschichtsbewusstsein vertieft für die Vorkriegsereignisse, die Deutsche ebenfalls mit ihm verbinden müssen" (Brunesen 2005: 52). Jahrestage dagegen bezeichnen allgemein Tage, an denen sich historisch bedeutsame Ereignisse zum ersten oder vielfachen Mal jähren. Jahrestag ist also als wert-, funktions- und mengenneutraler Oberbegriff für ein Anniversarium, das nicht mit bestimmten Gedenk-Auflagen verbunden ist, sondern je nach der Zuordnungsgröße des Jahrestags (zum Beispiel auch Geburts-, Todes- oder Hochzeitstag) auf individueller Ebene bis hin zu globaler Reichweite Relevanz zugeschrieben bekommt. Der positiv konnotierte Begriff des Jubiläums wiederum bezeichnet einen,runden Jahrestag, der 10, 25, 5 0 , 1 0 0 etc. Jahre nach dem in der Vergangenheit liegenden Bezugspunkt bei Jubelfeiern und selbst unter dem Eindruck eines „Bruch[s] mit der Vergangenheit [...] in der Absicht, neue Identität zu stiften und neue Kontinuität zu erschließen" seine „affirmativen Qualitäten" ausstellt (Müller 2004: 68). Jahrestage bieten in ihrer Schnittstellenfunktion zwischen individueller und öffentlicher Erinnerungsarbeit für die Lebendigkeit der Reminiszenz so wichtige Anlässe für Interaktion und Partizipation (Assmann 2005a: 310). Nach Assmann stellen sie eine Bühne dar, auf der gesellschaftliche Gruppen und ihre gegenwärtigen Anliegen in Rückbezug auf ihre Geschichte für eine gewisse Zeit ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gelangen können. Damit fungieren sie auch als Einlasspunkt für neue Mitglieder einer Erinnerungskultur. Darüberhinaus animieren Jahrestage zur eingehenderen Beschäftigung mit der Vergangenheit, indem sie zur Reflexion anstoßen (ebd.: 311). Mit Jahrestagen gelingt es, instabile, weil auf bloß funktionaler Ebene organisierte Erinnerungsgemeinschaften in ihrem Zusammenhalt durch temporale Angelpunkte zu verstetigen, an denen sich das sonst allenfalls pragmatisch bewahrte Identitätswissen symbolisch verdichtet (vgl. Schmidt 2000a: 42). Je enger sich das Individuum mit einem sich jährenden symbolischen Ereignis identifiziert, desto weniger ist das (vitale) Gedenken auf institutionalisierte Anstrengungen angewiesen, die, einem kalendarischen Schrittmacher gleich, verlässlich daran erinnern, sich zu erinnern (vgl. ebd.: 92). Wie Christian Lappe, Redakteur beim Bayerischen Rundfunk, erläutert, orientiert sich das Fernsehen bei seinen Geschichtsdarstellungen nur allzu dankbar an Geburts-, Jahres- und Gedenktagen, da diese eine wichtige Konstante des Programmgerüsts darstellen (Lappe 2003:100). Die Ausprägung der Berücksichtigung im Programm hängt wiederum ab von der gesellschaftlich zugewiesenen Relevanz des Anlasses: Familienfeiern werden in der Regel erst dann thematisiert, wenn es sich um ein spektakuläres Jubiläum handelt wie eine Diamantene Hochzeit (60-jähriges Jubiläum) oder der 110. Geburtstag eines noch lebenden Zelebranten. Während solche Feiern dazu dienen können, durch den Blick auf die Lebensgeschichte von Menschen aus der Bevölkerung die Zeitgeschichte

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zu thematisieren und von der individuellen auf eine gesamtgesellschaftliche Perspektive zu wechseln, ist das Fernsehen auch sonst in der Mehrzahl der Gedenkanlässe angewiesen auf außermediale Inszenierungen von Institutionen (Familien, Glaubensverbände, Kultureinrichtungen, politische Organisationen etc.), die mit ihrer kontinuierlichen Erinnerungsarbeit das Gedenken an eine spezifische Vergangenheit stabilisieren und in der Regel an einem geographischen Ort konzentriert wachhalten. Programmredaktionen folgen wie auch jede Nachrichtenredaktion einer Zeitung oder eines Radiosenders einer „Gedenktage-Agenda" (Pöttker 1997: 336), die von der Bekanntheit einer historischen Figur oder eines Ereignisses beim Publikum, das heißt von der leichten Aktivierbarkeit kultureller Gedächtniselemente im öffentlichen Bewusstsein ausgeht. Dienste wie das sogenannte „Kalenderblatt" der Deutschen Welle173 oder der „Gedenktagkalender" der Deutschen Presse Agentur (DPA) geben Journalisten eine Vorauswahl dessen an die Hand, was nach Einschätzung einer eng umgrenzten Zahl von Redakteuren und Lektoren als erinnerungswürdig gilt. „Wer es einmal geschafft hat, in den Kalender hineinzukommen, hat aber noch lange nicht seinen Dauerplatz als .Unsterblicher' sicher. Der deutsche Diplomat, der 80 wird und auf dem Gipfel seiner Karriere gerade für zwei Jahre Botschafter auf dem Balkan war, fliegt raus, weil ihn kaum noch jemand kennt. Dagegen ist der Landespolitiker, der sich zwei Legislaturperioden lang als Minister halten konnte, zum nächsten runden Geburtstag wieder dabei. Denn für die Heimatzeitungen in seinem Sprengel bleibt er eine Größe, auch wenn deren Redaktionen das Jubiläum vielleicht vergessen" (Schiller 1999: 315). Dabei handelt es sich also keineswegs u m einen verbindlichen Kanon, der auf Dauer Geltung beansprucht. Vielmehr befindet sich die Auswahl wie in diesem Fall von etwa 300 gesellschaftlich relevanten Gedenktagen in einem ständigen Revisions- und Neubewertungsprozess. In der Begehung bzw. Begleitung eines Gedenktages durch Berichterstattung ist eine starke Abhängigkeit vom außermedialen Geschehen festzustellen, die hier mit einer ausführlich wiedergegebenen Schilderung aus der agenturjournalistischen Praxis der DPA umschrieben werden soll, die indes ebenso für das Fernsehen gilt: „Da plant das dpa-Büro Paris langfristig eine umfangreiche Hintergrund-Berichterstattung zum 80. Jahrestag der Beendigung des Ersten Weltkrieges. Schließlich ist der deutsche Bundeskanzler zur Feierstunde eingeladen. Eingedenk der zur deutschfranzösischen Ikone gewordenen Versöhnungsgeste des Kanzlers Kohl mit dem französischen Präsidenten Mitterrand über den Gräbern von Verdun will man für das nächste Medienereignis gewappnet sein. Ein .Themenpaket' wird geschnürt - so heißt im Agenturangebot die Maximal-Variante mit verschiedenen Einzelbeiträgen: Das Archiv stellt die Chronologie von 1914 bis 1918 zusammen, der Korrespondent reduziert die Komplexität der vier Kriegsjahre auf 70 Zeilen, dazu gibt es eine Repor-

173 Abzurufen im Internet unter www.kalenderblatt.de.

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tage von den Schlachtfeldern an der Somme anno 1998 - mit Bildern und Grafiken wäre das eine Sonderseite par excellence [...]. Doch dann kommt die Bundestagswahl dazwischen - und alles anders: Der Historiker Kohl wird vernichtend geschlagen vom Rechtsanwalt Schröder, und dem liegt Geschichte nicht so am Herzen. Er sagt einfach ab. Keine Zeremonie, kein Medienereignis, kein flächendeckender Abdruck vom .Flensburger Tageblatt' bis zur .Allgäuer Zeitung'. Der .journalistische Einzelhandel' hat den Großhändler dpa auf seiner historischen Ware sitzenlassen. Nur Aktuelles ist stark gefragt, als sich am 11. November die Franzosen an ihrem Staatsfeiertag .Armistice' (.Waffenstillstand') über die Absage aus Bonn ärgern" (ebd.: 313-314). Die Gebundenheit des massenmedial vermittelten Gedenkens an außermediale Inszenierungen - Staatsbesuche, Zeremonien, Reden, Gesten usf. - birgt auch zahlreiche Risikofelder, die eine Vereinnahmung von Gedenktagen für Legitimationszwecke (z.B. von gegenwärtigen Machtverhältnissen) betreffen. Der Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann erkennt acht ineinandergreifende Merkmale von Gedenktagen (Bergmann 1 9 9 6 : 1 7 ) , die vor allem durch ihren Inszenierungscharakter, ihrer symbolischen Ausdruckskraft und daher von einer starken Medien- bzw. Fernsehaffinität gekennzeichnet sind: 1. Durch inszenatorische Maßnahmen soll eine gemeinsame historische Identität und Loyalität gestiftet werden. Gedenktage erfüllen also zuallererst eine kollektive Integrationsfunktion innerhalb einer Gesellschaft. 2. Nur in Ausnahmefällen (wie beim Nationalgedenken in Deutschland) sind bei der Inszenierung Selbstzweifel und ein kritisches Verhältnis zur eigenen Geschichte erwünscht. Im Regelfall aber ist eine positivistische Sicht auf die (Erfolgs-) Geschichte des eigenen (nationalen) Werdens vorherrschend. 3. Durch ihr integratives Potenzial wirken Gedenktage gleichsam exkludierend, indem sie Andersdenkende bzw. Gegner der hegemonialen .Großen Erzählung' ausschließen. Damit können zum Beispiel nationale Gedenktage auch als willkommene Anlässe für gegenläufige Gedenkbestrebungen dienen. 4. Gedenktagfeiern entfalten ihre feierliche Wirkung durch Kontrastierungen auf Basis klassischer Dichotomien wie Gut und Böse. Die wenn auch nur indirekt durch die Aufwertung der eigenen (nationalen) Identität erfolgende Abgrenzung von anderen Menschen bzw. Kulturen erfüllt an sich bereits eine wichtige identitätsstärkende Aufgabe. 5. Die Zukunft wird in Gedenktagen als verlängerte Gegenwart imaginiert, da der feierliche Blick auf die Geschichte von mit einer ausgeprägten Zufriedenheit mit dem historisch gewachsenen Gegenwartzustand der kollektiven Befindlichkeit einhergeht. Dieses statische Geschichtsbewusstsein unterstellt der Vergangenheit einen sinnhaften wie kontinuierlichen Verlauf hin zum Status Quo, der ebenso gefeiert wird wie die konstituierende historische Hinführung. .Inoffizielle', weil nicht-staatliche Gedenktage sind dagegen von einem dynamischen Geschichtsbewusstsein gekennzeichnet,

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das es beispielsweise den Mitgliedern von gesellschaftlichen Minoritäten oder unterdrückten Gruppen ermöglicht, hoffnungsfroh in die Zukunft zu schauen, die eben nicht so bleiben soll wie die Gegenwart, sondern von der sich Verbesserungen (z.B. der Lebenssituation) versprochen werden. 6. Gedenktage sind darüber hinaus stark personen- und ereignisfixiert, da sich komplexe historische Zusammenhänge, Entwicklung und Beteiligungen nicht oder kaum symbolisch inszenieren lassen. Erzählt wird daher eine stark simplifizierte und angesichts der gesellschaftlichen Heterogenität vereinheitliche Geschichte, die wenige Identifikationspersonen und Bezugsdaten enthält, aber eben auch viele Details ungenannt lässt und damit dem Vergessen übereignet. 7. Im Vordergrund steht das feierliche Gedenken an vergangene Zeiten, nicht das kritische Nachdenken über die Periode(n). Diese größtenteils undifferenzierte Auseinandersetzung trägt zur Mythenstärkung bei und lässt nur wenig Raum für tiefgehende Reflexionen oder gar Zweifel an der präsentierten Erzählung. Trotz der gerade in Deutschland zu beobachtenden Bereitschaft zur .historischen Vernunft' ist die .historische Unvernunft', das blinde Schwelgen in mythisch verklärten Vergangenheitsentwürfen eine latente Gefahr, die von Gedenktagen in besonderer Weise ausgeht. 8. Gedenktage stellen gerngesehene Anlässe dar, um Erinnerungen in materieller Form zu stabilisieren. Die Einweihung von Denkmälern oder die Eröffnung von Institutionen sind Versuche, zeitüberdauernde Manifestierungen memorativer Praxis zu etablieren, die zukünftig als Anlaufpunkt zum zeitlich flexibilisierten Gedenken einladen sollen. Die wesentliche Rolle der Massenmedien sieht Bergmann in einer Verstärkung der bereits in Gedenktagen veranlagten Fixierung auf Ereignisgeschichte und Personalisierung (ebd.: 18). Fernsehen und Gedenkfeiern liegen somit auf einer Inszenierungsebene und gehen automatisch ein symbiotisches Verhältnis ein, indem Fernsehinszenierung und außermediale Inszenierung ineinandergreifen müssen, um den symbolischen Kern der Feierlichkeit zu vermitteln. Der Politikwissenschaftler Dietmar Schiller fordert dennoch, dass ein „permanenter Prozess bewusster, aktiver und vor allem unbequemer Erinnerung" nötig sei und kommt doch zu dem Schluss: „Das kann Fernsehen nicht leisten!" (Schiller 1993a: 68). Elihu Katz unterscheidet vier Rollen, die speziell das Fernsehen in Bezug auf Feiertage einnehmen kann: Zunächst wurde es erst mit dem Fernsehen möglich, Menschen außerhalb des Einflussbereichs institutioneller Erinnerungsarbeit und termingeleiteter Gedenkpraktiken zu erreichen. Das Fernsehen erfüllt bei der Begehung eines Jahrestages also eine teilnehmende Funktion (1): Es zeigt nicht nur, sondern erklärt die Beweggründe und Umstände des Gedenkens, um nicht nur die ohnehin Interessierten, sondern auch jene Menschen anzusprechen, die nicht aus eigenem Antrieb den Feierlichkeiten zu folgen bereit sind. „Zu beachten ist hier, dass die Wirkung dieser Form von Fernsehen darin besteht, dass die direkte Teilnahme in der Kirche des Wohnortes oder sogar

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am Ritual im Familienkreis zurückgeht zugunsten der Teilnahme an einer zentral veranstalteten Feierlichkeit" (Katz 1990: 34). Eine weitere Funktion des Fernsehens besteht darin, eine Ergänzung zu den stattfindenden öffentlichen und privaten Feierlichkeiten zu bieten (2). Hierbei holt das Fernsehen mit einer breiten Palette an Genreformaten wie Beispielsweise Spielfilmen, Dokumentationen oder Shows die Vergangenheit in die Gegenwärtigkeit des Sendebetriebs (vgl. auch Lersch/Viehoff 2007: 13), um durch ein solches Rahmenprogramm die Vielfalt der Thematisierung des Jahrestages zu erhöhen, die situativen Möglichkeiten der Rezeption zu multiplizieren und damit mehr potenzielle Zuschauer zu erreichen. Fernsehen kann aber auch als Ersatz für solche Zuschauer fungieren, die dem Jahrestag nichts abgewinnen können, ja möglicherweise seine Begehung sogar vermeiden möchten (3). Hier besteht etwa die Möglichkeit, „angemessene Unterhaltung" (Katz 1990: 36) beispielsweise in Form von bestimmten Fernseh- oder Filmklassikern zu senden, die auch in den Bestand privater Feierrituale übergehen können wie die historische Sketchaufzeichnung „Dinner for One" am Silvesterabend, oder gar die feierliche Stimmung zu konterkarieren, indem - wie beispielsweise traditionell im Heiligabendprogramm des deutschen Privatsenders RTL - Actionfilme ausgestrahlt werden (vgl. Winter 2001; Anonym 2003b). Das Fernsehen wird in solchen Fällen durch die in ihrer Gegensätzlichkeit ausgewogene Programmbestückung zum Sinnstifter und Provokateur zugleich. Auch greift das Fernsehen aktiv in die Kreierung von Jahrestagen ein, wenn es diese durch seine Inszenierungsleistung erst erschafft. Diese innovative Funktion (4) drückt sich beispielsweise darin aus, dass ein Geschehen wie eine Parlaments- oder Präsidentenwahl, das ohne die ausgiebige televisuelle Berichterstattung eine entsprechende Reichweite und implizite Relevanzzuschreibung vermissen ließe, durch die Fernsehübertragung, der Widmung von besonderer Sendedauer und Produktionsaufwand, zu einem solch eindrucksvollen Ereignis wird, dass sich auch noch Jahre später Zuschauer daran erinnern können und bestimmte Sender möglicherweise selbst einem solchen Tag in ihrem Programm gedenken. Fernsehen kann, so ließe sich ergänzen, auch Spielarten des Gedenkens karikierend erfahrbar machen, die sonst undenkbar wären. So wurde im vierten Kapitel der „Schulz & Schulz"-Fernsehspielreihe knapp drei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer das irrwitzige Szenario eines Stasi-Erlebnisparks im Rahmen einer Komödienhandlung präsentiert und zugleich als politisch unkorrekt negiert, ohne aber zu versäumen, modellierend auf das .offizielle Gedenken an die DDR-Geschichte einzuwirken, indem gezeigt wurde, wie dieses moralisch korrekt keinesfalls zu gestalten sei. Die Ausweitung des Gedenkens mittels der televisuellen Begehung von Feierlichkeiten weichte indes auch vormals klar definierte Gruppengrenzen auf und ersetzte diese mit einer abstrakten Form einer offenen Adressatenschaft im Medienpublikum, wodurch die Identitätskonkretheit von Gedenkbemühungen tendenziell abnehmen musste (vgl. Schmidt 2000a: 78). Durch die Beteiligung an oder genauer: die Einwirkung von Massenmedien wie vorrangig des Fernsehens auf die Gedenkkultur haben Jahrestage an normativer Geltungskraft eingebüßt, an deren Stelle eine Angebotsoption trat, die das

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Gedenken zur Offerte ohne „Begehungsvorschriften und Sanktionsdrohungen" machte (ebd.: 101). Dass es das Fernsehen allein zu verantworten hat, die Memoria obligatoria in eine Memoria ad libitum transformiert zu haben, ist aber eine nicht zu haltende Spekulation. Schon immer waren die Erinnerungspraktiken von Kollektiven durch eine mehr oder weniger integere Disziplin gekennzeichnet, die zwischen selbstbestimmtem Gedenken und Gedenkgebot oder sogar Gedenkverpflichtung oszillierte (vgl. Schmidt 2000b: 141). Das mit Gedenktagen traditionell verbundene Ziel, eine Gemeinschaft kollektiv zum identitätsstiftenden Gedenken an Vergangenes zu verpflichten, wurde also durch die Massenmedien zwar nicht abgeschafft, aber durch die Verbreiterung der Adressatenschaft in seinem Erfolgspotenzial aufgeweicht. Politische und kulturelle Institutionen bestimmen indes weiterhin in Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Medien den Umgang mit der Vergangenheit. Die Fruchtbarkeit des Erinnerungsanlasses steuern können sie nicht. Ob das verpflichtende Gedenken, sei es in Form einer Gedenkminute, eines Gedenktags mit einer zentralen feierlichen Zeremonie oder eines kompletten Gedenkjahres mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Veranstaltungen, auch tatsächlich ein Insichkehren des einzelnen Individuums in der Bevölkerung nach sich zieht oder bloße Fassade bleibt, die schnell wieder aus den Augen und aus dem Sinn gerät, ist nicht vorhersehbar und kaum kontrollierbar. „Mit der errechneten Wiederkehr erübrigt sich die Frage, welche Vergangenheit überhaupt der Gegenwart näher steht oder nahegeht", formulierte daher auch Heinz Schlaffer (Schlaffer 1989: 83). Womit sich die Mitglieder einer Gesellschaft tatsächlich identifizieren, was für ihr soziales Zusammenleben tatsächlich Relevanz besitzt, kann freilich zugunsten des datumsgeleiteten Gedenkens in den Hintergrund rücken. Geändert an den Absichten hat dies aber wenig, vielmehr ist eine strikte Orientierung der medialen Agenda an der politischen Gedenktage-Agenda festzustellen: „Der als belastend und beschämend empfundene Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit wird dabei eine instrumentalisierende Absicht, nicht selten für aktuelle politische Zwecke, unterstellt. Eine aufklärerische Qualität von Geschichte im Allgemeinen wird zunehmend negiert" (Lappe 2003: 96). Die sich in dem Konflikt um Walsers „Sonntagsrede" offenbarende Diskrepanz zwischen .offizieller' und privater Erinnerung wirft die Frage auf, inwieweit kollektive Gedenkmechanismen aus dezidiert politischen und aus allgemein gesellschaftlichen Sphären Einfluss auf den Programmbetrieb des Fernsehens geltend machen und somit durch eine memorative Instrumentalisierung zumindest eine kollektive Verbindlichkeit im Sinne einer gesellschaftlich anerkannten Relevanz gewinnen können. So hat die Film- und Fernsehwissenschaftlerin Judith Keilbach beobachtet, dass Gedenktage immer weniger nur zum Gedenken Anlass bieten, sondern seitens der Politik auch für produktive Ziele wie die Legitimation (außen-) politischer Entscheidungen genutzt werden (Keilbach 2005: 110). In der Frage nach der „Anordnungskompetenz" zeigt sich ein Dominanz- und Machtgefälle (Schmidt 2000a: 39), bei dessen Gewichtung das Fernsehen eine entscheidende Funktion einnimmt: Es verschafft nicht nur den herrschenden Erinnerungskulturen Gehör, sondern auch den marginalisierten, den opponierenden und unterdrück-

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ten. Welches Gedenken relevant ist und welches nicht und somit kalendarisch vergessen wird, stellt Erinnerungskulturen in ihren interrelationalen Praxis zueinander vor hochpolitische Schwierigkeiten, ebenso wie die Verständigung innerhalb von Gesellschaften auf ein gemeinsames Zeitstrukturierungssystem bereits eine politische Entscheidung darstellt (vgl. Rinderspacher 1995: 963). Das am kalendarischen System orientierte Gedenken ist also abhängig davon, welche Öffentlichkeitsinstanz das Gedenken leitet, sei es die Wissenschaft, Kunst, Politik, Verbände oder einzelne Bürger, die sich zum Beispiel im Internet organisieren. Gleichwohl unterstellt der Historiker William Johnson dem Fernsehen in Europa und den USA eine opportunistische Gedenktage-Politik, die sich anlehnungsweise nach den Interessen von Geldgebern richtet. Die öffentlich-rechtliche Verfasstheit des Rundfunk in vielen Staaten Europas lässt Johnson vermuten, dass die programmliche Berücksichtigung von staatlich begangenen bzw. national bedeutenden Jahrestagen eine Konsequenz der politisch intendierten Förderung nationaler Identität sei (Johnston 1991: 44). Auch glaubt Johnston darin eine autoritäre Geschichtspolitik auf Basis öffentlich zugewiesener Finanzströme zu erkennen. Der durch Steuer- und Gebührengelder finanzierte Kulturbetrieb sorge also für eine Hochkonjunktur thematisch weitgehend konsensualer Gedenk- und Jubiläumsfeierlichkeiten (wobei es bei den Wertungen in der Thematisierung durchaus zu signifikanten Unterschieden kommen kann), wohingegen die Ausrichtung von kulturellen Institutionen in den USA und vor allem beim hauptsächlich kommerziell organisierten Fernsehen an Jahrestagen von einer weitaus größeren thematischen Breite gekennzeichnet sei, die keineswegs eindeutig dem einvernehmlichen Ziel der Stiftung einer nationalen Identität folgten, da hier unternehmerische Kräfte aktiv seien, die sich in einem Wettbewerb zueinander um in erster Linie nicht-staatliche Sponsorengelder befänden (vgl. ebd.: 45). Aus diesem Blickwinkel folgt die Programmgestaltung also finanziellen und kulturhoheitlichen Verpflichtungen. Dennoch ist gerade im US-Fernsehen eine Pflege der nationalen Identität mittels der zeremoniellen Inszenierung im Fernsehen unübersehbar. Die .offizielle Begehung des Unabhängigkeitstags durch die Politik wird durch das Fernsehen in alle Landesteile übertragen und schließt selbst die Bevölkerung in abgelegenen ländlichen Gebieten an die zentralen Gedenkfeierlichkeiten an. Weiterhin werden Erinnerungsanlässe wie der Jahrestag des japanischen Angriffs auf den US-Marinestützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii im Dezember 1941 oder jener der Terroranschläge vom 11. September 2001 vom USPräsidenten regelmäßig dazu genutzt, die nationale Einheit zu beschwören, aber auch aktuelle politische Ziele zu rechtfertigen wie zum Beispiel im Fall der Rede von George W. Bush am ersten Jahrestag des 11. Septembers, in der er ,,[w] eitere Schlachten gegen den Terrorismus" (Gelinsky 2002) ankündigte. 174 In Reden auf zentralen Gedenkveranstaltungen kulminieren die symbolischen Bemühungen der .offiziell' anberaumten kollektiven Erinnerung (Schiller 1993b: 104). Aufmerksamkeit gilt vor allem Politikern, die als 174 Zur Bedeutung medial generierter Aufmerksamkeit für nationale Gedenktage und ihres außenpolitischen Konfliktpotenzials siehe z.B. das Beispiel Pearl Harbor (Dingman 1994).

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Gesellschaftsvertreter das ihnen bereitete (Fernseh-) Podium nutzen, um einerseits das politische System des Staates sichtbar zu machen und andererseits dabei „symbolische Politik" zu betreiben (vgl. Schiller 1993b: 106: 109). Andere gesellschaftliche Gruppen haben keinen solch exklusiven Zugang und versuchen beispielsweise durch prominente Akteure, ungewöhnliche Aktionen vor historischer Kulisse, durch virale Kommunikationsballung oder andere Aufmerksamkeitsstrategien die Berücksichtigung durch das Fernsehen herbeizuführen. Der Skandal um eine Rede des ehemaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger führt dabei vor Augen, wie sehr auch die politischen Akteure von der Fernsehinszenierung abhängig sind. Der erzwungene Rücktritt Jenningers resultierte aus seiner Rede anlässlich des Jahrestags der Reichspogromnacht im Jahre 1988, die, wie Horst Pöttker in einer Analyse ausführlich darlegte, nicht fernsehgerecht formuliert und dadurch von den Fernsehnachrichtenredaktionen in ihren Einzelteilen aus dem Zusammenhang gerissen wiedergegeben und somit verfälscht wurde: „Wie Schuppen fiel der falsche Eindruck, den die hastigen Fernsehbilder hinterlassen hatten, beim Nachlesen des Redetextes von den Augen" (Pöttker 1989: 32). Nachteilig sei hinzugekommen, dass Jenninger als „plump wirkender Mann" eben die Telegenität habe vermissen lassen und damit die Anforderungen „unserer Fernseh-Demokratie" nicht erfüllt habe (ebd.). „Überspitzt formuliert bedeutet dieser Sachverhalt, dass die Botschaft nicht der eigentliche Redetext, sondern eher das dem Text unterlegte oder besser .übergestülpte' Bildarrangement ist" (Schiller 1993a: 67). Generell trägt das Fernsehen aber - unter Einhaltung der inszenatorischen Regeln - mit seiner affirmativen Jahrestagbegleitung zur Verbreitung und Verfestigung hegemonialer Geschichtsdeutungen durch die Initiatoren bzw. maßgeblichen Beteiligten bei, die unter Zuhilfenahme von Zentralvokabeln die symbolische Aussagekraft historischen Bezugspunktes unterstreichen (vgl. Eschebach 2005: 200-201). Dass Jahrestage immer von einer Lobby getragen werden müssen und in staatlichen Verordnungen zweifellos ihren wirkungsmächtigsten Agenten haben, zeigt das Beispiel der gesetzlichen Feiertage der DDR, von denen kein einziger in den „.offziellen Symbolbestand des vereinigten Deutschland" (Schiller 1993c) übernommen wurde. Hier hilft indes das Fernsehen als Agent aus: So geriert sich zum Beispiel (nicht nur) der Mitteldeutsche Rundfunk auch zwei Jahrzehnte nach der Deutschen Wiedervereinigung zumindest eingeschränkt als Bewahrer der kalendarischen Tradition Ostdeutschlands. Regelmäßig wird der „Internationale Frauentag" am 8. März, der zwar von den Vereinten Nationen ausgerufen wurde, aber in der DDR mit dezidiertem Bezug auf die ursprüngliche Einführung des Gedenktages auf der Zweiten Internationalen Konferenz kommunistischer Frauen im Jahre 1921 in Moskau begangen wurde, mit Gala-Shows und Filmbeiträgen begleitet. Der „Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" (7. November) dagegen findet allenfalls Erwähnung in Geschichtsdokumentationen über die DDR. In seinem programmlichen und zugleich programmatischen Pragmatismus ist das Fernsehen egalitär: Zwar werden bestimmte Jahres- und speziell Gedenktage intensiver begleitet als andere, doch ist ein rundes Datum erst einmal vergangen, ruht meist auch das televisuelle Gedenken.

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„Die vielen Gedenktage, Jahrestage, Geburtstage, Todestage lösen keine Schocks mehr aus, allenfalls sind sie kleine Momente, die uns kitzeln, die uns ablenken, die uns für einen Augenblick zu lauter kleinen Fachleuten für längst geschlagene Schlachten machen. Und am nächsten Tag, im nächsten Monat, im nächsten Jahr ist die Karawane der Erinnerung schon längst weiter gezogen. Zur Lust am Erinnern gehört als dunkle Seite auch das Grab des Vergessens. Hier wird Historie, eben erfahren, gleich wieder entsorgt. Bestenfalls zur Wiedervorlage am nächsten runden Jahrestag" (André 2008: 7). Dies widerspricht freilich nicht der Dauerbespielung von Fernsehprogrammen mit historischen Themen wie im Fall des Discovery Channels oder des History Channels, die außerhalb der USA auch in vielen weiteren Ländern, darunter auch in Deutschland, Spartenkanäle betreiben. Auch hat die Zahl der Geschichtssendungen in Deutschland im Lauf der Jahrzehnte beachtliche Ausmaße angenommen: Wurden zwischen 1957 und 1967 noch weit über 1.000 Sendungen mit historischen Referenzen ausgestrahlt (vgl. Feil 1974: 20), gab es zwischen 1963 und 1993 allein im ZDF über 1.200 Sendungen über das ,Dritte Reich' (Kansteiner 2003a: 257) und in jüngerer Zeit in den Jahren 1 9 9 5 , 1 9 9 9 und 2003 erneut einen starken Anstieg der Zahl von Geschichtssendungen zu verzeichnen (Lersch/Viehoff 2007: 119). Allen voran in den öffentlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten finden sich eigene Fachredaktionen für Geschichte, die selbstgeleitet Programme produzieren sowie Nachrichtenformate und Fernsehspielabteilungen mit Informationen versorgen. Dieses jahrestagsunabhängige Programminteresse an historischen Themen unterscheidet sich jedoch qualitativ erheblich von der mit erinnerungspolitischer Bedeutung aufgeladenen Programmgestaltung rund um Gedenkfeierlichkeiten, zu der die Nachrichtenprogramme mit ihrer Berichterstattung über außermediale Zeremonien und sonstigen Veranstaltungen einen erheblichen symbolischen Beitrag leisten. Nichtsdestotrotz haben sich die Feieranlässe stark vermehrt. Allein die Vereinten Nationen haben etwa 70 internationale Gedenktage ausgerufen. Dass zu viel Gedenken zu wenig Erinnerung nach sich ziehen könnte, ist eine Annahme, die bereits bei der Diskussion von Noras Thesen zur Industrialisierung der Gedenkkultur(en) erwähnt wurde (vgl. Kapitel Π.8.3.). Wie Sabine Gerasch anmerkt, könne die Ballung von Feierlichkeiten, Reden und Medienberichten zu bestimmten Gedenkanlässen, wie bereits am Fall von Martin Walser ersichtlich, die Gefahr des Überdrusses bergen, der nicht zu einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte führe, sondern zum Gegenteil zu einer Abkehr von den Gedenkbemühungen (Gerasch 1997: 51). Vor allem im Fernsehen unterliegen Geschichte und Erinnerung einer konjunkturellen Berücksichtigung. Erinnerungsmarken im Sinne historischer Zäsuren sind zu Erinnerungsmarken im Sinne einer Vermarktung historischer Topoi geworden: 175 Das offenbare Publikumsinteresse an historischen Themen hat Geschichte im Fernsehen zu einem Garanten für hohe Ein-

175 Der Journalist Wilfried Urbe spricht zum Beispiel von den .„großen Dachmarken' des Zweiten Weltkriegs", mit denen die Zuschauer zu bestimmten Jahrestagen auf allen Kanälen „bombardiert" würden (Urbe 2005: 4).

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schaltquoten werden lassen, den auch die öffentlichen und öffentlich-rechtlichen Sender zu schätzen wissen, wird ihre durch öffentliche Gelder bzw. durch Gebühren subventionierte Existenz doch auch durch die Bindung relativer Mehrheiten an ihre Programme legitimiert (vgl. Lappe 2003: 97). Den Konjunkturen des Gedenkens sind in Zeiten televisueller Programmproliferation und gleichfalls gestiegenen Programmbedarfs freilich kaum Grenzen gesetzt, doch fließen die Hauptströme der Geschichtspolitik weiterhin in kontinuierlichen, wenn auch breiteren Bahnen, solange gesellschaftliche Institutionen und organisierte Gruppen, deren Zahl stetig steigt, ihre Sicht auf die Geschichte gleichberechtigt propagieren und sich im Ringen um die vermeintlich,reale' Geschichte immer wieder auf eine gemeinsame Diskursbasis verständigen müssen (vgl. Thelen 1991: 647). Die Kopplung der Gedenkpraxis an die kalendarische Zeitordnung in Form von Jahrestagen ist freilich keine Erfindung der Medien, sondern geht auf die Notwendigkeit der Planung von sozialen und natürlichen Ordnungen früher Agrargesellschaften zurück (vgl. Schmidt 2000a: 12-13), doch werden Fernsehen, Zeitung und Radio nur allzu gerne zu Komplizen bei der Verständigung auf den „gemeinsamen Nenner der Null" (vgl. Schlaffer 1989: 81). An Jubiläen verdienen alle mit; und so sind diese Feiern nach Auffassung des Literaturwissenschaftlers Heinz Schlaffer nicht Ausdruck eines wie auch immer gearteten Weiterwirkens epochaler Zäsuren in der Geschichte, sondern das Ergebnis eines simplen Rechenspiels: Wenn sich ein Ereignis zum 25., 50., 100. Mal jährt, dann wird sich erinnert, weil die Zahl es befiehlt. Dies betrifft nach Schlaffers kritischer Auffassung auch all jene in ihrer Bedeutung für das Gemeinwesen besonders wichtige historischen Daten, deren Jahrestage ohne .runden Anlass regelmäßig begangen werden. Das Gedenken institutionalisiert sich durch das stetige Wiederholen also relativ schnell und wird mit Hilfe des Kalenders als „Perpetuum mobile kollektiven Wissens" (Schmidt 2000a: 54) permanent reaktiviert. Andere Gedenkspitzen wie die aus Anlass eines Geburts- oder Todestages einer berühmten Person der Kultur-, Politik- oder nicht zu vergessen der Militärgeschichte sind dagegen gemeinhin nur an einigen wenigen runden Jahresterminen zu beobachten (vgl. Bergmann 1996: 11). Schlaffer stellt also jene „in einem subtilen Verhältnis der Interaktion miteinander" stehenden ,,psycho-dynamische[n] Rhythmen" bei Jahrestagen (Assmann 2005a: 308) - die organische Verankerung des öffentlichen Gedenkens - in Abrede, kritisiert die „semantische Leere" der Zeremonien (Schlaffer 1989: 82) und sieht darin den Grund für ihre von ihm diagnostizierte Folgenlosigkeit: „Mit dem Gedenktag naht die Vergangenheit, mit ihm vergeht sie wieder" (ebd.: 83). Schmidt weist hierbei auf die Notwendigkeit der Aktivierung semantischer Felder hin, die von den verantwortlichen Institutionen, aber auch von den Massenmedien geleistet werden müssten: „Das Datum kehrt zwar von selbst immer wieder, aber es lässt sich weder riechen noch schmecken oder fühlen. Es schafft als rein formale Zeichenkette an sich keine komplexe Wahrnehmungssituation, die mit einer Vielzahl von Assoziationsanlässen ein stabiles Wiedererkennen wahrscheinlich machte. Als kulturelle Mnemotechniken sind Jahrestage auf diese Stabilität aber angewiesen" (Schmidt 2000a: 65).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Jedes Individuum und jede Gruppe kann einen Gedenktag proklamieren und Geltung für die damit verbundene Repräsentation historisch hergeleiteter Identität beanspruchen. Das Fernsehen hat den Ausfallswinkel von .offiziellen und auch .inoffiziellen Gedenkanlässen gespreizt. Die Bemessung der gesellschaftlichen Relevanz, also ob ein Jahresoder Gedenktag im Fernsehen als bloße Randnotiz, ja als Kuriosum behandelt oder zum Ereignis stilisiert wird, ist indes immer von dominanten Deutungshoheiten abhängig. „Einmal im Jahr modelliert und verstärkt der Jahrestag selbst Allerweltsthemen aus dem Rauschen der Diskurse auf Hörbarkeit" (Schmidt 2000b: 151). Diese Hör- bzw. Sichtbarkeit läuft dabei aber immer mehr Gefahr, sich wiederum im Rauschen der Beliebigkeit zu verlieren. Die Vielfalt an Jahrestagen ist so umfassend wie unübersichtlich: Selbst einen Weltfernsehtag gibt es (21. November). In der ersten Augustwoche jähren sich beispielsweise folgende Ereignisse: Die Gründung des Musikkanals M T V (1. August 1981), die Invasion Kuwaits durch den Irak (2. August 1990), der Beginn der Atlantiküberquerung von Christopher Kolumbus (3. August 1492), die Verhaftung von Anne Frank durch die Nationalsozialisten (4. August 1944), der Tod Marilyn Monroes (5. August 1962), der Atombombenabwurf über Hiroshima (6. August 1945), der erfolgreiche Abschluss der Kon-Tiki-Expedition nach Polynesien von Thor Heyerdahl (7. August 1947) und der Rücktritt des US-Präsidenten Richard Nixon (8. August 1974). Jedes dieser Ereignisse hat für bestimmte Personen, ja teils ganze Kulturkreise sinnstiftende Bedeutung: Richard Nixons Niederlegung des Präsidentenamtes nach der Watergate-Affäre wurde zum mahnenden Negativbeispiel für Machtmissbrauch durch die US-Regierung. Anne Franks Verhaftung wurde zum Symbol für die grausame Menschenjagd durch die Nationalsozialisten. Die Katastrophe von Hiroshima ist bis heute Ausdruck kollektiven Leids und kollektiver Schuld durch von Menschen geschaffene Vernichtungstechnik und zugleich zeitlose Schreckensvision eines atomaren Holocaust. Die Gründung des ersten televisuellen Musikkanals wiederum wurde zum nachhaltigen Ausdruck der beginnenden ClipRevolution mit nachhaltigen Auswirkungen auf den internationalen Fernsehbetrieb. Die jeweils mit den genannten Ereignissen verbundenen Geschichtskontexte belegen die mannigfaltigen Ausprägungen und möglichen Bezugspunkte für die an Jahrestagen ausgerichtete Ausübung identitätskonkreter Gedenkrituale. Dennoch bleibt eine solche Auswahl, wie sie tagtäglich von Nachrichten- und Programmredaktionen bei den Fernsehveranstaltern getroffen werden muss, eine kleine und ungenügende Auswahl. Dennoch ist eine Selektion unabdingbar, eine Orientierung an Jahrestagen notwendig; denn immer allem zu gedenken ist nicht möglich. Das Fernsehen ist also daran gehalten, ein zwar umfassendes, aber nicht beliebiges Angebot von Gedenkoptionen bereitzustellen, was immer schwieriger wird angesichts des „Gedenkbooms" von Jahrestagen, die sich häufig auch als reine Konstrukte einer einfallsreichen Marketingindustrie entpuppen (vgl. Klimpel 2005). Der Eindruck einer Beliebigkeit und von Missverhältnissen in der Wertigkeit von Gedenkanlässen lässt sich daher kaum vermeiden. Das Gedenken an ein historisches Ereignis schließt zugleich immer das Gedenken an andere Ereignisse aus. Organisatoren von Jahrestagveranstaltungen müssen sich daher

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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im Wettbewerb um Fernsehzeit nicht allein mit der Lenkung des Gedenkens, sondern auch mit gänzlich gegenwärtigen Aufmerksamkeitsstrategien auseinandersetzen. Das Fernsehen muss sich bei der Priorisierung von konkurrierenden Veranstaltungen entscheiden und kann nur bedingt die Vielfalt der Gedenkanlässe aufgreifen. Die Globalisierung der Fernsehsignale hat die Gültigkeit des Weltkalenders mit der Nomadisierung von Jahrestagen der Weltkulturen verknüpft; Fernsehzuschauer können mit Zugriff auf Programmangebote aus dem Ausland potenziell jedem televisuell vermittelten Gedenken beiwohnen. Hier indes zeigt sich die Schmächtigkeit des Fernsehens als Moderator interkultureller Erinnerung: Es mag über das russische Weihnachtsfest am 7. Januar oder die Gedenkfeierlichkeiten von Tamilen in aller Welt anlässlich des „Schwarzen Julis" von 1983 berichten, als 3.000 Mitglieder der Volksgruppe in Sri Lanka von einem wütenden Mob ermordet wurden. Eine Adaption des Gedenkens findet dennoch nur statt, wenn Zuschauer sich dazu bemüßigt sehen, darin Identifikationspunkte zu finden oder sogar in die Gedenkpraxis von exilanten Erinnerungskulturen im eigenen Lebensumfeld einzustimmen. Nicht kulturgeschichtliche Relevanz, sondern journalistische Kriterien und Aufmerksamkeitsökonomien leiten die Selektion innerhalb des Programmbetriebs. „Es kann [...] nicht darum gehen, historische Themen wegen des professionellen Aktualitätsgebots vom Journalismus auszuschließen" (Pöttker 1997: 339; siehe dazu auch Knopp 1988: 3). Dennoch hält es Pöttker für probat, Jahrestage für die aufwandsgeringe Anknüpfung der Gegenwart an die Vergangenheit zu benutzen (Pöttker 1997: 341). Aktuelle Bezüge herzustellen, ist ein Konstruktionsproblem: Grundsätzlich von der Gegenwart auszugehen, um so die Vergangenheit auf identitätsstiftende oder sinnhafte Themen aus der Vergangenheit auszuleuchten, wie Pöttker es paradigmatisch fordert (vgl. ebd.: 345), ist selten möglich und erfordert von Organisatoren, Medien und Rezipienten eine offene Einstellung und den Willen zur Reflexion. Damit Geschichte aneignungsfähig bleibt, muss sich der Zuschauer in einer Inszenierung wiederfinden. Daher sind es vor allem zeitgeschichtliche Anlässe aus jenem historischen Zeitraum, der noch zur Lebenszeit von Zeitgenossen gehört und also eine lebendige Verbindung zur Gegenwart aufweist, der zumeist in besonders ausgiebiger Weise vom Fernsehen aufgegriffen wird (Bleicher 1993b: 26; Lappe 2003: 97; Lersch/Viehoff 2007: 112; vgl. auch Klöss 1983; Winkler 1988). Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch merkt dabei einschränkend an, dass es sich bei der Gegenwartsperspektive nur um ein Hilfskonstrukt bei der Aneignung historischen Wissens handeln kann: „Das Verstehen der Vergangenheit in ihrer Einbindung in die Gegenwart zu vertiefen, bringt keineswegs vollständiges Verstehen mit sich. Es gibt uns jedoch in einem pragmatischen Sinn die Möglichkeit, uns zur Vergangenheit in Relation zu setzen, sie in der Gegenwart zu erkennen. Versänke die Vergangenheit im Vergangenen, gäbe es keine Notwendigkeit, sie der Vergessenheit zu entreißen; sie bliebe endgültig den Historiographen und Experten überlassen, und ihre ästhetische Darstellung in der Gegenwart wäre nicht mehr nötig" (Koch 1999: 311).

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

Es ist naheliegend, dass aktuelle Relevanzzuschreibungen sich in erster Linie nach historischen Ereignissen richten, die durch ihre temporale Nähe zur Gegenwart in diese mit ihrer spezifischen Bedeutung hineinzureichen scheinen, weil beispielsweise noch Personen am Leben sind, die direkte Zeugenschaft für die Geschehnisse der Vergangenheit beanspruchen. Das gilt im Übrigen auch für nationale Mythologien, die an Staatsgründungen gebunden sind: Hier ist ein Abweichen des Gedenkens von den tatsächlichen historischen Abläufen hin zu einer allgemeineren Beschäftigung mit den symbolischen Qualitäten des Ereignisses wahrscheinlich. 176 Generell ist die televisuelle Berücksichtigung von Geschichte auch abhängig von der Verfügbarkeit von Bildmaterial: Zu welchem Anlass werden Veranstaltungen abgehalten? Wozu engagieren sich Interessensgruppen inszenatorisch? Zu welchem historischen Ereignis gibt es originale Bildaufzeichnungen? „Die Wahl und damit die Wichtigkeit eines historischen Themas aber davon abhängig zu machen, ob es auch entsprechende Bilder liefert, ist nicht nur unwissenschaftlich, es ist unverantwortlich. Doch in allen Gesprächen, die Fernsehredakteure mit Autoren führen, fällt irgendwann der Satz: ,Was sieht man denn da auf dem Bildschirm?' Fernsehen kann nur das Sichtbare zeigen, das Vordergründige und nicht selten Oberflächliche; es ist der Autor, der den Bildern einen Sinn gibt" (Koch 1988: 7). Initialereignisse der Zeitgeschichte, die vom Fernsehen begleitet wurden, sind daher prädestiniert für die Begleitung von Gedenkanlässen durch das Fernsehen. Zeitgeschichte ist zu erheblichen Teilen auch Fernsehgeschichte: Im Falle von Medienereignissen wie dem Fall der Berliner Mauer oder dem 11. September handelt es sich um Bildmaterial, das bereits in der damaligen Gegenwart durch das Fernsehen instantan historisiert wurde (vgl. Kapitel III.6.2.5.). Wie der Mediensoziologe Andrew Hoskins warnt, kann eine solche Übermacht der Fernsehwirklichkeit einen Alleinstellungsanspruch bei der Erinnerung an ein Ereignis entwickeln und alternative Lesarten durch die vermeintliche Beweiskraft des Fernsehbildes unterdrückt werden:

176 Die „Tagesschau"-Hauptnachrichtensendung vom 9. November 2009 berichtete nur sehr eingeschränkt über die mit dem Datum verbundenen Gedenkanlässe. Weder die Erschießung von Robert Blum im Jahre 1848 als Initialereignis der Märzrevolution im Deutschen Bund noch die Novemberrevolution von 1918 und das Ende des deutschen Kaiserreichs wurden thematisiert. Das Hauptaugenmerk lag auf den Gedenkfeierlichkeiten zum 20. Jahrestag des Berliner Mauerfalls am Brandenburger Tor, im Schloss Bellevue, am ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße, in der Bernauer Straße, in der Gethsemanekirche, in der einst Oppositionelle Schutz vor der SEDHeerschaft gefunden hatten, und an weiteren Grenzübergänen außerhalb Berlins bei Helmstedt und Mödlareuth sowie in Paris, London und Madrid. Der mit etwas über 20 Minuten Dauer ungewöhnlich lange Themenfokus der ohnehin auf 26 Minuten verlängerten Nachrichtensendung umfasste auch eine Live-Ansprache der Bundeskanzlerin Angela Merkel und einen ausführlichen Rückblick auf die Fernsehberichterstattung vom 9. November 1989. Berichtet wurde aber auch, wenn auch deutlich kürzer, über die Gedenkfeierlichkeiten zu den Novemberpogromen der Nationalsozialisten von 1938.

111.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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„In an era when CNN and other US television news networks have established a commanding visual presence on the US political stage, there has emerged an intensifying contestation of memory, and ultimately of history itself, by US elites. The technologically advanced immediacy of real-time news coverage has empowered the corporate visual media whose 'live' representation and reflexive dissemination can actually shape the event being televised as news. In these circumstances, the medium is even more difficult to separate from the message, und the ultimate historical documentation of an event. This poses a potentially considerable challenge for those wishing to articulate alternative readings of US history that clash with the all too often visual .self-evidencing' of history-in-the-making. And it is this instant and saturating televisual mode of historicization that, so far, has dominated the political and cultural landscape of twenty-first-century America" (Hoskins 2005: 300 - Hervorh. im Orig.). Auch die nationale Identität der Deutschen wurde durch die Live-Übertragung der friedlichen Revolution von 1989 mit der Fernsehgeschichte verwoben und von ihr untermalt (vgl. White/Schwoch 2004: 1097). Dieses für viele Mediennutzer genuin televisuelle Gedenken bietet bei Gedenkanlässen gesellschaftlicher Proportion die seltene Gelegenheit, die Fernsehinhalte nicht nur als symbolischen Auslöseimpuls zu verstehen, u m die Botschaften der Gedenkfeierlichkeiten in ihrer Bedeutung für die eigene Autobiographie zu übersetzen, sondern durch die Begleitung des Initialereignisses durch das Fernsehen eine tatsächliche Verbindung zum Geschehen zu haben. Das Fernsehen besitzt also die Qualität, die Gegenwart und die Vergangenheit gleichermaßen historisierend zu perspektivieren, sie gleichsam an einen gegenwärtigen Erfahrungskontext zu binden und sich somit zum umfassenden Agenten von Geschichte und der individuellen Erinnerung des Zuschauers zu machen. So wird das Fernsehen in solchen Fällen selbst zu einem festen Bestandteil des Gedenkens und legitimiert sich in seiner Funktion als Teilhabeinstanz im historischen wie gegenwärtigen Sinne: „By addressing viewers in this way, television confirms its own central role as the focal point of the myriad individual experiences and memoires of its individual viewers. In the process the medium brings sentimental domestic drama into direct relation with public, domestic, and global histories" (ebd.: 1098).

9.2.2. Geschichtswerkstatt Fernsehen: Historische Unterhaltung als Event-TV „Das Geschichtsfernsehen in seiner Entwicklung zwischen Markt und Quote, zwischen Kompilation und Format hin zum Fiktionalen, steht im Verdacht, zunehmend geschichtslos zu werden, eben schlicht TV-History" (Wirtz 2008a: 10). Die Bemächtigung von Geschichte durch das Fernsehen erfuhr einen epochalen Wendepunkt durch die Ausstrahlung der US-amerikanischen Fernsehproduktion „Holocaust" (NBC: 1978), auf die im Folgenden beispielhaft zur Beschreibung des Einsatzes von Spielhandlungen bei der Aufbereitung von Geschichte im Fernsehen näher eingegangen werden soll. Der Schriftsteller Heinrich Boll vermutete nach der Präsentation von „Holocaust" in Deutschland,

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Femsehens

dass es sich um eine Zäsur im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gehandelt habe: „Es sieht so aus, als würde es in Zukunft ein ,Vor Holocaust' und .Nach Holocaust' geben, wenn sich jemand - gleich auf welcher Ebene - mit,Endlösung' und Antisemitismus beschäftigen wird; vergleichbar dem ,Vor' und ,Nach der Währungsreform', wenn es um ökonomische Daten der Bundesrepublik geht" (Boll 1979). Am Medienereignis „Holocaust" entzündete sich weltweit eine nie zuvor dagewesene und in ihrer Vehemenz beispiellose über die Formfrage, wie und ob im Fernsehen .richtig' mit Geschichte umgegangen werden könne. Der Termin zur Erstausstrahlung war durchdacht gewählt: Das US-Network NBC zeigte den Vierteiler mit dem Programmhinweis „The Big Event", indes ohne die Sicherheit oder einen Anhaltspunkt dafür zu haben, ob sich die Mini-Serie tatsächlich zu einem Ereignis entwickeln würde (vgl. Shandler 1999: 159). Die Ausstrahlung erfolgte ab dem 16. April 1978 an vier aufeinanderfolgenden Abenden, im 40. Gedenkjahr der Reichspogromnacht und geradezu auf den 35. Jahrestag des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto am 19. April 1943 sowie auf den 89. Geburtstag Adolf Hitlers (geboren am 20. April 1889). Hinzu kamen aktuelle politische Konflikte und der angeschlagene Ruf des Staates Israel innerhalb der Weltgemeinschaft wegen der unnachgiebigen Haltung in Bezug auf die territorialen Auseinandersetzungen in Nahost (vgl. Nussbaum 1979: 8).177 Die mit sechs Millionen US-Dollar budgetierte Produktion wurde tatsächlich zu einem Welterfolg. Die auf dem Drehbuch von NBC-Autor Gerald Green, der selbst während des Zweiten Weltkriegs als US-Soldat in Europa kämpfte, basierende Produktion verkaufte sich in 50 weitere Länder und feierte vielerorts Zuschauerrekorde; in Australien beispielsweise erzielte die Serie 72 Prozent Marktanteil. Insgesamt sahen etwa 220 Millionen Menschen die Geschichte der jüdischen Familie Weiss außerhalb der USA (Brandt 1995: 1064). In Deutschland wurde die Mini-Serie im Januar 1979 von allen Dritten Programmen ausgestrahlt. Besetzt mit überwiegend unbekannten Schauspielern (u.a. der jungen Meryl Streep und James Woods), erzählt das Historiendrama über 475 Minuten das Schicksal der Berliner Familie, die ungeachtet der sich abzeichneten Zuspitzung der Situation für die jüdische Bevölkerung im .Dritten Reich' ihr Zuhause nicht verlässt. Kurz vor der Reichspogromnacht heiratet Sohn Karl die christliche Inga Helms, deren Eltern die Ehe mit wachsendem Argwohn missbilligt. Hilflos muss Inga mit anse-

177 Das indes wohl ausschlaggebendste Kriterium für die Wahl des Ausstrahlungstermins war die Unsicherheit des Senders NBC hinsichtlich des zu erwarteten Erfolges oder Misserfolges der Serie. So wurde ein Zeitraum gewählt, der bewusst vor der sogenannten „Sweep"-Periode der Einschaltquotenmessung durch das Unternehmen Nielsen per Fragebogen/Tagebuch lag, die regelmäßig im November, Februar, Mai und Juli zu einem verstärkten Wettbewerb bei der Programmbestückung mit originären Eigenproduktionen führte. Der damalige NBCProgrammchef Paul Klein erwartete im schlimmsten Fall 25 Millionen Zuschauer (vgl. Rieh 1978). Die nach NBC-Angaben mehr als 120 Millionen Zuschauer, die mindestens einen der vier Abende der Ausstrahlung beigewohnt haben sollen, übertrafen somit alle Erwartungen.

111.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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hen, wie ein Familienmitglied nach dem anderen von den Nationalsozialisten abgeholt wird. Tochter Anna wird eines Nachts vergewaltigt und trägt ein schweres psychisches Trauma davon. Die Folge ist ihre Einweisung in die „Landesheilanstalt" von Hadamar, wo sie der Euthanasie-Verbrechen der Nationalsozialisten an geistig behinderten Menschen zum Opfer fällt. Während der Vater Dr. Josef Weiß, ein vormals angesehener Arzt mit eigener Praxis in Berlin-Wedding, und seine Frau ins Warschauer Ghetto deportiert werden, interniert die SS Sohn Karl im Konzentrationslager Buchenwald. Allein der jüngere Sohn Rudi kann rechtzeitig fliehen und wird als einziges Mitglied der fünfköpfigen Familie im Untergrund überleben. Ein zweiter Erzählstrang folgt der Karriere des ambivalenten Charakters Erik Dorf, ein junger Anwalt und Familienvater, der in den Sog der Nazi-Ideologie gerät und zum Stichwortgeber für die Verbrechen der SS avanciert. Schließlich wird er sich, mitverantwortlich für die Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden, während der Befragung durch einen US-amerikanischen Offizier mit einer Zyankali-Kapsel das Leben nehmen. Die Geschichte der Mini-Serie traf ungeachtet ihres Publikumserfolges nicht auf ungeteiltes Lob, sondern sah sich teils harscher Kritik ausgesetzt. Das prominenteste Widerwort wurde von Elie Wiesel, einem renommierten jüdischen Geschichtsprofessor und Überlebenden des Holocaust, erhoben. Sein Vorwurf betraf den offensichtlichen Anspruch des Drehbuchautors, den Versuch zu unternehmen „to tell it all" und zwar in dem so typischen Fernsehformat der Seifenoper (Wiesel 1978: 1). Die unbegreiflichen Gräuel der Judenvernichtung seien nicht fernsehkompatibel und würden durch eine solche Umsetzung verkitscht: ,,[L]et kitsch rule in the land of kitsch, where at the expense of thruth, what counts is ratings and factile success" (Wiesel 1989). Wiesel wandte sich strikt gegen das Anliegen der Produktion, die singuläre Erfahrung des Holocaust mit populären Bildmitteln aufzuarbeiten, die Fakt und Fiktion vermischen, und plädierte für eine entweder rein fiktionale oder rein dokumentarische filmische Aufarbeitung der Geschichte. Die Verwischung beider Anliegen führe zu einer Trivialisierung der dargestellten Ereignisse - eine Schlussfolgerung, zu der auch viele deutsche Kritiker kamen (Überblick bei: Markovits/Hayden 1980). Stein des Anstoßes war der offensichtliche Anspruch der Filmemacher, die Geschichte der Judenvernichtung mit authentischem Schein darzustellen. Der Sender versprach: „It is only a story, but it really happened" (zitiert nach O'Connor 1978). Wirklich zugetragen hat sich zwar nicht die Handlung um die frei erfundene Familie Weiss, aber die Rahmenbedingungen. „Holocaust" enthält daher auch dokumentarisches Film- und Fotomaterial aus der NS-Zeit, Aufnahmen der Massentötungen in Polen, die in die Spielhandlung eingefügt wurden: Erik Dorf führt seinem Vorgesetzten, dem Gestapo-Leiter Reinhard Heydrich, die Aufzeichnungen per Dia- und Filmprojektor vor. Für den Zuschauer haben diese im starken Kontrast zu den mit Statisten nachgestellten Erschießungsszenen beglaubigenden Charakter und dienen zur Untermauerung des Eindrucks der Authentizität des Dargestellten. Wie bereits in Kapitel III.6.2.2. erörtert wurde, ist dieser Eindruck in erster Linie abhängig von der Glaubwürdigkeit der Vermittlung durch das Fernsehen.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Glaubwürdigkeit wird produktionsseitig durch Authentifizierungsstrategien generiert, entscheidend ist aber letztlich die Konstruktionsleistung seitens des Zuschauers, der seine Fernsehwahrnehmung in den Kontext seiner Weltwahrnehmung und seines Erfahrungshorizonts einordnet und dementsprechend verarbeitet. Selbst Inszenierungen fiktionaler Inhalte können historische .Wahrheiten transportieren, so lange sie der historischen Überlieferung (weitgehend) treu bleiben. Es ließe sich mit dem Politikwissenschaftler Eugen Kogon auch von der „inneren Wahrheit" einer Geschichte sprechen: Auch teils groteske Fehler im Detail seien der Produktion nachzusehen, wenn der Film nur „als Ganzes der grausigen .Holocaust'-Wirklichkeit des nazistischen Massenmordes entspricht" (Kogon 1979: 67). Verlassen wird sich zum Teil auf symbolisch ausdrucksstarke Nachstellungen von historischen Schlüsselereignissen, um die Aufmerksamkeit und Erinnerung der Zuschauer anzuregen; so der Historiker Peter Steinbach, um ein jüngeres Filmbeispiel zu wählen, in einer mit 6 0 0 Statisten nachgestellten Flucht von deutschen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg über das vereiste ostpreußische Haff in der Produktion „Die Flucht" (ARD: 2 0 0 7 ) einen „starken Erinnerungstopos" erkennt: „Solche Bilder vermitteln schlaglichtartig Geschichte. [...] Man kann solch einen Film nicht wie eine wissenschaftliche Abhandlung kritisieren. Vielmehr funktioniert er als Augenöffner und Türöffner für das kollektive Gedächtnis" (zitiert nach Burchard 2007). Mit dem Film- und Medienwissenschaftler Edward Branigan soll hier davon ausgegangen werden, dass das Mittel der Narration eine effektive Strategie darstellt, sonst schwer begrifflich zu fassende Erfahrungen in eine Form zu übersetzen, die verständlich und aneignungsfähig sind: „It is a fundamental way of organizing data" (Branigan 1992: 1). Die Auseinandersetzung um „Holocaust" rankte sich also um die Frage, welche Aufbereitung der historischen Rohdaten angemessen bzw. zulässig ist angesichts eines in seinen Ausmaßen singulären Ereignisses wie der NS-Verbrechen an den europäischen Juden. Zuvor wurde Geschichtsfernsehen im Deutschland der Nachkriegszeit als Bildungs- und Erziehungsinstanz begriffen, in „der die Orientierung am Publikumsgeschmack vergleichsweise gering ausfiel" (Classen 2005: 125). Demgemäß blieb der erwünschte Zuschauererfolg aus: Die geringe Resonanz auf das erzieherisch ausgerichtete Geschichtsfernsehen fand ihren Ausdruck in geringen Marktanteilen und ausbleibender Adaption der Themen im gesellschaftlichen Diskurs (vgl. Fischer 2004: 517). 1 7 8 Der „didaktisch-aufklärerische Duktus" (Lersch 2005: 76) von Dokumentationen und Fernsehspielen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurde durch „Holocaust" aufs deutlichste konterkariert. Die US-amerikanische Produktion war indes keinem der etablierten 178 Dies zeigt auch Werner Sollors am Beispiel einer Dokumentation über die „Endlösung", welche zur Vorbereitung auf die „Holocaust"-Ausstrahlung gesendet wurde. Die ohnehin bereits niedrige Einschaltquote von 22 Prozent Marktanteil sank nach den ersten zehn Minuten auf nur noch 19 Prozent. Eine nachträgliche Befragung ergab zudem, dass sich nur etwas mehr als die Hälfte der Zuschauer an die Inhalte der Sendung erinnern konnten (Sollors 1979a: 378).

111.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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Genres zuzuordnen. Mit seinem Mischverhältnis „Semi-Fact and Semi-Fiction" (Wiesel 1978) gehörte es weder dem Spielfilm noch dem Dokumentarfilm an. Als Hybridform verband es die Qualitäten der fiktionalen Drama-Unterhaltung und pädagogisch-intendierter Dokumentation. Frank Rieh, ab Ende der 1970er Jahre Kulturkritiker beim „Time Magazine", nannte die Serie eine „fictionalized interpretation of real events" (Rich 1978: 46). Obwohl sich unter anderem selbst die Produzenten von „Holocaust" gegen die Klassifizierung Doku-Drama aussprachen,179 trifft die gängige Definition zumindest auf die Rahmenhandlung der Mini-Serie zu: „The doeudrama is a fact-based representation of real events" (Staiger/Newcomb 2004: 737). Doku-Drama ist in Film und Fernsehen also ein Sammelbegriff für alle dramatischen Darstellungsformen, die einerseits auf einer .realen Begebenheit oder Biographien beruhen oder von ihnen inspiriert wurden sowie andererseits in ihrer Erzählung im Gegensatz zu rein fiktionalen Formaten der historischen Genauigkeit und ,Wahrheit' verpflichtet sind (vgl. Rosenthal 1999, xv). Es steht außer Frage, dass das Doku-Drama eine Nachstellung historischer Ereignisse intendiert; nur wie akkurat, das heißt den geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen sowie den Erinnerungen von Zeitzeugen entsprechend diese Nachstellung mithilfe von Schauspielern, Kostümen und erdachten Dialogen ausfällt, ist regelmäßig Anlass zur Kritik. „The accuracy and comprehensiveness of such a re-creation - just like the documentary itself - can vary widely and is conditioned not only by intent but also by factors such as budget and production time" (Hoffer/Nelson 1978: 65). In „Holocaust" fanden Kritiker wie auch die Befürworter von populärer Geschichtsaufbereitung gleichermaßen stichhaltige Belege für ihre Argumentationen. Die Serie bewegte sich auf dem breiten Grad zwischen populärer Unterhaltung und wissenschaftlicher Genauigkeit und vereinte all die Stärken und Schwächen des hybriden Films, angefangen mit dem Anliegen, eine Geschichte zu erzählen, die sich tatsächlich wie dargestellt hätte ereignen können. Dabei bediente man sich fiktiver Figuren, die stellvertretend stehen sollen für das Schicksal der Juden unter dem NS-Regime. „So könnte es gewesen sein", ist daher auch das entscheidende Versprechen an die Zuschauer, das ein Doku-Drama zur „dramaturgischen Moral" verpflichtet (vgl. Körner 2004: 26). Was für einen Historienroman gilt, gilt umso mehr für den (Fernseh-) Film, der im Übrigen „das erzählerische und unterhaltende Moment der Geschichtsliteratur wiederbelebt" hat (Kröll 1989:125): Wie viele erzählerische und dramaturgische Freiheiten im Umgang mit historischen Fakten akzeptabel sind, ist mit Blick auf den impliziten Authentizitätsanschein von Bewegtbildern ein von zahlreichen Variablen abhängiges Problem, dessen Bewertungsmaßstäbe nur aus der Erzählung und Inszenierung selbst, aus den Ansprüchen und Versprechungen der Produktion als Ganzes sowie der daraus resultierenden Erwartungen entwickelt werden können (vgl. auch Schmidt 2005). Nicht allein der rationale Diskurs entscheidet im Fernsehen über die „öffentliche Wahrheit", sondern auch „Bilder und emotionale Reaktionen, die diese 179 Co-Produzent Herbert Brodkin sprach sich gegen eine solche Etikettierung aus, begründete seine Abneigung aber nicht stichhaltig: „In my mind, what are called .docudramas' don't exist. We like to take a real situation, then create a drama out of it" (zitiert nach Insdorf 2003: 4).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Bilder hervorrufen" und sich „als gleichberechtigte Partner im öffentlichen Raum" bewegen (Levy/Sznaider 2001: 154). Dennoch bleibt die Leitgröße der historisch verbrieften Tatsachen erhalten und dient für die Rezipienten als Korrektiv bei der Bemessung der Glaubwürdigkeit des Dargestellten. Der Journalist Heinz Höhne schrieb kurz nach der Ausstrahlung der US-Produktion in Deutschland: „Da haben sich nun unsere Zeitgeschichtler, Journalisten und Filmemacher jahrelang bemüht, in Dokumentationen, Artikeln und Filmen den ganzen Horror des deutschen Jahrhundertverbrechens zu vermitteln - und doch muss erst ein Konsumfilm .Hollywoods' kommen, um die Nach-Hitler-Deutschen aufzurütteln" (Höhne 1979: 22). Ob es sich bei „Holocaust" nun um eine typische Hollywoodproduktion handelt oder nicht: Bei Doku-Dramen steht nicht die Erklärung, sondern die Erzählung im Vordergrund: Geschichte wird anschaulich illustriert und auf narrativer Ebene erlebbar, fühlbar gemacht, um Breitenwirkung zu erzielen, also auch solche Bevölkerungsschichten mit der Historie zu engagieren, die davon sonst eher absehen würden. „Was gerne abschätzig als .Histotainment' bezeichnet wird, ist der ernst gemeinte Versuch, ein breites Publikum zu erreichen, das andere Sehgewohnheiten hat" (Kloft 2008: 88). Die Kommunikationswissenschaftler Tom Hoffer und Richard Nelson sehen in dieser Form eine Ergänzung des klassischen Dokumentarfilms, der nur ein sehr begrenztes Publikum anspreche. Doku-Dramen eröffneten die Möglichkeit, „to reach audiences far beyond those of the traditional film or television documentary" (Hoffer/Nelson 1978: 74). In gleicher Weise birgt das Format aber auch Risiken einer allzu ausschließlichen Marktorientierung, welche die Fakten zugunsten der Fiktion in den Hintergrund rücken kann: „Das .Dokumentarische' könnte in Gefahr geraten, zu einem bloßen Stil- oder Verpackungsmittel zu werden und .Zeitgeschichte' damit lediglich zu einem der vielen Rohstoffe für marktgängiges Event-Fernsehen" (Fischer 2004: 528). Die politischen Bildungsinstitutionen zeigten sich jedoch begeistert von der Aussicht, weite Bevölkerungskreise für historische Inhalten zu interessieren, und nutzten die Kooperationsangebote seitens der Fernsehveranstalter, informationelle und speziell pädagogische Begleitmaterialien auszugeben. Wie das Beispiel der Ausstrahlung von „Holocaust" in den USA und Deutschland zeigt, waren bei dieser Form der Geschichtsaufarbeitung nichtsdestotrotz Wissenschaft und Pädagogik ihrer Funktion als Handelnde beraubt: Sie wurden zwar bei der Produktion konsultiert, waren aber nur eine Quelle von vielen, mussten sich den Entscheidungen der Filmemacher beugen und sich schließlich mit der Bereitstellung eines ergänzenden Angebots begnügen: „[Television has undermined their rewarding sideline careers as public historians" (Kansteiner 2004: 575). So ist in der Kritik an populärkulturellen Repräsentationsformen von Geschichte auch jene verbreitete Ablehnung der .Massenkultur' durch Vertreter der .Hochkultur' abzulesen, welche die Entwicklung des Fernsehens stets begleitet hat und die Furcht vor einem Funktionsverlust widerspiegelt (vgl. auch Kapitel III.8.1.2.). Mit dem Erfolg von Doku-Dramen nahm das Fernsehen selbstgewiss die Rolle eines der allgemeinen Öffentlichkeit verpflichteten Historikers an, durch die es aufgrund fehlender Inhaltsangebote

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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seitens der Geschichtswissenschaft zu zeitgeschichtlichen Themen seit Ende der 1970er Jahre einer wichtigen Aufklärungsrolle nachkam (vgl. Quandt 2007: 183). Bei der Thematisierung zeitgeschichtlicher Themen werden daher vorrangig zwei Ansätze verfolgt, für deren erfolgreiche Umsetzung das Beispiel „Holocaust" eindrucksvolle Belege bietet: Einerseits gilt es diejenigen Bevölkerungsteile anzusprechen, welche die historische Periode nicht miterlebt haben, andererseits aber auch solche, die noch über Erinnerungen an die betreffende Zeit verfügen. Hierbei lassen sich eine Reihe von Faktoren identifizieren, an denen nachfolgend die Relevanz und Eigenständigkeit des Formats bei der Vermittlung von Geschichte im Fernsehen gezeigt wird: So sorgte „Holocaust" für eine breite Bewusstseinsbildung für historische Problematiken, für eine Belebung des publizistischen Diskurses, verzeichnete hohe Einschaltquoten sowie ein Rekordfeedback, trug zur politischen Bildung bei, löste auf der Seite des Publikums Erinnerungssperren, verursachte Betroffenheit, übte einen nachhaltigen Einfluss auf die Meinungsbildung und das historische Wissen eines Massenpublikums aus und prägte Geschichtsbildern und diskurse. Darüber hinaus trug die Sendung zu einer Differenz zwischen dem allgemeinen öffentlichen und dem elitären akademischen Geschichtsdiskurs bei, leistete einen Beitrag zur Kosmopolitisierung von historischen Fragestellungen und zog politische Auswirkungen nach sich. Die Leiden der Familie Weiss sind zuallererst weniger dazu geeignet, historisches Wissen zu vermitteln, als vielmehr ein Bewusstsein

zu schaffen für die Gräueltaten der

Nationalsozialisten (vgl. Rieh 1978: 46). Dieses Bewusstsein ist Teil einer Aufmerksamkeitsstrategie, die das Interesse des Zuschauers für die im Film behandelte Geschichte wecken und gedankliche Folgeoperationen auslösen soll. Komplementiert wurde die Ausstrahlung in den USA und Deutschland daher gleichermaßen von der Bereitstellung von Lehrmaterialien und Gesprächssendungen mit Experten, in denen die Zuschauer zu Wort kamen. In den USA wurde zudem durch eine Vorbereitung der Ausstrahlung von langer Hand eine Anpassung der Lehrpläne in den Schulen und Universitäten ermöglicht, was bei vorhergehenden Doku-Dramen noch versäumt wurde (vgl. Kniiii 1979:24). So fand die Diskussion um das Programmereignis „Holocaust" durch die begleitenden Anstrengungen von Bildungs- und Kulturorganisationen sowie Berücksichtigung in der Presse größtenteils außerhalb des Fernsehens statt. Bereits im Vorfeld wurde kontrovers über die Ausstrahlung in den USA und noch ausgiebiger in Deutschland in der Presse und Fachveröffentlichungen diskutiert. „Holocaust" sorgte also für eine Belebung

des publizistischen

Diskurses über die massenmedi-

alen Bedingungen der Geschichtsaufarbeitung sowie über den Zustand von Geschichtswissenschaft, Geschichtskultur und Geschichtspolitik. Diese intensive journalistische wie wissenschaftliche Auseinandersetzung in den ungefähr neun Monaten zwischen der Ausstrahlung von „Holocaust" in den USA und der geplanten Ausstrahlung in Deutschland hatte den imposanten Nebeneffekt einer noch nie dagewesenen Aufmerksamkeitsgenerierung innerhalb der allgemeinen Bevölkerung.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Die vier Episoden von „Holocaust" verzeichneten auch in Deutschland hohe Einschaltquoten und eine hohe Sehbeteiligung. Sahen den Auftakt noch 31 Prozent der Fernsehzuschauer, wuchs der Marktanteil kontinuierlich auf 40 Prozent bei Teil 4. Knapp über 14 Millionen Zuschauer sahen in der Bundesrepublik den Abschluss der Familiensaga (Magnus 1980: 535). Hinzu kamen noch etwa drei Millionen Zuschauer in der DDR, welche die Fernsehsignale der Dritten Programme aus dem Westen empfingen (vgl. Anonym 1979a). Zur Erklärung des Publikumserfolgs wurden drei Faktoren herangezogen: Das Thema sei von außerordentlich hohem Interesse gewesen, die Spielhandlung als aneignungsfreundliche Vermittlungsform sowie die Voraus-Publizistik, welche die nötige Aufmerksamkeit generierte (vgl. Magnus 1980:534-535). Intermediale Bezüge, vor allem die Begleitberichterstattung in der Presse, sind gemeinhin ein wichtiger Faktor bei der Aufmerksamkeitsgenerierung für Fernsehsendungen. Hinzu kamen auch Signale aus der Politik: Demonstrativ unterbrachen Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl, damals noch CDU-Oppositionsführer, ihre politischen Geschäfte und verfolgten die „Holocaust"-Ausstrahlung im Fernsehen (Anonym 1979a). Weitaus detaillierter noch als die hohe Sehbeteiligung vermittelt das Rekordfeedback seitens der Zuschauerschaft einen Eindruck von der epochalen Wirkung der Serie hinsichtlich der Rezeptionsfolgen in Deutschland. Nach dem US-Vorbild hatte der WDR vorausschauend eine Flankierung der Serie mit kontextualen Programmangeboten eingeplant, darunter auch eine Diskussionsrunde, die im Anschluss gesendet wurde. Waren in den USA etwa 1.200 Anrufe beim Sender NBC verzeichnet worden (Kniiii 1979: 23), gingen beim WDR nach der Ausstrahlung bis zu 30.000 Anrufe ein.180 Hinzu kamen eine in ihrer Gesamtheit ungezählte Menge an Zuschriften, die nicht nur den WDR erreichten, sondern auch die Briefe an die Organisationen wie die Bundeszentrale für politische Bildung sowie all die Leserbriefe, die bei Pressehäusern eingingen. Siegfried Zielinski und Friedrich Kniiii schreiben hierzu im Rahmen ihrer quantitativen Studie über die schriftlichen Zuschauerreaktionen auf die deutsche „Holocaust"-Ausstrahlung: „Die Leserbriefe und schriftlichen Stellungnahmen, die an Zeitungen, Zeitschriften, politische, religiöse oder andere Institutionen geschickt wurden, hat niemand gezählt" (Knilli/Zielinski 1983: 26). Die untersuchte Auswahl von 8.710 Zuschauerbriefen stelle daher eine Analyse nur eines Bruchteils der in ihrer Quantität nicht zu bestimmenden Äußerungen dar. Die hohe Zahl der Zuschauerreaktionen vor allem in Deutschland zeigt die Funktion des Fernsehens als Auslösestimulanz von Erinnerungen. Weniger die inhaltliche Umsetzung der Serie, sondern die Reaktionen, die sie bei den Zuschauern auslöste, wurden zum eigentlichen „cultural landmark" (Shandler 1999: 159). Das Konzept der nachgeschalteten

180 Die sich in der Literatur zur „Holocaust"-Ausstrahlung findenden Zahlen erscheinen nur auf den ersten Blick widersprüchlich, wie zum Beispiel Raul Jordan glaubt (Jordan 2008: 82). Zwar riefen ,nur' knapp 11.000 Zuschauer auf der eigens eingerichteten Sondernummer des WDR an, doch wurden bei der ARD und dem WDR insgesamt über 30.000 Anrufe verzeichnet, wobei es sich dabei angesichts der vielen nicht schriftlich erfassten Anrufe um eine sehr konservative Angabe handelt (vgl. Schoeps 1979: 230).

III. 9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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Öffnung des telefonischen Rückkanals innerhalb des Programms wurde zum beliebten Mittel, um dem Zuschauer eine direkte Artikulationsmöglichkeit zu geben (vgl. Kröll 1989: 113-115). Einrichtungen der politischen Bildung nutzten die Bereitschaft seitens der allgemeinen Öffentlichkeit, sich mit der Historie zu beschäftigen, um die Schwächen des Fernsehmaterials auszugleichen. Der Zuschauer wurde von der Serie sprichwörtlich ins kalte Wasser geworfen, musste sich innerhalb der Erzählung schnell Haltpunkte suchen und fand sie in den Identifikationsfiguren der Familie Weiss. Als Motiv für das Wegschauen weiter Bevölkerungskreise, für die Duldung des Massenmords an den europäischen Juden oder sogar für die Mitwirkung daran wie im Fall des fiktiven Charakters Erik Dorf wurden allein die Karriereambitionen des kleinen Bürgers sowie die Bemühungen des Regimes zur Sicherung der Macht angeführt. Die Erklärungsdefizite der Erzählung - beispielsweise welche Beweggründe die deutsche Bevölkerung dazu brachte, nichts gegen ihre faschistische Staatsführung zu unternehmen, sowie das Fehlen einer auch nur rudimentären Kontextualisierung der dargestellten Ereignisse in die historische Entwicklung - sollten durch Informationsbroschüren, Bücher und Kursangebote ausbalanciert werden. Der Fokus lag dabei einerseits auf die Einordnung der Filmhandlung in die historischen Abläufe, einschließlich der Folgezeit nach dem Krieg, sowie andererseits darauf, die mit der Serie verbundenen Risiken wie zum Beispiel die Generalisierung des Dargestellten, seine ahistorische Aneignung oder den Eindruck einer „Individualisierung der Schuld" durch die starken Filmcharaktere auszuräumen (vgl. Ernst 1979: 27). Die Ausstrahlung von „Holocaust" verursachte eine Lösung von Erinnerungssperren und half bei der Artikulation des Verdrängten sowie der Unsicherheit, ja Angst vor einer .Rückkehr der Geschichte' durch gewaltbereite Neonazis. Die Mehrzahl der Anrufer in Deutschland war während oder nach dem Zweiten Weltkrieg geboren worden: „Sie stellen dem WDR Fragen, die von den Eltern der Fragenden in den vergangenen 20 Jahren nicht beantwortet worden waren oder denen man ausgewichen war" (Hübner 1988:138). Ältere Zuschauer dagegen wurden zu einer Reaktivierung ihrer autobiographischen Erfahrungen aus der NS-Zeit animiert, ja provoziert, die zum Teil (indes in minderer Zahl) wütende Äußerungen nach sich zogen (vgl. Jordan 2008:160). Mehrheitlich löste die Sendung eine rege Anschlusskommunikation in Familien und mit Freunden und Bekannten aus, die in unterschiedlichster Weise auch die Schuldfrage, die eigene Rolle in der deutschen Geschichte und die Ernsthaftigkeit der Serienhandlung betraf (Magnus 1980: 539; vgl. auch Krokowski 2001: 178-179). Viele Teile des Fernsehpublikums befassten sich im Zuge der Fernsehausstrahlung also nicht nur auf der tendenziell unpersönlichen Ebene zwischen Individuum und Medium mit einem der wichtigsten Kapitel der deutschen Geschichte, sondern fühlte sich befähigt, auch im intimen Umfeld Erinnerungsarbeit an der eigenen Autobiographie und Familiengeschichte zu leisten, und sei es unter dem Druck der fragenden Kinder und Enkel. Die Wirkung des Doku-Dramas konnte sich in dieser Weise nur durch die allgemein von ihm ausgelöste Betroffenheit angesichts der Schrecken der Vergangenheit entfalten

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

(vgl. Wilke 2005: 9). Mit Blick auf die vielgescholtene ästhetische Umsetzung von „Holocaust" lässt sich schlussfolgern, dass das Wissen um die historisch verbriefte Wahrheit der Gräueltaten trotz oder gerade wegen aller trivialen Tendenzen seine bedrückende Wirkung nicht verfehlte (vgl. Würzberg 1979: 21). Die ermöglichte Identifikation der Zuschauer mit der Familie Weiss war dabei ein Hauptkriterium für ihre emotionale Engagierung in die historischen Geschehnisse: „Many of the responses by viewers - on the telephone and in writing - were personal and sometimes quite emotional. What three decades of intermittent documentaries apparently failed to accomplish, one week of .Holocaust' on the screens seemed to change: viewers identified with the victims, the Weisses, yet often recognized the villains, the Dorfs, in themselves" (Sollors 1979a: 380). Peter Märthesheimer, zuständiger Redakteur beim W D R für die Ausstrahlung von „Holocaust" in Deutschland, sah die historischen Etappen der Judenverfolgung sowie die Schlüsselereignisse der Judenvernichtung als eigentlichen Kern der Erzählung und die Protagonisten als Identifikationssymbole zum besseren Verstehen der geschichtlichen Abläufe (vgl. Märthesheimer 1979: 5-6). Die Figuren wurden dadurch zu Bindegliedern bei einer Zusammenfassung der maßgeblichen Stationen der Judenverfolgung und täuschten zugleich darüber hinweg, dass die tatsächliche Involvierung der dargestellten Personen in alle historische Phasen sowie ihre Präsenz an den zentralen Erinnerungsorten der NS-Gräuel schier banal anmutet: Karl Weiss wird vom Konzentrationslager Buchenwald in das KZ Theresienstadt, später nach Ausschwitz verlegt. Die Massaker im Vernichtungslager Sobibor und in Babi Yar werden von Rudi Weiss mit eigenen Augen verfolgt. Die Eltern Berta und Josef müssen im Warschauer Ghetto ums Überleben kämpfen, wo Onkel Moses später maßgeblich am Aufstand beteiligt ist, und sterben schließlich in den Gaskammern von Ausschwitz. Dieses fiktive Mischkonzentrat historischer Ereignisse, verbunden mit der expressiven Gefühlsinszenierung seitens der Darsteller, stellte sich als effektives Mittel heraus, um Betroffenheit in den Reihen der Zuschauer zu generieren. „Holocaust" erwies sich nicht als Strohfeuer, sondern hatte nachhaltigen Einfluss auf die Meinungsbildung und das historische Wissen vieler Zuschauer (Magnus 1980: 542). Dazu trug zu einem wesentlichen Anteil auch das durch das Gefühl der Betroffenheit ausgelöste Interesse für fundierte Geschichtsinformationen bei, das unter anderem von Seiten der Bildungseinrichtungen und dem Buchhandel bedient wurde (vgl. Kröll 1989: 115). Der Gründer des „Dokumentationszentrums des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes" in Wien, Simon Wiesenthal, berichtete in der „Frankfurter Rundschau", dass sein Telefon nicht mehr zur Ruhe gekommen sei, weil sich viele junge Deutsche über den Verbleib von Kriegsverbrechern äußern wollten (Anonym 1979b). Die Lerneffekte gingen weit über die Aneignung rein historischen Wissens hinaus. Die Abstraktionsleistungen des Publikums zeigten sich beispielsweise in dem gewachsenen Bewusstsein von Amerikanern für soziale Ungerechtigkeiten gegenüber Minderheiten (vgl. Ernst 1979: 26). Weiterhin belegten Zweit- und Drittausstrahlungen der Serie in den 1980er und 90er

111.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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Jahren, dass sich auch nachwachsende Generationen für diese Art von televisueller Geschichtsdarstellung empfänglich zeigen und sich speziell die Relevanz der US-Produktion nicht wesentlich verringert hat (vgl. Shandler 1999: 167). Die kulturelle Relevanz von „Holocaust" drückte sich auch in der Prägung von Geschichtsbildern und -diskursen aus. Der Historiker Peter Burke hat auf die trügerische Authentizität von historischen Spielfilmen hingewiesen, indem er die inszenatorisch gewichtige Rolle des Drehbuchautors und des Regisseurs bei der Produktion eines solchen betonte: „[Historische Ereignisse erreichen den Zuschauer immer erst nach einer doppelten Filterung, einer literarischen wie kinematographischen. [...] Die Stärke des Films besteht darin, dass er dem Zuschauer das Gefühl gibt, Ereignisse aus eigener Anschauung mitzuerleben. Darin liegt allerdings auch die Gefahr des Mediums, weil diese Augenzeugenschaft - ebenso wie beim Schnappschuss - eine illusorische ist" (Burke 2003: 182-183). Dass dieses Wissen um die Film- bzw. Fernsehwirklichkeit beim Publikum bei der Ausstrahlung von „Holocaust" nicht grundsätzlich vorausgesetzt werden konnte, stieß die visuell reihenweise Tabus brechende Serie eine neue Debatte über die Möglichkeiten einer angemessenen und effizienten medialen Präsentation des Themas an, speziell in einer populären massenmedialen Form. Der Holocaust galt zuvor (und für viele Kritiker auch nach der NBC-Serie) als undarstellbar: „Das Bildverbot steht über allem. Eine unüberbrückbar gewordene Distanz zwischen dem Wesen des Geschehenen und seiner adäquaten Darstellung wird vorausgesetzt" (Levy/Sznaider 2001: 154). Weder desakralisierte das Doku-Drama in seiner audiovisuellen Dramaturgie das Unbegreifliche, noch erhob es den Anspruch auf eine „Beschreibung der NS-Zeit", sondern setzte auf eine affektive Darstellung des Undarstellbaren (vgl. Märthesheimer 1979: 7). Das Ansprechen der Gefühlsebene bei der Repräsentation von Geschichte machte televisuelle Geschichtsbilder bei weiten Publikumskreisen salonfähig und entwickelte das Potenzial, das Verständnis von geschichtlichen Ereignissen zu beeinflussen und zu prägen. Die Befürchtung Elie Wiesels in Bezug auf „Holocaust" lautete dementsprechend, dass sich die Filmdarstellung in den Köpfen zu einer Vorstellung von den tatsächlichen historischen Ereignissen verdichten könnte: „I am appalled by the thought that one day the Holocaust will be measured and judged in part by the NBC TV production bearing its name" (Wiesel 1978: 29). Die Vermutung ist keinesfalls unbegründet, hat das Fernsehen kraft seiner Vermittlungsleistung doch schon häufig die erinnerungsbildende Macht der Audiovision unterstrichen. Ob Fernsehen indes über die Fähigkeit hinaus, durch die symbolische Verdichtung von Initialereignissen Geschichte zu schreiben, auch non-televisuelle Geschichte mittels historisch orientierter Spielhandlungen im Auge des Zuschauers in Fernsehgeschichte zu transformieren imstande ist, ist unter Berücksichtigung des Authentizitätsversprechens des Doku-Dramas denkbar (vgl. Wirtz 2008b: 23-24). Die Konsequenzen der Rezeption, die sich in der erwähnten Flut von Zuschriften und Anrufen artikulierten, zeigten erstmals in großer Breite die eklatante Differenz zwischen

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

dem allgemeinen öffentlichen und dem elitären akademischen Geschichtsdiskurs. Fernsehproduzent Günter Rohrbach sagte dazu in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel": „Ich glaube, dass Amerika uns mit .Holocaust' vorgemacht hat, was Massenkommunikation wirklich sein kann. Das deutsche Fernsehen bewegt sich doch in einem ähnlichen Umfeld wie Film, Theater, Kunst hierzulande: Es kommunizieren gebildete Bürger untereinander" (Rohrbach 1979:190). Wenn Thomas Fischer zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur ein bipolares Kräftefeld ausmacht (Fischer 2004: 519) und Rainer Wirtz der Ansicht ist, dass eine fernsehgerechte Darstellung von Geschichte „gewöhnlich nicht in Einklang zu bringen ist mit der einer geschichtswissenschaftlichen Publikation" (Wirtz 2008a: 17), gewinnt die sich an Zuschauerreaktionen zu einem Medienereignis wie „Holocaust" nachvollziehbare Reibung von relativ stabiler historischer Primärerfahrung und dem sich stets an gegenwärtigen Diskursständen wandelnden .offiziellen Gedenken an Brisanz (vgl. Jordan 2008: 160). Rankte sich die Debatte auf akademischer Ebene um ästhetische Wertungsprobleme, Fehler bei der Geschichtsdarstellung und makrokulturelle Ideologien, sah sich der durchschnittliche Zuschauer auf spannende wie ungewohnte Weise konfrontiert mit den eigenen kulturellen Wurzeln im Mikrokosmos der eigenen Autobiographie. War die allgemeine Öffentlichkeit bei den großen akademischen Auseinandersetzungen wie dem Historikerstreit, der sich in den Feuilletons der Leitmedien abspielte, weitestgehend ausgeschlossen, wurde in der Begleitsendung „Anruf erwünscht" das Publikum aktiv mit in die Geschichtsdebatte mit einbezogen (vgl. Frenzel 1979). Nur auf diese Weise lässt sich der tatsächliche Fortschritt bei der gesellschaftlichen Aufarbeitung von Vergangenheit, in gewissem Maße auch die Bewältigung von solch einschneidenden Phasen wie der Zeit des Nationalsozialismus, messen: ,,[W]ährend wir über die Motive der intellektuellen Vergangenheitsbewältiger mittlerweile recht gut Bescheid wissen, sind die Beweggründe der vielen Vergangenheitsbewältiger vor den heimischen Bildschirmen, die sich weniger intensiv mit dem Dritten Reich beschäftigten, ein noch relativ unerforschtes Terrain. In gewisser Hinsicht hat uns der selbstbewusste und oft selbstbezogene Gedächtnisbetrieb der bundesrepublikanischen Eliten sogar den Blick auf populäre Formen der Vergangenheitsbewältigung verstellt. Ein genaueres Verständnis der geschichtspolitischen Auswirkungen einzelner Medienereignisse und des Phänomens Fernsehen im Allgemeinen kann dieses Missverhältnis vielleicht korrigieren helfen" (Kansteiner 2005: 72). Die globale Reichweite der Serie durch den Verkauf in über vier Dutzend Länder trug weiterhin zu einer verstärkten Kosmopolitisierung von Geschichte bei. Wie Levy und Sznaider unter dem offenkundigen Eindruck der positivistischen Tradition des „cultural populism" argumentieren (vgl. McGuigan 1992: 4), seien die weltweiten popularisierenden Tendenzen bei der Darstellung des Holocaust wichtig und notwendig, um eine Demokratisierung beim Zugang und bei der Deutung von Geschichte zu erzielen:

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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„Die Mauern der Dogmatik sind gefallen. Das ist die fundamentale Chance, dass der Kosmopolitismus für viele Menschen möglich wird. Der virtuelle Holocaust öffnet damit ungeahnte Räume" (Levy/Sznaider 2001: 226). Mit ihrem Verweis auf eine Dogmatik im Umgang mit der Geschichte verweisen die Autoren auf die Ächtung bzw. Disqualifizierung bestimmter Mediengattungen und medialer Vermittlungsformen im Hinblick auf ihren gleichberechtigten Einsatz im historischen Diskurs durch die dominanten Geschichtsverwalter in Wissenschaft und Lehre. Im Vordergrund stünden nun nicht mehr national verfestigte Begriffskategorien, sondern transnationale Symbole wie der Holocaust, die zukunftsweisend für das Leben in der Gegenwart und bei der Vorbereitung auf eine ungewisse Zukunft in der breiten Medienvielfalt nutzbar gemacht würden (ebd.: 224). Es ist der Serie „Holocaust" geschuldet, dass der anglizistische Begriff, abgeleitet von dem griechischen Wort für Brandopfer, ein semantisches Feld geöffnet hat, das seither weltweit den sprachlich nur schwer fassbaren Massenmord an den Juden Europas durch die Nationalsozialisten beschreibt. In Deutschland wurde der Begriff in 1979 zum Wort des Jahres gewählt (vgl. Wilke 2005:16) und ersetzte im akademischen und im alltäglichen Sprachgebrauch das zuvor in Anführungszeichen gesetzte, aber noch aus dem .Dritten Reich' stammende Vokabular wie „Endlösung", „Judenfrage", usf. Diese teils als Amerikanisierung des Holocaust wahrgenommene Begriffskarriere ist Ausdruck einer Internationalisierung der medialen Arbeit an der Geschichte: Seit den 1980er Jahren werden vermehrt Koproduktionen zwischen deutschen und anderen europäischen Sendeanstalten umgesetzt, teils auch weit über den europäischen Rahmen hinaus. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist die fünfteilige Serie „Geschichte der Erde", eine Gemeinschaftsproduktion vom ZDF, der BBC und dem National Geographie Channel. In dem Vorwurf: „Die Amerikaner haben mit Holocaust uns Geschichte weggenommen" (Reitz 1979:102), drückt sich daher weniger der Groll darüber aus, dass die amerikanischen Filmemacher bei der Umsetzung eines populären Filmprojekts über das Kapitel der deutschen Geschichte schneller waren als die deutschen, sondern dass sie dazu beigetragen haben, den Weg zu ebnen für eine grenzüberschreitende Angleichung, ja Homogenisierung des ästhetischen Umgangs mit Geschichte im Fernsehen. Letztlich zog das Medienereignis „Holocaust" auch politische Auswirkungen nach sich. Diese sind in einem Zusammenhang zu sehen mit der „endgültig letzten Verjährungsdebatte des Jahres 1979" in Deutschland, bei der über eine mögliche Amnestierung von Nazi-Verbrechern gestritten wurde (Steinbach 1986: 14). In der Debatte drückte sich die herrschende Mentalität unter deutschen Amtsträgern und der allgemeinen Öffentlichkeit in den 1970er Jahren hinsichtlich der .Bewältigung' der deutschen Vergangenheit aus; mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sprach sich für eine gesetzliche Verjährungsregelung für Mord und Völkermord aus. Die Geschichte der Familie Weiss im Fernsehen dagegen verursachte einen nicht nur graduellen Meinungsumschwung. Dass „Holocaust" einen entscheidenden Anteil an der Entscheidung des Bundestags hatte, gilt heute als unumstritten (vgl. Bergmann 1997: 369-370). Die Zahl derer, welche eine Verjährung von Mord und Völkermord befürworteten, sank nach der Ausstrahlung erheblich, während

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

die Gegner einer solchen gesetzlichen Regelung Zuwachs bekamen. Schließlich beschloss der Bundestag ein knappes halbes Jahr später die Aufhebung der Verjährung. Eine weitere Folge mit politischer Tragweite hatte auch das gestiegene Interesse in der Bevölkerung an Gedenkstätten wie im ehemaligen Konzentrationslager Dachau: Dort stiegen die Besucherzahlen Ende der 1970er und Anfang der 80er Jahre stark an, was auf das geweckte geschichtspolitische Interesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zurückgeführt wurde (vgl. Marcuse 2001: 346). Dieser Mentalitätswandel vollzog sich auch vor dem Hintergrund eines spürbar präsenteren Antisemitismus in den USA und Deutschland, der sich in offenen Verhetzungen wie im Falle des Neonazi-Anführers Frank Collin ausdrückte, der gerichtlich gegen Aufmarschverbote vorging und unter anderem im Chicagoer Marquette Park die Ausrottung des Judentums forderte, sowie der wachsenden Gewaltbereitschaft von Neonazis in Deutschland, deren Aktivitäten von den Medien im Laufe der 70er Jahre durch die Konzentration auf die linksextremen Terrorattentate des Deutschen Herbst übersehen worden waren (vgl. Markovits/Hayden 1980: 75). Die Wirkung der als trivial verachteten, aber in ihrer Breitenwirksamkeit geschätzten Fernsehproduktion ist also nach der Erörterung ihrer zentralen Einflussmerkmale auf Geschichtskultur und Geschichtspolitik vorrangig nicht auf inhaltlicher, sondern auf funktionaler Ebene zu verorten. Kurzum: Der hohe Wert des Vierteilers „Holocaust" ist darin zu sehen, dass es ihn überhaupt im Fernsehen gegeben hat. Zwar haben auch Kinofilme wie im Wesentlichen „Schindlers Liste" für eine Ausrichtung des öffentlichen Erkenntnisinteresses auf die NS-Vergangenheit beigetragen (vgl. u.a. Loshitzky 1997; Hansen 2001; Baron 2006). Die Leistung des Mediums Fernsehen und die archetypischen (Begleit-) Umstände der Ausstrahlung von „Holocaust" dagegen konnten von diesen Werken nicht überflügelt werden. Nur durch die genuinen Vermittlungseigenschaften des Fernsehens, die Rezeption im privaten Schutzraum des eigenen Zuhauses, die Alltäglichkeit der Fernsehnutzung und die hohen Nutzungsdauern, konnte eine Intimität der medialen Erfahrung entstehen, die in Kombination mit der massenhaften Rezeption zu einem synchronen emotionalen Kollektiverlebnis wurde - der Holocaust als televisueller „tearjerker" (Elsaesser 1985: 49). Der französische Filmemacher Claude Lanzmann warnte die Deutschen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" dagegen davor, es bei einer emotionalen Auseinandersetzung mit dem Massenmord zu belassen. Unter dem Titel „Ihr sollt nicht weinen" prangerte er die Betroffenheit des Publikums als eine Form von „Lustempfindung" und „Katharsis" an und unterstrich implizit die Notwendigkeit, den Medieninhalt allenfalls als Ausgangspunkt zu nehmen, um sich tiefergehend unter geistiger Anstrengung mit Geschichte zu beschäftigen (vgl. Lanzmann 1994). So zeigt sich an dem Doku-Drama „Holocaust", wozu das Fernsehen imstande ist und was es nicht leisten kann: Als Publikumsmedium ist es ihm möglich, „kompensatorische Felder" zu öffnen, mit deren Hilfe komplexe und in ihrem semantischen Inhalt unbegreifliche historische Erfahrungshorizonte „rezeptions- und reflexionsfähig" gehalten werden (vgl. Kirchmann/Filk 2000: 7). Wird die Ereignishaftigkeit solchen Geschichtsfernsehens als Resultat einer televisuellen Geschichtswerkstatt begriffen, dann zeigt sich

III. 9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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die Trajektstruktur des Event-Movies „Holocaust" an dem unter Einbeziehung von Geschichtswissenschaft, Bildungseinrichtungen, der Politik und dem Publikum gemeinsam erstellten Geschichtsbild, das die Visualität des Fernsehbildes überschreitet und erst im Dialog, in der gewandelten Geschichtskultur konkrete Formen annimmt. „Holocaust" belebte die nationale und transnationale Streitkultur auf allen gesellschaftlichen Ebenen. So gehören auch die Briefe und Anrufe, Besuche in Gedenkstätten und Gespräche im Familien-, Freundes- und Kollegenkreis oder unter wildfremden Menschen dazu: All das, worin sich Geschichtsauslegungen, Geschichtsrevidierungen und eine persönlich motivierte Ingangsetzung einer selbstbezogenen Erinnerungs- und Identitätsarbeit ausdrükken. Ohne die Aneignung der fiktiven Erzählung durch eine Rekordzahl von Zuschauern, ohne die Skandalisierung der Serie durch eine Reihe von Kritikern und - mithin der wichtigste Faktor - ohne die Entscheidung von NBC, sich auf das Wagnis einer Holocaust-Verfilmung einzulassen, wäre das Ereignis ausgeblieben, mit unvorhersehbaren Konsequenzen für die Geschichts- und Erinnerungskulturen weltweit. Nach Auffassung von Frank Rieh hat darum auch nicht allein die Mediengattung Fernsehen allein, sondern vor allem das spezifisch kommerzielle Fernsehformat den Ausschlag für den bahnbrechenden Erfolg der Erzählung gegeben: So sei mit Recht zu vermuten, dass ein achtstündiger Kinofilm kein großes Publikum gefunden hätte; und das öffentliche Fernsehen PBS hätte nach Richs Meinung aus dem Drehbuch eine unattraktive Fernsehgeschichtsstunde konstruiert. Das kommerzielle Fernsehen habe die Produzenten dazu gezwungen, sich nach den Bedingungen der Prime-Time-Unterhaltung zu richten und trotzdem bei ihrer Darstellung (zumindest weitgehend) historisch stichhaltig zu sein: „They prove that such a marriage of commerce and art can bear remarkable fruit" (Rich 1978: 46). Ein Jahr zuvor, im Januar 1977, hatte bereits das Network ABC ein Doku-Drama über die Geschichte der Sklaverei gezeigt: Die achtteilige Mini-Serie „Roots", die in 1978 unter dem Titel „Wurzeln" auch in Deutschland gezeigt wurde (vgl. Sollors 1979b), wurde zum erfolgreichsten Doku-Drama in der Fernsehgeschichte der USA.181 Nach diesem bahnbrechenden Erfolg sah sich NBC im Zugzwang und verpflichtete für das „Holocaust"-Projekt mit Marvin Chomsky denselben Regisseur, der für das Konkurrenzprodukt verantwortlich gezeichnet hatte, in der Hoffnung, den Erfolg des Wettbewerbers in der neuen Fernsehsaison zu übertrumpfen. Dass kommerzielle Beweggründe zu dem wohl einschneidensten Ereignis des Geschichtsfernsehens weltweit geführt haben, ist eine Tatsache, die zu den Hauptkritikpunkten zählte, überdies aber eine Hinterfragung der sonst als selbstverständlich akzeptierten Strukturmerkmale des Fernsehbetriebs provozierte, die unter anderen Umständen wahrscheinlich ausgeblieben wäre. Das Abzielen auf hohe Sehbeteiligung und Marktanteile wurde als Pietätsverstoß gegen das Gedenken an den Holocaust gewertet, der sich in einer Entwertung der „noble intentions on the artistic side" in Anbetracht des Kampfes 181 Die achte und letzte Episode von „Roots" erreichte einen Marktanteil von 71 Prozent: Über 51 Prozent aller Haushalte verfolgten das Serienfinale, das auf der Rangliste der erfolgreichsten Primetime-Sendungen seit 1964 auf Platz 3 liegt (Variety 2008).

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

um Werbekunden zuspitze (O'Connor 1978). Die Kommerzialisierung der monströsen Historie sei, so die Rezension zur Erstausstrahlung in der „New York Times", „almost as obscene as the holocaust itself" (ebd.). Wie im US-Fernsehen üblich, war auch die Handlung von „Holocaust" zwar nicht inhaltlich, aber dramaturgisch auf regelmäßige Werbeunterbrechungen hin abgestimmt. Dieses gewöhnliche Procedere rief in diesem Fall aber Kritiker auf den Plan, welche die Werbung als lächerliche und abscheuliche „Eindringung" in die Geschichte wahrnahmen: „Viewers drawn back into the most painful darknesses of the century would suddenly, repeatedly, find themselves jolted into clusters of ads that seemed almost deliberately designed to offend [...]. In one grotesque juxtaposition, the audience saw Dorf sitting with Eichmann and a couple of other SS officers in their dining room at Auschwitz. Eichmann sniffs the air and disgustedly remarks that the stench of the chimneys keeps him from enjoying his meal. We cut then to a Lysol commercial, in which a woman character named .Snoopy Sniffer' arrives at a housewife's kitchen and informs her that she has house odors. From her ovens? Can the mind swivel so wildly?" (Morrow 1978: 50-51). Die separaten, aber ineinander verschachtelten und zeitlich aufeinander abgestimmten Programmbestandteile wurden auch schon Ende der 1970er Jahre vom werbetrainierten Zuschauer als Normalität begriffen, da die Programmangebote seit Start des kommerziellen Fernsehbetriebes auf der Werbefinanzierung fußten. Werbung kann aus dieser Gewohnheitshaltung auch als Rückversicherung für den Rezipienten dienen, dass es sich nur um eine „Rückblende und Nachzeichnung" handelt (Nussbaum 1979:12). Hier greift also ein dem Programmfluss immanenter Distanzmechanismus, der allen in das geläufige Programmschema gepressten Sendungen die Konnotation des geregelten Ablaufs anheimstellt und den seelischen Komfort des Zuschauers gewährleistet. Zielinski verwies zwar auf die strukturelle Differenz zwischen dem US-amerikanischen Programmgeschehen und dem auch heute noch durchgehaltenen öffentlichrechtlichen Prinzip, im Abendprogramm keine Werbung zu zeigen, plädierte aber dafür, ein Experiment zu wagen: die Werbeblöcke nicht einfach herauszuschneiden und die einzelnen Bestandteile der jeweiligen Episode aneinanderzufügen, sondern die Werbepausen mit inhaltlich äquivalenten Werbespots aus Deutschland zu bestücken. Nur auf diese Weise werde die auf die Werbeunterbrechungen abgestimmte dramaturgische Konzeption der Episoden erhalten bleiben (Zielinski 1979). Zielinski versprach sich von dieser Radikalkur bei den deutschen Zuschauern eine Schockwirkung, die sich nur bei solchen US-amerikanischen Zuschauern einstellte, die das Fernsehgeschehen mit (medien·) kritischem Blick verfolgten. Durch die im Hinblick auf die Unterbrechung von Sendeeinheiten vorhandene Unerfahrenheit bei den deutschen Publika im Umgang mit Fernsehwerbung ist aber mehr als fraglich, ob sich ein ähnlich emotional erregendes Fernseherleben eingestellt hätte wie geschehen, oder ob das Experiment sogar eine noch tiefere, medienpolitischere Beschäftigung mit dem Fernsehen und nicht allein mit der Geschichtsdarstellung ausgelöst hätte.

111.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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Ein anderer prominenter Kritiker von „Holocaust" war der deutsche Filmemacher Edgar Reitz, der entgegen solcherlei hypothetischer Schockexperimente auf produktive Weise mit dem strittigen Problem der Historiendarstellung im Spielfilm näherte und mit der Arbeit an seiner „Heimat"-Trilogie begann. In dem Konflikt zwischen „Holocaust" und „Heimat" erkennt Keilbach einen „Kampf um die Geschichtsdefinition, in dessen Gefechten auch kulturelle Zuschreibungen für die Produktion einer .eigenen Identität von Relevanz sind" (Keilbach 2005:100). Die Marktkonfektion von „Holocaust" stand Negativpate bei der Umsetzung künstlerischen Eigensinns bei „Heimat". In 25-jähriger Kärrnerarbeit sollte sich Reitz fast ausschließlich der Verfilmung eines Gefühls widmen: Seine Annäherung an die immer nur vage zu beschreibende Idee von Heimat182 wurde zu einem international gewürdigten Filmkunstphänomen, das trotz seiner der Kinofilmtradition verpflichteten Konzeption nur im und für das Fernsehen hat verwirklicht werden können: Die insgesamt elf Folgen des ersten Films „Heimat - Eine deutsche Chronik" (ARD, 1984) brachten es auf eine insgesamt knapp 16-stündige Laufzeit. „Die Zweite Heimat - Die Chronik einer Jugend" (ARD, 1992) übertraf dies noch mit dreizehn Episoden von über 25 Stunden Lauflänge. „Heimat 3 - Chronik einer Zeitenwende" (ARD, 2004) drehte Reitz schließlich in sechs Teilen, deren für die deutsche Fernsehausstrahlung gekürzte Länge bei etwa neun Stunden lag. Edgar Reitz' Impuls, sich mit seinem persönlichen, mit der pfälzischen Provinz verbundenen Heimatgefühl, speziell der Hunsrück-Region künstlerisch auseinanderzusetzen, wurde auf die durch „Holocaust" kultivierte kommerzielle und auf eine internationale Verwertung ausgerichtete Geschichtsaufarbeitung im Fernsehen zurückgeführt (vgl. Elsaesser 1985: 49). Reitz war ein entschiedener Gegner der mit der Mini-Serie nach Deutschland importierten medialen Geschichtsphilosophie: Reitz erkannte in „Holocaust" ein falsches Versprechen, eine Hintergehung der Zuschauer, die in der Hoffnung, Authentisches über die Vergangenheit zu erfahren, einer „kommerziellen Heuchelei" aufsäßen, die nichts mehr biete als „vom Kommerzdramaturgen auskalkulierte Szene[n]" (Reitz 1979: 99). Reitz kritisierte eben das, was von anderen begrüßt wurde: Die Abkehr vom Subjekt, dessen Austauschbarkeit zugunsten einer Hinwendung zu den historischen Schlüsselereignissen. Erlebnisse, so Reitz, würden eben dadurch verfälscht, wenn lebendige Details aus den Biographien von Personen verschoben werden, wenn versucht werde, „ihre Subjektivität und Einmaligkeit in der Darstellung zu eliminieren" (ebd.). Also wandte er sich seiner ganz persönlichen Vergangenheit zu, um daraus, so seine Ansicht, eine sonst mit dramaturgischen Tricks nicht zu erzielende organisch-lebendige Authentizität herzustellen (vgl. Jenny/Wrede 1999: 62). In seiner fiktiven Erzählung orientierte sich Reitz konsequent an seinen eigenen Erinnerungen und seinen Gefühlen für die in seinen Erinnerungen verblassende Geschichte, trug weiterhin Fremderinnerungen aus Presseveröffentlichungen und Befragungen der Dorfbevölkerung im Hunsrück zusammen und verarbeitete die Eindrücke poetisch, schwelgerisch, eigenwillig zu einem „cinematic event, 182 Zur Begriffsbestimmung - auch im Hinblick auf eine erinnerungstheoretische Erörterung - siehe Moltke 2005.

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

if not quite a masterpiece", wie die „New York Times" über den ersten Teil der Trilogie schrieb (Canby 1986). Reitz selbst sah die besondere Qualität seiner fiktiven Chronik in ihrer Funktion als Hilfestellung bei der Bewältigung der jeweils eigenen Erinnerungen der Zuschauer: „Die Kamera ist unser Gedächtnis. Wenn wir Filmmaterial montieren, zu filmischen Bild-Ton-Sequenzen neu zusammensetzen, leisten wir Erinnerungsarbeit. [... ] Wenn wir im Spielfilm Geschichten erzählen oder .Geschichte' wiedergeben, so erinnern wir uns in dieser Art: Das Zeit-Kontinuum hat einen Riss bekommen. Wir holen das Vergangene niemals ein. Wir trennen uns vielmehr endgültig, aber auf eine würdigere Weise, als es das Vergessen tut, von den Dingen" (Reitz 1983:127). Die Rezipienten sollten aus Reitz' Sicht all jene Menschen, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt haben, im lebendigen Fernsehspiel wiedererkennen und dabei gleichzeitig Verständnis für die Figuren auf dem Bildschirm entwickeln, sie vor ihrem historischen Hintergrund akzeptieren und Mitgefühl für sie empfinden (vgl. Reitz 1980-1982: 206). Mit dem Ansatz, die portraitierte Familie nicht als Vorwand, sondern als .Realität' zu begreifen, versuchte Reitz, indem er individuelle Lebensgeschichten mit dem Lauf der Geschichte verknüpfte, „Weltgeschichte aus der Frosch-Perspektive" zu beschreiben und „exakte Erinnerungsarbeit absichtlich planlos her[zu]stellen, das sind die Voraussetzungen für dieses Familienepos" (Reitz 2004: 9): Erzählt wird die Geschichte der Familie Simon. Teil 1 beschäftigt sich mit der zur Jahrhundertwende geborenen Mutter Maria Simon, deren Lebensweg von 1919 bis zu ihrem 82. Lebensjahr in 1982 begleitet wird. Teil 2 widmet sich Marias Sohn Hermann bzw. „Hermannchen", dessen Zeit als Musikstudent in München in den 1960er Jahren genauer in den Blick genommen wird, bis er wieder in seinen Heimatort zurückkehrt. Teil 3 wendet sich der Zeit nach dem Berliner Mauerfall zu und setzt die Autobiographien der Protagonisten in Relation zum Weltgeschehen, der „Zeitenwende" nach der Auflösung der Blockstaatenordnung, um stets in engem Bezug zum Mikrokosmos der individuellen Lebenswelt der Charaktere die Frage danach zu stellen, was der mit oft zwiespältigen Gefühlen unspezifischer Anziehung und Loslösung verbundene Heimat-Topos bedeutet und welche wichtige Funktion Erinnerungen in diesem ständigen Ringen um die eigene Verortung im Lauf der Geschichte einnehmen. Ursprünglich beabsichtigte Reitz, seine Filme mit dem Dialektbegriff „Geheischnis" zu betiteln, was so viel heißt wie Geborgenheit und Vertrauen und den emotionalen Kern der Geschichte traf. Schlussendlich aber erfolgte die Umbenennung in „Heimat"; Grund war die Annahme, das Hunsrücker Plattdeutsch sei für den Großteil der Zuschauer unverständlich und könne abschreckend wirken (vgl. Rauh 1993: 181). Die Strategie ging auf: „Heimat" war, auch wenn mit einer gänzlich anderen Konnotation als „Holocaust", ein TV-Event. Durchschnittlich verfolgten etwa zehn Millionen Zuschauer die Episoden des ersten Teils (ebd.: 201). Zwar brach die Gunst des Publikums bei der Ausstrahlung von „Die zweite Heimat" stark ein (Anonym 1993: 212), doch feierte die Produktion durch den generalistischeren Ansatz des Portraits eines jungen Man-

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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nes, den es in die weite Welt zieht, um doch am Ende zu seinen Wurzeln zurückzukehren, bei Publika im Ausland Erfolge. Letztlich begründete der dritte Teil der Trilogie trotz vereinzelter Trivialisierungstendenzen, die in der tragischen Zuspitzung von Liebesleid, Krankheit und Tod erkannt wurden (vgl. Festenberg 2004: 154), die exeptionelle Stellung dieser ungewöhnlichen Art von dekadischer Geschichtsaufarbeitung nicht nur in der Fernsehgeschichte, sondern auch im öffentlichen Geschichtsbewusstsein. Insgesamt erhielt Reitz nach eigener Aussage etwa 15.000 Briefe, in denen ihn Zuschauer oft detailverliebt um nähere Informationen unter anderem zu Oldtimern oder Kostümen, die im Film gezeigt wurden, baten, um ihr Geschichtsinteresse zu befriedigen oder um bei der Konstruktionen der eigenen Erinnerungen Anreize zu erhalten (vgl. Jenny/Wrede 1999: 62).

Trotz eines solch ambitionierten Projektes wie „Heimat" haben sich die Mechanismen kommerzieller Fernsehproduktion auch im Geschichtsfernsehen in Deutschland durchgesetzt. War die Ereignishaftigkeit bei „Holocaust" und „Heimat" noch maßgeblich von der Publikumsresonanz gekennzeichnet, verlagerte sich die Gewichtung innerhalb des Event-Trajektes TV-History im deutschen Fernsehbetrieb durch die gewachsene Bedeutung des wirtschaftlichen Erfolges schlagartig ab dem Jahr 2001 auf die Produktionsseite. Die Marketingabteilungen der Sender haben seitdem die Definitionshoheit über den Eventcharakter des Geschichtsfernsehens ergriffen: Doku-Dramen wie „Der Tunnel" (Sat.l, 2001), „Das Wunder von Lengede" (Sat.l, 2003), „Die Luftbrücke" (Sat.l, 2005), „Die Sturmflut" (RTL, 2006) sowie „Dresden" (ZDF, 2005), „Die Flucht" (ARD, 2007) und „Die Gustloff" (ZDF, 2008) oder der effektvolle Zehnteiler „Die Deutschen - Ein Jahrtausend deutsche Geschichte" (ZDF, 2008) wurden von grundauf als Ereignisfernsehen konzipiert, um überdurchschnittlich hohe Zuschauerzahlen zu gewinnen. Internationale Vermarktungsstrategien haben im Produktionsgeschäft auch der öffentlich-rechtlichen Sender an Gewicht gewonnen, stellen sie doch eine wichtige Einnahmequelle bei wachsendem Kostendruck dar. Im Folgenden werden die drei maßgeblichen Tendenzen in der Aufbereitung von Zeitgeschichte in deutschen Doku-Dramen erörtert: Die wachsende Themenvielfalt, der unbekümmertere Umgang mit historischen Konfliktstoffen und die Implementierung ahistorischer und dadurch kompatibilitätsoptimierter Schemata. Auffächerung der historischen Themenschwerpunkte: Geschichte im Fernsehen war stets durch die visuellen Anforderungen des Mediums abhängig von den sich darbietenden Überlieferungen aus der Vergangenheit. Koch nennt drei „simple Kriterien" für die Verfilmbarkeit eines historischen Themas (Koch 1988: 11): Wenn erstens das Thema frühestens das 20. Jahrhundert betrifft, gibt es mit hoher Wahrscheinlichkeit noch Zeitzeugen und originales Aufzeichnungsmaterial. Handelt es sich aber zweitens um ein Thema aus früheren Jahrhunderten, gibt es im besten Fall Schriftstücke, Gemälde oder architektonische Zeugnisse, welche das Thema rekonstruierbar machen. Wird dagegen drittens die Vor- und Frühzeit, beispielsweise die Antike in den Blick genommen, sind kaum noch Spuren der untergegangenen Welt verfügbar, allenfalls noch „Ruinen und vergilbte

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Texte" (ebd.). Konzentrierten sich Sendungen über die vor-televisuelle Geschichte in den Anfangsjahren des Fernsehens vor allem aus technischen Gründen auf statische Darstellungen von abgefilmten Artefakten wie Fotografien, Dokumente, Karten, Kunstwerke oder auch Gebäude (vgl. Kröll 1989: 111), erlaubten steigende Budgets im Wettbewerb um Kunde Zuschauer, begleitet von den Errungenschaften der digitalen Animationstechnik, immer aufwendigere Rekonstruktionen historischer Szenerien. Zu beobachten ist eine Proliferation in der Wahl historischer Themen, die mittlerweile seltener aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen, sondern auch in der jüngeren deutschen Geschichte gefunden werden (vgl. Cippitelli 2008: 3). So beschäftigten sich zahlreiche Fernsehfilmproduktionen mit der Geschichte der DDR. Doch mit den digitalen Simulationsmöglichkeiten wächst auch das Interesse an der Vor- und Frühzeit der Menschheitsgeschichte sowie Epochen wie dem Mittelalter. Fritz Wolf schreibt dementsprechend unter Bezug auf eine Aussage Lutz Hachmeisters: „Anything goes im Geschichtsfernsehen, ästhetisch, politisch, dramaturgisch" (Wolf 2008: 5). „Wie andere ehemals mit scharfen Grenzen versehenen und deshalb deutlich unterscheidbaren Genres entwickelt auch das Genre der Geschichtsdarstellungen eine so breite Vielfalt der Präsentationsformen und Themen, dass heute über Nitbrit- oder den Profumo-Skandal, über die Fußballweltmeisterschaft von 1954 oder über den Weinbau an der Mosel ebenso eine historische Sendung möglich erscheint wie über das Oberkommando der Wehrmacht bei der Exekution von,Barbarossa', über Stalingrad oder die V2 im Anflug auf London" (Lersch/Viehoff 2007: 276). Unbefangenerer Umgang mit historischen Problemthemen: Von einer Last der Vergangenheit ist in den Event-Movies jüngeren Datums kaum noch etwas zu spüren. Das historische Konfliktpotenzial wird in gegenwartsorientierten Charakterbildern aufgelöst. Im Vordergrund steht die Erfüllung von Unterhaltungskriterien. Schwerwiegend ist der weniger unbefangene als vielmehr unbedarfte Einsatz von Showeffekten, wie der Kulturwissenschaftler Paul Cooke am Beispiel des deutschen Mehrteilers „Dresden" aus dem Produktionsbetrieb TeamWorx zeigt: „It is TeamWorx's aim rather to capitalise on the international appeal of this period of German history. None the less, in so doing, they have produced a film that offers a more troubling reading of German history than many critics suggest. While on the surface the film manages to give a balanced account of the competing positions in the debate on whether the bombing of Dresden was justified or not, this admirable didactic project is ultimately undermined through the films compliance with the generic conventions of the Hollywood disaster movie" (Cooke 2008:293-294). Die Ausrichtung der Vermittlung von historischen Wissensinhalten an ästhetischen Kategorien hat auch die ursprünglich genuinen Dokumentationsformate der öffentlichrechtlichen Sender, namentlich des ZDFs, erfasst: Die unter der Leitung des Historikers Guido Knopp produzierten Geschichtssendungen können durch ihre hohe Sehbeteiligung und ihre populäre, kommerzielle Ausrichtung (vgl. Linne 2002; Crivellari 2008:

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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179-180) als Events in Serie bezeichnet werden. 183 Erzählt wird Geschichte auf primär visueller Ebene: Die inhaltliche Aufbereitung setzt auf eine affektive Dramaturgie und eine sensationalistische Präsentationsweise beispielsweise unter Anpreisung exklusiven historischen Filmmaterials. In der Binnenhierarchie der Text-Bild-Komposition ist das Skript in diesen Filmen den ästhetischen Imperativen der audiovisuellen Inszenierung klar untergeordnet: „Mit einer geschickten Mischung aus historischer Aufklärung und historischer Pornographie fordert Knopps Fernsehen die Zuschauer auf, sich in die historischen Akteure und Augenzeugen zu versetzen und z.B. den Führer anzubeten und die Schlacht an der Ostfront zu schlagen. Der visuelle Sog - besonders die nachgestellten Szenen, die keine andere Funktion haben - , schafft eine raffinierte Identifikationsmöglichkeit, während dieses Vergnügen gleichzeitig durch den vordergründigen Kommentar, der dem visuellen Duktus direkt widerspricht, für unzulässig erklärt und dadurch noch verlockender gemacht wird" (Kansteiner 2003b: 645). Kritik an den Arbeiten Guido Knopps macht sich vorrangig an einer beobachteten Fahrlässigkeit im Umgang mit geschichtlichen Quellen fest, welcher der populären Herangehensweise an die Zeitgeschichte angelastet wird (vgl. Wolf 2000). Filmmaterial werde nicht einer vorsichtigen Quellenkritik unterzogen, sondern als .wahres' Abbild der Geschichte akzeptiert, ohne die Präformierung der Bilder durch propagandistische Intentionen wie im Fall von Aufnahmen aus der NS-Zeit zu berücksichtigen (Keilbach 1998: 357; Classen 1999:117). Dagegen stehen für sich selbst sprechende Lernerfolge auf Seiten des Publikums, die mit Serien wie der provokant betitelten Dokumentationsreihe „Holokaust" erzielt wurden (vgl. Dohle/Wirth/Vorderer 2003). Der Historiker Wulf Kansteiner, dem der Verdienst zukommt, die Bildschirmkarriere von Guido Knopp als Chefhistoriker des ZDF seit Beginn der 1980er Jahre differenziert aufgearbeitet zu haben, hat die zum großen Teil polemische und pauschale Kritik an Knopps Arbeiten auf eine analytisch-differenzierte Ebene gehoben, um den auch im Ausland zu verzeichnenden Erfolg der Produktionen zu ergründen. Knopp habe sich als „Star" selbst zu einem „multimedialen Ereignis" entwickelt, das die Fernsehhitlisten ebenso anführt wie die Bestsellerlisten der Buchverlage (Kansteiner 2003b: 639). Kansteiner lobt das Geschick Knopps, mit den Jahren ein Gespür dafür bekommen zu haben, welche Deutungen der Geschichte und welche Vermittlungsverfahren für weite Teile der deutschen Bevölkerung akzeptabel waren, und daraus eine eigene Signatur bei der Konzeption von geschichtlichen Dokumentationen zu entwickeln. So experimentierte er auch

183 Knopp selbst äußert sich positiv über den Trend des „Ereignisfernsehens": „Nur weil wir Zeitgeschichte spannender und auch bewegender vermitteln, als dies jahrzehntelang der Fall war, heißt dies noch lange nicht, dass wir trivial sind. Eine seriöse Dokumentation darf packend wie ein Thriller sein, wenn das Thema dies zulässt. Wir wollen ein großes Publikum weltweit erreichen, vor allem auch junge Menschen. Es gilt, Qualität und Quote miteinander zu verbinden. Aufklärung braucht Reichweite! [...] Ich will den Bogen spannen von diesem Genre [Dokumentationen] bis zum Spielfilm" (zitiert nach Huber/Alanyali 1998).

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mit verschiedenen Herangehensweisen an die Vermittlung von historischen Abläufen wie zum Beispiel im Format einer journalistischen Reportage in „Die Saat des Krieges" von 1989 (vgl. ebd.: 633). Im US-Fernsehen war diese unkonventionelle Form bereits in der ab 1953 ausgestrahlten Geschichtssendung „You Are There" mit Walter Cronkite populär (vgl. Anderson 2001: 26-30). Knopp schlachtete in unterschiedlichen Funktionen als Regisseur, Drehbuchautor oder Produzent, aber immer als Schirmherr die historische Figur Hitler thematisch förmlich aus, indem er sich ihr aus allen nur erdenklichen Richtungen näherte: Die Serien hießen unter anderem „Hitlers Helfer", „Hitlers Manager", „Hitlers Krieger", „Hitlers Frauen" und „Hitlers Kinder". „Im Verlauf seiner Karriere hat sich Knopp auch an anderen Themen als dem Nationalsozialismus versucht. Aber nur dieses Thema bot ihm die Gelegenheit zum Tabubruch und die Chance, sein Publikum mit einer faszinierenden Mischung aus faschistischer und postmoderner Ästhetik zu unterhalten. Da er schon aus diesem Grund von Hitler nicht ablassen kann, wird Knopp wahrscheinlich bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2011 Zielscheibe vieler Witze über seinen .historischen Durchhaltewillen und über unser Warten auf,Hitlers Hunde' sein" (Kansteiner 2003b: 644). Diese Bemächtigung der (Zeit-) Geschichte vor dem Hintergrund wirtschaftlichen Erfolges lässt die Gefahr einer fortschreitenden Schematisierung im Umgang mit der Geschichte erkennen, die auf kurz oder lang zu einer Verflachung und in Bezug auf die unterschiedslose Verwendung identischer Bildaufzeichnungen als nur noch symbolische Illustrationen sogar Ahistorisierung der Geschichte führen kann. Ahistorische Emotionalisierung: Die aus wettbewerblichen Gründen festzustellende Orientierung am Publikumsgeschmack hat zu einer verstärkten Hinwendung zu weitgehend gleichförmigen emotionalen Spielhandlungen geführt, welche das historische Thema nur noch als bloße Kulisse nutzen (vgl. Büß 2005a). Der Historiker Daniel Walkowitz hält zwar Ungenauigkeiten im Detail für entbehrlich, die durch Freiheiten in der inhaltlichen und dramaturgischen Umsetzung entstehen, doch nur unter der Maßgabe, wenn das historische Gesamtbild stimme: „Central to the oxymoron, .fictionalized history,' is the recognition that history is not a setting - the backdrop for a romance - or a group a discrete facts, but a process of changing social relationships. Everything in a fictionalized historical film must be accurate: it must reflect the tone and temper of the era and depict all the nuances of social behavior and attitudes. [... ] Once the filmmaker is committed to an argument for the film, details need not define the historicity. A film set in 1875 can use a bridge built in 1877 with impunity so long as the technology did not change dramatically during those years and the bridge is not a famous landmark like the Brooklyn Bridge" (Walkowitz 1985: 60 - Hervorh. im Orig.). Der historisch begründete Wandel des interpersonalen Umgangs, der für heutige Zuschauer befremdlich anmuten könnte, wird in den bezeichneten Fernsehproduktionen indes durch eine Ontologisierung von Gefühlen als „ewig gleiche, unveränderliche Instanzen in der menschlichen Seele" ersetzt (vgl. André 2008:5). Die Aneignungsfähigkeit

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der Geschichte soll wie beispielsweise im Fall des Zweiteilers „Wir sind das Volk - Liebe kennt keine Grenzen" (Sat.l, 2008) durch starke Personalisierung und Emotionalisierung, also durch eine Annäherung an die Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums gewährleistet werden; eine Entfremdung des Zuschauers durch die differenzierte Darstellung des sich von den heutigen Gepflogenheiten zum Teil eklatant unterscheidenden menschlichen Verhaltens wie beispielsweise bei der Äußerung von Gefühlen ist angesichts des intendierten Publikumserfolgs keine Option. Die Gefahr eines ahistorischen Emotionsschematismus ist also latent vorhanden, der sich unter anderem durch das wiederholte Motiv von Dreiecksbeziehungen als emotionaler Anker in den Spielhandlungen ausdrückt (vgl. Gangloff 2008: 12). Eine Sensibilisierung für die authentischen Umstände einer vergangenen Periode kann auf diese Weise nur schwerlich erfolgen, was der Verständnisbildung für historische Entwicklungen entgegensteht und auch den Weg versperren kann für ein aufgeschlossenes Verhalten in der Gegenwart anderen Völkern und Generationen gegenüber (vgl. Steinbach 1986: 15-16). Als problematisch ist also zu bewerten, dass die .Eventisierung' des Doku-Dramas zu einer in immer größerem Umfang um sich greifenden Orientierung an Marktkriterien nach sich zieht. Die Folge ist, dass die Realisierung der Produktion von massenkompatiblem Geschichtsfernsehen stärker von Faktoren abhängig gemacht wird, die sich nach den harten Erfolgszahlen der Einschaltquote und des internationalen Lizenzhandels richten. Der Erfolg im Ausland hat wesentlich an Bedeutung zugenommen, wie Guido Knopp argumentiert: „Noch vor ein paar Jahren war der Weltmarkt fest in Hand der BBC. Jetzt spielen wir als zweiter .Global Player' kräftig mit. Wenn unsere Serien in über 70 Ländern, von den USA bis nach Australien, zu sehen sind, so ist das ein Indiz für eine Tatsache: Zeitgeschichtliche Dokumentationen aus Deutschland sind für Zuschauer in aller Welt schlicht und einfach interessant" (Knopp 2005:131). Die Wahrscheinlichkeit indes, dass einmal erfolglose Themen und Formate schnell verworfen werden, ist dementsprechend hoch; ebenso hinsichtlich eines Szenarios, dass vorzugsweise nur noch solche Geschichte verfilmt wird, die massenwirksam unterhält bzw. der eine unterhaltsame Narration übergestülpt werden kann. Diese Entwicklung hat bereits, wie überblicksartig dargestellt wurde, zu einer Konformisierung von Inhalt und Form geführt und mag der künstlerischen Experimentierfreude von Produzenten und auch Historikern zum Nachteil gereichen. Erschwerend kommt hinzu, dass Fernsehindustrie, Kritik und Wissenschaft weiterhin nur darüber rätseln können, was die bestimmenden Erfolgsfaktoren für Geschichtsdarstellungen im Fernsehen sind (vgl. Gangloff 2008: 14). Wie das Beispiel „Heimat" gezeigt hat, finden auch anspruchsvolle Produktionen ihr Publikum, wenn nicht im Herkunftsland selbst, dann doch im Ausland. So lässt sich nicht pauschal schlussfolgern, dass sich internationale Produktionskonzepte und vor allem solche aus Hollywood durchgesetzt haben. Was indes den Markt für Geschichtsfernsehen bestimmt ist seine Ausrichtung am Publikumsgeschmack, dem alles untergeordnet wird, auch die historische Genauigkeit.

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Die wohl bedeutendste Konsequenz in der Entwicklung des Geschichtsfernsehens in Deutschland, als deren Auslöser nicht ausschließlich, aber zu einem wesentlichen Anteil das Medienereignis „Holocaust" bezeichnet werden kann, mag mit Blick auf die nie zuvor dagewesene Produktivität in diesem Bereich gelten, dass Geschichte auf der so wahrnehmungsfreundlichen audiovisuellen Erfahrungsebene des suggestiven Fernsehinhalts epistemologisch bearbeitbar geworden ist: „Suffering apparently the same fate as realistic imagery and naturalistic narrative, history can be made material - physically grabbed, shaken and televisually assaulted, all in order to energize television. Historicity, like narrative discourse, has become a ritual of formal permutation and embellishment" (Caldwell 1995:167). Aus dieser Sicht wäre es nur konsequent, dem von der Fernsehwirtschaft geschaffenen Tatsachen mit einem angepassten Konzept kultureller Gedächtnisformierung, das heißt: des Umgangs mit den historischen Topoi einer Kultur zu begegnen. Bodo von Borries schlägt am Rande seiner Überlegungen zur Nutzbarmachung von historischen Spiel- und Dokumentarfilmen für die Bildungsarbeit vor, mit Rücksicht auf die fabulativen Qualitäten von Spielfilminszenierungen, ihren Heldenfiguren und Abenteuergeschichten, von einem imaginativen Gedächtnis zu sprechen (Borries 2007: 210). Borries nähert sich der kulturwissenschaftlichen Terminologie des Assmann'schen Funktions- und Speichergedächtnis von spielerischer Warte, die gerade in Bezug auf den kindlichen Zugang zum Fundus kultureller Gedächtniselemente einen wichtigen Impuls setzt: Der kulturelle Fundus an identitätsstiftenden Erzählungen und historischen Ereignissen wird hier als Anlass genommen, um sich in eine eigene Vergangenheit zu träumen. Wenn Geschichte für viele Dramaturgen nur mehr eine Rohmasse darstellt, der sie sich bedienen, um ihren Erzählungen mythischen Verve zu verleihen, muss dies trotz historischer Ungenauigkeit nicht den Weg zu historischer Erkenntnis versperren. Die Romanistin Stephanie Himmel hat beispielsweise gezeigt, dass sich der geschichtliche Topos der Jeanne dArc in vielerlei zeitgenössischen Medieninhalten wiederfindet und jeweils losgelöst von seinen ursprünglichen Kontexten spezifische Funktionen erfüllt wie im Falle der amazonenhaften Serienheldin „Xena, the Warrior Princess" (Himmel 2005:285). Eine Funktion ist sicherlich das geweckte Interesse für die .originale' Johanna von Orleans, eine andere die Faszination an den mythologischen Ideen und Erzählungen, die sich zeit ihres Lebens und nach ihrem Tod um ihre Person entstanden sind. Das „imaginative Gedächtnis" wäre also eine Spielform des lebendigen Funktionsgedächtnisses, die sich nicht auf die Inhalte des kulturellen Fundus aus historischen Überlieferungen beschränkt, sondern sich nicht davor scheut, auch die eigenen Phantasiewelten, die immer ein Produkt der Identitätsfindung sind, in die Konstruktion von Vorstellungen über die Historie mit einzubeziehen. Das ist alles andere als verwerflich, und in diesem Zusammenhang lässt sich noch einmal Heinrich Boll zitieren, der den Gedanken aufwarf: „Wir alle [...] haben wieder einmal Grund [...] zu fragen, ob die Beschäftigung mit Geschichte [...] langweilig sein muss, ob Geschichte langweilig sein muss" (Boll 1979). Solche Variationsformen müssen nicht einmal Augen- oder Türöffner zur Historie bieten, sondern sind unverbindliche und ge-

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rade durch ihre Ungezwungenheit attraktive Einstiegshilfen für eine breite allgemeine Öffentlichkeit, die sich nicht notwendigerweise für Geschichte im allgemeinen Verständnis interessiert, und vermögen dazu anzuregen, traditionelle Ansichten über Geschichtsund Erinnerungsarbeit unter Einbezug von Stimmen aus dem Publikum (z.B. „Xena"Fans) zu überdenken (vgl. Finney 2005: 515-516): „[Television history is often only the beginning of a process. The viewer is not always the inert, channel-hopping philistine, but an engaged participant who is initially drawn into a subject by contact through a programme. In what is called, in dreadful parlance, a learning journey', the viewer might proceed from a television programme to a channel website to further reading to historic visits and then even to a Open University or higher education course" (Hunt 2006: 857). 9.2.3. Nostalgische (Des)Illusion:,Living

History' als Kontrastmittel

Fernsehen kann seine Zuschauer dann engagieren, wenn es lebendiges Mit- und Nacherleben historischer Darstellungen ermöglicht. Dies kann wie in „Holocaust" durch starke Identifikationsfiguren und eine melodramatische Spielhandlung gelingen. Eine andere Möglichkeit, die sich durch die Karriere des Reality TV eröffnet hat, ist die Einbeziehung des Zuschauers in die auf Handlungsebene fiktionale, aber eng an den historischen Rahmenverhältnissen ausgerichtete Inszenierung von Geschichte. Unter dem Begriff des Reenactment wird der Versuch verstanden, vergangene Zeiten in der Gegenwart mit physischen Mitteln darzustellen. In den USA stellen kommerzielle Organisationen und gemeinnützige Geschichtsvereine regelmäßig mit großem Aufwand historische Schlachten oder andere symbolische Ereignisse der Nationalgeschichte nach, um sich dadurch nach dem Prinzip des Hands On körperlich bei der Nachstellung der Vergangenheit zu beteiligen. Die meisten „living history reconstructions" sind indes der Alltagsgeschichte gewidmet, um den Beteiligten wie den Zuschauern des Geschehens einen möglichst authentischen Eindruck von der vergangenen Epoche zu vermitteln (vgl. Goodacre/Baldwin 2002: 48). Die Popularität dieses Hobbys, das sich mancherorts zu einem profitablen Zweig der Tourismusindustrie entwickelt hat, ist Ausdruck einer Faszination für .Living History', der Lust, in eine historische Rolle zu schlüpfen und Geschichte am eigenen Leib zu erfahren.184 Zwei der bekanntesten institutionalisierten Reenactment-Schauplätze sind Colonial Williamsburg im US-Bundesstaat Virginia, eine freizeitparkähnliche Anlage, welche die Stadt zur Kolonialzeit der englischen Besatzung darstellt und mit Schauspielern den Kollaps der königlichen Verwaltung nachbildet, sowie das Schlachtfeld von Gettysburg, wo regelmäßig die entscheidende Niederlage der konföderierten Truppen von 1863 gegen die Union der Südstaaten mit tausenden von Statisten möglichst exakt nachgespielt wird. Wahrend das simulative Kampfspektakel in Gettysburg alljährlich Anfang Juli historisch Interessierte animiert, sich in Gruppenstärke, aber auch individuell 184

FüreineaufschlussreicheAnalysedesReenactment-TrendsalssubkulturelleGeschichtsaufarbeitung am Beispiel kriegsgeschichtlicher Ereignisse siehe Thompson 2004.

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für die Teilnahme zu bewerben (vgl. Linenthal 1991: 97-98), richtet sich das Ganzjahresprogramm des historischen Themenparks in Williamsburg vorrangig an Familien, die mit ihren Kindern inmitten einer spannenden Inszenierung eine authentisch wirkende Atmosphäre erleben möchten. Lebendige Geschichtsinszenierungen werden von Bildungsorganisationen als populäre Anschauungsbeispiele für anderweitig schwer vermittelbares Wissen über historische Entwicklungen und Lebenswirklichkeiten geschätzt. Für Betrachter wie für die tatsächlichen Akteure solcher Reenactments (wobei je nach Darbietungsform passive Betrachter auch in eine Spielhandlung einbezogen, also selbst zu Akteuren werden können) werden die historischen Wurzeln einer Kultur durch die multisensuale Erlebnisform konkret. Sie stimuliert die Phantasie, fügt sie in einen exakt tarierten historischen Rahmen ein und öffnet auf anschauliche und zugleich auch durch die Illusion der eigenen Teilhabeschaft am historischen Geschehen auf imaginative Weise den Zugang zu Geschichtswissen. Je nach Motivation und Erfahrung der Akteure sind der Detailtreue keine Grenzen gesetzt: Wo wissenschaftliche Erkenntnisse keine eindeutige Auskunft geben, greift die Phantasie: Private Reenactors belassen es meist nicht dabei, sich zeitgemäß zu kostümieren und penibel die Verhaltenskonventionen, die sprachlichen Gepflogenheiten und sonstige Details des historischen Kontextes wie beispielsweise die zur Verfügung stehenden Lebensmittel oder die Techniken bei der Essenszubereitung zu recherchieren. Ihr Ziel ist das tatsächliche Nach leben, nicht allein das Nach erleben, der Vergangenheit. Hier steht also eine individuelle akteurszentrierte Geschichtsbelebung vor der rezipierenden Erfahrung einer präsentistischen Inszenierung anderer Akteure. Das Streben nach Detailtreue kann dabei Ausmaße annehmen, dass wie im Fall der Nachahmung der Überlandexpedition der Pioniere Meriwether Lewis und William Clark von der US-amerikanischen Ost- zur Westküste im Jahre 1804 unüberwindbare Konflikte entstehen: Der auf drei Jahre veranschlagte Expeditionszug zur Zweihundertjahrfeier des Ereignisses wurde durch vielerorts nicht zu umgehende Konfrontationen mit den Zeugnissen der Gegenwart behindert. Die Intention, nicht nur den Geist, sondern auch den visuellen Anschein der Vergangenheit Wiederaufleben zu lassen, wurde durch Autobahnen, Fabriken oder Einkaufzentren unterminiert (vgl. Kleine-Brockhoff 2004). Auch im Fluss des Fernsehprogramms droht die Gegenwart ständig unvermittelt in das Bewusstsein zu drängen. Die Anforderungen an Formatkonzepte, welche nachgelebte Geschichte zu vermitteln beabsichtigen, sind dementsprechend hoch. Dennoch kann das Fernsehen nicht in Konkurrenz zur physischen .Realität' der eigenen Erfahrung am Ort einer historischen Nachstellung treten, sondern hat eigene Ausdrucksformen gefunden. So richtet sich televisuelle .Living History' nicht an sogenannte .history buffs', also an Geschichtsliebhaber mit ausgeprägtem Kenntnisstand zu bestimmten historischen Perioden, sondern an den allgemeinen Fernsehzuschauer, der sich bestenfalls sein solides Schulwissen bewahrt hat oder noch über eigene, vielleicht verklärte Erinnerungen an seine Jugend verfügt. Der Rezipient soll sich selbst auf dem Bildschirm wiedererkennen, sei es als Kind oder Jugendlicher oder imaginativ als Reisender in lang zurückliegende

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Zeiten: Als Alter Egos fungieren Durchschnittsmenschen, deren Bereitschaft, sich auf ein Fernsehexperiment mit der Geschichte einzulassen, nicht auf entsprechendem Hintergrundwissen beruht, sondern auf der Lust am Unbekannten, das nicht selten durch eine nostalgische Verklärung der Geschichte Sehnsüchte auslöst. Nostalgische Erinnerungen können beschrieben werden als „more fantasy than reality" (Leboe/Ansons 2006: 607). Vergangenes zu idealisieren und dadurch die gegenwärtigen Verhältnisse in einem schlechteren Licht erscheinen zu lassen, ist ein wesentliches Merkmal von Nostalgie (ebd.). Nostalgie verklärt Vergangenheit, enthebt sie aller Ecken und Kanten, rundet sie ab, hellt auf, instrumentalisiert sie zum Zwecke des Frohsinns. Es geht also nicht darum, mit der Vergangenheit „ins Reine" zu kommen, sondern vielmehr mit der Gegenwart (Gabriel 1993: 132). Diese Form von Idealisierung kann als „simple Nostalgie" bezeichnet werden, die sich an dem (Irr)Glauben manifestiert, früher sei alles besser gewesen (bzw. schöner, gesünder, fröhlicher, zivilisierter, aufregender) (Davis 1979: 20). Eine weitere Form der Nostalgie ist nach Fred Davis „reflexiv": Hierbei hinterfrage das Individuum die Richtigkeit und Vollständigkeit der nostalgischen Erinnerung (ebd.: 21). „Interpretierte Nostalgie" dagegen sei eine vom Individuum angestrebte Objektivierung der gefühlten Nostalgie mithilfe einer kritischen Selbstanalyse (ebd.: 24-25). Während die Nostalgie erster Ordnung von vermutlich jedem Menschen mehrmals im Leben empfunden wird, sorgen erst die zweite und dritte Art von Nostalgie für eine direkte Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, indem die eigenen Gedanken und Gefühle in Bezug auf die persönliche Vergangenheit betrachtet werden, um daraus Sinn zu schöpfen. Davis sah Nostalgie daher grundsätzlich tief verwurzelt mit den existenziellen Fragen, wer wir seien, warum wir seien und wohin wir gingen (Davis 1977: 419). Nostalgie stehe klar im Dienste der Kontinuität von Identität, indem sie es der einzelnen Person ermögliche, durch die Rückbesinnung auf positive Aspekte der eigenen Lebensgeschichte Mut zu fassen für die Zukunft und sich der persönlichen Ziele zu vergewissern (ebd.: 420; vgl. auch Sedikides u.a. 2008:235). Dadurch kann Nostalgie das Selbstwertgefühlt stärken (Davis 1979: 34) und mithilfe eines nostalgischen Blickwinkels die eigenen Erfahrungen und Identität sinnvoll verknüpfen (Ritivoi 2002: 29). Dickinson und Erben sehen in der identitätsstärkenden Funktion von Nostalgie einen wichtigen Bestandteil des autobiographischen Gedächtnisses, da durch nostalgische Erinnerungen ein emotionaler Grundstock angelegt werde, durch den die persönliche Lebensentwicklung besser wahrgenommen und wertgeschätzt werden könne: „The recall of nostalgic moments develops the autobiographical facility and nostalgic accounts provide a significant category for analysing selves. If nostalgic recall is more common in a contemporary society that offers individuals few effective general meaning systems it is likely to be not because of a simplistic wish for golden days, but because the integrative features of the nostalgic episode are needed to bolster the integrative capacity of the present self" (Dickinson/Erben 2006: 242 - Hervorh. im Orig.).

482

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

Die Psychologen Constantine Sedikides, T i m Wildschut u n d Denis Baden haben neben der Erweiterung des Selbst durch Festigung u n d A n r e i c h e r u n g v o n Identität (siehe auch Nikelly 2 0 0 4 : 1 9 5 ) zwei weitere grundsätzliche Funktionen v o n Nostalgie herausgearbeitet: Die Stärkung des kulturellen Weltbildes einerseits u n d sozialer Beziehungen durch Kräftigung

interpersonaler

Verbindungen

andererseits

(Sedikides/Wildschut/Baden

2 0 0 4 ) . ,,[N]ostalgia is an i m p o r t a n t and multi-faceted weapon in the arsenal o f self-defenses" (Sedikides u.a. 2 0 0 8 : 2 3 1 ) u n d damit auch ein effektives Instrument zur mentalen Alltagsflucht (Sedikides/Wildschut/Baden 2 0 0 4 : 2 0 6 ) . D o c h dürfe Nostalgie nicht als ein Streben missverstanden werden, in der Vergangenheit leben zu wollen (Smith 2 0 0 0 b : 5 2 3 ) . Vielmehr ermöglicht sie eine aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, i n d e m sie ein Repositorium positiver Gefühle erstellt u n d damit ein positives Selbstbild bewahre u n d unterstützt. Die frühere Charakterisierung v o n Nostalgie durch stark negative Gefühlskonnotationen 1 8 5 ist einer durchweg positiven emotionalen Klassifizierung gewichen ( B a t c h o 1 9 9 8 :

185 Der Arzt und Humanist Johannes Hofer untersuchte im 17. Jahrhundert krankhaftes Heimweh bei Schweizer Soldaten, die überwiegend im Dienste deutscher Adlige in fremden Ländern kämpften und starke Symptome von pathologischer Sehnsucht an die Heimat zeigten. Hofer diagnostizierte Nostalgie, in seinem Sinne eine Hirnkrankheit, bei der lange Trennung vom Vaterland den animalischen Geist im Mittelhirn zum Vibrieren bringe (Anspach 1934: 384). Hofer erkannte zahlreiche Symptome wie anhaltende Betrübtheit, Gedankenfixierung auf das Heimatland, Schlafstörungen, Kraftlosigkeit, Hunger, Durst, Trübung der Sinne, starkes Herzklopfen, stetes Seufzen und sogar „Verdummung" (vgl. ebd. 386). Dieses Nostalgieverständnis umfasste also vornehmlich die negativen Auswirkungen von nostalgischen Zuständen auf Körper und Geist. Hofers Begriffssetzung lag nahe, schließlich ist Nostalgie auch etymologisch eng mit dem Heimwehbegriff verschmolzen: Das griechische Wort Nostos bedeutet Heimkehr und Algos wird mit „Schmerz" übersetzt. Dass sich die Söldner durch die Kriegsgräuel in obsessive Visionen an Bilder ihrer friedlichen Heimat flüchteten, war dem Mediziner eindrucksvoller Beleg dafür, dass das Gehirn nur eingeschränkt funktionstüchtig sei. Auch heute noch werden psychosomantische Krankheitsfälle von Nostalgie diagnostiziert: Der Psychoanalytiker Kaplan (Kaplan 1987) schilderte Fälle von Geistesverwirrung, bei denen eine extreme Form von psychischer Überforderungen zu einer krankhaften Form von Nostalgie geführt hat. Solche „nostalgischen Persönlichkeiten" fühlen sich laut Kaplan von ihrer Umwelt überholt und können nicht mehr Schritt halten, so dass sie sich in eine idealisierte Vergangenheit flüchten, in der sie ein Gefühl verlorener Unschuld suchen: „This then becomes a holiday from external reality and an idealized attempt to maintain strength and esteem" (ebd.: 475). Häufig gerierten sich beispielsweise männliche Patienten als berühmte Sportler oder Filmhelden, um sich in ihre Jugend zu flüchten (ebd.). Damit unterscheide sich das Krankheitsbild deutlich von dem der Depression, durch das Vergangenes nicht in positiver Form erinnert wird, sondern in Traurigkeit und einem Gefühl der Leere mündet. Trotz der teils starken Ausprägung pathologischer Nostalgie dürfe daraus aber laut Hertz keineswegs gefolgert werden, dass die Sehnsucht nach einer heilen Vergangenheit mit einer Ablehnung der gegenwärtigen Situation des Betroffenen einhergeht (Herz 1990: 194), obgleich sie mit einer im Vergleich zur „golden past" (Blustein 2008: 10) etwas negativeren Einstellung betrachtet wird. Nostalgie hat vielmehr das Potenzial, Verlustgefühle zu mildern und das Selbstbewusstsein zu stärken, was Kaplan zu der Schlussfolgerung bewegte, es handele sich bei Nostalgie um eine Form kompensatorischen Narzissmus (Kaplan 1987:482). Solche Art von krankhafter Nostalgie wird vor

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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430), die zwar Elemente von Traurigkeit aufweist, aber im Sinne eines Bedauerns verstanden werden sollte (Hart 1973: 404; Casey 1987: 361; Dickinson/Erben 2006). Positive Gefühle wie Wärme, Freude, Dankbarkeit, Zuneigung und Unschuld werden mit der Erkenntnis vermischt, dass die Vergangenheit nicht mehr zurückgebracht werden kann (Holak/Havlena 1998: 222). Wilson führt hier das Beispiel einer gescheiterten Liebesbeziehung an: „That which is presently unattainable is not only valuable, but idealized. The individual realizes that what is being remembered was attainable in the past" (Wilson 2005:24 - Hervorh. im Orig.). Sedikides und Kollegen verstehen Nostalgie in diesem Sinne als überwiegend positive Emotion mit bittersüßen Einflüssen, was die Autoren dazu veranlasst, Nostalgie selbst als ein eigenständiges Gefühl zu postulieren (Sedikides/Wildschut/Baden 2004: 203). Die als bittersüß beschriebene Gefühlsart nostalgischer Erinnerung resultiert nach Kaplan aus einem gewissen depressiven Moment in der Form der Erkenntnis, dass die Vergangenheit nicht zurückgebracht werden kann (Kaplan 1987: 485). Die Sehnsucht nach unwiederbringlich Vergangenem, nach einer Art „verlorenem Paradies" (Peters 1985:137), verursacht also keine dem aktuellen Selbstverständnis schädigende Wirkung, sondern eine aufbauende, gar motivierende Seelenlage. So sehr etwas in der Vergangenheit erreichbar war, ist es jetzt vorüber, dem persönlichen Einfluss durch die Fänge der Vergangenheit vollständig entzogen und nur noch als Erinnerung lebendig. Das für die Nostalgie so typische Verlustgefühl lässt sich anhand der Erinnerung an die eigene (schöne) Jugend zeigen: Der Verlust der Kindheit ist unabwendbar wie vorhersehbar und wird daher als Tatsache akzeptiert. Es lässt sich also mit Gabriel feststellen: Je stärker ein positiv konnotiertes Erlebnis in der persönlichen Lebensgeschichte als einzigartig wahrgenommen wird, desto größer ist sein nostalgischer Erinnerungswert. Das persönliche Wohlbefinden steht dabei in letzter Konsequenz stets im Vordergrund, wodurch weniger dramatische Erfahrungen leichter als Bezugspunkt nostalgischer Gefühlszustände und Erinnerungskonstruktionen dienen können (vgl. Gabriel 1993: 132). Holak und Havlena betonen den komplexen Charakter von Nostalgie als Kombination von Freude und Traurigkeit, Dankbarkeit und Verlangen, Wärme und Selbstbewusstsein (Holak/Havlena 1998: 223). Nostalgie ist daher ein zusammengesetztes Konstrukt, das je nach Bezug der Erinnerung - ob an allgemeine gesellschaftliche Aspekte, an früheren Wissenstand, die Naivität junger Jahre oder an konkrete Erlebnisse oder Objekte - verschiedene Intensitäten nostalgischer Anwandlungen annehmen kann (vgl. Batcho 1995: 141). Dabei unterscheidet sich Nostalgie in ihrer Komplexität deutlich von Phänomenen wie Sentimentalität, die nach Wilson nicht mehr sei als Gefühlsduselei: Nostalgie involviere nicht nur Gefühle, sondern auch Gedanken und sogar Verhaltensweisen, und fordere eine aktive Auswahl, was und wie es erinnert werden soll (Wilson 2005: 25). Dies spielt auch dann eine wichtige Rolle, wenn sich das nostalgische Verlangen auf einen beliebigen historischen Abschnitt richtet, der nicht mit dem autobiographischen Gedächtallem vier Bevölkerungsgruppen zugerechnet: Soldaten, Seeleuten, Immigranten sowie Schülern und Studenten, die eine gewohnte Umgebung wie beispielsweise ihr Zuhause verlassen müssen (Batcho 1995).

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

nis in Zusammenhang stehen muss: Dieses Phänomen bezeichnet Wilson als „verlagerte Nostalgie" („displaced nostalgia"). Es ist zu beobachten, wenn Personen sich nach Zeiten sehnen, die sie nicht selbst erlebt haben (Wilson 2005:89-91). Es handelt sich hierbei aber nicht um falsche Erinnerungen, sondern um die Übernahme von sozial oder kulturell überlieferten Erzählungen über frühere Zeiten, die auf die betreffende Person eine solche Faszination ausüben, dass sie nostalgische Gedanken entwickelt. So kann die betreffende Altersgruppe eines gemeinsam geteilten Erbes entbehren, das sie aneinander bindet bzw. andere ausschließt (vgl. Gabriel 1993:122). Wilson nennt als Beispiel die sogenannte Generation X der „in the shadow of the Baby Boomers" Geborenen (Wilson 2005: 91), die nach Ansicht Wilsons selbst keine einschneidenden gesellschaftlichen Ereignisse erlebt hätten, an der sie ihre kollektive Identität hätte entwickeln können. Die Autorin stellt diese Generation X ohne gemeinsame Erlebnisbasis der Generation der „Baby Boomer", also der nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen, gegenüber, die gleich eine ganze Reihe prägender kollektiver Wendepunkte der Zeitgeschichte an eigener Haut erlebt habe: den Vietnamkrieg, die Ermordung John E Kennedys und Martin Luther Kings sowie die Frauenrechts- und Bürgerrechtsbewegung in den USA (ebd.: 89). Wilson sieht die Schaffung einer Generationenidentität also als Konstruktion aus kollektiven erlebten Begebenheiten, die gleichermaßen traumatische (wie die genannten Attentate) oder nostalgische Wirkung (wie die Erfolge bei der Antidiskriminierungsbewegung) oder beides haben (wie beim Vietnamkrieg, der einerseits durch traumatische Kriegsgräuel und andererseits durch das Gemeinschaftsgefühl in der Antikriegsbewegung gekennzeichnet war). Ein Fehlen solch prägender Kollektiverfahrungen und die daraus folgende Suche nach Nostalgie-Anlässen in früheren, nicht selbst durchlebten Zeiten wertet Wilson auch als Kommentar über die gegenwärtige Lebenszustände: „The Boomer nostalgia (as exemplified by classic rock radio stations, the return of the V W Bug, the popularity of '60s clothing styles, etc.) is ubiquitous" (ebd.: 100). Die Konstitution von Nostalgie unter den Bedingungen gegenwärtiger Gefühls- und Geisteshaltungen macht sie form- und manipulierbar. Da selbst gänzlich unbekannte Geschichtsperioden nostalgische Avancen auslösen können, wird Nostalgie von dominanten Gesellschaftsgruppen generiert, provoziert und instrumentalisiert. Trotz selektiver Wahrnehmung und keineswegs vollständiger Übernahme der kulturellen Stimuli seitens des Individuums kann derlei gesellschaftlich propagierte Nostalgie auch zu generationalen oder gruppenbezogenen kollektiven Identitäten führen (ebd.: 147). Wilson attestiert der modernen Öffentlichkeit daher einen unablässigen Hang zur Nostalgie: „The dominant ideology, via the mass media, creates and sustains nostalgia" (ebd.: 99). An dieser populären Bemächtigung macht sich indes Kritik fest. Wie Gabriel feststellte, sei der Nostalgiebegriff im Laufe der Zeit dermaßen trivialisiert und sentimentalisiert worden, dass es der Forschung zunehmend schwer falle, Nostalgie als psychologisches wie soziokulturelles Konzept ernst zu nehmen (Gabriel 1993: 120). So genannte Heritage Parks wie Colonial Williamsburg oder Veranstaltungen, bei der wie in Gettysburg Geschichte lebendig von Laien nachgespielt wird, lassen die Vergan-

111.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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genheit als Faszinosum auferstehen. Die augenscheinlichste Ausprägung von Nostalgie ist die Auffassung, früher sei alles besser gewesen: die Welt übersichtlicher, der Umgang der Menschen untereinander ehrlicher, das Leben einfacher. Während die TourismusIndustrie mit gelebter Geschichte als Freizeitaktivität Nostalgie zu kreieren und befriedigen sucht, hat .Living History als Fernsehformat eine ambivalentere Zielrichtung. Der Anspruch solcher Sendungen ist der .wahrheitsgemäße Blick in die Vergangenheit ohne jegliche verklärende Nuancen, sprich: Die ahnungslosen Versuchspersonen sollen auf den harten Boden der historischen Tatsachen gebracht werden (vgl. Diffrient 2007: 46). Der Reiz des Szenarios liegt in seinem Konfliktpotenzial: Die stereotypen nostalgischen Erwartungen, die bei vielen Bewerbern erst das Interesse für ein solches Experiment wekken (vgl. Arrow 2007: 58-59; Edwards 2007: 30), der größtenteils unreflektierte Traum von einem einfacheren Leben ohne komplizierte Technik, Karrierestress und natürlich auch ohne die Dauerbeschallung durch die Massenmedien, soll demontiert werden, um gleichsam ein authentischeres Verständnis von der Alltags- und Sozialgeschichte zu vermitteln. Dabei authentifiziert die Entmystifizierung romantisierter Geschichtsbilder in einem scheinbar paradoxen Rückschluss den historischen Topos (bspw. vom Wilden Westen) und stärkt letzten Endes den Mythos und die nostalgisch-utopische Verklärung der .echten Geschichte, die für die Menschen der Gegenwart die .wahren großen Herausforderungen bereitgehalten hat (vgl. Edwards 2007): Im Lichte der Schwierigkeiten, welche die Aufgaben der Vergangenheit den Teilnehmern bereiten, wächst die Bewunderung für die Fähigkeiten, den Durchhaltewillen und Disziplin früherer Generationen. In einer ganzen Reihe an konzeptionell konformen Sendungen ließen beispielsweise ARD und ZDF die Vergangenheit wiederauferstehen: Von der Zeit um 3500 vor Christus („Steinzeit - Das Experiment" - ARD, 2007) über den schwierigen Alltag von Knechten und Mägden auf einem thüringischen Schloss im Jahre 1419 („Abenteuer Mittelalter" - ARD, 2005) und einer Atlantiküberquerung wie zu Mitte des 19. Jahrhunderts („Windstärke 8" - ARD, 2005) bis hin zum ländlichen Leben um 1900 („Schwarzwaldhaus 1902" & „1900 - Leben im Gutshaus" - beide ARD, 2003 & 2004) und den konservativen Erziehungsmethoden der 1950er Jahre („Die harte Schule der 50er Jahre" - ZDF, 2005; „Bräuteschule 1958" - ARD, 2007). Nach dem Vorbild ähnlicher Formate aus Großbritannien und den USA, wo sich unter anderem eine siebenteilige Reihe mit dem Leben in einem für das spezifische historische Umfeld repräsentativen Haus beschäftigte („The House-Series" - BBC & PBS, 2002-2006), wurde eine geringe Zahl von Bewerbern ausgewählt, um sie vorzugsweise in einem familiären Handlungskontext den aus heutiger Sicht größtenteils unangenehmen Seiten des Lebens in der Vergangenheit auszusetzen. Es handelt sich also keineswegs um romantisch-verklärte Zeitreisen, sondern um soziologische Experimente, welche die Teilnehmer in den ihnen zugewiesenen Rollen an die Grenzen des Ertragbaren treiben.186 Ausgewiesenes Ziel dieses Reality-Formates ist es, 186 Parallelen zu umstrittenen Experimenten aus der Geschichte der psychologischen Forschung zu ziehen, liegt nahe: An der Yale University wurde 1961 das sogenannte Milgram Experiment durchgeführt, mit dem untersucht werden sollte, wie viel Schmerz Menschen sich untereinander

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

die Charakterstärken und -schwächen der Teilnehmer sichtbar zu machen und ihren sich im Verlauf der Episoden vollziehenden bzw. im Idealfall am Ende des Projektes abgeschlossenen Reifezustand zu dokumentieren, um dadurch authentische Einblicke in das Leben früherer Zeiten zu geben (vgl. Gehringer 2007; Edwards 2007: 34). Eine wesentliche Funktion nimmt hierbei die Gruppenerfahrung ein. Durch das Erleben in der Gemeinschaft können auch Negativerlebnisse im Nachhinein geschönt werden, wenn sie letztlich einen positiven Ausgang nahmen und die sozialen Bindungen in der Gruppe gestärkt haben (vgl. Dickinson/Erben 2006: 234, 240; Wilson 2005: 129). Durch die nostalgische Rückbesinnung tariert die sich erinnernde Person ihre Identität in Bezug auf ihre Relevanz für andere Menschen aus, aber auch in Bezug auf deren Bedeutung für die eigene Identität, mit dem Ziel, einen Ausgleich und Harmonie zwischen dem intrapersonalen und dem interpersonalen Selbst zu erreichen (vgl. Sekidides/Wildschut/Gaertner/Routledge/Arndt 2008: 232). So mögen sich die Teilnehmer des Geschichtsexperiments ob ihrer Strapazen auch noch so elend gefühlt haben: Wenn die Qual erst einmal vorüber ist, fühlen sie sich als Teil ihrer ganz eigenen Version der Historie, deren nostalgischen Konnotationen nicht nur intakt bleiben, sondern durch die konkrete Gemeinschaftserfahrung noch verstärkt und vergegenwärtigt werden (vgl. Taddeo/Dvorak 2007: 21). Dem Zuschauer bietet sich ein ähnliches Bild, vor allem dann, wenn es sich bei dem entsprechenden Vergangenheitsausschnitt um einen Zeitraum handelt, der eigene, nostalgische Erinnerungen in Bezug auf Kindheitserfahrungen aufleben lässt. Wenn das ZDF „Die harte Schule der 50er Jahre" als Beitrag zur aktuellen Bildungsdebatte bewirbt (vgl. Büß 2005b) und nur Bewerber für die Rollen der Pädagogen auswählt, die als Schüler selbst den didaktischen Drill jener Zeit miterlebt haben, wird die nostalgische Perspektive auf ein strenges Erziehungsideal nur scheinbar konterkariert, wirkt der - wenn auch in der Rekonstruktion abgeschwächte - Züchtigungstenor der damaligen Zeit aus heutiger Sicht doch nahezu unmenschlich. Doch mögen sich eben jene vormaligen Schüler, die unter ähnlichen Sitten zu leiden hatten, in diesen Darstellungen wiederfinden und sich erinnern an den Zusammenhalt in der Klasse, die Solidarität von Freunden und womöglich auch an Streiche, mit denen das Handeln der Autoritätspersonen beantwortet wurden: „ [ W] e are the viewers mentally enacting too - playing at, reenacting, experimenting, speculating, trying to provide evidence for various understandings of the so-called past" (King 2004: 467). Die Reenactment-Formate sind also populär, weil sich die Zuschauer selbst mit der Vergangenheit in Beziehung setzen möchten, und zwar nicht nach Vorgabe

zumuten, wenn es ihnen von einer Autoritätsperson befohlen wird (vgl. Blass 2004). Zehn Jahre später experimentierte der Psychologe Philip Zimbardo an der Stanford University mit 24 Studenten an einer fiktiven Gedächtnissituation, bei der die eine Hälfte der Versuchspersonen in die Rollen der Wärter und die andere Hälfte in die der Insassen schlüpften. Das Experiment geriet bald außer Kontrolle, als sich herausstellte, dass beide Gruppen ihre Rollen unvorhergesehen intensiv adaptierten und es zu physischen und psychischen Misshandlungen kam (vgl. Zimbardo 2008).

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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einer Lesart wie im Falle von Geschichtsbüchern oder aber auch Geschichtsfilmen, sondern gleichberechtigt mit den Identifikationspersonen aus der Masse, die bis vor kurzem selbst nur Zuschauer waren und nun stellvertretend für den modernen Durchschnittsmenschen die Vergangenheit mit Haut und Haaren entdecken. Der Fernsehzuschauer beobachtet die Laien-Darsteller bei ihrem Versuch, sich auf ihre Rollen einzulassen und den rigiden Regularien und Umständen vergangener Zeiten zu entsprechen. Im Fokus des Interesses steht zwar auch die historische Exaktheit des Sets sowie der Aufgaben, die sich den Teilnehmern stellen, doch bildet diese nur den in enger Konsultation von Historikern hergestellten Rahmen für die höchst gegenwärtigen Anpassungsprobleme der Akteure sowie für den zeitlosen „good old human conflict", der sich vor überzeugender Kulisse abspielt (Gapps 2007: 70). Die Dramatisierung des Zwiespalts, der von einer Episode zur nächsten zu immer neuen Höhepunkten in der Narration führt, hat dem Format die Bezeichnung „Retro-Soap" (Büß 2005b) eingebracht: „Such historical .reality' shows on TV are one part soap opera, one part period re-creation" (King 2004: 467). Die bei der versuchten Aneignung von ungewohnten Lebensbedingungen und Wertvorstellungen entstehenden Reibungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit erregen beim Zuschauer nicht allein Empathie für die Darsteller, sondern auch für die Menschen der damaligen Zeit, und erleichtern dem Zuschauer die Wissensaneignung durch das einfache Gedankenspiel, wie er selbst reagieren würde, befände er sich in einer entsprechenden Situation bzw. hätte er in jener Zeit gelebt (vgl. Nelson 2005:143-144). So stehen die persönlichen Entwicklungsprozesse der Akteure im Vordergrund des Interesses, die abhängig sind von dem der inneren Plausibilität des historischen Rahmens verpflichteten Wahrscheinlichkeitsmoment des dargebotenen Szenarios: ,,[T]he volunteers never fully become their roles, as they adapt their historical identities to their 21st century mentalities and experiences" (Taddeo/Dvorak 2007: 18). Die Teilnehmer müssen ihre von allerlei Annehmlichkeiten geprägten Gewohnheiten ablegen und sich auf entbehrungsreiche Lebensbedingungen einstellen, die nichts mehr gemein zu haben scheinen mit dem gewöhnlichen, technisierten Alltagsleben der Gegenwart. Sie müssen mit den entfesselten Kräften der Natur zurechtkommen, sich dem „Experiment sozialer Hierarchie" (Schmidt 2003c) stellen, körperlich hart arbeiten und ihren Stolz ebenso ablegen wie auch moderne Schönheitsideale. Der regelmäßige Brükkenschlag zwischen dem Früher und Heute wird durch eingestreute Statements der Teilnehmer ergänzt, die in der Regel durch hochemotionale Gemütsäußerungen und Selbstreflexionen gekennzeichnet sind. Konkrete Bezüge zur Gegenwart werden indes auch durch Regelverstöße hergestellt, indem einzelne Teilnehmer versuchen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen mit modernen an den Drehort geschmuggelten Hilfsmitteln oder Luxusgütern erträglicher zu gestalten (vgl. Diffrient 2007: 48). Was in der televisuellen Inszenierung lebendig wird, ist also nicht die Geschichte an sich, sondern die Interrelationen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die sich in einem ständigen Wechselbad der Gefühle äußern und in Person der Teilnehmer offenbaren, welche Funktion Werte,

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Normen und Praktiken von ehedem für das Leben in der heutigen Zeit haben können: Erst wenn der Widerstand der sich sträubenden Teilnehmer durch nachhaltige Ermahnungen gebrochen ist und sie sich offen zeigen für den für sie so ungewohnten Lebensstil, stellt sich im besten Fall ein Lernprozess ein, der Ausdruck findet in dem Vorhaben, das zwischen den Teilnehmern und den Vorfahren geknüpfte empathische Band für ein bewussteres Leben in der Gegenwart einzusetzen (vgl. ebd.: 51). Weil weder der Erfahrungshorizont eines Menschen des 21. Jahrhunderts noch seine Mentalität bei einer solchen Art von Zeitreise ausgeblendet werden können, erzählen die Rekonstruktionen mehr über die Gegenwart als über die Geschichte; sie dokumentieren gegenwärtige Handlungen unter den simulierten Imperativen vergangener Zeiten. Ihr Ziel kann es daher nicht sein, evident zu zeigen, ,wie es wirklich war'. Dadurch dass dieser Anspruch aus Marketinggründen jedoch vehement unterstrichen wird, besteht die Gefahr, dass sich ein falsches Verständnis von den tatsächlichen historischen Umständen einstellt: „While there is indubitable fascination, and indeed instruction, available from watching the modern laboratory rats squirming under the microscope, the danger is that we end up misrepresenting the past by implying that it is so easy to recapture" (Cook 2004: 252). Kritisiert wird besonders die voyeuristische Komponente der Inszenierung, die Zweifel aufkommen lässt, ob nicht doch analog zu solchen Shows wie „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!" primär „die Lust des Publikums an der echten Blamage der einfältigen Schafe, die sich da haben casten lassen" (Finger 2005), bedient wird. Der mit Reality TV assoziierte Rezeptionsmodus des ,Glotzens' steht einer Lehrfunktion freilich im Wege: „Television history at its best invites us to question assumptions, be entertained but also intrigued - not simply to gloat over the travails of re-enactors or luxuriate in depictions of Edwardian splendor" (Hunt 2006: 856). Eine pauschale Aburteilung des Formates als „joking history" (Anonym 2007b) ist indes weder zutreffend noch konstruktiv.187 Nur per empirischer Einzelfallanalyse lässt sich eruieren, ob sich Bildungseffekte einstellen oder nur der sinnfreien Lust am Leid Anderer gefrönt wird. Im Idealfall ist .Living History' im Fernsehen bewusst nicht eskapistisch angelegt, sondern dient als Lehrstück über und für die Gegenwart, über ihr Verhältnis zur Vergangenheit und den sich an der Kontrastierung abzeichnenden sozialen Wandel - mehr kann nachgelebte Geschichte nicht sein. Sie banalisiert dabei die Vergangenheit aber keineswegs, sondern perspektiviert Geschichte für die Zuschauer (und in besonderer Weise für die Akteure auf dem Bildschirm) neu, indem sie zu einem imaginativen Engagement mit der Inszenierung motiviert und die Teilnehmer wie die Zuschauer in den Prozess der Geschichtsdeutung miteinbezieht (vgl. Lardellier 2005: 76). .Living History' weist also bei allen penibel an historischen Zeugnissen orientierten Rahmungen immer auch revisionistische Tendenzen auf, die dem Beteiligten wie auch dem Betrachter abgesehen von der Ereignisgeschichte ein subjektives Bild von der Alltags- und Sozialgeschichte vermitteln. Die Gegenwärtigkeit des Eindrucks verbietet daher (noch) die lebendige Rekonstruktion 187 So wurde „Steinzeit - Das Experiment" als vorbildliches Kooperationsprojekt zwischen Fernsehen, Forschern und Museen gelobt, das den Bildungsauftrag ernst nehme (Tieschky 2007).

111.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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von dunklen Kapiteln der Geschichte, die im gesellschaftlichen Bewusstsein und in ihrer politischen Relevanz rezent sind wie beispielsweise die Sklaverei respektive der Rassenkonflikt in Nordamerika oder der Nationalsozialismus, denen sich das Fernsehen auf absehbare Zeit nur auf fiktionale oder dokumentarische Weise zu nähern imstande sein wird (vgl. Kapitel M.9.2.2.), weil ein revisionistischer Umgang mit kollektiven Traumata im dramaturgischen Schema des Reality TV, gar eine affirmative Haltung zum historischen Bezugspunkt, wie sie die bisherigen Sendekonzepte aufwiesen, geltende Wertenormen verletzen würde (vgl. Taddeo/Dvorak 2007: 27). 9.2.4. Fernsehen als

Erinnerungsort

Fernsehen fungiert nicht nur, wie in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt, als „Magnet für Erinnerungen" (vgl. Nora 2001: 684), sondern auch als Generator derselben. Das raumübergreifende Massenmedium wird dann zum Erinnerungsort, wenn seine Audiovisionen mit der symbolischen Kraft persönlicher Testimonien aufgeladen werden: Das Fernsehen erinnert nicht nur (die Zuschauer) an etwas, es hat sich auch im Fernsehen ein reger Erinnerungsbetrieb entwickelt. Das Geschichtsfernsehen hat in erheblichem Maße dazu beigetragen, dass die Geschichtskonstruktion zunehmend individualisiert, emotionalisiert und privatisiert worden ist, indem es in seinen Sendungen schon früh Zeitzeugen zu Wort kommen ließ, die mit ihren Erinnerungselaborationen neue historische Quellen schufen, die letztlich den Weg für die Etablierung der wissenschaftlichen Dokumentationsmethode der Oral History ebneten (vgl. Bosch 2008: 51: 65). Nolte erkennt in dieser Hinwendung zur Subjektivität eine „Sekundarisierung" der Geschichte, die aus einer „saturierten Erforschung der Vergangenheit" resultiere: „Wenn man eigentlich schon alles weiß, fragt man noch danach, wie es wahrgenommen und erinnert worden ist" (Nolte 2005: 898). Geknüpft werde ein Netz intersubjektiver Gegenwart von Geschichte, wodurch historische Wahrheit an der Ansicht der Mehrheit ausgerichtet werde und schon lange nicht mehr in der normativen „Meistererzählung" (ebd.: 892-893). In dieser Entwicklung hin zu einer demokratisierten Schreibung von Erfahrungsgeschichte wurde die Überlegenheit der audiovisuellen Aufzeichnung von Zeitzeugengesprächen gegenüber schriftlichen Wortprotokollen oder Tonbandaufnahmen von der Geschichtswissenschaft erst spät erkannt: Noch Anfang der 1990er Jahre beklagte der Historiker und Filmemacher Dan Sipe, dass in der empirischen Geschichtsforschung noch weitgehende Zurückhaltung in Bezug auf Videoaufzeichnungen herrsche und reduktive Methoden wie die Tonaufzeichnung mit anschließender Transkription ihre Vorrangstellung behaupteten (Sipe 1991). Während die mit weniger Aufwand durchzuführende Befragung mittels Tonbandgerät einen Verlust an vielen signifikanten Gesprächsdetails bedeutet, da allein die verbale Dimensionen des Interviews festgehalten werden, stellt die Videotechnik eine Apparatur bereit, die Evidenzen auch auf visueller Ebene produzieren kann: „People speak with body language, expression, and tone. [...] The plastic nature of memory requires the fullest documentation of its presentation and for this no other medium can match moving images" (ebd.: 383). Wie der Dokumentarfilmer Hans-

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Femsehens

Dieter Grabe notwendigerweise ergänzt, werde so auch das Schweigen auf eine Frage sichtbar und lasse erkenntnisreiche Rückschlüsse auf die Person und ihre Beziehung zur Geschichte sowie den Verarbeitungsgrad ihrer Erinnerungen zu (vgl. Grabe 1988: 209). Auch der Historiker Albert Lichtblau appelliert für eine stärke Aneignung videotechnischer Arbeitsmethoden in die Geschichtswissenschaft, ohne aber gleich einen „audiovisual turn"188 zu proklamieren (Lichtblau 2007: 73). Dennoch zeigt er sich überzeugt, dass: „die Arbeit mit audiovisuellen Quellen einige zusätzliche Hinweise auf die Erinnerungsprozesse vermittelt, denn wir können mit diesem Medium Menschen beim Erinnern zusehen. Körpersprache und Gestik geben sehr oft andere Informationen als die gesprochene Sprache. Gefühlsregungen, der Klang der Stimme, Mimik und Gestik können daraufhinweisen, dass während des Erzählens eine unerwartete Erinnerung auftaucht oder dass Erinnerungen emotionale Reaktionen auslösen. Audiovisuelle Quellen erlauben es, Emotionalität und Gefühlsregungen genauer zu erkennen und diese als für die Aussagen relevante Faktoren zu beobachten" (ebd.: 69). Mit der audiovisuellen Aufzeichnung verändert sich die Bewertung aufgezeichneter Erinnerungskonstruktionen grundlegend. Es werden Fragen aufgeworfen, für die schriftliche und akustische Zeugnisse keine Antworten bereithalten können: Welchen Gesamteindruck hinterlässt die interviewte Person nicht auf den Gesprächsleiter, sondern auf den Betrachter der Gesprächsaufzeichnung? Kann sie ihre Erinnerungen in Szene setzen, also in Worte kleiden, sich verständlich ausdrücken, sich mit gestischen Mitteln erklären? Und mit besonderer Hinwendung zu einer kritischen Sicht auf die Darstellung der Vergangenheit durch den Befragten: Wie überzeugend, wie glaubhaft vermittelt er seine Erinnerungen? Audiovision generiert Evidenzen weit über die inhaltliche Plausibilität der Erzählung hinaus und ist daher primäres Anschauungsbeispiel für den konstruktiven Charakter von Geschichte wie auch der Erinnerung. Erst durch die Verschränkung des Tons mit dem Bildbeweis lassen sich die Erinnerungsprozesse der Zeitzeugen annähernd .lebensecht' nachvollziehen: Zwar bleibt der Wahrnehmungsreichtum der Face-to-FaceErfahrung des Gesprächs allein dem Fragensteller und dem anwesenden technischen Personal vorbehalten, da (auch sehr wichtige) Faktoren für die Vorbereitung und den Ablauf des Interviews wie die möglicherweise notwendigen Vorgespräche, die Überzeugungsarbeit des Forscherteams, die räumliche Umgebung, atmosphärische Details und etwaige olfaktorisch wahrzunehmende Begleiterscheinungen wie Schweißgeruch in einer Stresssituation vom Videobild nicht erfasst werden. Aufzeichnung und Wiedergabe erfolgen also unter den Bedingungen der für das AV-Medium typischen Eigenschaft der

188 Der Begriff knüpft an die Terminologie der Debatte um die wachsende Rolle von Bilddarstellungen innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Praxis an, die unter den Vokabeln Visual Turn bzw. Pictorial Turn seit Anfang der 1990er Jahre stattfindet (vgl. Liebsch 2007). Dabei wird vor allem die geschichtsvermittelnde und -prägende Kraft bildlicher Eindrücke auf die Geschichts wahrnehmung diskutiert. Für einen Überblick siehe Gugerli 1999 und Paul 2007. Mit allgemeiner Perspektive zur medialen Wende in der kulturellen Praxis siehe Mitchell 1998.

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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„Oberflächlichkeit" (vgl. Burke 2003: 178). Doch ist dem Betrachter mit dem audiovisuellen Mitschnitt des Gesprächs ein wichtiges Instrument an die Hand gegeben, um eine Erinnerungselaboration nicht nur auf inhaltlicher Ebene zu erschließen, sondern den Inhalt zugleich auch kritisch-fundierter bewerten und hinterfragen zu können. Erzählte Geschichte wird also aus erster Hand, aus dem persönlichen Blickwinkel des Befragten, plastischer, lebendiger und nachvollziehbarer. Die audiovisuelle Methode ermöglicht es derweil über die Aufzeichnung des Gesprächs hinaus auch die Erfassung der Lebensumgebung des Zeitzeugen, in der das Interview stattfindet. Auch wird der Besuch eines Ortes, mit dem Erinnerungen verbunden sind, der also eine erinnerungsfördernde Funktion auf den Zeitzeugen hat und durch die Konfrontation mit der geographisch verankerten Vergangenheit zu unvorhersehbaren Erinnerungsschüben führen kann, als wichtig und teils sogar unentbehrlich für die Durchführung von Oral History-Projekten eingestuft, weil auf diese Weise die verbale Erzählung um starke visuelle Eindrücke erweitert wird, die weit über eine illustrierende Funktion hinausreichen: „If carefully produced, background footage may have residual value that outweighs that from the associated interviews" (Fogerty 2007: 214). Andererseits weist die audiovisuell erhobene Oral History zahlreiche Fallstricke auf, die es dringlich erforderlich machen, bei der Durchführung der Interviews die Determinanten der Aufnahmeumstände beim Umgang mit dem Zeitzeugen zu berücksichtigen sowie darüber hinaus „so etwas wie eine Quellenkritik zu entwickeln, die den spezifischen Eigenarten des Mediums [...] Rechnung trägt" (Burke 2003:177), um die Réhabilitât der Befragung und ihrer Interpretation sicherzustellen. Grundsätzlich stellen affektive und emotionale Faktoren wie Empathie und Sympathie bei der Rezeption eines audiovisuell aufgenommenen Zeitzeugengesprächs einen wesentlichen, wenn auch nicht unbedingt intentionalen Manipulations- und Störmechanismus dar: ,,[0]ral histories must take account of issues of nostalgia, pride and self-justification, sorrow and regret, even trauma and pain, and of silences, both collective and individual" (Sandon 2008: 101). Das autobiographische Narrativ folgt einer meist klaren Linie, die gesellschaftliche und speziell politische Geschichtsverläufe konsequent nach dem persönlichen Empfinden wahrnehmen und priorisieren lässt. Herauszufinden, ob diese Faktoren bei Schilderungen eine Rolle spielen bzw. noch diffiziler: wie sehr sie die Schilderungen beeinflussen, da grundsätzlich von einer Beeinflussung z.B. durch Stolz, Bedauern oder Rechtfertigungsdrang ausgegangen werden muss, ist in einem zufriedenstellenden Maß kaum möglich, da audiobiographische Erinnerungen üblicherweise nicht falsifiziert werden können. Erschwerend kommt hinzu, dass die Aufzeichnung per Videokamera dem (Selbst-) Inszenierungsprinzip Vorschub leistet. Entgegen der reinen Tonaufzeichnung, in der die visuelle Ausgestaltung der Gesprächssituation keine Rolle spielt, wird der Befragte vor laufender Kamera tunlichst darauf achten, wie bildgerecht seine Erscheinung ist. Das kann zum einen die Offenheit bei der Erinnerungselaboration beeinträchtigen, wenn die Kamera sowie die technischen Mitarbeiter als störend für die intime Gesprächssituation empfunden werden. Andererseits kann sich der Zeitzeuge durch die beim Gespräch sug-

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

gerierte Medienpräsenz zu einer Dramatisierung und Sensationalisierung, vielleicht auch Fabulisierung seiner Erinnerungen hinreißen lassen. Wie der Historiker Burke in seiner Arbeit zum Quellenwert von Bildern für die geschichtswissenschaftliche Forschung angedeutet hat, können (inhaltliche, dramaturgische, technische) Interpolationen, die zu einem besseren Verständnis für die Vergangenheit führen sollen, durchaus mit guten Absichten verbunden sein (vgl. Burke 2003: 177). Dennoch unterstreiche das Problem, diese absichtlichen Verzerrungen historischer .Wirklichkeit' nur selten schlüssig als solche erkennen zu können, das Dilemma des audiovisuellen Medieninhalts, nicht die Hintergründe eines subjektiv wahrgenommenen Geschehens abbilden zu können, sondern nur das gegenwärtige Geschehen, also Interview selbst (vgl. ebd.: 178). Die daraus erwachsene Gefahr, dass Zeitzeugenbefragungen mit Schauspielern simuliert oder auch von Seiten eines nur vorgeblichen Zeitzeugen gefälscht oder manipuliert werden, ist immens, aber nicht exklusiv mit der audiovisuellen Methode verbunden. Diese erscheint jedoch dann besonders anfällig für derlei Absichten zu sein, wenn es sich um eine Aufzeichnung für einen massenmedialen Verwendungszweck handelt und die Teilnahme an einem solchen Projekt der befragten Person die Chance verspricht, Öffentlichkeit für sich und ihre Ansichten herzustellen. Schien lange Zeit der Rundfunk „geradezu prädestiniert zu sein, mit der Methode der Oral History zu arbeiten, weil er mündliche Quellen nicht in schriftliche übersetzen muss" (Gerasch 1997: 37-38), haben auch Fernsehveranstalter schon früh das Potenzial der Geschichtsaufarbeitung durch Zeitzeugenbefragungen erkannt. Anders als im Radio erscheinen die Befragten im Fernsehen noch greifbarer, ihre Erinnerungen suggerieren visuelle Plastizität, die sich in ihren Gesichtszügen und in ihrer Körperhaltung ausdrückt. Es bietet Zeitzeugen die Gelegenheit, sich direkt mit ihrem Anliegen an ein potenzielles Millionenpublikum zu richten, und dem Fernsehen verschafft das Auftreten von Zeitzeugen eine persönlichere, eine ansprechendere Darbietung historischer Themen und damit eine höhere Authentizität und Glaubwürdigkeit. So war und ist die massenmedial betriebene Oral History schon immer nicht wissenschaftlichen, sondern journalistischen Prinzipien verpflichtet - mit weitreichenden Konsequenzen für die Durchführung und vor allem Darbietung der Erhebungen. Die Befragungsleiter werden als Enthüllungsreporter (Feldstein 2004), als Detektive (Bosch 2008: 64) und weniger als Geschichtsforscher oder Archäologen (Lichtblau 2007: 71) bezeichnet. Ihnen fällt die Aufgabe zu, nicht nur die Mächtigen, Prominenten und Fachkundigen um ihre Einschätzungen und Erfahrungen zu historischen Themen zu bitten, sondern auch ganz gewöhnliche Menschen aus der Gesellschaft zu ihren Erinnerungen zu befragen. Es gilt erstens, Zeitzeugen mit aussagekräftigen Lebensgeschichten gleich welchen gesellschaftlichen Ranges ausfindig zu machen, zweitens, die betreffende Person zu einem Interview zu bewegen, in dem sie sich möglichst freimütig und umfassend zu ihren Erinnerungen äußert, und drittens, die auf einem materiellen AV-Speicher festgehaltenen Befragungsergebnisse innerhalb eines Sendekonzeptes zu kontextualisieren. Durch die Nebeneinanderstellung von .offiziellen Geschichtsbildern und privaten Erinnerungen

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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können Lücken geschlossen werden, die zwischen dem wandelbaren, sprunghaften und hochemotionalen kommunikativen Gedächtnis und dem normierten, konsensfähigen kulturellen Gedächtnis klaffen; gleichsam vollzieht sich dieser Prozess nicht primär in eng umgrenzten akademischen Sphären, sondern in der breiten Fernsehöffentlichkeit und ist daher imstande, zusätzlich auf Seiten der Zuschauer eine reflexive Relationierung von individuellen Erinnerungen mit den vermittelten Geschichtsbildern anzustoßen. Auch können sich Rezipienten ermutigt fühlen, sich selbst als Zeitzeugen zur Verfügung zu stellen, um die Allgemeinheit an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen und ihr möglicherweise historisch wertvolles Wissen weiterzugeben: „Not only are the thousands of people recording their lives documenting contemporary history for future years, they are also giving today's generations a way of assessing where we are now, at the end of the millennium" (Swain 1999). Dies weist noch einmal daraufhin, dass die durch Interviews entstehenden Inhalte nicht nur Reflexionen über die Vergangenheit bereithalten, sondern diese auch die jeweilige Gegenwart der Erinnerungskonstruktion miteinschließen. Wie leicht ersichtlich ist, stellt eine reine Gesprächssendung das wohl trefflichste Format zur ausführlichen Widmung von Sendezeit an einen Zeitzeugen dar: Da hierbei aber, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmefällen, aus Gründen des gesellschaftlichen Einflusses und der historischen Relevanz allenfalls Politiker oder berühmte Personen des Zeitgeschehens als Gesprächspartner in Frage kommen, sollen im Folgenden drei maßgebliche alternative Ansätze der Utilitarisierung von Zeitzeugenerinnerungen im Fernsehen erörtert werden, um herauszuarbeiten, welche Herausforderung und speziell welche Vorteile, aber auch Risiken sich bei der Implementierung von Erinnerungsschilderungen aus der allgemeinen Bevölkerung ergeben. Der dem Fernsehen eng verbundene Hamburger Autor und Regisseur Eberhard Fechner stand wie kein anderer für eine künstlerische Methode der Aufbereitung von Erinnerungselaborationen. In seinen Filmen zeichnete er vorzugsweise die Lebensläufe von gewöhnlichen Menschen aus der Bevölkerung nach. „Aus dem Material monatelang gesammelter Gespräche und Aussagen fügt Fechner in komplizierter Architektur und haarfeiner Seziertechnik ein Mosaik, das Zeitgeschichte und Biographien minuziös und kunstvoll verschränkt" (Blaich 1989). Mit einer bis heute beispiellos gebliebenen Montagemethode, mit der er die von ihm durchgeführten Interviews in einen dialogischen Bezug setzte, näherte er sich der .Realität' „neugierig, aktiv, lustvoll, humorig, oft sarkastisch" (Netenjakob 1989:134) an. Im Gespräch mit dem Film- und Fernsehwissenschaftler Egon Netenjakob äußerte sich Fechner: „Wie Du weißt, möchte ich diese Filme nicht als dokumentarisch bewertet haben, auch nicht als Spielfilme oder als Interview-Filme, wir haben keinen Namen dafür. Es sind Erzählungen, filmische Erzählungen, in denen eine Reihe von Menschen jeweils von etwas berichten, zum größten Teil Geschichten aus ihrem Leben, und das Ganze ergibt dann ein Bild. Aber nicht nur im Sinne von ,Was ist da passiert', sondern auch .Warum ist da etwas passiert', ,Was ist in diesen Menschen vorgegangen und ,Wie haben sie seelisch darauf reagiert'" (zitiert nach Netenjakob 1989:135).

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Die Hintergründe der Geschichte, den Blickwinkel der .kleinen Leute', versuchte Fechner zu ergründen, indem er sich der Vergangenheit als einer Geschichte „von unten", so der Untertitel seines Fernsehzweiteilers „Tadelloser & Wolff" nach dem Roman von Walter Kempowski, näherte. Anhand individueller Lebensgeschichten stellte er Bezüge zu den großen Zeitläuften her, um die Geschichte in ihrer polyperspektivischen Konstitution zu erfassen; Fechner selbst begründete sein Vorgehen wie folgt: „Ausgangspunkt meiner Arbeit als Regisseur und Autor ist für mich der Mensch in der Geschichte. [...] Mich interessieren nur Stoffe, die weder in der subjektiven Problematik eines Einzelnen noch in der abstrakten Problematik der Geschichte steckenbleiben. Im Zentrum jeder meiner Arbeit muss der Mensch stehen, und zwar in seiner genau fixierten geschichtlichen Dimension. Nur dann lässt sich durch das Private auch das Allgemeine darstellen. Nur dann gibt es dem Zuschauer die Möglichkeit, sich weder einen Vortrag über Zeitgeschichte anzuhören noch die Nabelschau eines nicht interessierenden Problemfalles verfolgen zu müssen" (Fechner 1977: 7-8). Sein systematisch verfolgtes Ziel, die sich wandelnde Erinnerungskultur in Deutschland in allen gesellschaftlichen Schichten zu untersuchen, machte es notwendig, sich als Autor unkenntlich zu machen und Aussagen für sich stehen und sie im Zusammen- und Widerspiel mit anderen Aussagen wirken zu lassen (vgl. Netenjakob 1989: 227). Fechner versuchte in seinen Filmen, induktiv von der Befragung von Zeitzeugen ausgehend, sich der .historischen Wahrheit' anzunähern, indes wissentlich, dass diese durch die stets subjektiv empfundene Wirklichkeit nie verifiziert werden kann (vgl. ebd.: 138-139). Umso wichtiger ist bei der Rezeption von Fechners Arbeiten die aktive Rolle des Zuschauers, der sich auf die komplexe Web-Struktur der Gesprächs- und Argumentationsverläufe einlassen und seine Imagination einsetzen muss, um sich auf die Suche nach der in Frage stehenden Wahrheit zu begeben. So wird der Zuschauer gezwungen, sich (immer wieder neu) eine Meinung zu bilden, diese auch wieder zu revidieren und in diesem Zuge bei einer wiederholten Rezeption stets neue Perspektiven auf die wiedergegebenen Aussagen einzunehmen (vgl. Emmelius 1996: 264-265). Der Rezipient befindet sich gemäß der para-sozialen Qualitäten audiovisueller Oral History quasi in einem ergebnisoffenen Dialog mit den Interviewten: ,,[T]he viewer is empowered while the narrators story is less mediated; he or she is in more direct communication with the audience" (Sipe 1991: 383). „Entstanden ist auf diese Weise im Verlauf von zwanzig Jahren ein Gemälde deutscher Geschichte und Gesellschaft, behutsam zusammengefügt aus akribisch gezeichneten Einzelportraits der unterschiedlichen Klassen: Proletariern, Großbürgern, Aristokraten, Kleinbürgern, Künstlern. Geschichte sichtbar gemacht an einzelnen Menschen" (Blaich 1989). Eberhard Fechner gehörte zu den wenigen Regisseuren und Autoren, die in besonders prägender televisueller Weise die kollektive Biographie der Bundesrepublik geschrieben bzw. gedreht haben (vgl. Hickethier 1994c: 327). Daher sind es nie einzelne Stimmen, die

111.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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in Fechners Filmen zu Worte kommen, sondern sie mischen sich in ihrer Vielfalt zu Erfahrungs- und Deutungskollektiven, die sich je nach Parteilichkeit von anderen unterscheiden lassen und nicht selten im Widerspruch zu diesen stehen, so dass die Gegensätzlichkeit im Endeffekt ausbalanciert wird. So verknüpfte Fechner Aussagen beispielsweise zu einem fiktiven Dialog, welchen zu dechiffrieren und zu bewerten dem Zuschauer obliegt. Schließlich wird, wie Emmelius am Beispiel des dreiteiligen Gerichtsfilms „Der Prozess" über das spektakuläre Verfahren über die Verbrechen im nationalsozialistischen Konzentrationslager Majdanek zeigt, die Subjektivität der zu Tage geförderten Erinnerungen durch ihre dialogisierte Gegenüberstellung kompensiert und führt „zu einem intensiveren Bild vom Zusammenhang aller Dinge jenseits der ganz persönlichen Erinnerung und jenseits der historischen Überlieferung" (Emmelius 1996:264). Für eine solch intime und auf intellektueller ebenso wie auf intuitiver Ebene stattfindende Auseinandersetzung mit der Problematik der Rekonstruktion von Geschichte fand Fechner im Fernsehen ein Medium, dass anders als das Kino eine breite, volksnahe Rezeption möglich machte. 189 Wenn auch Fechner in seiner Funktion als Autor und Regisseur bei der Produktion seiner Filme bestimmten Leitmotiven folgte und mit der Kompilation von ausgewählten Gesprächsausschnitte eine bestimmte Lesart vorzugeben wusste, zog er sich doch als Künstler zurück, um die Dramaturgie der zusammengestellten Erinnerungen für sich sprechen zu lassen (vgl. Blaich 1989): ,,[D]er Autor Fechner verbirgt, dass er eine Meinung hat, ist u m auffällige Neutralität bemüht" (Emmelius 1996: 268). Zu Fechners Film „Klassenphoto" von 1971, in dem die Versäumnisse bei der Bewältigung der faschistischen Vergangenheit anhand einiger ehemaliger Schüler des Abiturjahrgangs 1937 beschrieben werden, schrieb der Filmwissenschaftler Josef Nagel: „Alleine die sprachlichen Formulierungen, die ständigen Entschuldigungen, Ausreden und Verharmlosungen der faschistischen Machthaber und ihrer Methoden sprechen für sich. Fetzen, ungenaue Augenblicke, eine reduzierte Empfindlichkeit für die Grausamkeiten, den Terror kommen da zum Vorschein, belegen so indirekt, dass eine wirkliche, vor allem geistige Auseinandersetzung und positive Bewältigung des Dritten Reichs nur in Ansätzen, schmalspurig stattgefunden hat" (Nagel 1984:27 - Hervorh. LK). Fechners Methode, sich nur indirekt, stets u m Vorsicht und Zurückhaltung bemüht und doch mit entlarvender Genauigkeit den Vergangenheitsentwürfen seiner authentischen Protagonisten zu nähern und sie zur Diskussion zu stellen, stellt die wohl künstlerisch wie dokumentarisch ambitionierteste Form der Nutzbarmachung von Oral History für die Fernseharbeit dar. Fechner zufolge müsse sich die Ästhetik von Produktionen, die mit Zeitzeugenerinnerungen arbeiten, aus dem Inhalt selbst entwickeln. Sie sei ein Zufallsprodukt (vgl. Lohr 1995:42). Damit bezog er schon früh gegen eine Tendenz des Geschichtsfernsehens Stellung, die sich nach seinem Tod im Jahre 1992 weiter konkretisierte. 189 Umso schwerer traf es Fechner, dass einige seiner Filme in die Dritten Programme des öffentlichrechtlichen Fernsehens .abgeschoben' wurden, wo sie eine potenziell geringere Zahl an Zuschauern erreichen würde (vgl. Mauz 1984).

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

Dass sich bei der Geschichtsdarstellung im deutschen Fernsehen die Form über den Inhalt erhoben hat, wurde, wie bereits angesprochen, unter anderem dem Fernsehhistoriker Guido Knopp angelastet, der mit seinen Sendungen zur Geschichte des .Dritten Reichs' und zur Person Adolf Hitlers einen „spezifische [n] telelvisiuelle[n] ,Look"' etabliert habe, dessen wesentlichen Merkmale in einer „Mischung aus historischem Filmmaterial und Zeitzeugen, die vor einem einheitlichen neutralen Hintergrund aufgenommen wurden und deren Statements auf wenige Sätze reduziert sind", erkannt werden (Keilbach 2004: 556). Die Markenbildung, welche die zeithistorischen Dokumentationsformate des ZDF unter Knopps Leitung auf dramaturgischer und ästhetischer Ebene erfuhren, setzt auf eine Wiedererkennbarkeit des visuellen Duktus, der zudem ein internationales Publikum ansprechen soll. Es ist sicherlich nicht allein dem Erfolg dieser Ästhetisierungsstrategie im Mainzer Sendezentrum geschuldet, dass sich auch in anderen Fernsehnationen wie Großbritannien und den USA ein ähnlicher Wandel vollzogen hat:190 Zeitzeugen werden vermehrt als Stichwortgeber eingesetzt, deren ausführliche Lebensbeichten als Fundus dienen, aus denen kurze Clips in den Erzählfluss einer Geschichtsdokumentation bzw. eines Doku-Dramas eingeschnitten werden, um die ,große Erzählung', bebildert mit dokumentarischen und/oder nachgespielten Filmaufnahmen, zu illustrieren. Zudem ermöglichte die Einführung eines schwarzen Aufnahmehintergrunds bei Zeitzeugeninterviews und die damit erfolgte Beseitigung jeglicher örtlicher Referenzen wie der Inneneinrichtung des Wohnzimmers oder das Landschafts-/Straßen-/Architekturbild im Hintergrund des Gesprächssettings eine vielseitigere und vor allem zeitunabhängige Wiederverwendbarkeit des Interviewmaterials: Durch die räumlich und, abgesehen von den Altersmerkmalen der befragten Person, auch zeitliche Dekontextualisierung der Gespräche werden diese tendenziell geschichts- und ortlos (Bosch 2008: 68). Nolte hat mit Blick auf traumatische Erinnerungen an die „mörderische Vergangenheit" Deutschlands darauf hingewiesen, wie sehr das kollektive Gedächtnis an bestimmte Orte geknüpft ist und es eben nicht als „anthropologische Universalie" eingesetzt, ja gehandelt werden kann (vgl. Nolte 2005: 891). Gleiches gilt für die persönlichen Erinnerungen, die in der Kürze eines Clips, je nach Bedarf „,häppchenweise' als .authentische' Geschichtsgeschichten" in thematisch passende Sendungen eingestreut (vgl. Welzer 2002b), ihres Sinns und ihrer Bedeutung beraubt werden.191 190 Vgl. beispielsweise die 26 Episoden des Jahrhundertrückblicks „People's Century 1900-1999", eine Co-Produktion von BBC und dem öffentlichen Fernsehsender WGBH aus Boston. 191 Eine Pervertierung fand diese Form der Oral History in einigen Rückblicksendungen des Privatfernsehens auf die Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sowie in Shows, in denen Musikhitlisten mit historischer Perspektive erstellt und kommentiert werden. Hier verkommt die erinnernde Erzählung durch die Befragten zum sinnfreien, auch opportunistischen Spaßelement, dessen Form der Statement-Kompilation von Prominenz der Populärkultur, aufgenommen vor sogenannten Green Screens, die per digitaler Schnitttechniken das Einfügen der Gesprächsaufzeichnungen in einen beliebigen Bildkontext ermöglichen sowie die spielerische Implementierung der betreffenden Person in ein szenisches Setting oder die graphische Bearbeitung (wie Multiplikation des Bildes, Kreiseleffekte etc.) nach sich zogen.

111.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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Die Erinnerungen von Zeitzeugen werden somit zu einer beliebig einsetzbaren Rohmasse, deren primärer Zweck es beispielsweise sein kann, die Funktion des auktorialen Erzählers zu stärken (vgl. Grabe 1988: 210) oder aber durch die Vielstimmigkeit der zu Worte kommenden Zeitzeugen eine Nihilierung der Erklärfunktion des Erzählers zu bewirken. So wurde Knopps Produktionen attestiert, sie würden alle eingebundenen Aussagen egalisieren: Die Funktionen der Zeitzeugen - ob Opfer oder Täter - ebenso wie jene der Fachleute aus Politik oder Wissenschaft seien in der Dramaturgie der Erinnerungskompilation für das Auge des Zuschauers kaum noch bewert- und unterscheidbar. Zeitzeugen wird damit tendenziell dieselbe Deutungshoheit wie Historikern zugewiesen, worin Bosch nicht weniger als die Gefährdung wissenschaftlich gesicherten Wissens zu erkennen glaubt (Bosch 2008: 68). Diese Befürchtung ist sicherlich etwas überspannt, schließlich werden die Befragten in ihren historischen bzw. jetzigen Rollen - z.B. als Flakhelfer während des Zweiten Weltkrieges oder als Historiker in der Gegenwart - identifiziert. Dennoch weist die Ballung von Interviewausschnitten in den oftmals nur 45 Minuten dauernden Sendungen tatsächlich eine Tendenz zur Gleichsetzung auf, die so zwar nicht vom Produzenten vorgesehen ist, aber sich beim Zuschauer aufgrund der verdichteten, ästhetisierten Präsentationsform einstellen kann. Ein anders als die beiden zuvor skizzierten Produktionsstrategien stärker auf die kontextuelle Dimension der Oral History abzielendes Fernsehformat ging bereits 1979 bei der britischen BBC auf Sendung und wurde unter anderem von PBS in den USA (1997-) und der kanadischen CBC (2005-) adaptiert: „The Antiques Roadshow" hat nach Ansicht des Historikers Raphael Samuel die Idee des Sammeins ebenso in allen Gesellschaftskreisen salonfähig gemacht, wie die Sendung das Interesse in die Geschichte befördert habe (Samuel 1994: 235). Mindestens genauso bedeutet ist die Funktion der Show als Forum für das erinnernde Erzählen am Beispiel materieller Kulturgüter. Das Sendekonzept zielt zwar in erster Linie auf das Interesse von Zuschauern, Antiquitäten aus dem Familienbesitz oder solche, die z.B. günstig in Trödelmärkten erworben wurden, von Fachleuten bewerten zu lassen, löst also insofern die Forderung nach physischer Manifestierung von Erinnerungselaborationen ein, welche dekontextualisierte Zeitzeugenbefragungen vor homogener Studiokulisse vermissen lassen. Maximal dürfen pro Person zwei Gegenstände vorgelegt werden. Mit dem verlockenden Aussicht, einen wertvollen Schatz zu besitzen, dessen Wert bis dato unterschätzt wurde, mag die Show eine kommerziell gefärbte Sicht auf die Vergangenheit kultivieren, die Ausdruck ist „of a nostalgia that is materialist in nature and can therefore be bought, bartered, or simply put on display" (Diffrient 2007: 51). Zugleich aber stiftet sie Zuschauer dazu an, sich mit den dinghaften Überlieferungen aus der Familiengeschichte zu beschäftigen, sich zu entsinnen, welche Geschichte der Gegenstand besitzt, der sodann zu einem Erinnerungsstück avanciert und im Fernsehen mit einer entsprechenden Erzählung vorgestellt wird. „The Antiques Roadshow" verknüpft auf diese Weise geschickt das gegenwärtige Streben nach Wohlstand und Reichtum sowie nach aussagekräftiger Anerkennung der Besitztümer, durch welche der personalen Identität in der materiellen Kultur Ausdruck verliehen wird (vgl.

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

Woodward 2007: 133-150), mit der emphatischen Botschaft, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit sich nicht allein (aber auch) finanziell lohnen kann, letztlich aber die Reflexion an sich und die aus ihr entstehenden Erkenntnisse zählen. Jede Episode wird in einer anderen Stadt aufgenommen, abgesehen von Doppelfolgen oder Spezialsendungen aus bestimmten Ballungsgebieten, um Zuschauern aus dem vollständigen Sendegebiet eine Teilnahme ohne umständlichen Reiseaufwand zu ermöglichen. Der Eintritt ist frei, entsprechend lang sind die Warteschlangen, da bei jeder Aufzeichnung von durchschnittlich mehreren tausend Besitzern ein Bewertungsinteresse besteht: „As for the percentage of great finds, more than 7,000 average a roadshow taping. Each of them is allowed to bring two items. Of those 14,000 items, there might be 200 really nice things: 100 great things and 50 ,Roadshow moments' But it's not always the value that determines whether a piece will make the cut on our show. If there is a great family history, rarity or just a wonderful story behind how that person came to have the item, we find that just as exciting as something worth a lot of money" (Spencer 2004). Die Auswahl derjenigen Personen, die ihre Antiquität in der Sendung präsentieren und ihre Geschichte erzählen dürfen, erfolgt also nach wenig stichhaltigen Kriterien, die sich vor allem nach der Originalität des Gegenstandes bzw. der Erzählung richten. Auch hier besteht das erhöhte Risiko einer zweckmäßigen Selbstinszenierung wie beispielsweise durch die Erfindung einer fiktiven Herkunftsgeschichte des Gegenstandes, um kurzweilige Fernsehpräsenz zu erhalten. Diese Gefahr wird aber offenbar in Kauf genommen und bei der schieren Masse an Interessierten als relativ gering eingeschätzt. Wie die ehemalige Moderatorin der Sendung Lara Spencer in dem oben angeführten Zitat andeutet, werden die geschilderten Familiengeschichten nicht hinterfragt, sondern mit einer grundsätzlich positiven Haltung affirmativ behandelt. Das Expertenurteil über den monetären Wert einer Antiquität ist also nicht als Falsifikation der mit ihr verbundenen Erinnerungen bzw. tradierten Mythen zu verstehen. Das schließt aber natürlich nicht aus, dass die professionelle Einordnung eines Artefaktes in den historischen und gattungsspezifischen Zusammenhang von den Zuschauern als Korrektiv verstanden wird und sie sich daran bei der Entscheidung, ob die Erzählung des Besitzers glaubwürdig ist oder nicht, orientieren. Was das Beispiel der „Antiques Roadshow" darüber hinaus anschaulich macht, sind die Darstellungs- und Zugangsmöglichkeiten zu Zeitzeugenerinnerungen durch die Konvergenz von Fernsehen und Internet: Privatleute, die es mit ihren Objekten nicht in die Fernsehsendung geschafft haben, erzählen ihre persönlichen Geschichten vor einer fest installierten Kamera, unabhängig von einer resümierenden Einschätzung seitens der Experten. Obwohl es sich bei diesen kurzen Erzählungen nicht um Interviewsituationen handelt, sondern um knapp formulierte und oftmals retardierende Beschreibungen des mitgebrachten Gegenstandes, zeigt sich die Stärke der Institution Fernsehen, die Erinnerungen einer breiten Masse an Menschen audiovisuell zu erfassen und auf multimedialen Kanälen zugänglich zu machen. Diese Stärke in den Dienst der Wissenschaft und somit

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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der historischen Erkenntnis und Aufklärung zu stellen, haben sich unter anderem zwei Initiativen verschrieben, die dem Geschichtsfernsehen als Erinnerungsgenerator eine Aufgabe zusprechen, die bisher kaum zur Geltung gebracht wurde: Durch professionelles Produktionsequipment, versiertes und fachkundiges Personal sowie einer angemessenen Budgetierung hat sich das Fernsehen als eine wichtige Triebfeder bei der Durchführung von Zeitzeugeninterviews erwiesen und kann einen wichtigen Beitrag zur Oral History leisten, auch wenn nur ein Bruchteil der anfallenden Aufzeichnungen im regulären Fernsehprogramm gesendet wird. So hat die Produktionsfirma Blackside, Inc. den vollständigen Bestand ihrer im Rahmen der vielfach preisgekrönten Geschichtsdokumentation „Eyes on the Prize" über die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung durchgeführten Interviews in Kooperation mit der Washington University in St. Louis in voller Länge der Forschung zur Verfügung gestellt. Für einen Teil des Materials wurden zudem Transkripte angefertigt, die für jedermann im Internet abrufbar sind. Die auf Film und Videobändern vorliegenden Gesprächsaufzeichnungen sind bereits bzw. sollen noch nach und nach digitalisiert werden, um eine komfortablere Zugangsmöglichkeit zu schaffen.192 In Deutschland wurde aus der redaktionellen Arbeit der Abteilung Zeitgeschichte beim ZDF heraus unter dem Vorsitz von Guido Knopp ein Verein mit dem Namen „Augen der Geschichte" gegründet, dessen Satzungsziel es ist, „persönliche Erinnerungen von Zeitzeugen zur deutschen Geschichte durch die elektronischen Medien aufzuzeichnen und zu dokumentieren" sowie langfristig „die Schaffung einer digitalen deutschen Zeitzeugen-Datenbank, die zu Bildungs- und wissenschaftlichen Zwecken von Interessenten (u. a. Publizistik, Schulen, Universitäten, Museen) multimedial genutzt werden kann" (Augen der Geschichte e.V. 2006).193 Indem der Verein die eingeschränkten Möglichkeiten der Zugänglichmachung von Oral History-Interviews im Rahmen des Fernsehprogramms zugesteht, verfolgt er einen pluralistischen Ansatz, um die aufgezeichneten Erinnerungselaborationen zu sichern und zugänglich zu machen (vgl. Knopp 2004: 94). Unter dem Titel „Unsere Geschichte - Das Gedächtnis der Nation" sollen in den Jahren 2009 bis 2012 jährlich etwa 5.000 Interviews geführt werden, so dass am Ende der Laufzeit ungefähr 20.000 Zeitzeugen befragt worden sein werden.194 Hierzu fahren zwei

192 Die Henry Hampton Collection, benannt nach dem verantwortlichen Fernsehproduzenten Henry Hampton, Geschäftsführer von Blackside, Inc., ist auf den Internet-Seiten des Digital Gateways der Washington University einsehbar: http://digital.wustl.edu. 193 Gesprächsausschnitte sollen auch weiterhin in ZDF-Sendungen sowie Formaten auf den digitalen Kanälen des Senders erscheinen, primäres Ziel ist jedoch die Zugänglichkeit des Videomaterials über das Internet. 194 Hinzu kommen die bereits seit Mitte der 1980er Jahre von der Redaktion Zeitgeschichte geführten Zeitzeugengespräche, sofern es der Überlieferungszustand der betreffenden Bänder zulässt, sowie die Interviews, die während der ersten Rundfahrt eines Jahrhundertbusses für die Sendereihen „Unser Jahrhundert" und „100 Jahre" zwischen 1998 und 2001 durchgeführt wurden. Insgesamt handelt es sich dabei etwa um 7.000 Gespräche (vgl. Brüggemann 2002). Ursprünglich war ein 20-jähriger Dauerbetrieb des Busses geplant (Römer 1998: 223-224), was indes aus Kostengründen scheiterte.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

sogenannte Jahrhundertbusse durch Deutschland und laden die Bevölkerung dazu ein, ihre Erinnerungen zur Gründung der Bundesrepublik und der DDR, zum Fall der Berliner Mauer und zur Deutschen Wiedervereinigung zu schildern und ihre damaligen Hoffnungen und Vorstellungen zu reflektieren. Ein Schwerpunkt soll die Aufarbeitung der DDR-Geschichte bilden. Flankiert wird das Projekt durch einen wissenschaftlichen Beirat, bestehend aus acht Historikern bzw. Gedächtniswissenschaftlern wie u.a. Heinrich August Winkler, Joachim Gauck, Siegfried Quandt und Harald Welzer. Parallel wird am Institut für Mediengestaltung der Fachhochschule Mainz eine Datenbankstruktur entwickelt, die das Herzstück des Internet-Portals bilden und „Pionierarbeit" bei der Erweiterung des wissenschaftlichen Arbeitens mit audiovisuellen Quellen leisten soll: So ist geplant, Hintergrundinformationen und Transkripte, die bisher für circa 8 0 Prozent der bereits geführten Gespräche vorliegen, mit dem digitalisierten Bildfluss zu verknüpfen, um jederzeit eine Querverweise und Parallellektüren zu ermöglichen. Außerdem ist die Einbindung interaktiver und dynamischer Web 2.0-Technologien vorgesehen, die das vernetzte Arbeiten größerer Nutzergruppen wie beispielsweise die Kommentierung, Kontextualisierung oder auch Bearbeitung von Inhalten auf Basis einer offenen Plattform erlauben. Mit einer solch neuartigen Form von Quellenarbeit profiliert sich das Fernsehen als Dienstleister für die Wissenschaft und für die politische und historische Bildung der allgemeinen Öffentlichkeit gleichermaßen. Der Zugang soll einem dreistufigen Reglement unterworfen sein: Ohne individualisiertes Benutzerkonto wird Zugriff auf eine Zeitleiste gestattet, die den Weg auf das redaktionelle Angebot des Portals weist und eine Auswahl über Schlagwortsuche oder ein manuelles Stöbern auf Jahr, Tag und Stunde genau ermöglicht. Einen tieferen Zugang zur Datenbank erhalten Nutzer nach Beantragung eines Benutzerkontos und können über die redaktionelle Zusammenstellung hinaus die verfügbaren Inhalte nutzen, wobei eine Nutzung der vollständigen Datenbank wissenschaftlich arbeitenden Personen und Institutionen vorbehalten bleibt. Eine solche aus Fernsehmitteln generierte Ressource erleichtert die Durchführung von Forschungsprojekten ungemein. Die weitgehend programmunabhängige Bereitstellung von ausführlichen, ungekürzten Zeitzeugeninterviews mittels der digitalen Infrastruktur des Internet, die von Fernsehveranstaltern in Nordamerika und Europa mit wachsendem Eifer vorrangig für die Vermarktung ihrer Inhalte genutzt wird, ist eine Perspektive, die über Kooperationen mit teils seit Jahrzehnten operierenden Oral History-Institutionen wie des Shoah Foundation Institutes for Visual History and Education an der University of Southern California oder dem an der Yale University beheimateten Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies hinaus eine erwägenswerte Option bietet, nicht verwendetes, ungeschnittenes Hintergrundmaterial für Interessierte zugänglich zu machen und zugleich per interaktivem Rückkanal und den Möglichkeiten der sozialen Interaktion im virtuellen Netzwerk vom Partizipationswillen der Nutzer zu profitieren. Hier sind Die folgenden Ausfuhrungen zum Projekt „Unsere Geschichte" beziehen sich auf Informationen, die Anja Greulich vom Verein „Augen der Geschichte" dem Autoren freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat (Stand: August 2008).

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III. 9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

weit über die wissenschaftliche Klientel hinaus - auch grenzüberschreitend - wichtige Impulse bei der Vermittlung historischen Wissens und erinnerungskultureller Aspekte sowie bei der Umsetzung von integrativen Projekten zur Völkerverständigung denkbar. Dass das Fernsehen durch die Expansion seiner Angebote ins Internet einem potenziell globalen Publikum das Quellenmaterial und das Instrumentarium an die Hand gibt, aktiv Erinnerungsarbeit zu leisten, sich mittels digitaler Kommunikation nach dem Prinzip der sogenannten Schwarm-Intelligenz selbst als Geschichtsforscher zu üben, ist ein Agitationsfeld, das zukünftig offensichtlich an Bedeutung gewinnen wird und auch neue Einsichten in der Geschichtswissenschaft erbringen verspricht. 9.3.

Iterative Verzerrung: Das Wieder-Holen der

Fernsehgeschichte

Neben den verschiedenen televisuellen Dokumentations- und Spielformen, Geschichte im laufenden Programm aus gegenwärtiger Sicht zu thematisieren, erfolgt ein Großteil der historischen Auseinandersetzung im Fernsehen in Form von Wiederholungen bereits gesendeter Produktionen. Im Unterschied zu gegenwärtigen zwecks Erstausstrahlung produzierten Sendeinhalten - der aktuellen Aufarbeitung historischen Quellenmaterials, der Befragung von Zeitzeugen oder der Inszenierung fiktionaler Handlungen mit historischen Referenzen - tragen Wiederholungen von Sendungen „ihre Historizität als Strukturmomente in allen ihren Bestandteilen": „sie ist ihnen eingeschrieben, ist keine inszenierte oder arrangierte" (Hickethier 1993b: 13). Hinweise auf die Vergangenheit finden sich je nach erkennbarer Differenz zur Gegenwart in allen Elementen einer solchen Sendung: Von den Frisuren der Akteure über die Auswahl und inhaltliche Aufbereitung von Themen bis hin zur handwerkliche-inszenatorischen Umsetzung der Produktion - jegliches Detail kann Einblicke in die Prinzipien, Mentalitäten und Interessen gewähren, die auf Produktions- oder Rezeptionsseite zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit vorgeherrscht haben. Dies schließt freilich auch speziell Geschichtssendungen ein, die mit der Zeit selbst zu einem Zeugnis der Geschichte werden und bei erneuter Ausstrahlung Jahre oder Jahrzehnte nach ihrer Entstehung manchmal mehr über das Charakteristische ihrer Entstehungszeit erzählen kann (vgl. ebd.: 15) als über das historische Thema, dem sie gewidmet ist: Wie wurde vor vierzig Jahren in die Vergangenheit geblickt? Wie wurden dokumentarische Ton-, Foto- und Bewegtbildüberlieferungen eingesetzt, um welche Geschichte zu erzählen? Welche Schlüsse sind aus heutiger Sicht zu ziehen über die mentalen Zustände der vergangenen Gegenwart? Während dem Zuschauer bei der Rezeption einer Wiederholung gewöhnlich nur die Auseinandersetzung mit dem Inhalt offensteht, der im Kontrast zur gewandelten Geschichtsbetrachtung in der Jetztzeit bewertet werden kann, ist ein Fernsehereignis wie „Holocaust" nur aus seinen spezifischen Diskurskontexten und den weltweit einschneidenden Konsequenzen seiner Ausstrahlung auf die Erinnerungskultur(en) heraus zu verstehen. Hieran lässt sich die nur eingeschränkte Eignung von Wiederholungen ablesen, um die historische Signifikanz einer Sendung zu erfassen.

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

Nichtsdestotrotz ist das Wieder-Holen von Fernsehgeschichte ein Programmelement, auf das kein Sender verzichten kann und möchte, rechtfertigt das Rekurrieren auf die mediale Vergangenheit doch die eigene mediale Identität und stellt das aktuelle Programmgeschehen in einen größeren, historisch fundierten Zusammenhang und vermittelt dem Zuschauer Kontinuität, ja Geborgenheit und Vertrauenswürdigkeit. Demgemäß gehört der Einsatz wiederkehrender Fragmente zur bewährten Strategie im Fernsehbetrieb: Eine der augenfälligsten Ausdruckformen sind die standardisierten Abschiedsformeln von Fernsehmoderatoren, die bisweilen ritualistische Formen annehmen: Wenn Alexander Niemetz, ehemaliger Nachrichtenmoderator beim ZDF, die Zuschauer allabendlich mit „Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, wo auch immer sie uns zugeschaut haben" in den späten Abend verabschiedete oder Edward R. Murrow am Ende seiner Sendung „See it Now" mit ernster Miene „Good Night, and Good Luck" wünschte, ohne zu vergessen, dazwischen kurz innezuhalten, zielt dies ebenso auf Zuschauerbindung durch Wiederkennung wie das Rezitieren Berthold Brechts durch den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in der Sendung „Das literarische Quartett", die stets mit den Worten beendet wurde: „Und wieder sehen wir betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen". Solche verlässlichen Redundanzen, die zu Markenzeichen der jeweiligen TV-Personae werden, finden sich auf allen Ebenen des Programmbetriebs und müssen nicht immer nur verbaler Natur sein: So vergisst der Börsenreporter Franz Zink nach seinen Kurzberichten im ZDF-„heute journal" nie, seine Verabschiedung durch den Nachrichtensprecher mit einem Senken der Augenlider zu erwidern. Andere iterative Formeln sind längst als Symbol in die Fernsehgeschichte eingegangen wie Hans Rosenthals Ausruf „Das ist Spitze!" kombiniert mit einem Luftsprung, ausgestreckten Zeigefinger und einem herzlichen Lachen. Regelmäßig auftretende Fernsehakteure versuchen also, mit bestimmten Verhaltensweisen typische Erkennungswerte zu etablieren, die sie - metaphorisch gesprochen - zu Bojen im Programmfluss avancieren lassen, zu Orientierungspunkten im Programmallerlei: „Wir brauchen diese Bilder, um uns in der Welt auszukennen - und wir kennen uns in der Welt aus, weil wir sie täglich in diesen Bildern wiederzufinden meinen. Nicht die Überraschung, sondern das Immerwiederkehrende - Thomas Gottschalks Weste, die stets eine andere ist und gerade darin ihre Kontinuität erweist; Ulrich Wikkerts Augenzwinkern am Ende der Tagesthemen, wenn er seine Anekdote vom Tage erzählt hat und zum Wetter überleitet - verbürgt die Welthaltigkeit dessen, was wir sehen und dem unser Vertrauen gilt, weil wir es schon oft eben so und nicht anders gesehen haben" (Kreimeier 1995: 35-36). Schon diese kleine beispielhafte Auswahl einiger leicht identifizierbarer Redundanzen im Programmbetrieb zeigt, wie sich der Fernsehprogrammbetrieb kontinuierlich seiner eigenen Muster erinnert. Wie die Medienwissenschaftler Heike Klippel und Hartmut Winkler betonen, werden diese Muster, die sich u.a. auch in Programmstrukturen (z.B. der .offizielle' Beginn des Fernsehabends nach der „Tagesschau" um 20:15 Uhr), in Darstellungskonventionen (z.B. Live-Reporter mit Mikrophon vor Kulisse; Nachrichtenmo-

777.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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deration mit Sprecher im Bild) oder beim Fernsehpersonal (Moderatoren, Journalisten, Schauspieler) äußern, bei jeder Verwendung neu modifiziert, um durch die „Wiederholung des Ähnlichen" (Klippel/Winkler 1994: 125) stets auf der Höhe der Zeit zu sein, ohne der visuell gestützten Corporate Identity entsagen zu müssen.195 In diesen kaum merklichen Transformationsprozessen, welche der Fernsehästhetik ihren gleichbleibend aktuellen und doch vertrauten Ausdruck verleihen, hat das Fernsehen nach Auffassung von Klippel und Winkler eine spezifische Historizität entwickelt, die sich „als andauernde Gegenwart gibt und in dieser Gegenwart Innovation und Beharrung scheinbar versöhnt" (Klippel/Winkler 1994: 134). Zwar spielen diese längerfristig wiederkehrenden Elemente bei der Etablierung eines Wiedererkennungswertes und der Schaffung eines Bewusstseins beim Zuschauer für die Kontinuität des Programmbetriebes eine wichtige Rolle, doch die eigentliche Auseinandersetzung mit der Fernsehgeschichte erfolgt in der Regel auf einer anderen Ebene: Immer dann, wenn bereits gesendetes Programmmaterial nach Jahren oder Jahrzehnten erneut ausgestrahlt wird, gewährt das Fernsehen einen Einblick in seine eigene Historie.196 Dies kann in Form von Sendeausschnitten im Rahmen einer Show erfolgen wie z.B. im Falle der populären Jahrzehnterückblicke im öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen, die durch die Vorführung überlieferten Fernsehprogramm-Materials weniger einem zeit- als vielmehr einem mediengeschichtlichen Rückblick gleichen, oder wie im Falle der zahlreichen Hitparadenshows, die Musikvideos aus der Fernsehgeschichte präsentieren. Eine vollständige Wiederausstrahlung erfahren dagegen meist Sendungen mit fiktionalen Inhalten wie Fernsehspiele oder Serien. Seltener werden Unterhaltungsshows wiederholt, obwohl das Beispiel der „Ed Sullivan Show" zeigt, dass sich solche Formate mit Einschränkungen auch noch lange Zeit nach ihrer Entstehung beim Publikum reger Beliebtheit erfreuen. Wiederholungen gehören zwar schon seit der Frühzeit des Fernsehens zum festen Bestandteil der Sendepläne, doch hat sich mit der Einführung des Kabel- und später des Satellitenfernsehens der Schwerpunkt durch den gestiegenen Bedarf an Sendeinhalten zugunsten alten Programmmaterials verschoben, womit das Fernsehen zu einem vielseitig einsetzbaren Spiegel seiner eigenen Geschichte wurde. Gerd Hallenberger sieht in der Ausweitung des Programmangebots, der Proliferation von Sendern und Gesendetem, dem exponentiell gestiegenen Bedarf an Inhalten, welche die Programmplätze zu füllen haben, das maßgebliche Kriterium bei der Veränderung des Fernsehens von einem primär aktuell orientierten Betrieb hin zu einem „lebendi195 Dennoch kommt es immer wieder zu bewussten Brüchen wie beispielsweise im Fernsehdesign, wenn sich eine einzelne Sendung oder gar ein ganzer Sender versucht, mit einem Relaunch visuell neu zu erfinden. 196 Viele Sendungen werden bereits kurze Zeit nach ihrer Erstausstrahlung wiederholt, um Zuschauern, die den ersten Termin verpasst haben, noch eine zweite Möglichkeit zur Rezeption zu geben, sowie gleichzeitig Programmplätze beispielsweise in der Nacht oder am Vormittag zu belegen, die für die Ausstrahlung neuer, finanziell aufwendiger Produktionen nicht in Frage kommen. Diese Wiederholungspraxis ist indes aus fernsehgeschichtlicher Perspektive irrelevant, da sie vorzugsweise aktuellen pragmatischen Prinzipien unterliegt und keine historische Tiefe aufweist.

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

gen Fernseharchiv" mit hohem Output an Wiederholungen (Hallenberger 2005:176; vgl. auch Kompare 2005: 139). In seiner wichtigen Arbeit zur Neuperspektivierung der Fernsehgeschichte aus der Sicht solcher medienimmanenter Vergangenheitsrepräsentationen machte der Film- und Fernsehwissenschaftler Derek Kompare auf die Legitimationsfunktion von Wiederholungen bei der Anerkennung des Fernsehens als Teil der Geschichte und des kulturellen Gedächtnisfundus aufmerksam: Indem die Programmpläne nicht allein mit neuen, sondern auch mit alten, das heißt schon einmal ausgestrahlten Produktionen bestückt wurden, sei zwangsläufig das Bewusstsein dafür gewachsen, dass es ein Fernseherbe gebe, das erhaltenswert sei und es verdiene, Aufmerksamkeit geschenkt, ja sogar Tribut gezollt zu bekommen (Kompare 2005: 102). Wiederholungen wandelten sich von einer ökonomischen Kalkulationsgröße, von einem bloßen Lückenfüller zum Schlüsselfaktor der kulturellen Rekonzeption des Fernsehens. Das Medium entdeckte sein historisch gerechtfertigtes Selbstbewusstsein und wichtiger: sein Selbstwertgefühl als kulturelles Erbe, das es fortan in immer schrankenloserer selbst-affirmativer Ausgiebigkeit auszustellen wusste. Das Fernsehen wurde auf zweierlei Weise zum „most profilic heritage generator" (ebd.: 106): Mit seinem unablässigen Produktionsbetrieb speist das Fernsehen den gesellschaftlichen Diskurs mit immer neuen zirkulierenden Inhalten und vergrößert dadurch das Repertoire an zur Verfügung stehenden Wiederholungsrepertoires. Weiterhin wird es auch nicht dem Zufall überlassen, welche Sendungen einen exponierten Platz im historischen Bewusstsein des Publikums zugewiesen bekommen, sondern dies erfolgt in Form von offensiven Wiederholungsstrategien, die singulär ereignisorientiert, in zyklischer Regelmäßigkeit oder sporadisch überraschend ausgerichtet sein können. Diesen sich langsam entwickelnden Prozess hin zu einer Anerkennung der Historizität des bis dato als geschichtslos geltenden Fernsehens terminiert Kompare in den Lauf der 1970er Jahre, als die US-amerikanischen Programmangebote gefüllt waren mit Produktionen aus den 50er und 60er Jahren und eine „lebendige Speicherbank" (vgl. ebd.: 104) für eine mediale Nostalgiewelle bildeten. Dabei befriedigte das Fernsehen ein Bedürfnis, das es selbst erzeugt hatte: Die kollektive Nostalgie, welche weite Teile der US-amerikanischen Bevölkerung in jenen Jahren erfasste, wurde als Reaktion auf die zuvorderst auch vom Fernsehen kommunizierten „threats to continuity of identity" zurückgeführt, wie sie in den gesellschaftlichen Umwälzungen seit den 1960er Jahren erkannt wurden (vgl. Davis 1977: 421-422).197 Auch Roger Aden hält Unsicherheit und den Wunsch, wieder Kontrolle über das eigene Leben zu bekommen, für einen wichtigen Faktor beim Aufleben nostalgischer Gedanken (Aden 1995:21). Wann nostalgische Gedanken in Bezug auf das Fernsehen aber tatsächlich ausgelöst werden, lässt sich nur schwer bestimmen, obgleich 197 Davis nannte hierzu unter anderem die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung zur gesellschaftlichen Gleichstellung der afroamerikanischen Bevölkerung, die Ermordung John F. Kennedys, die Emanzipierung der gleichgeschlechtlichen Liebe, die Anzweiflung des autoritären Staats- und Erziehungssystems durch die Hippie- und Studentenbewegung sowie die Legalisierung von Abtreibungen (Davis 1977: 421).

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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bestimmte Medieninhalte wie alte Fernsehsendungen ein starker Indikator für die Generierung von Nostalgie sein können. Leboe und Ansons gehen davon aus, dass immer dann eine nostalgische Reaktion hervorgerufen wird, wenn eine Erinnerung in ihrem Detail eindrucksvoll genug ist, dass sie ein positives Gefühl bei der betreffenden Person bewirkt (Leboe/Ansons 2006: 608). Diese recht allgemeine Ursachenbeschreibung lässt sich indes mithilfe von Beispielen näher eingrenzen: Während Wildschut und Kollegen zufällige Auslöser wie ein Lied oder einen Brief in Kombination mit einer unangenehmen Lebenssituation in der Gegenwart angeben (Sedikides/Wildschut/Baden 2004:210), deutet vieles darauf hin, dass Nostalgie auch intentional durch die Reaktivierung liebgewonnener Erinnerungen mittels der Rezeption von bestimmten Fernsehsendungen erzeugt werden kann. Wie in Kapitel II.6. gezeigt wurde, konstruiert, entwickelt und ändert der Mensch unablässig seine Identität mit Zunahme seiner Lebenserfahrung, versucht aber gleichzeitig die Kontinuität zu wahren. Identität ist keine stabile Einheit, sondern einem steten Wandel unterworfen und muss ständig verteidigt, erneuert und den sozialen und kulturellen Umständen angepasst werden. Nostalgische Erinnerungen können dabei helfen, den aktuellen Identitätsentwurf mit vergangenen abzugleichen (Wilson 2005: 35). Ritivoi verweist in diesem Zusammenhang auf den narrativen Charakter von Identität und die konstruktive Funktion von Nostalgie (Ritivoi 2002:168-169). Durch das stete Missverhältnis zwischen der aktuellen und der vergangenen Identitäten wird das Individuum gefordert, Sinn in seiner Lebensgeschichte zu konstruieren, was dazu animiert, sich zu erinnern und dem Wandel der Identität eine (positive) Struktur zu geben (vgl. ebd.: 54-55). Nostalgie kann also die persönliche Identität stärken und negative Gefühle wie Befremdung oder Einsamkeit in der Gegenwart abschwächen. Der nostalgische Blick in die Fernsehgeschichte bietet also weit mehr als eine kurzweilige Rückbesinnung auf vergangene Fernseherfahrungen, sondern kann therapeutische Funktionen erfüllen, welche dem Fernsehen das Wirkungspotenzial eines seelischen Sedativums verleihen. Dies betrifft auch solche Zuschauer, die keinen persönlichen Bezug zu einer bestimmten historischen Fernsehsendung haben, diese aber benutzen, um ihr nostalgisches Empfinden auszurichten.198 Fraglich ist, ob die im laufenden Programm wiederholten Fernsehüberlieferungen über ihre kollektiv erinnerungsfixierenden Qualitäten hinaus den Zuschauer dazu bringen können, sich auf reflektierte Weise der Geschichte des Mediums zu nähern. Zuschauer, die sich für eine Wiederholung entscheiden, gehen zumeist motivierter und zielgerichteter vor als solche, die Erstausstrahlungen rezipieren (vgl. Furno-Lamude/Anderson 1992). Durch das Fehlen des Neuigkeitswertes, kombiniert mit einem geringeren ÜberraschungsefFekt und einer erhöhten Vorhersagbarkeit hinsichtlich ihres Inhalts, erfordern wiederholte Ausstrahlungen auf Seiten des Zuschauers einen zusätzlichen Anreiz, der in der Regel auf einer reminiszenten Ebene zu finden ist. Im Vordergrund steht seltener die Aneignung neuer Inhalte, sondern viel198 Zur künstlichen Konstruktion nostalgischer Erinnerungen an nicht selbst erlebte Geschichtsperioden vgl. auch Kapitel III.9.2.3.

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mehr der Zweck, sich an die Sendung, frühere Rezeptionsumstände oder allgemein an ein persönliches Lebensstadium zu erinnern, häufig auch auf nostalgische Weise (ebd.: 371). Wiederholungen fungieren also als eine Art Index der eigenen Autobiographie (vgl. Nelson 1990). Die televisuelle Zeitreise erfolgt somit in den engen Bahnen des persönlichen Interessensfokus, um persönliche Erinnerungen wieder aufleben zu lassen oder sich in eine bestimmte Zeit, die eine besondere Faszination ausstrahlt, hineinzufühlen. Der Kommunikationswissenschaftler John Weispfenning hat über die Generierung und Entsprechung nostalgischer Gefühle hinaus drei wesentliche kulturelle Funktionen von Wiederholungen im Fernsehprogramm ausgemacht, welche die Fernsehgeschichte als festen Bestandteil der Zuschauerbiographien und damit auch der aktuellen Lebensumstände begreifen (Weispfenning 2003): Erstens kann durch eine gemeinschaftliche Rezeption von alten Sendungen beispielsweise in der Familie Erinnerungsgespräche stimulieren, die zu cross-generationalen Informierungseffekten führen können. Kinder erhalten durch das Fernsehprogramm einen mittelbaren Zugang zu einer Vergangenheit, die ihnen fremd sein mag, der sie sich aber über den gegenwärtig erneut ausgestrahlten Fernsehinhalt nähern können. Die Wiederholung kreiert also eine medial-personale Erzählung, welche die Lebensgeschichten von Personen an ihr Handeln als Fernsehzuschauer koppelt: „Ironically, as much as TV has been blamed for driving families appart, classic TV is becoming something, like books or records, that parents can hand down to their kids" (Poniewozik 2001: 69). Zweitens wird durch Wiederholungen die soziale Kontinuität aufrechterhalten: Während die Lebenswelt - einschließlich des Fernsehprogramms - ständigen Veränderungen unterworfen ist und für manche Menschen kaum noch Halt zu bieten scheint, stellen alte Fernsehsendungen, die regelmäßig auf die Sendepläne zurückkehren, ein beruhigendes Gegengewicht dar. Die Zeit wird quasi angehalten: Der Zuschauer kann sich mental aus der Gegenwart ausklinken und für die Dauer des wiederholten Programmteils gedanklich in die Vergangenheit zurückreisen: ,,[R]eruns allow thousands or millions of viewers to simultaneously reexperience a shared, collective past that can provide stability to their lives as they go through periods of change" (Weispfenning 2003: 173). Drittens erfüllen Wiederholungen eine konkrete Speicherfunktion für die Erinnerungen eben jener Millionen Menschen, die bestimmte Sendungen genossen und ihnen einen bestimmten Platz in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zugewiesen haben. Der wesentliche Unterschied zu anderen Erlebnissen, selbst solchen die mit privaten Schrift-, Foto- oder Filmaufzeichnungen festgehalten wurden und somit auch eine Externalisierungsfunktion erfüllen, liegt in der Verwaltungshoheit der Erinnerungsspeicher durch die Fernsehindustrie: „In a world of reruns, there's no need to remember carefully the details of a program when it is broadcast because it will be on again, or can be expected to happen again" (ebd.: 174). Alle drei Funktionen verorten das Medium und seine Geschichte im Mittelpunkt der Persönlichkeitsentwicklung. Stets ist es das Fernsehen, welches Verständigung ermöglicht, Stabilität gewährleistet und den Bezug zur eigenen Vergangenheit herstellt. Per

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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Wiederholung lassen Fernsehnutzer also nicht nur ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen aufleben, sondern verändern zugleich auch ihre Sicht auf die mediale Vergangenheit: ,,[T]he kind of old TV available to us shapes our image of TV itself" (Poniewozik 2001: 68). Die mittels einer Wiederholung kommunizierte Historizität einer Sendung prägt die Wahrnehmung von Geschichte insofern, als dass sich der Zuschauer einer audiovisuellen Vergangenheitsrepräsentation ebenso als Erfahrungssurrogat bedienen kann wie jedes anderen Fernsehinhalts. Wenn das Fernsehen als mächtigste Zirkulationsinstanz audiovisueller Inhalte seine Programmgeschichte implizit wie explizit durch die Wiederholung und Thematisierung einer bestimmten Auswahl von Überlieferungen in das Bewusstsein der Zuschauer bringt, führt dies zwangsläufig zu einem stark verzerrten, weil keineswegs repräsentativen Geschichtsbild, das weit über die Grenzen der Medienvergangenheit hinausgreifen kann. Die Fernsehwissenschaftlerin Lynn Spigel nahm eine aufschlussreiche Irritation zum Ausgangspunkt, um sich der Konstruktion von Sozialgeschichte im Bewusstsein der Zuschauer durch Wiederholungen im Fernsehen zuzuwenden (Spigel 2001). Ihre fünfjährige Nichte sei durch rege Rezeption der Sitcom „I Love Lucy" dem Irrtum aufgesessen, auch die Welt sei früher - gemäß den schwarzweißen Fernsehbildern - monochrom gewesen. Der bloße Authentizitätsschein von alten Fernsehsendungen mag für erfahrene Fernsehnutzer leicht zu falsifizieren sein, doch bei aller Vorsicht im Umgang mit der populären, weil audiovisuellen Quelle weisen Programmrelikte eine Überzeugungskraft auf, die sie von anderen historischen Quellen absetzt. Spigels Ansicht nach begünstigt die Wiederholungspraxis der Fernsehveranstalter eine televisuelle Denkrichtung in Bezug auf historische Zeiten und Zusammenhänge. Durch die Dauerpräsenz von Geschichtsdarstellungen im Fernsehprogramm speziell in Form von Wiederholungen kann der Blick auf die Vergangenheit trotz vorhandener Medienkompetenz durch die oft fiktionalen Darstellungen gelenkt werden. Gravierend ist in diesem Zusammenhang die unzureichende Auswahl dessen, was erneut in die Programmpläne aufgenommen wird: Die Selektion erfolgt in der Regel nicht nach Kriterien der Vollständigkeit oder Ausgewogenheit, sondern hauptsächlich nach ökonomischen Erwägungen. Auch die öffentlichen und öffentlich-rechtlichen Programmveranstalter strahlen vorrangig solche Sendungen erneut aus, die sich bereits in der Vergangenheit als erfolgreich erwiesen haben. Gemieden werden üblicherweise kontroverse Sendungen, die auch in der Gegenwart noch Irritationen und Unmut hervorrufen könnten, aber genauso einen Platz in der Fernsehgeschichte beanspruchen wie die übrigen Produktionen. Die Fernsehgeschichte präsentiert sich im aktuellen Programm also keineswegs so differenziert, streitbar und problematisch wie zu der jeweiligen Zeit der Erstausstrahlungen, sondern harmonisch kompiliert, nostalgisch aufgewertet und ereignishaft mit hohem Spaßfaktor kontextualisiert: Daraus resultiert nach Spigels Auffassung das höchst eindimensionale Geschichtsbild einer sozialen Institution, welche die Macht hat darüber zu entscheiden, welche Kapitel und Sichtweisen der Geschichte und speziell ihrer eigenen Geschichte ins Bewusstsein der allgemeinen Öffentlichkeit drän-

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III. Die Gedächtnisrelevanz

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gen und welche nicht (ebd.: 363-364: 374). Ausgeschlossen werden gemeinhin Sendungen, die eine Unverträglichkeit zur herrschenden Mentalität aufweisen, weil sie Gefühle bei bestimmten Publikumskreisen verletzen oder die in ihnen enthaltenen stereotypen Darstellungen Missverständnisse auslösen könnten (vgl. ebd.: 375). Die Vielfalt der Programme macht es zwar potenziell möglich, die fiktionale Fernsehgeschichte in ihrer Komplexität wieder auferstehen zu lassen, doch richtet sich die Programmplanung in erster Linie nach den Sehbedürfnissen der Zuschauer, die sich teils auch in lobbyhafter Manier organisieren, um sich per Wunschlisten für eine Wiederholung ihrer Lieblingssendungen einzusetzen.199 Das Fernsehen tradiert seine eigene Programmgeschichte durch die Zirkulation von Überlieferungen offenbar dann am effektivsten, wenn es seine kulturellen Leistungen als historische Meilensteine ausstellt und dadurch auch nachkommende Zuschauergenerationen in Scharen zu begeistern weiß, für die eine Wiederholung oftmals den Erstkontakt zu einer bestimmten Sendung darstellt. Die Gründung von Fan-Gemeinschaften rund um klassische Fernsehserien ist zu einem wesentlichen Teil auch auf diese Art von Verjüngung der Zuschauerschaft für solche Formate zurückzuführen, die verstärkt wird durch das Aufgreifen der Serienstoffe durch die Filmindustrie: Adaptionen unter anderem von „Starsky & Hutch", „Dukes of Hazzard", „Charlies Angels", „Mission Impossible", „Bewitched", „Star Trek", „A-Team" usf. erzielen regelmäßig auch international Zuschauererfolge im Kino und ebenso später bei ihrer Fernsehausstrahlung. Die Entscheidung des US-Kinderkanals Nickelodeon im Jahre 1985, sein Abend- und Nachtprogramm mit der Ausstrahlung von beliebten Sitcoms aus der Fernsehgeschichte auf eine erwachsene Zuschauerklientel auszurichten, markierte trotz der Wiederholungseuphorie der 1970er Jahre eine Trendwende im Umgang mit dem Fernseherbe im laufenden Programmbetrieb: Mit „Nick at Nite" ging ein Angebot auf Sendung, das sich ausschließlich der Pflege von Fernseherinnerungen und der Zelebrierung der Fernsehgeschichte verschrieb und das selbst jüngeren Zuschauern zu vermitteln imstande war, durch die antiquarische Note einer Sendung eine Faszination für die populärkulturelle Vergangenheit zu entwickeln (vgl. Williams 1994: 173).200 Der Ausbau des Wiederholungsprinzips von einer Programmergänzung zu einem Programmkern verwandelte es nicht zu einem Nischenphänomen, sondern sorgte dementgegen sogar für ein noch größeres Interesse seitens lokaler Fernsehstationen an Wiederholungen alter Serien, die sich als billige Alternative zu neuen Produktionen als ungemein erfolgreich beim Publikum erwiesen haben und respektable Einschaltquoten verzeichnen (vgl. Romano 2006). Der Griff in die Fernseharchive stellt für viele kleine und noch junge Sender ohne gefestigte Identität eine ,Win-Win-Situation dar: Die 199 Eine solche Möglichkeit bietet zum Beispiel das Internet-Portal www.wunschliste.tv. 200 Obwohl auf dem gleichen Sendekanal wie das Tagesprogramm von Nickelodeon ausgestrahlt, wird „Nick at Night" bei der Einschaltquotenmessung als eigenes Network geführt. Der ViacomKonzern, zu dessen Portfolio die beiden Programme gehören, verspricht sich davon eine bessere Unterscheidung zwischen dem Kinderprogramm und dem Classic TV-Angebot.

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Fernsehklassiker werten den jeweiligen Kanal auf, und der Kanal wiederum sorgt für eine Wiedereinspeisung der alten Sendung in den Rezeptionszyklus. So können auch Produktionen, die bei ihrer Erstausstrahlung eine nicht annähernd so weite Verbreitung gefunden haben, erst durch ihre Wiederholungen in unterschiedlichen Regionen, zudem über Kabel- und Satellit-Angebote ein großes Publikum erreichen. Spartenkanäle, die ihre Sendepläne größtenteils mit Wiederholungen bestreiten, investieren viel Mühe und Kreativität in die Attraktionssteigerung der alten, teils auch längst aus dem Bewusstsein entschwundenen Produktionen, die sie als einzigartige und außergewöhnliche Schätze der Programmgeschichte präsentieren, um in einem Wettbewerbsfeld unentwegter Wiederverwertung und Neuaufführung ein Publikum zu erreichen. So entwerfen sich solche Sender als „Fernseh-Boutiquen" (vgl. Kompare 2005: 172), die Programmmaterial vergangener Zeiten zu einem Luxusgut stilisieren und in einem nicht versiegen wollenden Fluss als höchstlebendige Mixtur aus Zeitgeschichte, Fernsehstilen, den kollektiven Erinnerungen ganzer Generationen sowie als zeitlose Schmuckstücke der Fernsehgeschichte anbieten (vgl. ebd.: 181). Als Extremform können die sogenannten „Marathons" bezeichnet werden, mit denen „Nick at Night" oder der 1996 gegründete Schwesterkanal „TV Land", der sein Programm rund um die Uhr mit Fernsehklassikern bestreitet, ganze Serienstaffeln an einem Stück oder in an aufeinanderfolgenden Abenden gesendeten Blöcken von mehreren Episoden eine Produktion als Kult zelebrieren, der vor allem die Event-Lust junger Zuschauer anregen soll (Spigel 2001: 361). Eine solche Ballung von sich abwechselnden Programmschwerpunkten huldigt zwar unterschiedlichen Meilensteinen der Fernsehgeschichte, diese aber erschöpfen sich mit der Zeit, wodurch sich die Dauerbespielung von Programmen mit Wiederholungen zu einem Problem auswachsen kann, das zu einem Überdruss beim Zuschauer führt. In den USA hat sich zum Beispiel trotz Erweiterung des Programmspektrums das Produktionsaufkommen im Vergleich zu früheren Zeiten durch Konzentrationsprozesse in den Besitzerstrukturen des Produktions- und Programmbetriebs deutlich verringert, was zu einem Anstieg der Wiederholungsraten und damit zu einer senderübergreifenden Monotonie geführt hat (vgl. Kompare 2005: 134). Dazu beigetragen haben auch vermehrt zu beobachtende Senderstrategien, den zeitlosen Charme von Fernsehklassikern herauszustreichen, um nicht nur die älteren Zuschauer anzusprechen, sondern auch immer wieder neue, jungen Publikumsschichten an die altbekannte Sendeware heranzuführen, um konstante Zuschauerzahlen zu gewährleisten (vgl. Keveney 2003; Williams 1994: 173). Indem senderseitig immer deutlicher auf die universelle Geltungskraft der Überlieferungen hingewiesen wird, verschieben sich deren historische Konnotationen ins Gegenwärtige: Alte Programmereignisse werden neu entdeckt und innovativ rekontextualisiert. Zwar hat Sören Kierkegaard in seiner grundlegenden Schrift über die Philosophie der Wiederholung argumentiert, Wiederholung und Erinnerung entsprächen der gleichen Bewegung, sie seien nur entgegengesetzt ausgerichtet: ,,[D]enn dasjenige, woran man sich erinnert, ist gewesen, wird rückwärts wiederholt, während die eigentliche Wiederholung eine Erinnerung in vorwärtiger Richtung

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

ist" (Kierkegaard 2000: 1). Doch obgleich die Wiederholung stets etwas Neues darstelle, übertragen auf das Fernsehen also für gleich welchen Zuschauer bei jeder erneuten Rezeption etwas Entdeckungswertes bereithalte, 201 schließe sie sich doch immer an die Vergangenheit an und könne nicht ohne sie gedacht werden: Eben darin liege ihre Bedeutung, weil sich das Leben sonst „in leeren und inhaltslosen Lärm" auflöse (ebd.: 22). Mit jedem Mal jedoch löst sich das Wiederholte mehr von seinem ursprünglichen Kontext und ist angewiesen auf historisierende Maßnahmen wie zum Beispiel Rahmungen, die in Form von Marketingmaßnahmen, speziellen erklärenden Einführungen durch Moderatoren oder Begleitsendungen vorgenommen werden können. Ohne den Verweis auf die fernsehgeschichtlichen Kontexte einer Sendung, ihrer Anerkennung, Validierung und Einordnung, besteht die Gefahr der Extinktion der Referenzen auf die Vergangenheit, die für ein historisches Bewusstsein für das Medium und seiner Produkte so notwendig sind. Entscheidend ist bei der Ausstrahlung von Wiederholungen also die Kenntlichkeit der Historizität des Sendematerials. Vor allem unerfahrene, weil beispielsweise zu junge Zuschauer können in die Irre geführt werden, sollte auf eine entsprechende Kennzeichnung verzichtet werden, da das Alter einer Sendung im laufenden Programm nicht immer ohne Weiteres festgestellt werden kann. Die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart ist im Fernsehen ein strukturelles Problem: Während ein altes Buch schon vom äußeren Erscheinungsbild her als Produkt einer früheren Zeit identifizierbar ist, werden Fernsehsendungen - ob frisch oder altbekannt - stets im Hier und Jetzt gesendet und empfangen. Zweifellos sind frühe Produktionen durch ihre visuellen Merkmale wie das Schwarzweißbild leicht von neueren Sendungen zu unterscheiden; dieses selbst für das ungeübte Auge geltende Differenzcharakteristikum gilt aber spätestens nicht mehr seit den 1990er Jahren, seitdem sich Fernsehproduktionen im Übrigen auch im Vergleich zu Kinofilmen auf technisch qualitativer Ebene kaum noch unterscheiden. 202 Unter diesen Voraussetzungen war die Entscheidung der damals sechs größten US-Networks ABC, CBS, NBC, Fox, UPN und W B im Jahr 1999, 203 der Öffentlichkeit nicht mehr automatisch mitzuteilen, ob es sich bei den Sendungen in ihren Programmen um Wiederholungen handelt (Adalian 1999), ein schwerwiegender Eingriff, der die volle Verantwortung zur Kennzeichnung bereits gesendeten Materials in die Hände der Redaktionen von Programmzeitschriften legte. Entgegen solch massiver Maßnahmen, die als Negierung der

201 Natürlich gleicht jede Wiederholung nur scheinbar der vorherigen: Die Interpretation einer Sendung wird stets aus der jeweiligen Gegenwart heraus entwickelt und kann sich daher fundamental von den vorhergehenden und nachfolgenden unterscheiden (vgl. Weispfenning 2003: 170). 202 Die Ähnlichkeit von Kino- und Fernsehfilmen sowie Fernsehserien ist mit gewachsenen Ansprüchen und Budgets der Studios frappierend. So werden für eine Produktion zur Erstausstrahlung im Fernsehen teils Millionengagen an die Schauspieler gezahlt und hohe Summen in Ausstattung und Spezialeffektentwicklung investiert. 203 UPN und W B fusionierten in 2006 zu dem Gemeinschaftsnetwork The CW.

111.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

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Programmgeschichte zum Zweck des Aktualitätsdiktums gewertet werden können,204 setzen Spartenprogramme auf die künstlerische Verklärung selbst gewöhnlicher Relikte aus dem alltäglichen Programmbetrieb der Fernsehgeschichte und entheben sie damit ihrer eigentlichen Bestimmung: „The popularity of Nick at Nite's reruns probably has less to do with the universal appeal of television art - its ability to last through generations - than with the network's strategies of recontextualization. Nickelodeon created a new reception context for old reruns by repackaging them through a camp sensibility" (Spigel 2001: 360). Spigel benutzt hier zur Beschreibung der von ihr beobachteten Neurahmung alter Sendungen einen Ausdruck, der auf einen berühmten Essay der New Yorker Schriftstellerin und Kritikerin Susan Sontag zurückgeht (Sontag 1964), aber von Spigel nicht näher spezifiziert wird. Mit „Camp Sensibility" versuchte Sontag eine bestimmte Form von Empfindsamkeit in der Kunstwahrnehmung bzw. ein Lebensgefühl in Worte zu fassen, das tatsächlich nun auch von der Fernsehindustrie als Vermarktungsstrategie eingesetzt wird, um Altbekanntes neu zu erfinden. In ihrer Aufzählung von 58 Merkmalen nennt Sontag eine Vielzahl von Faktoren, die einem Kunstwerk gleich welcher Art die besonderen Weihen des „Camp" verleihen können, aber nicht müssen. Das Werk müsse beispielsweise eine inhaltliche Aussagekraft aufweisen, doch diese rücke zugunsten seiner Oberflächenqualitäten in den Hintergrund: „Camp is the consistently aesthetic experience of the world. It incarnates a victory of .style' over .content,' .aesthetics' over .morality,' of irony over tragedy" (ebd.: 287). Das Werk müsse sein Ziel verfehlen, unter anderem weil es dieses zu sehr und zu ernsthaft anstrebe: „The whole point of Camp is to dethrone the serious" (ebd.: 288). Dabei stehe nicht die Wertung im Vordergrund, nicht die Kategorisierung in gut oder schlecht, sondern der Erlebnischarakter, die Extravaganz, die Theatralisierung der Erfahrung. „Camp" zu sein bedeutet nicht zwingend, die Ahistorisierung des betreffenden Werkes voranzutreiben, sondern im Gegenteil: Das künstlerische Produkt wird überhöht, auch und vor allem in seiner Bedeutung für die Geschichte. Selbst und vorzugsweise Triviales steht daher im Mittelpunkt des Interesses: „What was banal can, with the passage of time, become fantastic" (ebd.: 285). Auf eines weist die Autorin denn auch vor allem anderen hin: Was „Camp" ist und was nicht, kann letztlich nur der Betrachter entscheiden. Die intentionale Ausrichtung eines Produkts kulturellen Schaffens an den Kriterien muss demnach scheitern, auch weil sich der „Camp"-Kanon jederzeit und im Laufe der Zeit sowieso ändern kann. Dass trotzdem behände Versuche unternommen werden, eine „Camp Sensibility" strategisch auszubilden, lässt sich am Programmbetrieb von Sendern wie „Nick at Night" und „TV Land" anschaulich zeigen, die in unterschiedlicher Weise mittels bestimmter Vermarktungs- und Präsentationsformen versuchen, den Kult-Status ihrer Angebote zu befördern:

204 Als eigentlicher Grund wurde von den Networks angegeben, eine Gleichbehandlung im Wettbewerb mit Kabelsendern erzwingen zu wollen, die bereits auf anderen Kanälen gesendete Produktionen als Programmpremiere ankündigten, um den Reiz der Ausstrahlung zu steigern.

512

III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

- In ihrer Programmzusammenstellung lassen die Veranstalter ein ausgeprägt ironisches Verhältnis zu ihrer Senderidentität erkennen: Alle wiederholten Sendungen werden als fantastische Fernsehereignisse beworben, Perlen jenes Schatzes, den die Geschichte des Mediums bereithält. Gleich welchen Themas, Genres oder beteiligter Personen werden die Produktionen ungeachtet ihrer tatsächlichen Bedeutung für die Fernsehentwicklung gefeiert. Die undifferenzierte Euphorie der Programmpräsentation führt zu einer Egalisierung des Fernseherbes und kann den Zuschauer bei seiner subjektiven Wertzuschreibung abstumpfen. - In eingestreuten Programmpartikeln werden Anekdoten, aber auch Hintergrundberichte über die Produktion einzelner Sendungen oder über bestimmte Fernsehepochen ausgestrahlt. Sie liefern einerseits interessantes Kontextwissen, das beim Verständnis und der Einordnung so mancher Sendung behilflich sein kann. Andererseits erfolgt auch hier eine Verklärung der Vergangenheit zum Beispiel in Form fiktiver Werbefilme, die im Stil historischer Vorbildern produziert werden und die Ästhetik der historischen Werbekultur feiern. Der Inhalt dagegen ist nebensächlich, wenn nicht vollkommen irrelevant. Diese experimentelle Auseinandersetzung mit einem wichtigen Teil der Fernsehgeschichte kann zwar Einsichten über die Prinzipien des kommerziellen Fernsehbetriebs und seiner Beziehung zur Konsumentenkultur anregen, aber auch eine Irreführung von Zuschauern zur Folge haben, die an die Existenz des beworbenen Produktes glauben (vgl. Elliott 1997). Darüber hinaus erfahren einzelne Ausschnitte beliebter Serien wie „The Honeymooners" zwecks Eigenwerbung eine Bearbeitung, indem sie mit unzeitgemäßer, aber selbst bereits historischer Musik wie in diesem Fall mit dem Rap-Song „Wild Thing" der Band Tone Löc205 von 1989 untermalt werden, die einen humorvollen, ja veralbernden Kontrast herstellt. - Der Komiker und Psychologe Dr. Will Miller ging fünf Jahre lang als Fernsehtherapeut bei „Nick at Night" in kurzen Programmsegmenten der Frage „Why We Watch" nach und ergründete augenzwinkernd die seelischen Bedingungen und Begleiterscheinungen des Fernsehkonsums und der Hingabe mancher Zuschauer zu den Fernsehrelikten ihrer Kindheit. In einem Begleitbuch zur Sendung mit dem Untertitel „Killing the Gillian Within" gab er das entscheidende Stichwort, mit dem er die gesamte Wiederholungspraxis im US-Fernsehen unter den Generalverdacht einer „Camp Sensibility" stellte: „I believe the American television rerun is the path to personal peace" (Miller 1996). Wohlwissend um die traditionell kritische Haltung der Schulpädagogik und psychologie in Bezug auf das Fernsehen treibt Miller die Ironisierung auf die Spitze, indem er die Fernsehgeschichte pauschal als Allheilmittel für den psychischen Ausgleich, den inneren Frieden, preist, eigentlich aber das genaue Gegenteil suggeriert.

205 Hierbei handelt es sich nicht um eine Cover-Version des bekannten Rocksongs „Wild Thing" der Band The Troggs, der 1966 in Großbritannien und den USA hohe Chartplatzierungen erreichte und von Jimi Hendrix auf dem Monterey Festival interpretiert wurde, um daraufhin seine Gitarre zu verbrennen (vgl. Kapitel III.6.2.5.3.).

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

513

Implizit apostrophiert er damit die Verfehlung des erstrangigen Ziels des Fernsehbetriebes: Seinen Zuschauern gut zu tun, sie glücklich und zufrieden zu machen. Der ironische Blick auf das ungeliebte Medium, für dessen Erbe mittels Wiederholungen ein fluider Schrein errichtet wird, setzt sich auch in der Eigenwerbung fort: Angesichts des zum Teil immer noch zwiespältigen Verhältnisses der Gesellschaft zum meistgenutzten, aber doch verpönten Massenmedium wird in ironischen Slogans wie „preserving our precious television heritage" (vgl. Kompare 2005: 106) dem Fernsehen und seiner Vergangenheit eine ironische Würdigung zuteil, die es ermöglicht, bedenkenlos dem Laster des profanen Fernsehschauens zu frönen. Eine jCampisierung' findet hier also Ausdruck in einer offensiven Propagierung von Fernsehgeschichte als wertvolle Kulturleistung und definiert sich im Gegensatz zu den sich hartnäckig haltenden Zweifeln über die künstlerische Wertigkeit von Fernsehproduktionen. Mit anderen Worten: Aus Sicht der Wiederholungsstrategen ist Fernsehen „Camp", weil es sein großes Ziel der gesellschaftlichen Anerkennung bis heute nicht erreicht hat - trotz vielversprechender Etappenerfolge in den vergangenen 30 Jahren. Dem Zuschauer wiederum ermöglicht die „Camp"-Perspektive, stolz zu sein auf die Zeit, die gemeinsam mit dem Fernsehen verbracht worden ist und weiterhin verbracht werden wird. Die Akzeptanz des Fernsehens als fester Bestandteil der Autobiographie, was es faktisch für den Großteil der Bevölkerung in Mediengesellschaften ist, kann dadurch nur wachsen und als Voraussetzung für einen besonnenen und gerade nicht falschen, weil womöglich verschämten, unehrlichen Umgang mit der (eigenen und überindividuellen) Fernsehvergangenheit gelten. Kurzum: Fernsehgeschichte als triumphal wiederkehrendes Kult-Objekt kann weitaus größeres Verständigungsinteresse zwischen Generationen generieren als Fernsehgeschichte, die nur als akademische Disziplin existiert. Darauf weist auch die Erweckung einer zuvor nicht gekannten Sammelleidenschaft in den Reihen der Zuschauer hin, die den Vertrieb von alten Serien zu einem ungeahnten kommerziellen Erfolg machte. Der kostenintensive Erwerb aufwendig ausgestatteter DVD-Veröffentlichungen, angereichert mit Zusatzmaterialien, die neben der teils edlen Verpackung auch mit einem inhaltlichen Mehrwert zur Wiederholung im Fernsehen locken wie mit Audiokommentare der Produzenten, Regisseure und Schauspieler, Hintergrunddokumentationen oder digitalisierte Drehbücher und Storyboards, ist zu einer beliebten Alternative zur Fernsehrezeption geworden. DVD-Marathons - die Non-Stop-Rezeption einer kompletten Serie - gehören beispielsweise zur beliebten Freizeitbeschäftigung von Fans, die sich an Wochenenden treffen, um unabhängig von Sendeplänen in die Fernsehgeschichte einzutauchen: „It is important to acknowledge the real advantages gained by acquisitive repetition. Programs can now be accessed completely at the whim of the viewer, without waiting for a rerun airing, searching through commercial breaks, or travelling to distant archives. Moreover, they can be accessed in their entirety (or .better'), with scenes long deleted for syndication added back in, and images and sounds restored to a sharper glory. [...] Accordingly, DVD box sets are perhaps the ultimate form of televisual

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens repitition under capitalism, crystallizing the concept of the ephemeral rerun into a physcial commodity" (Kompare 2005: 214).

Fernsehgeschichte ist konkret, greifbar, regalkompatibel geworden. Das Fernsehprogramm als zyklischer Erinnerungsgenerator und historische Ausstellungsfläche wird durch das Publishingprinzip der DVD- und nicht zu vergessen der Online-Vermarktung (vgl. Kapitel III.5.2.7.) mittelfristig geschwächt. Die Probleme sind offenbar: Die kommerzielle Vermarktung von Fernsehsendungen richtet sich nach der kalkulierten Nachfrage. Obwohl selbst ursprünglich erfolgslose oder längst vergessen geglaubte Produktionen eine Marktveröffentlichung erfahren, verspricht auch diese Auswertung des Fernseherbes weder Vollständigkeit noch einen annähernd repräsentativen Einblick in die Schaffensbreite des Mediums vergangener Zeiten. Schlussendlich hat sich das Wieder-Holen der Fernsehgeschichte indes als vielversprechendes, wenn auch problematisches Instrument bei der Engagierung großer Publikumsmassen nicht nur mit der Historie im Allgemeinen, sondern auch mit der Vergangenheit des geschichteproduzierenden und -abbildenden Massenmediums an sich erwiesen.

9.4.

Zusammenfassung

Geschichtsfernsehen bietet allerhand stabile und ebenso okkasionelle Rahmungen, Vergangenheit multiperspektivisch zu thematisieren. „Auf kollektiver Ebene können Massenmedien die Diskussion über Geschichte und Gedenken anregen und prägen, auf individueller Ebene beispielsweise als Ressource für die Imagination von Vergangenheit dienen" (Erll 2007: 91). Wie indes im Verlauf dieses Abschnitts argumentiert wurde, beschränken sich Geschichte und Erinnerung im Fernsehen nicht allein auf die Funktion eines Hinweisreizes für den kulturellen Diskurs, die zu einer der wichtigsten und wertvollsten Leistungen des Fernsehprogrammbetriebs in Bezug auf die Beschäftigung mit der Vergangenheit bezeichnet werden kann: Fernsehen hat darüber hinaus auch die gesellschaftliche Perspektive auf Geschichte transformiert, indem es zum wesentlichen Teil dazu beigetragen hat, die Zugänge zur Vergangenheit zu pluralisieren und in kommunikativen Akten sowie mittels konstruktiver Prozesse eine „breite und vor allem mediengestützte Rethematisierung" von Geschichte anzustoßen (vgl. Brockmann 2006: 315). Die überwältigend erscheinende Präsenz von historischen Themen im laufenden Programm wird in ihrer bewusstseinsfördernden oder -störenden Wirkung ambivalent beurteilt. Jegliche Epoche ist unter Zuhilfenahme digitaler Animationstechniken und hoher Produktionsbudgets, einschließlich der Zusammenarbeit auf dem globalisierten Medienmarkt, televisuell erfahrbar geworden. Tatsache ist, dass sich das Fernsehen eingehend der Thematisierung von Geschichte widmet, unter anderem geleitet von der Gedenktageagenda, wenn es wiederkehrende Jahrestage durch seine Berichterstattung begleitet, durch die jedem Zuschauer ein mediales Dabeisein bei exklusiven Gedenkveranstaltungen ermöglicht wird, aber auch wenn es im Vorfeld zur Einstimmung und in der Nachbereitung eine Vielfalt von Begleitsendungen wie beispielsweise Kinofilme oder

III.9. Geschichte und Erinnerung im Fernsehen

515

Fernsehspiele, Shows oder Dokumentationen zum Thema sendet. So präsentiert sich das Fernsehen als Gemischtwarenladen für Gedenk- und Erinnerungswillige bzw. für solche Zuschauer, die einer Kenntnis des Jahrestages entbehren und erst zufällig durch die mediale Aufbereitung an das betreffende historische Thema herangeführt werden. Dadurch sorgt es allein durch seine schiere Sendeleistung für eine effektive Zirkulation von Geschichtswissen, fördert die Debattenkultur, vermag das Individuum nachdenklich zu stimmen und regt zu Diskussion auf allen gesellschaftlichen Ebenen an. Die Qualität des Präsentierten indes dient oftmals als Anlass zur Kritik: Entweder setzten die Sender zu viel Vorwissen voraus oder zu wenig. Am Beispiel des dualen Rundfunksystems in Deutschland haben Edgar Lersch und Reinhold Viehoff argumentiert, dass die öffentlich-rechtlichen Fernsehveranstalter „aktive" Geschichtskonsumenten in ihren Zuschauern erkennen und daher Vieles voraussetzen und zu anspruchsvolleren Thematisierungen historischer Sachverhalte neigen, wohingegen sich in den kommerziellen Programmen vermehrt solche Sendungen finden, die den unwissenden Zuschauer erst an ein Thema heranführen wollen (Lersch/Viehoff 2007: 274). Sollte diese Beobachtung zutreffen, entstünde einerseits eine Balance in der Intensität der Geschichtsvermittlung, andererseits auch eine Kluft zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehveranstaltern, die sich mit Blick auf die sonstigen Faktoren der Fernsehnutzung wiederum zu einem habituellen Ungleichgewicht bei den Selektionspräferenzen von gebildeteren und ungebildeteren Rezipienten hinsichtlich der Senderwahl auswachsen kann. Die zahlreichen positiven Schlüsse, die aus der teils unkonventionellen Sendepraxis für die Auseinandersetzung und die Engagierung der Fernsehöffentlichkeit mit der Geschichte gezogen werden konnten, sollten aber nicht den Blick auf die ebenfalls thematisierten kritischen Effekte der televisuellen Aufarbeitung von Geschichte verstellen. Zwar erregen Personalisierung, Emotionalisierung und Sensationalisierung Aufmerksamkeit beim Zuschauer, der ob eines überwältigenden Programmangebots und den sich vielfach bietenden Nebentätigkeiten beim Fernsehen erst erreicht werden muss, doch haben sich diese inszenatorischen Konventionen mit der Zeit so nachhaltig zu Konventionen verhärtet, dass eine differenzierte, salopp gesagt: unaufgeregte Behandlung historischer Themen außerhalb des Event-Fokus auf attraktiven Sendeplätzen mit dem höchsten Nutzungspotenzial kaum noch realisierbar erscheint. Die Konsequenz einer effektvollen, aber nur oberflächlichen Fernsehinszenierung, gepaart mit nicht komplexitätsfrewä/fz'genden, sondern vielmehr nur kompiexitätsreduzierenden Maßnahmen, ist eine umfassende Simplifizierung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Problemstellungen, die allenfalls konsultierend bzw. beglaubigend berücksichtigt, aber nur selten zur Grundlage der inszenatorischen Umsetzung gemacht werden. Der populäre Zugang zur Geschichte hat außerdem zu einer durch das Fernsehen protegierten plebiszitären Geschichtsmodellierung geführt. So wählten die ZDF-Zuschauer „Unsere Besten", die „100 größten Deutschen" (vgl. Knopp/Arens 2003), die in einer Art interaktivem Geschichtskult als Vorzeigepersönlichkeiten Nationalstolz wecken sollten. Es bewahrt auf beneidenswert lebendige Weise unter reger Beteiligung bestimm-

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

ter Publika kulturelle „Traditionsreste" wie die Volksmusik (vgl. Hickethier 1998: 202) und lässt seine Zuschauer auch sonst direkt und aus eigenem Munde zu Wort kommen: Geschichtsfernsehen hat sich von einem instruktiven Vehikel der Aufklärung zu eben dem „Markt der Geschichten" entwickelt, den Nora in der Geschichtsforschung zu beobachten glaubte (Nora 2001: 678). So geriert sich das Fernsehen trotz aller strukturellen und inszenatorischen Eingriffe als demokratischstes aller klassischen Massenmedien und arbeitet mit seinen vielgestaltigen Formaten energisch darauf hin, dass Alltagsgeschichte im 21. Jahrhundert als Erinnerungsgeschichte begriffen werden sollte, und sorgt mit seinen technologischen Ressourcen und den journalistischen Kompetenzen seiner Mitarbeiter für die so wichtige Erfassung von Erinnerungen aus der Bevölkerung, um sie nachfolgenden Generationen und vor allem der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Zusammenfassend lässt sich mit Andrea Brockmann konstatieren: „Das Fernsehen ist kein Medium der Geschichtsschreibung, sondern zählt [...] zu den Gedächtnismedien der Erinnerungskultur und muss daher zu einem festen Gegenstandsbereich der historiographischen Forschung werden" (Brockmann 2006: 317 - Hervorh. im Orig.). Vor allem das Problem der Differenz von Vergangenheit und Gegenwart im Fernsehprogramm ist ein drängendes Thema, das sich angesichts der Vielfalt und Vielstimmigkeit des Geschichtsbzw. Erinnerungsfernsehens als lineares Programmmedium stellt: ,,[T]rotz der vielen in den Programmen enthaltenen historischen Piecen, trotz der Fragmente und Fundstücke der Geschichte im Bilderfluss, schließen sich diese nicht in einer historischen Phantasie zu einem historischen Bewusstsein zusammen. Sie sind gerade in ihrer Unterschiedlichkeit darauf angelegt, sich eher gegenseitig zu blockieren" (Hickethier 1993b: 20). Auch scheint es dem Medium selbst an einem historischen Bewusstsein seiner selbst zu mangeln: Am UNESCO-Weltfernsehtag sucht man meist vergeblich nach selbstreflexiven Blicken in die Fernsehvergangenheit oder einer wie auch immer gearteten, ob kritischen oder euphemistischen Thematisierung der medialen Identität. Auch der ausgeweiteten Wiederholungspraxis fehlt bei aller Selbstreferenzialität der entscheidende Anteil Selbstreflexion und wird von den Sendern daher weniger als Aufarbeitung der Programm, Produktions- oder Institutionsgeschichte verstanden, sondern vielmehr als profitable Wiederverwertung und Neukontextualisierung alter Programmbestände ohne den Anspruch auf Repräsentativität, Ausgewogenheit oder die Erkenntnis, wie es .wirklich' war.

III. 10. Die Krise des Gedächtnisses als Chance

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10. Die Krise des Gedächtnisses als Chance „Der britische Dichter T.S. Eliot glaubt, der Untergang des Abendlandes werde durch das Fernsehen herbeigeführt. Gustaf Gründgens gestand, dass er jeden Abend, wenn es ihm sein Beruf erlaube, vor dem Bildschirm sitzt. Gründgens inszenierte T.S. Eliot. Wer von beiden hat Recht?" (Paul 1958: 42). „The future of television is to stop thinking of television as television" (Negroponte 1995: 48).

Das Fernsehen ist ein Medium der Extreme, stets oszillierend zwischen vehementer Ablehnung und enthusiastischer Affirmation. „For decades, we've worked under the assumption that mass culture follows a steadily declining path toward lowest-common-denominator standards, presumably because the .masses' want dumb, simple pleasures and big media companies want to give the masses what they want. But in fact, the exact opposite is happening: the culture is getting more intellectually demanding, not less", schreibt der Publizist Steven Johnson und plädiert dafür, das Fernsehen (wie auch Videospiele, das Internet und Kinofilme) als populäres kulturelles Medium zu verstehen, dessen Besonderheit darin bestehe, dass die Nutzer ihm mit einer solch hohen Bereitschaft begegnen, die anderweitig vermittelte Inhalte nur schwerlich für sich beanspruchen können (Johnson 2006: 9). Fernsehen ist aus Johnsons Perspektive ein wichtiges Bindeglied in einem medialen Kraftfeld, das die Problemlösungsfähigkeiten jedes einzelnen Rezipienten mit der Zeit immer weiter erhöht, nicht nur mit Blick auf die inhaltlichen Angebote - „even the crap has improved" (ebd.: 91) - sondern auch durch die gestiegenen Anforderungen bei der Bedienung einer Vielzahl von Medienformen und -instrumenten wie eines Videorekorders bzw. digitalen Aufzeichnungsgerätes (ebd.: 146: 155). Und doch gesteht sich der Appellant ein, mit seiner These des .Schlaumachers Fernsehen offenbar auf verlorenem Posten zu stehen: „For someone loosely following the debate over the mediums cultural impact, the idea that television is actually improving our minds will sound like apostasy" (ebd.: 62). Das schwerwiegendste Problem des Fernsehens ist zweifelsohne seine Anfälligkeit für pauschale Abwertungen, seine paradoxe Verletzlichkeit: Unangefochten stieß es in der Funktion des gesellschaftlichen Leitmediums das Tor zum dritten Jahrtausend auf, ist präsenter denn je in den privaten Refugien rund um den Globus und verzeichnet allen voran in Deutschland und Nordamerika trotz eines leichten Rückgangs zugunsten des Internets hohe Nutzungswerte. Andererseits gehört es beinah schon traditionell zum guten Ton, den Programmverantwortlichen zu wenig Mut zum Angebot intellektuell anspruchsvoller Inhalte zu unterstellen. Wahrend ernst zu nehmende Literaturkritiker

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

wohlweißlich zwischen Haushaltsratgebern und Dichtung zu unterscheiden wissen und sich schleunigst davor hüten, in ihren Werturteilen dieselben Maßstäbe anzulegen, wird doch auch heute noch allzu häufig rege von prominenter kultureller Warte aus gegen das Fernsehen als solches gewettert, als hätte es sich in fast sechzig Jahren Programmbetrieb eben nicht zu einem lebendigen wie vielseitig kommunikativen und künstlerisch expressiven Medium entwickelt (vgl. auch Jacobs 2001: 428-429). Fernsehen polarisiert wie eh und je: Entledigten sich kulturelle Spielformen wie Comics oder der Kinofilm verblüffend schnell und erfolgreich ihrer Stigmata von Trivialität und Infantilität, halten sich die von der Kulturkritik gebetsmühlenartig vorgetragenen Vorbehalte dem Flimmerkasten gegenüber außerordentlich hartnäckig. Zur Binsenweisheit avancierte die Rede von der gesundheitlichen Gefährdung des Kindes, das anstatt sich mit Spielkameraden an der frischen Luft zu betätigen lieber am Bildschirm klebe und zudem sozial verkümmere. Das Klischee vom Bücherwurm nimmt sich dagegen wie eine Freizeitbeschäftigung aus, die allenfalls den Augen schade, aber ihre Tugendhaftigkeit in der erhofften intellektuellen Reifung und der Phantasieförderung des Kindes trage. Immer wenn also die kulturelle Integrität zur Debatte steht, wenn Bildung und Seelenheil gefährdet und Tabus gebrochen werden bzw. die Kollektivmentalität zu verrohen oder der Debilität anheim zu fallen droht, sind meist die elektronischen audiovisuellen Medien und allen voran das Fernsehen mit seinen befürchteten und flugs diagnostizierten Begleiterscheinungen und Wirkungsweisen die bevorzugte Zielscheibe für Kritik. Mit Blick auf die Tatsache, dass sich das Fernsehen als nicht nur Akzente setzende, sondern Grundlagen schaffende elektronische Medientechnologie zum dominanten „Paradigma der Welterklärung" (vgl. Hickethier 1999: 146) aufgeschwungen hat, brechen sich immer wieder Krisendiskurse bahn, durch die in der Regel entweder inhaltliche, ökonomische oder technologische Gesichtspunkte ins Kreuzfeuer geraten. Wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde, hat sich das Fernsehen in seiner gesamten organisatorischen und produktionsorientierten sowie nutzungsabhängigen Breite zu einem solch wesentlichen Bestandteil im Gefüge zeitgenössischer Gesellschaften entwickelt, dass es schwer fällt zu glauben, fernzusehen habe allgemein deteriorative, gar kulturzersetzende Effekte zur Folge. Nichtsdestotrotz hat das ausgreifende Maß der vom vielgestaltigen Fernsehbetrieb betroffenen Gesellschaftsebenen zweifellos sozialsystemische Konsequenzen: Nie war ein Massenmedium intellektuell voraussetzungsfreier und gleichzeitig von so anschaulicher Suggestivkraft, ja von solch immensem Seduktionspotenzial. Fernsehen ist nicht nur überall empfangbar, sondern greift gar längst in alle Lebensbereiche ein, bestimmt Zeitempfinden und wandelt(e) selbst Wertenormen in einer buchstäblichen Tabularasa. Der ehemalige ZDF-Intendant Dieter Stolte schreibt daher vollkommen zu Recht: „Es geht nicht um einen Teilbereich der Medien, sondern es geht ums Ganze" (Stolte 2008: 61). Es nimmt also kaum wunder, dass der kulturelle Faktor Fernsehen einen latent schweren Stand hat, gerade weil seine historisch gewachsene Dominanz alles Übrige zu assimilieren droht und selbst das Denken und Handeln ganzer Kulturkreise zu seinen Logiken verpflichtet hat.

III. 10. Die Krise des Gedächtnisses als Chance

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Stoltes Wort von der Stellung des Fernsehens im Herzen der apostrophierten Mediengesellschaft lässt sich im übertragenen Sinne auch als Kampfansage lesen: Tatsächlich hätte es aus Sicht so manches Kritikers gerne schon mal ,ums Ganze' gehen können bzw. müssen, nur wird das Fernsehen in solchen Fällen vielmehr als dauerhafter Krisenherd begriffen, dessen Befriedung erst mit seiner Extermination zu erreichen wäre. Gefordert wird dann gern programmatisch im Sinne eines Jerry Manders: „Schafft das Fernsehen ab!" (Mander 1979). Christoph Schmitz-Scholemann, Richter am deutschen Bundesarbeitsgericht in Erfurt mit ausgewiesener Expertise der literarischen Kunst und Kenntnissen der europäischen Kulturgeschichte, hat sich auf erfrischend nüchterne Weise mit eben diesem Szenario beschäftigt (Schmitz-Scholemann 1996). Als wahrscheinliche Konsequenzen, die eine solche Radikalkur nach sich ziehen würde, nennt der Autor eine kulturelle, ökologische und soziale Katastrophe nicht gekannten Ausmaßes, die „von unglaublicher Wucht" gekennzeichnet sein würde: „In Deutschland - nehmen wir nur einmal Deutschland - gibt es gut dreißig Millionen Fernsehgeräte - sollen wir Vogelkäfige daraus basteln? Der vom Fernsehen abhängige Umsatz beträgt in Deutschland nach Schätzungen jährlich zwischen zwanzig und fünfzig Milliarden Mark - das entspricht fast einem Zehntel des Bundeshaushaltes. Wenn Sie diesen Umsatz aus der Volkswirtschaft einfach herausnähmen - es gäbe eine Revolution" (ebd.: 18). Der Tag, an dem das Fernsehen „sterben" bzw. der Anfang vom Ende eingeläutet werden könnte, wurde bereits Mitte der 1960er Jahre von dem Drehbuchautor und Regisseur Don McGuire imaginiert. In seinem Roman „The Day Television Died" (McGuire 1966) zeichnet er das Portrait eines unkonventionellen Branchengenies, das dem Fernsehen, so wie die Welt es kennen, schätzen und verteufeln gelernt hat, ein für allemal den Garaus zu machen gewillt ist: Nicht mehr sollen die Zuschauer in „Dumpfheit, Grellheit, Dummheit" (vgl. Kaiser 2008) getaucht, sondern von „Silence" überrascht werden. Und tatsächlich gelingt es dem Romanhelden, die sanfte Ruh zumindest einmal in der Woche drei Stunden lang auf dem führenden Network zur besten Sendezeit zwischen halb acht und halb elf Uhr abends durchzusetzen. Das Unglaubliche gelingt: Die Mehrzahl der Zuschauer schaltet ein und gleichzeitig ab, weil sie sich für das große Schweigen der Medienapparatur entscheidet, das vom Network „Allied" die ganze Nation erhellt. Der schwarze Bildschirm wird zum Sprungbrett für Aktivitäten, die in Fernsehhaushalten schier unmöglich geworden waren, weil das bunte, sinnfreie Treiben des Programmflusses sie allzu sehr gelähmt hatte. Der Roman mag ebenso „outrageous" sein, so zumindest die Beschreibung im Klappentext, wie das ersonnene Szenario der bildschirmgeleiteten Bildschirmabstinenz zwar originell, aber in seiner Überzeichnung wenig wahrscheinlich.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Eine Frage des Inhalts: Die Krise des Anspruchs

Der Kern der Botschaft erweist sich dennoch als zeitlos: Die inhaltlichen Qualitäten des Fernsehens sind seit Jahren stärker denn je Ziel pauschaler Abwertungen. Die Auffassung, Fernsehen fabriziere vor allem eines und zwar Blödsinn, wurde im Jahre 2008 ein weiteres Mal wiederholt, und zwar auf prominenter Bühne: Als der Schriftsteller und Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der durch den Erfolg der Fernsehsendung „Das literarische Quartett" seinen Ruf als „Literaturpapst" zementiert hatte (vgl. Hussel 2000: 31), für sein Lebenswerk mit dem Deutschen Fernsehpreis 2008 ausgezeichnet werden sollte, lehnte er die von den Senderchefs von ARD, ZDF, RTL und Sat.l gestiftete Trophäe ab mit der Begründung, er empfinde die Veranstaltung als scheußlich und abscheulich und das Gros der Fernsehprogrammangebote ohnehin als blödsinnig. Zunächst wurde angenommen, es handele sich um eine Persiflage, angelehnt an den Ruf des Kritikers als schöngeistiger Scharfrichter mit gewetzt-verbalem Fallbeil, also um einen gelungenen, aber keinesfalls ernst gemeinten Einfall, um die versammelte Medienprominenz aufzurütteln. Doch schließlich verursachte die impulsive Schmährede des 88-jährigen Ehrengastes einen Eklat, der letzten Endes von den durch den Redner scharf angegriffenen Senderverantwortlichen positiv als Initialzündung einer neuen Qualitätsdebatte gewertet wurde. Der Intendant des ZDF Markus Schächter, Gastgeber der Veranstaltung, sah darin gar eine „Sternstunde des Fernsehens" (Sagatz 2008), offenbar weil das Fernsehen als Forum auch unbequeme Töne über seine eigenen komplizierten Logiken zulässt. Weniger optimistisch urteilte die Schriftstellerin Elke Heidenreich, ihres Zeichens Reich-Ranickis Nachfolgerin beim ZDF mit der Sendung „Lesen!", und stimmte ein in die Kritik: „Wie jämmerlich die dargebotenen Produkte und Arbeiten in der Mehrzahl waren, wie jämmerlich unser Fernsehen ist, wie arm, wie verblödet, wie kulturlos, wie lächerlich" (Heidenreich 2008).206 Mögen sich auch einige Fernsehschaffende, vor allem die Senderleitungen der kommerziellen Programmveranstalter, in nicht weniger harschem Ton verwehrt haben gegen solche pauschalen Verunglimpfungen: Tatsächlich ist angesichts der Sympathien für Reich-Ranickis Haltung strittig, ob es sich bei der unvorhergesehenen und dennoch stimmig im Tenor der jahrzehntelang stabilen Argumentation der Kulturkritik vorgetragenen Abstrafung des Fernsehprogrammangebots nicht um die Folge einer chronischen Unterentwicklung des Medienbewusstseins handelt. Plötzlich waren sie wieder präsent: die Zweifel, dass der Bürger mit dem Fernsehen nicht doch einem schädlichen Instrument Zugang in den Schutzraum des eigenen Zuhauses gewährt hat. Marcel Reich-Ranickis Auftritt schlug ein, als hätte ein Neil Postman die Verleihungsgala des US-Fernsehpreises Emmy gesprengt.

206 Weil Heidenreich mit ihrer Kritik nach Ansicht des ZDF die „Ebene einer sachlichen Auseinandersetzung" verlassen habe, kündigte der Sender eineinhalb Wochen später die Zusammenarbeit mit der Moderatorin auf (Anonym 2008).

III. 10. Die Krise des Gedächtnisses

als Chance

521

Der Fall Reich-Ranicki ist bei weitem kein Einzelfall. Das Beispiel korrespondiert mit der stets wiederkehrenden Proklamation einer Bildungskrise: Bei Reich-Ranicki schnurrt die kulturelle Schaffensleistung des Fernsehens zusammen auf die Themenabende des deutsch-französischen Gemeinschaftssenders Arte - selbst der ausgewiesene Kulturkanal 3Sat halte nur noch schwache Sendungen bereit, wie er in seiner Rede formulierte.207 Dass eine kulturelle Autorität wie Reich-Ranicki auf das Klischee von Arte und 3Sat als letzte Bastion des Anspruchs verweist, zeigt einmal mehr, dass dem TV als intellektuell fragwürdiges Medium weiterhin mit äußerster Skepsis begegnet wird und kaum differenzierte Bewertungsmaßstäbe angelegt werden. Dabei ist Marcel Reich-Ranicki, ein Mann der Literatur, dessen Temperament sich ironischerweise vor allem im Fernsehen unterhaltsam in Szene setzen lässt, nicht einfach ein „falscher Zeuge", der „das Richtige" sagte (Keil 2008), sondern ein Beteiligter, ein „Teil der Fernsehunterhaltungsmaschine" (Martenstein 2008), der mit seiner populären Sendung als Schnittstelle zwischen hochkultureller Literaturproduktion und Massengeschmack Zugangsbarrieren und Vorbehalte zu überwinden half. Umso schwerer wiegt die Ablehnung, umso tiefer sitzt der Stachel des Geehrten im Fleisch der Fernsehwürde: Die Verachtung wird unter diesen Umständen zu einem Symptom der Kulturhoheit des geschriebenen Wortes, die sich einmal mehr gegen alle vermeintlichen Banalisierungstendenzen audiovisualisierender Veranschaulichung als durchsetzungsfähig erwiesen hat. Die Presse, virtuelle Foren und Social Networks im Internet, weniger das Fernsehen selbst, wo der Fernsehpreis-Moderator Thomas Gottschalk im Gespräch mit Reich-Ranicki in einer halbstündigen Sondersendung mit dem Titel „Aus gegebenem Anlass" noch einmal die Kritikpunkte des Literaten Revue passieren ließ, wurden nach der Ausstrahlung der gescheiterten Preisverleihung zum Schauplatz reger Diskussionen über das Für und Wider der geäußerten Kritik. Die Dispersität des tagelangen, aber wenig tiefgehenden Lamentierens in der Presse und den virtuellen Diskussionsrunden im Netz zeigte, wie zerrüttet das Verhältnis vieler Zuschauer zum Fernsehen immer noch und immer wieder ist. Dabei reicht es nicht, allein von einem fehlenden „Prestige" des Fernsehens zu sprechen (vgl. Keil 2008) und in wie so oft zu beobachtender Weise die Frage nach gutem und schlechtem Fernsehen mit Allgemeinplätzen zu beantworten: Dass die pauschale und erst später zutreffend, aber nur vereinzelt als haltlos zurückgewiesene Kritik von Reich-Ranicki zunächst mit schallendem Applaus sowie stehenden Ovationen erwidert wurde, zeigt die pathologische Unsicherheit über den Wert des Fernsehens und belegt, wie tief der Stachel der kulturkritischen Stigmatisierung sitzt und verhindert, dass sich trotz verfassungsrechtlicher und medienpolitischer Normen zum Status des Fernsehens bei Verantwortlichen und der allgemeinen Öffentlichkeit ein Konsens über die Sonderstellung des Mediums als Kulturinstanz und Kulturerbe etablieren kann, der die Grundlage bilden muss für die Bewältigung und Einordnung seiner faktischen sozialsystemischen und erinnerungskulturellen Konsequenzen, ihrer Wucht und Durchschlagskraft.

207 Die Rede ist im Wortlaut dokumentiert bei: Hildebrandt 2008.

522

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

Der große Ausverkauf: Die ökonomiegeleitete

Gedächtniskrise

Dem beobachteten inhaltlichen Niveauverfall in der Fernsehproduktion und den konjunkturellen Diskontinuitäten wurde regelmäßig mit ökonomischen Erklärungsversuchen begegnet. Auch Moderator Gottschalk unterstrich im Vier-Augen-Gespräch mit Reich-Ranicki einmal mehr die allgemeine Annahme, intellektueller Anspruch und Quote seien nicht miteinander vereinbar. Die einflussreiche Manipulations- und Ausbeutungsthese der Frankfurter Schule mit ihrem prominenten Vertreter Theodor Adorno ist das wohl augenfälligste Beispiel für die Annahme einer kausalen Kopplung von Medienproduktion und Medienwirkung an die marktwirtschaftliche Ideologie. Der Überzeugung nach, es gebe eine mit der wettbewerblichen Konkurrenz einhergehende Konformisierung von Angebot und Massengeschmack bzw. eine daraus folgende „gleichmacherische[.] Wirkung" auf die Produkte (vgl. Bourdieu 2001: 85), muss diese Entwicklung letztlich zwangsläufig zu einer Verkümmerung der Vielfalt führen. Das Argument des Marktes spielt somit auch in der kulturwissenschaftlichen Krisendiagnostik im Hinblick auf die Konstitutionen gesellschaftlichen Erinnerns eine wesentliche Rolle. Die Ausrichtung der massenmedialen Produktionsweisen nach den Regeln der Ökonomie, der wirtschaftlichen Drehscheibe von Angebot und Nachfrage, wird gemeinhin als Gefährdung der historischen Kontinuität und dem Streben nach Beständigkeit gewertet: „Im Gegensatz zum schöpferischen, an geheime Ursprungsmächte gebundenen Menschen, den der eingeborene Stachel des per aspera ad astra zu immer größeren Wagnissen, Himmel- und Höllenfahrten treibt, begegnet uns im hochzivilisierten Erwerbsmenschen die Verkümmerung, ja Umkehr dieses innersten Bildungstriebs in Form jenes dürftigsten aller denkbaren Prinzipien, dem ökonomischen Prinzip: mit geringstem Aufwand den größten erzielen" (Jünger 1998: 20 - Hervorh. im Orig.). Die „Große Maschine" funktioniere allein zum Selbstzweck, dominiere jedes Denken, Fühlen und Streben. Als Ziel gelte der Konsum von Verbrauchswaien, nicht die Rezeption des Bleibenden. Die Hinwendung zu Kulturgütern erfolgt, so die Annahme, nur noch flüchtig und beiläufig, nicht nachsinnend, wiederkäuend, fragend. Insbesondere in Bezug auf die Medientechnologie und die programmbasierte Linearität des Fernsehens, denen die Flüchtigkeit inhärent ist, bedeuten die Prinzipien des Marktes aus gedächtnistheoretischer Perspektive tendenziell eine Bedrohung, da die ephemeren Merkmale der elektronischen Übertragung und der steten Abwechslung des immer Neuen zuungunsten der dauerhaften Präsenz der Inhalte bevorzugt werden. Gleichwohl hat die Analyse fernsehkünstlerischer Aspekte in Kapitel III.8. gezeigt, dass wirtschaftlich ausgerichtetes Denken und Handeln durchaus zu einer künstlerischen Profilierung des Fernsehens geführt haben, welche wiederum auf Seiten des Publikums einen Sinn für die Notwendigkeit und die Vorteile der Bewahrung von Fernsehproduktionen geschaffen hat. Schwerwiegend ist jedoch auch die mit der Globalisierung der Wirtschaftssysteme auftretende Vermischung kultureller Originalität unter dem Zeichen der profitorientierten Vermarktung sowie die Auflösung der Autonomie kultureller Felder, die sich oftmals über jahrhundertelange Zeiträume herausgebildet haben und teils hart erkämpft werden

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mussten. Das ausgreifende Maß, in dem die Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit dieser Schaffens- und Lebensbereiche der kommerziellen Logik unterworfen werden, leistet einer kulturellen Vereinheitlichung Vorschub, die zu künstlerischen und allgemein medialen Einheitsprodukten führen kann, welche sich in immer höheren Frequenzen abwechseln und sich kaum noch voneinander unterscheiden. Pierre Bourdieu argumentiert in seiner Schrift „Kultur in Gefahr", dass die allen voran auch von der Fernsehindustrie vorangetriebene profitorientierte Globalisierung das genaue Gegenteil sei von den Bewegungen des künstlerischen Internationalismus, der sich in vielen Fällen ausdrücklich auf nationale Kulturtraditionen berufe: ,,[D]as, was den künstlerischen Produktionssphären heute in allen modernen Industriegesellschaften widerfährt, ist etwas völlig Neues, etwas so nie Dagewesenes: dass nämlich die gegenüber den ökonomischen Zwängen hart erkämpfte Unabhängigkeit der Produktion und Verbreitung von Kultur durch das Eindringen der Marktlogik auf allen Ebenen der Herstellung und Zirkulation kultureller Güter in ihren Grundlagen bedroht ist" (Bourdieu 2001: 83). Unter diesem Eindruck erfolgen nicht selten romantische Stereotypisierungen mit Blick auf eine vermeintlich bessere Zeit, in der die Verbindung zur Vergangenheit noch inniger und die Erinnerungskulturen noch medial unbelastet waren sowie ihre Eigenständigkeit zu wahren wussten: „Much of current writing about memory reiterates this notion that once, back in the village, before writing, cities, and computers, collective memory was stable and pure, passed by word of mouth. This troubling cultural cliché helps to fuel proclamations of cultural amnesia" (Sturken 1997: 17). Die Vermutung einer kulturellen Amnesie, einer zweifelhaften, weil primär monetären Fortschrittsmentalität verschriebenen Marktideologie, wurde bereits in Bezug auf das Bürgertum des 19. Jahrhunderts geäußert, das sich an einem lebendigen Literaturmarkt erfreute und bereits die Dimensionen der industriellen Kulturproduktion erfuhr, die sich kaum noch der „long durée von fama und memoria" verpflichtet zeigte, sondern immer stärker dem „literarische [n] Markt mit seinen Rhythmen" (Assmann 1996a: 101 - Hervorh. im Orig.). Mittlerweile werden jedes Jahr Unmengen neuer Bücher verlegt - auf der 60. Buchmesse in Frankfurt im Jahre 2009 wurden über 123.000 Neuerscheinung allein aus Deutschland präsentiert (Ausstellungs- und Messe GmbH des Börsenvereins des deutschen Buchhandels 2009). Schon Goethe hatte angemerkt, dass Informationen durch die neu erwachsende Dominanz der Massenpresse zu seiner Zeit nur noch „von Tag zu Tag" Bestand hätten (vgl. Osten 2005: 185). Die Marktmechanismen der Kulturindustrie waren also längst erprobt und etabliert, bevor das Fernsehen seinen Siegeszug antrat. Der Literatur insgesamt haben die ökonomischen Strukturen nicht geschadet, wenn auch kritische Stimmen vermerken, Autoren seien zu ,,Zulieferer[n] der Papier verarbeitenden Industrie" geworden, Buchmessen glichen einem „Autosalon", in denen einstigen Ideale der Beständigkeit und des Einhaltens längst dem Vergessen übereignet wurden (Schmid 2008). Trotzdem haben sich das Buch ebenso wie Teile der Qualitätspresse und des Zeitschriftensektors ihren Ruf als künstlerisch wie intellektuell anspruchsvolle Medien und wichtiger noch: als kulturelle Speicher bewahrt.

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

So verfügt die Druckkultur über etwas, das dem Fernsehen bis heute pauschal verwehrt wird: eben jene kulturelle Weihen, welche Tradition und Fortschritt, Vergangenheit und Zukunft nicht zu trennen, sondern positiv konnotiert zu verbinden versprechen. Dabei war es das Fernsehen, das sich zumindest in Deutschland unter öffentlich-rechtlichem Bestands- und Qualitätsschutz jahrzehntelang um die Herausbildung eines umfassenden Programmauftrages verdient gemacht hat, der dem Anspruch kultureller Erbauung für alle Bevölkerungsgruppen folgte. Trotz alledem fungiert das Fernsehen traditionell als Sündenbock, wenn es als mächtigstes elektronisches Massenmedium herhalten muss bei der Suche nach den Ursachen für einen gesellschaftlichen Mentalitätswandel, der im Zuge eines beispiellosen Wandels der kulturellen Organisation bestehende Modelle von Bildung, Gedächtnis und Geschichte sowie der Kultur insgesamt herausfordert. Der Markt bzw. die Profitgier sei es, die zur Folge habe, dass das Fernsehen seine Zuschauer entweder verachte, indem es ihnen bloß Schund biete, oder sich anbiedere mit Programmen von nichtssagendem Mittelmaß (vgl. Stuckrad-Barre 2008). Es ziehe alles und jeden in den reißenden Strom der Aktualität, der Hätz nach dem immer Neuen, dem Sensationellen, dem Vermarktungsfähigen, der audiovisuellen Scheinheiligkeit. Präferiert werde, was die Einschaltquoten in die Höhe schnellen lässt und Umsätze bringt. Gleichsam wird beobachtet, dass nicht Besonnenes und Unbequemes, sondern Massenkompatibilität und also intellektuell leichte Kost selbst bei den der Öffentlichkeit und humanistischen Zielen verpflichteten Sendern zu einem immer wichtigeren Kriterium bei der Programmgestaltung werden. Das Fernsehen an sich jedoch für eine Entwicklung verantwortlich zu machen, die eine Konsequenz des komplexen Wandels von Gesellschaften, Kulturen und ihrer Medien ist, greift letztlich zu kurz. Aus den Erkenntnissen der theoretischen Einordnung des Fernsehens in den Gedächtnisdiskurs wird deutlich, dass eine solche eingeengte Sichtweise nur den Ausweg in ein fragwürdiges Utopia zulässt, was keine Option darstellt. Natürlich ist die Sorge berechtigt, die seit Jahrzehnten anhaltende und sich derzeit rapide zuspitzende elektronische Medienrevolution könnte sich nachteilig auf die kulturelle Wissensverwaltung und gesellschaftlichen Erinnerungsprozesse auswirken, gerade weil diese immer stärker auf mediale Dienstleistungen angewiesen und ergo von ihnen abhängig sind, welche wiederum verstärkt ökonomischen Imperativen folgen. Gleichwohl besteht nach wie vor erheblicher Nachholbedarf, das Fernsehen im Konzert der wissenschaftlichen Disziplinen und Denkschulen, aber vor allem auch in der breiten Öffentlichkeit als effektives und notwendiges sowie (noch) führendes Instrument der gesellschaftlichen Selbstverständigung und der audiovisuellen Expression einer sich im Laufe der Jahrhunderte immer stärker ausdifferenzierten Medienlandschaft zu begreifen. Dies trifft ebenso die Fernsehbranche selbst: „Viele, die heute Fernsehen machen, betreiben ihr Handwerk ohne Kenntnis seiner Gesetze; gegenüber dem kulturellen Bruch, den sie tagtäglich praktizieren, verhalten sie sich notorisch unterbewusst" (Kreimeier 1995: 9). Seit der Literalisierung der Kulturen der Welt lässt sich bei der kulturwissenschaftlichen Analyse von Gesellschaften nicht mehr allen Ernstes mit absoluten Begriffskategorien

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arbeiten. Um dem Widerstreit und den symbiotischen Interrelationen von Medientechnologien und ihren Institutionalisierungen gerecht zu werden, ist eine trennscharfe Unterscheidung zwischen oralen, schriftlichen, elektronischen, digitalen usf. Gesellschaften nicht stichhaltig: Derlei Klassifikationen sind gerade deshalb in einem kulturellen Umfeld nicht haltbar, weil die modernen Gesellschaftsformen weder orale noch schriftliche noch elektronische Kommunikation und performative Kunstformen ausschließen und diese zudem vielgestaltig ineinandergreifen. Spätestens seit dem Aufstieg des Rundfunks in den Nutzungspräferenzen breiter Bevölkerungsschichten haben sich neue Konstellationen und Widersprüchlichkeiten ergeben, die es nahe legen, das Riepl'sche Gesetz von der Ko-Existenz massenmedialer Formen auf die metakulturelle Ebene zu übertragen, um die wechselnde Dominanz von Erinnerungskonventionen im Gegensatz zur irrigen Annahme ihrer gegenseitigen Verdrängung zu betonen. Schon die Postulierung einer Gedächtniskrise beim Übergang von primär oralen zu literalisierten Gesellschaftsformen geht von der fälschlichen Annahme aus, es gebe notgedrungen einen Niedergang des Erinnerns. Spezifische Erinnerungspraktiken und kulturelle Traditionen mögen einen Bedeutungsverlust erfahren haben, dennoch sind sie in ihrer Mannigfaltigkeit und ihren Kernfunktionen größtenteils auch heute noch existent (vgl. Miztal 2007: 391). Es wird weiterhin fleißig erinnert, nur anders und unter verstärktem Einfluss und der Zuhilfenahme von Medien. Massenmediale Marktstrukturen können, wie in den vorhergehenden Kapiteln dargestellt, durchaus einen Störfaktor darstellen, doch im Gegenteil ebenso neue Formen des Erinnerns und der kulturellen Relationierung wie beispielsweise die Bildung von posttraditionalen Fan-Gemeinschaften hervorbringen. Erinnerungsarbeit ist und bleibt in jeder Kultur ein integraler Teil der lebensnotwendigen identitätsbildenden und -aufrechterhaltenden Maßnahmen, die das soziale Miteinander prägen und der kulturellen Gemeinschaft eine Perspektive geben, ohne sie von der Vergangenheit oder ihrer systemischen Umwelt abzutrennen. Nichtsdestotrotz kann festgehalten werden: Je fragmentarischer eine Gesellschaft, je vielfältiger die sub-kulturelle Ordnung, je kürzer die Innovationszyklen, je umfassender die grenzüberschreitenden Kommunikations- und Zirkulationsangebote und die betreffenden Anforderungen an das Individuum, desto stärker wird die Verwurzelung des Menschen in der (Post-) Moderne mit der Vergangenheit erschüttert, desto stärker sind Kulturen angewiesen auf die Bereitschaft und die Möglichkeiten des Einzelnen, sich aktiv und bewusst an das Gewesene zu binden (vgl. Terdiman 1993: 5). Die Ökonomie hat wesentlichen Anteil an der Proliferation einer breiten Palette aus medialen Formen, Technologien und Angeboten gehabt und trägt auch weiterhin dazu bei. Kein Medium, auch nicht das ubiquitäre und nun auch in die Virtualität des Internets konvergierende und seine klassischen Begriffszuordnungen sprengende Fernsehen, kann eine Alleinstellung für sich beanspruchen. Die fortschreitende Diversifzierung hat zwar bestehende Ordnungen verunsichert, doch wie das Theorem des kulturellen Gedächtnisses gezeigt hat, versprechen mediale Umbrüche konstruktive neue Möglichkeiten der Organisation kulturellen Wissens und der Tradierung und Funktionalisierung von Gedächtnisele-

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

menten. Bedingung für die effiziente Urbarmachung eines medialen Wirkungsfeldes im Sinne der Logica Memorativa und die Vermeidung von Gedächtnislücken durch das Übersehen bzw. Ignorieren von medienspezifischen Signifikanzen im Hinblick auf die Gedächtnisrelevanz ist eine aufgeschlossene, wenn auch achtsame Herangehensweise an solche Wandlungsprozesse von sich verschiebenden Medienhegemonien und hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Erinnerungspraxis, für die Geschichtswissenschaft und für die Verwaltung kultureller Wissenskomplexe. Letztlich kann der Weg aus der durch die kommerzielle Sättigung des kulturellen Lebens herbeigeführten Gedächtniskrise nur über die Akzeptanz des Status Quo führen. Elektronische Machtübernahme:

Die technologische

Gedächtniskrise

In der kulturellen Produktion und Reproduktion haben das Fernsehen und seine Derivate sowie die elektronischen Medientechnologien im Allgemeinen seit ihrer Einführung zwar stetig an Bedeutung gewonnen, doch behauptet sich die Schrift weiterhin als vorherrschende Kulturtechnik und der Buchdruck als Inbegriff zeitenüberdauernder Verlässlichkeit. Während Spangenberg die Schwierigkeiten beim Übergang von der Dominanz der oralen Gesellschaftskommunikation zur Kulturtechnik der Schrift als bewältigt sieht, sei den sachlichen, sozialen und zeitlichen Folgeproblemen der Verbreitung der audiovisuellen Medientechnologien in ihrer Quantität und Qualität längst nicht so einfach mit bewährten Mitteln Herr zu werden, was in einem Konkurrenzverhältnis zwischen alten und neuen Medien gemündet habe (Spangenberg 1995a: 109-110). Dabei trifft das, was die Psychologin Sherry Turkle der Computerisierung des Soziallebens attestierte, auf alle Kulturtechniken zu, seien sie elektronisch, gedruckt, handgeschrieben oder gemeißelt, analog oder digital: Technologie katalysiere Veränderungen, „Veränderungen in dem, was wir tun und in unserer Denkweise. Sie verändert das Bewusstsein des Menschen von sich selbst, von anderen und von seiner Beziehung zur Welt" (Turkle 1984: 14). Dies schließt ausdrücklich auch Veränderungen in der Gedächtnispsychologie und dem Verhältnis von Gesellschaft und Individuum zur Vergangenheit mit ein. Die Räsonnements über eine Krise des kulturellen Gedächtnisses, welche sich auf inhaltliche und technischkommunikative Dimensionen der elektronischen Medien beziehen, gehen somit von unzutreffenden Prämissen aus, weil sie die Dynamik des Gedächtniswandels, der wesentlich auch vom Fernsehen angestoßen wurde, ausblenden und an starren Phänomenologien festhalten. Ursächlich sind die vorherrschenden kulturtheoretischen Ansätze, die von stabilen Formationen gesellschaftlicher Erinnerung und ihren Voraussetzungen ausgehen und dem Wechselspiel von Medien und Zeit und ergo von fragmentarisierten Erinnerungskulturen und widerstreitenden Wertzuschreibungen sowie gruppenspezifischen, subkulturellen und gesamtgesellschaftlich wirkenden Hegemonieschwankungen nicht gerecht werden können (vgl. auch Huyssen 2003: 17). Diese Beobachtung konnte am Beispiel des dynamischen und in seinen Wirkungen oft widersprüchlichen Fernsehens, Objekt und Generator von Erinnerung zugleich, unterstrichen werden.

III. 10. Die Krise des Gedächtnisses als Chance

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Obgleich das Fernsehen die bestehenden kulturwissenschaftlichen, zum Teil verhärteten Denkstrukturen und Gedächtnistheoreme herausgefordert hat, wurde dieser Entwicklung, wie ausgeführt, kaum Rechnung getragen. Dass seit einiger Zeit so ausgiebig und apokalyptisch über Krisen des Gedächtnisses debattiert wird, ist auch Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit gegenüber den neuen Imperativen des Erinnerns, die das Resultat einer disziplinbezogenen Ignoranz und eklatanten Unwissenheit über die Funktions- und Wirkungsweisen neuer Medien ist. Eine umfassende Behandlung der Gedächtnisthematik wurde in den Kommunikations- und Medienwissenschaften bisher sträflich vernachlässigt und in der Fernsehwissenschaft fast gänzlich ausgespart. Über einzelne Ansätze (vgl. Zierold 2006) ging die Entwicklung eines massenmedialen Erinnerungstheorems nicht hinaus. Gerade weil sich die Voraussetzungen gesellschaftlicher Erinnerung im Laufe der Medienevolution stark gewandelt haben, besteht drängender Analyse- und Erklärungsbedarf, dem nur bedingt mit bewährten Mitteln entsprochen werden kann. Es brauchte freilich seine Zeit, um die „kreativen Handlungsoptionen" (ebd.: 174) des mittlerweile nicht mehr so neuen Mediums Fernsehen auszuschöpfen. Diese sind indes mittlerweile so zahlreich und verschieden und werden durch den Aufstieg des Digitalen noch zahlreicher und noch verschiedener, so dass eine reflexartige Abwehrhaltung gegen den Strukturverfall der Gedächtniskultur verhindert, die dahinterstehenden „Neuordnungsprozesse auf einem anderen Emergenzniveau zu verstehen" (vgl. Giesecke 2002: 82). Es muss nicht zwingend Abstand genommen werden von den Gedächtnismetaphern an sich, die den regen Diskurs in den unterschiedlichen Forschungsdisziplinen erst entfacht haben. Vielmehr sollte über eine Re-Metapherisierung nachgedacht werden, die in Anlehnung an die bestehenden Modelle gesellschaftlicher Erinnerung genügend Flexibilität und pluridirektionale Offenheit bietet, um neue Formen des Erinnerns und der Annäherung an, die Aufarbeitung sowie die zielgerichtete Schaffung von Vergangenheit zu integrieren. Die Skalen des Gedächtnisses haben sich nach Auffassung von Radstone - und dafür liefert das Fernsehen ideales Anschauungsmaterial - von ihrer schwerpunktmäßigen Ausrichtung an Traditionen bzw. allgemein der Vergangenheit hin zu einer vielgestaltigen Mehrdeutigkeit gewandelt, die nichts ausschließt: „Now, in the contemporary memory boom, the scales of equivocation swing again, and now they appear to be weighted a little more towards a ,memory' aligned with subjectivity, invention, the present, representation, and fabrication" (Radstone 2000: 9). Wie die Analyse der televisuellen Gedächtnisrelevanz gezeigt hat, wird die Gegenwart eben nicht automatisch abgekoppelt von der Vergangenheit, wie beispielsweise Nora konstatiert, wenn er von einer „toten Vergangenheit" spricht, die im Zeitalter der technischen Reproduktion und Repräsentation nicht mehr gelebt werde (vgl. Nora 1998: 11). Entscheidend ist die Unsicherheit der „organischen Integration" der Vergangenheit in die Gegenwart (vgl. Terdiman 1985: 17), deren Ausbleiben letztlich eine fragwürdige These bleiben muss, solange sie nicht empirisch erhärtet wird, was schwer fallen dürfte angesichts ihres metaphysischen Inhalts. Zweifellos haben sich die Instanzen kollektiver

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

Erinnerungsarbeit verschoben; es wird nicht mehr rein performativ und ritualistisch erinnert, sondern vorwiegend rezeptiv, dies indes schon seit Jahrhunderten: Der Mensch liest Bücher oder wendet sich anderweitigen Aufzeichnungen zu, schaut sich Bilder oder Videos an, hört Musik oder Tonaufzeichnungen und sieht fern. Die großen Geschichtenerzähler in persona wurden abgelöst von materiellen und immateriellen Medien, welche .Gedächtnisenergie' in Form semantischer Codes oder auf auratischer Gefühlsebene in sich tragen, die vom Rezipienten dazu genutzt wird, die Vergangenheit für sich (wieder) zu entdecken, sich zu erinnern, längst vergessen Geglaubtes gar mental nachzuerleben. Die Gedächtniskünste sind ob der technologischen Errungenschaften und ihrer kapazitären Ressourcen zur Speicherung und Zirkulation scheinbar kaum mehr vonnöten; was also tendenziell ausbleibt ist die Notwendigkeit, die „mentalen Muskeln" zu trainieren (Wöller 2008: 202). Heutzutage ist es der Mediennutzer gewohnt, sofortigen Zugriff auf elektronische Medieninhalte per Fernbedienung oder Mausklick zu erhalten; die Programmvielfalt des Fernsehens und die Informationsdichte des Internets haben die Wahrnehmungsbedingungen und -gewohnheiten fundamental verändert: „Der Dynamisierung der Information im elektronischen Zeitalter sind Modelle der Bildung und des Gedächtnisses immer weniger gewachsen. Was angesichts des steigenden und beschleunigten Informationsstroms allein zählt, ist die Technik des blitzschnellen und gezielten Zugriffs auf Information" (Assmann 2003). Wer, so muss sich fragen lassen, braucht sich noch zu erinnern, wenn alles notwendige Wissen auf den Bildschirm geladen werden kann, ob per Antenne, Satellitenschüssel, Fernsehkabel oder Datenleitung? Die Ungeduld des Mediennutzers der Gegenwart im Umgang mit der Informationssuche, mit der Wahl der Unterhaltungsangebote, gar im Umgang mit den Mitmenschen, als Ergebnis einer Medienevolution, in der sich alles im mediatisierten Repräsentationskosmos wiederholen zu lassen scheint, vom Jetzt und Hier ins Gestern und die Ferne springend? Das Instant Replay, eine technologische Raffinesse, welche die sofortige Repetition eines Medieninhalts ermöglicht, ist nicht erst eine Innovation des Fernsehens, wo sie in der Sportberichterstattung zum Einsatz kommt, sondern ist seit der Erfindung der Schrift ein wichtiger Bestandteil der Kulturgeschichte: Schon die Möglichkeit des wiederholten Lesens einer Textpassage hat die Wahrnehmungspsychologie revolutioniert - natürlich auch mit weitreichenden Folgen für die Erinnerungsmodalitäten (vgl. Schwartz 1981: 26). Auch diese Krise begann also lange vor der Elektronisierung der Wissensverwaltung, und zwar mit der komfortablen Zugänglichkeit von verschriftlichten Informationen. Die elektronische Audiovision dagegen, das sollte deutlich geworden sein, bietet dessen ungeachtet weit mehr als die Schrift: Die wiederholte Wiedergabe einer nicht sprachlich abstrakt, sondern konkret vermittelten Begebenheit, wenn auch inszeniert und mediatisiert, regt nicht nur die Erinnerung an, sondern scheint vergangene Eindrücke vor Ohr und Auge wiederauferstehen zu lassen. Generell ist das Gedächtnis heutzutage jedoch angewiesen auf einen im wahrsten Sinne des Wortes bunten Mix aus Medien. In Zukunft wird der Umgang mit einer weiter

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anwachsenden Zahl von Medienformen vonnöten sein; insofern ist die Mediengeschichte des Gedächtnisses eine Geschichte des Übergangs: Medien, die noch über Jahrhunderte bestimmten, wie und was erinnert wurde, wurden ergänzt, zum Teil marginalisiert oder wie im Fall des Papyrus auch abgelöst von Medien, deren Wirkdauer nur noch auf Generationen festgelegt werden kann. Wie hier noch einmal zusammenfassend und überblicksartig dargestellt werden soll, hat das Fernsehen zu dieser Verdichtung der Medienevolution und der Verkürzung von Innovationszyklen einen erheblichen Teil beigetragen und mit seinen technologischen Determinanten eine umgreifende Revolution gesellschaftlichen Erinnerns angestoßen: - Der weltweite Siegeszug der elektronischen Medien ist zu einem Großteil der televisuell vorangetriebenen Globalisierung und ihren technologischen Begleitprozessen geschuldet. Bevor das Internet zu Höhenflügen ansetzte, reisten bereits Fernsehnarrative um den Globus. Mit der Fernsehübertragung wurde der nicht bloß imaginative, sondern audiovisuelle Erfahrungsraum verunendlicht. Die Welt erhielt, als medial gerichtete Repräsentation zwar, Einlass in die Privatsphäre des Rezipienten. Die Ausbreitung der visuellen Kultur der Gegenwart basiert hauptsächlich nicht auf den außeralltäglichen Bilderwelten des Kinos, sondern auf den Audiovisionen aus dem Fernsehapparat, der Erfahrungen von Welt tagein tagaus nicht mehr schriftlich-abstrakt sondern bildlichkonkret vermittelt. - Das Fernsehen ermöglicht die synchrone Teilhabe an zugangsbeschränkten Veranstaltungen und hat die Chronistenfunktion gesellschaftlicher Eliten entkräftet: Durch Live-Übertragungen ist ein Miterleben für alle Zuschauer möglich geworden, die ihre individuellen Aufzeichnungen von historisch relevanten Prozessen in der Gegenwart machen können. So löst der technologische Imperativ der Kamera die traditionellen narrativen Instanzen ab: Nicht mehr Schamanen, Altvordere bzw. akademisch Qualifizierte usf. sorgen für die Übermittlung und Übersetzung von Ereignissen, sondern audiovisuelle Signale. Damit hat das Fernsehen eine wesentliche Bedrohung für die gesellschaftliche Erinnerung wenn nicht beseitigt, dann doch entschärft: Die Delegierung der Auswahlhoheit an Spezialisten wurde durch die Zugangsliberalisierung teilweise aufgehoben und dient allenfalls noch als Orientierungs- und Deutungsangebot. Dennoch bleibt die Erweiterung des kulturellen Fundus durch professionelle Instanzen notwendig, damit die Auswahl kulturell bedeutender Gedächtniselemente nicht beliebig wird. - Die Hybridität des televisuellen Textes muss notwendigerweise komplexere Repräsentations- und Elaborationsformen annehmen als schriftliche Dokumente. Fernsehen assimiliert das breite mediale Feld, sei es Theater, Musik, Film oder Literatur, und unterwirft es seinen Darstellungslogiken. Aus Gattungsperspektive gesehen, bedeutete Multimedialität vor dem Advent des Internets daher vor allem Televisualität. - Rekordnutzungswerte haben das Fernsehen zu einer der wichtigsten Sozialisationsinstanzen mit Kompagnonfunktion für das ganze Leben gemacht. Biographien wurden

III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

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damit vielerorts zu Fernsehbiographien. Andere Medien wie das Buch ist ein solcher Status größtenteils verwehrt geblieben, obwohl sie eine wichtige Rolle in der persönlichen Entwicklung einnehmen können; doch untersteht die tagtägliche Erfahrungswelt in erheblichem Maße nicht der Prägung durch Medien der Wissensvermittlung, sondern der audiovisuellen Vermittlung von aktuellen Informationen, welche die Handlungsfähigkeit des Individuums in einer demokratischen Gemeinschaft sicherstellen. Dadurch stehen mediale Erfahrungen unverändert in direkter Konkurrenz zur direkten körperlichen Welterfahrung. Das Phänomen der imaginierten Gemeinschaften wurde durch das Fernsehen mittels des synchronen Simultanerlebens wie von keinem anderen Medium zuvor kultiviert und für die breite Masse reflektierbar. Die damit einhergehende Auflösung vieler traditioneller Vergemeinschaftungsformen sorgte indes auch für einen abstrahierten Begriff von Gemeinschaft und unübersichtlichere Gruppenzugehörigkeiten des Individuums. - Das Fernsehbild hat der angeblichen Krise der Repräsentation eine neue Qualität verliehen. Die Debatte um Simulation oder Wirklichtkeitsabbild bzw. um die Geltungskraft der Fernsehwirklichkeit hat die Erkenntnispsychologie in eine schwere Unsicherheit gestürzt, die sich vor allem an Geschichtsformaten im Fernsehprogramm illustrieren lässt. Die Diskussion um die Darstellung des Undarstellbaren am Beispiel der Serie „Holocaust" speiste sich mit Argumenten der Moral, der Metaphysik und der historischen Akkuratesse. Dem Fernsehen wurde im Allgemeinen häufig vorgeworfen, es könne mit seinen Möglichkeiten nicht mehr leisten, als eine ahistorisierende Aneinanderreihung von unterschiedlichen Geschichtsthematiken

zu bieten und ihnen den

trivialen Schein der Lebendigkeit einzuhauchen. Vergangenheitsrepräsentationen im Fernsehen sind zudem durch ein starkes Selektionsbias gekennzeichnet und liefern dadurch zwangsläufig ein unvollständiges Bild eines historischen Prozesses oder Ereignisses. Dies trifft zwar auf alle medialen Darstellungen zu, doch die Gefahr der Verengung durch ausbleibende Differenzierung wird vor allem dem Fernsehen attestiert. „Die Krise der Repräsentation ist in Wahrheit ein Zweifel an der Referenz, die wir den Bildern nicht mehr zutrauen. Die Bilder scheitern nur dort, wo wir in ihnen keine Analogien mehr für das finden, was den Bildern voraus geht und auf das sie sich in der Welt beziehen können" (Beling 2001:18). Mit Blick auf die lange Theoriedebatte über die Simulation der Welt durch die Fernsehapparatur muss mit Siegfried J. Schmidt und im Sinne Spangenbergs gefragt werden, ob es angesichts der durch das Fernsehen verursachten Tatsachen bei den radikalen lebensweltlichen Veränderungen nicht notwendig ist, „die Referenzfragen völlig neu zu stellen, die uns aus der Gutenberg-Galaxie überkommen sind" (Schmidt 1995: 73). Wie argumentiert wurde, ist es ein wichtiger Schritt, die Existenz und Wirkmacht einer Fernsehwirklichkeit ernst zu nehmen, um jene Krise der Repräsentation zu überwinden.

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- Durch ein technologisch ermöglichtes Überangebot von Erinnerungsanlässen besteht die Gefahr eines „numbing effects" (vgl. Shales 1986: 72). Benommenheit ist indes nur eine mögliche Folge medialer Angebotsvielfalt. In ihrer Auflistung von Chancen und Gefahren gesellschaftlicher Erinnerung verweist Aleida Assmann auf die wichtige, auch und vor allem von Massenmedien wahrzunehmende Funktion, für eine Erneuerung, Belebung und Rückkopplung von Erinnerung an individuelle Lebensgeschichten zu sorgen (Assmann 2006: 247-249). Durch das Anstoßen von gesellschaftlichen Kontroversen, auch durch die Skandalisierung von Sachverhalten, verhindert das Fernsehen eine Erstarrung oder Routinisierung von Erinnerung, wobei es natürlich vor solchen (Fehl-) Entwicklungen ebenso wenig gefeit ist wie jedes andere Medium, das den kulturellen Erinnerungskonventionen unterworfen ist und ihnen in ununterbrochener Vermittlungstätigkeit folgen muss (wie bspw. im Falle von Jahrestagen). - Dass das Fernsehen imstande ist, mit seiner bildhaften Sprache und besonders seinen starken Symbolkonstruktionen Erinnerungen nicht nur zu erschaffen, sondern auch nachträglich zu verändern, macht es zum wohl mächtigsten und gleichsam gefährlichsten Gedächtnismedium; gefährlich weil es zur fortschreitenden Visualisierung von Kultur beigetragen hat und seine Nutzer dazu ermutigt, beim Erinnerungsprozess auf Medienbilder zu vertrauen, deren Verlässlichkeit in einem Konvolut aus verwischenden Grenzen zwischen Hier und Dort, zwischen Vergangenheit und Gegenwart und nicht zuletzt zwischen Fakt und Fiktion unsicher geworden ist.

Das gefährdete Fundament: Die Krise der Speicher

Damit das Fernsehen problematisierbar, studierbar, tradierbar und in einem ersten Schritt überhaupt angemessen reflektierbar werden kann, muss es seiner Flüchtigkeit enthoben werden. Dies verursacht zweifellos gravierende, neue Probleme für ein Medium, dessen Aufgaben immer in der Bewältigung gegenwärtiger Anforderungen bestanden und das eben nicht als historischer Quellenproduzent für die Ewigkeit verstanden wurde. Trotz aller technologischen Umwälzungen des kulturellen Lebens haben sich die Funktionen des Erinnerns über die Jahrhunderte hinweg kaum gewandelt: Auch heute noch stehen Identitätsstabilisierung und der kulturelle Zusammenhalt im Vordergrund gesellschaftlicher Erinnerungsarbeit. Eine grundlegende Veränderung erfuhr indes die Art und Weise, wie und mit welchen Instrumentarien erinnert wird. In den Mediengesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts haben die Mittel der Speicherung und Zirkulation von Druck- und elektronischen Medien eine Aufwertung erfahren, die sie in der Frage der sozial dominanten Erinnerungspraxis über jegliche performativ-ritualistische Traditionsausübung stellt. Mit der Abhängigkeit von außerkörperlichen Wissensdepots erfährt das menschliche Gedächtnis zwar eine Objektivierung, indem es sich auf materiell bzw. immateriell gespeicherte Inhalte beziehen kann, die den Risiken der psychologischen Fehlbarkeit enthoben sind. Dafür wird jedoch in Kauf genommen, dass Gedächtnisinhalte wie Erinnerungsanlässe den Bedingungen des Materials und der Tech-

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

nologie überantwortet werden, womit das erste maßgebliche Merkmal der Speicherkrise erkennbar wird: Die latente Gefahr der Vernichtung von Zeugnissen der Vergangenheit durch Zerstörung von Speichervorrichtungen. Manfred Osten erkennt diesbezüglich eine „erosionsartige[.] Transformation des kulturellen, nationalen und individuellen Gedächtnisses", die mit der immer kürzer werdenden Halbwertzeit der Speichermaterialien korrespondiere (Osten 2005, 186). Während Papyrus noch Jahrtausende und das papierene Buch noch einige hundert Jahre überdauern konnte, ist die Unsicherheit groß, wie lange die zeitgenössischen Speicher elektronischer Medieninhalte ihr Gut vorhalten können; denn die Langzeitstabilität von audiovisuellen Datenträgern, seien es Magnetbänder oder elektronische Speicher, wird angstvoll in Frage gestellt. Wenn auf die Speicher kein Verlass mehr ist, wird auch die Zukunft des Erinnerns unsicher. Das bereits erwähnte Paradox eines scheinbaren Erinnerungsbooms innerhalb der Gesellschaft und ihren Medien bei einer gleichzeitigen Krise des Gedächtnisses konnte erst durch die vollkommene Medialisierung des gesellschaftlichen Lebens Konturen annehmen. Die nicht zu leugnende Faszination für Geschichte, wie sie vor allem in der Zunahme historischer Thematiken in den unterschiedlichsten Fernsehgenres zum Ausdruck kommt, entstand auch durch die offensichtlich werdende Trennung zwischen Gegenwart und Vergangenheit innerhalb der Erfahrungswelt der Menschen: Bereits das Europa des 19. Jahrhunderts erlebte eine beispiellose Obsession mit der Geschichte, gerade weil die Kulturindustrie für immer neue künstlerische und publizistische Perspektiven auf das Vergangene damals noch in literarischer Form sorgte (vgl. Terdiman 1985: 14-16). Heute prägen zumeist Fernsehproduktionen mit Event-Charakter den Blick auf die Geschichte. Ob der semantischen wie energetischen Macht der Überlieferung wächst das retrospektive Interesse am historisch Bekannten und Unbekannten unaufhörlich an und wird von einem Medienangebot begleitet, dessen Erfolge alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Vergangenheit ist greifbar, modellierbar geworden, nimmt vor Augen und Ohren Gestalt an und verblüfft immer wieder mit täuschend lebensechten Nachahmungen und Animationen. Gleichsam muss der Mediennutzer der Gegenwart durch die erschütternde, aber immer selbstverständlicher werdende Augenscheinlichkeit der televisuellen Repräsentationen erkennen, dass das Vergangene zwar effektvoll simuliert werden kann, gerade deshalb aber für immer verloren ist und die Zeugnisse der Geschichte von Zerstörung bedroht sind, weil sie nicht den psychischen Imperativen des menschlichen Geistes gehorchen, sondern den physikalischen Deteriorationsprozessen ihrer materiellen Existenz: ,,[A] simple, if devastating, perception emerged from the experience and from the contemplation of these factors. It was the realization that nothing is natural about our memories, that the past - the practices, the habits, the dates and facts and places, the very furniture of our existences - is an artifice, and one susceptible of the most varied and sometimes of the most guilty manipulation. [...] Since the nineteenth century, memory appears as the mechanism by which ideology materializes itself. The century automated this process considerably. This is one reason why what I have been

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terming ,natural' or .organic' memory increasingly appeared a problem" (Terdiman 1985:19-20 - Hervorh. im Orig.). Die Krise war also seit jeher ein immanenter Bestandteil mediatisierter Gesellschaften, für die sich das Problem des Verlustes mit besonderer Vehemenz stellt. Gespeichert, das heißt im Zweifelsfall vergessen: Erinnerungsverlust durch Materialverlust, Verlust von Aufzeichnungen, Verlust von Hinweisreizen (vgl. Osten 2005). Speicher entlasten kognitive Ressourcen, weil sie eingelagert werden können. Ohne Speicher kann die Bewahrung kultureller Zeugnisse in einem hochkomplexen Weltgefiige nicht gewährleistet werden. Mit der Konzentration auf die mediengestützte Erinnerung wird das Gedächtnis somit zu einem technischen Problem, das für jedes Medium spezifische Maßnahmen erfordert, um die betreffenden Inhalte als Dokument und Erinnerungsanlass zu erhalten. Die positive Konsequenz, durch die Entlastung des persönlichen Gedächtnisses mithilfe der Überantwortung von Erinnerungselementen an Speicherträger eine Steigerung an Freiheit bei jener Entscheidung zu genießen, welche Erinnerungen tatsächlich gelebt werden (Reese-Schäfer 1995: 39), entschärft also nicht das Dilemma der kulturanthroposophischen Abhängigkeit von physikalischen Unwägbarkeiten. Mit der Determinierung von Erinnerungen durch die Technik wird der nicht-menschliche Aktant im Sinne Latours zum Zünglein an der Waage. Das zweite Symptom der Speicherkrise betrifft die Bewältigung des vorhandenen Wissens und der neu hinzukommenden Inhalte. Zwar klagte auch Nietzsche schon über die Übermacht der Geschichte in Form stark anwachsender und für den Einzelnen nicht mehr überschaubarer Geschichtsüberlieferungen. Doch haben die rapiden Kapazitätssteigerungen im Feld der elektronischen Datenträger zu einer Wissensexplosion im Sinne einer medial gespeicherten Informationsanhäufung geführt, die bisher ungekannte Anforderungen an die Verwaltung und Auswahl des angesammelten Materials stellt. Der Umfang der medialen Überlieferungen seit 1950 hat bereits Dimensionen erreicht, welche jene der vorhergegangenen fast 1.500 Jahre Kulturproduktion weit übertreffen (vgl. Assmann 2004c: 77). Ob es sich um eine Wissens- und Unwissensgesellschaft handelt, entscheidet sich daher mit ihrer Fähigkeit, das gespeicherte Wissen nicht nur zu sichern, sondern ihm auch geistig habhaft zu werden, es effektiv zu verwalten und jederzeit funktional nutzbar machen zu können. Weinrich beschreibt in diesem Zusammenhang zwei historische Gedächtniskrisen, von welchen vor allem die letztere die Integrität von Kultur und Wissenschaft heutzutage belaste: „Der Humanismus war ein gewaltiger Bildungsschub, in dem ein zuvor nie gekanntes Maß an neuem Wissen, an neuen Informationen angesammelt wurde. Da entstand die erste große Gedächtniskrise. Es war plötzlich so viel Wissen verfügbar, dass sich das Problem der Selektion stellte. Wir erleben heute die zweite große Gedächtniskrise, in der wir nicht einmal mehr wissen, was wir alles gespeichert haben und wer das eigentlich abrufen kann" (zitiert nach Krass 1997: 79). Ricoer dagegen kann sich nicht eindeutig entschließen, dieser Analyse zuzustimmen, die sich auf die Sammlungsfähigkeit von medial gespeicherten und nicht organisch vor-

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des Fernsehens

gehaltenen, mündlichen Überlieferungen bezieht - „insofern wir nicht wissen und vielleicht auch nie wissen werden, ob der Übergang vom oralen zum schriftlichen Zeugnis, zum Archivdokument, hinsichtlich seines Nutzens oder Nachteils für das lebendige Gedächtnis Arznei oder Gift ist -pharmakon eben" (Ricoeur 2004:258 - Hervorh. LK). Dass Ricoeur hier (durchaus auch verallgemeinerbar mit einem umfassenden Dokumentbegriff, der die elektronischen Bildmedien mit einschließt) auf die Doppeldeutigkeit des griechischen Terminus für Arznei und Gift rekurriert, ruft den Ausspruch des Schweizer Arztes und Mystikers Paracelsus in Erinnerung: „Dosis sola facit venenum" - „allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist" (Hohenheim (1915 [1538]): 25). Übertragen auf das gespeicherte Wissen lässt sich tatsächlich fragen, ob die stetig wachsende Zahl an Überlieferungen schädlich oder förderlich ist für Erinnerungsprozesse, ohne sich aber notgedrungen auf eine vorschnelle Antwort festlegen zu müssen. Stört zu viel Speichermasse das Gedächtnis oder verleiht es ihm neue Kraft? Aus individuell-konstruktivistischer Perspektive lässt sich konstatieren, dass, je mehr Wissensvorräte angehäuft werden, umso mehr Zusammenhänge verloren gehen und dadurch die Geschichtlichkeit leichter aus dem Blick gerät. Dies wiederum erhöht die Abhängigkeit von Wissensspeichern und macht das lebenslange Lernen zum Diktum des modernen Menschen, weil Gewissheiten verloren gehen bzw. längst verloren gegangen sind. Diese Wissensspeicher differenzieren sich immer weiter aus und erfordern wiederum erhöhten Aneignungsaufwand, der aber nur selten in ausreichendem Maße geleistet werden kann (vgl. Srubar 2006: 152-153). Eine Krise artikuliert sich also in einer Überforderung sämtlicher gesellschaftlicher und kultureller Instanzen, die das Spannungsverhältnis zwischen Erinnerung und Vergessen, Informationsgenerierung und Informationsentsorgung ausbalancieren müssen: „At issue is the distinction between usable past and disposable data" (Huyssen 2003: 18). Die Frage des Zugangs stellt sich somit als Demokratieproblem dar: Einerseits scheint es für die Maximierung der Überlieferungsbestände in einer Gesellschaft keine Alternative zu geben, damit diese auf einer möglichst breiten Erfahrungbasis handeln kann, wie z.B. alles verfügbare Wissen kommunikativ aneignungsfähig zu halten, andererseits vergrößern sich mit den Anschluss- und Auswahlmöglichkeiten auch die Schwierigkeiten der effizienten Nutzung. So offenbart sich auch das Verhältnis zwischen der zu bewältigenden Informationsmasse und der vielseitigen Produktions-, Selektions- und Zirkulationsleistungen des Fernsehens als Henne-Ei-Problem: Was war zuerst da, das Fernsehen oder die zeitgenössische Informationsschwemme? Ist das Fernsehen als zentrale gesellschaftliche Kommunikationsagentur und populäres Ausdrucksmittel eher Fluch oder Segen beim Umgang mit Erfahrenswertem und Überflüssigem? Macht es sich nicht eher der Überladung des kulturellen Fundus schuldig, indem es Tag für Tag rund um die Uhr auf allen Kanälen sendet und selbst erfahrene Nutzer leicht den Überblick verlieren und sich etablierte Wertmuster allzu häufig als unbrauchbar erweisen? Hat das weltweit aktive, tönende Bildmedium das erhöhte Informationsaufkommen zu verantworten, oder hat nicht erst die wachsende gesellschaftliche Komplexität und der Bedarf an massenmedialen Ange-

III. 10. Die Krise des Gedächtnisses als Chance

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boten das Fernsehen hervorgebracht, um die Kommunikationsfülle und Informationslast zu kanalisieren und zirkulierend bewältigbar zu machen? Als Kulturproduzent und Kulturver mittler macht sich das Fernsehen auf gleich zweierlei Weise verdient: Es trägt eindrucksvoll zur Überlieferungsbildung in einer audiovisuell geprägten Kultur bei und speist diese wiederum mit wichtigen Speicherinhalten, indem es neben seinen Leistungen aktueller Informierung auch historische Wissensinhalte und sonstige Vergangenheitsrepräsentationen in spektraler Abwechslungsbreite bietet. Sicher ist das Fernsehen jedoch nicht das ideale Medium, um mittels seiner Programme Zugang zu den Kulturspeichern zu gewähren, da es bei der Selektion nicht wissenschaftlichen Prinzipien folgt, sondern betrieblichen Imperativen unterliegt, auch wenn diese der Allgemeinheit verpflichtet sind. Wie gezeigt wurde, folgt die Aufarbeitung historischer Themen im Fernsehen zahlreichen problematischen Entwicklungen, welche zwar selbst einen durchaus hohen Vermittlungs-, Erkenntnis- und Erinnerungswert haben können, aber häufig die nötige Akkuratesse vermissen lassen sowie einer Ereignis- und Gefühlsperspektive den Vorrang geben. Schwerwiegender ist daher das allgemeine Augenmerk auf die Produktionsleistungen des Fernsehens, die aufgrund ihrer unübersehbaren Fülle und der Problematik ihrer Bewahrung insgesamt einer ungewissen Zukunft harren. Um die für ein flüchtiges und für die Synchronität, Simultaneität und Singularität seiner (Live-) Sendungen bekanntes Medium wie das Fernsehen an sich untypischen Vorkehrungen für die zeitüberdauernde Erhaltung von Zeugnissen der Fernsehgeschichte innerhalb der kulturinstitutionellen Infrastruktur gewährleisten zu können, muss sein historischer Wert nicht allein auf einer fachlich beschränkten Ebene wissenschaftlicher Disziplinen wie der Television Studies bzw. allgemein der Medien- und Kommunikationswissenschaften erkannt werden, sondern braucht eine breite gesellschaftliche Grundlage, die angesichts weiterhin grassierender Vorbehalte gegenüber der geschichtlichen Validität und der medialen Aussagekraft in kulturellen Schlüsselpositionen wie dem Literaturbetrieb, der Geisteswissenschaften und speziell Geschichtswissenschaft, der Pädagogik, aber auch auf politischen Ebenen nur schwer durchsetzbar erscheint. Widersprüchliche

Akzeptanzprobleme:

Das Fernsehen als kulturelles Erbe

Wie umfassend dargelegt werden konnte, vereinigt das Fernsehen gleich mehrere Gedächtnisfunktionen in sich: Es sorgt für die Tradierung und Verbreitung von Wissen, es erhält im geschlossenen Rahmen seiner medialen Apparatur die Vielstimmigkeit von Erinnerungselaborationen und schafft kollektive Erlebnisse durch die Gleichzeitigkeit der Vermittlung des Weltgeschehens. Als multidimensionales Gedächtnismedium sorgt es idealtypisch nicht allein für die generationenübergreifende Weitergabe von kulturell relevantem Wissen und dies durch seine Barrierefreiheit in einer nie zuvor dagewesenen Interpretationsvielfalt, sondern es gelingt ihm darüber hinaus durch seine audiovisuelle Ästhetik eine medial zuvor ungekannte Belebung der Gedächtnisinhalte. Zudem schafft es z.B. durch die instantané Teilhabe an Ereignissen, ohne dass die Zuschauer am Ort des Geschehens zu sein brauchen, die Grundlage für die Konstruktion kollektiver Erinne-

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

rungen. Fernsehen fungiert demnach nicht nur als Quell für gegenwärtige Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern auch für zukünftige Erinnerungen an die Gegenwart. Die Pluridimensionalität des Fernsehens greift also ein in die Konditionierung des Erinnerns, indem es das individuelle Erleben an einen gesellschaftlichen und sogar globalen Rahmen koppelt. Fernsehen mag als Suchtmittel bezeichnet werden oder als Zeitverschwendung. Es mag als unzuverlässige, tendenziöse und generell ideologisch fragwürdige Quelle oder als oberflächliche Bildermaschine dargestellt werden. Wenn auch solche kritischen Stimmen zutreffend sein können, wenn sie als Einzeldiagnosen in Bezug auf bestimmte Programmangebote verstanden werden, lassen sie jedoch jene Repräsentativität vermissen, die sie gemeinhin - durchaus auch implizit - für sich geltend machen. Meist sind die erhobenen Vorwürfe gegen das Fernsehen leicht zu entkräften. Doch die Rede vom Fernsehen als kulturell minderwertiges, gar anti-kulturell ausgerichtetes Medium treffen doch trotz all seiner nicht zu leugnenden Errungenschaften für die kulturelle Gemeinschaft und nicht zuletzt für die Schönen Künste und das erbauliche Geistesleben immer wieder auf Zustimmung. Ob die Kritiker nun zu wenig, zu viel oder zu unbedarft fernsehen oder einfach nur die falschen Maßstäbe anlegen, ist nachrangig: Entscheidend ist, dass weder jahrzehntelange Imagekampagnen der Industrie, einschließlich hoher Investitionen in ein komplexeres, vielleicht auch klügeres Fernsehen, noch eine Integration in den wissenschaftlichen Kanon wirklich Früchte getragen haben. Zu gewöhnlich, veralltäglicht und zu wenig fassbar ist das Fernsehen, so dass es nach wie vor leicht als Krisenphänomen wahrgenommen werden kann - und unter bestimmten Bedingungen auch werden muss. Doch verhindert eine kompromisslos kritische Abneigung gegen das Fernsehen, wie sie die populäre und nicht selten polemische Medienkritik vorträgt, indem sie gerne an den systemspezifischen Merkmalen der zeitgenössischen Medienkulturen vorbeiargumentiert, seine Akzeptanz als kulturtragende und kulturschaffende Instanz und damit einen Konsens, der den Ausgangspunkt bilden muss für eine breite gesellschaftliche und differenzierte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Mediums. Dass sporadisch und punktuell geführten Qualitätsdebatten von vornherein jegliche Erfolgschancen abgesprochen werden, dass Fatalismus vorherrscht, es werde sich ohnehin nichts ändern am Gesamtübel des makelhaften Fernsehprogrammbetriebs, macht offenbar, dass der einzig stabile Konsens darin besteht, sich über das Fernsehen ereifern zu können. Es mag aberwitzig erscheinen, dass dem Fernsehen trotz dieser Zweifel an seiner kulturellen Bedeutung immer noch ein hohes Maß an Vertrauen entgegengebracht und seinen Programmangeboten wertvolle Lebenszeit gewidmet wird. Dass Fernsehkonsum seinen Beigeschmack als sündiges Vergnügen abzulegen nicht imstande ist, kann darauf zurückgeführt werden, dass es vielen entscheidenden Stellen der Kulturgemeinschaften häufig noch an der nötigen Kompetenz weniger (aber auch) im Umgang mit dem Fernsehen, als vielmehr auch im Hinblick auf Verständnis, Hintergrundwissen und Kontextualisierungsfáhigkeit fehlt. So widerstrebt es auch weiten Teilen der Bevölkerung,

III. 10. Die Krise des Gedächtnisses

als Chance

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das Fernsehen als Kulturerbe anzuerkennen. Diese Einstellung hat solch pathologische Ausmaße erreicht, dass es immer wieder zu pauschalen Äußerungen über die Schädlichkeit des Fernsehens kommt, die regelmäßig Hysterien auslösen und Forderungen von Medienabstinenz nach sich ziehen. Ungeachtet dessen, dass solche Initiativen ihre Ziele auf durchaus nachvollziehbare kritische Beobachtungen gründen, muten die Öffentlichkeitsstrategien der Projekte zumeist an wie ein Kampf gegen das mediale Establishment bzw. den Geist kulturindustrieller Machteliten und bergen somit die Gefahr, am Kern der Probleme vorbei zu operieren.208 Wird die Klassifizierung eines Kulturträgers allein an qualitativ-inhaltlichen Wertzuschreibungen vorgenommen, gar verknüpft mit quantitativ-massenkulturellen Vorurteilen, ohne die gesamtsystemischen Zusammenhänge des (para-) sozialen Miteinanders mit einzubeziehen, beraubt sich eine Gesellschaft in nicht unwesentlichem Ausmaß ihrer kulturellen Handlungsfähigkeit. Wer das Fernsehen nicht versteht, kann auch das 20. Jahrhundert nicht begreifen. Um es mit einer abgewandelten These der „Zeit"-Autorin Christiane Grefe zu fassen: Die Gesellschaft sitzt ratlos vor dem Fernsehen, das sie angerichtet hat (vgl. Grefe 1992) - ratlos, nicht unwillig und der Vergangenheit nicht abgewendet, wie am Publikumserfolg von halbherzigen Bemühungen der Fernsehbranche nachvollzogen werden kann, die Fernsehvergangenheit in Rückblickshows, Wiederholungen von Erfolgsserien oder der in Form von DVD-Veröffentlichungen usf. zu feiern. Doch ein Bewusstsein für den Überlieferungswert der televisuellen Programmproduktion zu schaffen, wird vom Fernsehen selbst nur unzureichend wahrgenommen, da es seine Wiederholungspraxis fast ausschließlich zur Neukontextualisierung und/oder Verklärung einsetzt. Ein Begriff für die historische Tragweite dieses Mediums kann schlicht so lange nicht existieren, wie sein Wert als Kulturerbe nicht allgemein anerkannt ist und als Selbstverständlichkeit akzeptiert wird. Wie die Kommunikationswissenschaftlerin Amanda D. Lötz in ihrem Buch „The Television Will Be Revolutionized" zutreffend anmerkt, ist das Fernsehen schon lange nicht mehr auf divergente mediale Rahmungen angewiesen, um kulturell eingeordnet zu werden: Längst hat das Medium seine eigenen historischen Logiken und distinktiven Merkmale entwickelt (Lötz 2007: 256). Das Fernsehen ist auch unter gedächtnistheoretischer Perspektive ein kulturelles Unikum, das besondere Berücksichtigung verdient, gar erfor208 Ein typisches Beispiel für die generelle Ablehnung des Fernsehens nach dem Motto „The Great Time Killer" (vgl. Mehling 1962) ist die US-amerikanische Initiative „Turnoff Weeks" des Center for Screen-Time Awareness, die sich durch eine kompromisslose Ablehnungshaltung gegenüber elektronischen Medienangeboten auszeichnet. Die Initiative propagiert eine möglichst breite Fernsehabstinenz mit dem Ziel, „[to] improve health, education and wellness while building stronger families and communities" (CSTA o.J.). Eine andere Initiative mit dem Titel „Mental Detox Week" (Adbusters o.J.) warb dafür, wenigstens zwei Wochen im Jahr „TV-frei" zu leben. Einen eher aktivistischen Ansatz verfolgt der Hersteller einer Universalfernbedienung namens „TV-B-Gone", mit der jeder beliebige Fernsehapparat ausgeschaltet werden kann. Präferriertes Einsatzgebiet seien unter anderem Bars, Wartezimmer oder andere öffentlichen Orte, wo ungefragt laufende Fernsehapparate die Nerven der Anwesenden strapazierten (vgl. Schiesel 2004).

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III. Die Gedächtnisrelevanz

des

Fernsehens

derlich macht. Dennoch ist erstaunlicherweise ein ehrlicher Diskurs mit den vielgestaltigen Mitteln des Mediums allein offenbar nicht realisierbar: „Die Absicht, sich direkt und ohne taktischen Sicherheitsabstand über das zu unterhalten, was täglich gezeigt wird, ist längst nicht mehr erkennbar" (Keil 2008). Es ließe sich gar feststellen, das Fernsehen entbehre außerdem eines historischen Verständnisses für sich selbst. Dabei hat es nie eine bessere Ausgangsposition für die umfassende Thematisierung und Problematisierung des Fernsehens und seiner komplexen Genese gegeben als heute: Das Medium ist seit Jahrzehnten etabliert, der Ruf nach Extermination hat allenfalls noch etwas Kokettes. Dass nicht nur jedermann glaubt, mit Fug und Recht und basierend auf persönlichen Erfahrungswerten über das Fernsehen meckern zu können, sondern es tatsächlich Millionen autodidaktische Experten gibt, ist die große Stärke des Fernsehens, die nicht ausreichend erkannt wird und daher ungenutzt bleibt. „The truth is this: the more television there is, the less any of it matters. We have already entered a world in which, through sites like YouTube, anyone can publish anything. It's removed the magic from production. The more familiar people become with the medium, the more sceptical they're likely to be" (Paxman 2007). Das zeitigt nicht nur Konsequenzen für die Programmkritik, die oft parziell und in den meisten Fällen ohne Wirkung bleibt, sondern auch die persönlichen so tragfähigen Erfahrungen, die Gefahr laufen, in bloß nostalgischer Verbrämung zu münden. Genuine Erinnerungen an das Fernsehen bleiben auch deshalb meist unterentwickelt, weil sich zwar die Nutzung längst normalisiert hat, nicht aber die Haltung dazu oder auch die Erkenntnis der Signifikanz für das kulturelle Funktionsgefüge. Zur desolaten Situation hat das Fernsehen selbst beigetragen, einem Verständnis für die eigene Historizität entbehrend: Televisuelle Programminhalte dienen zwar vielen Zuschauern als erste Eintrittsstufe in den historischen Diskurs, dessen es zahlreiche gibt auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen. Doch man stößt schnell an Grenzen auch und vor allem in Bezug auf die Geschichte des Fernsehens selbst. Die Fähigkeit zu einer kritischen Eigenbeurteilung, gar zur audiovisuellen Medienkritik an sich, ist auf Seiten der Fernsehveranstalter notorisch unterentwickelt und findet allenfalls hinter verschlossenen Türen statt (vgl. auch Kübler 1988b; Bleicher 2005). Während beispielsweise die Literaturkritik durch die Publizität und Inszenierungsmittel des Fernsehens erst belebt wurde und weite Bevölkerungskreise für eine längst verloren geglaubte Kulturtradition zu begeistern wusste, haben sich die eigenen Mittel zur Selbstkritik als untauglich erwiesen: Hier entwirft sich das Fernsehen mit Blick auf seine institutionellen Betriebseinheiten als starres und alles andere als dynamisches, ja spontanes und wandelbares Medium. Selbstreflexion bleibt beschränkt auf schlaglichtartige, satirisch lancierte Polemik im Kleid unterhaltsamer Harmlosigkeit wie im Falle von Sendungen wie in den USA „The Daily Show" und „The Colbert Report" (beide Comedy Central) oder in Deutschland „TV Total" (ProSieben), „Kalkofes Mattscheibe" (Premiere/ProSieben) und „extra 3" (NDR). Das Potenzial wird vom Medium selbst aufgrund struktureller Hemmnisse wie Bindungen des Programmbetriebs an quantitativ relationierte Publikumsakzeptanz nicht

III. 10. Die Krise des Gedächtnisses als Chance

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annähernd ausgeschöpft. Aufklärungsarbeit, die immer auch als Erinnerungsarbeit verstanden werden muss, darf sich nicht allein an marktkonforme Zielgruppen wenden, wie es der Fernsehprogrammbetrieb vorschreibt, sondern an die allgemeine Öffentlichkeit in ihrer vollen Breite, vor allem an Schulen und weiterführende Bildungseinrichtungen, an die Wissenschaft, die sich mit Blick auf die vielfach verortete Gedächtnisrelevanz in einer fächerübergreifenden Annäherung üben muss, aber auch an die Fernsehbranche selbst. Selten war ein Medium so abhängig von seinem Werdegang, dessen Einfluss trotz aller Zukunftszuwendung nicht ausgeblendet werden kann. Das Fernsehen wird von seiner Vergangenheit verfolgt, ständig wird es an geschönten, nur selten zutreffenden Beschreibungen seiner Programm-, aber auch Institutionsgeschichte gemessen. Es besteht ein immenser Bedarf an historischer und allgemein professioneller Analyse des Fernsehens, die von einem der Allgemeinheit verpflichteten Medium, das die Wissenschaft nicht selten ignorierte, und die Wissenschaft es ihm gleichtat, nicht geleistet werden kann. Zu schwer fällt es den Sendeverantwortlichen und den Zuschauern gleichermaßen, unter den Prinzipien des nimmermüden Sendebetriebs Besinnung und Reflexion zu üben. Dem larmoyanten „Früher war alles besser" braucht zwar kein „Tune in, turn on and get smarter" eines Positivisten wie Steven Johnson (siehe oben) entgegengesetzt werden; doch das Fernsehen als Hinterlassenschaft und Auftrag einer Medienevolution zu begreifen, die Kultur(en) auf Dauer verändert und ihm seine eigentümlichen Erkennungsmerkmale und Logiken in allen Lebensbereichen anheimgestellt hat, ist eine Aufgabe, welche nur unter Beteiligung von Gedächtnisinstitutionen erfüllt werden kann, die eine Brücke zu schlagen imstande sind zwischen den altehrwürdigen Kulturtraditionen der literalisierten Gesellschaftsfundamente und dem elektronischen Massenmedium, das die bestehenden Kulturordnungen mit (Bild-) Macht herausfordert. Nicht von ungefähr finden sich in der Fernsehgeschichte einige der wichtigsten Schlüsselelemente der kulturellen Entwicklung, die bei der Erklärung vergangener, gegenwärtiger, aber auch zukünftiger Prozesse herangezogen werden können. Dabei sollte es nicht ausschließlich ums Verstehen gehen, um die Aufklärung einer Gesellschaft, die ihr meistgenutztes Massenmedium nicht zu schätzen und daher auch nicht angemessen zu reflektieren weiß, sondern auch um die Lust am Nacherleben der eigenen Fernsehvergangenheit, um die Wiederbegegnung mit den Fernsehhelden der Kindheit, um all jene Erlebnisse, die mit dem Fernsehen verbunden waren. All dies sind wichtige Bestandteile des autobiographischen Gedächtnisses von Millionen von Zuschauern und stellen Schnittmengen dar zwischen dem individuellem Gedächtnis und dem kollektiven Erfahrungsschatz, die aneignungsfähig gemacht werden müssen, um die Nahtstellen des sozialen Miteinanders zu festigen, indem über die Nutzung hinaus auch die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Leitmedium Fernsehen normalisiert wird und es eine angemessene Einordnung erfährt. Die Krise des Gedächtnisses bzw. der Kultur, die auf so verschiedene wie doch einvernehmliche Weise in Bezug auf das Fernsehen ausgerufen wurde, kann dadurch einen weitaus fruchtbareren Sinngehalt bekommen als die bloße Wehklage über ein kulturelles Beben, das nur wenige Steine des manifesten Theoriebau-

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Femsehens

werks um die schriftfixierte Metapher des kulturellen Gedächtnisses unverrückt gelassen hat. Umso notwendiger müssen die Historizität des Fernsehens sowie seine damit zusammenhängenden elektronischen und systemischen Signifikanzen problematisiert werden. Dafür fehlten lange die zutreffenden Instanzen, welche die Voraussetzungen für eine Zusammenführung von Rezipienten, Produzenten, Kritik und Wissenschaft schaffen und damit gleichsam ein Forum etablieren außerhalb der Gesetzmäßigkeiten des Sendebetriebs, um Fernsehen und Kultur sowie Fernsehen als Kultur zu entdecken, zu begreifen, zu kritisieren, aber auch zu genießen. Die ausgerufene Krise des Gedächtnisses sollte schon deshalb als Chance begriffen werden, weil die moderne Gesellschaft auf das Fernsehen nicht mehr verzichten kann und mit ihm umzugehen hat. Generationen von Menschen, die in einer von Massenmedien saturierten Atmosphäre sozialisiert wurden, haben sich mit dem Fernsehen arrangiert, es sich dienlich gemacht und haben Freude an seinen Angeboten gefunden. Dass und auf welche Weise das Fernsehen nach Jahrzehnten ununterbrochenen Sendebetriebs weit mehr prägt als die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit in der Erinnerung der Zuschauer umzudeuten weiß, wurde eingehend beschrieben. Das vermeintlich vergessliche, unstete, unfassbare und formenwandlerische Medium, das analog und digital in Wohn- und Schlafzimmern, Schaufenstern und Wartezonen, durch Bildröhren und leuchtende Transistoren, gar über Mobilfunkgeräte und den Computer seinen Weg zu den Nutzern findet, muss als Kulturerbe und Herausforderung angenommen werden, um dadurch erst die bleibende Relevanz des Fernsehens und seiner Inhalte ins Bewusstsein rufen zu können. Gleichwohl ist es kein prädestiniertes Gedächtnismedium im vorwiegend bewahrenden Sinne, sondern ist angewiesen auf Begleitmaßnahmen, um seine residualen Qualitäten herauszuarbeiten. Die Gedächtnismaschine Fernsehen ist ambivalent, dem Erinnern und Vergessen offen, die kognitiven Fähigkeiten seiner Zuschauer teils überlastend, teils ideal ausnutzend, sogar fördernd, und ein unter mnestischen Bedingungen schwer handhabbares Medium, das zahlreichen Unwägbarkeiten unterstellt ist. Gemessen am gesamten Sendeaufkommen korrespondieren die gesendeten Inhalte nur selten mit einer manifesten Entsprechung, welche ohne die Existenz des Fernsehbildes eine ausreichende Relevanz für die gesellschaftliche Erinnerung aufweisen und den kulturellen Fundus bereichern könnten, weil sie ohne ihre televisuelle Repräsentation schlicht nicht in das Bewusstsein einer vergleichbaren Menschenmasse drängen könnten. Das Fernsehen als Kulturerbe anzuerkennen bedeutet also auch, seine Inhalte für bewahrenswert zu erachten. Zwar hat Huyssen Recht damit, wenn er feststellt: „Media memory alone clearly will not suffice, even though the media occupy ever larger chunks of the social and political perception of the world" (Huyssen 2003:17). Es wäre tatsächlich zweifellos töricht, sich bei der Erinnerungsarbeit allein auf massenmediale Inhalte speziell des Fernsehens zu verlassen. Doch ebenso verheerend wäre es, diesen einflussreichen Wirklichkeits- und Erinnerungsgenerator bei der institutionalisierten Kulturarbeit auszublenden und damit einen Großteil des Erfahrungsspektrums der Gesellschaft zu vernachlässigen.

III. 10. Die Krise des Gedächtnisses als Chance

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Die zeitüberdauernde Tradierungsfunktion von audiovisuellen Medieninhalten jedoch ist nur schwach ausgebildet. Ein Grund sind die verbreiteten Präferenzen kultureller Eliten hinsichtlich des Gedächtniswertes von Medien, die hier in einem geradewegs schwärmerischen Zitat des Schriftstellers Siegfried Lenz zusammengefasst werden sollen, der wiederholt, welche herausgehobene Funktion der Literatur als ,,kollektive[s] Gedächtnis der Menschen" zukomme: „Sie ist der Speicher, die umfassendste Sammlung von Erlebtem und Gedachtem, sie ist ein einzigartiger Vorrat an Welterfahrung. Alles ist in ihr aufbewahrt, aufgehoben; alles, was erduldet und angenommen, was versucht und beklagt wurde in Jahrtausenden, hat in ihr seinen Ausdruck gefunden. Repräsentativer kann ein Gedächtnis nicht sein: zu seinem Inhalt gehören Weltangst und Götterzorn der frühen Jahre ebenso wie der riskante Traum vom Glück in unsern Tagen. Auflehnung und Resignation, Pflicht und Schande, Irrtum und Verhängnis und immer wieder die Erprobung neuer Lebensformen: alles ist gesammelt, liegt abrufbar bereit. Wir können es uns wieder aneignen, wir können es wieder erleben; das gehütete Gedächtnis verschafft uns die nötige Disposition. Denn darin liegt seine bestimmende Fähigkeit: in der Wiederherstellung früherer Erlebnisse, Eindrücke, Gefühle. Den Prozess, sich des Gedächtnisses zu bedienen, nennen wir Erinnerung" (Lenz 1989: 7). Was Schriftaufzeichnungen über Jahrtausende für sich beanspruchen konnten und damit auch in Zukunft ihre Relevanz für gesellschaftliche Erinnerungsprozesse unterstreichen, gilt seit Mitte des 20. Jahrhunderts mindestens ebenso für das Fernsehen. Nur wurde es diesem verhältnismäßig jungen Medium abseits geschäftlicher Bestrebungen verwehrt, eine auch nur annähernd gleichwertige Speicherfunktion auszubilden. Die pejorative Haltung etablierter Kulturwächter gegenüber den Fernsehinhalten, der Fernsehwirtschaft und der Fernsehtechnologie hat Versäumnisse verursacht, die der Überlieferungsbildung in diesem wichtigen Bereich kultureller Produktion irreparable Schäden zugefügt hat und weitreichende Negativfolgen für die Wahrnehmung des Fernsehens als zentrale Kulturinstanz nach sich zog. Eine wichtige Schlussfolgerung aus der theoretischen Untersuchung des Fernsehens als Gedächtnismedium ist das Erfordernis, ein so zentrales und auf sämtlichen gesellschaftlichen Handlungsebenen wirkendes Verständigungs-, Ausdrucks- und Vergemeinschaftungsinstrument wie das Fernsehen in Bezug auf seine vielseitige Gedächtnisrelevanz als genuinen Aufgabenbereich des Heritage Management zu berücksichtigen und ihm damit einen hohen Stellenwert in der institutionalisierten Kulturpraxis einzuräumen. Nur auf diese Weise kann gewährleistet werden, dass die Hervorbringungen des Fernsehens auf allen Ebenen der Produktion, Distribution und Nutzung weit über die Anforderungen der Gegenwart hinaus für die perspektivische Erinnerungspraxis einsetzbar gemacht werden können und dem Medium die Chance eingeräumt wird, über die marktorientierte Pflege von Senderimages hinaus seinen institutionellen Identitäten eine historische Tiefe zu verleihen, die nur in Abstimmung mit den kulturellen Kontexten und Determinanten und ergo auf Basis eines televisuellen Fundus erfolgen kann, der unabhängig

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

von der Programmgestaltung zugänglich ist. Die hierfür notwendigen Maßnahmen betreffen die Verfügbarkeit von Hinterlassenschaften des Fernsehens (Programminhalte, Unterlagen, Ausstattungsgegenstände, technische Reliquien, Kontextmaterialien usf.), die Rekonstruktionsfähigkeit derselben sowie ihre Zugänglichkeit. Dadurch erhält das einstmalige Paradebeispiel eines ephemeren Mediums eine völlig neue Wertigkeit, die weit über die beschränkte Funktionalität des Wiederholungsvorgangs im laufenden Programm hinausgeht. Als Wegbereiter eines von den institutionellen Mechanismen gelösten Bewahrungsprozesses können die technischen Innovationen zur privaten Aufzeichnung gelten. Das Internet hat zudem den großen Schritt in der Fernsehentwicklung vom Rundfunk- zum Abrufmedium herbeigeführt, wodurch, wie dargelegt, ein Wandel in den Nutzungsprioritäten angestoßen wurde, dessen Konsequenzen für die televisuelle Ordnung heute noch nicht abzusehen sind. Je mehr sich das Fernsehen als aufhebbares Medium erweist, und sich dies auch in den Köpfen der Nutzer und der Produzenten niederschlägt, desto überfälliger wird die Frage seiner Bewahrung und des Nutzens, der daraus gezogen werden kann. Insofern lässt sich dem Krisendiskurs und den radikalen kulturellen Veränderungen, auf die er sich bezieht, auch etwas Positives abgewinnen: Die Aufmerksamkeit breiter Bevölkerungsschichten wird auf das Problem der Beständigkeit von Kultur und ihren Medien gelenkt und das Bewusstsein dafür gestärkt, wie wichtig verlässliche Gedächtnisinstitutionen für das Erinnern in komplexen Gesellschaftsgefügen sind (vgl. auch Assmann 2004b: 57). Erinnerungskulturen verändern sich ständig, wobei Massenmedien dem weiten Feld an Kulturinstitutionen gegenüber im Vorteil sind, weil sie zeitnaher und bedingt flexibler auf die Veränderungen reagieren können. Dennoch spielt die institutionelle Verankerung der Verwaltung des Kulturerbes weiterhin eine wesentliche, wenn nicht die tragendere Rolle (vgl. Misztal 2 0 0 7 : 3 9 2 - 3 9 3 ) . Die Schwierigkeit besteht darin, die auseinanderstrebenden Instanzen konstruktiv zusammenzuführen und in Beziehung zueinander zu setzen. Das Fernsehen ist mehr als ein Instrument zur Belebung von Gedächtniselementen durch Zirkulation, sondern entwirft sich zudem unter Zuhilfenahme kultureller Tradierungstraditionen als produktiver Bildspeicher, der das Speichergedächtnis bzw. den kulturellen Fundus ergänzt. Die Verwalter dieses Fundus müssen vermehrt intermedial auswählen, arrangieren und integrieren. Dadurch wird verhindert, dass nachwachsende Generationen durch das Festhalten an althergebrachten Sammlungsgewohnheiten und Erfassungsschemata in den zentralen Gedächtnisinstitutionen Archiv, Bibliothek und Museum entfremdet werden, weil sie ihre Erfahrungswelt im selektiert verewigten Kulturerbe nicht wiederfinden. Hinzu kommt, dass sich das klassische Fernsehen als lineares Programmmedium langsam zu einem archäologischen Relikt entwickelt: Nicht ohne Grund wurde in den vergangenen Jahren immer häufiger von einem „Age of Television" (u.a. Buonanno 2 0 0 8 ) gesprochen, weil sich bereits dessen Ende anzukündigen droht. Traditionelle Medienzuschreibungen müssen zunehmend in Frage gestellt werden: Bald, so die Prognose, wird kaum noch treffend von Presse, Radio, Buch oder Fernsehen

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zu sprechen sein, weil das Internet nicht einfach ein neues, höher entwickeltes Medium darstellt, sondern es vielmehr alle bestehenden Massenmedien in sich aufzusaugen, sie umzudeuten und ihre Ausdrucksformen und publizistischen Wirkungen neu zu definieren verspricht (vgl. Kramp/Weichert 2008c: 4). Und wenn unter dem Eindruck solch starker Konvergenztendenzen der „Tod" des Fernsehens als audiovisueller Fixpunkt der vergangenen Jahrzehnte schon seit einiger Zeit ausgemachte Sache zu sein scheint (vgl. u.a. Gilder 1994: 22; Topic 2002: 4; Boddy 2003; Spigel/Olsson 2004; McRae 2006; Hachmeister 2008), ist es nicht verfehlt zu konstatieren: Das Fernsehen ist museumsreif, jedoch nicht im Sinne eines Abgesangs, sondern eines Neuanfangs unter dem Vorzeichen der Transition. Auch wird das Fernsehen als zentrale Erfahrungs- und Erinnerungsagentur der Mediengesellschaften zunehmend in Frage gestellt. Zwangsläufig lebt die Debatte um die Rechtfertigung des klassischen Rundfunks neu auf, wenn sich der Medienwandel in Richtung einer Dominanz der virtuellen Sphären und Vertriebskanäle des Internets entwickelt. Während dadurch der Legitimitätsdruck auf das gebührenfinanzierte Fernsehen in Deutschland wächst und durch die demographische Entwicklung einer auf lange Sicht abnehmenden Zahl von Gebührenzahlern verschärft wird, steht das kommerzielle Fernsehen hierzulande wie in Nordamerika vor dem Problem eines schwächelnden Anzeigengeschäfts, das sich zunehmend ins Internet verlagert (vgl. Arango 2009: 1). Fernsehen ist längst nicht Vergangenheit, doch die historisch gewachsenen Strukturen und institutionalisierten Logiken und Regulative verlieren an Geltungskraft. So sehr sich Nutzungsverhalten und Anspruchshaltung des Publikums verändern hin zu einem partizipativen, gemeinschaftlichen MedienbegrifF, verschieben sich auch bisher sicher geglaubte Rollenbegriffe wie Produzent und Rezipient. Die zuvor oft nur vermutete und theoretisch formulierte kognitiv-konstruktive sowie selektive Aktivität des Zuschauers ist heute konkreter messbar als jemals zuvor und findet engagiert-produktiven und kritisch-kommunikativen Ausdruck in den vielfältigsten Formen nutzergenerierter Inhalte, interaktiven Feedbacks und der allgemeinen Bereitschaft, ein mediales Angebot nicht nur zu konsumieren, sondern nach individuellen Vorlieben mitzugestalten und seine Wunschvorstellungen einzufordern. Eine Erinnerungskultur ist so lebendig wie das Mediennutzungsverhalten ihrer Mitglieder: Welche (massen-) medialen Bouquets anderen gegenüber bevorzugt werden und wie sie auch als Ausgangspunkt genommen werden für selbstgeleitete Anstrengungen des publizistischen und künstlerischen Ausdrucks, entscheidet über die Zukunft der Erinnerung. „The explosion in audiovisual creativity is sowing the seeds for a more participative, expressive democracy", schlussfolgern beispielsweise die Autoren der Studie „Video Republic", in der das Fernsehen als Fundament eben dieser audiovisuellen Republik vor den und durch die Bildschirme verstanden wird (Bradwell/Hannon/Tims 2008). Zu Beginn dieses Kapitels, in dem der Versuch unternommen wurde, in den schwarzmalerischen Krisendebatten über das Fernsehen und die Situation des Erinnerns in der Gegenwartskultur positive Aspekte für eine Zusammenführung nur scheinbar gegenläu-

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III. Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens

figer Prozesse zu erkennen, steht ein Zitat des Computervisionärs Nicholas Negroponte, dessen These besagt, dass die Zukunft des Fernsehens darin bestehen müsse, Fernsehen nicht mehr als Fernsehen zu verstehen. Negroponte bezog sich dabei auf all jene digitalen Konvergenzentwicklungen, welche die bestehenden Medienordnungen über den Haufen zu werfen drohen und die Möglichkeit einräumen, den Fernsehbegriff neu zu denken und auf das weite Feld der elektronischen Audiovision auszuweiten. Doch Negropontes Bonmot lässt sich auch als kultur-preservationistischer Appell lesen, und zwar dann, wenn es tatsächlich als Chance begriffen wird, die eingefahrenen Vorurteile, die gemeinhin mit dem Fernsehen verbunden werden, zu vergessen, um seiner retrospektiven wie prospektiven Bestandsicherung eine höhere Priorität einzuräumen. Um an dieser Stelle kurz auf die in Band 2 folgende empirische Untersuchung vorzugreifen, in der ausgehend von den gedächtnistheoretischen Erkenntissen spezifischen Problemen der FernseherbeVerwaltung sowie den daraus folgenden Implikationen und Lösungsansätzen für archivische, bibliothekarische und museale Institutionen nachgegangen wird, lässt sich mit dem kanadischen Bewegtbildarchivar Sam Kula feststellen: Fernsehen ist nicht nur Teil der Medienkultur, sondern der Kultur und ihrer Geschichte insgesamt - aller ausdifferenzierten Teilkulturen von mediatisierten Gesellschaften, um genau zu sein. Eben diese mnestisch signifikante Qualität gelte es in einer öffentlichen Gedächtnisorganisation aufzugreifen und zum Dreh- und Angelpunkt der Erinnerungsarbeit zu machen, so Kula: „I think it needs to talk about how television is part of culture in general: the cultural politics, the cultural fashion, the culture of sports, the culture of architecture - all aspects of culture are affected by or reflected in television. In that way it can be a very deep experience as well." Unter diesem Blickwinkel ist es gerade wichtig, die spezifische Historizität des Fernsehens zu verstehen. Unentschieden ist, wer den Wandel, den nicht erst das Fernsehen, sondern die gesamte Medienlandschaft weltweit erfährt, moderieren und diese Vermittlungsleistung zwischen Info-Eliten, Medienvertretern und der breiten Nutzerschar auf die Basis eines reichen Überlieferungsfundus gründen kann. Die Betriebslogiken der Medien sind zumindest denkbar ungeeignet, um das kulturelle Speichergedächtnis zu stützen und aus ihren intrinsischen Eigenschaften heraus einen notwendigen,Blick von außen einzunehmen, um mit der notwendigen Distanz die Gesamtlage bewerten zu können. Es braucht also Institutionen, die als Anlaufstellen für die Verwahrung und Erhaltung der Zeugnisse des Vergangenen bürgen und sie in wechselnden Kontexten zugänglich machen: „Der letzte dieser Kontexte, der diese Reste vor der Zerstörung und dem Vergessen bewahrt, ist das Museum oder das Archiv. Museum und Archiv ebenso wie Forschungsbibliotheken sind kulturelle Orte, an denen eine Gesellschaft die Überreste und Spuren der Vergangenheit aufbewahrt, nachdem diese ihre lebendigen Bezüge und Kontexte verloren haben. [...] Sobald diese aus ihren Gebrauchskontexten herausfallen, werden sie zu stummen Zeugen der Vergangenheit, die von Spezialisten neu gedeutet werden müssen" (Assmann 2006: 54).

545 Archive, Bibliotheken und Museen teilen sich gemeinsam die gesellschaftliche Dokumentationsfunktion und bilden den natürlichen Schutzwall von Medienkulturen gegen den unvermeidlichen Zerfall der materiellen Welt (vgl. Schärer 2003: 59). Dennoch, und das bildet den Ausgangspunkt für die sich anschließende empirische Untersuchung des Television Heritage Management bzw. der Fernseherbe-Verwaltung, also der archivischen und musealen Arbeit über das und mit dem Fernsehen, entzieht sich die ungewöhnliche Gedächtnismaschine einer eindeutigen Zuordnung in die klassischen Ordnungsstrukturen der institutionellen Gedächtnisorganisationen und hat mittels seiner Überlieferungen ein radikales Umdenken in den wesentlichen Fragen der Sammlung, Bewahrung und Zugänglichmachung des kulturellen Erbes angestoßen.

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Gedächtnismaschine Fernsehen Band 2 Probleme und Potenziale der Fernseherbe-Verwaltung in Deutschland und Nordamerika

Leif Kramp

Gedächtnismaschine Fernsehen Band 2 Probleme und Potenziale der Fernseherbe-Verwaltung in Deutschland und Nordamerika

Akademie Verlag

Der Druck dieses Buches wurde großzügig gefördert von der FAZIT-Stiftung Gemeinnützige Verlagsgesellschaft und der Historischen Kommission der ARD.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-05-004977-9 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2011 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandabbildung: Gert von Bassewitz, Triad Berlin: Ausstellung „Der Traum vom Sehen", 1997-1998, Gasometer Oberhausen Covergestaltung: pro:design, Berlin Druck & Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad Langansalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

IV.

Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

1. Methodische Grundlegung 1.1.

Fallspezifische Dokumentenanalyse

1.2.

Leitfadengestützte Expertenbefragung

1.3.

Organisationsanalyse

2. Das Ringen um die Fernsehgeschichte: Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung 2.1.

Die drei Pfeiler der gesellschaftlichen Erinnerung

2.1.1.

Das Archiv

2.1.2.

Die Bibliothek

2.1.3.

Das Museum

2.2.

Die „Deutsche Mediathek" als Symptomatik

2.2.1.

Schwunghafter Auftakt mit moralischer Empörung: Erste Konturierungen der „Deutschen Mediathek"

2.2.2.

Der Stein des Anstoßes: Überlieferungslücken und der Streit mit den Archivaren

2.2.3.

Das Ausmaß der Zuwendung: Das Auswahl- und Rechteproblem

2.2.4.

Verantwortung Fehlanzeige: Die Suche nach förderwilligen Trägern

2.2.5.

Annäherung an ein flüchtiges Medium: Der lange Weg zur Konzeption

2.2.6.

Konturierung eines Dilemmas: Organisationsspezifische Annäherung an das Gedächtnismedium Fernsehen

Inhaltsverzeichnis

6 2.3.

Medien- und kulturpolitische Rahmenbedingungen

54

2.3.1.

Späte internationale Weichenstellung

54

2.3.2.

Das Modell des „starken Staates"

57

2.3.3.

Das Modell des „schwachen Staates"

60

2.3.4.

Implikationen der Modelle des „schwachen" und „starken" Staates für die Verwaltung des Fernseherbes

64

2.4.

Die Entwicklung der Fernsehbewahrung in Nordamerika

70

2.4.1.

Die Nationalbibliothek des US-amerikanischen Kongresses (Library of Congress)

71

Das Film- und Fernseharchiv der Universität von Kalifornien (UCLA Film & Television Archive)

72

Das Fernsehnachrichtenarchiv der Vanderbilt Universität (Vanderbilt Television News Archive)

73

Die Fernsehsammlung der Peabody Awards an der Universität von Georgia (Walter J. Brown Media Archives & Peabody Awards Collection)

74

Das Zentrum für Film- und Theaterforschung an der Universität von Wisconsin (Wisconsin Center for Film and Theatre Research)

75

Die Bibliothek des US-amerikanischen Rundfunks an der Universität von Maryland (Library of American Broadcasting)

76

Das Paley Center for Media (ehem. Museum of Television & Radio bzw. Museum of Broadcasting)

77

2.4.8.

Das Museum of Broadcast Communications

79

2.4.9.

Das Moses Znaimer Fernsehmuseum (MZTV Museum)

80

2.4.2. 2.4.3. 2.4.4.

2.4.5. 2.4.6. 2.4.7.

2.4.10. Museen zur Fernsehtechnik in den USA 2.5.

80

Kulturerbe versus Programmvermögen: Der Widerstreit zwischen Kulturschutz und Wirtschaftsinteresse

81

2.5.1.

Rechtsproblematik im Programmbetrieb

82

2.5.2.

Die Rechtssituation in den USA, Kanada und Deutschland

85

2.5.3. 2.5.4.

Unklarheiten im Umgang mit Fernsehprogramm-Überlieferungen Die drei Imperative der televisuellen Kulturerbe-Verwaltung: Unwissenheit, Verwirrung, Angst

89

2.5.5.

Änderungsbedarf in der Rechtspraxis nach Expertenmeinung

97

2.6.

Finanzierungsmodelle und Förderstrukturen

102

2.6.1.

Irreal oder Potenzial: Wunsch und Wirklichkeit bei der Finanzierung von televisuellen Gedächtnisinstitutionen

102

91

Inhaltsverzeichnis

2.6.2.

7

Förderungskultur/Kulturförderung: Quellen finanzieller Unterstützung

109

2.6.2.1. Staatliche Hilfen

109

2.6.2.2. Förderfundament aus Philanthropen, Spendern und Sponsoren

112

2.7.

118

Schlussfolgerungen

3. Sammeln, Bewahren, Zugang ermöglichen: Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

122

3.1.

Der Griff in den Äther: Fernsehen als diffiziles Sammelobjekt

122

3.1.1.

Akquisepraxis zwischen Automatismus und Zufall

125

3.1.2.

Die Qual der Wahl: Strategien priorisierender Kriteriensetzung

133

3.1.2.1. Auswahlstrategien nach Institutionstypus

135

3.1.2.2. Auswahlstrategien nach Überlieferungslage

139

3.1.2.3. Temporale Auswahlstrategien

141

3.1.2.4. Methodologische Auswahlstrategien

143

3.1.2.5. Gedächtnisspezifische Auswahlstrategien

158

3.1.2.6. Kriterienmix als Königsweg

165

3.1.3.

Der vernachlässigte Kontext: Sammeln wider die Ganzheitlichkeit

167

3.1.4.

Die Unfassbarkeit des Virtuellen: Sammeln audiovisueller Inhalte im Internet

173

3.1.5.

Schlussfolgerungen

183

3.2.

Die Eternisierung des Ephemeren: Komplikationen bei der Bewahrung des Fernseherbes

186

Verloren und Vergessen? Die Irreversibilität von Überlieferungsverlusten

186

Aktuelle Bewahrungshaltung zwischen Unbelehrbarkeit und Bewusstseinswandel

199

Maßnahmen zur Langzeitarchivierung

202

3.2.1. 3.2.2. 3.2.3.

3.2.3.1. Im Wettlauf gegen die Zeit: Materialisiertes Fernsehen zwischen Zerfall und Formatwirrwarr

203

3.2.3.2. Die digitale Zukunft: Erzwungener Paradigmenwechsel oder die Lösung aller Probleme?

210

3.2.4. 3.2.5.

„Spread the Burden": Kooperative Lösungsansätze für eine ungewisse Zukunft

222

Schlussfolgerungen

227

Inhaltsverzeichnis

8 3.3. 3.3.1. 3.3.2.

Das Rumoren der Nutzer: Hürden beim Zugang zu Fernsehüberlieferungen

232

Zwischen Verweigerung und Verständigung: Die vier Ebenen des Zugangsproblems

235

Von der Sackgasse auf die Datenautobahn? Die Revolutionierung des Zugangs im Internet

262

3.3.2.1. Vom Suchen und Finden: Herausforderungen bei der Indexierung von Erinnerungsanlässen

262

3.3.2.2. Zwischen krimineller Aberration und anarchistischem Pioniergeist: Auf dem Weg zu einer neuen Archivkultur im Internet

271

3.3.2.3. Zwischen Illusionierung und Bedarfsbefriedigung: Virtuelle Zugangsangebote der Fernsehindustrie

288

3.3.2.4. Auf der Schwelle zur Marginalisierung: Öffentliche Gedächtnisorganisationen im Legitimationskampf

302

3.3.3.

313

Schlussfolgerungen

4. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen: Nebulositäten und Pragmatismen einer ungewöhnlichen Medien-Allianz 4.1.

320

Antipodische oder synergetische Massenmedien: Museen und das Fernsehen

321

4.1.1.

Popularisierung der Museumskultur im massenmedialen Zeitalter

322

4.1.2.

Fernsehen im Museum: Heterotope Variationen

334

4.1.3.

Ausstellung des Ausgestrahlten: Kommunikative Vermengung konträrer Vermittlungsansätze

344

4.1.4.

Das Fernsehmuseum als rezeptives Paradoxon

360

4.1.5.

Schlussfolgerungen

376

4.2.

Museale Bildungsstrategien als conditio sine qua non gesellschaftlicher Erinnerungsarbeit in Fernsehmuseen

378

„Down the Memory Lane": Bildungsarbeit im Fernsehmuseum zwischen Nostalgie und Aufklärung

387

Zielgruppenansprache zwischen Erinnerungsgemeinschaften und Bildungsträgern

392

Neue Herausforderungen der medienspezifischen Kompetenzförderung

400

4.2.4.

Kooperative Ansätze zur Ausweitung von Bildungsoptionen

411

4.2.5.

Veranstaltungskonzepte als dynamisch-prozesshafte Funktionalisierungsinstrumente

421

4.2.1. 4.2.2. 4.2.3.

Inhaltsverzeichnis

4.2.6.

9

„Museum without Walls": Raumsprengende Öffentlichkeitsstrategien

432

4.2.7.

Schlussfolgerungen

442

4.3.

Fallstudien zur institutionsspezifischen Modellierung fernsehbezogener Museumsarbeit

447

Drang zur Erneuerung: Museales Television Heritage Management in den USA

448

4.3.1.

»

4.3.1.1. Vorreiter mit Anschlussschwierigkeiten: Das Paley Center for Media

449

4.3.1.2. Schwach trotz lokaler Stärken: Das Museum of Broadcast Communications

463

4.3.1.3. Auf der Suche nach Zusammenhang: Das American Museum of the Moving Image

475

4.3.1.4. Selbstverliebte, interaktive Wundertüte: Das Newseum

488

4.3.2.

506

Der kanadische Weg: Kleine Schritte, innovative Museumslösungen

4.3.2.1. Erfolg durch die Nische: MZTV Museum

506

4.3.2.2. Beschlagenes Schaufenster: CBC Museum

520

4.3.3.

Im Kampf um das Mögliche: Fernsehmuseale Projekte in Deutschland

4.3.3.1. Televisuelle Technikgeschichte auf Sparflamme: Das Projekt Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden

530 531

4.3.3.2. Zwischen Notlösung und Impulsgeber: Die Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen

543

V. Bewertende Zusammenfassung 1. Transatlantische Parallelen: Von übergreifenden Trends und Problemherden 2. Das Fernsehmuseum der Zukunft: Handlungsempfehlungen für Gedächtnisorganisationen mit unsicheren Perspektiven

569 577

Verzeichnisse 1. Abkürzungsverzeichnis

586

2. Literatur- und Quellenverzeichnis

587

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

1.

Methodische Grundlegung „Theorie muss [...] in Beispielen sprechen können, sie muss am Material zeigen, was sie kann - und dazu gehört auch, dass ihr ein kühner Durchgriff auf die Empirie gelingt, sie mit Kombinationswitz überrascht, zum Staunen bringt und neugierig macht auf mehr und anderes Wissen" (Frahm/Wegmann 2005: 54).

Wie multi-disziplinär eine medienkulturwissenschaftliche Analyse des Fernsehens unter dem Fokus seiner pluri-dimensionalen Gedächtnisrelevanz sein kann und sein muss, wurde im ersten Band der vorliegenden Arbeit aufgezeigt. Die Zuhilfenahme theoretischer Ansätze und Modelle aus überwiegend voneinander getrennten Wissensfeldern und ihre Zusammenführung unter dem Forschungsziel, aus dem Massenmedium und seiner kulturellen Funktionalisierung heraus dessen vielgestaltige Bedeutung als Gedächtnismedium zu erklären, führt, wie bereits im Zwischenfazit „Die Krise des Gedächtnisses als Chance" argumentiert wurde, zwangsläufig zu der Frage, auf welch einfallsreiche und adaptiv-kreative Weise(n) Individuen, Organisationen sowie Sub- und Gesamtgesellschaften sich in welchen institutionsspezifischen Zusammenhängen die Voraussetzungen dafür schaffen, sich ihres Leitmedium erinnerungsfunktional bedienen zu können. Die Komplexität der zugrundeliegenden Forschungstraditionen, die bemüht wurden, um die zutiefst mit den Enkulturationsprozessen zeitgenössischer Gesellschaften verbundene Rolle des Fernsehens bei der Identitäts- und Erinnerungsbildung zu untersuchen, wirkt sich auch auf die Ausarbeitung eines empirischen Untersuchungsdesigns aus, mit dessen Hilfe die Konsequenzen der theoretischen Analyse für die Arbeit der Fernseherbe-Verwaltung zumal in den divergenten Kulturräumen Nordamerika und Deutschland ermittelt werden soll. Inwiefern prägen politische, rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen die Fernseherbe-Verwaltung? Welche Sammlungsstrategien haben sich ausgebildet? Welche Probleme ergeben sich bei der Bewahrung von Überlieferungen des Fernsehens? Wie wird

12

IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

der Zugang zum televisuellen Fundus bewerkstelligt? Und welche originären Mittel und Wege finden gerade Museen, sich dem Fernsehen zu bemächtigen, um ihren öffentlichen Auftrag insbesondere im Hinblick auf die Erinnerungsarbeit zu erfüllen? Die Diskussion der Fragen, die sich aus der ambivalenten Bedeutung des Fernsehens als erinnerungskultureller Faktor für die Strategien der traditionell für die Erhaltung und Verwaltung des Kulturerbes zuständigen Gedächtnisorganisationen Archiv, Bibliothek und Museum ergeben, kann aufgrund eines diesbezüglich unzureichenden interdisziplinären Fachdiskurses sowie einer fehlenden übergreifenden empirischen Grundlegung nur durch eine möglichst breite empirische Datenerhebung zu konstruktiven Ergebnissen führen. Inwiefern politische, juristische und wirtschaftliche Rahmungen sowie infrastrukturelle Voraussetzungen den Aufbau und die Bestandhaftigkeit institutioneller Initiativen zur Bewahrung und Funktionalisierung des Fernseherbes erschweren, lässt sich nur sehr eingeschränkt und basal durch jeweils fachbezogene Fremdanalysen untersuchen. Hier ist vielmehr der Rückgriff auf Primärquellen wie kultur- und medienpolitische Positionen, Gesetzestexte, aber auch Dokumente über Fördermaßnahmen und organisationsinterne Budgetierungen erforderlich, um die Rahmenbedingungen der Fernseherbe-Verwaltung fundiert analysieren zu können. Die hierzu im ersten Schritt notwendige Identifizierung der maßgeblichen Problembereiche beruht auf der fallspezifischen Analyse von unveröffentlichten Dokumenten aus der Entwicklungsgeschichte des Projektes „Deutsche Mediathek", die beispielhaft für die generellen Schwierigkeiten bei der Schaffung einer televisuellen Gedächtnisorganisation untersucht werden. Um über die strukturellen Hindernisse hinaus auch Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie eine Organisation zur Pflege des vielgestaltigen Fernseherbes ihre Arbeit aufnehmen und den erinnerungskulturellen, also auch Informations- und Unterhaltungsbedürfnissen, das heißt wiederum auch den erlebnis-, partizipations- und bildungsspezifischen Ansprüchen zeitgenössischer Publika in mediatisierten, speziell vor allem televisualisierten Gesellschaften genügen kann, wurde des Weiteren eine umfangreiche Expertenbefragung durchgeführt. Die qualitative Erhebung von in unterschiedlichen Fachbereichen gewonnenen Erfahrungswerten, Einschätzungen, Bewertungen und Prognosen erweist sich in Bezug auf das Forschungsthema als aussichtsreiche Methode, ohne die das Untersuchungsziel aufgrund der bisherig als unzureichend zu bewertenden Forschungstätigkeit in diesem Bereich unter entsprechender Fragestellung und institutionsübergreifender Ausrichtung nicht zu erreichen wäre. Gleichwohl werden die daraus gewonnenen Daten dort, wo es möglich und angebracht ist, mit Erkenntnissen aus vorliegenden fachwissenschaftlichen Studien oder dokumentarischen Quellen relationiert. Damit auch die Anwendbarkeit der Ergebnisse der empirischen Untersuchung über aktuelle Problemstellungen, Lösungsoptionen und Handlungsperspektiven der Fernseherbe-Verwaltung unter gedächtnistheoretischer Perspektivierung gewährleistet ist, wurden außerdem acht Fallstudien durchgeführt, in welchen unter anderem Prinzipien der Institutionsanalyse und der Ausstellungsanalyse vereint werden.

I V.l. Methodische

Grundlegung

13

Die Gestaltung des Untersuchungsdesigns in Form dieses Methodenpluralismus (vgl. Pickel 2009: 517-519) kennzeichnet die forschungspragmatische Herangehensweise der gesamten Studie, durch die qualitativen Erhebungs- und Auswertungsmethoden valide und möglichst umfassend gültige Erkenntnisse über Situation und Zukunft des institutionalisierten Umgangs mit Überlieferungen aus der Fernsehgeschichte bei der Erinnerungsarbeit im weitesten Sinne zu gewinnen. Die Kombination der methodischen Instrumentarien verspricht weiterhin, die auf unterschiedliche Weise erhobenen Daten miteinander bzw. gegenseitig zu verifizieren oder zu falsifizieren. Die gemeinsame Nutzung unterschiedlicher Techniken verringert dabei das Fehlerrisiko, weil davon ausgegangen werden kann, dass „es äußert unwahrscheinlich ist, eine fehlerhafte Information in beiden Techniken gleichermaßen oder sich gegenseitig kompensierend zu erhalten; ausgeschlossen ist dies jedoch nicht" (Lamnek 2005: 317). Der maßgebliche Vorteil des beschriebenen ,Methodenmixes' besteht nichtsdestotrotz darin, dass sich mit einer empirischen Erhebungsmethode allein das erhoffte Erkenntnisziel nicht erreichen ließe: „[A] mixed methods study is more than the sum of its parts. Mixed method researchers are likely to be using the approach in order to address distinctive research questions that can only be answered with a mixed methods approach, and that is likely to mean that the investigation will aim to generate something that is over and above its individual quantitative and qualitative components" (Bryman 2008: 89).

1.1.

Fallspezifische

Dokumentenanalyse

Als Ausgangspunkt der empirischen Untersuchung wurde die langwierige und schließlich gescheiterte Entwicklung einer nationalen Einrichtung zur breiten Zugänglichmachung von Fernsehprogramm-Material in Deutschland gewählt, die unter dem Projektnamen „Deutsche Mediathek" bekannt wie berüchtigt wurde. Verfolgt wird hier die These, dass die Hürden, mit welchen die Mediatheksplaner zu kämpfen hatten, solch grundsätzlicher Natur waren, dass sich anhand dieses Beispiels einige integrale Problemkomplexe aufzeigen lassen, die unabhängig von nationalen Kontexten Gültigkeit beanspruchen. Der konzeptionelle Ansatz der „Deutschen Mediathek" wurde bisher wissenschaftlich allenfalls spärlich und nur unter archivischen Gesichtspunkten untersucht. In ihrer Dissertation „Politique des archives audiovisuelles" fokussierte Catherine Saracco die Debatte um die „Deutsche Mediathek" unter dem Gesichtspunkt der Verwaltung audiovisueller Überlieferungen in Deutschland und konzentrierte sich dabei vor allem auf die Situation der Rundfunk-Archive zur Jahrtausendwende (Saracco 2002). Weiterhin beschäftigte sich Aycha Riffi in ihrer Magisterarbeit mit dem Titel „Zur Archivierung des Fernsehens" aus dem Jahre 1999 am Rande mit der „Deutschen Mediathek", indem sie das Konzept einer repräsentativen Sammlung von Fernseh- und Hörfunkprogrammen und deren Präsentation einer Totalarchivierung gegenüberstellte (Riffi 1999). Eine Studie, welche die gesamte Entwicklungsgeschichte der medienpolitisch kontrovers disku-

14

IV, Status Quo und Perspektiven

der

Fernseherbe-Verwaltung

tierten Initiative im Detail und unter der offenen Fragestellung, welche Ziele und Ansätze ein nationales Museum zur deutschen Fernsehgeschichte entwickeln könnte, problematisierte, wurde vom Autor dieses Buches in Form seiner Magisterarbeit vorgelegt (Kramp 2005). Wegen der spärlichen Literaturlage zu diesem Themenbereich erscheint es nicht nur sinnvoll, sondern auch zwingend notwendig, in erster Linie schriftliches Quellenmaterial aus der Entwicklungsgeschichte der „Deutschen Mediathek" zu analysieren. Nur auf diese Weise ist es möglich, die mit diesem Projekt zusammenhängenden Intentionen und Problematiken herauszuarbeiten und näher zu beleuchten. Ein großes Hindernis bei der Erschließung des Quellenmaterials ist das Fehlen einer zentralen Archivierungsstelle für diese Dokumente, darunter vor allem Protokolle, Korrespondenzen, Konzept-Entwürfe, aber auch für die Öffentlichkeit bestimmte Broschüren und Pressemitteilungen. ,,[A]ußerhalb des Staatsapparats [besteht] nur selten das Bedürfnis nach langfristigen Rückgriffsmöglichkeiten, und so werden schriftliche Unterlagen von den aktenführenden Stellen oder Personen nur so weit geordnet und nur so lange aufbewahrt, wie es für aktuelle Bedürfnisse erforderlich ist" (Schmidt 2004a: 77). Die für die Beschäftigung mit dem Themenkomplex notwendigen Unterlagen lagern bei unterschiedlichen Institutionen wie der Akademie der Künste Berlin und der Stiftung Deutsche Kinemathek in Berlin - indes nur in recht unvollständiger Zahl. Die überwiegende Zahl aussagekräftiger Dokumente befindet sich in mehreren Privatarchiven ehemaliger Planungsbeteiligter oder ihrer Angehörigen - größtenteils nicht in Aktenform, sondern als lose Blattsammlungen.1 Angesichts des verstreuten, in erheblichem Maße nicht archivisch erschlossenen und zu überwiegendem Teil nicht zugänglichen Quellenmaterials wird im Folgenden zwar versucht, bei Verweisen auf die jeweiligen Dokumente möglichst detailgenaue Angaben zu ihrem Verwahrungsort zu machen, doch kann damit bedauerlicherweise nicht die Problematik der unzureichenden Erschließung eines Teils der Dokumente in einer archivischen Einrichtung gelöst werden. Die Vorteile einer Dokumentenanalyse liegen hier in erster Linie an der dadurch ermöglichten differenzierten Aufarbeitung der Historie sowie der Problembereiche, welche die Gründung einer „Deutschen Mediathek" über Jahre erschwert und schließlich verhindert haben. Ergänzt wird die Analyse des Quellenmaterials durch die Auswertung einzelner begleitender Presseveröffentlichungen, die Einblick geben in die Wahrnehmung des Projektes ,νοη außen bzw. in der von der Presse hergestellten Öffentlichkeit. Das Hauptaugenmerk liegt indes auf der unveröffentlichten Dokumentation der Planungsarbeit. Erst durch die Auswertung von internen Papieren werden die persönlichen Beweggründe

1

Dem Autor liegt eine Vielzahl von Protokollen, Konzeptpapieren, Korrespondenzen und anderweitigen Kontextdokumenten aus der 15-jährigen Planungsphase der „Deutschen Mediathek" in Kopie vor, die ihm freundlicherweise aus privater Hand sowie von den einzelnen Archivinstitutionen übergeben wurden. Die Recherchen des Autors in den Jahren 2004 und 2005 stießen zum Teil auch archivische Erfassungsmaßnahmen an, so dass ein Teil der überlieferten Dokumente, die sich im Archiv der Akademie der Künste in Berlin befinden, mittlerweile katalogisiert wurde.

IV. 1. Methodische

15

Grundlegung

der Beteiligten ersichtlich, weil sie „weitgehend unabhängig von amtlichen oder geschäftlichen Befugnissen" (vgl. Schmidt 2004b: 111) als ehrenamtlich engagiertes Mitglied der Initiative selbst zu Wort kommen, ob protokollarisch, durch die Mitteilung von Gedanken in Briefform oder mittels eigener Konzeptentwürfe. Protokolle beispielsweise von Vereinssitzungen - verfasst als „Nachweis oder zur Gedächtnisstütze" (Schmid 2004a: 90) - stellen wichtige Zeugnisse sozialer Handlungszusammenhänge dar, die durch die authentische und systematische Dokumentation der Zusammenkünfte als Quelle nicht wertvoll genug bewertet werden können, auch weil sie gemeinhin nicht öffentlich zugänglich sind. Die deskriptive Thematisierung und Problematisierung der einzelnen Etappen der Mediatheksentwicklung verfolgt das Ziel einer hermeneutischen Quellenexplikation: Die anhand von Primärquellen erfolgende Darlegung und Erklärung des Scheiterns deseigenständigen Institutionalisierungsprozesses eröffnet die Möglichkeit, „aus dem dokumentierten Handlungsfluss die hinter dem Handeln stehenden Regeln und normativen Strukturen [zu] rekonstruieren" (Kromrey 2000: 522-523). Entsprechend werden aus den Interaktionskontexten rund um den Mediatheksgedanken .„latente', also hinter der Oberfläche wirksamen Strukturen" (ebd.: 523) abgeleitet, die den Ausgangspunkt bilden für die nähere Auseinandersetzung mit den aktuellen Determinanten und Imperativen des televisuell konzentrierten Tätigkeitsbereichs der Kulturarbeit.

1.2.

Leitfadengestützte

Expertenbefragung

Für die vorliegende Untersuchung wurden insgesamt 55 Intensivinterviews mit 63 Experten aus den wesentlichen Bereichen der audio- und televisuellen Kulturgutsicherung und -Verwaltung in Deutschland, den USA und Kanada geführt. Ziel dieser Erhebung war es, ein möglichst differenziertes Bild von den aktuellen Anliegen, Mechanismen und Problemen der Fernseherbe-Verwaltung insgesamt in diesen Staaten zu erhalten, welche die Grundlage für das gesellschaftliche Erinnern an das und mit dem Fernsehen schafft. Diese breite Expertenbefragung bildet in ihrer nach unterschiedlichen fachlichen Domänen geordneten und international-komparativ angelegten Durchführung die zentrale Mittelsäule des Untersuchungsdesigns. Es wird davon ausgegangen, dass die kompetente Beurteilung der sich gegenseitig überlappenden und medienkulturell miteinander verwobenen, ja ineinander aufgehenden und zur Debatte stehenden Aufgabenbereiche erst unter Rückgriff auf explizites Sonderwissen möglich ist (vgl. Liebold/Trinczek 2009: 33), das aufgrund der beruflichen Tätigkeit eines Experten bewusst erlernt und erinnert werden kann: „Grundsätzlicher geht es dabei um Wissen, das man braucht, um (den) Ursachen von Problemen und um (den) Prinzipien von Problemlösungen auf den Grund zu gehen. In Abgrenzung insbesondere zum Spezialisten verfügt der Experte also insofern über ein umfassenderes Wissen, als es ihn nicht nur zur Problemlösung, sondern zur Erkenntnis und zur Begründung sowohl von Problemursachen als auch von Lösungsprinzipien befähigt" (Pfadenhauer 2007:452).

16

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Gefolgt wird hier einer wissenssoziologischen Fokussierung des Experten, der sich von allgemein gut informierten Laien dadurch abgrenzt, dass er durch seine meist berufliche Tätigkeit wertvolles erfahrungsbasiertes und reflektiertes Spezialwissen erworben hat (vgl. Bogner/Menz 2005: 41-42). Da das Forschungsinteresse darauf ausgerichtet ist, allgemeingültige Prinzipien, Logiken, aber auch Innovationsstrategien und Problemlösungskonzepte zu eruieren, wäre die Untersuchung nicht ohne das Erfahrungs- und Reflexionswissen von Experten durchführbar (vgl. Meuser/Nagel 1991: 445): „Wenn es [...] darum geht, die Perspektive von Experten auf Prinzipien des Sachverhalts bzw. auf Sachlogiken, auf Probleme und ihre Ursachen, auf Lösungen und ihre Konsequenzen in Erfahrung zu bringen, dann ist das Experteninterview ein nicht nur brauchbares, sondern ein unerlässliches, eine Art ,Surplus'-Verfahren der empirischen Sozialforschung" (Pfadenhauer 2007: 460). Im Vordergrund der Methodenanwendung steht daher das Ziel, „Wissensbestände im Sinne von Erfahrungsregeln, die das Funktionieren von sozialen Systemen bestimmen" (Meuser/Nagel 1991: 466), zu erheben, um daraus normative Urteile und Handlungsempfehlungen für institutionelle Prozesse abzuleiten. Aus diesem Grund wurde eine Anonymisierung der Gesprächspartner bewusst ausgeschlossen: Die institutionelle Zuordnung des jeweiligen Experten ist ebenso eine Voraussetzung für den Wert der Aussagequalität wie die Identifizierung des Experten als sich persönlich äußerndes Individuum; schließlich handelt es sich bei den diskutierten Fragen in hohem Maße um strittige und deutungswürdige Themen. Damit wurde zwar das Risiko eingegangen, durch die namentliche Exponiertheit des Befragten auf bestimmte Fragen allgemein bevorzugte idealtypisch formulierte Antworten zu erhalten, gerade wenn es sich um normativ stark aufgeladene Probleme wie dem verantwortungsvollen Umgang mit historischen Überlieferungen handelt (vgl. Brosius/Koschel 2005: 99). Hier müssen Risiko und Nutzen gegeneinander abgewogen werden: Durch die im persönlichen Gespräch ausgeschöpfte Möglichkeit der kritischen Nachfrage kann die Gefahr einer nicht-authentischen Elaboration durch den Befragten zwar nicht ausgeschlossen, aber abgemildert werden. Der Nutzen einer klaren namentlichen wie institutionsbezogenen Einordnung von individuell zum Ausdruck gebrachten Sichtweisen in den Gesamtzusammenhang und damit eine Steigerung der qualitativen Aussagekraft persönlich begründeter Erläuterungen und Standpunkte überwiegt deutlich. Im Anschluss an Froschauer und Lueger wurde die Auswahl der Experten anhand von drei maßgeblichen Expertisetypologien vorgenommen (vgl. Froschauer/Lueger 2003: 37-39): Das Hauptfeld der Befragten ist einer systeminternen Handlungsexpertise zuzurechnen, die sich durch eine besondere Tiefe des Erfahrungswissens im betreffenden institutionellen Zusammenhang auszeichnet. Hierzu sind die Mitarbeiter der Archive, Bibliotheken/Mediatheken und Museen zu rechnen. Bei der zweiten, kleineren Gruppe von Experten liegt eine sogenannte feldinterne Reflexionsexpertise vor, das heißt: Sie befinden sich an der Schnittstelle zwischen Praxis und Wissenschaft und nehmen beispielsweise beratende Funktionen ein, verfügen also Kenntnisse über die Arbeitsbedingungen

IV.l. Methodische Grundlegung

17

innerhalb des Cultural Heritage Managements, sind aber durch ihre unabhängige Positionierung von einer äußeren Reflexionsebene aus involviert. Der dritten Gruppe von Befragten mit einer externen Expertise schließlich sind jene Experten zuzurechnen, die über ein fundiertes theoretisches Wissen in Bezug auf das Untersuchungsfeld verfügen und daher interdisziplinäre Zusammenhänge herstellen können, die neue Wege auch für die Praxis der Fernseherbe-Verwaltung aufzeigen mögen. Um ein möglichst umfassendes Bild der fernsehbezogenen Archiv-, Bibliotheks- und Museumsarbeit in Nordamerika und Deutschland gewinnen zu können, wurden neben Vertretern der jeweils führenden televisuellen Gedächtnisorganisationen in Deutschland, Kanada und den USA auch unabhängige Fachleute aus Wissenschaft und Praxis befragt, die der zweiten und dritten Expertengruppe zuzuordnen sind und bereits über einzelne Problemstellungen des zu untersuchenden Bereichs publiziert haben, über eine internationale Expertise in begleitenden Fragen der Museumsarbeit und -theorie verfügen oder Erfahrungen in der televisuellen Erinnerungsarbeit sammeln konnten. Auf gedächtnisorganisationeller Ebene wurden insgesamt 15 Senderarchive und drei Universitätsarchive, zwei Bibliotheken, eine Mediathek sowie ein Mediathekenverbund und zehn Museen für die Befragung ausgewählt. Nach Möglichkeit wurden im Falle einiger Institutionen mit zentraler und auch internationaler Bedeutung für das Untersuchungsfeld mehrere verantwortliche Mitarbeiter interviewt, um ein möglichst feingliedriges und umfassendes Bild von der Einrichtung, ihren Arbeitsweisen und den damit einhergehenden konkreten Problemstellungen zu erhalten. Folgende Institutionen sind mit dem viergliedrigen Sample erfasst:

Archive

Senderarchive Nordamerika: - ABC News (Film/Videotape Library and Archives), New York -

CBC (Libraries, Archives & Documentation), Toronto CBS (News Archive), New York

-

CNN (CNN Library), Atlanta Fox News (Archive), New York

-

NBC (News Archives), New York

-

PBS (Program Data & Analysis), Arlington

IV. Status Quo und Perspektiven der

18 Archive (Fortsetzung)

Senderarchive

Fernseherbe-Verwaltung

Deutschland:

-

Bayerischer Rundfunk BR (Historisches Archiv), München

-

Deutsches Rundfunkarchiv, Wiesbaden

-

Norddeutscher Rundfunk NDR (Abteilung und Archive), Hamburg

-

ProSiebenSat. 1 (DokuCenter),

Berlin und Programmarchiv),

Dokumentation

-

RTL Television (Nachrichten-

-

Südwestrundfunk SWR (Abteilung Dokumentation Baden-Baden

Köln

-

Westdeutscher Rundfunk WDR (Abteilung Dokumentation Archive), Köln

-

Zweites Deutsches Fernsehen ZDF (Geschäftsbereich Bibliothek - Dokumentation), Mainz

und Archive), und

Archiv -

Universitätsarchive: -

UCLA Film & Television Archive, Los Angeles

-

Vanderbilt Television News Archive, Nashville

-

Walter J. Brown Media Archives and Peabody Awards Collection an der University of Georgia, Athens

Korrelationsinstitution: Bibliotheken/ Mediatheken

National Archive des British Film Institute, London

Nordamerika: -

Library of American Broadcasting, College Park

-

Library of Congress, Washington, D.C./Culpeper

Deutschland:

Museen

-

Bundeszentrale für politische Bildung (MedienKommunikationszentrum Berlin), Berlin

-

Netzwerk Mediatheken, Bonn

und

Nordamerika: -

CBC Museum, Toronto Museum of Broadcast Communications, Chicago

-

American Museum of the Moving Image, New York

-

MZTV Museum, Toronto

-

Newseum, Washington, D.C.

-

Paley Center for Media, New York

Deutschland: -

Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen, Berlin

-

Deutsches Technikmuseum, Berlin

-

Projekt Deutsches Fernsehmuseum, Wiesbaden

-

Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn

IV. 1. Methodische Grundlegung Wissenschaft/ Beratung

19

Nordamerika: - Lord Cultural Resources, Toronto -

Massachusetts Institute of Technology (Comparative Media Studies Program), Cambridge New York University (Museum Studies; Tisch School of Arts), New York

-

Northwestern University (School of Communication), Chicago

-

Syracuse University (S.I. Newhouse School of Public Communications), Syracuse University of Georgia (Peabody Awards), Athens

-

University of Toronto (Museum Studies), Toronto

-

University of Wisconsin (Wisconsin Center for Film & Theater Research), Madison Deutschland: - Humboldt-Universität zu Berlin (DFG-Teilprojekt zur Programmgeschichte des DDR-Fernsehens am Institut für deutsche Literatur; Seminar für Medienwissenschaft), Berlin -

Institut für Wissensmedien, Tübingen

Tabelle 3: Im Untersuchungs-Sample erfasste Institutionen. Weder die Auswahl der untersuchten Institutionen noch diejenige der Experten ist als repräsentativ einzustufen, sondern erfolgte vielmehr mit besonderem Augenmerk auf die Typizität der betreffenden Einrichtungen und Akteure, die - von den zentralen Erkenntnissen der theoretischen Analyse und den Fragestellungen der Untersuchung geleitet - zunächst in einer Basisauswahl konfirmatorisch zusammengestellt und daraufhin weitere in Form eines „progressive theoretical sampling" (Altheide 1996: 33) in das Befragtenfeld mit aufgenommen wurden. So wurde das Sample der Inteviewpartner durch die in den Gesprächsverläufen neu gewonnenen Erkenntnisse im fortwährenden Abgleich mit den theoretischen Grundüberlegungen bis zum Abschluss der Erhebung kontrolliert erweitert. Bei der Auswahl wurde zudem vermieden, sich allein den Ballungszentren der Fernsehwirtschaft und den Marktführern zuzuwenden. Zwar entbehrt das nach qualitativen Gesichtspunkten zusammengestellte Sample natürlicherweise jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit, jedoch wurden die angefragten Institutionen mit dem Anspruch selektiert, möglichst viele signifikante Akteure der privatwirtschaftlichen und der gemeinnützigen Fernseherbe-Verwaltung zu erfassen. So wurden auf Seiten der Senderarchive nicht nur die fünf den nordamerikanischen Fernsehmarkt dominierenden kommerziellen Networks ABC, CBS, CNN, Fox und NBC ausgewählt, sondern auch die öffentlichen Veranstalter PBS (USA) und CBC (Kanada), aus deren entgegengesetztem Grundversorgungs- bzw. Bildungsauftrag allein sich schon wesentliche Impulse für die Verwaltung ihrer Fernsehüberlieferungen ableiten lassen. Aufgrund der intern teils

20

IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

stark voneinander abweichenden Organisationsstrukturen - zum Teil gibt es übergeordnete Archiwerwaltungen wie bei PBS und CBC, zum Teil selbständig arbeitende Programmarchive in den Bereichen Nachrichten und Unterhaltung - wurde das Sample bei den US-amerikanischen Privatsendern auf die Nachrichtenarchive begrenzt, die durch den hohen Materialbedarf der zugehörigen Sendeabwicklung unter einem besonderen Produktionsdruck stehen und mit einem hohen Verwaltungsaufwand konfrontiert werden. In Deutschland wurde das Sample dahingehend etwas ausgedehnt: Neben den Fernsehprogrammarchiven des Norddeutschen Rundfunks, des Südwestfunks und des Westdeutschen Rundfunks sowie den Nachrichtenarchiven der privaten Sender ProSiebenSat.l und RTL wurden zusätzlich auch das Archiv für fiktionale Programminhalte von RTL sowie das Historische Archiv/Unternehmensarchiv des Bayerischen Rundfunks aufgenommen, um hier unter der Maßgabe der Erhebung beispielhafter Daten die Möglichkeit zu erhalten, auch diese wichtigen Bereiche der Fernseherbe-Verwaltung mit der Expertenbefragung abzudecken. Für die Situation der Universitätsarchive, die sich in ihrer Gesamtheit zweifellos in sehr unterschiedlicher Manier und Ausprägung der Sammlung von Fernsehüberlieferungen zugewandet haben, stehen im Sample exemplarisch die in ihrer jeweiligen Expertise führenden Archive der University of California in Los Angeles, der Vanderbilt University in Nashville und der University of Georgia in Athens. Weitere wichtige Bildungseinrichtungen, die sich der Sammlung und Pflege von bestimmten Teilen des Fernseherbes verschrieben haben, sind die University of Maryland und die Library of Congress in den USA sowie die Bundeszentrale für politische Bildung und die Initiative Netzwerk Mediatheken in Deutschland, die allesamt mit einem Vertreter zu Wort kommen. Auch finden sich einige weitere Hochschulen aus Berlin, Cambridge, Madison, New York, Syracuse, Toronto und Tübingen im Sample, dies jedoch nicht aufgrund ihrer institutionellen Expertise, sondern derer einzelner Wissenschaftler, die sich im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit den Belangen von televisuellen Gedächtnisorganisationen zugewandt haben und sich damit im Expertenfeld profilieren konnten. Die Auswahl der einzelnen Befragten erfolgte einerseits durch die Sichtung einschlägiger fernsehwissenschaftlicher Literatur, andererseits durch die Teilnahme an internationalen Konferenzen zu Fragen der Kulturgutsicherung wie unter anderem der Jahrestagung des Verbandes Association of Moving Image Archivists im Oktober 2006 in Anchorage, Alaska, der Television History Conference im September 2006 an der University of Georgia in Athens, Georgia sowie der Konferenz zur „Digitalen Langzeitarchivierung" der Deutschen Nationalbibliothek im April 2007 in Frankfurt am Main, wo Kontakte zu einzelnen Experten geknüpft werden konnten und Empfehlungen an weitere potenzielle Gesprächspartner ausgesprochen wurden. Alle Museen bzw. Museumsinitiativen im Untersuchungsfeld wenden sich dezidiert dem Fernseherbe zu, wobei das Deutsche Technikmuseum und das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ähnlich wie das Fernseharchiv des British Film Institute nur von korrelativem Interesse für die Untersuchung sind, auch weil die befragten

IV. 1. Methodische Grundlegung

21

Vertreter in der Vergangenheit mit Ausstellungsprojekten oder in ihren Rollen als Verbandsfunktionäre wichtige Impulse im Rahmen der Verwaltung und Funktionalisierung des Fernseherbes gegeben haben. Die Auswahl der Befragten erfolgte also einerseits mit einem klaren Institutionsfokus, das heißt: im Vordergrund stand die Expertise der jeweiligen Organisation (dies trifft außer den genannten Ausnahmen auf den Großteil der Archiv-, Bibliotheks- und Museumsvertreter zu); andererseits wurde nach expertischer Qualifizierung einzelner Personen ausgewählt, das heißt: die institutionelle Zugehörigkeit war für die Auswahl nicht vorrangig (dies trifft im Wesentlichen auf die Wissenschaftler und Berater im Sample zu). Gleichwohl war auch beim institutionellen Fokus die persönliche Expertise des Befragten ausschlaggebend, die sich vorrangig durch die bekleidete Leitungsfunktion im betreffenden Segment ausdrückt: „Im Unterschied zu anderen Formen des offenen Interviews bildet bei Expertinneninterviews nicht die Gesamtperson den Gegenstand der Analyse, d.h. die Person mit ihren Orientierungen und Einstellungen im Kontext des individuellen oder kollektiven Lebenszusammenhangs. Der Kontext, um den es hier geht, ist ein organisatorischer oder institutioneller Zusammenhang, der mit dem Lebenszusammenhang der darin agierenden Person gerade nicht identisch ist und in dem sie nur einen .Faktor' darstellt" (Meuser/Nagel 1991:442). Im Folgenden sind die Gesprächspartner im Einzelnen, geordnet nach ihrer zum Zeitpunkt des Gesprächs ausgefüllten institutionell-funktionalen Zugehörigkeit und in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt: Archive

Bibliotheken/

Museen

Wissenschaft/B eratung

Mediatheken Ruta Abolins,

Chuck Howell,

Don Adams,

Bruce J. Altshuler,

Head, Walter ). Brown Media Archives and Peabody Awards Collection, Athens, Georgia

Curator, Library of American Broadcasting, University of Maryland, College Park, Maryland

Curator, CBC Museum, Toronto, Ontario

Adjunct Professor, Museum Studies, New York University, New York City, New York

Susan Bennett,

Jane Johnson,

Michael Adams,

Howard Besser,

Director, News Research, CNN Library, Atlanta, Georgia

Project Manager, Moving Image Collections, Library of Congress Packard Campus for Audio-Visual Conservation, Culpeper, Virginia

Producer/Administrator, MZTV Museum, Toronto, Ontario

Professor/Director, Moving Image Archiving & Preservation, Tisch School of Arts, New York University, New York City, New York

Susanne Betzel,

Mike Mashon,

Günter Bartosch,

Dr.

Leitung, Programmarchiv, RTL Television, Köln

Head of the Moving Image Section of the Motion Picture, Broadcasting and Recorded Sound Division at the Library of Congress, Washington, D.C./Culpeper, Virginia

Vereinsmitglied, Projekt Deutsches Fernsehmuseum, Wiesbaden

schmidt,

Thomas

Beutel-

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, DFG-Teilprojekt zur Programmgeschichte des DDR-Fernsehens am Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin

Steve Bryant,

Dr. Dietmar Preißler,

Daniel Berger,

Dr. Wolfgang Ernst,

Senior Curator, Television, BFI National Archive, British Film Institute, London/Former General Secretary of the International Federation of Television Archives

Sammlungsdirektor, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Netzwerk Mediatheken, Bonn

Director, Archive, Museum of Broadcast Communications, Chicago, Illinois

Professor, Fachgebiet Medientheorien, Seminar für Medienwissenschaft Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin

Axel Bundenthal,

Thorsten Schilling,

Faye Blum,

Michele Hilmes,

Leitung Geschäftsbereich ArchivBibliothek-Dokumentation und des Geschäftsfeldes Programmarchiv im ZDF, Mainz

Leiter Medien- und Kommunikationszentrum Berlin, Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin

Exhibit Curator, CBC Museum, Toronto, Ontario

Professor, Media & Cultural Studies Director, Wisconsin Center for Film & Theater Research, Madison, Wisconsin

22

IV. Status Quo und Perspektiven

Archive

Bibliotheken/

Museen

(Fortsetzung)

Mediatheken

der

Fernseherbe-Verwaltung

Wissenschaft/Beratung

(Fortsetzung)

(Fortsetzung)

Roy Carubia,

Bruce DuMont,

Henry Jenkins,

Archives Manager, CBS, New York City, New York

Founder/President, Museum of Broadcast Communications, Chicago, Illinois

Director, Comparative Media Studies Program, Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, Massachusetts

Kathy Christensen,

Rebekah Fisk,

Sam Kula,

Vice President, News Archives and Research CNN, Atlanta, Georgia

Manager, School and Family Programming Paley Center for Media, New York City, New York

Archival Consultant, Ottawa, Ontario

Glenn Clatworthy,

Doug Gibbons,

Barry Lord,

Director, PBS Program Data & Analysis, Arlington, Virginia

Director, Library, Paley Center for Media, New York City, New York

Co-President, Lord Cultural Resources, Toronto, Ontario

Margaret Compton,

Carl Goodman,

Horace Newcomb,

Film, Videotape, & Audiotape Archivist, Walter J. Brown Media Archives and Peabody Awards Collection, Athens, Georgia

Senior Deputy Director/Curator, Digital Media and Director of New Media Projects, American Museum of the Moving Image, Queens, New York

Professor, Department Of Telecommunications, University of Georgia, and Director of Peabody Awards, Athens, Georgia

Dan Einstein,

Ivan Harris,

Dr. Stephan Schwan,

Television Archivist, UCLA Film & Television Archive, Los Angeles, California

Technician/Curator, CBC Museum, Toronto, Ontario

Stellv. Direktor, Institut für Wissensmedien/Professor für Lehrund Lernforschung Tübingen

Laurie Friedman,

Ο. F. Herber,

Lynn Spigel,

Head, FOX News Archive, New York City, New York

Vereinsvorsitzender, Projekt Deutsches Fernsehmuseum, Wiesbaden

Professor, Screen Cultures, School of Communication, Northwestern University, Chicago, Illinois

Dina Gunderson,

Joseph Hoppe,

Lynne Teather,

Manager, Content Systems, CNN Library, Atlanta, Georgia

Koordinator, Ausstellungen und Leiter des Fachgebietes Kommunikationstechniken, Deutsches Technikmuseum, Berlin

Associate Professor, Museum Studies, University of Toronto, Toronto, Ontario

Dr. Michael Harms,

Wolfgang Janning,

Robert Thompson,

Hauptabteilungsleiter, Dokumentation und Archive im Südwestrundfunk, Baden-Baden

Vereinsmitglied, Projekt Deutsches Fernsehmuseum, Wiesbaden

Trustee Professor, Television and Popular Culture, S.I. Newhouse School of Public Communications, Syracuse University, Syracuse, New York

Bettina Hasselbring,

Peter Paul Kubitz,

Leitung, Historisches Archiv des Bayerischen Rundfunks, München

Programmdirektor, Fernsehen, Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen, Berlin

Hans Hauptstock,

Ross Melnick,

Leitung, Fachgruppe Dokumentation Video in der Abteilung Dokumentation und Archive beim WDR, Köln

Director,, Research, American Museum of the Moving Image, Queens, New York

Geoffrey Hopkinson,

Dr. Rainer Rother,

Director, Libraries, Archives & Documentation, CBC, Toronto, Ontario

Künstlerischer Direktor, Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen, Berlin

Joel Kanoff,

Peter Schwirkmann,

Manager, ABC Film/Videotape Library and Archives, New York City, New York

Projektleiter, Fernsehen, Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen, Berlin

John Koshel,

Ron Simon,

Manager Media Assets, NBC, New York City, New York

Curator, Television and Radio, Paley Center for Media, New York City, New York

I V.l. Methodische Grundlegung

23

Archive

Bibliotheken/

Museen

(Fortsetzung)

Mediatheken

(Fortsetzung)

Heiko Kröger,

Paul Sparrow,

Leitung, Abteilung Dokumentation und. Archive des Norddeutschen Rundfunks, Hamburg

Vice President, Broadcasting and Programs, Newseum, Washington, D.C.

John Lynch,

Gerlinde Waz,

Director, Vanderbilt Television News Archive, Nashville, Tennessee

Kuratorin, Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen, Berlin

Olaf Moschner,

Dale Zaklad,

Mediendokumentar, richtenarchiv, Köln

RTL

Nach-

Wissenschaft/Beratung

Director, Exhibitions & Education, Paley Center for Media, New York City, New York

Mark Quigley, Manager, Archive Research & Study Center, UCLA Film & Television Archive, Los Angeles, California

Hans-Gerhard Stülb, Vorstand, Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Wiesbaden

Mardiros Tavit, Leitung ProSiebenSat. 1 DokuCenter, Berlin/München

Tabelle 4: Im Rahmen der vorliegenden empirischen Untersuchung befragte Experten. Um bei der Befragung vergleichbare Aussagen zu erhalten, wurde ein Fragebogen entwickelt, der bei den Expertengesprächen in Struktur und Inhalt indes nur orientierenden Charakter hatte, weil die Experten einerseits über einen unterschiedlichen Wissensstand zu den einzelnen Facetten des Themas verfügten und sich andererseits auch ihre beruflichen Hintergrund teils erheblich voneinander unterschieden. Außerdem wurden im Verlauf der über einen additiven Zeitraum von elf Monaten durchgeführten Befragung 2 einige Leitfragen in den Fragebögen ergänzt, um auf Basis der bereits vorliegenden Befragungsergebnisse bisher nicht oder nur unzureichend behandelte Fragestellungen in die Gesprächsführung der jeweils noch folgenden Experteninterviews mit einbeziehen zu können. Auf die grundständige Fragebogenstruktur hatte dies jedoch keine Auswirkungen. Im Vordergrund stand das „überpersönliche, institutionsbezogene Wissen" des Experten (vgl. Meuser/Nagel 2009: 474). In Anlehnung an Froschauer und Lüger folgt die Fragebogenkonzeption einer Untergliederung der Leitfragen in drei Segmente (Froschauer/Lüger 2003: 40-41): Erstens einer Beschreibung des jeweiligen der Expertise des Befragten zugerechneten Arbeitsumfeldes mit seinen Logiken, Abläufen, Problemstellungen und Zielen; zweitens der Inspektion von bestimmten Phänomenen und Prozessen, die signifikante Bedeutung für das Untersuchungsfeld besitzen, so dass durch den Experten eine tiefergehende Erklärung von institutionellen Prinzipien erfolgt; und drit2

Ein Großteil der Gespräche mit den US-amerikanischen und kanadischen Experten fand während dreier Forschungsaufenthalte des Autors von Juni bis Oktober 2006, im Juni und Juli 2007 sowie im August 2009 in den USA und Kanada statt. Die Gespräche mit den deutschen Experten wurden im Zeitraum von März bis Mai 2007 geführt.

24

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

tens der Reflexion insbesondere der Versäumnisse und Potenziale des betreffenden Themenbereichs auch unter neuen, vom Forscher angesprochenen Blickwinkeln, um sich bereits zutragende oder zukünftige Veränderungen abschätzen und bewerten zu können. Da die hier angeführten zentralen Gliederungspunkte eines Experteninterviews nicht einer flexiblen, dem Erfahrungsreichtum des einzelnen Befragten folgenden Gesprächsführung widerspricht, konnten sie in jedem der 55 geführten Gespräche abgehandelt werden. So wurde gewährleistet, dass sich nahezu das gesamte, auf Erfahrungs-, aber auch Fachgebietsebene stark differierende Expertenfeld durch die flexiblere Befragungsweise zu den meisten der für diese Arbeit wichtigen Themenkomplexen geäußert hat: 1. Institutionsspezifische Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung einschließlich technischer, finanzieller und rechtlicher Rahmungen 2. Sammlungs-, Bewahrungs- und Zugangsmodalitäten 3. Funktionalisierungsstrategien für das Fernseherbe insbesondere im Hinblick auf die Bildungs- und Erinnerungsarbeit Alle Interviews wurden persönlich vom Autor durchgeführt, aufgenommen und transkribiert. Die überwiegende Mehrheit der Gespräche fand in Form von Face-to-FaceInterviews vor Ort in der Arbeitsumgebung des jeweiligen Experten statt. In einigen wenigen Fällen musste aus arbeitsökonomischen Gründen auf Telefon-Interviews zurückgegriffen werden. Insgesamt wurden sieben der 55 Expertengespräche auf telefonischem Wege geführt. Die Validität von Befragungen über telekommunikative Hilfsmittel gilt als allgemein gesichert, da das Antwortverhalten in telefonischen und persönlichen Interviews kaum Unterschiede erkennen lässt (Diekmann 2006: 431): „Moreover, field techniques for contacting the respondent and for conducting an almost hour-long interview need not be modified" (Rogers 1976: 65). Dennoch wurde versucht, den Anteil der telefonischen Experteninterviews möglichst gering zu halten, da es in diesen Fällen verwehrt blieb, eine hinreichende Kontrolle des Gesprächsumfeldes sicher- und eine dem persönlichen Gespräch von Angesicht zu Angesicht entsprechende Dynamik in der Gesprächsführung beispielsweise auch unter Einbeziehung von Anschauungsmaterial oder örtlichen Bezügen zum Arbeitskontext herzustellen. Trotz vereinzelter Schwierigkeiten bei der Realisierung persönlicher Face-to-Face-Interviews konnte es glücklicherweise vermieden werden, auf die „aus der Not geborene[.] Alternative" (vgl. Diekmann 2006: 439) der schriftlichen Befragung zurückzugreifen, die im Rahmen der Befragungsstrategien aufgrund des unpersönlichen Settings sowie der fehlenden Möglichkeiten, Zwischen- und Nachfragen zu stellen, einen nur unzureichenden inhaltlichen Ertrag versprochen hätte. Die Dauer der Interviews variierte in Einzelfällen zwischen circa 30 und 150 Minuten, was zum Teil bei geringeren Zeitbudgets der Befragten eine Konzentration auf einzelne inhaltliche Schwerpunkte erforderte, die dem Grundgerüst des Interviewleitfadens folgten, um eine möglichst optimale Abdeckung des Themenspektrums an Fragen zu gewährleisten (vgl. Hoffmann 2005: 274). Im Mittel betrug die Interviewlänge etwa 60

IV. 1. Methodische

Grundlegung

25

Minuten. Die Auswertung der Befragung erfolgte auf Basis von Tonaufnahmen in digital gespeicherter Form (MiniDisc, MP3). Alle Interviews wurden in Gänze und wortgetreu transkribiert, ohne jedoch nonverbale und parasprachliche Elemente mit aufzunehmen, da diese für die Interpretation des inhaltlich fokussierten Expertengesprächs keinen Mehrwert darstellen (vgl. Meuser/Nagel 1991: 455). Umgangssprachliche Äußerungen sowie Ellipsen wurden in einigen wenigen Fällen behutsam in Schriftsprache paraphrasiert. Auf Wunsch einiger Befragter wurde das zugehörige Transkript dem betreffenden Experten vor der Auswertung zur Autorisierung vorgelegt, was im Einzelfall zu einer sprachlichen Glättung sowie zu inhaltlichen Ergänzungen und Streichungen geführt hat, die jedoch keine wesentliche Einschränkung des Forschungsertrags darstellten. Die detaillierte inhaltliche Auswertung der Transkripte erfolgte nach den zuvor kategorisierten Themenfeldern und nicht nach der Sequenzialität der Äußerungen in den Interviews (vgl. ebd.: 453). Demgemäß war die Identifizierung thematischer Einheiten leitend, die sich über den Gesprächstext verstreut finden ließen, je nach Gesprächsfluss an teils verschiedenen Stellen und in unterschiedlichen Zusammenhängen. Diese Auswertungsmethode wird durch die bereits vor dem Gespräch recherchierte und mittels der institutionell-organisatorischen Funktionszugehörigkeit gesetzten Expertenfunktion des Gesprächspartners gerechtfertigt, die nicht erst im Laufe des Gespräch belegt werden muss (vgl. ebd.). Auf diese Weise wird auch ein thematischer Vergleich praktikabel, indem ungeachtet der Gesprächsverläufe anhand themenorientierter Exzerption Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung oder Bewertung bestimmter Fragestellungen festgestellt werden können. Antwortsegmente, die sich für die Fragestellungen in den einzelnen Themenkomplexen als relevant erwiesen, wurden markiert, exzerpiert und nach den Kategorien der Interviewleitfäden in Form von thematischen Clustern katalogisiert. Um eine möglichst ertragreiche Auswertung der Gespräche im Sinne des Forschungsanliegens zu ermöglichen, wurden auch erst im Gespräch aufgekommene neue Aspekte, die in den ursprünglichen Leitfaden nicht berücksichtigt waren, noch ergänzt. Danach wurden anhand der Äußerungen Sub-Kategorien identifiziert und eine Gliederungsstruktur für die schriftliche Ausarbeitung der Untersuchungsanalyse entwickelt. Im Folgenden wurde das Material unter der Maßgabe, ein möglichst tiefes Verständnis für die drängenden Probleme der Fernseherbe-Verwaltung zu generieren, weiter verdichtet, analysiert und interpretiert. Der Vorteil einer wörtlichen Zitierung der Befragten besteht in erster Linie darin, dass eine allzu starke Simplifizierung der Auswertungsergebnisse vermieden wird, indem sich Personen mit ihren Erfahrungswerten und in ihrem subjektiven Empfinden zu Wort melden und die Befragungsergebnisse eben nicht ausschließlich vom Autor zusammengefasst werden. Die analytische Auswertung wurde unter spezieller Berücksichtigung von wiederholt von den Interviewten angesprochenen Aspekten vorgenommen, wobei besonders aussagekräftige Zitate miteinander verglichen und einzelne für die Insertion in den Analysetext ausgewählt wurden. Die Aussagekraft wiederum maß der Autor an der Anschaulichkeit

26

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

und Erklärungskraft des jeweiligen Zitats, aber auch daran, wie pointiert eine Bewertung auf Basis der entsprechenden Expertise durch den Befragten formuliert wurde. Dies konnten zum Teil unkonventionelle Auffassungen und Wahrnehmungen sein, welche die Forschungsfragen durch ihren ungewöhnlichen Blickwinkel oder Lesarten bereichern, andererseits zeichneten sich andere Zitate wiederum durch die Typizität der Äußerung aus, die dadurch Ausdruck findet, dass sich die bestimmte Sichtweise in mehreren der Experteninterviews finden lässt. So typisch sich manche Antworten auch erwiesen haben, so sind sie jedoch nicht als repräsentativ für das gesamte Spektrum der Fernseherbe-Verwaltung zu verstehen, sondern stellen - stets dem befragten Akteur zuzuordnende - persönliche Wahrnehmungen dar. Daher konnte das latente Methodenproblem von Expertenbefragungen, dass keine Gewähr dafür besteht, das Interesse des Forschenden bei der Erhebung brauchbarer Expertisen und Prognosen gänzlich zufrieden zu stellen (vgl. Hoffmann 2005: 268), auch in dieser Studie nicht vollständig gelöst werden; jedoch gelang es durch die breite wie heterogene und jeweils mehrere Vertreter eines beruflichen Expertisesegments umfassende Samplestruktur, mit den Befragten möglichst viele inhaltliche Aspekte aus unterschiedlichen Blickrichtungen und vor diversen professionellen Erfahrungshintergründen zu diskutieren.

1.3.

Organisationsanalyse

Um konstruktive Schlüsse aus den die Fernseherbe-Verwaltung insgesamt betreffenden Erkenntnissen zu ziehen und dabei insbesondere die Arbeit von Fernsehmuseen zu hinterfragen, folgen zum Abschluss der Untersuchung außerdem eine Reihe von Fallstudien, die sich organisationsanalytisch acht ausgewählten Fernsehmuseen in den USA, Kanada und Deutschland zuwenden. Das Verfahren der Fallstudie wird angewandt, um sich dem fernsehspezifischen Profil der Einrichtungen unter dem besonderen Fokus der Dynamik ihrer Angebote in der öffentlichen Bildungs- und Erinnerungsarbeit zuzuwenden (vgl. auch Eisenhardt 1989: 534-535). Eine Organisationsanalyse liegt „dann vor, wenn die systematische Untersuchung und Beschreibung von Merkmalen, Bedingungen, Strukturen und Prozessen in Organisationen der Gegenstand" der Untersuchung ist (Titscher/Meyer/Mayrhofer 2008: 55). Im Rahmen einer Fallstudie hat die Untersuchung zum Ziel, Alleinstellungsmerkmale, sofern vorhanden, einer betreffenden Organisation als formales Gebilde herauszuarbeiten und dabei auf organisationsübergreifende Kontexte zurückzugreifen (vgl. ebd.: 129). Die vorangestellte, unter dem Blickwinkel der drei wesentlichen funktionalen Aufgabenbereiche von Gedächtnisorganisationen sowie der Einbindung des Fernsehens in die museale Bildungs- und Erinnerungsarbeit durchgeführte Museumsanalyse wird in der Organisationsanalyse unter konkreten institutionsspezifischen Gesichtspunkten fokussiert. „Fallstudien stellen Individualitäten mit ihrer Eigendynamik, Vielschichtigkeit und mitunter Widersprüchlichkeit in den Mittelpunkt und versuchen diese, stets unter Berücksichtigung ihres spezifischen Kontexts, in möglichst großer Detailschärfe zu vermessen" (Baur 2009: 69). Unter „Individualität" sollen

IV. 1. Methodische

Grundlegung

27

hier Alleinstellungs- bzw. Unterscheidungsmerkmale der untersuchten Fernsehmuseen verstanden werden, die herausgearbeitet werden, um die konkreten Umsetzungsstrategien und potenziellen Realisierungsmöglichkeiten der zuvor analysierten grundsätzlichen, übergreifend Gültigkeit beanspruchenden Probleme und Prozesse der Fernseherbe-Verwaltung aufzuzeigen. Die Museums- als Organisationsanalyse bedient sich bei Ansätzen der Institutionsund Ausstellungsanalyse, wobei Verwaltungsentscheidungen ebenso wichtige Indikatoren für die Erfüllung organisationsspezifischer Aufgaben darstellen wie Publikumsangebote wie zum Beispiel Veranstaltungsstrategien und Ausstellungsgestaltungen. Der Ansatz vereint hierbei eine kritische und konstruktive Perspektive auf die „dialektisch aufeinander bezogenen Dimensionen des Institutierten, des Instituierenden und der Institutionalisierung" (vgl. Weigand 1988: 103). Das methodische Vorgehen entspricht den Anforderungen von Organisationsanalysen, der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes mit verschiedenen, sich gegenseitig komplementierenden Methoden Herr zu werden (vgl. u.a. Eisenhardt 1989: 534-535; Stake 1995): Auch in den Fallstudien kommt die Auswertung der Experteninterviews in Betracht, auch und vor allem weil die untersuchten Museen mit Funktionsträgern im Sample vertreten sind, die ihr jeweiliges Museum in der überwiegenden Mehrzahl bereits seit Anbeginn der Organisationsgeschichte begleiten:3 In Bezug auf die institutionelle Genese der einzelnen Einrichtungen kommt hier also die Formung einer „Corporate Ideology" zum Tragen, ein Begriff, der die institutionsbezogenen Auffassungen und das Werteverständnis von Entscheidungsträgern in der Organisation beschreibt (Goll/Zeitz 1991). „Keine institutionelle Analyse darf die materiellen Opportunitäten und den kulturellen Bezugsrahmen des Handelns der Akteure für die Beschreibung der Logik der Situation vergessen" (Esser 2000:46). Eine nicht nur mutmaßliche, sondern konkrete und der betreffenden Einrichtung zuordnungsba-

3

Ron Simon und Doug Gibbons vom Paley Center for Media (USA) nahmen ihre Arbeit im Museum kurz nach dessen Eröffnung Mitte der 1970er Jahren auf. Bruce DuMont war als Initiator und Gründer des Museum of Broadcast Communications (USA) von Anfang an in die Institutionalisierung der Chicagoer Einrichtung involviert. Paul Sparrow gehört seit 1999 zum Team des Newseum (USA), stieß also erst zwei Jahre nach dessen Gründung dazu, begleitete aber die für die Untersuchung wesentliche Transformation und den Umzug des Museums nach Washington, D.C. Michael Adams ist als Vertrauter von Museumsgründer Moses Znaimer seit der Frühphase des MZTV Museums (Kanada) in die Belange, speziell die strategische Expansion der Einrichtung involviert. Paul Harris sorgte für die Gründung des CBC Museums (Kanada) im englischsprachigen Sendezentrum des öffentlichen Fernsehveranstalters in Toronto. Paul Herber, Günter Bartosch und Wolfgang Janning engagieren sich seit den 1980er Jahren für das Projekt Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden (Deutschland). Und Peter Paul Kubitz begleitete die Entwicklungsgeschichte der „Deutschen Mediathek" als journalistischer Beobachter und überführte die Idee als Programmdirektor Fernsehen in die Konzeption einer Fernsehabteilung der Deutschen Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen (Deutschland). Eine Ausnahme stellen die Vertreter des American Museum of the Moving Image dar, welche die Geschicke des Museums zwar nicht seit seiner Eröffnung mitgestalten, jedoch ebenfalls über jahrelange Erfahrungen in leitenden Positionen verfugen.

28

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

re Färbung der Äußerungen des Experten im Sinne der institutionellen Identität liefert wesentliche Angaben zur Selbstdarstellung des Museums oder - im Falle von (selbst-) kritischen Äußerungen aus den eigenen Reihen der Mitarbeiter - interessante Einblicke in interne organisationelle Transformationsprozesse bei der Aushandlung und (Neu-) Justierung des Museumscharakters. Des Weiteren wurde eine Presseauswertung durchgeführt, mit deren Hilfe zweierlei beabsichtigt wird: Zum Einen dient der Rückgriff auf jeweils aktuelle Berichterstattung aus der Entwicklungsgeschichte des untersuchten Museums wie über Ausstellungen oder institutionelle Zusammenhänge als wichtige dokumentarische Informationsquelle, um das Ausmaß der öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten der Einrichtung nachvollziehen zu können. Andererseits gewähren die Presseberichte als Korrektiv zur Selbstdarstellung der Einrichtung eine zum Teil alternative Sicht auf die Tätigkeit der Museen, da sie externe Akteure wie Politiker, Vertreter anderer Organisationen oder Stimmen aus dem Publikum zu Wort kommen lassen und damit die organisationsspezifischen Prozesse und ihre Kontextualisierung in den weiteren Rahmen eines gesellschaftskulturellen Diskurs stellen. Außerdem wurde für die Organisationsanalyse als drittes methodologisches Untersuchungsinstrument auf eigene Beobachtungen in den Publikumsbereichen der untersuchten Museen zurückgegriffen: Hier standen Dauer- und Sonderausstellungsbereiche im Mittelpunkt des Interesses. Bei den persönlichen Rundgängen durch die Ausstellungsfläche wurden die Präsentationen, Inszenierungen und zum Teil auch das Besucherengagement per Fotoaufnahme dokumentiert und ergänzend mittels fortlaufend erstellter freier Notizen festgehalten. Dieses Vorgehen war also durch eine starke „Forscher-Gegenstands-Interaktion" (Mayring 2002: 14) gekennzeichnet, indem die Ausstellung als „Bedeutungssystem in einem Kommunikationsprozess (Semiose) zwischen Menschen, Sachverhalten und Zeichen" (Schärer 2003: 129) durch einen individuellen Blickwinkel wahrgenommen wurde. Dabei wurde nach Möglichkeit versucht, der prinzipiellen Offenheit dieses Systems bei der Bedeutungskonstruktion zwischen den kuratorischen Intentionen und den besucherseitigen Interpretationen (vgl. ebd.: 130) Rechnung zu tragen, indem keine Werturteile über die inszenatorische Präsentation der Exponate beispielsweise auf Grundlage von Verständniskritik getroffen wurden, sondern sich die Analyse hier auf die deskriptive Relationierung der Ausstellungsteile unter Rückbezug auf die allgemeinen Entwicklungen in der Fernseherbe-Verwaltung im organisatorischen Gesamtzusammenhang konzentriert. Für die Museumsanalyse waren folgende Fragestellungen relevant: - Wie ist das Museum in seinem regionalen und nationalen Umfeld an der kulturellen Peripherie aufgestellt? - Welche praktischen Probleme und Herausforderungen musste und muss es gegenwärtig durch interne und externe Faktoren bewältigen?

IV. I. Methodische

Grundlegung

29

- Wie stark und in welcher Form ist das Fernsehen mit seinen institutionellen, technologischen und inhaltlichen Aspekten im museumsspezifischen Tätigkeitsspektrum eingebunden und wird entsprechend thematisiert? - Welche Intentionen verfolgt das Museum insgesamt und das Kuratorium im Besonderen bei seinen Ausstellungs- und Veranstaltungsstrategien? - Inwiefern sind Partizipationsangebote bei der Adressierung von Publika in die Museumsarbeit eingebunden? - Und welches bildungs- und erinnerungsrelevante Profil hat das jeweilige Museum entwickelt? Zusammenfassend lässt sich also fragen: Wie erfahren die zuvor identifizierten und übergreifend analysierten Zustände und Möglichkeiten der Funktionalisierung von Überlieferungen des Fernsehens eine praktische Umsetzung in den institutionsspezifischen Zusammenhängen von Fernsehmuseen? Die aus der Museumsanalyse gezogenen Schlussfolgerungen zielen zum Abschluss der empirischen Untersuchung auf eine klare Kennzeichnung aller acht Fernsehmuseen als in ihren unterschiedlichen Ansätzen und Profilausprägungen singulären Leuchtturmorganisationen, welche - auch stellvertretend - die volle Bandbreite der derzeit praktizierten musealen Strategien der die allgemeine Öffentlichkeit adressierenden Fernseherbe-Verwaltung darstellen. Erst auf diesem empirisch gewonnenen Erkenntnisfundament und der Ermittlung des institutionellen Status Quo lassen sich Handlungsempfehlungen formulieren, welche die nötige Adaptionsfähigkeit für die Museumspraxis aufweisen und gleichzeitig den Anschluss an die theoretisch fundierte Analyse von Gedächtnisrelevanz und Verwaltung des Fernseherbes wahren.

30

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

2.

Das Ringen um die Fernsehgeschichte: Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

2.1.

Die drei Pfeiler der gesellschaftlichen

Erinnerung

Wie jedwedes historische Dokument sind auch die Hervorbringungen des Fernsehens auf Anstrengungen angewiesen, die auf ihre möglichst dauerhafte Erhaltung abzielen, um sie für die Nachwelt zu erhalten und ihre Funktionalisierung zu ermöglichen. In der Kulturgeschichte haben sich über die Jahrhunderte organisatorische Modelle herausgebildet, die sich als institutionelles Fundament für die Bewahrung von dokumentarischen Zeugnissen manifestierten. Mit ihrer zeitüberdauernden Zielrichtung und den konjunktierten Eternisierungsstrategien setzen sie Maßstäbe für die Kulturerbe-Verwaltung, die nicht nur für traditionelle Überlieferungsarten wie vor allem Schriftgüter in Frage kommen, sondern für alle Mediengattungen adaptiert werden können. In ihren unterschiedlichen Organisations- und Arbeitsprinzipien bilden die Gedächtnisinstitutionen Archiv, Bibliothek und Museum in ihren jeweiligen Kontexten und Ausprägungsformen eine präservationistische Trias, ohne die in zeitgenössischen Gesellschaften weder historische Forschung noch gesellschaftliche Erinnerungsarbeit denkbar wären. 2.1.1. Das Archiv In den zeitgenössischen Mediengesellschaften wird durch die Anhäufung von historischen Überlieferungen mehr aufbewahrt, als erinnert werden kann. Der Ort, der für die Verwaltung des immer komplexer werdenden kulturellen Fundus die Zuständigkeit innehat, ist das Archiv, wo mit der Maßgabe der Unendlichkeit aufgehoben, konserviert und katalogisiert wird (Assmann 2004a: 24). Dabei handelt es sich um weit mehr als ein Lager, in dem Aufzeichnungen untergebracht sind, sondern um ein Instrument gesellschaftlicher Rückvergewisserung, was die Archivarin Ina Prescher mit folgendem Bild umschreibt: „Wir bedienen uns der Archive als Zeitmaschinen, die Primärquellen füllen die Magazine. Taucht man in sie ein, begibt man sich unweigerlich auf eine Zeitreise. Wenn wir bereit sind, nicht nur in der Gegenwart als funktionierende Organismen zu leben, sondern die Fühler ausstrecken in Hinterlassenschaften früherer Generationen und Gesellschaften und uns wagen, unser bescheidenes Wissen um Vergangenheit und Gegenwart für Zukunftsvisionen zu nutzen, dann werden wir selber zu Zeitmaschinen. So sind Archive das Gedächtnis für jeden Zeitreisenden" (Prescher 2005: 111). Dieses zweifellos schönmalerische Archiwerständnis unterstreicht allemal, dass auf materiellen Trägern angehäuftes Wissen in Form von Aufzeichnungen jeglicher Art dazu

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

31

dienen kann und muss, kollektive und kulturelle Erinnerungsbildung zuallererst zu ermöglichen, zu speisen, aber auch mit dem nötigen Engagement möglichst vieler Mitglieder der Gesellschaft lebendig zu erhalten. Im alltäglichen Sprachgebrauch hat das Archiv eine inflationär zu bezeichnende Begriffskarriere erlebt, die es schwer macht, eine einheitliche Definition zu finden (vgl. Ernst 2002: 7). Archive finden sich in jedem Verein, der seine Aktivitäten zu dokumentieren sucht, aber auch in jedem Computer mit Suchfunktion, selbst in unzähligen Varianten auf dem Markt der wissenschaftlichen Zeitschriftentitel wie „Archiv für ältere deutsche Geschichte" oder „Archiv für zentralasiatische Geschichtsforschung" bzw. „Archive for History of Exact Science" oder „Archive of Virology". „Die Facetten des deutschen Archivwesens sind so schillernd, dass es nicht möglich ist, alle Feinheiten zu berücksichtigen", schreiben Sabine Brenner-Wilczek, Gertrude Cepl-Kaufmann und Max Plassmann in ihrer „Einführung in die moderne Archivarbeit" (Brenner-Wilczek/Cepl-Kaufmann/Plassmann 2006: 13). Archiv, so scheint es, ist eine Allerweltsbezeichnung geworden für die Ansammlung von Vergangenem bzw. der geordneten Bewahrung von Wissen. Wie lässt sich also das Archiv in seiner pauschalen Geltungsform fassen? Bei Jacques Derrida ist das Archiv in seiner ursprünglichen Wortbedeutung als „Haus, Wohnsitz, Adresse" (Derrida 1997: 11) derjenigen Bürger beschrieben, die im alten Griechenland die Geschicke der Politik führten. Bei ihnen daheim wurden die offiziellen Dokumente der Mächtigen deponiert. Die sogenannten Archonten hatten die Aufgabe, die Dokumente zu pflegen, zu erhalten und sie darüber hinaus auch zu interpretieren. Derrida führt das Archiv auf die „dauerhafte Zuweisung einer Bleibe" bzw. der „verbindlichen Ansiedlung" (ebd.) zurück. Kein Archiv also „ohne Draußen" (ebd.: 25), ohne entkörperlichtes Wissen, das durch seine materielle Manifestation nach einem Ort der Verwahrung verlangt. Die Frage der Lokalisierbarkeit ist damit nicht nur eng mit dem Wesen des Archivs verbunden, sondern auch eine Grundvoraussetzung für seine Operationen, da verlässliche Verfügbarkeit von Archivmaterial stets mit dessen gesammelter Deponierung an bestimmten Orten einhergeht. Grundsätzlich lässt sich die Funktion des Archivs mit Wolfgang Ernst als Pragmatik beschreiben, etwas für eine Zeitlang vorzuhalten, um dann unter Umständen in anderen Zusammenhängen interessant zu werden (Ernst 2005:37). Als Wissensspeicher einer wie auch immer gearteten Gruppe ist das Archiv mit der Sicherung, Auswahl, Konservierung und Verfügbarmachung von Überlieferungen betraut (vgl. Brenner-Wilczek/Cepl-Kaufmann/Plassmann 2006: 13). Mit dieser geordneten Vorhaltung von gespeicherten Aufzeichnungen entsteht erst die Möglichkeit der methodischen Überprüfbarkeit des in dem archivierten Material externalisierten menschlichen Gedächtnisses und ist die Grundlage für die Rekonstruktion von gesellschaftlichen oder individuellen Handlungsprozessen. Es wird gar ein „Erinnerungsrecht" der Gesellschaft proklamiert, worunter der Leiter der Archivschule Marburg, Frank M. Bischoff, die berechtigte kollektive Erwartung versteht, das gesellschaftliche Erbe auch zukünftig erinnerbar zu erhalten (Bischoff 2005: 259).

IV. Status Quo und Perspektiven der

32

Fernseherbe-Verwaltung

In der heutigen Zeit wird sich immer stärker auf die Archivierung von Überlieferungen verlassen, nicht auf das fehlbare menschliche Gedächtnis. Das Dokumentenerbe nimmt damit eine Schlüsselstellung ein in der grundsätzlichen Identitätsfrage, woher das Individuum der Gegenwart kommt und wohin es geht. Nora stellt eine förmliche „Archivierwut" (Nora 1998: 22) fest, die alles und jeden in den Sog der möglichst vollständigen Bewahrung der Gegenwart und Vergangenheit ziehe. Nicht die lebendige Erinnerung, sondern die Spur werde verehrt, die Zeugnis ablegt über das, was einmal gewesen zu sein scheint. Der Mensch häuft demnach sichtbare Zeichen an, weil er fürchtet, sich ansonsten nicht erinnern zu können. Die Folge dieser Psychologie der Vernichtungsangst ist eine Laien-Archivbewegung, die im Schutz des Privaten so viele Zeugnisse des persönlichen Werdegangs wie möglich aufbewahrt - natürlich nicht nur, aber auch Zeugnisse des Fernsehens, mit welchen der Zuschauer persönliche Erfahrungen verbindet. Der Grund für die Anlegung von Privatarchiven hängt für Nora mit der „vollständige [n] Psychologisierung des zeitgenössischen Gedächtnisses" zusammen: ,,[D]er Gedächtniszwang lastet auf dem Individuum und auf ihm allein, drängend und zugleich unbestimmt; auf dessen persönlicher Beziehung zur Vergangenheit beruht seine mögliche Wiederbelebung" (Nora 1998: 27). Das traditionelle Archiv sichert Überlieferungen, um vergangene Handlungen auch in Zukunft nachweisbar zu machen. Archive haben daher nicht nur die Aufgabe, Überlieferungen zu deponieren, sondern ebenso sie möglichst verlustfrei vorzuhalten, um sowohl die aktuelle als auch die zukünftige Nutzbarkeit zu garantieren. Dazu sind umfangreiche Pflege- und Konservierungsmaßnahmen notwendig. Besonders gefährdete Archivalien werden magaziniert, das heißt in klimaregulierten und meist besonders vor Feuer, Wasser und weiteren Bedrohungen gesicherten Räumen und mit alterungsbeständigen Vorkehrungen gelagert. Eine weitere Maßnahme ist die Wiederinstandsetzung bzw. Restauration beschädigter Archivalien. Die Konservierungsanforderungen richten sich in erster Linie nach der Anfälligkeit der Dokumente, des Alters des Speichermaterials und seiner bisherigen Lagerung. Ziel ist stets eine dauerhafte Langzeitarchivierung bzw. eine Erhaltung „für alle Ewigkeit" (Nimz 2005: 321). Generell wird der Begriff Dokument für die Bezeichnung einer archivierten Überlieferung benutzt, unter dem die physikalische Einheit eines Trägers dokumentarischer Daten verstanden wird (Menne-Haritz 1999: 59). Dennoch ist der Archivbegriff eng an die Schriftlichkeit gebunden, was der für Jahrhunderte andauernden Dominanz der Schrift bei der Aufzeichnung nicht allein, aber vor allem staatlicher und administrativer Vorgänge geschuldet ist. So orientiert sich das Archiwerständnis auch heute noch vor allem an dem „Archetyp" staatlicher Archive (vgl. Brenner-Wilczek/Cepl-Kaufmann/Plassmann 2006: 19), also an der Arbeit von behördlichen Institutionen, deren Aufgabe es ist, Dokumente in Aktenform zu archivieren, welche die gesellschaftspolitische Entwicklung aus der Perspektive des Gesetzgebers und der Verwaltungsorgane festhalten. Doch auch abseits dieses Archivfeldes spielt die Schrift bei jeglicher anderen Archivoperation eine wesentliche Rolle, egal ob es sich um ein genuin schriftliches Dokument handelt oder

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

33

nicht: Sie dient der Katalogisierung, der Ordnung der Archivbestände, wird für deren Wiederauffindbarkeit eingesetzt und ermöglicht damit die Zugänglichkeit. Mithilfe von Verschlagwortung und Zusammenfassungen arbeitet das klassische Archiv auch heute noch und bleibt damit schriftfixiert, auch wenn es sich audiovisuellen Überlieferungen widmet. 2.1.2. Die Bibliothek

Die Legende der zerstörten Bibliothek von Alexandria geht davon aus, dass im alten Ägypten das Wissen der Welt ruhte. Dort lagerten nach Angaben des römischen Literaturgelehrten Aulus Gellius, der etwa 200 Jahre nach der Zerstörung der Bibliothek lebte, ungefähr 700.000 Bücher, bevor sie den Flammen zum Opfer fielen (Parsons 1952: 171; Barnes 2000: 65). Angesichts von über zehn Millionen Büchern im Bestand der Staatsbibliothek Berlin, neun Mio. in der Bayerischen Staatsbibliothek, 30 Mio. in der Library of Congress und über 18 Mio. Bänden in der kanadischen Nationalbibliothek erscheint dies wie ein numerisch zu vernachlässigender Bestand. Doch zeugte das Sammlungsziel der alexandrinischen Bibliothekare von dem Anspruch, das gesamte schriftliche Dokumentenerbe der damals bekannten Welt zusammenzutragen und ins Griechische zu übersetzen (Canfora 2002: 33). Dafür waren jegliche Mittel recht: Wie unter anderem der US-amerikanische Schriftgelehrte und Sammler Edward Alexander Parsons und der italienische Philologe Luciano Canfora in ihren Arbeiten zu der mythenumrankten Bibliothek schildern, wurden zwar viele Bestände durch Kauf erworben, aber mindestens ebenso viele durch die systematische Beschlagnahmung von Dokumenten, die auf fremdländischen Schiffen im Hafen vorgefunden wurden (Parsons 1952: 163-164; Canfora 2002: 29). Den Besitzern wurde später eine Kopie des Originals ausgehändigt, das im Besitz der Bibliothek verblieb. So wurde die Bibliotheca Alexandrina zum Vorbild und Mahnmal einer universalen Gedächtnisinstitution, die mit der Sammlung des schriftlich festgehaltenen Weltwissens zum Fixpunkt der Gelehrten ihrer Zeit wurde, durch ihre Zerstörung aber gleichsam offenbarte, welchen Gefährdungen das Kulturerbe zu jeder Zeit ausgesetzt ist. Neben Archiven bilden Bibliotheken damals wie heute die zweite institutionelle Säule der dokumentarischen Gedächtnisarbeit. Die Bibliothekswissenschaftler Gisela Ewert und Walther Umstätter geben in ihrem „Lehrbuch der Bibliotheksverwaltung" eine zeitgemäße Definition: „Die Bibliothek ist eine Einrichtung, die unter archivarischen, ökonomischen und synoptischen Gesichtspunkten publizierte Information für die Benutzer sammelt, ordnet und verfügbar macht" (Ewert/Umstätter 1997:13). Dabei unterscheiden sie sich inkrementell von Archiven, indem sie im klassischen Fall strikt sammlungsorientiert operieren: Sie akquirieren Sammlungsgut aktiv und planmäßig, dokumentieren also organisiert im Gegensatz zur „organischen" Dokumentation des Archivs (Franz 1976: 34). Während Archivgut meist originalen und authentischen Charakter hat, handelt es sich bei Bibliotheksgut mit Ausnahmen um Werke, die in hoher Auflage veröffentlicht werden, also um Massenware, die allein durch ihre Zusammenstellung innerhalb der Sammlungsstrategie originären Wert erhalten kann. Hier wird größtenteils nach inhaltli-

34

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

chen Kriterien gesammelt, gebündelt, kontextualisiert und verfügbar gemacht. So braucht Bibliotheksgut im Allgemeinen keinen funktionalen Zusammenhang wie in den meisten Archiven, sondern kann auf vielgestaltige Weise genutzt werden, ob zu Bildungszwekken, zur Unterhaltung und für die wissenschaftliche Forschung. Da es sich überwiegend um Massenware handelt, sind Bemühungen um die Langzeitsicherung des Materials eine Ausnahme, die nur auf einen Teil des Sammlungsgutes zutrifft. Es ist daher durchaus möglich, dass wenig nachgefragte Dokumente aus Kapazitätsgründen aussortiert werden. So finden in Bibliotheken generell zwei im Grunde widerstreitende Auffassungen eine parallele Anwendung: Die Publikation als bloßer Träger von Information, der austauschbar ist, oder als wertvolle Zeugin der Vergangenheit, die nicht nur aufgrund ihres Inhalts, sondern auch durch die Ganzheitlichkeit ihrer Überlieferungscharakteristika zur Informationsquelle wird. Waren Bibliotheken ursprünglich in früheren Jahrhunderten meist aus königlichen Sammlungen bestückt worden, wodurch die Einzigartigkeit und Kostbarkeit des Sammlungsgutes resultierte, ist der heutige Bibliotheksbetrieb durch die Massenproduktion auf den Medienmärkten gänzlich anderen Mechanismen unterworfen. Die Akquise von Sammlungsgut erfolgte im Gegensatz zu Archiven schon immer aktiv, doch sind zum Prinzip der Schenkung bzw. Stiftung weitere wichtige Beschaffungsarten hinzugekommen: Neben der Titelaufnahme durch Pflichtabgabe seitens der Buchverlage vergrößern Bibliotheken ihre Sammlungen heutzutage hauptsächlich durch käuflichen Erwerb. Hierbei haben zumindest die öffentlich finanzierten Bibliotheken stets mit der Preispolitik von (Buch-, Musik-, Video-) Verlagen zu kämpfen. Die breite Verfügbarkeit von Publikationen ist die große Stärke der dichten Bibliotheksnetze in Deutschland und Nordamerika. In den USA gibt es mit über 16.500 Gebäuden mehr öffentliche Bibliotheken (inklusive ihrer Zweigestellen) als McDonald's-Restaurants (Dogde 2005: 73). Durch ihren Charakter als kulturelle Zentren schriftorientierter Gesellschaften sind sie „Ort und Bedingung von Wissenszirkulation und also die Sicherungsstätte der kulturellen Identität einer Gemeinschaft" (Dickhaut 2005: 297). Ihre daraus folgende prioritäre Bildungsfunktion erfüllen Bibliotheken durch die Grundversorgung der Bevölkerung mit einem breiten Spektrum an Veröffentlichungen: Öffentliche Bibliotheken bzw. Public Libraries, die in Deutschland auch unter der Bezeichnung Bücherei operieren, versorgen die Allgemeinheit, Staats-, Universitäts- und Fachbibliotheken kommen dagegen vorrangig der Nachfrage aus der Wissenschaft nach, die ohne die durch bibliothekarische Dienstleistungen ermöglichte Bezugnahme auf wissenschaftliche Veröffentlichungen nicht denkbar wäre. Mittels integrierter Mediatheken, die jedoch auch teilweise als eigenständige Abteilungen oder Institutionen wie zum Beispiel an Hochschulen betrieben werden, wird seit der zunehmenden Verbreitung von käuflich zu erwerbenden Bewegtbildproduktionen sowie der Möglichkeit von Fernsehaufzeichnungen vermehrt auch Zugang zu audiovisuellen Medienwerken angeboten.4 4

Mediatheken werden im Folgenden, wenn nicht ausdrücklich anders erwähnt, unter dem Bibliotheksbegriff subsummiert. Damit wird durchaus keine synonyme Verwendung der

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung 2.1.3. Das

35

Museum

Museen fungieren traditionell als institutionelle Protektoren des dinghaften Kulturerbes: In ihrer Frühzeit beherbergten sie als Wunderkammern ein Panoptikum unterschiedlichster Objekte, avancierten jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zu spezialisierten Einrichtungen, die sich größtenteils je nachdem der Kunst, der Geschichte im Allgemeinen oder der Naturgeschichte verschrieben (vgl. Dubin 1999: 5). Mit ihrer wachsenden Verbreitung als Orte der Vermittlung von Wissen gingen Museen ein enges Bindungsverhältnis mit dem Sozialgeflecht ihrer Gesellschaft ein, authentifizieren sie und belegen gleichsam ihre historisch gewachsene kollektive Existenz (vgl. Gurian 2004: 283). Der Begriff des Museums leitet sich ab vom griechischen Musaion, dem Tempel, in dem die Töchter von Zeus und Mnemosyne verehrt wurden. Museen bewahren und präsentieren traditionell die Zeugnisse der materiellen Welt. Nicht erst die Vielfalt der institutionellen Vorgänger macht deutlich, dass es sich bei einem Museum vermutlich nicht um einen eng abgegrenzten Bereich handelt. Das Museum startete als „eigens für Kunst geschaffene [r] Raum der Aufklärungszeit" als „pseudosakrale Andachtsstätte" (Loers 1994:18), und wurde doch weitaus mehr. Der Museumsbegriff ist nicht geschützt, wodurch sich jede beliebige Institution als Museum klassifizieren kann. Dem begrifflich nicht eindeutig fassbaren Charakter der Institution Museums versuchte der Internationale Museumsrat ICOM mit folgender Definition Herr zu werden: „A museum is a non-profit making, permanent institution in the service of society and of its development, and open to the public, which acquires, conserves, researches, communicates and exhibits, for purposes of study, education and enjoyment, material evidence of people and their environment" (ICOM Statutes, Art. 2, § 1). Ausdrücklich bezieht ICOM unter anderem auch Naturdenkmäler, archäologische und ethnographische Monumente, Ausstellungen mit lebenden Organismen, Science Center, Planetarien und Kulturzentren, nicht-gewerbliche Kunstgalerien, Galerien von Bibliotheken und Archivzentren sowie Naturreservate und jedwede andere Institution, die Konservierung, Forschung, Bildung, Training, Dokumentation oder sonstige museumsbezogene Aktivitäten durchführt, in ihre museale Klassifizierung mit ein. Diese weitgefasste und unspezifische Bestimmung des Museums im kulturellen Gesamtzusammenhang stieß auf harsche Kritik: Nicht eine umfassende Subsummierung aller museologischen Tätigkeiten unter dem Sammelbegriff des Museums, sondern die Differenzierung und Abgrenzung dieser Aktivitäten untereinander könne erst zu einer institutionellen und operablen Klarheit führen (vgl. Maroevic 1998: 108). Auch in ratsinternen Kreisen, namentlich durch den Museumswissenschaftler Gary Edson, wurde die Zusammenführung von Museumsdefinition und qualifizierenden Kriterien bemängelt:

unterschiedlichen Terminologien intendiert. Dennoch wird es als zulässig erachtet, weil Mediatheken ein institutionelles Derivat der Bibliotheksorganisation darstellen, indem sie Sammlungsgüter unterschiedlicher Mediengattungen vor allem audiovisueller Art verwalten und zugänglich machen.

36

IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

,,[T]he definition adopted by the 20th General Assembly of ICOM, in 2001, arranges the definition and all the qualifying elements into one continuous shopping list of institutions and activities. I believe a definition should convey the fundamental character of the museum rather than describe the variables" (zitiert nach ICOM 2004). Fest steht, dass museal aufgegriffene Überlieferungen ein aktueller und zukünftiger intersubjektiver und kulturell repräsentativer Wert zugeschrieben wird. Die Existenz und Bedeutung von Museen baut nach dem Anthropologen Michael Ames auf zwei grundsätzlichen Prinzipien auf: Ihre Sammlungen gelten als unerlässlich für das Verständnis des Kulturerbe und implizieren eine moralische Kollektiwerpflichtung, dieses Erbe zu erhalten (vgl. Ames 2006: 172). Angesichts des Verschwindens eines gelebten Gedächtnisses durch die fortschreitende Externalisierung und damit Mediatisierung von Gedächtnisinhalten, kommt dem Museum als Ort gesellschaftlicher Anknüpfung an die Vergangenheit eine signifikante gedächtnisrelevante Bedeutung zu: „The museum is not the only site, but perhaps a particularly evocative one, where subjectivities and objectivities collide. This collision is not destructive. Like the reactions triggered in a particle accelerator, a series of collisions between the personal and the public, the individual and the institutional, the subjective and the objective, create new, highly energized relationships between museums and memory. Individual memories and academic intentions interact in the production of personal expectations and collective representations, in an ongoing, reciprocal mediation" (Crane 2000: 7). Im Museum lernt der Besucher etwas über sich selbst und über die Vergangenheit seiner eigenen oder einer fremden Kultur. Vor allem aber generieren Museen Erinnerungen, auf individueller und kollektiver Ebene. Ein Museum besteht aus unterschiedlichen Symbolwelten, schließlich lässt sich Geschichte selbst nicht musealisieren, nur ihre Überreste, mit deren Hilfe Visualisierungen möglich werden (Schärer 2003: 88). Museen bewahren nicht nur bedeutsame kulturelle Symbole, ihre Aufgabe ist es vor allem, mit der Bedeutsamkeit ihrer Sammlungsstücke das öffentliche Bewusstsein zu speisen, sich also zum Anwalt des Kulturerbes zu machen, für Aufmerksamkeit zu werben und eine Funktionalisierung des kulturellen Fundus auf allen Ebenen der Gesellschaft zu ermöglichen.

2.2.

Die „Deutsche Mediathek" als

Symptomatik

In einer Reihe von Staaten gibt es bereits seit Jahrzehnten nationale Gedächtnisorganisationen, die sich vehement und erfolgreich bei der Sammlung und Präsentation von audiovisuellen Medienüberlieferungen engagieren. In Frankreich setzt sich das Institut National de l'Audiovisuel für die Erhaltung von und den Zugang der allgemeinen Öffentlichkeit zu den Überlieferungen der Film-, Fernseh- und Hörfunkgeschichte ein, in Australien arbeitet das National Film and Sound Archive unermüdlich an Aufbau und Pflege einer Nationalsammlung, die explizit auch die Hervorbringungen des Fernsehens

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

37

mit einbezieht, und in der japanischen Broadcast Library (Broadcasting Programming Center) wird nicht weniger akribisch die Programmgeschichte des fernöstlichen Landes festgehalten. Die Rolle eines weltweiten Vorbildes wurde jedoch einer US-amerikanischen Einrichtung zuteil, die bereits im Jahre 1976 als Museum of Broadcasting gegründet und später in Museum of Television & Radio sowie 2007 erneut in Paley Center for Media umbenannt wurde und sich, ausgestattet mit einer umfangreichen Programmsammlung, dem breiten Spektrum der US-Fernsehgeschichte zuwandte. Vor allem auf Medienwissenschaftler, Journalisten und Fernsehkünstler in Deutschland machte die imposant im Herzen Manhattans eröffnete Einrichtung Eindruck und ließ den Unmut darüber wachsen, dass in Deutschland eine eben solche Gedächtnisorganisation fehlte. Erst im Juni 2006 konnte mit dem ersten Fernsehmuseum Deutschlands unter dem Dach der Stiftung Deutsche Kinemathek eine senderunabhängige Institution eröffnet werden, die sich einer der allgemeinen Öffentlichkeit zugwandten Pflege, Aufarbeitung und Kontextualisierung des Fernseherbes auf die Fahnen geschrieben hat und zu gemeinnützigen kulturellen Zwecken den Zugang zu historischen Fernsehsendungen ermöglicht. Warum die Realisierung Jahrzehnte auf sich warten ließ, welche der Öffentlichkeit einmal ausgestrahlte Sendungen unabhängig vom Programmschema der Sender zugänglich machen und damit ein Ort des Diskurses über das Medium sein kann, warum wertvolle Zeit verstreichen musste, in der Generationen von Fernsehnutzern von den Präsentations- und Bildungsangeboten einer solchen Einrichtung hätten profitieren können, mag wohl hauptsächlich den grundsätzlichen Akzeptanzschwierigkeiten des Fernsehens als historisch signifikantes Medium geschuldet sein, woraus resultierte, dass das televisuelle Schaffensspektrum zum blinden Fleck der Kulturerbe-Verwaltung wurde. Dies zumindest lässt sich an der schicksalshaften Entwicklungsgeschichte des Projektes „Deutsche Mediathek" ableiten, welches sich bereits Mitte der 1980er Jahre als Initiative zur Gründung einer eigenständigen Gedächtnisinstitution über die Geschichte des Rundfunks formierte, jedoch über einen Zeitraum von 15 Jahren nicht realisiert werden konnte, um schließlich in der neu geschaffenen Fernsehabteilung der Deutschen Kinemathek aufzugehen. In Deutschland gab es zwar bereits zu diesem Zeitpunkt über 1.200 audiovisuelle Mediensammlungen (vgl. Bockhorn u.a. 1996), in denen zum Teil auch Fernsehprogrammmüberlieferungen Obhut gefunden hatten. Doch, wie später noch näher erörtert wird, sind diese auch heute noch von erheblichen Zugangsbeschränkungen betroffen, geschweige denn dass es ihnen möglich wäre, den Spagat zwischen der Bedienung fachlicher Nutzerklientel wie zum Beispiel aus der Wissenschaft auf der einen und einem breit gefächerten Angebot für die allgemeine Bevölkerung auf der anderen Seite zu schaffen. Im Juni 1986 wurde also ein Projekt ins Leben gerufen, dessen Ziel es war, eine eben solche integrative Institution als Fixpunkt des fernsehhistorischen Diskurses wie auch der allgemeinen Erinnerungsbedürfnisse der Fernsehgesellschaft unter dem Titel „Deutsche Mediathek" zu errichten. Die schleppend verlaufende Entwicklungsgeschichte des Projektes wurde mal als „ein tristes Kapitel deutscher Rundfunkgeschichte" (Herkel 1999),

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

mal als „medienpolitische Farce" (Peitz 1999) bezeichnet. Als sich abzeichnete, dass die Bestrebungen der Mediatheksplaner schließlich würden scheitern müssen, wurde gar im Lichte der drängenden Notwendigkeit einer solchen Anlaufstelle von einem beispiellosen „Skandalon" (Kammann 1999: 3) gesprochen. Die „Deutsche Mediathek" steht damit sinnbildlich für eine Symptomatik, die sich auf zwei Problemfeldern zeigt: Erstens wurden die Mediatheksplanung ursprünglich erst angestoßen, weil die bestehenden Sammlungs-, Bewahrungs- und Zugangspraktiken als unzureichend empfunden wurden. Hier war die Entwicklung der Einrichtung also ein Symptom des kränkelnden Verhältnisses der Fernsehindustrie und des Kulturbetriebs zum Kulturgut Fernsehen. Zweitens wurde das Scheitern wiederum zu einem Symptom für die Schwierigkeiten systemischer Natur, die eine Realisierung von Institutionalisierungsvorhaben in Bezug auf televisuelle Gedächtnisorganisationen vor Probleme stellen. Wie im Folgenden näher ausgeführt wird, zeigt das Scheitern der „Deutschen Mediathek", mit welchen übergreifenden Schwierigkeiten televisuelle Gedächtnisorganisationen im Dienste der Allgemeinheit zu kämpfen haben: Dies betrifft unter anderem die Kernprobleme der Archivierungsverantwortlichkeit, der Auswahl von Sammlungsstücken sowie Rechtefragen und die grundständige Finanzierung bzw. Trägerschaft der Einrichtung. Allen voran aber ist die Herausforderung zu bewältigen, in die kulturinstitutionelle Peripherie der Gesellschaft integriert zu werden. Dies misslang im Falle der „Deutschen Mediathek", obwohl die Projektentwicklung an ein renommiertes Kulturinstitut angelagert war: Der Akademie der Künste in Berlin. 2.2.1. Schwunghafter Auftakt mit moralischer Empörung: Erste Konturierungen der „Deutschen Mediathek"

Die Grundlage für die Planungen wurde im Herbst 1984 gelegt, als der damalige Präsident der Akademie der Künste Berlin (AdK) Günter Grass die Abteilung Film- und Medienkunst an der Akademie einrichtete, die im April 1985 ihre Arbeit aufnahm. Zu den ersten Aufgaben der neu gegründeten Abteilung gehörte eine Veranstaltungsreihe zur Kultur im Rundfunk (AdK 1985). Nach der Diskussion der Frage: „Wie steht es um den Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems?" im Jahre 1985 lud der Autor und Regisseur Eberhard Fechner als stellvertretender Direktor der Abteilung Filmund Medienkunst zu einem zweiten Medien-Hearing am 6. Juni 1986 nach Berlin, um die Bewahrung von Funk- und Fernsehkultur in den Archiven der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu problematisieren. Der Einladung folgten 60 Vertreter aus Kultur, Politik und Rundfunk. Ergebnis der eintägigen Diskussionsveranstaltung war die intendierte Errichtung eines Museums für Rundfunkgeschichte, das später über ein Jahrzehnt unter dem Namen „Deutsche Mediathek" geplant wurde und dessen Relevanz vornehmlich von der Stellung des Rundfunks in der Gesellschaft abgeleitet wurde. So sprach Fechner in seiner Auftaktrede von einer „immer größer werdenden Bedeutung" (AdK 1986a: 1) der Medien Hörfunk und Fernsehen in der Kulturlandschaft. Es bestehe kein Zweifel, dass das Bild der Kultur der Bundesrepublik Deutschland zu großen Teilen unvollständig

IV.2. Strukturelle Imperative der

Fernseherbe-Verwaltung

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bliebe, wenn nichts getan werde, um die Zeugnisse von Hörfunk- und Fernsehkunst für künftige Zeiten aufzubewahren (ebd.). Im Vorwort der ersten Broschüre der „Deutschen Mediathek im Aufbau" (AdK 1990) wies AdK-Präsident Walter Jens auf die Diskrepanz zwischen der wichtigen Stellung des Fernsehens in der Zeitgeschichte und des Fehlens einer zentralen Einrichtung zur Bewahrung und Reflexion der Historie dieses Mediums hin: „Während die Literatur, als das große Gedächtnis der Menschheit, umfassend interpretiert wird, findet ein Fruchtbarmachen der durch die modernen Medien vermittelten Geschichte nicht statt, wird diese dramatische, widerspruchsreiche und bis ins Detail hinein signifikante Historie nicht zur Vergrößerung unserer Erkenntnismöglichkeiten genutzt. Ein entscheidendes Stück staatsbürgerlicher Unterweisung bleibt im Dunkeln, obwohl es sich mit Hilfe einer Deutschen Mediathek rasch und umfassend darstellen ließe" (Jens 1990: 7). Als ein weiteres maßgebliches Problem wurde die eingeschränkte Zugänglichkeit von Archivmaterial benannt (vgl. u.a. AdK 1986a: 95). Im Laufe der Debatte um die „Deutsche Mediathek" wurde auf der einen Seite Verständnis für die fehlenden Kapazitäten in den Senderarchiven geäußert (AdK 1991: 9), die Unzugänglichkeit von audiovisuellem Material aber auch als „Kulturschande" (ebd.: 15) bezeichnet. Im Rahmen seines Vortrags während des Medien-Hearings machte sich der langjährige Kulturchef des WDR HansGeert Falkenberg erste Gedanken über mögliche Interessenten einer solchen Einrichtung. Seine Liste gleicht einem Rundumschlag: So seien es die Rundfunkanstalten selbst sowie weitere Einrichtungen, die mit audiovisuellem Quellenmaterial arbeiten, Journalisten, Wissenschaftler, Bildungseinrichtungen, jegliche Arten von Verbänden und der individuelle Einzelnutzer, die ein solches Haus anspräche (Falkenberg 1987a: 168-171). Die Problematiken bei der Schaffung einer Institution, die Rundfunkinhalte über ihre Versendung hinaus einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen soll, waren dementsprechend schon während der ersten Überlegungen vielfaltig. Wolfgang Hempel, damals Leiter der Hauptabteilung Dokumentation und Archive des Südwestfunks, äußerte während des Medien-Hearings seine Vorstellung einer repräsentativen Programmdarstellung, verbunden mit Materialsicherung und Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit (AdK 1986a: 96). In diese Richtung zielten auch die ersten Planungen einer Arbeitsgruppe, die sich auf Initiative Fechners mit der Errichtung einer „Stiftung Nationales Museum" beschäftigte. Das Museum solle in Berlin gegründet und an die Akademie der Künste oder an die Stiftung Deutsche Kinemathek angebunden werden (AdK 1987a). In einem Leitsatz wurden die Aufgaben der Institution formuliert: „Das Museum für Rundfunkgeschichte soll Hörfunk- und Fernsehproduktionen unabhängig von den Programmen der Rundfunkveranstalter der Öffentlichkeit zugänglich machen" (ebd.). Kritisiert wurde vor allem das Unvermögen des Rundfunks, audiovisuelle Medienkultur nur in Form von Wiederholungen, aber nicht als historisches Material öffentlich zu machen.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

2.2.2. Der Stein des Anstoßes: Überlieferungslücken

und der Streit mit den

Archivaren

Der neben der vielgestaltigen Bedeutung des Rundfunks und die als Missstand empfundene Unzugänglichkeit des Programmerbes für die allgemeine Öffentlichkeit dritte und von Fechner als „ganz persönlich" (AdK 1986a: 30-31) bezeichnete Grund für den Beginn der Debatte um die „Deutsche Mediathek" war die Bestürzung über die von ihm festgestellte Löschung von Archivmaterial durch die Rundfunkanstalten, die er als „großes Problem" (ebd.: 31) bezeichnete. Wiederholt wurde die Betroffenheit Fechners auf die unrechtmäßige Löschung seines eigenen Filmmaterials zurückgeführt und als Grundmotivation für seine Initiative beschrieben. Die seit seinem Tode stets wiederkehrende Behauptung, der NDR habe einen bzw. einige seiner Werke zur „Frischbandgewinnung" (Leuffen/Weichert 2005: 377) überspielt und damit unwiederbringlich gelöscht,5 ist aufgrund der Überlieferungslage nicht nachzuvollziehen. Anhand des ausführlichen Protokolls des Medien-Hearings von 1986 kann allein nachgewiesen werden, dass Fechner sich über die Löschung anderer Werke betroffen zeigte - nicht aber seiner eigenen. Seine Witwe Jannet Fechner äußert sich dazu eindeutig: „Kein Film ist weggekommen" (zitiert nach Kramp 2005a: 92). Vonseiten des NDR werden die Annahmen ebenso als nicht bestätigte Gerüchte bezeichnet: Horst Königstein, seit 1970 Redakteur und seit 1989 Autor und Regisseur in der Fernsehspiel-Abteilung des NDR sowie langjähriger Wegbegleiter Fechners, negiert die Überspielung oder bewusste Löschung von Fechner-Filmen vehement (vgl. ebd.). Fechner selbst, aber auch weitere Referenten wie Karla Fohrbeck vom Zentrum für Kulturforschung in Bonn nannten mehrere Beispiele für ihre These, dass Rundfunkmaterial in den öffentlich-rechtlichen Senderarchiven nicht sicher sei vor einer Löschung. So sei Archivmaterial über Theaterproben von Gustav Gründgens, aber auch das einzige Fernsehinterview mit Arno Schmidt gelöscht worden. Auch die Originalbilder von Willy Brandts Kniefall gebe es nicht mehr (AdK 1986a: 30-31). Die beim Medien-Hearing 1986 anwesenden Archivare räumten gewisse Lücken in ihrem Bestand ein, ohne aber eine Erklärung dafür nennen zu können.6 Obwohl Fechner damals einen „Generalvorwurf an die Rundfunkanstalten" formulierte („niemand wirft den Archivaren der Rundfunkanstalten allein etwas vor") (AdK 1986a: 92), entstand ein nur schwer wieder aufzulösender Konflikt zwischen den Mediatheksplanern und den Senderarchivaren, die sich durch die Kritik bezüglich der Überlieferungsverluste in ihrer Verantwortung und Kompetenz angegriffen sahen. Heiner Schmitt vom ZDF war auf der Veranstaltung dem zunächst noch generell formulierten Vorwurf, dass „niemand in den Anstalten darüber Auskunft geben kann, ob wirklich alle bisher ausgestrahlten Sendungen archiviert und wie diese Archivbestände erschlossen 5 6

Beispielhaft seien hier nur einige der Presseveröffentlichungen genannt: Goergen 1993; Hanemann 1993; Irmscher 1998; Peitz 1999; Baumgärtel 2002. So äußerte sich der damalige Archivleiter des ZDF Heiner Schmitt: „Natürlich sind auch in unserem Hause aus der Frühzeit der Jahre 1963 bis 1970 eine ganze Reihe von Produktionen verschwunden [...] Produktionen aus dem Bereich der Trivialüberlieferung, was mich besonders schmerzt" (AdK 1986: 86).

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IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

worden sind" (ebd.: 2), mit der Einräumung begegnet, dass auch im ZDF-Archiv Lücken in der Überlieferung zu beklagen seien, doch entgegnete er zudem: „Glauben Sie nur ja nicht, dass wir hingehen und jede zehnte Büchse deshalb wegschmeißen, nur weil wir keinen Platz mehr haben" (ebd.: 87). Im Laufe der Debatte, die auch noch nach Jahren immer wieder auflebte, kam es zum Teil zu hitzig geführten Kontroversen, wenn es um die Relevanz eines archivisch ausgerichteten Rundfunkmuseums ging: So erhob der Dokumentarfilmer und spätere Nachfolger Eberhard Fechners im Verein der Freunde der „Deutschen Mediathek" Erwin Leiser erneut im Jahre 1991 den Vorwurf, dass wichtige zeithistorische Aufnahmen abhanden gekommen seien, in diesem Fall eine wichtige Rede Herbert Wehners im Bundestag (AdK 1991: 13-14). Daraufhin verteidigten sich Archivare vom Südwestfunk sowie vom WDR in Form von Leserbriefen vehement mit dem Hinweis, die Wehner-Rede sei im WDR-Schallarchiv körperlich vorhanden (Anonym 1991). Dabei waren die Mediathekplaner selbst schon 1989 zu der Erkenntnis gekommen, dass die sogenannten „Löschzüge" (vgl. u.a. Thomsen 1989) nicht mehr fahren würden und daher die Argumentation für die Idee einer „Deutschen Mediathek" möglicherweise einen anderen Ausgangspunkt benötige (AdK 1989). Schmitt betonte auf der ersten großen Informationsveranstaltung des Mediatheksvereins im Jahre 1991, dass es keinen Gegensatz zwischen der Zielsetzung der Rundfunkarchivare auf der einen Seite mit ihrer endarchivischen Funktion und der musealen Konzeption der „Deutschen Mediathek" auf der anderen Seite gebe (AdK 1991: 15). Dieses Angebot einer gütlichen Einigung seitens der Archiwertreter aus den Sendeanstalten folgte auf ein teilweises Einlenken Fechners und seiner Vereinskollegen, die ursprünglich beabsichtigt hatten, in ihrer ersten Broschüre über die „Deutsche Mediathek im Aufbau" (AdK 1990) einen stark kritischen Ton gegenüber der historischen Bewahrungshaltung der Fernsehveranstalter anzuschlagen: So warnte der Archivar Ulf Scharlau vom Süddeutschen Rundfunk aus Stuttgart Eberhard Fechner in einem persönlichen Schreiben davor, ,,[e]inem möglichen Koalitionspartner [...] von Anfang an Unfähigkeit und Barbarentum im Umgang mit dem ihm anvertrauten Gut zu unterstellen" (Scharlau 1989). Ebenso verwarten sich andere Archiwertreter gegen die ihrer Ansicht nach durchklingende Polemik gegen die angeblichen „Kahlschläge" in den Senderarchiven. In der veröffentlichten Broschüre stellte Fechner schließlich allgemein auf die „zentrale Bedeutung von Hörfunk und Fernsehen für unsere Gesellschaft" ab, die inzwischen „weitgehend anerkannt" werde, adressierte aber keine direkte Kritik an die Sender (AdK 1990: 3). 2.2.3. Das Ausmaß der Zuwendung: Das Auswahl- und

Rechteproblem

In allen Konzepten von 1987 bis 2001 wurde eine repräsentative Auswahl aus dem Gesamtbestand der Archive der Veranstalter für notwendig erachtet: Unklar blieb, nach welchen Kriterien ausgewählt werden sollte. Die frühen Konzeptentwürfe waren noch sehr stark an einem akademischen Nutzerkreis ausgerichtet. In den vornehmlich von Falkenberg vorgeschlagenen Auswahlkriterien kam das insofern zur Geltung, als dass er

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

zunächst in ausgeprägtem Maße Hör- und Fernsehspiele in das Repertoire der „Deutschen Mediathek" aufnehmen wollte (vgl. Falkenberg 1987b: 8). Angesichts dieser eingeschlagenen Zielrichtung wurde indes vor einer „Höhenkamm-Kunst-Kulturinstitution" gewarnt, mit der Geldgeber, aber auch das Publikum nur schwer zu überzeugen sein würden (Thomsen 1989: 2). Die Beschränkung auf diese „genuine [...] Fernsehkunst" (ebd.) wurde daher bald aufgegeben, um auch populäre bzw. triviale Programme mit einzubeziehen. Als Auswahlhilfen sollten in erster Linie zwar Fernsehpreise wie die Auszeichnungen der Jury des Adolf Grimme Preises sowie weiterer Rundfunkpreise wie „Prix Jeuness", „Prix Futura" oder gar der US-amerikanische „Emmy-Award" dienen, wobei es bei Letzterem angebracht erschien, nominierte bzw. ausgezeichnete Sendungen aus Deutschland zu beachten.7 Doch auch eine an Einschaltquoten orientierte Auswahl wurde nicht ausgeschlossen. In Falkenbergs immer wieder überarbeiteten Papier zur Programmauswahl verkürzten sich die Kriterien später auf die „künstlerische Meisterschaft", „historische Relevanz", „gesellschaftliche Wirkung" und den „Erfolg" einer Sendung (Falkenberg 1994b: 2-3). In den ersten Jahren der Entwicklungsgeschichte der „Deutschen Mediathek" standen Rechtsfragen im Vordergrund. Schon auf dem Medien-Hearing 1986 wurden diese in Bezug auf das geplante Museum problematisiert. Die Urheberrechte galten als „Hauptknackpunkt" (Radevagen 1991) des Projektes, da die geldlichen Forderungen der Rechteinhaber in ihrer Höhe für das Museum als kaum abschätzbar bewertet wurden. Die Rechtsgutachten des engagierten Rechtsanwalts Stefan König machten auf die diffizile Rechtesituation in Bezug auf die für die meisten der Arbeitsgruppenmitglieder ohnehin schwer verständlichen juristischen Materie8 aufmerksam (u.a. König 1987). So musste jahrelang mit den Verwertungsgesellschaften verhandelt werden, um die mit dem Projekt verbundenen Rechtsfragen zu erschließen. Dabei wurde das Argument, es solle für die Rechteinhaber eine Ehre sein, dass ihre Werke in die Auswahl einer Einrichtung wie der „Deutschen Mediathek" aufgenommen würden (vgl. AdK 1991: 27), heftig kritisiert: Herbert Kundler, damals stellvertretender Intendant des RIAS, bezeichnete im Jahre 1991 das Argument des Stolzes als nicht praktikabel - die Rechteinhaber müssten schließlich bezahlt werden (ebd.: 30.). Es könnten sich, so stellte schon König in seinem Rechtsgutachten aus dem Jahre 1987 fest, gar Probleme dadurch ergeben, wenn in einem Werk ein anderes Werk ausschnittsweise wiedergegeben, verfremdet, bearbeitet, kurz oder lang zitiert würde, weil somit auch Rechte der an diesen Werken beteiligten Personen tangiert sein könnten (König 1987: 20). Andererseits wurden Auffassungen geäußert, dass das Urheberrecht durch eine „Deutsche Mediathek" nicht berührt werde, da nie eine Ausstrahlung oder eine Ausleihe vorgesehen gewesen war (u.a. Klebe 1987: 3; AdK 1990: 7 8

Falkenbergs Ausarbeitung zu den qualitativen und quantitativen Auswahlkriterien vom 22. Oktober 1994 (Falkenberg 1994b) wurde zwei Tage später von der Vereinsversammlung angenommen. Fechner selbst musste feststellen: „Wir waren wirklich Amateur, wir haben keine Ahnung gehabt, als wir mit dem Ding anfingen, nichts wussten wir" (AdK 1991: 23). Bisweilen wurden die Mediathekplaner auch als „liebe Illusionisten" bezeichnet (Bonkosch 1994: 562).

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IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

12; AdK 1994: 15). König dagegen warnte in seinem Gutachten vor dem Einzelfall: Ob die Bereitstellung von Programmmaterial im Falle der geplanten Einrichtung eine „öffentliche" oder „private" Wiedergabe wäre, sei schwer zu beantworten (König 1987: 15). In der Presse wurde gar orakelt, dass das Projekt aufgrund der ungeklärten rechtlichen Voraussetzungen scheitern könnte (Matuschek-Labitzke 1991). 2.2.4.

Verantwortung

Fehlanzeige: Die Suche nach förderwilligen

Trägern

Die über die gesamte Dauer der Entwicklungsgeschichte bestehende Unklarheit hinsichtlich der Finanzierung der „Deutschen Mediathek" entzündete sich an der Frage nach den richtigen Adressaten für diesbezügliche Forderungen. Die Mediathekplaner gingen zunächst davon aus, dass nicht primär die Sender angesprochen werden sollten, sondern die Bundesländer und der Bund (AdK 1991:10). Verständlicherweise äußerten sich auch Rundfunkvertreter in diese Richtung, weil es eine staatliche bzw. private Aufgabe sei und keine des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (u.a. Anonym 1999a). Es sei aus den Staatsverträgen „nur unter äußerster Dehnung abzuleiten", dass die Gebührenmittel für eine solche Aufgabe in größerem Umfang verwendet werden könnten (AdK 1991: 17). Fechners Überzeugung war, dass eine „Deutsche Mediathek" nicht in das Aufgabengebiet der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten falle, sondern in das des Bundes und der Länder (vgl. ebd.: 23). Die Institution müsse föderativ von den Bundesländern getragen werden und politisch möglichst unabhängig sein (Kubitz 1992; Dencker 1991). Im Laufe der Jahre wurden auch Forderungen laut, die ein Engagement des Bundes als obligatorisch betrachteten, da er einerseits als Träger der Deutschen Welle indirekt an einer Fernsehveranstaltung beteiligt sei und andererseits weil die „Deutsche Mediathek" in Berlin mit der Bewahrung des kulturellen Erbes eine nationale Aufgabe erfülle (Gronau 1996). Außerdem habe der Bund eine „gesamtkulturelle" Verantwortung für alle entsprechenden Initiativen in der Hauptstadt (Anonym 1993: 11). Belange des Rundfunks sind in Deutschland jedoch der medien- und kulturpolitischen Kompetenz der Bundesländer zugeordnet. Außerdem fehlte in den ersten Jahren der Projektentwicklung ein Staatsminister für Kultur, der sich für die Einrichtung hätte interessieren lassen. Seit das Bundesverfassungsgericht 1961 die Staatsferne des Rundfunks hervorgehoben hat, hat sich der Bund bewusst aus solchen Projekten herausgehalten, da keine Zuständigkeit vorlag. So schlugen Initiativen, die Bundespolitik zur Speerspitze in der Finanzierungsfrage zu machen, weitgehend fehl und erbrachten nur unterstützende Worte, aber keine finanzielle Bezuschussung. Schon 1991 gab es auf der anderen Seite Forderungen, die Sender in die Pflicht zu nehmen, neben materieller Unterstützung mit Programmmaterial auch finanziell einen Anteil am Betrieb der „Deutschen Mediathek" zu übernehmen, als der Verein noch in Richtung der öffentlichen Hand Anstrengungen unternahm (AdK 1991:19-20). Im Zuge der beabsichtigten Einbringung des Projektes in die Ministerpräsidentenkonferenz im Verlauf des Jahres 1991 wurde daraufhingewiesen, dass es falsch sei, die Finanzierungsfrage nur auf die Anstalten zu lenken. In einem Schreiben der Senatsverwaltung für kul-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

turelle Angelegenheiten an das Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister wurde seitens Berlins aber unmissverständlich festgestellt, dass bewusst Abstand davon genommen werden solle, das Projekt mit Steuermitteln zu finanzieren. Durch den Kulturauftrag der Rundfunkanstalten erwachse diesen auch die finanzielle Verantwortung für die mit der „Deutschen Mediathek" verfolgte Aufgabe. Die öffentliche Hand an der Trägerschaft zu beteiligen, widerspreche dem Subisidiaritätsprinzip (Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten Berlin 1991). Die ernüchternde Feststellung in der Vereinssitzung nach der gescheiterten Initiative war, dass weitergehende Finanzierungsforderungen nicht nur die Verhandlungen mit den Sendern erschweren, sondern diese auch schlichtweg überfordern würden (VFDM 1991). Nach dem Misserfolg auf Länderebene änderte der Verein seine Strategie und beabsichtigte fortan die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht nur zu einer kostenlosen Überspielung von Archivmaterial zu bewegen, sondern sie zudem zu Trägern der Institution „mit allen Rechten und Pflichten" zu machen. Bisher sei die Senderbeteiligung auf einer viel zu niedrigen Ebene angesiedelt worden (Verein 1993b). Ein weiterer Schritt war der völlige Verzicht auf die Mitträgerschaft der Länder (Verein 1993c). Trotz der späteren finanziellen Beteiligung des Vivendi Konzerns bzw. dessen Berliner Unternehmens Veolia Water, der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten und Berlins wurde seitdem weiterhin an den Sendern als hauptsächliche Geldgeber festgehalten. Eben diese Verantwortung sah die ARD im Verlauf der Mediatheksdebatte nicht in Bezug auf eine finanzielle Beteiligung. Auch das ZDF hatte sich zunächst zurückgehalten. Der von den Sendervertretern geäußerte „gute Wille" (AdK 1991:12) hinsichtlich des Projektes wurde schon 1991 bei der ersten öffentlichen Diskussion über die geplante Einrichtung in Zweifel gezogen, da die Intendanten nicht selbst zur Informationsveranstaltung gekommen waren, sondern nur Vertreter niedrigerer Hierarchieebenen nach Berlin geschickt hatten (ebd.: 18). Zwar brachte die ARD dem Projekt von Anfang an „außerordentlich viel Sympathie" entgegen (ebd.: 12), doch als einige Jahre später die Forderung nach einer Gesellschafterfunktion der Sender aufkam, nahm sie einen eindeutigen Standpunkt ein: Es sei „Geschäftsgrundlage", dass die Unterstützung der „Deutschen Mediathek" zu keinen finanziellen Belastungen für die ARD-Anstalten führen dürfe (Anonym 2000a). Die über die gesamte Entwicklungsdauer kompromisslose Haltung der ARD wurde im Zuge der sehr emotional geführten Diskussion als „Hinhaltetaktik" (Merschmann 2000) und angesichts der horrenden Kosten für die Übertragungsrechte eines einzelnen Fußballspiels als unverständlich bezeichnet (vgl. u.a. Kammann 1999a: 4; Kammann 1999b: 3). Die Rolle der Privatsender in der Frage nach der Finanzierung und Trägerschaft ist zwiespältig. Einerseits hatte sich RTL im Jahre 1994 mit der Finanzierung einer VereinsBroschüre hervorgetan (vgl. AdK 1994), und Sat.l hatte sich durch seinen Geschäftsführer und den Vorsitzenden des VPRT Jürgen Dötz als erster Sender zur Zahlung einer jährlichen Summe bereiterklärt. Doch wurde nach dem Scheitern der Mediatheksplanungen im Jahre 2001 Kritik an den angeblichen Lippenbekenntnisse der Privatsender laut: Zwar hatte es zuvor einen Konsens zur Unterzeichnung eines sogenannten „Letter of Intend"

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IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

vonseiten der Sender, Landesmedienanstalten, Vivendis und des Landes Berlin gegeben, der die Gründung der „Deutschen Mediathek" beschließen sollte. Doch durch die überraschende Insolvenz des Kirch-Konzerns, zu dem auch die ProSiebenSat. 1-Sendergruppe gehörte, verzichtete diese auf die Unterzeichnung, woraufhin sich auch RTL mit Verweis auf das Junktim, dass alle Partner ihren Teil leisten müssten, zurückzog (vgl. Kammann 2001). In dessen Folge verzichteten auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten zunächst. Die finanzielle Zurückhaltung der Sender wurde schließlich als Hauptursache für die langwierige Entwicklungsgeschichte und das letztliche Scheitern der Realisierung angesehen: In einem Pressekommentar wurde den Sendern daher auch vorgeworfen, die „Problemverursacher" zu sein. Schließlich sei die „Deutsche Mediathek" ein „Schatz, der leicht zu heben und billig zu haben" sei (Kammann 1998: 4). Dabei bleibt es fraglich, ob die in der Diskussion um das Mediathekprojekt oft gesuchte und nicht weniger vielseitig adressierte Schuld tatsächlich den Sendern anzulasten ist. Rückblickend haben sich zwei Finanzierungsstrategien herausgebildet, die stets konkurrierend betrachtet wurden: Zuerst war die öffentliche Hand maßgeblicher Adressat bei der Forderung nach finanzieller Trägerschaft, und nach einer aussichtslosen Verhandlungssituation auf LänderEbene richtete der Verein seine Hoffnungen auf die Sender und verfolgte zumindest bei den öffentlich-rechtlichen Veranstaltern die Strategie, ihnen angesichts ihres Kultur- und Grundversorgungsauftrages auch finanzielle Zugeständnisse für die „Deutsche Mediathek" abzuringen. Beide Wege wurden aber nicht zugleich beschritten. 2.2.5. Annäherung

an ein flüchtiges Medium: Der lange Weg zur

Konzeption

Im Vorwort der ersten Vereinsbroschüre schrieb Eberhard Fechner, es habe sich ein „ungewöhnlicher Bestand von bewahrenswerten Zeugnissen unserer Kultur angesammelt". Die geplante Mediathek sei für die Gesellschaft dringend erforderlich, wenn „sie ihre kulturelle Identität in diesem für uns alle so wichtigen Bereich bewahren will" (AdK 1990: 3). Diese These, die sich in abgewandelter Form in fast allen Konzeptionen der „Deutschen Mediathek" finden lässt, gab schon früh die konzeptionelle Ausrichtung vor: Wird in den ersten Konzeptionen noch sehr ausführlich und auch im späteren Verlauf zwar nicht explizit, aber indirekt davor gewarnt, dass die Rundfunküberlieferungen nach ihrer Ausstrahlung durch die Unzugänglichkeit der Archive der Vergessenheit überantwortet würden, steht dahinter stets die Aussage, dass durch eine Institution wie die „Deutsche Mediathek" das Programmmaterial nicht nur zugänglich gemacht wird, sondern durch die didaktische Vermittlung und die durch Veranstaltungen und Publikationen erfolgende Wiederspeisung der Programminhalte in den gesellschaftlichen Diskurs Erinnerung erst ermöglicht. Nicht von vornherein war der Begriff der „Deutschen Mediathek" mit der Idee Fechners verbunden. Es dauerte Jahre, bis eine geeignete Bezeichnung gefunden wurde. Zunächst kursierten zahlreiche Museums-Titel in der Arbeitsgruppe der Akademie der Künste. Klaus-Peter Dencker, ehemaliger Leiter der Hamburger Kulturbehörde, der seit 1986 zusammen mit Fechner bis zu dessen Tode im Jahre 1992 die Projektentwicklung

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

maßgeblich vorangetrieben hat, schlug unter anderem recht sperrige Bezeichnungen wie „Medien-Museum der Programme", „Medienhaus für Programmdokumentation", „Radio/TV Programm Museum" und „Haus der Programmgeschichte" vor, wobei er selbst „Medien-Programm-Museum (MPM)" favorisierte (Dencker 1987). Mehrere Arbeitstitel wurden in den überlieferten Protokollen und Korrespondenzen der Planer benutzt: „Museum für Rundfunk- und Fernsehkultur" (AdK 1987b), „Museum für Programmgeschichte" (Klebe 1987: 1) oder einfach „Rundfunkprogramm-Museum" (u.a. AdK 1989). Ein weiterer Vorschlag war „Deutsches Museum für Funk- und Fernsehkunst (DMFFK)" (Ihomsen 1989). Am Anfang der Entwicklung stand indes der Archivgedanke, geboren aus der Erkenntnis, dass in den Rundfunkarchiven wichtige Überlieferungen gelöscht worden waren. Dieser Charakter trat zuerst in der Ankündigung des Medien-Hearings 1986 zu Tage, in der deutlich von der möglichen Planung eines nationalen Archivs gesprochen wurde (Vgl. AdK 1986b). Auch Falkenberg sprach die Möglichkeit eines Zentralarchivs an (Falkenberg 1987a). Obwohl Fechner angesichts der auf dem Medien-Hearing laut gewordenen Kritik an „gigantomanischen" (AdK 1986a: 94) Plänen feststellte: „Vergessen wir dieses zentrale Archiv" (ebd.), blieb der wahre archivische Charakter der intendierten Einrichtung bestehen: Die nach der Veranstaltung 1986 gebildete Arbeitsgruppe trug den Titel „AG Rundfunk-Museum (Archiv)" (AdK 1987c). Auch Hempel unterstrich den Archiv-Charakter der Einrichtung und zählte ebenfalls die Sicherung von Programmmaterial zu dessen Aufgabe (AdK 1986a: 96). So hielt sich der archivische Gedanke noch einige Jahre in den Konzeptvorschlägen für die „Deutsche Mediathek". Die Ausrichtung war zudem daran zu erkennen, dass im Zentrum der Mediathek bis zu 40 Sichtplätze installiert werden sollten und schon in frühen Überlegungen mindestens 10.000 Stunden Fernsehprogramm als Erstausstattung (AdK 1994: 21) sowie ein jährlicher Zuwachs von 1.000 bis 1.500 Stunden9 für essentiell gehalten wurde. Falkenberg sah die Hauptaufgabe der Einrichtung in einer Ergänzung der Rundfunkarchive durch ein „Archivieren auf nahezu ideale Weise in lebendiger, dem Publikum zugewandter Kontinuität" (Falkenberg 1987b: 2). Daher sollte vornehmlich auch das Programmmaterial vom Museum übernommen werden, dass in den Rundfunkarchiven zur Löschung anstünde (vgl. auch Matuschek-Labitzke 1991). Auch der Konzeptentwurf des ehemaligen Präsidenten des Bundesarchivs Friedrich P. Kahlenberg (Kahlenberg 1987), entledigte sich des archivischen Anklangs nicht und stellte hervor, dass die Leistung des Museums auch darin läge, Programmmaterial nicht nur zu sammeln, sondern auch zu erhalten. Zwar wurden schon in beiden Entwürfen auch Sonderveranstaltungen wie Seminare und Vorlesungsreihen angesprochen, doch waren die Konzeptionen noch sehr stark der Lösung der Ursprungsproblematik, die Löschung von Programmmaterial in den Rundfunkarchiven, verhaftet - ohne aber eine schon bestehende Einrichtung dupli9

Diskutiert wurde, ob ein jährlicher Zuwachs von 2.000 Programmstunden, jeweils zur Hälfte bestehend aus Hörfunk- und Fernsehprogramm, günstiger sei als eine Anhebung auf 3.000 Programmstunden (vgl. Verein 1994b; Verein 1996).

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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zieren zu wollen (ebd.). Kahlenberg stellte indes noch deutlicher als Falkenberg positive Effekte eines solchen Museums in Ergänzung der Rundfunkarchive heraus, was nicht nur einen enormen Nutzen in der Jugend- und Erwachsenenbildung sowie in wissenschaftlichen Kreisen erbringe, sondern auch einen aus der Zugänglichkeit des Programmmaterials resultierenden Sympathiegewinn der Rundfunkanstalten erzielen könnte (ebd.: 8). Als Zielgruppe wurden demnach, obwohl Falkenberg zunächst eine breiter angelegte Nutzerschaft angenommen hatte (Falkenberg 1987a: 168-171), in erster Linie sachkundige Interessenten wie beispielsweise Historiker, Medienforscher oder Bildungsgruppen aus Universitäten, Schule oder Erwachsenen- und Seniorenbildung benannt (Falkenberg 1987b: 4), gleichzeitig aber auch die durch das Museum und seine Bereitstellung von Rundfunkproduktionen ermöglichte „Formierung eines gemeinsamen Geschichtsbewusstseins" (ebd.) unterstrichen. Einen weiteren Schritt machte das Konzept unter dem Titel „Sende-Sammlung" (SeSam) aus dem Jahre 1989. Der ehemalige Leiter der Abteilung Publizistik beim ZDF Peter Christian Hall stellte darin in einem beinahe scharfen Ton den „gesamtgesellschaftlich grotesken Zustand" (Hall 1989b: 6) 10 der Unzugänglichkeit der „Programmschätze" (ebd.: 5) hervor. Das Fernsehen werde damit der Flüchtigkeit seiner Ausstrahlung überantwortet. Ziel der geplanten Einrichtung sei es, Öffentlichkeit für Rundfunküberlieferungen herzustellen. Der Öffentlichkeits-Begriff wird in der Präambel dieses Papiers schon beinahe inflationär gebraucht. Somit ist auch nicht mehr das Sichern von Programmmaterial die Grundforderung des Konzeptes, sondern das Sammeln und die Zugänglichkeit. Letztere solle nicht nur mit einer Programmgalerie, sondern auch durch regelmäßige Veranstaltungen wie Retrospektiven und die Veröffentlichung von Publikationen erleichtert und angeleitet werden. Damit wurde auch die Zielgruppe immens erweitert: „Ein Museum für jedermann und für Spezialisten, für Touristen und Puristen, für Passanten und bekehrte Ignoranten, für Forscher und Fan-Clubs, für Hausmänner und Geschäftsfrauen, für gutberatene Kinder und für einsame Alte" (ebd.: 14). Auf diese beabsichtigte Wirkung ist auch die Einbeziehung populärer Programminhalte in das Mediathekkonzept zurückzuführen. Zwar stand weiterhin die wissenschaftliche Nutzung sowie die Bildungsfunktion der Einrichtung im Vordergrund, doch solle die „Deutsche Mediathek" auch dem Vergnügen dienen: „ein Schaufenster all dessen, was das Medium zu bieten hat" (AdK 1990:11). Von dem Begriff eines Schaufensters bzw. der „Schaubude" hat sich das Projekt nie wirklich lösen können.11 Einen konzeptionell weiten Sprung machten die Projektentwürfe, die unter der Leitung des späteren Gründungsbeauftragten Helmut Drück, ehemaliger und letzter Intendant des RIAS, angefertigt wurden. Zwar verwiesen sie weiterhin auf die „bedeutsame und prägende deutschsprachige Programmleistung", doch wurde sehr viel deutlicher, wie 10

Die Zuordnung Christian Halls als Autor kann nur durch ein beiliegendes Begleitschreiben Halls an Fechner erfolgen (Hall 1989a).

11

Vgl. u.a. Falkenbergs Vortrag in der „Info-Box" am Potsdamer Platz am 27. April 1998 (Falkenberg 1998); vgl. auch Kubitz 1993b.

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

die Arbeit der „Deutschen Mediathek" aussehen würde. So sollte sich die Einrichtung vor allem als „Kompetenzzentrum" anbieten, um eine „schmerzlich empfundene Lücke" zu schließen, indem sie medienanalytisches und -pädagogisches Arbeiten möglich mache (Verein 1995b: 3). Die als schmerzhaft bezeichnete Lücke werde auch für Historiker geschlossen werden, die mit dem Mediatheksfundus die Entwicklung des Informations-, Kultur- und Unterhaltungsangebotes und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft an praktischen Beispielen nachvollziehen könnten. Damit wurde erneut auf die wissenschaftlichen Nutzungsmöglichkeiten der „Deutschen Mediathek" verwiesen, ohne aber eigene Forschungsarbeiten unternehmen zu wollen. Eine weitere Neuerung in den Konzepten des Gründungsbüros war die Betonung eines zu errichtenden Netzwerks aus verschiedenen, mit der „Deutschen Mediathek" assoziierten Einrichtungen. Angesprochen waren unter anderem Landesmedienanstalten, Landesbildstellen, Sender und Rundfunkanstalten, Mediaparks und Museen mit eigenen Mediatheken. Damit griff Drück den Netzwerkgedanken auf, der schon ansatzweise in den ersten Planungen angeklungen war. So hatte Falkenberg schon in seinen „Zehn Leitlinien" auch Veranstaltungen in anderen Städten vorgesehen (Falkenberg: 1987b: 4). Auch hatte es Diskussionen über eine Regionalisierung der „Deutschen Mediathek" nach der Entscheidung des Vereins für Berlin als Standort gegeben, doch fand dieser Gedanke nie Einzug in ein Konzept. Erst bei Drück wurde diese mögliche „Arbeit im Verbund" (Verein 1995b: 2) angesprochen. Was nun mit der „Deutschen Mediathek" geplant wurde, war ein „Netz mit vielen Knotenpunkten" (Stadelmann 1995). Drück betonte, es seien zwar verschiedene Dependancen denkbar, aber es brauche eine zentrale Institution in Berlin und nicht ausschließlich über das Land verstreute Institute (Gronau 1996). Die Diskussion um das fortschrittlichste Konzept trat mit dem Vorschlag der ARD, das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA) in die zukünftige „Deutsche Mediathek" mit einzubringen und eine dezentrale Einrichtung zu schaffen, in eine kontroverse Phase. Begründet wurde dieses Alternativkonzept mit einer Äußerung Kurt Becks, der in seinem Schreiben vom Juli 1998 anregte, dass „insbesondere dezentrale, vernetzte Organisationsformen denkbar" seien (Anonym 1999b). Im Vordergrund des Konzeptes stand vor allem die Nutzerfreundlichkeit, die „nach dem Prinzip der nächsten Nähe" (ARD 1999: 26) optimiert werden könnte. Das DRA sollte nach diesem Vorschlag die inhaltliche Programmvermittlung der dezentralen „Deutschen Mediathek" im Netzwerk koordinieren. Weiterführende Veranstaltungen wie Seminare und Podiumsdiskussionen sollten überregional verwirklicht werden, wobei auch hierbei die Dienste unter anderem des DRA nahe gelegt wurden. Für die Zusammenarbeit im Netzwerk wurden bestehende Einrichtungen wie die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, das Zentrum für Kommunikation und Medien Karlsruhe, das Haus der Geschichte in Bonn, das Deutsche Filminstitut, aber auch Freizeitparks und das Projekt „Schulen ans Netz" vorgeschlagen. Ausdrücklich wurde die Beschränkung auf „nur ein Zentral-Institut" negiert (ebd.: 27). Das Konzept wurde von der Vereinsversammlung abgelehnt. Dabei hatte Leonhard schon einige Jahre zuvor eine dezentrale Nutzung angeregt (Verein 1993a; Leonhard

IV.2. Strukturelle Imperative der

Fernseherbe-Verwaltung

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1993), was auch bereits davor von Heiner Schmitt bevorzugt worden war: „Ich stelle mir das als ein Netzwerk vor, als ein Netzwerk von sehr vielen Sammlungen, die jeweils sehr speziell und z.T. wissenschaftlichen und z.T. publizistischen und auch z.T. den Interessen des Publikums dienen" (AdK 1991: 15). Auf der Vereinssitzung am 2. Mai 1994 hatte Leonhard weiterhin auf die mögliche Dezentralisierung der Arbeitsabläufe durch die Einbeziehung der DRA-Räumlichkeiten in Berlin-Adlershof „nachdrücklich aufmerksam" gemacht (Verein 1994: 3), was in den Weiterentwicklungen der Konzepte unter Drück durch die geplante Auslagerung der Mediathekarchivräume nach Adlershof aufgenommen wurde (u.a. Verein 1995a: 7). 1997 aber wurden diese Planungen wieder aufgegeben, da die technischen Fortschritte in der Speicherentwicklung einen erheblich geringeren Platz für die Lagerung von Programmmaterial in Aussicht stellten. Die Netzwerkpläne der Mediathekplaner zielten aber in eine andere Richtung, als sie Leonhard propagierte: Schon auf dem Medien-Hearing 1986 hatte Egon Monk von Abspielstätten in mehreren größeren Städten gesprochen (AdK 1986a: 103). In den späteren Konzepten des Gründungsbüros stand eine zentrale Einrichtung nie in Frage. Zwar wurde von „Knotenpunkten" gesprochen, doch war hiermit stets ein Netzwerk von assoziierten Abspielstätten gemeint, welche die Zentrale in Berlin nicht überflüssig machten. Die grundsätzliche Idee einer dezentralen Lösung war also so neu nicht. Auch hatte schon im Jahre 1991 Peter von Rüden vom NDR angesichts der möglichen Finanzierungsprobleme der „Deutschen Mediathek" auf die Möglichkeit hingewiesen, sie mit einer schon bestehenden ähnlichen Einrichtung kostengünstiger zu realisieren (AdK 1991: 18). Andererseits hatte zur gleichen Zeit der DRA-Vorstand Heckmann Gedanken geäußert, dass durch ARD und ZDF ein kleineres, eigenes Museum in einer mit der „Deutschen Mediathek" vergleichbaren Form zu Stande kommen könnte. Das zumindest sei realistischer als eine Mitträgerschaft an der „Deutschen Mediathek" (ebd.: 13). Doch schließlich haben sich die Pläne, ein dezentrales Netzwerk durch Kooperation mit bestehenden Einrichtungen zu schaffen, nicht durchgesetzt (Anonym 1999c). Trotz der Einbringung eines Konzeptpapiers mit dem Titel „Mediathek 2000" durch den Konzern Vivendi, der aufgrund eines Junktims zwischen dem Kauf der Berliner Wasserwerke und der Verpflichtung, zu einem erheblichen Teil die „Deutsche Mediathek" zu unterstützen, zur signifikanten Größe in den Planungen wurde (vgl. Kapitel IV.4.3.3.2.), trat das Projekt im Jahre 2000 konzeptionell auf der Stelle. Die Stagnation nahm Joseph Hoppe vom Deutschen Technikmuseum zum Anlass, in Rücksprache mit dem Berliner Senat und Vivendi ein eigenes Konzept zu formulieren. Hoppe gründete seine Überlegungen vornehmlich auf die seit Beginn der Mediathekplanungen stark veränderte Medienlandschaft: So sei die Zahl der Fernsehprogramme sprunghaft angestiegen. Immer mehr Sendezeit werde mit Wiederholungen gefüllt. Ein überwiegender Großteil der Fernsehhaushalte könne mittlerweile Programm selbst aufzeichnen oder von den Sendern als Video verkaufte Eigenproduktionen abspielen. Außerdem habe sich die „Aufmerksamkeitsquote" des Fernsehens stark verringert (Hoppe 2000: 21). Auch der Wandel des Leitmediums Fernsehen zu einem Begleitmedium war für Hoppe ein

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Ansatzpunkt, um die bisherigen Konzepte der „Deutschen Mediathek" zu überdenken. Sein Konzept gliederte sich in vier sogenannte Säulen: Die Programmkollektion solle eine klassische Mediathek bieten mit rein bildschirm-referenziellen Merkmalen. Nicht Drehbücher oder anderweitige Text-basierte Medien sollten ausgestellt werden (wie in einigen der früheren Konzepte als Ausstellungspart vorgesehen), vielmehr wurde eine Konzentration auf die Präsentation von Fernsehinhalten auf Bildschirmen propagiert, auch in Kombination mit anderen Medienangeboten wie Internet oder CD-Rom. Die Präsentation solle „nicht akademisch" aufbereitet sein. Als zweite Säule sah Hoppe eine sogenannte „Media Lounge" vor, in der sich die „Deutsche Mediathek" als „Initiator und Moderator der öffentlichen Auseinandersetzung über wichtige Fragen der Medienkultur" entwerfen könne. Premieren und Retrospektiven sowie Vorabpräsentationen von großen Fernsehereignissen sollten die Einrichtung zum gesellschaftlichen Anziehungspunkt machen. Die dritte Säule sollte eine Online-Präsenz darstellen, mit deren Hilfe der Nutzer im gesamten Katalog der „Deutschen Mediathek" suchen könnte. Mit der vierten Säule brachte Hoppe eine zuvor noch nicht bedachte Präsentationsform ein: Eine „multimediale Screen Show" eröffne die Möglichkeit, schnell und attraktiv aktuelle Ereignisse, Jubiläen oder zur Würdigung von Personen kleine Ausstellungen anzubieten. Dazu würden sogenannte „Screen Show Terminals" jeweils zusammengestellte Bilderreigen darbieten können. Hoppes Konzept sah als Mitträger nicht mehr ausschließlich die Sender oder Bundesländer vor, sondern auch Medien-Konzerne wie Bertelsmann und AOL. Kammann sah deutliche Parallelen zur singulären Großausstellung „Der Traum vom Sehen" aus dem Jahre 1998 im Gasometer Oberhausen (Kammann 2000b: 54; vgl. Kapitel IV.4.1.4.). Tatsächlich hat der ausdrücklich auf visuelle Stimulation sowie den seitens Vivendi beschworenen „Event-Charakter" setzende Entwurf einer „Deutschen Mediathek" Ähnlichkeiten zur als Spektakel entworfenen Fernseh-Schau im Gasometer. War dort der „TV Himmel" mit einer Fülle von gleichzeitig wiedergegebenen Programmen Anziehungspunkt der Besucher, aber auch zugleich Sinnbild der Überflutung von visuellen Reizen, setzte Hoppes Konzept auf den Bildschirm als zentralen Referenzpunkt (Kammann 2000). Als unmittelbare Reaktion auf Hoppes Vorschlag stellte der Intendant des Deutschlandradios Ernst Elitz seine Gedanken zur Notwendigkeit einer „Deutschen Mediathek" zur Diskussion (Elitz 2000). Hoppes Papier atme den Geist der Hypertrophie, kritisierte Elitz und erteilte einem multimedial-modernen Kommunikationszentrum, wie von Hoppe vorgeschlagen, eine deutliche Absage. Die Einrichtung solle sich als Nachweiszentrum für den kompletten Bestand an Radio- und Fernsehüberlieferungen verstehen. Eine Jury entscheide darüber hinaus über die qualitativ bemerkenswertesten und nach Quoten erfolgreichsten Sendungen eines Jahres, um sie abrufbar zu machen. Die Vermittlung von Medienkompetenz könne nicht in einem Seminarraum stattfinden, der „keinen Hauch von Praxis" atme, sondern nur in einem Funkhaus, in dem tatsächlich produziert werde. Die „Deutsche Mediathek" müsse sich konzentrieren auf Informationsveranstaltungen über ausländisches Rundfunkschaffen sowie die medienethische Beratung der kommer-

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IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

ziellen Rundfunkanbieter und der elektronischen Industrie. Weiterhin sei eine Bereitstellung der Räumlichkeiten für die Eigenpräsentation von Medieninstitutionen aus aller Welt sowie für Veranstaltungen von Institutionen, die selbst über keine Räumlichkeiten verfügen, sinnvoll. Das Elitz-Papier blieb indes für die weitere Mediathekentwicklung unerheblich, obwohl einige seiner Anregungen schon in vorherigen Konzepten angeklungen waren. Doch durch die Reduktion der Einrichtung auf ein größtenteils von anderen Institutionen zu nutzendes Zentrum mit der Beschränkung, in den eigenen Räumen einerseits nur eine beschränkte Bereithaltung von ausgewähltem Programmmaterial, aber andererseits auch eine komplette Datenbank zum Nachweis von Archivbeständen in ganz Deutschland vorzuweisen, war im Vergleich zu den vorangegangenen Planungen allzu gegensätzlich. Hans Helmut Prinzler, künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek, welcher die konzeptionelle Entwicklung der „Deutschen Mediathek" unter dem Dach der Stiftung weiter vorantrieb, nachdem die Realisierung einer eigenständigen Einrichtung verworfen worden war, sah zunächst das Hoppe-Konzept als geeignete Grundlage für weitere Überlegungen (Anonym 2000b). So wurde im Konzept der Kinemathek von 2001 mehr Wert als zuvor auf die visuelle Wirkung des Mediums Fernsehen gesetzt, ohne sich aber zu weit von den früheren Konzepten zu entfernen (vgl. Prinzler 2001). Ein Netzwerk wurde zwar nicht mehr intendiert, doch waren weiterhin eine Programmgalerie und Räumlichkeiten für Seminare, Tagungen, Vorführungen und ähnliche Veranstaltungen vorgesehen. Eine Neuerung stellte die Konzentration auf Ausstellungen dar. Neben einer ständigen Ausstellung zur Fernsehgeschichte sollte es diverse Sonderausstellungen sowie ein sogenanntes Technologieschaufenster mit einem Medienlabor geben. Als Zielgruppe wurde erneut die gesamte Bandbreite denkbaren Publikums fokussiert: Laien wie Experten, Neugierige wie die Sender-Partner der Einrichtung selbst. 2.2.6. Konturierung eines Dilemmas: Organisationsspezifische Annäherung

an das Gedächtnismedium

Fernsehen

Mit den scheinbar fruchtlosen, weil an der letztendlichen Realisierung des Projekts scheiternden Planungen schienen all jene Visionen, die zwischenzeitlich hoffnungsfroh formuliert wurden, zu wirklichkeitsfremden Hirngespinsten zu avancieren: Netzwerkpläne, internationale Zusammenarbeit, sogar die Schaffung eines „nationalen Archivs für Audiovision" (Schanze 1994). Schließlich wurde der Titel „Deutsche Mediathek" zum Inbegriff eines vom Pech verfolgten Medienprojekts. Vordergründig resultierte das schleppende Vorankommen der Planungen aus der finanziellen Zurückhaltung der Fernsehsender. Gezeigt wurde, dass hierbei neben Befürchtungen vor nicht kalkulierbaren langfristigen Verpflichtungen auch Argumente eine Rolle spielten, die weiterreichende Problemfelder umspannen. Die Ausflüchte und abwehrenden Argumentationen der Fernsehveranstalter in der Frage der Trägerschaft wiesen auf ein sehr viel tiefgreifenderes Problem hin: Das zeitweise fehlende bzw. eingeschränkte Geschichtsbewusstsein der meisten Programmveranstalter. Die Unterstützung der Einrichtung mit Programmmate-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

rial seitens der Sender wurde im Grunde nie in Frage gestellt. Es war die Einsicht, auch finanziell in die Pflicht genommen werden zu müssen, die fehlte. Die Frage nach den Adressaten für die geldlichen Forderungen für den auf nur für wenige Jahre gesicherten Betrieb der „Deutschen Mediathek" geriet zu einem Wechselspiel. Ob Länder oder Sender, Bund oder Sponsoren aus der Privatwirtschaft: Eine Einigung aller erschien nicht verbindlich möglich. Auch die beinahe erreichte Verständigung auf den sogenannten „Letter of Intend" hätte auch nur als Minimallösung gewertet werden können: Die geringen und teils sogar immer stärker reduzierten Zuschüsse der einzelnen Beteiligten lassen darauf schließen, dass ein Museum zur deutschen Fernsehgeschichte bei den betreffenden Financiers, das heißt maßgeblich bei den Sendern und Landesmedienanstalten, keine Priorität genoss. Stets wurde in der emotional geführten öffentlichen Diskussion in Fach- und Tagespresse darauf hingewiesen, auf welche teuren Einkäufe sich deutsche Sender - ob öffentlich-rechtlich oder privat - für ihr laufendes Programm einlassen, allen voran seien hier erneut die Rechte für Übertragungen von Fußballspielen genannt. Angesichts dieser Millionenbeträge blieb fraglich, ob die Sender mit ihrer finanziellen Zurückhaltung bei der „Deutschen Mediathek" bisher eine Chance zur Selbstdarstellung und Pflege des ureigenen Mediums verpasst hatten oder sich zu Recht auf ihr Programm konzentrieren und anderweitige Vorhaben hinten anstellten. Die Schuldfrage ist schnell gestellt bei einer Projektentwicklung, die fast zwei Jahrzehnte andauerte und nicht zum gewünschten Erfolg führte, weil Hoffnungen zerbrachen und engagierte Bemühungen oft im sprichwörtlichen Sande verliefen. Die Frage nach der Schuld für das Scheitern nimmt keinen der Beteiligten aus, auch nicht die Vereinsführung und -mitglieder, die sich zum Teil den Vorwurf politischen Ungeschicks ausgesetzt sahen. Doch lenkt die Suche nach Verantwortlichen, der Ruf nach der Verurteilung ihrer Versäumnisse, ihrer Fehltritte und ihres Unwillens ab von der Frage nach einer konstruktiven Lösung der grundsätzlichen Problematik: Wie kann ein eine Gedächtnisorganisation über die Fernsehgeschichte ihre Arbeit aufnehmen und den Ansprüchen der modernen Medienwelt genügen? Die Gründe für die Hindernisse bei der Entwicklung der „Deutschen Mediathek" waren so vielfältig wie offensichtlich philiströs. Der Schluss liegt nahe, dass es einer Person bzw. Institution bedurft hätte, die kurzerhand, pragmatisch und mit finanzieller Großzügigkeit vollendete Tatsachen schafft. Dies blieb im Falle der „Deutschen Mediathek" jedoch aus: Vielmehr wurde fast unmerklich, weil unter Ausschluss der Öffentlichkeit, die Mediatheksidee nach dem Auslaufen des Projektes im Jahre 2001, das sich durch die Auflösung des Vereins ausdrückte, in die eines Fernsehmuseums überführt und unter dem Dach der Deutschen Kinemathek weiterentwickelt, um schließlich als Partner-Abteilung des Filmmuseums der Stiftung am Potsdamer Platz in Berlin eröffnet zu werden. Gleichzeitig erfolgte eine Umbenennung des Hauses in Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen. Rückblickend lassen sich vier maßgebliche Konzeptionsalternativen in der Entwicklungsgeschichte der „Deutschen Mediathek" unterscheiden: Archiv, Mediathek, Museum und die Einrichtung eines Netzwerks. Bezog sich die Relevanz der Einrichtung zuerst

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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noch vorrangig auf die Bewahrung des Programmmaterials sowie dessen Bereitstellung für eine breite Öffentlichkeit, gründete sie sich bald maßgeblich auf eine zelebrierende, eine „kulinarische" Thematisierung des Fernsehens (vgl. Hoppe 2000: 21) als prägendes Medium des 20. Jahrhunderts. Die konzeptionelle Unsicherheit, welche Art von Gedächtnisorganisation am trefflichsten und für die Allgemeinheit am sinnvollsten sei, wurde mit der Wahl des schwierigen Hilfsbegriffs Mediathek kaschiert: Immer wieder lebte kurzzeitig eine Diskussion über den wahren Charakter der geplanten Institution auf: Der Museumsbegriff sei irreführend, da es weniger ein Museum oder ein Archiv, sondern vielmehr eine Bibliothek werden müsse, lautete eine Kritik (AdK 1986c: 1). Die spätere Einigung auf den Namen „Deutsche Mediathek" wurde aber ebenfalls kontrovers beurteilt. So wirke der Titel wie ein „filmisches Überich", bemängelte Wilhelm von Kampen von der Landesbildstelle Berlin im Jahre 1991 (AdK 1991: 18). Auch wurde darauf hingewiesen, dass der Name „Mediathek" eher an Mediotheken der öffentlichen Bibliotheken erinnere, wo man CDs ausleihen könne. Das sei aber nicht die Aufgabe der „Deutschen Mediathek" (Goergen 1993). Dennoch galt diese Bezeichnung als treffender als der Museums-Begriff. Zu sehr sei dieser noch den Museumskonzepten verhaftet, wie sie im 19. Jahrhundert formuliert und seither nicht fortgeschrieben worden seien (AdK 1991: 10). Dennoch blieb die Diskussion um den wahren Charakter der Einrichtung bestehen. Ob es nun ein Museum oder eine Bibliothek werden sollte (Hoppe 1991: 106), wieso es kein Archiv und ebenso wenig ein Museum sein sollte (Gronau 1996), und ob dies an einem antiquierten Museumsbegriff lag (vgl. Radevagen 1991): Die „Deutsche Mediathek" konnte sich nie wirklich aus diesem Wirrwarr der ihr zugeschriebenen Funktionen lösen. Schon Klaus-Peter Dencker schrieb bezüglich der Festlegung auf die Namenswahl, es solle „kein Museum, kein Archiv, keine Kinemathek usw. [sein] [...], sondern alles zusammen, also ein offenes Modell, in dem einerseits die Sicherung der Bestände betrieben und andererseits der öffentliche Zugang, die Auswertung (bis hin zu Veranstaltungen) angestrebt wird, so dass auch eine ganz neue Form eines kommunikativen Modells entstehen könnte" (Dencker 1990). Die unterschiedlichen Konzeptalternativen waren hierfür der beste Ausdruck, da sie weit über den funktionalen Kern einer Mediathek, also einer bloßen Bereitstellung von Medienüberlieferungen, weit hinaus zielten. Das Dilemma, sich organisationsspezifisch der Gedächtnismaschine Fernsehen zu nähern, sie zu bändigen und reflexiv nutzbar zu machen, gehört also zu den grundsätzlichen Problemen bei der Schaffung und der Arbeit von televisuellen Gedächtnisorganisationen. Dies zeigen auch die unterschiedlichen Herangehensweisen, die von anderen Initiativen zur Schaffung eines physischen Anlaufpunktes über das Fernsehen und seine Geschichte verfolgt wurden. Zeitweise konkurrierten die letztlich eingestellten Planungen eines „Zentrums für Rundfunkforschung", einschließlich einer Mediathek in Bonn mit dem Ansatz der „Deutschen Mediathek". Über eine noch längere Institutionalisierungsgeschichte als das Berliner Projekt verfügt die Wiesbadener Initiative zur Schaffung eines Museums für die Geschichte der Fernsehtechnik (vgl. auch Kapitel IV.4.3.3.1.). Bereits Anfang der 1980er Jahre gab es

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

in Mainz und Wiesbaden Bestrebungen, ein sogenanntes „Deutsches Fernsehmuseum" zu gründen (Löber 1987). Der „Förderverein Museum für Deutsche Fernsehgeschichte" hatte sich schon 1979 mit dem Ziel gegründet, technische und programmliche Entwicklungen des Fernsehens beispielhaft zu bewahren (Herber o.J.), hatte aber mit diesem Konzept keinen Erfolg, politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger für seine Sache zu gewinnen. Ebenfalls erfolglos verliefen die Planungen für einen senderunabhängigen Fernsehthemenpark in Hamburg unter dem Namen „TV World": Eine Arbeitsgruppe, bestehend aus der Stella AG, der Studio Hamburg GmbH und einigen weiteren Investoren wollte Ende der 1990er Jahre ein sogenanntes „Urban Entertainment Center" schaffen (Arbeitsgemeinschaft TV-World 1998). Die sich zwischen den beiden Polen des Unterhaltungs- und Bildungsmediums Fernsehen auffächernde Konzeptvielfalt deutet darauf hin, welchen Mehrwert die Annäherung kultureller Organisationen an das Leitmedium Fernsehen bei der Engagierung breiter Publikumsschichten verspricht. Umso klarer muss die organisationeile Aufstellung einer Gedächtnisinstitution erfolgen, die sich mit einzelnen Aspekten, wenn nicht sogar der gesamten Fernsehgeschichte widmet. Wie im Folgenden erörtert wird, ist die bereits am Projekt „Deutsche Mediathek" abzulesende Ausgangslage auf den politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Ebenen der Gesellschaftssystems für die Fernseherbe-Verwaltung im Allgemeinen und einzelne Gedächtnisorganisationen im Besonderen mit zahlreichen Hürden und Herausforderungen verbunden, welche die Bewahrung und Funktionalisierung von Fernsehüberlieferungen auf die Probe stellen.

2.3.

Medien- und kulturpolitische

2.3.1. Späte internationale

Rahmenbedingungen

Weichenstellung

In das Blickfeld der internationalen Kultur- und Medienpolitik rückte die Frage des Umgangs mit dem audiovisuellen Erbe im Allgemeinen und dem Rundfunk- bzw. Fernseherbe im Besonderen erstmalig mit einem Grundlagenpapier der Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur der Vereinten Nationen. Drei Jahrzehnte nach der Aufnahme des regelmäßigen Fernsehprogrammbetriebs in den meisten Regionen der Welt (und über 80 Jahre, nachdem die Bilder im Kino laufen lernten) sollten verstreichen, bis die UNESCO in einer am 27. Oktober 1980 auf ihrer Generalversammlung in Belgrad verabschiedeten Empfehlung auf den vielerorts gewachsenen Unmut vor allem in den Reihen der Wissenschaft, aber auch innerhalb der Gemeinschaft audiovisueller Medienarchive darauf reagierte, dass es in den meisten Staaten keine verlässliche politische Regelungen auf nationaler, geschweige denn internationaler Ebene für die Bewahrung und Verfügbarkeit von Bewegtbildwerken gab. Die mit globaler Reichweite abgegebene „Empfehlung zum Schutz und zur Erhaltung bewegter Bilder" folgte den drei Kernzielen der UNESCO, die sich strategisch der Förderung demokratischer Mitwirkung, der nachhaltigen Entwicklung und der kulturellen Vielfalt verschrieben hat (Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland/Deutsche UNESCO-Kommission 2007:11). Unter kul-

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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turhistorischer und erinnerungspolitischer Ägide machen sämtliche genannten Ziele die Sicherstellung der Bewahrung sowie der Zugänglichmachung des audiovisuellen Erbes erforderlich. Die UNESCO forderte die Mitgliedsstaaten unmissverständlich dazu auf, die „gesamte Öffentlichkeit auf die erzieherische, kulturelle, künstlerische, wissenschaftliche und historische Bedeutung bewegter Bilder sowie auf die für ihren Schutz und ihre Erhaltung notwendigen Maßnahmen aufmerksam zu machen" (UNESCO 1980:11) und legte die Verantwortlichkeit zielgerichtet in die Hände der staatlichen Organe, denen es zufalle, in ihren Zuständigkeitsbereichen Kreativität zu fördern und die schrankenlose Verfügbarkeit von Informationen zu ermöglichen, indem Maßnahmen ergriffen werden müssten, Werke der audiovisuellen Medienkultur zu bewahren und den Zugang zu den Bewegtbildüberlieferungen zu ebnen. Drei Jahrzehnte nach dieser als „Durchbruch" in der audiovisuellen Kulturgutverwaltung wahrgenommenen Empfehlung (vgl. CCAAA 2005: 1) muss die Situation der Bewegtbildarchivierung mit Blick auf die stark divergierenden Gesetzgebungen alleine innerhalb Europas weiterhin als unübersichtlich bezeichnet werden. Trotz erneuter Anstrengungen wie die seit 2007 jährlich wiederkehrende Feier eines Welttages des audiovisuellen Erbes, bezeichnenderweise an jenem Tag, an dem die Empfehlung zum Schutz und Erhalt von Bewegtbildern veröffentlicht worden war (27. Oktober), die Regierungen, internationale Organisationen, aber auch Unternehmen und die Zivilgesellschaft im Allgemeinen mit Nachdruck auf die exzeptionelle kulturprägende Bedeutung bewegter Bilder und ihrer Bewahrung sowie den damit zusammenhängenden Mittelbedarf aufmerksam machen sollen (vgl. u.a. Anonym 2007a; Matsuura 2007), konnte an der grundlegenden Vernachlässigung des audiovisuellen Erbes auf den kulturpolitischen Agenden kaum etwas geändert werden. Das Ziel der UNESCO-Initiative, auf nationalstaatlicher Ebene kultur- und medienpolitische Rahmenbedingungen anzuregen, die eine effektivere und transparentere Umsetzung von Initiativen zur Archivierung und Verfügbarkeit vorrangig von Filmen und Fernsehproduktionen ermöglichen sollen, wurde nur in wenigen Staaten in konkrete Gesetzesregelungen umgesetzt.12 Fachzusammenschlüsse wie die Regenschirmorganisation Co-ordinating Council of Audiovisual Archives Associations (CCAAA) bevorzugen die Aufnahme von audiovisuellen Werken in die in den meisten Staaten gesetzlich geregelte Hinterlegungspflicht für Druckpublikationen. Die gesetzliche Verankerung der pflichtgemäßen Übersendung von Duplikaten ist, verglichen mit den bibliothekarischen Plünderungen von Gastschiffen im Auftrag der Alexandriner, sicherlich eine elegantere wie ebenso effektivere Maßnahme

12

Noch steht eine Übersicht über den weltweiten Stand der Pflichthinterlegungsgesetzgebung in Bezug auf audiovisuelle, aber auch multimediale Veröffentlichungen aus. Ein Projekt des internationalen Bibliotheksverband IFLA soll mittels einer Fragebogenerhebung erstmalig Aufschluss über die unterschiedlichen Ansätze und die mit ihnen einhergehenden Vorteile und Probleme geben (vgl. Turner 2008).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

zur Sicherstellung einer breiten Erfassung des Publikationsaufkommens.13 Obwohl die UNESCO sich in ihrer Empfehlung von 1980 nicht entscheiden wollte, ob zur Erreichung der Ziele die Pflichtabgabe anderen beispielsweise in Richtung Selbstverpflichtung tendierende Regelungen vorzuziehen sei, regte auch sie im Jahr 2000 in einer aktualisierten Fassung der Richtlinien für die Pflichthinterlegungsregelung eine übergreifende Regelung unter Einbeziehung von AV-Materialien an (Lariviere 2000: 36). In einem Positionspapier aus dem Jahre 2005 ging die CCAAA noch einen Schritt weiter und forderte, die Pflichthinterlegung von AV-Material solle „als Norm" begriffen und ebenso zur Handlungsgrundlage werden wie die weithin kulturell akzeptierte Sammlung von Büchern, die von manchen Staaten bereits seit Jahrhunderten strategisch erfasst und verwaltet werden (CCAAA 2005: 5). Als zentrale Sammelstelle eines Staates nehmen Nationalbibliotheken und Nationalarchive in der Pflege des Kulturguts, das für eine Gesellschaft als besonders identitätsbildend eingestuft wird, eine gesamtkulturelle Funktion war. Sie fungieren als Hinterlegungsstätten für das kulturelle Schaffen eines Staates und beherbergen dadurch einen umfassenden Fundus an Überlieferungen. In seinem einflussreichen Aufsatz mit dem Titel „National library functions" unterschied der Bibliothekswissenschaftler K.W. Humphreys im Jahre 1966 zwischen fundamentalen, erstrebenswerten und nicht notwendigen Funktionen von Nationalbibliotheken. Die grundlegenden Funktionen teilte er in drei Kategorien auf: Bewahrung, Orientierung und Zugang. Gesammelt werden solle die vollständige nationale Literaturproduktion, verbunden mit einer Pflichthinterlegung für alle veröffentlichten Publikationen. Was im Bereich der Druckpublikationen durch die historisch gewachsenen Sammlungsaufgaben der Nationalbibliotheken als selbstverständlich gilt, lässt sich indes nicht ohne Weiteres auf andere mediale Bereiche zu übertragen. Eben jene von der CCAAA geforderte Normalität bei der Umsetzung der im UNESCO-Grundlagenpapier geforderten Maßnahmen unter staatlicher Führung hat sich jedoch vielerorts noch nicht eingestellt, auch weil sich selbst in den diesbezüglich als vorbildlich geltenden Nationen die gesetzlich verbindlichen Strukturen für die Fernseharchivierung erst spät entwickelt haben. Wurden in manchen Staaten wie in Frankreich die Fernsehveranstalter verpflichtet, Kopien ihrer Sendungen an eine staatliche Institution abzuliefern, oder etwa auch die staatlichen Einrichtungen wie in Kanada autorisiert, Rundfunkprogramme eigenständig im erforderlich erachteten Umfang mitzuschneiden, verblieb die Pflege des Fernseherbes in wiederum anderen Nationen wie in Deutschland vertrauensvoll in den Händen der Sender selbst und damit unter Ausschluss jeglicher Kontrolle durch unabhängige Stellen.

13 Interessanterweise versteht das französische INA die damalige Vorgehensweise der Bibliothek von Alexandria als Frühform der staatlich verordneten Pflichtabgabe von Publikationen: „La bibliotheque d'Alexandrie serait la premiere ä avoir instaure une forme de ,depöt legal' en confisquant tous les documents qui transitaient par le port pour les faire recopier. La bibliotheque conservait l'original du document et remettait ä son proprietaire la copie effectuee" (INA o.J.).

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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2.3.2. Das Modell des „starken Staates"

Die Implementierung eines Legal Deposit findet unter anderem durch supranationale Abkommen wie die Europäische Konvention zum Schutz des audio-visuellen Erbes mit dem Zusatzprotokoll zum Schutz der Fernsehproduktionen von 2001 (Europäisches Übereinkommen zum Schutz des audio-visuellen Erbes v. 8.11.2001, ETS Nr. 183) immer mehr Befürworter. Doch die Bewegung entwickelt sich nur schleppend: Die Europaratskonvention wurde nach über sechs Jahren gegen Ende des Jahres 2007 gerade einmal von der erforderlichen Mindestzahl von vier EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert. Bezeichnenderweise handelte es sich dabei nicht um die großen Medienrepubliken wie Großbritannien, Spanien oder Deutschland, sondern die eher marginalen Vertreter Litauen, Monaco, Slowakei und Ungarn. Dass die Konvention schließlich in Kraft treten könnte, war jedoch dem damaligen EU-Bewerber Kroatien zu verdanken. Seit Jahresbeginn 2008 hat die Konvention damit verbindlichen Charakter - jedoch nur in den Ratifikationsstaaten. Während sich eine Fernsehnation wie Deutschland erst sehr viel später im Herbst 2008 zu einer Unterzeichnung durchringen konnte, ratifizierte Kroatien die Konvention innerhalb von nicht einmal zweieinhalb Monaten nach der Unterzeichnung, zudem ohne eine feste Zusage für den EU-Beitritt erhalten zu haben. Handelt es sich bei der Ratifikation der Konvention noch keinesfalls um eine Verpflichtung zur Schaffung von Pflichtabgabesystemen, sondern allein um eine nicht weiter spezifizierte Sicherstellung von Erhaltungsmaßnahmen des audiovisuellen Erbes, haben sich vor allen Dingen die skandinavischen Länder für eine starke medien- und kulturpolitische Rolle des Staates in dieser Frage entschieden. Richard Creutz von der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt YLE aus Finnland kam nach seiner stichprobenartigen Umfrage über den Stand der staatlichen Regelungen der Bewegtbildarchivierung im internationalen Feld zu dem Schluss: „The Legal deposit system is one of the foundations for access to knowledge, there is hardly any other way to guarantee that our social, cultural and scientific heritage is preserved and will forever be accessible" (zitiert nach Mussou 2006). Als Vorbild dienten ihm unter anderem die skandinavischen Anrainerstaaten Norwegen, Schweden und Dänemark, die mit jeweils unterschiedlichen Nuancen teils schon seit Jahrzehnten die Pflichthinterlegung von Fernsehprogramm-Material bei einer staatlichen Einrichtung praktizieren. In Schweden wird bereits seit 1979 per Gesetz jegliche Fernsehsendung zentral archivisch erfasst und mit dem Anspruch der Vollständigkeit bewahrt (Schwedisches Gesetz Nr. 1978:487: Lag om pliktexemplar av skrifter och ljud- och bildupptagningar: 11§ Ljudradio- och televisionsprogram; Nr. 1993:1392: Lag om pliktexemplar av dokument: 18§ Ljudradio- och televisionsprogram). Mitte der 1980er Jahre wurde der Nationalbibliothekar Kanadas Guy Silvestre von der UNESCO mit der Aufgabe betraut, Richtlinien für die Arbeit von nationalen Sammlungsorganisationen auszuarbeiten, für die er direkt an die Überlegungen des Generaldirektors der British Library Maurice Line anschloss und die hohe Bedeutung einer umfassenden, also möglichst vollständigen Sammlung jedweder Veröffentlichung eines Landes „in all subjects, forms and languages" betonte (Sylvestre 1987: 9; vgl. auch Line 1980: 11-13).

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IV. Status Quo und Perspektiven

der

Fernseherbe-Verwaltung

Das dem schwedischen Bildungsministerium unterstehende Statens Ljud- och Bildarkiv versteht seinen Auftrag dementsprechend als Ausdruck des nationalen Interesses, in der Verantwortlichkeit für die Bewahrung der kulturellen Vielfalt des Landes möglichst jeglichen Programminhalt, der dem schwedischen Publikum zugänglich gemacht wurde, somit auch in Schweden ausgestrahlte Sendungen aus dem Ausland wie Produktionen aus den USA, zu archivieren (vgl. Valberg 2008). Doch nicht erst der erheblich zu leistende Aufwand - das schwedische Nationalarchiv muss jährlich 45.000 neue Radio- und Fernsehsendungen erfassen (vgl. Allerstrand 2004) - werden von den Zweiflern ins Feld geführt, welche die Pflichtabgaberegelung für ineffektiv und keinesfalls als Garant dafür ansehen, das Programmerbe für nachfolgende Generationen zu bewahren und zugänglich zu erhalten (vgl. Pinion 1997: 225). Finnland indes ließ sich von diesen Einwänden nicht abschrecken, was den außerordentlich positiven Erfahrungen der skandinavischen Nachbarn geschuldet sein mag, die ein stark wachsendes Interesse an den audiovisuellen Archivalien und speziell den Fernsehüberlieferungen registrieren,14 und verabschiedete am 27. Dezember 2007 ein Gesetz über die Pflichthinterlegung von Rundfunksendungen, das zum Jahresanfang 2008 in Kraft trat (Finnisches Gesetz Nr. 1433/2007: Laki kulttuuriaineistojen tallettamisesta ja säilyttämisestä. Annettu Helsingissä 28 päivänä joulukuuta 2007. 4 luku: Televisio- ja radio-ohjelmat). Als weiteres Vorbild für eine zentrale staatliche Regelung der Fernseharchivierung, das auch Einfluss auf die Planungen für die „Deutsche Mediathek" hatte, ist das französische Institut National de l'Audiovisuel (INA), das mit der Konservierung und Auswertung des audiovisuellen Archivgutes des Rundfunks betraut ist. Seit seiner Gründung im Jahre 1975 fallen dem INA vier Tätigkeitsbereiche zu: Die Sammlung, Erhaltung und Verwaltung von Archivgut, die berufliche Aus- und Fortbildung im Medienbereich (vornehmlich für Techniker, aber auch für Drehbuchautoren, Ansager und Journalisten), die Produktion von audiovisuellen Medienbeiträgen sowie Forschung und Entwicklung (Teilnahme an europäischen Projekten wie MAP-TV oder Synthetik-TV) (Favre 1999: 163). Das Institut unterliegt direkt der politischen Direktive des Staates, in erster Linie des Kommunikationsministers, doch erst durch das Pflichtstückgesetz vom 20. Juni 1992, das 1995 in Kraft trat, ist das INA dafür zuständig, pflichtgemäß von den Rundfunkanstalten abzugebende Rundfunkbeiträge zu archivieren (Französisches Gesetz Nr. 92-546: Loi du 20 juin 1992 relative au depot legal). Die hierfür eingerichtete Abteilung Inatheque de France verwahrt einen Archivbestand von über vier Millionen Stunden an audiovisuellen Medienbeiträgen.15 Das Pflichtstückgesetz schreibt vor, dass audiovisuelle und multimediale Dokumente, die sich an ein Massenpublikum richten und seit Jahresbeginn 1995 gesendet wurden, spätestens vierzehn Tage nach ihrer Ausstrahlung in Kopie an 14

15

Sven Allerstrand, Leiter des schwedischen Statens ljud- och bildarkiv, berichtete im Jahre 2004 auf einem Workshop des Baltic Audiovisual Archival Council in Riga, dass das Nationalarchiv pro Jahr etwa 6.000 Besucher verzeichne, die sich mit in ihrer Mehrheit für archivierte Fernsehsendungen interessierten (Allerstrand 2004). Stand: Dezember 2008.

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe- Verwaltung

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das Nationalinstitut abgegeben werden müssen. Ältere Fernsehprogramme wurden aus dem Archivgut der staatlichen Rundfunkanstalt Office de la Radiodiffusion Television Francaise bis 1974 und aus dem Programmvermögen der staatlichen Fernsehanstalten seit 1975 übernommen, konserviert und katalogisiert. Die Pflichtabgabe soll die lückenlose Sammlung und Erschließung des Fernsehaufkommens garantieren und die Erstellung einer audiovisuellen Nationalbibliographie ermöglichen, über die der Zugang zu den Medieninhalten auch nach ihrer Ausstrahlung ermöglicht werden kann. Dadurch nimmt das INA eine wichtige Orientierungsfunktion war, die es zu einer Clearing-Stelle bzw. zu einem Informations- und Verweiszentrum mit nationaler und internationaler Reichweite avancieren lässt. Generell gilt: Wer der Pflichtabgabe nicht nachkommt, wird mit einer Geldstrafe von 75.000 Euro bestraft (Französische Verordnung Nr. 2004-178: Ordonnance du 20 fevrier 2004 relative ä la partie legislative du code du patrimoine, L. 133-1). Durch die umfassende Deponierung von Rundfunkproduktionen wächst der Archivumfang des INA seit Jahren immens. Grund hierfür ist vor allem die stark angestiegene Zahl der Sender, welche die Pflichtabgabe betrifft: Zu den terrestrisch ausgestrahlten Programmen kamen im Jahre 2002 noch 23 weitere Kabel- und Satellitensender hinzu. So betrug das Wachstum des Archivs in jenem Jahr allein 166.000 Stunden an Fernsehprogramm (vgl. Saintville 2004: 76). Mittlerweile werden über 797.000 Fernsehstunden pro Jahr archiviert.16 Mit der Einführung des digitalen Antennenfernsehens in Frankreich am 31. März 2005 stieg das Programmaufkommen noch weiter an, was das jährliche zu prozessierende Archivierungsvolumen weiter erhöht hat. Die französische Lösung stellt eine Besonderheit dar, weil die Befugnisse des INA durch die Verabschiedung eines Gesetzes zur audiovisuellen Kommunikation im August 2000 weiter spezifiziert wurde und nun auch insbesondere die automatische Übertragung von Nutzungsrechten an das Institut nach einer bestimmten Frist umfasst, womit der Einrichtung die Möglichkeit einer zusätzlichen Einkommensquelle durch die Vermarktung der archivierten Inhalte offensteht (vgl. ebd.: 74). Die Hauptziele des INA sind dabei auf das Allgemeinwohl gerichtet und befassen sich vorrangig mit der Konservierung und der Zugänglichmachung der Mediensammlungen. Die möglichst vollständige Erschließung des audiovisuellen Erbes und seine breite Verfügbarkeit für wissenschaftliche, kulturelle und Unterrichtszwecke werden durch die gesetzlichen Bestimmungen erleichtert. Finanziert wird das INA etwa zu zwei Dritteln aus der französischen Rundfunkgebühr und zu etwa einem Drittel aus kommerziellen Eigeneinnahmen (ebd.: 75), wobei allein der Rundfunkgebührenanteil für 2008 bei 83,3 Mio. und im Folgejahr bei 86,2 Mio. Euro lag (Senat 2008).

16

Laut schriftlicher Auskunft von Denis Marechal, Projektleiter beim INA, an den Autor vom 6. Februar 2009.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

2.3.3. Das Modell des „schwachen

Staates"

Die vorangegangenen Beispiele lassen erahnen, welch erheblicher administrativer und finanzieller Aufwand von staatlicher Seite geleistet werden muss, wenn regierungsseitig eine zentral regulierte und auch praktisch umgesetzte Archivierung von Fernsehüberlieferungen favorisiert wird. Einen anderen Weg haben Staaten wie die USA, Kanada und Deutschland beschritten, wo sich die Politik auf Landes- und Bundesebene größtenteils oder sogar gänzlich in Zurückhaltung übt, jedoch in unterschiedlich nuancierten Abstufungen. Während in den USA und Kanada in begrenztem Maße medien- und kulturpolitische Rahmenbedingungen für die senderunabhängige staatliche und nicht-staatliche Erfassung und Bewahrung von Fernsehprogramm-Material geschaffen wurden, fehlen solche Regelungen in Deutschland vollständig. Wie leicht nachzuvollziehen ist, kann eine Pflichthinterlegung auch mit erheblichen Kosten auf Seiten der Sender verbunden sein, wenn eine Einsendung von Kopien einer jeden Sendung verlangt wird. In den USA entschied sich der Gesetzgeber daher für eine freiwillige Lösung: Wenn ein Sender oder Produzent eine kommerzielle Verwertung seiner Produktion plant und seine Rechte auf Basis dieser wirtschaftlichen Interessen effektiv geschützt sehen möchte, verhilft ihm die Hinterlegung der betreffenden Sendung beim Copyright-Büro der Library of Congress dazu, indem das Werk zentral erfasst und dauerhaften nachgewiesen wird. Die gesetzliche Grundlage bildet das sogenannte Mandatory Deposit (US-amerikanisches Gesetz Nr. 17 U.S.C.: United States Code - Title 17, Section 407), das die staatliche Archivierung von urheberrechtlich geschützten Werken, einschließlich Fernsehproduktionen, regelt. Der Urheberrechtsinhaber oder Inhaber der exklusiven Verwertungsrechte ist gesetzlich dazu verpflichtet, innerhalb von drei Monaten nach der Veröffentlichung zwei Exemplare der Publikation beim Copyright Office zu hinterlegen, sollte eine kommerzielle Auswertung geplant sein, um den entsprechenden Rechtsschutz zu genießen. Auch fremdländische Publikationen, die in den USA vertrieben werden bzw. für eine kommerzielle Verwertung in Frage kommen, müssen bei der Library of Congress hinterlegt werden, um den Vorteil des gesetzlich verankerten Schutzes vor missbräuchlicher Verwendung zu erhalten. Das Copyright Office ist bereits seit 1870 bei der als Nationalbibliothek fungierenden Library of Congress, einer Einrichtung des US-amerikanischen Parlaments, angesiedelt. Die Bibliothek sammelt zwar seit 1949 auch Fernsehproduktionen, doch durch die passive Akquisitionshaltung der Copyright-Regelung war sie jahrzehntelang angewiesen auf die freiwillige Übersendung von Material durch die Produzenten und Sendeunternehmen: „Because the Library depended heavily on copyright deposits - through voluntary registration - for its television acquisitions, the result of this legal morass was that the collection grew unevenly" (Rouse/Loughney 1989, xiii). Hinzu kam eine weitgehende Unterschätzung des Mediums als historische Quelle durch die verantwortlichen Auswahlgremien, was zu einem eklatanten Desinteresse selbst an der geringen Zahl eingesandter Programmmaterialien führte und häufig deren Aussortierung zur Folge hatte (ebd.). Erst 1976 wurde mit dem Television and Radio Act ein Gesetz erlassen, das der kulturellen

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe- Verwaltung

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Signifikanz des Rundfunks Rechnung tragen und den Sammlungsleitern der Library of Congress ermöglichen sollte, aktiv Sendungen abzufragen bzw. selbst aufzuzeichnen. Dem Anspruch der Vollständigkeit werden weder die nationalen Sammelstellen in den USA noch in Kanada gerecht, wurde dieserorts doch darauf verzichtet, entsprechende Richtlinien zu erlassen. In Kanada sind zwar publizierende Stellen dazu verpflichtet, zwei Pflichtexemplare eines Werkes innerhalb einer Woche bei der nationalen Einrichtung Library and Archives Canada zu hinterlegen (Library and Archives of Canada Act), dies betrifft aber nicht den Rundfunk. Fernsehprogramme werden nicht mit dem Instrument der Pflichtabgabe, sondern aktiv und stark selektiv durch die zuständigen Gremien der Nationaleinrichtung Library and Archives of Canada gesammelt. Wird staatlich betriebenen Stellen in Nordamerika noch eine Teilkompetenz bei der Bewahrung des audiovisuellen Erbes eingeräumt, wird der Rundfunkbereich in Deutschland von der staatlich organisierten Sammlung von Kulturgut vollständig ausgeblendet. Das Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek erfasst alleinig Medienwerke in Schrift, Bild und Ton, die auf Papier, elektronischen Datenträgern und anderen Trägern verbreitet werden sowie solche, die in öffentlichen Netzen dargestellt werden; ausdrücklich ausgeschlossen sind hierbei jedoch unter anderem genuine Rundfunkwerke sowie solche Netzpublikationen, die aus Fernsehproduktionen abgeleitet werden (Merkel 2008: 2015; Köhler/Merkel 2006: 1338). Ähnlich verhält es sich mit den Landesgesetzen: 14 der insgesamt 16 Bundesländer schließen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vom Geltungsbereich der staatlichen Archivzuständigkeit aus.17 In den Archivgesetzen Hamburgs und Berlins findet der Rundfunk sogar keinerlei Erwähnung. Zwar weist der britische Bibliothekar Maurice Line darauf hin, dass es nicht in jedem Fall eine zentrale Instanz braucht, um Kulturgut sorgsam zu erhalten: ,,[I]t is not wise to assume that every country should have a national library. Some countries have highly successful ones, but this in itself is not a reason why other countries should copy them, any more than the fact that, say, a good totally centralized car manufacturing industry in one country makes it desirable for all other countries to have the same" (Line 1989: 306). Gleichzeitig weist er indes auf die Gefahr hin, dass Gesellschaften, die darauf verzichten, einen wesentlichen Teil des Kulturerbes nicht von einer explizit nationalen Anlaufstelle pflegen zu lassen, darunter leiden könnten, dass ihnen die Basis für die Ausbildung und Instandhaltung ihrer kulturellen Identität fehle. Kulturpolitisches Gewicht, so ließe sich daher folgern, erhält ein kultureller Dokumentations- und Schaffensbereich erst durch die verlässliche, gesetzliche Verankerung der Zuständigkeiten seiner Bewahrung, die ein klares, auch medienpolitisches Signal an die allgemeine und professionelle Öffentlichkeit, also an die Mediennutzer wie auch an die Medienverantwortlichen sendet, das die breite Verfügbarkeit des Überlieferungsbestandes verdeutlicht.

17

Stand: Dezember 2008.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

So mag die Umbenennung der Deutschen Bibliothek in Deutsche Nationalbibliothek als bloßer Behelf erscheinen, um solcher Besorgnis selbstbewusst entgegenzutreten. Dabei fehlt der Deutschen Nationalbibliothek nicht erst durch den Ausschluss von Rundfunkproduktionen ein vergleichbar historisch tiefer Sammlungsbestand im Vergleich zu ihren Äquivalenten in Großbritannien, Frankreich oder anderen Ländern, deren Sammlungen über Jahrhunderte gewachsen sind. Ihre Sammelpraxis orientiert sich an den drei Standorten Leipzig, Frankfurt am Main und Berlin, wo das Musikarchiv ansässig ist, prospektiv und nicht retrospektiv. Einen umso höheren Wert haben daher die Programm- und Schriftgut-Bestände der deutschen Senderarchive, Unternehmensarchive, Mediensammlungen an Universitäten und Privatsammlungen, welchen durch das Ausbleiben einer staatlichen Rundfunkarchivierung (zentral oder föderal) zwangsläufig eine endarchivische Kompetenz bei der Verwaltung des kulturellen Erbes und Schaffens zugefallen ist. So sind Kooperationen zwischen den versprengten Sammlungsorten Garant und Bedingung zugleich für eine dauerhafte Verfügbarkeit kultureller Produktionen. Die eigenverantwortliche Handhabung der audiovisuellen Kulturgutsicherung in Deutschland bot bereits häufiger Anlass für Kritik seitens der Wissenschaftsgemeinde, Künstlervereinigungen und Journalisten, wofür die Auftaktdebatte beim Medien-Hearing der Akademie der Künste in Berlin im Jahre 1986 und ihre Funktion als Initialzündung für die Entwicklung der „Deutschen Mediathek" ein eindrucksvoller Beleg war. Die Kritik an der Zurückhaltung landes- und bundespolitischer Stellen macht sich hauptsächlich an den fehlenden Sanktionierungsinstrumenten und die absolute Hilflosigkeit von Staat und Gesellschaft bei institutionellen Verstößen gegen das Gebot der Kulturgutsicherung fest. Auch in anderen Bereichen wie der Filmkultur sprechen sich ranghohe Vertreter seit langem für eine gesetzliche Regelung der Archivierung aus, um eine bisher ausgebliebene Systematik und Zuverlässigkeit herzustellen. Eine umfassende Hinterlegungspflicht gibt es auch hier nicht, sondern ausschließlich für solche Filme, die mit öffentlichen Fördergeldern (teil-) finanziert wurden, was einen substanziellen Teil des Produktionsspektrums ausspart. Ein Pilotprojekt zur freiwilligen Film-Hinterlegung durch die Produzenten erbrachte in den Jahren 1998 und 1999 eine auffallig geringe Erfolgsquote von nur 17 Prozent bei Dokumentär- und zehn Prozent bei Spielfilmen. Der Kinematheksverbund sieht allein mittels einer allgemeinverbindlichen Gesetzeslösung eine angemessene Bewahrung als gesichert an (vgl. Kinematheksverbund 2005: 39). Die Europäische Konvention zum Schutz des audio-visuellen Erbes und das Zusatzprotokoll zum Schutz von Fernsehproduktionen sieht vor, dass die ratifizierenden Staaten gesetzliche Maßnahmen ergreifen, ihr nationales Film- und Fernseherbe auf Dauer zu bewahren und für die interessierte Öffentlichkeit sowie speziell für Bildungszwecke zugänglich zu machen. Eine Doppelung von bereits bestehenden Vorkehrungen zur Archivierung ist nicht vorgesehen: Der Vertrag lässt die Möglichkeiten einer zentralen oder dezentralen, auch eigenverantwortlichen Regelung gelten. Doch haben sich die deutschen Film- und Fernsehproduzenten, die Filmförderungsanstalt sowie ARD und ZDF schon frühzeitig gegen zusätzliche Archivierungsverpflichtungen über die bereits beste-

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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henden Vorkehrungen hinaus gewandt.18 Durch die endarchivische Funktion der Archive der Rundfunkanstalten ist die Zuständigkeit im Bereich der Fernsehprogramm-Überlieferung zwar eindeutiger zuzuordnen, doch auch hier fehlen sowohl eine einheitliche Systematik und Kontrolle als auch eine rechtliche Manifestierung des endarchivischen Kompetenzanspruchs, der sich fast ausschließlich auf das subjektive Selbstverständnis der Archivabteilungen der Sender gründet (vgl. Hempel 1997: 73). Nach Auffassung der Medienreferate beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) sowie der Rundfunkkommission der Länder soll sich an dieser als vage zu bezeichnenden Funktionszuweisung auch in Zukunft nichts ändern.19 Zwar lautet der Auftrag des Bundesbeauftragten, „die rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Entfaltung von Kunst und Kultur zu verbessern und weiterzuentwickeln" (BKM 2008), doch die Medienpolitik ist davon in wesentlichen Bereichen ausgenommen; der BKM hat seinen medienpolitischen Schwerpunkt stark auf die Belange der Filmwirtschaft, einschließlich des kulturellen Filmerbes, gelegt, schließt das weite Feld des Rundfunkerbes aber vollständig davon aus. Die von ARD und ZDF sowie dem Verein Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT) als Vertreter der kommerziellen Sendeunternehmen bereits im Jahr 2004 beim Vorsitzenden der Rundfunkkommission der Länder eingereichten Selbstverpflichtungserklärungen20 (vgl. auch Keilacker 2004) soll nach Auskunft des mit dem Fall zuständigen Ministerialrats Harald Hammann in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, wo die Rundfunkkommission seit 1994 angegliedert ist, erst offiziell abgegeben werden, wenn die Europäische Konvention zum Schutz des audio-visuellen Erbes inklusive des Zusatzprotokolls ratifiziert worden ist. Mit dieser haben sich die Bundesregierung und die Regierungen der Bundesländer jedoch unverhältnismäßig lange Zeit gelassen (vgl. Hans-Bredow-Institut 2008: 306). Laut Hammann haben die Verzögerungen bei der Unterzeichnung und Ratifizierung des Abkommens verwaltungstechnische Gründe gehabt: „Das Thema ist für die Politik nicht sonderlich spannend und wird deshalb nicht prioritär betrieben. Eine Lobbyarbeit gegen die Konvention oder deren Zeichnung hat nicht stattgefunden."21 Weder Bund noch Länder sehen sich auf absehbare Zeit in der Lage, sich auf eine gesetzliche Regelung einer solchen Selbstverpflichtung zu verständigen.

18

Vgl. Stellungnahmen unter http://ec.europa.eu/avpolicy/reg/cinema/index_en.htm.

19

Auf Anfrage des Autors äußerten sich dahingehend der Ministerialrat Bernhard Möwes, die Medienreferentin Katharina Cramer-Hadjidimos (beide BKM) und Ministerialrat Harald Hammann (Staatskanzlei Rheinland-Pfalz).

20

In der freiwilligen Selbsterklärung, die dem Autor vorliegt und welche von den in der ARD zusammengeschlossenen Landesrundfunkanstalten, von der Deutschen Welle und vom ZDF zur Umsetzung des Zusatzprotokolls „Schutz von Fernsehproduktionen" zur Europäischen Konvention über den Schutz des audio-visuellen Erbes abgegeben wurde, heißt es: „Die Archivierungspraxis von ARD und ZDF richtet sich primär auf die Wiederverwendung und Weiterverwertung der Bestände. Gleichzeitig dient sie der Langzeitsicherung der Fernsehüberlieferung als Kulturgut nach Bewertung der Archivwürdigkeit."

21

Auskunft Harald Hammans auf Anfrage des Autors vom 16. Dezember 2008.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Als Hindernis wird maßgeblich der Artikel 5 des Grundgesetzes bewertet, der eine Einmischung des Staates in Rundfunkangelegenheiten, also unter anderem auch in die Entscheidungsfindung, was zu archivieren sei, verbietet.22 Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass „das Grundgesetz keinerlei Aussagen darüber macht, wie die Rundfunklandschaft konkret zu organisieren sei, sondern die Gestaltung dem Gesetzgeber überlässt. Solange Hörfunk und Fernsehen dem Zugriff des Staates entzogen sind und eine möglichst große Meinungsvielfalt garantiert ist, sind viele denkbare Modelle zulässig und praktisch möglich" (Karstens/Schütte 2005:28). Insbesondere im Hinblick auf die öffentlichen Ordnungsstrukturen für den retrospektiven Umgang mit dem Produktionsaufkommen des Fernsehens lässt das Grundgesetz dem Gesetzgeber also allerhand Freiheiten, um die Bestandssicherung des audiovisuellen Kulturguts sicherzustellen, solange die Fernsehveranstalter in ihrem Handeln unabhängig von staatlichen Einflüssen bleiben. Obgleich verfassungsrechtlich nichts dagegen spricht, senderexterne Sammlungen von Fernsehüberlieferungen anzulegen, aufzuarbeiten und nach eigenen gesetzlich festgelegten Kriterien zugänglich zu machen, werden diese Freiheiten von den betreffenden behördlichen Stellen bis heute vehement ignoriert. 2.3.4. Implikationen der Modelle des „schwachen" und „starken" Staates für die Verwaltung des Fernseherbes

Sind prononcierte Maßnahmen des Staates bei der Verwaltung des audiovisuellen Erbes Ausdruck einer entsprechenden Würdigung des kultur- und medienpolitischen Stellenwerts von Fernsehüberlieferungen, die sich in einer aktiven Teilhabe staatlicher Organe bei der Verwaltung des sowie der Übernahme von Verantwortung für das Fernseherbe ausdrückt, kann deren Ausbleiben als Zeichen einer politischen Unterbewertung bzw. auch Unterschätzung gewertet werden. Gleichwohl mag die staatliche Zurückhaltung bei der Implementierung von institutionell-konkreten oder auch nur gesetzlich-rahmenden Reglements auch als Anerkennung und Einhaltung der Rundfunkfreiheit gewertet werden; schließlich besteht im Falle einer staatlichen Lösung grundsätzlich die Gefahr einer staatlichen Vereinnahmung des Fernseherbes zu politischen Zwecken und damit eines Missbrauchs des erinnerungskulturellen Fundus. So kann selbst bei selbständig agierenden Institutionen, die jedoch in staatliche Ordnungshierarchien eingeflochten sind, unter anderem durch personelle oder auch finanzielle Einflussnahme Druck auf die Arbeit der betreffenden Einrichtung ausgeübt werden. Durch die in variierenden Ausmaßen festzustellende kulturpolitische Ignoranz und medienpolitische Gleichgültigkeit gegenüber dem Fernseherbe in den USA, Kanada und Deutschland werden die Geschicke der Fernseharchivierung größtenteils oder wie im Falle der deutschen Verhältnisse gänzlich den Entscheidungsgewalten der Fernsehveranstalter überlassen. Eine gutwillige Selbstverpflichtung wie im Falle der deutschen Sender 22

Im Gesetzestext heißt es: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt" (Art. 5 Abs. 1 GG).

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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zur Bewahrung ihrer Programminhalte im Einklang mit dem Zusatzprotokoll der Europäischen Konvention zum Schutz des audio-visuellen Erbes rückt die Verbindlichkeit einer solchen Erklärung gegenüber den politischen Regulierungsgremien in den Mittelpunkt: Ein selbst auferlegter Code of Conduct, also ein Verhaltenskodex zum verlässlichen Betrieb eines Archivs, ist nur dann sinnvoll, so lange sichergestellt werden kann, dass er nicht kurzfristigen Unwägbarkeiten zum Opfer fällt und beispielsweise durch wirtschaftliche Erwägungen unwirksam wird, wie Sam Kula befürchtet: „The problem is that there is no guarantee that they do it well. There is no government inspector who comes along at the end of the year and proofs what was aired and preserved. What also happens in the broadcasting industry which is why the most people think that television archives are not good archives in the long run, is that even though they have policies in place that you can't go into a master tape and cut a piece out because you want to use it for a new broadcast, if an emergency occurs that is exactly what does happen. Or they use a master and put it back on the equipment that can damage the master rather than make a careful copy, but they don't have the time to do that. If there is time pressure, they take what they get. In other words: There are demands of the broadcasting that make them suspect as long-time archivists" (Sam Kula). Ohne einen gesetzlich geregelten Auftrag und der damit verbundenen Verpflichtung zur eigenverantwortlichen Archivierung gibt es weder effektive Ansatzpunkte für eine Sanktionierung bei Verstößen gegen den Kodex, noch eine rechtliche Absicherung für denselben (vgl. auch Hempel 1997: 75). Umso problematischer ist die politische Aussparung dieses kultur- und medienpolitisch signifikanten Verwaltungsbereichs, da von diesem auch fundamentale Belange der kulturellen Identität und Entwicklung berührt sind und ein Verhaltenskodex dadurch auch immer eine ethische Qualität in sich trägt: „Ich halte eine gesetzliche Regelung für sehr wichtig. Es ist klar, dass die Archive in den Rundfunkanstalten ökonomischen Bedingungen unterliegen, die auch dazu führen können, dass der hohe historische Wert, also all die Dinge relativiert werden und plötzlich nur noch nach ökonomischen Gesichtspunkten gehandelt wird. Dieser Gefahr kann man natürlich begegnen, wenn man so etwas wie diese Selbstverpflichtung hat oder noch besser, wenn man eine gesetzliche Regelung hat. Aber die gesetzliche Regelung kann sich nicht darin erschöpfen, dass man in irgendeiner Form versucht, die Pflichtexemplarabgabe zu umschiffen. Das kann eigentlich nicht der Fokus sein, sondern solch eine gesetzliche Regelung muss ausdrücklich rekurrieren auf den historischen Wert. Also nicht auf den wirtschaftlichen, sondern auf den historischen Wert und muss versehen sein mit der ausdrücklichen Kompetenz von professionellen Archivaren, den historischen Wert eines Stückes feststellen zu können" (Michael Harms, SWR). Eine gesetzliche Pflichtabgabe von Fernsehproduktionen wird zwar von der Mehrheit der befragten Sendervertreter abgelehnt, von der Wissenschaft jedoch umso deutlicher eingefordert. Es sei höchste Zeit, eine Regelung zur Pflichtabgabe durchzusetzen, meint

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

unter anderem Wolfang Ernst (HUB). Die Politik und namentlich der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien dürfe die Zeichen der Zeit nicht länger ignorieren: „Nun haben wir jemanden für Kultur und Medien und für die Archive eine Bundesbehörde. Die sollte es sich zur Aufgabe machen, diese komplizierte Länderverhältnisse und diese Rechte zu koordinieren. Im Kulturbereich machen sie es ja auch." In der Debatte um die Bewahrung und Zugänglichmachung von Fernsehprogramm-Material wird gern das Vorbild des Mediums Buch bemüht, für das bekanntlich ein funktionierendes Bibliotheks- und Fernleihsystem eingerichtet werden konnte. Dennoch sei ein solcher Vergleich irreführend, meint Mardiros Tavit (ProSiebenSat. 1), da jene Strukturen über Jahrhunderte haben wachsen können: „In 600 Jahren sieht es vielleicht auch für die Zugänglichkeit des Fernsehens besser aus", so Tavit. So wünschenswert eine vollständige Erfassung von Fernsehprogramm-Material in erster Linie vonseiten wissenschaftlicher und journalistischer Nutzer angesehen wird, zweifelt das Gros der befragten Experten an ihrer Durchsetzbarkeit: ,,[T]o say that everyone who makes a TV show has to submit a copy to an x-number of approved independent archives, I can't imagine that that happens. As much as I would love to see that happen as a scholar I think that isn't possible. [...] Which institution is going to manage that? If every single thing would getting to be submitted to the MT&R, every episode of every show, every single program! Not imaginable. We have such a unbelievable amount of daily program with all the cable channels and networks and local television" (Robert Thompson, SU). Da Fernsehveranstalter zuallererst ihrem Sendeauftrag verpflichtet sind, stehen auch ihre Archive unter dem Produktionsdiktum: Als Präsenzarchive tragen sie teils in erheblichem Maße zum Programmaufkommen bei und erfüllen in erster Linie ihre Funktion zur Belieferung der Programmdirektionen.23 Dieses prospektiv ausgerichtete und geschäftlich orientierte Archiwerständnis findet beispielhaften Ausdruck innerhalb der privatwirtschaftlich geprägten Fernsehindustrie Nordamerikas, wo selbst die große öffentliche Rundfunkanstalt CBC in Kanada seit jeher mit dem kommerziellen Programmangebot aus den USA am Markt zu konkurrieren hat. Ist eine solche Ausrichtung der Archivstruktur an den Unternehmensanforderungen weder unverständlich noch ver23 Die Konzentration auf die Bestückung des Programmbetriebs wurde unter anderem im Jahre 1995 in einer Stellungnahme von ARD und ZDF zur Ausarbeitung der späteren Konvention des Europarats zum Schutz des audio-visuellen Erbes an das Bundesinnenministerium nachdrücklich unterstrichen: „Da die Rundfunkarchive Präsenzarchive für die Zwecke der sie unterhaltenden Rundfunkanstalten sind, können sie eine umfassende Zurverfügungstellung ihres Materials zu allgemeinen .kulturellen Zwecken' nicht sicherstellen. Ganz ungeachtet der Frage, ob die Wahrnehmung eines solchermaßen erweiterten Auftrags schon wegen des nötigen Zusatzrechteerwerbs sowie des gesteigerten Personalbedarfs nicht finanzierbar wäre, dürfte eine solche Verpflichtung auch rundfunkrechtlich im Widerspruch zu Art. 5 Abs. 1, Satz 2 GG stehen. Von daher muss also sichergestellt werden - und dies sollte auch im Text zum Ausdruck kommen - dass die Befreiung von der Hinterlegungspflicht nicht an die Öffnung des Archivbestandes zu kulturellen Zwecken gebunden wird" (Eberle/Pieper 1995).

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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werflich, stellt sich dennoch die Frage, ob zur Erfüllung des Bedarfs an Erhaltung und Zugang des Programmvermögens nicht zusätzliche Anstrengungen erforderlich sind, u m das Fernseherbe für kulturelle Zwecke abseits des Sendebetriebs verfügbar zu halten. In den hier als „stark" titulierten Staaten wird seit geraumer Zeit ein beachtlicher politisch protegierter Aufwand geleistet, in gemeinnützigen Einrichtungen eben diese basalen kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen und eine Sicherung des audiovisuellen Kulturerbes unabhängig von wirtschaftlichen Zwängen zu gewährleisten. Selbst in den USA, wo sich die Free Marketplace-Ideologie durchgesetzt hat und eine klare Distanzierung staatlicher Organe vom Rundfunkgeschehen zur Folge hatte, wurden öffentliche Einrichtungen per Gesetz dazu befähigt, als eigenständige Sammelstellen für Programmmaterial zu fungieren und die Verwaltung des Fernseherbes auf ein breiteres Fundament zum Wohle der Allgemeinheit zu stellen. Gleichgültig ob der Staat als starker kultureller Akteur auftritt und seine Funktion als aktiver Schützer des Fernseherbes begreift, oder ob er sich zugunsten einer größtmöglichen Freiheit des Fernsehbetriebs auf eine schwache Position der Nicht-Einmischung zurückzieht: Der Staat ist generell gehalten, seiner Verantwortung bei der Implementierung und Aufrechterhaltung von Rahmenbedingungen der Kulturguterhaltung nachzukommen, ohne verfassungsrechtlich garantierte Freiheiten zu verletzen. Eine Gesetzesinitiative zur Regelung der endarchivischen Kompetenz der Sender würde also weniger darauf abzielen, inhaltliche Vorschriften zu Art und Umfang von Archivierungsanstrengungen in den Sendeunternehmen zu formulieren, sondern vielmehr auf die Erstellung eines angemessenen Rechts- und Finanzrahmens, Letzterer z.B. über die KEF, welche exklusiv für die Pflege des Archivmaterials sowie für dessen Zugänglichkeit abgestimmt werden könnten. Auch in den Kreisen der Rundfunkarchivare selbst wünscht man sich eine verbindliche Regelung: „Wenn die Politik es wirklich ernst meint mit der Sicherung des audiovisuellen kulturellen Erbes [...], muss sie einmal die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gesetzlich verpflichten, ihre endarchivische Kompetenz wahrzunehmen und ihre Archive Wissenschaft und Kultur zugänglich zu machen - aber sie muss dann auch bereit sein, den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten für diese nicht rundfunk-, sondern gesellschaftsbezogene Aufgabe ausreichend Finanzmittel zuzugestehen und die möglicherweise gesondert den Gebühren auszuweisen, so wie das ja auch möglich war bei der Finanzierung des europäischen Kulturkanals ARTE und bei der Finanzierung der Landesmedienanstalten" (Hempel 1997: 79). Zahlreiche Lösungen sind denkbar: Privatsender ließen sich über die Kopplung an eine Gewährung bzw. Verlängerung von Sendelizenzen verpflichten, der Erhaltung ihres Programmaufkommens in Form ihres Grundauftrags nachzukommen. Auch könnten die Regulierungsbehörden wie die FCC in den USA oder die Landesmedienanstalten in Deutschland damit beauftragt werden, zusätzlich zu ihrer Koordinierungs- und Kontrollfunktion explizit die Einhaltung von Archivierungsstandards zu überprüfen. Als fruchtbar haben sich auch staatliche Maßnahmen erwiesen, die wie in Japan darauf

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

abzielen, die Rundfunkveranstalter zur Entwicklung eines selbstständigen Modells der archivischen Zusammenarbeit zu ermutigen. Dort wurde bereits im Jahr 1968 von der öffentlichen Rundfunkgesellschaft NHK und den übrigen privaten Sendern gemeinsam die Broadcasting Library (Broadcast Programming Center) in Yokohama gegründet, die von der Regierung per Gesetz die erforderliche Legitimität für die Sammlung, Speicherung und Präsentation des nationalen Rundfunkerbes erhielt (Japanisches Gesetz Nr. 132: Broadcast Law of May 2: 1950. As amended by Law No. 107 of November 2: 2005: Article 53,2,53-3). Die Motivierung gesellschaftlicher Akteure, wenn nicht politisch-zentralisierte, dann doch alternative Lösungen für den Umgang mit überliefertem Kulturgut zu finden, ist also durchaus angewiesen auf staatliche Unterstützung, sei es politisch-bejahend oder mittels konkreter finanzieller oder rechtlicher Vorkehrungen. Wie das Scheitern der „Deutschen Mediathek" gezeigt hat, blieb in Deutschland ein solcher breiter Zusammenschluss von Fernsehveranstaltern unter dem schützenden Schirm der Politik aus. Noch im Jahre 2004 hat der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung formuliert, die Politik sei in der Pflicht, einen breiten gesellschaftlichen Zugang zum Wissen zu ermöglichen. Deutschland sei ein Land, „das modern ist, weil es alle Quellen des Wissens erschließt und sie, in einer offenen Gesellschaft, allen zugänglich macht." (Schröder 2004). Auf das im Fernseherbe schlummernde Wissen trifft dies nur sehr eingeschränkt zu. Wie im folgenden Kapitel überblicksartig gezeigt wird, hat es im Gegensatz dazu in Nordamerika zahlreiche kulturell bedeutsame Initiativen zur Bewahrung und Zugänglichmachung des audiovisuellen Erbes sowie seiner Kontextmaterialien gegeben. Doch wie in Kapitel 2.5 und 2.6 dargelegt wird, ist die Situation der Fernseherbe-Verwaltung selbst dort trotz der Propagierung eines breiten gesellschaftlichen Zugangs zu Informationen24 durch das Fehlen geregelter öffentlicher Ordnungsstrukturen fern jeglichen Ideals (vgl. auch Bensman 1992, xviii) und steht vor kaum lösbar erscheinenden rechtlichen und finanziellen Problemen, die unablässig an Schwere zunehmen.

24

So forderte US-Präsident Bill Clinton in seiner ersten Rede zur Lage der Nation im Jahr 1994 einen „information superhighway", um fur alle gesellschaftlichen Schichten einen instantanen Zugang zu Informationen zu ermöglichen (vgl. Safier 2000).

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IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

Kultur- und medienpolitisches Modell Länderbeispiele -

Indikatoren -

„Starker Staat"

„Schwacher Staat"

Frankreich, Schweden

Deutschland, Kanada, USA

Archivgesetzgebung unter Berücksichtigung von Fernsehprogramm-Material Betrauung von staatlichen Einrichtungen mit Archivverantwortung Senderunabhängige Verwaltung des Fernseherbes

-

-

-

-

Vorteile

-

Nachteile

-

Sicherung des audiovisuellen Kulturerbes durch staatliche Finanz- und Rechtsmittel Schutz vor konjunkturellen Einflüssen Archivoperationen zu ausschließlich kulturellen Zwecken Hoher administrativer Aufwand auf Seiten der Politik Belastung des Staatshaushaltes Gefahr der direkten oder indirekten staatlichen Vereinnahmung des Fernseherbes zu politischen Zwecken

-

-

-

fehlende oder stark eingeschränkte Gesetzesregelungen zur Fernsehprogrammarchivierung Koordinationsdefizite und Überlassung der endarchivischen Entscheidungsgewalt an die Fernsehindustrie fehlende fachliche Expertisen in kultur- und medienpolitischen Gremien Einhaltung der massenmedialen Freiheitsprinzipien Entlastung des Staatshaushalts Motivationsangebote an die Industrie, Eigeninitiative zu zeigen Sicherung des audiovisuellen Kulturerbes wird wirtschaftlichen Erwägungen überlassen Die Erfüllung kultureller Zwecke wird zur Nebensache Keine Sanktionierungsmöglichkeiten bei Verstößen gegen das Gebot der Kulturgutsicherung

Tabelle 5: Übersicht des staatlichen Rollenverständnisses in kultur- und medienpolitischen Fragen der Fernseherbe-Verwaltung (eigene Darstellung).

70

2.4.

IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Die Entwicklung der Fernsehbewahrung in Nordamerika

Ähnlich wie in Deutschland entwickelte sich auch in Nordamerika eine lebhafte Debatte über den Umgang mit dem Fernseherbe, jedoch zum Teil deutlich deutlich früher und im Gegensatz zur deutschen Mediatheksentwicklung mit vorzeigbaren Ergebnissen. Die senderunabhänigige Archivierung von Fernsehmaterial wurde vielerorts als Selbstversorgung begriffen, wodurch sich Mediensammlungen mit Rundfunk- und speziell Fernsehprogramm-Material heute in den meisten öffentlichen Einrichtungen finden, die sich im weitesten Sinne mit der Zeitgeschichte oder einem Thema beschäftigen, bei dem die Geschichte der Massenmedien eine Rolle spielt. Im Vordergrund steht dabei meist der Eigenbedarf der betreffenden Institution. Entsprechend sind solche Sammlungen zwar bei weitem nicht zahllos, doch in ihrer Vielfalt, der häufig nur geringen Größe und den stark variierenden, häufig auf bestimmte Bedarfskonfigurationen vor Ort ausgerichteten Sammlungsfoki kaum in ihrer Gänze zu überblicken. Aufgrund lange ausgebliebener Koordinierungsangebote vom Staat bildeten sich an vielen Bildungseinrichtungen, darunter an den meisten Hochschulen, eigene Archive, die teils zu stattlicher Größe heranwuchsen, um dem wachsenden Bedarf an Fernsehprogramm-Überlieferungen gerecht zu werden (vgl. Godfrey 1992; Howell 2006: 305). Nur wenige universitäre Einrichtungen entwickelten sich jedoch zu bundesweiten und teilweise sogar internationalen Anlaufstellen, die eine Leuchtturmfunktion mit Blick auf das unübersichtliche Feld an Sammelstellen für das Fernseherbe erfüllen. Eigene Institutionalisierungsprojekte der Fernsehwirtschaft zur korporativen Selbstdarstellung wie im Fall des Sendermuseums der kanadischen CBC in Toronto (vgl. Kapitel IV.4.3.2.2.) oder des im Jahr 2007 eröffneten Cable-Center-Museums der US-amerikanischen Kabelfernsehindustrie im texanischen Denver haben Seltenheitswert und sind für die Fernseherbe-Verwaltung insgesamt in ihrer „corporate fragmentization" (Carl Goodman, AMMI) von nur geringer Bedeutung. Die nachfolgende Auswahl an gemeinnützigen Gedächtnisinstituten zeigt, dass dabei in Nordamerika nicht allein die Fernsehprogrammgeschichte ins Auge gefasst wurde, sondern auch die Kontexte und Hintergründe der Fernsehgeschichte aus der Sendeadministration, der Produktions- und Empfangstechnik sowie der mannigfaltigen papierenen und objekthaften Überlieferungen des kreativen Bereichs des Fernsehschaffens. Neben einer breiten Palette an archivischen Einrichtungen, die unterschiedliche ideenreiche Ansätze verfolgen, werden hier auch Beispiele musealer Institutionalisierung angeführt, die sich zwar auch an eine wissenschaftliche Nutzerklientel wenden, aber ihren Kernauftrag in der Adressierung eines breiten Publikums sehen (vgl. auch Kapitel IV.4.3.). Die Kurzportraits dienen als Grundlage für die anschließende Problematisierung der Rechtslage und Finanzierungssituation bei der Verwaltung des Fernseherbes, die vor allem die Arbeit der gemeinnützigen Einrichtungen erschwert.

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung 2.4.1. Die Nationalbibliothek

des US-amerikanischen

71

Kongresses (Library of Congress)

Seit 1949 sammelt die im Jahr 1800 gegründete Nationalbibliothek des US-amerikanischen Parlaments Fernsehüberlieferungen. Die älteste Sendung im Bestand ist die erste Episode der populären Westernserie „Hopalong Cassidy", die von 1949 bis 1952 auf NBC erstausgestrahlt wurde. Der Sammlungsumfang wuchs zunächst nur langsam an: Viele Sender und Produzenten zogen eine kommerzielle Zweitverwertung für ihre Produktionen und in diesem Zuge eine freiwillige Anmeldung für den Copyrightschutz der Library of Congress in den Anfangsjahren des Fernsehens nicht in Erwägung, weil eine Großzahl von Sendungen nur für eine einmalige Ausstrahlung vorgesehen war. Andere mögliche Verwertungszweige sollten sich wie der Heimvideomarkt ohnehin erst ab den 1970er Jahre entwickeln. Mit der Ausweitung des Fernsehmarktes und der globalen Karriere des elektronischen Mediengeschäfts jedoch wurde die freiwillige Hinterlegung in der Library of Congress zu einem standardmäßigen Verfahren der Fernsehproduktion. Durch die Copyrightregelung liegt der Sammlungsschwerpunkt daher auf Prime Time-Unterhaltungsprogrammen, da diese vorzugsweise für eine weitere kommerzielle Verwendung nach der Erstausstrahlung in Frage kommen. In den Folgejahrzehnten wuchsen die Sammlungsbestände der Motion Picture, Broadcasting and Recorded Sound Division bis heute auf weit über 300.000 Sendungen an. Damit verdoppelte sich die Zahl seit Mitte der 1990er Jahre. Dies ist indes nicht allein dem passiven Empfang über das Copyright-Büro geschuldet, sondern ist auch auf die mit den Jahren verstärkte aktive Sammlungstätigkeit zurückzuführen. Seit 1976 ist die Library of Congress gesetzlich damit beauftragt, ein nationales Television and Radio Archive zu führen und Fernsehprogramme zu akquirieren, welche für öffentlich, kulturell und historisch bedeutend gehalten werden. Zu den wertvollsten Ressourcen der Abteilung gehören Spezialsammlungen, unter anderem bestehend aus den Archivbeständen der Sender NBC und PBS bzw. dessen Vorläufers, dem Educational Television and Radio Center. PBS schloss 1993 mit der Library of Congress ein Abkommen über die Schenkung des kompletten Programmarchivs einschließlich einer fortlaufenden Einreichung von zukünftigem Programmmaterial nach Ablauf der Sendernutzungsrechte. So sind bereits über fünf Jahrzehnte und zehntausende Sendungen der Programmgeschichte des öffentlichen US-Fernsehens in der Library of Congress nachgewiesen und nutzbar (vgl. auch Library of Congress 1994). Die NBC Television Collection umfasst etwa 18.000 Sendungen aus den Jahren 1948 bis 1977, die ein breites Genrespektrum von Sport über Game Shows bis zu Kindersendungen abdecken, jedoch kein Nachrichtenmaterial. Außerdem spendete NBC seine offiziellen Programmprotokolle in Form sogenannter Master Books aus den Jahren 1936 bis 1991, die Television Log Books mit den Programmübersichten der Sendetage aus den Jahren 1949 bis 1988 und Transkripte der Talkshow „Meet the Press" für den Zeitraum 1954 bis 1984. Darüber hinaus verfügt die Library of Congress über Nachrichtensendungen der Sender ABC, CBS, NBC, CNN und FOX News ab Mitte der 1990er Jahre, die in einem Verwahrungsabkommen mit dem Vanderbilt Television News Archive (siehe unten) ge-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

sondert in der Nationalbibliothek deponiert werden.25 Vor dieser Vereinbarung hatte die Library of Congress direkt von ABC (1977-1992) und CBS (1975-1993) diesbezügliche Programmkopien erhalten. Ihre extensiven Sammlungsbestände machen die Library of Congress zum weltgrößten Archiv für audiovisuelle Medienwerke (vgl. Kramp 2008). Bis zum Jahr 2007 lagerte das Material an verschiedenen Außenstellen, verstreut in einem Umkreis von bis zu 800 Kilometern rund um den Bibliotheksstandort Washington DC. Mittlerweile beherbergt das neu gegründete National Audio-Visual Conservation Center (NAVCC) in einem ehemaligen Bunker der US-Notenbank das zuvor versprengte Sammlungsgut in der 100 Kilometer vom Regierungssitz entfernt gelegenen Kleinstadt Culpeper in Virginia. Insgesamt verwaltet die Motion Picture, Broadcasting and Recorded Sound Division über sechs Millionen Archivtitel, darunter drei Millionen Tonaufnahmen, knapp zwei Millionen Kontextdokumente wie Filmplakate, Drehbücher oder Mikrofilme sowie weit über eine Million Bewegtbildtitel. Auf etwa 144 Kilometern reihen sich die Überlieferungen in dem 12 500 Quadratmeter umfassenden Gebäudekomplex aneinander. Doch nichtsdestotrotz gilt: „Even the Library of Congress cant save everything" (Margaret Compton, WBMA & PAC). 2.4.2.

Das Film- und Fernseharchiv (UCLA Film & Television

der Universität von

Kalifornien

Archive)

Das zweitgrößte US-amerikanische und gleichzeitig größte an einer Universität beheimatete AV-Archiv weltweit wird seit 1965 an der University of California betrieben. Die in Los Angeles angesiedelte Universität gründete damals gemeinsam mit der Academy of Television Arts & Sciences, die jährlich den Fernsehpreis Emmy vergibt, eine Fernsehbibliothek, die vor allem Forschungszwecken dienen sollte. Obwohl etwa zehn Jahre vergingen, bis die als National Television Library initiierte Einrichtung an Kraft gewinnen, seine Sammlungen ausbauen und mit der Umbenennung in UCLA Film & Television Archive ein eigenständiges Profil entwickeln konnte, galt die kooperative Archivgründung zwischen einer akademischen und einer industriellen Organisation schon früh als wegweisend. Heute genießt das Archiv weltweites Renommee durch seine Unterstützung medien- und kulturhistorischer Forschungsprojekte. Hauptrangiges Ziel des Archivs ist die Unterstützung der Lehre unter anderem in enger Begleitung des universitären Curriculums in Seminaren der Fakultät für Film und Fernsehen am Campus in Los Angeles. Dennoch entschieden sich Universitäts- und Archivleitung in den 1970er Jahren, nicht beim Status einer universitären Sammlung zu Studienzwecken zu verharren, sondern die Sammlungsaktivitäten auf ein „authentic world-class archive" auszurichten (Rosen 2002: 117). Dies führte zu einer beispiellosen Komplexität der Einrichtung, die sich nach An-

25 Weiterhin finden sich auch Überlieferungen rundfunkfremder Unternehmen in der Library of Congress wie im Falle des Getränkeherstellers Coca Cola, der eine Sammlung von über 30.000 Werbefilmen, die ältesten davon aus den 1950er Jahren, in Form digitaler Dateien spendete.

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

73

gaben des ehemaligen Archivleiters Robert Rosen nicht mehr allein an die eigene akademische Nutzerschaft vor Ort richtet, sondern auch außerhäusige Forscher, Vertreter der Fernsehindustrie und Akteure des öffentlichen Lebens anzusprechen sucht (ebd.). Der zuständige Fernseharchivar Dan Einstein jedoch sieht die Grundversorgung des UCLA Campus weiterhin als erste Maßgabe: „We are kind of unique for an archive of our size in any way at a university community, providing material for classes and students". Die Sammlung der Fernsehabteilung birgt mehr als vierzig Jahre honorierter Primetime-Programmgeschichte, da seit Mitte der 1960er Jahre jegliche für die Emmy Awards nominierten und mit ihnen ausgezeichneten Sendungen erfasst wurden. Spezielle Sammlungen betreffen unter anderem die Unterhaltungsprogramme von ABC (1950er-70er Jahre), die wöchentliche Sendereihe und darauf als Sondersendung fortgeführte „Hallmark Hall of Fame" (1951-90er Jahre) sowie Aufzeichnungen von über 100.000 Nachrichtensendungen aus den Jahren 1979 bis 2003 (News and Public Affairs Collection). Auch finden sich schon Produktionen aus den 1940er Jahren in den Archivbeständen wie zum Beispiel Werbespots, derer insgesamt 10.000 bis zur Mitte der 1980er Jahre archiviert sind, sowie Programmexzerpte des später eingestellten Dumont Networks. Hinzu kommen populäre Shows aus der Frühzeit des Fernsehens, darunter auch viele Mitschnitte von Golden Age-Programmen auf Film wie der „Jack Benny Show", des „Paramount Theaters" oder des „Texaco Star Theaters". Als Nebenschauplatz bezeichnet Dan Einstein die ebenfalls vorgehaltene „Collection of Television Technology and Design", in welcher sich einige technische Raritäten bis zurück in die 1930er Jahre finden. Die Sammlung von Artefakten wird jedoch nicht aktiv wahrgenommen. 2.4.3. Das Fernsehnachrichtenarchiv der Vanderbilt (Vanderbilt Television News Archive)

Universität

Drei Jahre nach der Gründung des Fernseharchivs an der University of California, jedoch ohne jegliche kausale Verbindung, wurde 2.000 Meilen östlich von Los Angeles der Grundstein für die Errichtung eines weiteren Universitätsarchivs gelegt. Der bei der Versicherung Metropolitan Life in Nashville, Tennessee beschäftigte Jurist Paul Simpson fasste im Zorn über die Archivpraxis der drei großen Networks, die zwar das Rohmaterial ihrer Nachrichtensendungen archivierten, nicht aber die ausgestrahlten Sendungen selbst, den Plan, ein eigenes Programmarchiv aufzubauen, um strategisch und in voller Breite das Nachrichtenangebot aus dem Äther aufzunehmen und als öffentlich zugänglichen Nachweis vorzuhalten (vgl. Prugh 1979; Simpson 1995). Im August 1968 begann er mit bescheidenen Mitteln von privaten Spendern zunächst nur mittels einer Versuchsanordnung, an der Vanderbilt University in Nashville die Abendnachrichten der Sender ABC, CBS und NBC mitzuschneiden (vgl. auch Hilderbrand 2009: 121-122). Seitdem standen die Videorekorder nicht still und ließen das Archiv, das im Laufe der Jahrzehnte auch die Nachrichtenprogramme von CNN (1985) und FOX News (2004) aufnahm, auf über 40.000 Stunden bzw. etwa 800.000 Einzelnachweise historischer Nachrichtensendungen anwachsen. Über ein Kooperationsabkommen werden alle angefertigten Auf-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Zeichnungen in der Library of Congress deponiert, was dem Nachrichtenarchiv als Datensicherungsmaßnahme dient. Als selbständige Einheit in der Verwaltungshierarchie der Vanderbilt University ist es das maßgebliche Ziel des Archivs, das originär gesendete Fernsehnachrichtenprogramm zu bewahren und es für Bildungs- und Forschungszwecke zugänglich zu machen. Hierzu werden einzelne Nachrichtenbeiträge oder ganze Sendungen auf Sammelbändern kompiliert und per Leihsystem gegen Gebühr verschickt. Seit 2006 wird es ausgewählten Bildungseinrichtungen in den USA zusätzlich ermöglicht, ihren Studenten und Mitarbeitern über das Internet Zugang zu einigen Sektionen der Archivbestände per Videostream zur Campusnutzung zu bieten. Vor Ort gewährt das Archiv in seinen Räumlichkeiten Zugang zu sämtlichen Beständen. Zwar gilt es als das bedeutendste Fernsehnachrichtenarchiv der Welt, doch Henry Jenkins (MIT) merkt einschränkend an: „There are things like the Vanderbilt News Archive which archives the networks news coverage which historians can get information from. And that is a very useful service. But it doesn't reflect the full range of what passed over the airwaves. That is an issue that would impact historians of all kinds." 2.4.4. Die Fernsehsammlung der Peabody Awards an der Universität von Georgia (Walter J. Brown Media Archives & Peabody Awards Collection)

An der Universität von Georgia findet sich die größte Rundfunkpreis-Sammlung der Welt. Dort sammeln die Mitarbeiter der Walter J. Brown Media Archives sämtliche Bewerbungen, die von Sendern, Produzenten und unabhängigen Filmemachern für die jährlich verliehenen Peabody Awards eingesandt werden. Obwohl die Peabody Awards Collection erst im Jahre 1976 als eigene Abteilung innerhalb der universitären Bibliotheksstruktur gegründet wurde, reichen die Fernsehsammlungsbestände zurück bis ins Jahr 1948 und stellen zum Teil Unikate dar. Im Jahr 2008 hielt das Archiv circa 50.000 Videobänder und DVDs vor, doch die Zahl wächst Jahr für Jahr mit jeder neuen Preisverleihung beständig um etwa 1.000 Sendungen an. Das Sammlungsspektrum der Peabody Awards Collection ist aufgrund der passiven Ausrichtung an den freiwillig eingesandten Materialien breit gefächert und umfasst Sendungen des Lokalfernsehens und Werke weitgehend unbekannter Dokumentarfilmer ebenso wie Produktionen der großen Networks und Serien mit Millionenpublikum. Die Themenspanne reicht von Nachrichten über Dokumentations-, Unterhaltungs- und Bildungsfernsehen bis hin zu Kinder- und Ratgeberprogrammen. Hierbei werden indes nicht nur die eingereichten Sendungen an sich erfasst, sondern auch die Begleitmaterialien, die den Bewerbungen häufig beiliegen wie Pressemappen, Drehbücher, Schriftverkehr oder auch Merchandising-Artikel. Ein sammlungspolitisches Hauptaugenmerk besteht jedoch in der Zusammenstellung von Spezialsammlungen, die eine bessere archivische Strukturierung und Verfügbarkeit für die Forschung versprechen wie beispielsweise zur afro-amerikanischen Geschichte und Kultur.

75

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

Über die preisgekrönten und preisverdächtigen Fernsehprogramme hinaus fühlt sich das Universitätsarchiv auch einem stark regionalen Fokus verpflichtet. So finden sich am Universitätsstandort Athens unweit der Medienmetropole Atlanta die audiovisuellen Hinterlassenschaften zahlreicher lokaler Fernsehstationen aus Georgia und anliegenden Bundesstaaten wie den Carolinas und Alabama. Weitere Überlieferungen stammen aus den Bereichen Bildungs- und Industriefilm, Universitätsfernsehen sowie regionaler Folklore, Amateurfilm und Heimvideos. Bundesweite Aufmerksamkeit erregten die Walter }. Brown Media Archives in 2008 durch die Etablierung einer digitalen Bibliothek über die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung. In der über das Internet zugänglichen Civil Rights Digital Library sind über 30 Stunden bzw. etwa 450 Clips an historischen Film- und Fernsehprogramm-Materialien abrufbar, welche wesentliche Stationen der Geschichte des Civl Rights Movement von 1957 bis 1965 abdecken. Insbesondere kleinere Universitätsarchive wie dieses sind laut Leiterin Ruta Abolins auf Anerkennung aus der Medienbranche angewiesen, damit der Wert ihrer Bewahrungsanstrengungen publik wird: „I met Bill Moyers at the Peabody Awards and I told them what we did. And he said that we do a very important job. Also Edward James Olmos said almost the same thing to me and even William H. Macy. I only wanted to mention the archive to them, but they really recognized the work we do." 2.4.5. Das Zentrum für Film- und Iheaterforschung an der Universität von (Wisconsin Center for Film and Theatre Research)

Wisconsin

An der University of Wisconsin in Madison operiert eines der wichtigsten Archive im Hinblick auf das Schriftguterbe der frühen Fernsehgeschichte. Doch schon bevor das Wisconsin Center for Film and Theater Research im Jahre 1960 gegründet wurde, hat die Universität in gemeinsamer Anstrengung mit der Historischen Gesellschaft von Wisconsin seit Anfang der 1950er Jahre einen Sammlungsbestand zusammengetragen, der sich vornehmlich an den kreativen Akteuren des US-amerikanischen Fernsehgeschäfts orientiert und in seiner Gesamtheit mehrere Millionen Einzelstücke umfasst. In den Magazinen findet sich eine beispiellose Vielfalt an schriftlichen Überlieferungen von Fernsehautoren, Regisseuren, Produzenten und Schauspielern, darunter auch private und geschäftliche Korrespondenzen, Notizen, Zuschauerreaktionen, Drehbücher, Protokolle, Fotos usf. Über 300 Fernsehpersönlichkeiten und Fernsehunternehmen sind mit Manuskriptsammlungen vertreten, darunter auch Skripte von Rod Serling, der ,Qualitätsschmiede' MTM Enterprises und Dokumente über Produktionen aus dem Goldenen Zeitalter des Fernsehens wie von David Susskind und seinen Live-Shows. Ergänzt werden die zahlreichen privaten Nachlässe von einigen fernsehhistorisch bedeutsamen Ressourcen zur Mediennutzung wie die Indizes des Marktforschungsunternehmens Nielsen über die Fernsehnutzung in den Jahren 1951 bis 1953 sowie unter anderem über die Konsumgewohnheiten von Fernsehzuschauern im Jahre 1957 oder Überlieferungen der National Association of Broadcasters von 1938 bis 1982, die hauptsächlich die Forschungstätigkeit

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

des Rundfunkverbandes zum Beispiel in Fragen der Meinungsbildung, Geschäftsentwicklung und Werbeentwicklung dokumentieren. Eine besonders reiche Spezialsammlung wurde durch eine Spende des Senders NBC ermöglicht: Das älteste US-amerikanische Network vermachte einen Großteil seines Unternehmensarchivs aus den Jahren 1921 bis 1969 der Bildungs- und Forschungsarbeit an der Universität in Madison. „Of course the donation would have been done selectively without certain memos they didn't want to be accessible, but there are other things scholars have discovered there that were very direct and very important" (Horace Newcomb, UG). In etwa 600 Kartons finden sich Memos, Drehbücher, Berichte, Protokolle, Korrespondenzen und sonstiger geschäftlicher Schriftverkehr, die, wenn auch längst nicht in vollständiger Zahl, einen Bogen vom Beginn der Fernsehentwicklung bis zur Etablierung des Sendebetriebs und Aufstieg des Fernsehens zum gesellschaftlichen Leitmedium spannen. Dokumentiert sind alle denkbaren Facetten der Sendeorganisation, von der beginnenden Programmentwicklung über Sponsorenbeziehungen und den Umgang mit Werbeagenturen bis hin zu Regierungsbehörden und Fernsehkonkurrenz, einschließlich der Ausrichtung und Anpassung von Geschäftsstrategien, Unternehmenspolitik und Öffentlichkeitsarbeit. Ein weiterer Schwerpunkt der Sammlungstätigkeit betrifft die Frühzeit der Programmgeschichte: Während die gesamten Bewegtbildbestände aus etwa 15.000 Filmen, Fernsehsendungen und Videos bestehen, umfasst allein die Sammlung der Produktionsgesellschaft Ziv Television 3.500 Fernsehshows aus den Jahren 1948 bis 1962. Der Großteil des Programmmaterials liegt aufgrund des Augenmerks auf die Jahre vor Erfindung der Videotechnologie auf Film vor und bietet unter anderem Einblicke in populäre Sendungen wie die „Ed Sullivan Show", „The Bell Telephone Hour" und „The Martha Raye Show", aber auch Serien wie „Bonanza" und „The Mary Tyler Moore Show". Eine zusätzliche Stärke des Archivzentrums liegt im Bereich des televisuellen Dokumentarfilms, der Werke und Kontextmaterialien umfasst, die auf allen drei großen Networks ABC, CBS und NBC ausgestrahlt wurden. 2.4.6. Die Bibliothek des US-amerikanischen (Library of American Broadcasting)

Rundfunks

an der Universität von

Maryland

Ähnlich wie das Wisconsin Center for Film and Theater Research verfügt auch die Library of American Broadcasting über eine ausgewiesene Sammlungskompetenz im Bereich des schriftlichen Dokumentenerbes der Rundfunkgeschichte. Im Jahr 1967 von der National Association of Broadcasters gegründet, nahm sie erst fünf Jahre später im Keller des Verbandsgebäudes in Washington, D.C. ihre Arbeit auf. Die räumliche Begrenzung schränkte die Sammlungstätigkeit zunächst stark ein. Erst als die Archiveinrichtung im Jahre 1994 an die Universität von Maryland umzog und in die dortige Bibliotheksinfrastruktur eingebunden wurde, konnte sie auf über 2.300 Quadratmetern prosperieren. Der Sammlungsbestand wuchs auf über 250.000 Fotos, 10.000 Bücher über die Rundfunkgeschich te, 1.000 Filmaufzeichnungen und Videobänder sowie 4.300 Radio- und Fernsehskripts

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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an. Archiviert wurden eine Vielzahl von Papierdokumenten, seien es Pressemitteilungen aus dem laufenden Programmbetrieb, seien es Rundfunkzeitschriften, Redemanuskripte oder Briefe. Seine Signifikanz erhält die Library of American Broadcasting durch die enge Bindung speziell an die Fernsehindustrie: Dort genießt sie den Ruf einer Institution von Rang, was sich vor allem auch an der Übereignung zahlreicher Nachlässe von honorigen Rundfunkpersönlichkeiten äußert. Außerdem liegen mehr als 1.000 Videos vor, die Interviews mit Pionieren der Rundfunkgeschichte enthalten und eine wichtige Ressource der subjektiv perspektivierten Oral History darstellen. Das Potenzial des komplexen Sammlungsumfangs für Wissenschaft und Forschung wird vorzugsweise am Universitätsstandort in College Park, Maryland geschätzt, wo die Archivalien größtenteils in den Fachbereichen Geschichte, Journalismus, Amerikanistik und Frauenstudien genutzt werden und in den Lehrplan eingebunden sind. Gemeinsam mit dem ebenfalls am Campus angesiedelten National Public Broadcasting Archive, das bereits ein Jahr vor der Library of American Broadcasting seine Arbeit an der Universität aufnahm, steht akademischen Nutzern ein breites Portfolio an Überlieferungen aus der Radio- und Fernsehgeschichte zur Verfügung. Hier findet sich zusätzliches Schriftgut unter anderem aus der Geschichte von PBS, der Association of Americas Public Television Stations und dem Children's Television Workshop, der mit seiner Sendung „Sesame Street" weltweite Bekanntheit erlangte. Ergänzt werden diese umfangreicheren Bestände von etwa 80 Spezialsammlungen, die mehrheitlich einzelnen Akteuren der Rundfunkgeschichte zugeordnet sind. Wie Bibliotheksleiter Chuck Howell betont, erfüllen Gedächtnisorganisationen in der Fernseherbe-Verwaltung immer auch eine regionale Versorgungsfunktion, die sich wie im Fall der LAB in einer starken Vernetzung mit Partnereinrichtungen wie dem UCLA Film & Television Archive ausdrücke, um Material auszutauschen: „Some people live in Maryland and cant go to California." 2.4.7. Das Paley Center for Media (ehem. Museum of Television & Radio bzw. Museum of Broadcasting)

Die seit Juni 2007 unter dem Namen Paley Center for Media firmierende Museumseinrichtung wurde im November 1976 als Museum of Broadcasting eröffnet. Das Hauptanliegen des Gründers und CBS-Vorstandes William S. Paley richtete sich zunächst auf die Rettung des Rundfunkerbes sowie seiner Präsentation für die allgemeine Öffentlichkeit. So nahm das Museum seine Arbeit mit dem Anspruch auf, die führende Einrichtung seiner Art zu werden, um ein besseres Verständnis und Würdigung jeglicher Aspekte des Rundfunks im Sinne seines künstlerischen Anspruchs, sozialen Einflusses und seiner historischen Wichtigkeit zu sähen. Was auf zwei Stockwerken eines umfunktionierten Bürogebäudes begann, wurde im Laufe der 1980er und 90er Jahre zu einer weltweit renommierten Anlaufstelle für Wissenschaftler, die über die Fernsehprogrammgeschichte forschten, aber auch für Privatleute, deren Interesse eher darin bestand, alte Erinnerungen an eigene Fernseherlebnisse aufleben zu lassen. Im Jahre 1991 wurde die Einrichtung in Museum of Television & Radio (MT&R) umbenannt. Das Kuratorium war der

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Ansicht, dass der Rundfunkbegriff durch die neu erwachsenen, technisch vielfältigeren Übertragungsmöglichkeiten von audiovisuellen Medieninhalten wie über Kabel und Satellit nicht mehr treffend die Sammlungspolitik des Museums beschrieb. Zudem wurde ein Umzug in ein neues, nach dem Gründer Paley benanntes Gebäude in der 52. Straße im Herzen Manhattans und in unmittelbarer Nähe zum Museum of Modern Art beschlossen, ein Gebäude, das dem Museum seither eine Aktionsfläche von fünf Stockwerken zur Verfügung stellt. Insgesamt verfügt das Museum über einen Bestand an ungefähr 150.000 Sendungen,26 größtenteils aus der Fernsehgeschichte (60 Prozent), einschließlich einer umfangreichen Sammlung an Werbespots (16 Prozent). Auch sind etwa 7.000 ausländische Sendungen aus über 70 verschiedenen Ländern verfügbar. Die vorhandenen Sammlungen werden kontinuierlich durch neue Sendungen aus dem laufenden Programm ergänzt. Unterstützt wird das Museum in seinem Sammlungsbestreben unter anderem von den kommerziellen Fernsehnetworks und PBS sowie einigen Sendeunternehmen aus dem Kabelfernsehen, mit denen auf Basis einer frühen Weichenstellung durch die Initiative von William Paley vertragliche Vereinbarungen für die unentgeltliche Bereitstellung von Programmmaterial und dessen Archivierung im Museum getroffen werden konnten. Durch die breite Akzeptanz des Museums nicht nur vonseiten der Fachwelt, sondern auch seitens der Besucher ohne professionelles Interesse wurde am 18. März 1996 eine Dependance an der US-amerikanischen Westküste in Los Angeles eröffnet. Hierbei handelt es sich zwar um eine kleinere Vertretung des Hauptquartiers und Verwaltungssitzes in New York, doch entwickelte sie sich zu einem Anlaufpunkt für die kreative Gemeinschaft der Film- und Fernsehindustrie Hollywoods. Die Leuchtturmfunktion des Paley Centers bzw. des vormaligen Museum of Television & Radio resultiere nicht nur aus seinen umfangreichen Sammlungsbeständen, erklärt Michele Hilmes, sondern in seinem Versuch, auch kulturell ambivalent konnotierte Kapitel der Fernsehgeschichte in populärer Form zu protegieren und einen Diskursrahmen dafür zu generieren: „You can use film as a model. And think about film has emerged as a recognized and valued cultural form. And you'd have to say that first were programs of study, and then there were museums and festivals, retrospectives, celebrating both current and film heritage. I think that is the thing that is still missing for television. You'd go and see John Ford-films at a festival screening at the university. But would you go and see Norman Lear-comedies? I think, we might be almost ready for that. But so far we haven't gotten to that point. Only at a few places, and the MT&R has tried to do that" (Michele Hilmes, WCFTR).

26

Hier widersprechen sich die Angaben von Kurator Ron Simon (150.000 Sendungen) und von Sammlungsleiter Doug Gibbons (144.000 Sendungen). Durch die fortlaufende Sammlungstätigkeit ist aber von einer ohnehin weiter wachsenden Zahl an Programmüberlieferungen im Bestand des Paley Center for Media auszugehen.

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung 2.4.8. Das Museum of Broadcast

79

Communications

Einen hauptsächlich regionalen Ansatz verfolgte der Radio- und Fernsehjournalist Bruce DuMont, Neffe des Gründers des Dumont Television Network Allen B. DuMont, der im Juni 1987 in Chicago das zweite Rundfunkmuseum der USA offiziell eröffnete. Gegründet wurde das Museum of Broadcast Communications aber bereits fünf Jahre zuvor, als DuMont, ähnlich wie Eberhard Fechner in Berlin, den Eindruck gewann, dass das Verhältnis des Rundfunks der eigenen Geschichte und dem eigenen Überlieferungsschatz gegenüber nur rudimentär ausgebildet sei. Fernsehwissenschaftler Horace Newcomb (UG) beschreibt DuMonts Beweggründe wie folgt: „[He] began the MBC because as working as a broadcaster he saw that a lot of programming on film was thrown away from the local Chicago television stations and decided that someone should preserve that. And it's grown into a crucial factor and it became a major institution." Der lokale und regionale Sammlungsfokus besitzt zwar weiterhin Gültigkeit und etablierte das Museum unter anderem durch seinen Bestand an circa 7.600 Nachrichtensendungen aus Chicago als wichtige wissenschaftliche Ressource wie auch als öffentliche Erinnerungsagentur für die Bevölkerung der US-amerikanischen Great Lakes Region der Bundesstaaten Illinois, Indiana, Michigan und Wisconsin. Doch erlangte es auch überregionales Renommee durch seine facettenreiche Sammlung nationalen Fernsehprogramms, darunter unter anderem etwa 4.300 Dokumentarfilme für das Fernsehen. Insgesamt beherbergt das Programmarchiv des Museums über 14.000 unterschiedliche Fernsehsendungen sowie unter anderem über 12.000 TV-Werbespots. Der Museumsauftrag lautet, historisches und zeitgenössisches Radio- und Fernsehmaterial zu sammeln, zu bewahren und zu präsentieren, um die Öffentlichkeit mit seiner Sammlung zu bilden, zu informieren und zu unterhalten. Als institutionelle Herausgeberin der „Encyclopedia of Television" (Newcomb 1997; Newcomb 2004) stärkte die Einrichtung Ende der 1990er Jahre ihre Bande zur Fernseh- und Medienwissenschaft und brachte insgesamt zwei Auflagen des zunächst drei-, dann vierbändigen Standardnachschlagewerkes zur Fernsehgeschichte heraus. Weiterhin verfügt das Museum über einen großen Bestand an Kontextmaterialien wie beispielsweise Fotografien und Artefakten, darunter alte Fernsehgeräte, die originale Fernsehkamera, mit der die erste televisuelle Wahlkampfdebatte um die Präsidentschaft zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon in Chicago aufgenommen wurde, sowie zahlreiche Puppen, Kostüme und andere Requisiten aus dem Programmbetrieb. Zunächst in einem Gebäude in der sogenannten River City im Stadtteil South Loop unweit des Chicago River untergebracht, zog das Museum im Jahre 1992 in das städtische Kulturzentrum Chicagos um. In 2003 wiederum schloss das Museum vorübergehend seine Pforten, um sich dem Neubau eines eigenen Museumgebäudes im Herzen der Stadt in unmittelbarer Nähe von touristischen Attraktionen wie dem Trump und dem Sears Tower zu widmen. Um trotz der längerfristigen Schließung weiterhin seine Mission zumindest ansatzweise erfüllen zu können, baute das Museum seine Internet-Präsenz aus und bietet zum Teil die Möglichkeit, einzelne Sendungsexzerpte online einzusehen.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

2.4.9. Das Moses Znaimer Fernsehmuseum

(MZTVMuseum)

Einen eigentümlichen Verlauf nahm die Institutionalisierung des MZTV Museums im kanadischen Toronto, das als rein private Unternehmung startete, aber innerhalb von zehn Jahren zu einer weltweit einzigartigen Destination für Fernsehdesigngeschichte und die historische Entwicklung der televisuellen Konsumentenelektronik avancierte. Benannt nach seinem Gründer Moses Znaimer, zeugt der Museumsfundus von der privaten Sammelleidenschaft des Fernsehunternehmers, dessen Wohlstand er seiner Produzenten- und Managementtätigkeit als Pionier des kanadischen Privatfernsehens zu verdanken hat. Der von ihm im Jahre 1972 gegründete Lokalsender Citytv in Toronto gilt heute rückblickend als internationales Paradebeispiel für innovative urbane Programmpolitik und verhalf Znaimer gar zu Filmruhm, da sein Sender Regisseur David Cronenberg als Vorbild für seinen Kinofilm „Videodrome" diente (vgl. Kapitel III.6.1.1.; auch Marshall 2004: 2629). Znaimer begann seine Sammeltätigkeit im Jahre 1992 als Liebhaberei, indem er mehrere private Fernsehgerätesammlungen in den USA kaufte und einen Grundstock anlegte, der über die Jahre zur größten Sammlung historischer Fernsehapparate weltweit anwachsen sollte. War seine Ursprungsintention geleitet von der Faszination für das seiner Ansicht nach vernachlässigte häusliche Antlitz des Fernsehens, setzte er die Relikte bald schon dafür ein, seine eigene Arbeit geschichtlich zu perspektivieren. So finden sich neben Unikaten aus der Anfangszeit der Fernsehentwicklung wie dem „Phantom Teleceiver", der auf der Weltausstellung 1939 präsentiert wurde, oder dem letzten Fernseher von Marylin Monroe eine Vielzahl von Empfangsinstrumenten aus der Fernsehgeschichte. Auch finden sich über 10.000 weitere Objekte aus der Fernsehgeschichte wie zum Beispiel Spielzeuge und sonstige Merchandising-Artikel sowie eine wachsende Bibliothek mit historischen Büchern und Zeitschriften zum Thema. Auch wurden vereinzelt Dokumente wie Korrespondenzen früher Fernsehpioniere akquiriert. Insgesamt umfasst die Sammlung eine Zeitspanne von den 1920er bis zur Gegenwart und richtet ein besonderes Augenmerk auf den mit der Designentwicklung und dem technischen Fortschritt einhergehenden Wandel in der Mentalitätsgeschichte in Bezug auf das Medium Fernsehen. 2.4.10. Museen zur Fernsehtechnik in den USA Weitere nordamerikanische Museen, die sich maßgeblich mit der Technikgeschichte des Fernsehens bzw. des Rundfunks beschäftigen, wurden zum Beispiel in St. Louis Park, Minnesota (Pavek Museum of Broadcasting) und in Hilliard, Ohio (Early Television Museum) gegründet. Während diese Einrichtungen nur über einen vergleichsweise kleinen Sammlungsbestand von Produktions- und Empfangtechnik verfügen und sich durch ihre ländliche Lage fernab der Metropolregionen hauptsächlich an ihre eigenen Mitglieder und ein lokales Publikum richten, bildet das American Museum of the Moving Image in Queens, New York, eine Ausnahme. Gegründet im Jahre 1988 verfolgte die Museumsleiterin Rochelle Slovin den Anspruch, die Geschichte der Film-, Fernseh- und

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IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

Videospielkunst sowie der zugrundliegenden Technologie gemeinsam zu thematisieren. Die Sonderstellung des American Museum of the Moving Image besteht in diesem integrativen Ansatz, wie auch Kurator Carl Goodman unterstreicht: „We are not a television museum, we are not a film museum and we are not videogame museum." Die Geschichte des Museums begann im Jahre 1981 auf dem Gelände der Produktionsfirma Astoria Studio, die eine Stiftung betrieb, um das historische Studiogelände im Astoria-Bezirk von Queens aus den 1920er Jahren als Produktionsstätte wiederherzurichten. Die neue Verwaltungsdirektorin der Astoria Motion Picture and Television Center Foundation Rochelle Slovin traf nach der erfolgreichen Umsetzung des Stiftungsziel die Entscheidung, deren Direktive zu ändern und fortan die Eröffnung eines Filmund Fernsehmuseum zu planen. Mittlerweile verfügt das Museum über eine mehr als zwanzigjährige Erfahrung und einen Sammlungsbestand von über 13.000 Objekten aus dem Produktionssektor ebenso wie aus Heimanwendungsbereich oder der plurimedialen Thematisierung wie zum Beispiel dem Marketing oder der Presse. Eine erhebliche bauliche Erweiterung in den Jahren 2009 und 2010 soll es dem Museum ermöglichen, seine Mission auf einer doppelt so großen Aktionsfläche wie zuvor zu erfüllen und das Verständnis für die Geschichte der bewegten Bilder für das Fach- und allgemeine Publikum zu vertiefen.

2.5.

Kulturerbe versus Programmvermögen: Der juristische zwischen Kulturschutz und Wirtschaftsinteressen

Widerstreit

Auf einen entscheidenden Faktor beim historisierenden Umgang mit audiovisuellen Medienproduktionen machte Rainer Rother, künstlerischer Direktor der Stiftung Deutsche Kinemathek, im Juni 2008 bei einer Anhörung vor dem Ausschuss für Kultur und Medien des Bundestages über die Sicherung des deutschen Filmerbes aufmerksam: „Nur exemplarisch sei darauf verwiesen, dass .Akten keinen urheberrechtlichen Schutz genießen, während bei der Archivierung von Filmen die Urheber- bzw. Nutzungsrechte bei Dritten liegen, die diese Rechte auch gewahrt und geschützt sehen wollen" (Rother 2008). Im Falle des Fernsehens verhält es sich ähnlich: Angesichts der Vielseitigkeit des Programmbetriebs und des „hochgradig arbeitsteiligen" Produktionsprozesses (vgl. Öhner 2005: 85) gibt es kaum noch eine Sendung, die nicht mit Rechten Dritter belegt ist. Dies trifft auf Fremdproduktionen, die vom Fernsehveranstalter eingekauft werden, ebenso zu wie auf Gemeinschaftsproduktionen oder einzelner Bestandteile von Sendungen, für die der Sender nicht alle Rechte besitzt, sondern sich die Nutzungsrechte mit anderen Inhabern teilen bzw. sie erst aushandeln muss. Urheberrecht ist grundsätzlich handelbar und kann vonseiten des Werkschaffenden an Verwertungsunternehmen wie Produzenten oder Fernsehveranstalter abgetreten werden. Doch selbst wenn eine Produktionsfirma oder ein Sender durch vertragliche Vorkehrungen als alleiniger Rechteinhaber einer Fernsehproduktion auftritt, muss das nicht zwangsläufig bedeuten, dass dies für mehr

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

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Klarheit in der Frage nach Bewahrung, Zugang und Nutzung des Fernseherbes sorgt. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, hat sich die Rechtslage vor allem unter dem Eindruck wirtschaftlicher Interessen derart verkompliziert, dass es selbst für erfahrene Spezialisten aus Archiven, Bibliotheken und Museen kaum noch möglich ist, den Durchblick zu wahren. 2.5.1. Rechtsproblematik

im

Programmbetrieb

Zuallererst beansprucht die Rechteklärung bereits im alltäglichen Sendebetrieb erhebliche Ressourcen. Kein Bewegtbild darf ohne Weiteres unautorisiert verwendet werden, sofern nicht sichergestellt werden kann, dass keine Fremdrechte auf dem Material liegen, gegen die zu verstoßen empfindliche Strafen nach sich ziehen kann. Werden indes ordnungsgemäß Sendelizenzen erworben, erhält der Käufer in der Regel auch das Recht, das Bildmaterial für eine bestimmte Zeit archivisch zu erschließen und vorzuhalten. Dieses Recht ist häufig an Ausstrahlungslizenzen gekoppelt und verfällt unter Umständen nach einem gewissen Zeitraum. Doch auch wenn eine unbestimmte Archivdauer vereinbart bzw. geduldet wird, bedarf es bei jeglicher erneuten Nutzung, die bereits in Form eines öffentlichen Zugangs zum Archiv Ausdruck finden kann, einer Genehmigung seitens des jeweiligen Rechteinhabers, der diese Nutzungsrechte auch verwehren oder für ihre Einräumung eine Vergütung verlangen kann. Solcherlei Geschäftsabläufe gehören mittlerweile zum Alltag jedes Senders und basieren auf einer für viele Beteiligten undurchsichtigen Rechtesituation, die vor allem beim internationalen Handel mit Fernsehbildern die Archivierung und die nachhaltige Nutzung von Programmmaterial erschwert. Während es auf nationalen Fernsehmärkten wie im Falle Deutschlands vertragliche Standardregelungen wie den ARD-Programmaustausch gibt, der die Übernahme von Sendungen oder Beiträgen zwischen den Archiven der einzelnen Landesfunkhäuser ohne juristische Schwierigkeiten ermöglicht,27 gibt es auf internationaler Ebene mit Ausnahme der European Broadcasting Union bzw. der Eurovision keine verlässlichen übergreifenden Strukturen, welche die unterschiedlichen Rechtssysteme miteinander zu harmonisieren imstande ist und die Verhandlungen von Sendern, ihren Archiven und den jeweiligen Rechteinhabern erleichtern könnten. Joel Kanoff, Archivleiter bei ABC News in New York, sieht darin eine maßgebliche Hürde beim Umgang mit Archivmaterial: „It's [the rights issue] very complicated and involves knowing about who loans what, getting information from our system that we curate here, and negotiating with the rights holders many of whom are abroad: very difficult to reach. There is no standard

27

Wie Michael Harms (SWR) anmerkt, gehört es zwar nicht zum Regelauftrag, die im Rahmen des ARD-Programmaustausches empfangenen Produktionen im eigenen Archiv auf Dauer vorzuhalten, dies werde aber dennoch häufig praktiziert, um das betreffende Programmmaterial im Falle einer erneuten Ausstrahlung gleich vor Ort zu haben und damit den Verwaltungsaufwand zu minimieren.

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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system and there is no cooperative system among the broadcast entitees yet [...] [W]idely there is no easy way" (Joel Kanoff, ABC). Zum Teil ist diese verworrene Situation auch auf Versäumnisse innerhalb der nationalen Rundfunksysteme zurückzuführen, auf die gestiegenen Anforderungen zur Rechteklärung im globalisierten Fernsehmarkt zu reagieren und institutionelle Lösungen zu erarbeiten. Die Archive selbst wären schnell mit dem erheblichen Verwaltungsaufwand, den die Rechteverhandlungen mit sich bringen, überfordert. Alleine das Nachrichtennetwork CNN arbeitet mit mehr als 800 Partnern zusammen, die Bildmaterial zuliefern. Hinzu kommen die großen Nachrichtenagenturen, deren News-Streams stetig auf die Redaktionssysteme und in das Senderarchiv fließen. Und sie alle achten auf die rechtmäßige Vergütung für die Nutzung ihrer Werke, an denen sie in teilweise auch unterschiedlichen Umfangen Rechte halten. Bei ABC wurde jedoch erst im Jahr 1993 eine eigene Abteilung zur Rechteklärung für Nachrichtenmaterial eingerichtet. Die anderen Networks folgten zwar auf dem Fuße, doch wuchs der internationale Handel mit Bildern so rasant, dass für die Errichtung eines übergreifenden Models zur Rechteabgeltung schlicht keine Zeit blieb. Seit Ende der 1980er Jahre hat sich ein weltumspannender Bildmarkt entwickelt, der aus tausenden Quellen gespeist wird und vernetzt ist durch einige weltweit präsente Agenturen, die über effiziente Distributionssysteme zur zeitnahen Vermittlung von Bildanbietern und Sendern verfügen. Der Bilderquell versiegt nur äußerst selten und lässt die Produktionsarchive der Fernsehveranstalter bis zum Bersten anwachsen. Der ununterbrochene 24-stündige Programmbetrieb erfordert nicht nur immer neues Material, sondern wird ausgiebig und redundant aus den Archiven gespeist. Die Folge war eine fast vollständige Ökonomisierung der Senderarchive, da sie zum wertvollen Fundus für den Programmbetrieb avancierten. Längst nicht alles wird sofort gesendet; Vieles verbleibt zunächst im Archiv, um im Fall des Falles zu jedem Thema das richtige Bild zur Verfügung zu haben. Während Fernsehveranstalter generell mit einem wachsenden Verwaltungs- und Kostenaufkommen bei der Verhandlung von Nutzungsrechten zu kämpfen haben und abhängig sind vom Konversationstalent ihrer geschulten Mitarbeiter, die nicht selten um Gefälligkeiten und Sympathien buhlen, um kostengünstig Rechte abzugelten, wie Kanoff erklärt, ernähren sich globale Medienmischkonzerne größtenteils aus eigenen Produktionsmitteln: So besitzt das australische Medienunternehmen Newcorp Fernseh-, Radio-, InternetUnternehmen sowie Printmedien, verteilt auf alle Kontinente, und ermöglicht es damit seinen einzelnen Sendern wie beispielsweise dem Nachrichtenkanal FOX News, aus einem reichhaltigen Fundus von Medieninhalten zu schöpfen, ohne sich über Fremdrechte den Kopf zerbrechen zu müssen. Diese müssen hierbei nur dann beachtet werden, wenn die Produktionsleistung der eigenen Konzernbereiche nicht ausreicht, um die eigenen Sendeanforderungen zu erfüllen wie im Falle eines bestimmten Ereignisses, zu dem es aktuell nur fremdes Bildmaterial gibt. Gleich welche Organisationskonstellation zutrifft: Das Geschäft mit der Wiederverwendung von Archivalien ist ein lohnendes. Die Re-Kommerzialisierung von Pro-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

grammrelikten, die längst dem Geschäftszyklus entrissen zu sein schienen, hat sich zu einem einträglichen Zweig entwickelt. Auch für neue und künftige Programminhalte gilt: Je mehr sich einzelne Schaffensbereiche im Fernsehbetrieb zu bei Kritik und Publikum begehrten Qualitätsressorts mausern, desto höher sind auch die allgemeinen Gewinnerwartungen seitens der Rechteinhaber hinsichtlich der Mehrfachverwertung ihrer Werke. Die einstigen Urheber jedoch haben im zeitgenössischen Fernsehgeschäft meist nicht mehr viel von ihren Rechten, da sie üblicherweise ihre Nutzungsrechte exklusiv oder in unterschiedlichen Gewichtungen an Vertragspartner, seien es Produktionsfirmen oder die Fernsehsender selbst, übertragen. Diese und andere Verwertungsberechtigte sind es daher meist, die mit den ihnen vertraglich zugeschriebenen Rechten die wahren Profiteure des Handelns mit alten und neuen Fernsehwerken sind. Dies streicht auch Michael Harms vom Südwestdeutschen Rundfunk hervor, um auf die gewachsenen kommerziellen Interessen bei der Nutzung von Archivmaterial hinzuweisen. Dass Wirtschaftsinteressen bei der Verhandlung von Rechtsfragen immer stärker in den Vordergrund gerückt sind, unterstreicht auch Mike Mashon von der Library of Congress, der kritisiert, dass das derzeitige Urheberrecht den vielfältigen Möglichkeiten (und Anforderungen) der nicht-kommerziellen Nutzung entgegenstehe: ,,[Y]ou kind of run up against the copyright wall all the time. That is a worldwide problem." Wenn über den Schutz der Interessen von Urhebern diskutiert wird, fällt häufig der kaum näher spezifizierte Begriff des geistigen Eigentums, der suggerieren kann, es gebe eine vollständige Kontrolle des Besitzers über das Werk. Dabei handelt es sich jedoch nicht mehr als um einen simplifizierenden Sammelbegriff für eine Reihe von gesetzlich verankerten Schutzrechten für kreative Werke, der nach Meinung einiger Kritiker mehr Verwirrung stifte als Klarheit über die tatsächlichen Rechte und Pflichten des Besitzers gebe. Vielmehr solle die differenzierte Regelung, so der Vorwurf, verschleiert werden, um einen Missbrauch von vornherein auszuschließen: „The term .intellectual property' also leads to simplistic thinking. It leads people to focus on the meager commonality in form that these disparate laws have—that they create artificial privileges for certain parties—and to disregard the details which form their substance: the specific restrictions each law places on the public, and the consequences that result. This simplistic focus on the form encourages an ,economistic approach to all these issues" (Stallman 2005). Bei Fernsehproduktionen kommen in erster Linie das Urheberrecht sowie verwandte Leistungsschutzrechte (beispielsweise für enthaltene Musik) zur Geltung. Das Urheberrecht betrifft das Recht zur Vervielfältigung, zur Herstellung von Derivaten, zur gewerblichen Veräußerung des Werkes sowie seiner öffentlichen Vorführung. Der Sinn und Zweck des Urheberrechts gilt jedoch nicht ausschließlich dem Wohl des Urhebers, sondern soll darüber hinaus auch juristisch möglichst stichhaltig bewerkstelligen, dass ein Werk trotzdem sein Kreativität stiftendes Potenzial entwickeln kann, was bedeutet,

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

85

dass es im begrenzten Maße einer Nutzung zugeführt werden muss.28 Der Urheber eines Werkes soll dabei keineswegs übergangen und ebenfalls seine Verwertungsrechte nicht beeinträchtigt werden. Die Hoheit über die kommerzielle Auswertung bleibt gewahrt. Gleichwohl wird ein allzu restriktiver Gebrauch verhindert, indem das Gesetz vorsieht, den Zugang zum Werk unter bestimmten Voraussetzungen ohne eine erforderliche Einwilligung des Urhebers zu gewährleisten. 2.5.2. Die Rechtssituation in den USA, Kanada und Deutschland So ist in den drei untersuchten Staaten das Erstellen von simultanen Aufzeichnungen des laufenden Fernsehprogramms zu rein privaten, nicht-gewerblichen Zwecken erlaubt. Das US-Copyright erlaubt darüber hinaus ausschließlich gemeinnützigen und staatlichen Bildungsinstitutionen das Mitschneiden von Nachrichtenprogrammen. Anderweitige Programminhalte dürfen nur unter einem strikten Reglement für schulische Zwecke aufgezeichnet und für den Unterricht verwandt werden: Die „Federal Guidelines for OffAir Recording of Broadcast Programming for Educational Purposes" (dokumentiert in Crews 1993: 211-213) haben zwar keinen Gesetzescharakter, dienen aber als allgemein akzeptiertes Regelwerk zur Orientierung für die Bildungsorganisationen, denen es unter anderem erlaubt ist, einzelne frei empfangbare Fernsehsendungen auf Geheiß eines Lehrkörpers für Unterrichtszwecke aufzuzeichnen und diese in einem Zeitraum von 45 Tagen nach der Ausstrahlung vorzuhalten, um sie maximal zwei mal vorzuführen. Sollte ein wiederholter Einsatz gewünscht sein, braucht es die Abstimmung mit dem jeweiligen Rechteinhaber. Eine wichtige Sonderstellung in Fragen der eigenmächtigen Aufzeichnung und Archivierung von Fernsehprogramm hat die Library of Congress, welche die zentrale Erfassungsstelle für die Anmeldung von urheberrechtlichen Ansprüchen zwecks kommerzieller Verwertung betreibt und die Aufgabe erhielt, ein „American Television and Radio Archive" einzurichten (vgl. auch Kapitel IV.2.4.1.). Seitdem kann in aller Breite nach intern aufgestellten Auswahlkriterien Fernsehprogramm mitgeschnitten werden, sofern es sich um Sendungen mit historischer Signifikanz handelt. Im Gesetzesanhang von 1976 heißt es wörtlich: „The Librarian, after consultation with interested organizations and individuals, shall determine and place in the Archives such copies and phonorecords of television and radio programs transmitted to the public in the United States and in other countries which are of present or potential public or cultural interest, historical significance, 28

So heißt es im Urteil zum Gerichtsverfahren Sony Corporation of America v. Universal City Studios, Inc., 464 U.S. 417, 429 von 1984: „As the text of the Constitution makes plain, it is Congress that has been assigned the task of defining the scope of the limited monopoly that should be granted to authors or to inventors in order to give the public appropriate access to their work product. Because this task involves a difficult balance between the interests of authors and inventors in the control and exploitation of their writings and discoveries on the one hand, and society's competing interest in the free flow of ideas, information, and commerce on the other hand, our patent and copyright statutes have been amended repeatedly."

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung cognitive value, or otherwise worthy of preservation" (American Television and Radio Archives Act, Section A, Paragraph 1).

Dass auch nicht-staatliche Einrichtungen zumindest von Nachrichtenprogrammen Aufzeichnungen erstellen und sie für nicht-gewerbliche und vor allem Bildungszwecke zur Verfügung stellen dürfen, musste hart erkämpft werden: Anfang der 1970er Jahre verklagte das Network CBS die Vanderbilt University in Nashville, Tennessee und ihr noch junges Fernsehnachrichtenarchiv, das seit 1968 strategisch Nachrichtensendungen mitschnitt, um sie für interne universitäre Lehrzwecke zu verwenden (vgl. Kapitel IV.2.4.3.; vgl. auch Kies 1975). In den Augen der Verantwortlichen handelte es sich dabei um eine notwendige Maßnahme zur Selbstversorgung des Wissenschaftsbetriebs, die aus der Unzugänglichkeit der Archivstellen der Fernsehindustrie erwachsen war. Von Senderseite hingegen wurde das Vorgehen als eindeutiger Urheberrechtsverstoß gewertet. Der Prozess um das Television News Archive der Universität stieß eine Novellierung des Copyright-Gesetzes an - eine Entwicklung, die bis dato in der internationalen Rechtsgeschichte beispiellos geblieben ist: In Kanada oder Deutschland gab es keine vergleichbare Auseinandersetzung mit auch nur annähernden Folgen für die Rechtssprechung. Eine solche Eskalation sei in allen anderen Fernsehnationen vermieden worden, meint Archivleiter John Lynch, der die Erfolgsgeschichte seiner Institution in der politischen Situation der frühen 1970er Jahre begründet sieht: „It was Nixon and post-Nixon, so Republicans in Congress were very supportive of some kind of exterior holding of what has been on TV, because they were feeling very attacked by television and the news media. So they were very supportive of this concept. It was a very good political situation for the archive in the Senate and Congress. [...] For ten years it was an ongoing discussion. The networks always had mixed feelings about it and they still have. What happened to the law-suit? Once the law has passed, the law-suit became by definition about all the tapes that existed up to a point the law went into a fact. CBS chose to drop the law-suit" (John Lynch, VTNA). Dass sich der Konflikt zwischen Lehre und Wirtschaft derart hochgeschaukelt hat, lag nach Lynchs Ansicht an der unangreifbaren Senderhoheit, welche die Handlungsfähigkeit von Bildungseinrichtungen stark eingeschränkt habe. Nicht allein verfügten die Fernsehveranstalter vor der Gesetzesnovellierung über die Kontrolle über das Copyright; ihre Machtposition sei zudem durch eine „absolute" Kontrolle über ihr Programmgut zementiert worden, weil allein die Sender aufgrund des Mitschneideverbotes als Archivierungsstellen von Programmmaterial in Frage kamen. Dass die Vertreter der republikanischen Partei des zurückgetretenen Präsidenten Richard Nixon die Einrichtung unabhängiger Archivstellen für die Sammlung von Fernsehnachrichtenprogrammen befürworteten und tatkräftig bei der Überarbeitung des Copyright Acts mithalfen, um eine öffentliche Kontrollmöglichkeit der Nachrichtenmedien zu installieren, passt also ebenso ins Bild wie die normative Forderung nach allgemeiner Zugänglichkeit eines so zentralen Dokumentationsbereichs der Zeitgeschichte: Der Konflikt, der aus der Unzeitmäßigkeit der Gesetzesregelungen resultierte, die nicht mit dem Medienwandel schritt gehalten hatte,

IV.2. Strukturelle Imperative der

Fernseherbe-Verwaltung

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war wurde zwar durch die politische Initiative scheinbar gelöst, doch die gegnerischen Parteien standen sich weiterhin uneinig gegenüber, wie Archivberater Sam Kula resümiert: „The lawyers looked at each other and they agreed to disagree, but nothing would happen, and the collection became the greatest collection of newsfilm in the United States" (vgl. auch Kapitel IV.2.5.4.). In seinem Buch „Inherent Vice", das sich ausgiebig mit der legislativen Auseinandersetzung um das Nachrichtenarchiv auseinandersetzt, kommt der Filmwissenschaftler Lucas Hilderbrand zu dem Schluss: „The VTNAs legal battle offered a preview of the conflict that would ensue a few years later in the Betamax case, as the studios' proprietary rights in TV programming clashed with questions of the viewing public s rights of access. [... ] As with the Supreme Court s decision of fair use in that case, copyright was expansively interpreted and revised to permit productive uses of videotape as an access format. The legistlation of Section 108, with its exception for libraries and archives to record the news off-air, and the copyright code's mandate in Appendix I for the creation of a national broadcast programming archive demonstrate that Congress used copyright as a means to permit public access and to preserve media" (Hilderbrand 2009: 154-155). Das kanadische Urheberrecht erlaubt die Aufzeichnung von Fernsehnachrichtenmaterial, nicht aber Dokumentationssendungen, durch Bildungsorganisationen sowie eine Vorführung zu Bildungszwecken bis zu einem Jahr nach dem Ausstrahlungstermin. Sämtliche andere Programmformate können ebenfalls aufgezeichnet und bis zu 30 Tage nach Ausstrahlungstermin vorgehalten werden, um über eine Nutzung für Unterrichtszwecke zu entscheiden, für die jedoch eine Gebühr anfällt, die beim Copyright Board of Canada, dem staatlich eingesetzten Urheberrechtsausschuss, beglichen werden muss. Wird die Aufzeichnung zudem länger vorgehalten und genutzt, werden ebenfalls Gebühren fällig (Copyright Act of Canada, Sections 29.6 - 29.9). Das Nationalarchiv dagegen ist befugt, jedweden Fernsehprogramminhalt aufzuzeichnen (Library and Archives of Canada Act, Section 11). Doch auch hier wurde bereits lange vor einer gesetzlichen Verankerung im Jahre 1989 ohne rechtliche Grundlage, jedoch mit dem Einverständnis der Fernsehveranstalter mitgeschnitten, wie vonseiten der Archiwerwaltung erklärt wird.29 Wie sich der ehemalige Leiter des National Film, TV and Sound Archive of Canada und nun selbständige Archivberater Sam Kula erinnert, begann die Aufzeichnungstätigkeit unter seiner Leitung bereits im Jahre 1973, dies habe sich aber über einen Zeitraum von 16 Jahren bis zur Legalisierung per Gesetz nicht zu einem juristischen Problem ausgewachsen, da das archivierte Material nicht kommerziell ausgewertet worden sei. Das deutsche Urheberrecht erlaubt über die private Erstellung von Programmmitschnitten hinaus auch die vergütungsfreien Aufzeichnungen durch beliebige öffentliche Träger für die wissenschaftliche Einzelnutzung (§ 53 UrhG). So dürfen auch Hochschulmediatheken jeglichen Programminhalt aufzeichnen, sofern es dem in ihrer Satzung 29

Schriftliche Stellungnahme von Richard Lochead, ehemaliger Leiter der Abteilung Film and Broadcasting Acquisition der National Archives of Canada, vom 7. Januar 2009 auf Anfrage des Autors.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

festgelegten wissenschaftlichen Sammlungszweck zugeordnet werden kann oder wenn der Mitschnitt von einem Wissenschaftler der Hochschule in Auftrag gegeben wird. Im konkreten Auftrag angefertigte, programmspezifische Aufzeichnungen dürfen jedoch an den Auftraggeber abgegeben werden, weil sie nicht dem spezifischen Sammlungsauftrag der universitären Einrichtung entsprechen müssen, sondern dem Forschungsinteresse des Auftraggebers gilt. Wenn dieser jedoch wiederum die Mediathek beauftragt, über die Dienstleistung des Mitschnitts hinaus auch für die Archivierung desselben zu sorgen, lastet die Verantwortung für den rechtmäßigen Umgang mit der Aufzeichnung bei der Sammelstelle, die sicherstellen muss, dass keine Weiterverbreitung, öffentliche Wiedergabe oder Zugänglichkeit erfolgen kann (vgl. Berger 2008: 52). Generell ist in Deutschland eine nicht ausdrücklich genehmigte Weitergabe von privat oder institutionell angefertigten Kopien strafbar (§ 106 UrhG). Die öffentliche Zugänglichmachung von Medienwerken ist generell vergütungspflichtig, es sei denn, es handelt sich um eine vom Urheber genehmigte Vorführung. Wie Wolfgang Ernst (HUB) kritisiert, fehlt dieser Regelung die nötige Trennschärfe, da vor allem im Falle von universitären Lehrveranstaltungen strittig ist, wann Fernsehaufzeichnungen eingesetzt werden dürften und wann nicht: So gelten Seminare wegen ihrer begrenzten und namentlich bekannten Teilnehmerschaft gemeinhin als unbedenklich, weil nicht-öffentlich, Vorlesungen jedoch durch ihre non-restriktiven offenen Teilnahmemöglichkeiten als ungeeignet für die freie Verwendung (§ 52a, Absatz 1 UrhG), jedoch besteht bereits Unklarheit durch die unterschiedlichen Definitionen an Hochschulen, welche Lehrveranstaltungen als Seminar und welche als Vorlesung klassifiziert werden. Für den Unterrichtsgebrauch in Schulen und Hochschulen dürfen generell nur kleine Sendungsbestandteile, das heißt in einer maximalen Länge von fünf Minuten, unentgeltlich vorgeführt werden. Hierfür existiert ein Gesamtvertrag zur Vergütung von Ansprüchen nach § 52a UrhG zwischen den Bundesländern, vertreten durch den Vorsitzenden der Kommission „Bilbiothekstantieme" der Kultusministerkonferenz, und den Verwertungsgesellschaften. Laut Gesetz dürfen Fernsehprogrammaufzeichnungen in größerem Umfang ohne Zustimmung des Urhebers vorgeführt werden, wenn es sich dabei um aktuelle Nachrichten und sonstige nonfiktionale Sendungen mit tagesrelevantem Inhalt handelt oder um tagesrelevante Reden von öffentlichem Interesse wie zum Beispiel Parlamentsdebatten (§§ 48-50 UrhG). Andere nicht-kommerzielle Einrichtungen wie Museen, die sich mit ihren Bildungsangeboten an eine allgemeine Öffentlichkeit richten, unterliegen grundsätzlich der Vergütungspflicht, sofern sie Fernsehsendungen zum Zwecke der Verwendung in ihren Ausstellungen oder anderweitigen inhäusigen Vorführungen aufzeichnen. Nichtsdestotrotz wurde es gemeinnützigen Archiven, Bibliotheken und Museen mit dem sogenannten Zweiten Korb der Urheberrechtsnovelle vom 1. Januar 2008 unter bestimmten Auflagen erlaubt, ihre Bestände eigenständig und ohne nochmalige Einholung einer Zustimmung des Rechteinhabers zu digitalisieren und in den eigenen Räumlichkeiten an elektronischen Lesen- bzw. Ansichtsplätzen für die private oder wissenschaftliche Nutzung zur Verfügung zu stellen.

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung 2.5.3. Unklarheiten im Umgang mit

89

Fernsehprogramm-Überlieferungen

Länderübergreifend lässt sich feststellen, dass juristische Einwände bei der Erstellung und Nutzung von Programmkopien immer dann laut werden, wenn Anlass, Umfang und Ziel der Aufzeichnung in ihrer Reichweite und in ihrer gewerblichen bzw. gemeinnützigen Natur nicht eindeutig klassifiziert werden können. Ursache hierfür sind meist fehlende vertragliche Vereinbarungen. Wird auf einen Vertrag gänzlich verzichtet, greift das Urheberrecht in ganzer Härte. Dennoch werden im Expertenkreis die gesetzlichen Regelungen als „not clear enough" (Daniel Berger, Museum of Broadcast Communication) bemängelt. Zu uneindeutig, so der Tenor der befragten Vertreter aus gemeinnützigen Kultureinrichtungen dies und jenseits des Atlantik, werde auf Gesetzesebene über die Rechtsanliegen von öffentlichen Fernseharchiven, Mediatheken und Museen entschieden. Doch auch vertragliche Übereinkünfte sind oft genug Stein des Anstoßes: Wird in einem Vertrag ein wesentlicher Aspekt der Verwendung ausgespart oder nicht ausreichend spezifiziert, scheiden sich im Nachhinein schnell die Geister. Besonders wenn eine kommerzielle Veröffentlichung anvisiert wird, bleibt letztlich nur die Möglichkeit eines vertraglichen Kompromisses, von dem im günstigsten Fall beide Seiten profitieren. Schwierig wird die Lage aber auch bei terminologischen Problemfällen, die nicht zwingend mit einer kommerziellen Verwertung eines Werkes verbunden sind: Wie BFIArchivar Steve Bryant feststellt, kann bereits die Frage zu unterschiedlichen Auslegungen führen, was genau unter „Archive Use" zu verstehen sei. Die zeitlich unspezifische Dimension der Archivierung macht eine prospektive Festlegung der Nutzungsformen für ein Archiv- oder Sammlungsstück tendenziell unmöglich, da nur schwerlich bestimmt werden kann, welche Zugangsanforderungen in unbestimmter Zukunft von Rechteinhabern, aber auch von Nutzern an die Überlieferungen gestellt werden. Das Urheberrecht war diesem Problem bisher nicht gewappnet: Der kulturellen Dominanz des Schrifttums verhaftet, warf es über Jahrzehnte hinweg bei der Anwendung auf den Schaffensbereich des Fernsehbetriebs etliche Fragen und Problemstellungen auf, für deren Beantwortung bzw. Lösung die gesetzlichen Reglements nicht ausreichten bzw. diese die widerstreitenden öffentlichen und privatwirtschaftlichen Interessen nicht zufriedenstellen konnten. Als frei empfangbares Medienangebot erscheint das Fernsehen oberflächlich als Allgemeingut, das, einmal ausgestrahlt, ebenso frei wiederverwendet werden kann. Dagegen stehen jedoch die Interessen der Verwertungsberechtigten, die Ansprüche auf eine angemessene Vergütung sowie die Entscheidungsbefugnis über den Zugang zu ihren Werken für sich erheben. Mittlerweile wurde der rasanten Medienentwicklung Rechnung getragen und die Urheberrechtsgesetze mehrheitlich angepasst. Bargen zum Zeitpunkt des Verwertungsvertrages unbekannte Nutzungsarten, wie sie beispielsweise durch das Internet erwachsen sind, erhöhtes Konfliktpotenzial zwischen dem Urheber und der jeweiligen Vertragspartei, welche in der Vergangenheit Nutzungsrechte erworben hatte, schaffen die novellierten Gesetze mehr Klarheit für beide Vertragsparteien. Zum einen wird der Vergütungsanspruch des Urhebers für neue Nutzungsarten erhärtet, zum anderen gibt es Fernsehveranstaltern die notwendige Rechtssicherheit, ihre Programminhal-

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IV. Status Quo und Perspektiven

der

Fernseherbe-Verwaltung

te zum Beispiel auch online anzubieten, wenn sie in ihre Produktionsverträge Klauseln über unbekannte Nutzungsarten einfügen und den Urheber zeitnah über die geplanten Verwertungsschritte informieren. Dies gilt indes nicht für Verträge ohne entsprechende Verfügungen. Selbige Neuerung trifft auf unabhängige Archive, Mediatheken und Museen zu, für die sich die Lage kaum ändert, da sie durch ihre gemeinnützige Orientierung zu Bildungszwecken überwiegend keine vertraglichen Vereinbarungen über unbekannte Nutzungsformen abschließen und ihr Material - ohne ein Entgelt dafür zu entrichten - nur inhäusig zur Verfügung stellen. Größtenteils verlassen und berufen sich solche Kultur- und Bildungseinrichtungen auf die Urheberrechtsschranke, welche es gemeinnützigen, nicht profitorientierten Institutionen erlaubt, für Bildungszwecke mit der ausdrücklichen Einbeziehung von Wissenschaftsprojekten Fernsehwerke in ihrem operativen Kontext zur Nutzung anzubieten. So ist es unter der US-amerikanischen Fair Use-Doktrin erlaubt, urheberechtlich geschützte Werke zum Zwecke der Kritik, Kommentierung, Berichterstattung, Lehre (inklusive Mehrfachkopien für Klassenbenutzung), Wissenschaft und Forschung zu benutzen (Copyright Law of the United States of America and Related Laws Contained in Title 17 of the United States Code, Section 107) - sofern damit keine kommerziellen Ziele verfolgt werden. Wichtige Einschränkungen sind hierbei, dass eine Kopie des Werkes nur dann in einer wie auch immer gearteten Form veröffentlicht werden darf, wenn es sich nicht um substanzielle Teile des Originals handelt und damit nicht dessen potenzielle Vermarktung beeinträchtigt wird (Wilson 2005: 68). Daher kann aufgrund der unspezifischen gesetzlichen Schrankenregelungen in der Regel nicht eindeutig bestimmt werden, ob die Fair Use-Regelung bei der Benutzung von urheberrechtlich geschützten Werken zum Tragen kommt oder nicht. Eine Einzelfallprüfung ist nach Angaben des US-amerikanischen Copyright Office notwendig und rät zu einer Verständigung zwischen Nutzern und Rechteinhabern oder im Zweifelsfall zum Verzicht auf eine Vervielfältigung (US Copyright Office 2006). Die kanadische Fair Dealing-Doktrin ist in der Frage des Anspruches auf Vervielfältigung und Nutzung seitens der Allgemeinheit eindeutiger: „The fair dealing exception, like other exceptions in the Copyright Act, is a user's right" (CCH Canadian Ltd. v. Law Society of Upper Canada 2004). Der Gebrauch für „Research and private study", „Criticism and review" sowie „News reporting" gilt als wesentlicher Bestandteil des kanadischen Urheberrechtsgesetzes, ist aber ebenfalls hinsichtlich der Menge, des Umfangs und des tatsächlichen Zwecks der Vervielfältigung Einschränkungen unterworfen (Canadian Copyright Act, R.S.C. 1985, c. C-42). Ob eine Kopienanfertigung also tatsächlich als fair bezeichnet werden kann, ist in jedem Einzelfall von einer Vielzahl von Umständen abhängig. So wohlmeinend das Fair Use-Prinzip dem Dienste an der allgemeinen Öffentlichkeit verpflichtet ist und den hohen Wert von geschützten Werken für Bildungszwecke betont, so angreifbar sind die tatsächlichen Nutzungsanliegen, die sich auf die Gesetzesschranke berufen: Wie weit das Reglement greift, ist unklar und beschwört besonders bei der

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kreativen Wiederverwendung konfligierende Auffassungen herauf, die nicht selten vor Gericht entschieden werden müssen. Letztlich ist das Vertrauen auf die Geltung des Fair Use ein riskantes Unterfangen, so dass es sich gemeinnützige Einrichtungen im Zweifelsfall kaum leisten können, ihre Ansprüche durchzusetzen: „The costs of negotiating the legal rights for the creative reuse of content are astronomically high. These costs mirror the costs with fair use: You either pay a lawyer to defend your fair use rights or pay a lawyer to track down permissions so you don't have to rely upon fair use rights. Either way, the creative process is a process of paying lawyers—again a privilege, or perhaps a curse, reserved for the few" (Lessig 2004: 107). Die Zurückhaltung gemeinnütziger Einrichtungen beim Umgang mit dem Fernseherbe wird durch sogenannte „Copyright Horror Stories" noch verstärkt, die sich zwar nicht hauptsächlich im Fernsehgeschäft, aber in medienverwandten Märkten zugetragen haben (vgl. Boynton 2004; Vaidhyanathan 2004). Milliardenklagen, wie sie im Falle des Rechtsstreits zwischen dem Medienkonzern Viacom und der vom Internet-Konzern Google betriebenen Internet-Plattform „YouTube" Aufmerksamkeit erregten, vermitteln eine unmissverständliche Botschaft: Unautorisierte Nutzungen von Fernsehmaterialien sind kein Kavaliersdelikt, nicht von Privatnutzern und schon gar nicht von Institutionen. Handelt es sich beim genannten Konflikt um eine juristische Auseinandersetzung, bei der Fragen der unrechtmäßigen Veröffentlichung privater Kopien sowie vor allem die Vorteilnahme eines Internet-Konzern im Online-Anzeigengeschäft im Vordergrund stehen, ist der Fall bei gemeinnützigen Archiven, Bibliotheken oder Museen, die ihre Sammlungen aus humanistischen Gründen einem größeren Nutzerkreis zugänglich machen wollen, nur scheinbar anders gelagert: Da ein juristisches Vorgehen der Fernsehwirtschaft gegen nicht explizit genehmigte Nutzungsarten nicht ausgeschlossen werden kann, wähnen sich Kultur- und Bildungsorganisationen in einer vertrackten Lage, die den Einsatz televisueller Überlieferungen erheblich beschränkt. 2.5.4. Die drei Imperative der televisuellen Unwissenheit, Verwirrung, Angst

Kulturerbe-Verwaltung:

Obgleich nur eine gewissenhafte Prüfung des Verwendungszwecks vor hohen Schadensersatzforderungen schützen kann, wirft diese wiederum häufig eine Vielzahl von Problemen auf, welche die Möglichkeiten der betreffenden Nutzungsinteressenten übersteigen. Nicht ohne Grund, so meint der Kultur- und Medienwissenschaftler Henry Jenkins vom Massachusetts Institute of Technology, gebe es nur wenige gemeinnützige Archive, die sich nicht nur der Bewahrung des Fernseherbes verschreiben, sondern auch aktiv die Zugänglichkeit protegieren. Der Aufwand, der für die notwendige Klärung aller involvierten Rechte betrieben werden muss, ist in vielen Fällen schlichtweg zu hoch. Howard Besser, Professor für Moving Image Archiving & Preservation an der Tisch School of Arts der New York University, führt als Beispiel für die zahlreichen Hürden die

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Fernsehdokumentation „Eyes on the Prize" an: Die bei Historikern und Bildungseinrichtungen als Meilenstein geltende Serie über die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung konnte seit Anfang der 1990er Jahre erst nach aufwendiger Rechteklärung 13 Jahre später und nur einmalig erneut im laufenden Fernsehprogramm ausgestrahlt werden. Eine Wiederveröffentlichung der vollständigen Reihe auf dem regulären Heimvideomarkt steht nach der schnell vergriffenen Erstveröffentlichung einer VHS-Video-Ausgabe aufgrund langwieriger und kostenaufwendiger Rechteabgeltungen für einzelne Bestandteile noch aus. Die außerordentliche Bedeutung der Produktion für die historische Bildung einer ganzen Nation wurde hier aufgrund der gesetzlichen Urheberrechtsbestimmungen zum nachrangigen Kriterium; vielmehr wurde dem Mehrteiler seine inhaltliche und handwerkliche Komplexität mit unzähligen Ausschnitten von Musikstücken zum Verhängnis, da diese zu der unvorteilhaften Situation führten, dass es sich die Produktionsgesellschaft ursprünglich nur leisten konnte, Nutzungslizenzen der einzelnen Songs für einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum von wenigen Jahren zu erwerben. Für eine erneute Ausstrahlung der 14-teiligen und 14-stündigen Reihe mussten in einem auf mehrere Jahre angelegten Klärungsprozess die Lizenzen neu verhandelt und die Rechteinhaber für die wiederholte einmalige Veröffentlichung im laufenden Programm bezahlt werden, was finanzielle Schwierigkeiten aufwarf und nur durch die Förderung zweier Stiftungen mit Mitteln in Höhe von 850.000 US-Dollar gelang (Everhard 2006; vgl. auch Epstein 2006). Solche eher prominenten Problemfälle machen auf ein Dilemma aufmerksam, dass auch vielen öffentlichen Archiven, Bibliotheken und Museen Sorgen bereitet: Der Zugang zum Fernseherbe wird trotz vorhandenen Materials durch eine oftmals konfuse Rechtesituation versperrt, in die nur mit erheblichem Aufwand Licht und Klarheit gebracht werden kann. Ein Übriges verursachen die teils hohen Vergütungsansprüche der Rechteinhaber, welche die Lizenzkosten nach eigenen Vorstellungen festlegen können. Während der Expertengespräche bestätigte sich der allgemeine Unmut darüber, dass es keine gesonderte Liste oder Datenbank gibt, welche die Rechteinhaber von Fernsehproduktionen aufführt (vgl. auch Lessig 2004: 222). Howard Besser kritisiert in diesem Zusammenhang, dass Werke dadurch oftmals unnötig verwaisten und ihre Verwalter in einer unsicheren Schwebeposition ließen: „The public archives that actually hold copies of these things, usually don't have the rights to distribute them. These rights are held by the production company, and often that production company was sold to another company and it becomes almost impossible to find out who owns the rights now" (Howard Besser, NYU). Etwas klarer ist die Rechtslage in Bezug auf das abgeschlossene Fernsehprogrammerbe der DDR, das von der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv verwaltet wird. Das DRA verfügt durch die staatlich-autoritäre Senderstruktur des Deutschen Fernseh-Funks, welche sicherstellte, dass ein Großteil der Urheberrechte auf den DFF überging, weitestgehend über detaillierte Angaben zu den Rechteverhältnissen. Doch wie DRA-Vorstand HansGerhard Stülb und Fernsehforscher Thomas Beutelschmidt einräumen, gibt es auch hier Sonderfälle, die aufwendige Recherchen mit unsicherem Ergebnis erforderlich machen:

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„Es gab natürlich immer wieder Sonderverträge: Sonderverträge für größere Autoren oder Regisseure, die dann noch mal für die Zweitausstrahlung ein Honorar bekamen. Im Prinzip waren das aber alles Angestellte, entweder bei der Defa oder beim Fernsehen. Da ist also die Rechtelage insofern einfacher, dass damit meist alles abgegolten war. Das ist die Regel. Aber außerhalb der Regel, und das war so oft der Fall, gab es Sonderregelungen, und mit denen haben wir heute zu kämpfen" (Thomas Beutelschmidt, HUB). Können die Rechteinhaber gänzlich oder auch nur zum Teil nicht ermittelt werden, um sie um ihre Erlaubnis zur Verwendung ihres Werkes bzw. Werkbestandteils zu ersuchen und etwaige Vergütungsansprüche zu prüfen, gilt die betreffende Fernsehproduktion als verwaist und muss so lange einer Nutzung vorenthalten werden, bis etwaige Rechte vollständig geklärt sind. Jedwede Nutzung ist in diesem Fall also unter Umständen illegal. Da es sich in solchen Fällen in der Regel um frühe Überlieferungen handelt, die einen hohen historischen Wert besitzen, trifft dies vor allem Einrichtungen, die sich einem gemeinnützigen Bildungsziel verschrieben haben, und beschränkt sie in ihrem Dienst an der Allgemeinheit. Lösungsvorschläge gibt es viele: die Erweiterung kollektiver Lizenzen zur pauschalen Abgeltung auch unbekannter Rechte über Verwertungsgesellschaften, die Einrichtung eines Urheberausschusses wie des Copyright Boards in Kanada, der Lizenzen für verwaiste Werke ausstellt, die Gewährung einer Haftungsbeschränkung bei Nachweis einer angemessen sorgfältigen, aber erfolglosen Recherche wie im Falle des US-amerikanischen Orphan Works Act von 2006 bis hin zu gesetzlichen Ausnahmen zur Verwendung verwaister Werke oder Versicherungsmodellen, welche Garantien und Sicherheiten anbieten für den Fall, dass ein Rechtsinhaber nicht ermittelt werden kann und den Nutzer vor Haftungsansprüchen schützt (vgl. die Aufstellung bei Gompel 2007). Die verbleibenden Unwägbarkeiten hinsichtlich der zukünftigen Rechtsentwicklung und Klagemöglichkeiten seitens potenziell auftauchender Rechteinhaber stellen die denkbaren und zum Teil bereits implementierten Vorkehrungen in Frage, auch durch die unzureichende Sicherstellung, dass die Rechteinhaber wiederum nicht einfach entmündigt werden dürfen durch einen letzten Endes streitbaren Nachweis einer „größtmöglichen Anstrengung" (vgl. ebd.: 7) bei den vom Nutzungsinteressenten durchgeführten Recherchen. Außerdem bleibt weiterhin die Hürde hoher Kostenaufwendungen für die Durchführung und den lückenlosen Nachweis der Suche nach möglichen Rechteinhabern. Fernsehwissenschaftler Robert Thompson von der Syracuse University attestiert dem Archiv- und Museumsfeld angesichts der diesbezüglich ungewissen Rechtssituation eine tiefgreifende Ratlosigkeit: ,,[N]obody is quite sure what they can do and what they cant do." Nach Ansicht von Kultur- und Medienwissenschaftler Henry Jenkins vom Massachusetts Institute of Technology operiere das televisuelle Cultural Heritage Management in einer Atmosphäre der Angst. Kein Archivar oder Kurator könne sich gänzlich sicher sein, welches Material er aus seiner Sammlung welchen Nutzern ohne Umschweife zur Verfügung stellen dürfe:

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IV. Status Quo und Perspektiven der

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„The problem of intellectual property works against shared resources. Because for many things museums have it is not clear if they have the rights to have it although they might have the right to exhibit it and make it available quietly to scholars without pushing attention of the right holders on it" (Henry Jenkins, MIT). Geschürt wird die Unsicherheit ob einer fehlenden Rechtssicherheit durch latente Animositäten seitens der Privatwirtschaft, die den Eindruck zu erhärten sucht, audiovisuelle Medienproduktionen unterlägen besonders scharf reglementierten Nutzungsrechten. Dies führt teilweise bis hin zur Negation der bestehenden Gesetzeslage: Vertreter des Networks CBS werden nicht müde, auch 30 Jahre nach Inkrafttreten der gesetzlich verbrieften Erlaubnis zum Mitschneiden von Nachrichtenprogrammen durch öffentliche Bildungseinrichtungen wie dem Vanderbilt Television News Archive eben dieser Aufzeichnungspraxis die Rechtmäßigkeit abzusprechen: „They say they make it available for educational purposes, but they are still stealing copyrighted material. [...] It's not a danger, but it's still our material. Even if they don't get profit out of it, it is possible that they get profit out of it. Nor should they be able to archive our material. [... ] I don't know whether or not we will go after them in the future, but we are not happy with what they do" (Roy Carubia, CBS). Eine solche Form von strategischer Piratisierung durch die Fernsehindustrie stellt jedweden unautorisierten Umgang mit Fernsehmaterial bar jeder juristischen Grundlage unter Generalverdacht - mit grenzüberschreitender Wirkung. Unsicherheit macht sich vor allem bei gemeinnützigen Kulturinstituten bemerkbar mit der Hoffnung, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Es währt die Furcht, entdeckt zu werden. Wer nachfragt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit abgestraft und gerät in Rechtfertigungsdruck. Noch im günstigsten Fall fällt ein hoher Verwaltungsaufwand an, der einhergehen kann mit Nutzungseinschränkungen oder sogar Entschädigungsforderungen: „That becomes a real cattle fish", sagt Chuck Howell von der Library of American Broadcasting. Viele Mitschnitt-Sammlungen wie solche in Hochschulmediatheken bzw. sogenannten universitären Medienzentren bewegen sich ohnehin schon in einer rechtlichen Grauzone, zumal wenn sie wie bei vielen Sammlungsstellen, die in den vergangenen Jahrzehnten als angegliederte Abteilung von Universitätsfachbereichen oder -instituten entstanden, über keine eigene Satzung verfügen, welche die Sammlung von Medienwerken einem klaren Ziel unterstellt. Zwei Problemfragen betreffen die zulässige Dauer der Archivierung von Auftragsaufzeichnungen von Fernsehprogramm-Material, die in der Praxis in den seltensten Fällen klar bestimmt werden kann, weil oft nicht verfolgt wird, wann das betreffende Forschungsprojekt vom Auftraggeber abgeschlossen wurde, woraufhin eine Löschung des Mitschnitts veranlasst werden müsste, sowie die Unsicherheit über die eigenständige Anfertigung breiter Aufzeichnungen zur Erstellung eines temporären Programmfundus, aus dem die wissenschaftlichen Nutzer dann nachträglich selbständig auswählen können. Weitere Probleme betreffen die Reglementierung des Nutzerkreises sowie die Zulässigkeit der Ausleihe für campusinterne Zwecke. Hier gilt zumeist die Bedarfsregel: Was Lehrbeauftragte erbitten, wird nach Möglichkeit bereitgestellt (vgl. auch Schmitt 2004).

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Fernseherbe-Verwaltung

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Die Ungewissheit betrifft dabei nicht nur Programmmaterial, sondern auch Kontextdokumente wie zum Beispiel Werbemittel oder Fotos, die von Sammelstellen nicht ohne Einwilligung des Rechteinhabers verbreitet werden dürfen. Aber auch private Nachlässe sind im juristischen Sinne oft ein Fass ohne Boden: Augenscheinlich ein Geschenk aus persönlichem Besitz und daher problemlos übereignungsfähig, stellt sich oftmals erst später heraus, dass nicht alles, was der prominente Fernsehakteur im Laufe seiner Karriere zusammengetragen oder selbst produziert hat, auch tatsächlich ihm gehört. Unter diesem Blickwinkel ist es grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen, wenn Sammlungen von Fernsehmitschnitten oder selbst Masterbändern bzw. Filmrollen von Fernsehsendungen die Besitzer wechseln, da die Weitergabe von derlei Materialien in der Regel nicht zulässig ist. Das Recht, ursprünglich kommerzielle Veröffentlichungen wie Kaufvideos oder DVDs zu verschenken oder wieder zu veräußern, bleibt davon unberührt. Für die betroffene Einrichtung kann sich in dem geschilderten Grenzfall einer Nachlassspende, die sich durch die Seltenheit und teilweise auch Singularität ihrer Sammlungsstücke auszeichnet, jegliche Hoffnung auf die Möglichkeit zerschlagen, das Material über die Bildungsarbeit hinaus für Re-Finanzierungszwecke zu verwerten, wie Chuck Howell am Beispiel des Showmasters Arthur Godfrey schildert: ,,[A]s with the Arthur Godfrey-Collection who was a very important radio/TV-personality in the US in the 1950s - he was as big as Oprah in his own way - but he worked his entire career with CBS. Now we got a whole bunch of programming with the collection, and it was a gift from the Godfrey-estate, they gave us whatever right Godfrey had. But after further investigation we found out that he didn't really own the program, CBS did. He was an employee for hire. So we are back to square one. We haven't been able to do as much as with that collection as we would have liked to as far as exploiting it for a little bit of financial gain" (Chuck Howell, LAB). Unabhängige Institutionen zur Bewahrung und Präsentation von Kulturgut verfügen häufig nicht über eine eigene Rechteabteilung und sind angewiesen auf Drittmittel, um sich bei der Akquise und der Zugänglichmachung von audiovisuellen Überlieferungen rechtlich abzusichern und ihren demokratischen, kulturbewahrenden Auftrag wahrzunehmen. Der Vorsitzende der Peabody-Awards und Fernsehwissenschaftler Horace Newcomb weist darauf hin, dass die vertragliche Vielfalt und die Vergütungsvorstellungen einzelner Rechteinhaber sich zu einem zentralen Hindernis ausgewachsen hätten: „In fact the main problem is about the professional guilds, the unions. The writers have a contract, the musicians have a contract, and the musicians are the worst. To play 30 seconds of a piece you have to pay enormous amounts of money. So is it worth effort and time to do that when we know that we would need a full time legal department to handle the right issues" (Horace Newcomb, UG). Das Chicagoer Museum of Broadcast Communications erhielt beispielsweise eine Beihilfe von der Fernsehunternehmerin und -moderatorin Oprah Winfrey für die Klärung der Rechte an Programmmaterial für eine Ausstellung über die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Doch Luftsprünge, das stellt Museumsarchivar Daniel Berger klar,

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sind trotz solcher Subventionierungen bei der Vergütung der Rechteinhaber so gut wie ausgeschlossen. Die durch die urheberrechtliche Entwicklung aufgeworfenen Probleme in der Kulturarbeit sind also zuallererst auf ein informationelles Defizit zurückzuführen, das strukturelle Ursachen hat: Die staatsferne, dezentrale Rundfunkorganisation in Nordamerika und Deutschland hat die Sende- und Archiwerantwortlichkeit in die Hände der Fernsehveranstalter gelegt, was eine übergreifende Erfassung der mit den einzelnen Produktionen verbundenen Rechte in einem Zentralregister ausschließt. Die Ergebnisse der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung durchgeführten Expertengespräche liefern jedoch Hinweise darauf, dass bei den mit der Verwaltung des Fernseherbes befassten Stellen eine verbreitete Unwissenheit über die gesetzlichen Vorschriften und Ausnahmen grassiert, die zum Teil einer (intentionalen) Desinformationspolitik kommerzieller Entitäten unterliegt und offenbar darauf abzielt, den unautorisierten Gebrauch von Fernsehüberlieferungen zu verhindern. Hinzu kommen große Lücken in der Dokumentation von Rechteinhabern, Rechteübertragungen und Rechteablaufs. Clearing-Stellen, die diesbezüglich eindeutig Aufschluss geben könnten, fehlen beinahe gänzlich. Nur das Deutsche Rundfunkarchiv kann für sich behaupten, einen umfangreichen Datenpool zum Fernseherbe der DDR vorzuweisen. Umso größer sind die Anforderungen an die Rechteermittlung und -erfassung in den Archiven der Fernsehveranstalter, welche zumindest beim zukünftigen Umgang mit Fernsehüberlieferungen eine Datengrundlage schaffen können. Zwar verstehen sich einige der befragten Archiwerantwortlichen in den Sendeunternehmen nicht nur als Produktionseinheit, die Material zur Verfügung stellt, sondern auch als „passthrough" (Glenn Clatworthy, PBS Archive), als Verweisstelle bzw. „Informationsdienstleister" (Susanne Betzel, RTL Programmarchiv). Die Archivabteilungen in den Sendern erfassen in Zusammenarbeit mit den Redaktionen und Rechtsabteilungen die für den Sendebetrieb notwendigen Rechteinformationen in einer Datenbank und verwalten die Angaben im Hinblick auf zukünftige Nutzung im laufenden Programm: Sollten die Sendelizenzen beschränkt sein, wird dies vermerkt. „Wenn die Redaktion aber gleich sagt, dass es ihr egal ist, welche Rechte möglicherweise auf dem Material liegen, weil es schnell gehen muss, dann übernimmt diese Redaktion auch die vollständige Verantwortung, wenn sie es sich anschauen und wieder verwenden", erläutert Mardiros Tavit vom DokuCenter der Sendergruppe ProSiebenSat. 1 die Verantwortlichkeit hinsichtlich von möglichen Rechtsverstößen im Programmbetrieb. Frank Hippeli, Leiter des Nachrichtenarchivs von RTL, kritisiert in diesem Zusammenhäng die fehlende Sensibilität hinsichtlich der Rechtslage, die selbst in den Sendern selbst weit verbreitet sei: „Es kommt immer wieder vor, dass langjährige Redakteure hier im Haus Ausschnitte dieser Sendung verwenden, obwohl eigentlich jedem klar sein müsste, dass RTL keinerlei Rechte mehr daran hat. Doch das Material ist im Umlauf, und über die Servertechnologie hat jeder Redakteur Zugriff auf sämtliches Material und wenn er nicht auf die Rechteangaben achtet und einfach denkt: „Tutti Frutti' ist RTL', dann haben

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wir schon wieder ein Problem. RTL hat auch lang genug die Fußball Champions League übertragen, doch wir dürfen das Material nicht mehr lizenzfrei verwenden. Und obwohl Wimbledon und Boris Beckers Sieg auch RTL-Geschichte ist, dürfen wir da nicht mehr ran" (Frank Hippeli, RTL). Zwar hat sich bei vielen Fernsehveranstaltern ein Bewusstsein für den gestiegenen Wert von Archivmaterial entwickelt, was sich nicht zuletzt am regen Lizenzhandel und der Vermarktung von bestimmten Fernsehproduktionen auf dem Privatverbrauchermarkt nachvollziehen lässt und Hoffnungen macht auf eine gewissenhaftere Pflege von Rechteinformationen generell. Gegenläufige Aussagen wie jene von Ruta Abolins von den Walter J. Brown Media Archives & Peabody Awards Collection über eine eklatante Gleichgültigkeit einiger Lokalsender gegenüber ihren Archivbeständen jedoch zeichnen eine Kluft beim Bewahrungs- und Schutzbewusstsein im Fernsehbetrieb, die kaum zu bemessen ist, auch weil sich mancherorts wiederum erhebliche Handlungsspielräume in der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Einrichtungen und Fernsehsendern auf lokaler Ebene auftun, wie Bruce DuMont, Gründer und Präsident des Museum of Broadcast Communications, berichtet. 2.5.5. Änderungsbedarf

in der Rechtspraxis nach

Expertenmeinung

Die auf der einen Seite strikte Verfolgung von sowie Drohungen vor Rechtsverstößen einerseits und andererseits das ausbleibende Vorgehen beispielsweise gegen umfangreiche, juristisch fragliche Mediensammlungen an Universitäten, lässt die Ambivalenz im Spannungsfeld von Rechtslage und Ahndungspraxis erkennen. Die damit zusammenhängende latente Unklarheit betrifft die Grundfesten der Verwaltung des audiovisuellen Kulturerbes: Das Sammeln, die Bewahrung und den Zugang von Fernsehüberlieferungen. Mit dem fortschreitenden Medienwandel hin zu einer Digitalisierung des gesamten massenmedialen Angebotsspektrums mit den nach sich ziehenden Umbrüchen im Mediennutzungsverhalten ganzer Generationen wollen auch im Umgang mit dem Fernseherbe neue Wege beschritten werden, doch beklagen Experten wie John Lynch, dass noch zu viele Stolpersteine unter anderem den virtuellen Zugang zu Sammlungen über das Internet verhindern: „I think it ought to be, the networks think it ought not to be. And the lawyers aren't sure. The truth is when I loan the tape there is probably more danger that it is copied and missused than if I stream it online. But the numeric possibilities are higher with streaming and that is what the networks react to opposed to the quality possibilities that are much higher on the loan, because the loan-copy will be of a better quality than the Real Media stream. [... ] The problem of copyright is unsolved" (John Lynch, VTNA). Mark Quigley vom UCLA Film & Television Archive und Museumsleiter Bruce DuMont sind sich einig darin, dass Fernsehsendungen nicht nur bewahrt werden müssen, sondern auch weiterhin gesehen werden wollen. DuMont bringt die entsprechende Philo-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

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sophie auf die griffige Formel: „Preservation without presentation is a waste of time and money". Nach selbiger agieren auch die Sender, die ihre Produktionsarchive als wertvolle Verwaltungseinheit verstehen, doch, so die Befürchtung einer Gesprächspartner, die darin enthaltenen Assets nur so lange aufbewahren, wie sie Profite versprechen. Gleichzeitig wird eine Langzeitarchivierung in unabhängigen Institutionen durch eine verlängerte Geltungsdauer des Urheberrechtsschutzes behindert, wie Quigley kritisiert, da es sich die meisten solcher Einrichtungen erst leisten können, in die Bewahrung von Fernsehsendungen zu investieren, wenn sie sich in der Public Domain befinden, also gemeinfrei sind, und daher ohne weitere Beschränkungen vermarktet werden können sowie zur ReFinanzierung der Einrichtung beitragen. Dieses Vorgehen wird jedoch durch die Geltungsdauer des Copyrights, die seit Mitte der 1970er Jahre bereits zweimal verlängert wurde, nahezu unmöglich gemacht: Galten seit 1976 noch die Schutzfristen von 50 Jahren nach Tod des Urhebers bzw. 75 Jahre nach Entstehung eines Werkes, dessen Urheberrechte einem Unternehmen zugeordnet werden, verlängerte sie der Copyright Extension Act von 1998 auf 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers bzw. im Falle der unternehmerischen Urheberschaft auf 120 Jahre nach Entstehung des Werkes oder 95 Jahre nach seiner Veröffentlichung, je nachdem welcher Zeitpunkt früher eintritt. Die Schutzdauer für Werke, die vor Jahresbeginn 1978 entstanden, wurde dabei generell auf 95 Jahre nach ihrer Publizierung festgelegt. In Deutschland beträgt die Frist 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers, und in Kanada gilt eine nur 50-jährige Schutzfrist, nach der ein urheberrechtlich geschütztes Werk gemeinfrei wird und ohne Auflagen veröffentlicht werden darf. Fernsehwerke stellen diesbezüglich ohnehin einen Sonderfall dar, weil das Medium noch vergleichsweise jung ist: So wird es noch Jahrzehnte dauern, bis frühe Nachkriegssendungen automatisch in die Public Domain übergehen werden. Der unabhängige Kultursektor wird also weiterhin, zumal auch im internationalen Feld, von der diffusen Rechteproblematik betroffen sein. Auch wenn sich ein Sendervertreter, namentlich Olaf Moschner aus dem RTL-Nachrichtenarchiv, für eine positivistische Sichtweise auf die Rechterestriktionen von Fernsehproduktionen ausspricht und sich überzeugt zeigt, dass Sendungen sich dadurch ihren Marktwert erhalten, sind sich die übrigen befragten Experten aus dem gemeinnützigen Kultur- und Bildungssektor weitgehend darin einig, dass das kommerzielle Argument nicht die vorhandenen Beschränkungen aufwiegen kann: ,,[I]ts very discouraging to discover that because there is so much money involved in selling these images, people are becoming very greedy and locking up the material they have the rights for", fasst Archivar Sam Kula die Bedenken in Worte. Einige Gesprächspartner wie Dietmar Preißler vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kritisieren die Auslegung der gesetzlichen Schutzgründe: „Das Urheberrecht ist, wie es zurzeit ist, ein Urheberschutzrecht und erleichtert nicht die Arbeit von Gedächtnisorganisationen." Peter Paul Kubitz von der Stiftung Deutsche Kinemathek geht noch weiter und spricht von einer Störung der gesellschaftlichen Erinnerung durch die Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen von Rechteinhabern, welche Nutzeranfragen teils mit horrenden Vergütungsforderungen erwidern:

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„Das ist eine massive Gedächtnisstörung, weil das ist quasi mit dem kommerziellen Presslufthammer auf den Kieselstein gesetzt. Das ist absurd. [...] Wahrscheinlich ist das der pragmatische Weg, dass man sich mit den betreffenden Rechteinhabern in Verbindung setzt und sie davon überzeugt, dass es so nicht geht. Oder man muss es früher oder später doch zum Politikum machen" (Peter Paul Kubitz, DK). Der Ruf nach einer medienpolitischen Lösung wurde in den Expertengesprächen häufiger laut: Die Ansicht jedoch, dass zumindest der Gebührenzahler in Deutschland einen rechtlichen Anspruch auf die Zugänglichkeit von Fernsehprogramm nach seiner Ausstrahlung zu habe, wurde mehrfach zurückgewiesen (u.a. Michael Harms, SWR; Heiko Kröger, NDR; Bettina Hasselbring, BR). Vielmehr müsse auf ein moralisches Recht abgestellt werden, meint Medienwissenschaftler Wolfang Ernst von der Humboldt Universität zu Berlin. Der Vorteil hierbei wäre zweifellos, dass ein Bewusstsein bei allen beteiligten Rechtsparteien, einschließlich der potenziellen Nutzer in der breiten Bevölkerung, geschaffen werden könnte, für die zum Teil schon alten neuen Medien Fernsehen, Film, Musik und Radio sowie auch das Internet eine ähnliche Wertschätzung und Anspruchshaltung hinsichtlich der Verfügbarkeit ihrer archivierten Inhalte zu entwickeln, wie sie bereits die Buchkultur genießt. Für audiovisuelle Medien, so formuliert es der US-amerikanische Rechtsgelehrte Lawrence Lessig pointiert, seien Bibliotheken mit Kaufhäusern ersetzt worden, die nur das bereithielten, was auf einem bestimmten begrenzten Markt nachgefragt wird: „Beyond that, culture disappears" (Lessig 2004: 113). Wie in Kapitel IV.3.3. untersucht wird, ist diese Schlussfolgerung zwar in ihrer Pauschalität überspitzt, aber in ihrer kritischen Nuancierung durchaus zutreffend; tatsächlich sind die Diskrepanzen zwischen den urheberrechtlichen Beschränkungen für audiovisuelle Produktionen und jenen von Verlagsveröffentlichungen wie Büchern, Zeitungen und Zeitschriften vor allem im Leihverkehr enorm. Einen radikalen Ansatz zur Reformierung des Urheberrechts hat sich die sogenannte „Free Culture'-Bewegung verschrieben (u.a. Lessig 2004; Lemley 2005). Ihre Argumente für einen Abbau von Restriktionen und eine Ausweitung der genehmigungsfreien Nutzungsmöglichkeiten sprechen sich nicht gegen das Urheberrecht per se aus, sondern für eine „Rehabilitation" und „Rehumanisierung" (vgl. Vaidhyanathan 2001: 254). Sie gründen sich unter anderem auf das Ideal der Aufklärung und den Bedarf an Medienkompetenz bzw. an Verständnis für die Grammatik der Medien. Hinzu komme ein immenser Nachholbedarf, was das Verständnis für die kulturelle Signifikanz von Werken und ihrer Einsatzmöglichkeiten für das Wohl der Allgemeinheit betreffe, die selbst von ihren Urheber meist nicht erkannt würden (vgl. Lemley 2004: 9: 42). Die in universitären Sphären beheimatete Bewegung fordert ein Umdenken in der Gesetzgebung und Rechtssprechung hin zu einer Phasenregelung, welche eine kommerzielle und eine nicht-kommerzielle Phase für ein kreatives Werk festlege und den nicht-profitorientierten Umgang mit derlei Werken vereinfache (vgl. Lessig 2004: 227). Eine Fernsehproduktion bekäme nach diesem Konzept also nach ihrer kommerziellen Auswertung ein „Afterlife" gewährt, in dem sie zum Beispiel von öffentlichen Einrichtungen zu nicht-kommerziellen Zwecken

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verwandt werden könnte, ohne teure Lizenzen erwerben zu müssen. Ähnlich programmatisch appelliert Vaidhyanathan für ein .dünnes' Urheberrecht, „just strong enough to encourage and reward aspiring artists, writers, musicians, and entrepreneurs, yet porous enough to allow full and rich democratic speech and the free flow of information" (Vaidhyanathan 2001: 5). Mit Blick auf die Ergebnisse der Expertenbefragung lässt sich indes feststellen, dass die Gemeinschaft der Gedächtnisinstitutionen ähnlich konkrete Konzepte vermissen und es bei Appellen beruhen lässt. Anders als noch Anfang der 1970er Jahre, als die Library of Congress den Vorstoß des kleinen Nachrichtenarchivs an der Vanderbilt University im tiefen amerikanischen Süden zu unterstützen bereit war und damit einen wesentlichen Beitrag zur Novellierung des Urheberrechtsgesetzes leistete, ist eine solche Allianz heute undenkbar. Angesprochen auf die Aussichten einer Ausweitung der Zugangsmöglichkeiten weiter Sammlungsbereiche für die allgemeine Öffentlichkeit entgegnet Library of Congress-Abteilungsleiter Mike Mashon: „The way actually to do that would be to change to copyright law itself. [...] The Library of Congress tries not to be directly involved in those discussions about copyright." Es bleibt also bei moralischen Appellen: Es laufe etwas falsch in der Welt, wenn etwas einfach durch restriktiven Gebrauch aus dem Gedächtnis verschwinde, meint Archivleiter John Lynch. Und Michael Harms vom SWR hält es allenfalls für praktikabel, die Rechteinhaber direkt zu überzeugen: „Erinnert euch an eure Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. Das schränkt eure Rechte ein, und das muss es auch." Damit solch ein Aufruf erhört wird, setzt ein verlässliches System zur Bewahrung und Präsentation, durchaus auch zur Zelebrierung des Fernseherbes voraus. Dies war die längste Zeit der Fernsehgeschichte nicht vorhanden und hat, wie das Beispiel der „Deutschen Mediathek" zeigt, auch in der jüngsten Vergangenheit Schwierigkeiten, eine intakte Infrastruktur zu bieten. Diese zu errichten, wurde und wird erheblich durch juristische Scharmützel und die nach sich ziehende Zurückhaltung unabhängiger Kulturinstitute behindert. Dass Dan Einstein vom UCLA Film & Television Archive als Verantwortlicher für die Bewahrung von Fernsehprogramm-Material im weltgrößten Archiv für Film und Fernsehen einräumen muss, dass seine Einrichtung und damit auch seine kulturelle Dienstleistung nicht erst bei weiten Teilen der allgemeinen Öffentlichkeit, sondern auch in akademischen Kreisen erstaunlich unbekannt ist, mag auch auf die rechtlichen Grundstrukturen bei der Verwaltung des Fernseherbes zurückzuführen sein. Nach Ansicht einiger betroffener Experten gilt es, weiterhin viel Aufwand und Mühe auf die Stärkung von Institutionsprofilen zu verwenden, um sich wie beim Erfolgsmodell des Paley Centers for Media die Akzeptanz und wohlwollende Unterstützung der Fernsehindustrie und vieler individueller Rechteinhaber zu erarbeiten. Kurator Ron Simon und Sammlungskoordinator Paul Gibbons vom Paley Center führen ihre exzeptionelle Stellung im audiovisuellen Kulturbetrieb zumindest darauf zurück, dass sie verstärkt seit dem Tod ihres Gründers William S. Paley auf öffentliche Programme wie Festivals gesetzt haben, wo Industrie und allgemeine Öffentlichkeit gleichermaßen engagiert wurden, kombiniert mit

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einer rigiden, vertrauensfördernden Schutzpolitik für die archivierten Sendungen, die das Museumsgebäude nicht verlassen dürfen. Nur mit einem starken Image, so pflichtet Bruce DuMont bei, könne es einer Einrichtung gelingen, Rechteinhaber zu überzeugen, dass es eine Ehre sei, dass ihre Werke für Bildungszwecke eingesetzt würden. Doch bis auf die beiden prominenten Ausnahmen des Paley Centers for Media und des Museum of Broadcast Communications beklagen alle befragten Archive, Mediatheken und Museen wenig hoffnungsfroh die Limitationen durch die strenge Rechtelage, selbst die Moving Image and Sound Division der Library of Congress fühlt sich in ihren Möglichkeiten stark eingeschränkt. Ein weiterer Ausweg für die prekäre Situation wird in vertraglichen Regelungen zur pauschalen Rechteabgeltung gesehen, wenn diese auch wiederum eigenen Probleme wie eingeschränkte Nutzungsmöglichkeiten und Beschränkungen in der Auswahl des Programmmaterials nach sich ziehen. Favorisiert wird eine Kombinationslösung aus Pauschalverträgen mit den Verwertungsgesellschaften und individuellen Abkommen mit Rechteinhabern, die ihre Rechte selbst verwerten. Nur auf diese Weise kann beispielsweise eine deutsche Einrichtung sicherstellen, auch US-Fernsehprogramm-Material in ihre Sammlung aufzunehmen, ohne Regressforderungen zu provozieren. Durch den traditionell starken Einfluss von US-Produktionen auf den deutschen Programmmarkt ist auch das Archivinteresse groß, stellen diese Sendungen doch ebenso einen Sozialisierungsfaktor und Kristallisationspunkte für die Erinnerung der Zuschauer dar wie nationale Produktionen. Für den Normalbürger wird es wahrscheinlich zwar kaum begreiflich sein, weshalb Fernsehepisoden der „Augsburger Puppenkiste" bei der Sammlungsakquise anders zu behandeln sind als solche der „Biene Maja", mit der ebenso Generationen von jungen Fernsehzuschauern in Deutschland aufgewachsen sind. Doch da es sich bei Letzterer um eine Produktion des tschechischen Fernsehens handelt, erfordert sie separate Verhandlungen und eine individuelle Vergütung. Bisher gibt es also keine Alternative zu den hohen finanziellen, personellen und arbeitstechnischen Anforderungen bei der Rechteklärung von internationalen Fernsehüberlieferungen. Nichtsdestotrotz glauben SWR-Archivleiter Michael Harms und auch Thorsten Schilling vom Berliner Medienzentrum der Bundeszentrale für politische Bildung beobachten zu können, dass sich die Situation bereits bessere: ,,[D]ie Sender bewegen sich zurzeit extrem zumindest in ihren Absichtserklärungen", sagt Schilling. Der juristische Bremsklotz schleife sich ab, meint Harms, der bis spätestens 2020 erwartet, dass „wir [...] eine völlig andere Situation haben, eine Umwelt, die das begünstigt, was heute in den Archiven verschlossen ist, nach außen hin zugänglich macht." Bis dahin wird ein Königsweg zu finden sein müssen, der die berechtigten kommerziellen Verwertungsinteressen von Rechteinhabern und die Ansprüche der allgemeinen Öffentlichkeit in der apostrophierten Medien- und Informationsgesellschaft nach einem breiten und nach Möglichkeit ungehinderten Zugang zum Fernseherbe miteinander vereinbart. Die bisherige Entwicklung hat gezeigt, dass die Rechtsfrage schnell zum Zünglein an der Waage werden kann, weil sie vor allem finanzielle Konsequenzen hat, welche für gemeinnützige Kultureinrichtungen

102

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

eine kaum zu bewältigende Belastung darstellen. Im folgenden Kapitel wird deshalb auf die finanziellen Implikationen beim Betrieb und der Existenzsicherung von archivischen und musealen Einrichtungen mit televisuellem Bias eingegangen.

2.6.

Finanzierungsmodelle

und

Förderstrukturen

Worauf bereits die Auseinandersetzungen um die Aufbringung des Finanzrahmens sowie die spezifische Budgetierung des Projektes „Deutsche Mediathek" haben schließen lassen, ist der Finanzmittelbedarf im Sektor der Fernseherbe-Verwaltung enorm, wie sich zuletzt auch an den Rekordaufwendungen für die Neueröffnung der US-amerikanischen Museumseinrichtung Newseum mit Gesamtkosten von über 450 Mio. US-Dollar gezeigt hat (vgl. auch Montgomery 2008), wo das Fernsehen eine herausgehobene Stellung einnimmt (vgl. IV.4.3.1.4.). Das Medium Fernsehen stellt besondere Anforderungen an die Bewahrung und Präsentation seiner archivierten Inhalte, was die Eintrittshürden für Anstrengungen dieser Art erhöht, da die technischen, aber auch administrativen Voraussetzungen wie im Fall von Rechteverhandlungen erhebliche Investitionen notwendig machen. Während es für Institutionen und Privatsammler mit verhältnismäßig geringer Finanzausstattung machbar ist, ein Schriftgutarchiv anzulegen und die Einhaltung bestimmter klimatischer und organisatorischer Voraussetzungen für die Langzeitarchivierung der Archivalien zu gewährleisten oder aber ein Museum zu betreiben, das sich einer Objektart oder einem historischen Thema zum Beispiel von lokalem Interesse widmet, erfordern die Überlieferungen audiovisueller Medien weitaus mehr fachliche Kenntnisse sowie spezifischere technische und personelle, also umfangreiche finanzielle Vorkehrungen, die nicht ohne Weiteres von jedermann aufgebracht werden können (vgl. auch Kapitel IV.3.2.). 2.6.1. Irreal oder Potenzial: Wunsch und Wirklichkeit bei der Finanzierung televisuellen Gedächtnisinstitutionen

von

Generell sind Archiv-, aber vor allem auch Museumsplanungen häufig gekennzeichnet von einer gewissen Ahnungslosigkeit, was die finanziellen Notwendigkeiten und Erfolgschancen betrifft, die mit einer solchen Einrichtung einhergehen, wie Museumsberater Barry Lord beobachtet hat: ,,[T]hey are usually fairly unrealistic of the financial implications of what they are getting into. Usually they are very concerned that they think that they can somehow break even or that they can make money with their museums. And then we have to break their heart and tell them that's not true" (Barry Lord, LCR). Dass die Verwaltung des Kulturerbes im Allgemeinen und des Fernseherbes im Besonderen hohe Investitionen erfordern bei zum Teil - unter anderem aufgrund der Urheberrechtssituation - nur geringen Re-Finanzierungsaussichten, macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass Engagements in diesem Sektor einen langen Atem und breit

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

103

aufgestellte Finanzierungskonzepte erfordern. Je nach institutionellem Typus kommen verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten in Frage: Programmmaterial wird in der Regel dort archivisch erfasst, wo es für eine spätere Nutzung in Betracht kommt. Dies betrifft in erster Linie wirtschaftliche Entitäten wie vorrangig die Sendeunternehmen, aber auch die senderunabhängigen Produktionsgesellschaften, welche darüber hinaus auch Verwaltungsdokumente und sonstige Unterlagen, die mit der Produktion und dem Sendebetrieb anfallen, verwahren, sowie private Sammler, welche rechtmäßige Besitzer von Fernsehüberlieferungen sind und diese bewahren und einer Verwertung zuführen. Weiterhin finden sich Archivstellen für Fernsehmaterial in gemeinnützigen Institutionen, die entweder rechtlich oder vertraglich zur Archivierung legitimiert sind wie zum Beispiel universitäre Einrichtungen, Bibliotheken oder Museen, die in der Regel selbst keine Akteure der Fernsehindustrie sind. Auch Vereine spielen hierbei eine Rolle Das Gros der Fernseharchive operiert in Form von Abteilungen, eingebunden in die hierarchischen Organisationsstrukturen der Fernsehveranstalter, sowie als Geschäftszweig von Produktionsfirmen. Hier ist die Bewahrung des Fernseherbes nicht selten den wirtschaftlichen Zwängen und der unternehmerischen Logik unterworfen. Archive entwickelten sich von Resteverwaltern zu Profit Centern, teils sogar organisiert als separates Unternehmen. Durch die endarchivische Kompetenz, welche die Sender in Deutschland und Nordamerika für sich beanspruchen können, ist das Schicksal von Fernsehüberlieferungen zahlreichen Unwägbarkeiten unterworfen, welche die Budgetierung von Archivaktivitäten zur schwerwiegenden Entscheidung über Erinnern und Vergessen avancieren lässt: Die wirtschaftliche Lage entscheidet hierbei nicht allein über das Wohl und Wehe von Produktions- bzw. Sendeleistung, sondern auch über die Verlässlichkeit der Archivierung. So schwer ökonomische Krisen Fernsehveranstalter und Zulieferer treffen, so seiden ist auch der Faden, an dem das Fernseherbe hängt (vgl. Kapitel IV.3.2.1.) Glaubt man der Mehrheit der befragten Experten, fristen die Archive selbst in vielen renommierten Fernsehorganisationen, aber auch bei Produktionsgesellschaften ein Schattendasein und haben mit latentem Ressourcenmangel zu kämpfen. Nach Ansicht von Joel Kanoff (ABC) hätten es die Fernsehveranstalter verpasst, schon frühzeitig das wirtschaftliche Potenzial ihrer Archivbestände zu erkennen und ihre Geschäftsstrategien daraufhin auszurichten. Schwere Wirtschaftslagen in jüngster Vergangenheit, schlussfolgert Kanoff, machten die mittlerweile spürbaren Positivtendenzen im Archivbewusstsein der Sendeunternehmen zunichte, weil diese insgesamt den Gürtel enger schnallen müssten. Die Folge ist eine fortgesetzte pathologische Finanzknappheit, die gravierende Auswirkungen auf den Umgang mit Archivalien hat. Die Situation der geschäftlichen Archivzweige wird trotz des steigenden Werts von bereits ausgestrahlten Sendungen für die Wiederverwertung als desolat bezeichnet: „Archives are drastically underfunded. Even in the commercial companies you have the problem that although the archives are now kind of a revenue source, there is not enough money for preservation" (Jane Johnson, LC). Laut Kathy Christensen (CNN) und Geoffrey Hopkinson (CBC) reichen selbst die Einkünfte aus der lukrativen Lizensierung von Archivmaterial an außerhäusige Produ-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

zenten und andere Sender nicht aus, um alle Kosten des Archivs zu decken. Die Subventionierung des Archivbetriebs durch das Sendeunternehmen verursacht einen ständigen Konflikt zwischen archivischer Notwendigkeit und den Zuteilungsprioritäten der Unternehmensleitungen. Archiv-Manager Roy Carubia (CBS) verweist in diesem Zusammenhang kritisch auf die Kurzsichtigkeit des Sendebetriebs, der einer Bewahrung des Programmaufkommens oft keinen hohen Stellenwert einräume: „Budget is of course always a problem for us - and space. Very little money is always provided for the archives. We have to fight for our space, and it is always a constant battle. It is unfortunate that they didn't realize that this is a documentation of history and they should provide more resources for it" (Roy Carubia, CBS). Eine ähnliche Haltung beklagen auch deutsche Fernseharchivare wie Mardiros Tavit von ProSiebenSat. 1, der allerdings anführt, dass die Geschäftsleitung der Sendergruppe schnell habe einsehen müssen, dass die tägliche Sendeproduktion ohne Archivmaterial nicht auskomme und „man schon förmlich bestraft wurde, dass man es nicht gemacht hat, also das Archiv nicht von Anfang an mit eingebunden hat". Trotzdem stehe das Archiv in den meisten Fällen weiterhin hintenan, wenn es um Verteilungsmodalitäten gehe, vermutlich auch, wie Dina Gunderson (CNN) bemerkt, weil das Archiv zwar am laufenden Programm Anteil habe, sich dieser aber kaum quantifizieren lasse. Auch werde am Archiv, so Tavit, als erstes gespart, sollte der Kostendruck zu stark ansteigen. Größtenteils herrscht bei den betroffenen Fachleuten im Befragtenkreis angesichts der in ihren Augen ohnehin schon allzu geringen, jedoch immer knapper werdenden Mittel Pragmatismus vor: So wird auch von angemessener Ausstattung und vom „Mut zur Lücke" nach Anweisung der Geschäftsleitung gesprochen (Frank Hippeli, RTL). An anderer Stelle wird auf den Widerstreit unterschiedlicher Geschäftsfelder innerhalb komplexer Medienkonzerne verwiesen (Daniel Berger, MBC), welche fast zwangsläufig - so eine mögliche Folgerung - eine Marginalisierung der Fernseharchive zur Folge (gehabt) haben. Etwas anders gelagert ist die Situation der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland: Die Grundfinanzierung der Archivoperationen von ARD und ZDF sowie seit Übernahme der DFF-Archivbestände durch das DRA auch die Überlieferungen des DDR-Fernsehens kann durch die Mittel aus den gesetzlich vorgeschriebenen und durch die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) festgelegten Rundfunkgebühren als gesichert gelten,30 wobei die Fokussierung der KEFVerteilungspraxis auf die Erweiterung des Programmauftrages aus der endarchivischen und kulturhistorischen im Gegensatz zur produktionsorientierte Perspektive Grund zur Kritik bietet, weil dadurch die retrospektive Archivarbeit vernachlässig werden könnte (vgl. Hempel 1997: 80). Auch das öffentliche Fernsehen in den USA (PBS) und Kanada (CBC) kann im Vergleich dazu auf wenn auch nur geringe staatliche Subventionen 30

Beispielsweise wurden im Zeitraum 2001-2004 der ARD insgesamt 50 Mio. Euro an Ausgaben aus Gebührenmitteln für die Digitalisierung der Archive sowie dem ZDF insgesamt 6,6 Mio. Euro von der KEF anerkannt (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten 2003: 91).

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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vertrauen, die jedoch für sich allein genommen das Risiko einer nur unzureichenden Mittelausstattung für die Archivarbeit bergen und durch zusätzliche Mittelbeschaffungen ergänzt werden müssen.31 Anders als kommerzielle Sender sind diese Fernsehanstalten nur eingeschränkt den realwirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen ausgesetzt bzw. ausgeliefert und können ihre Archive weitgehend unabhängig vom Geschäftserfolg des Gesamtunternehmens betreiben. Dennoch sind die Mittel auch hier teilweise äußerst beschränkt, so dass bestimmte Projekte nur in Zusammenarbeit mit anderen Stellen umgesetzt werden können. So verfügt das Archiv von PBS ausschließlich über einen Verwaltungsetat und nicht über ein gesondertes Budget für konkrete Archivoperationen: „The budget funds the facility. Into a certain extent it funds us as the administrative arm of it. It is not money for restoration and so any conversions are going to be done at the expense of whatever outside party is interested in getting the work done" (Glenn Clatworthy, PBS). Besonders in solchen Fällen hängt der Umfang von konkreten Bewahrungsanstrengungen direkt ab von der wirtschaftlichen Leistungskraft und der insofern relationierten Förderungsbereitschaft externer Akteure. Die Qualität der Archivtätigkeit wird damit tendenziell an die allgemeine Wirtschaftslage gekoppelt. Aber auch prinzipiell gilt: Sofern der Träger einer archivischen, bibliothekarischen oder musealen Einrichtung von krisenhaften Entwicklungen betroffen ist, können sich diese auch direkt auf die Qualität der Archivierung auswirken, wie es vor allem bei privaten Sammlern der Fall sein dürfte, die in Finanznot geraten. Dass es diesen qualitativen Zusammenhang mit wirtschaftlichen Determinanten gibt, zeigte auch der Fall des Newseum, das bereits ein halbes Jahr nach Betriebsbeginn in seinem neuen Gebäude an der Pennsylvania Avenue in Washington, D.C. Rationalisierungsmaßnahmen über sich ergehen lassen musste, weil der Betreiber, die Stiftung Freedom Forum, starke Verluste am Aktienmarkt hatte verkraften müssen (vgl. Trescott 2008b). Gemeinnützige Institutionen sind in verstärktem Maße anfällig für solche Einschnitte, da sie bei ihrer Arbeit auf Drittmittel angewiesen sind und im Regelfall keine bis wenig eigene Einkünfte erzielen können bzw. dürfen. Universitätsarchive, öffentliche oder private Mediatheken sowie Museen sind also in besonders starker Weise auf Fremdförderung angewiesen. Ihr Aufgabenspektrum ist daher abhängig von den jeweiligen Möglichkeiten, die Außenwelt für die Dringlichkeit ihrer Tätigkeit zu überzeugen und Gelder zu akquirieren. Selbst nationale Größen wie die Library of Congress oder das British Film Institute können diesem Abhängigkeitsprinzip unterliegen, wie Steve Bryant am Beispiel des BFI erläutert: ,,[T]he TV work in the archive is nearly all externally funded. And there was always a kind of philosophy that we are doing the TV work because we can get the money for it, whereas film work is what we really do. So there is still a residual attitude - 1 don't want to downgrade my work, but it makes it quite harder" (Steve Bryant, BFI).

31

In Deutschland wird die Deutsche Welle mit Steuergeldern finanziert. Dieses staatliche Engagement stellt im Rundfunkbereich aber eine Ausnahme dar.

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

An Universitäten zeigt sich trotz allgemeiner Mittelknappheit mancherorts ein gegenteiliges Bild, wie Ruta Abolins (WBMA & PAC) bemerkt: Zwar kürze die Hochschule seit Jahren die Etats der einzelnen Fakultäten und Verwaltungsabteilungen, das Archivbudget sei davon indes nicht betroffen gewesen. Gleichwohl ist jenes mit 51.000 US-Dollar pro Jahr von vornherein deutlich geringer bemessen als die Millionenbeträge, welche für die Archivaktivitäten bei einem national oder gar international operierenden Fernsehveranstalter anfallen.32 Universitätsarchive bzw. Mediatheken oder Museen, die von Hochschulen getragen werden, sind zunächst einmal ihrer Bildungsaufgabe verpflichtet, welche sie vor allem mit Blick auf ihre studentische und professorale Klientel vor Ort zu erfüllen sucht. Sie sind eingebunden in die Mittelzuweisung durch die Rektorate und können - wie im Fall des Vanderbilt Television News Archive - durch die Berechnung von Dienstleistungsgebühren an die universitären, aber auch auswärtigen Nutzer ihren Etat aufstocken. Bei hinreichender Integration der Einrichtung in den Lehrbetrieb ist das Universitätsmodell als solide Finanzierungsgrundlage anzusehen und verspricht gewinnbringende Synergien mit der Wissenschaft, die sich auch in unentgeltlicher Arbeitsleistung auszahlen kann. Dennoch sind die bezeichneten Institute häufig angewiesen auf zusätzliche Fördermittel, um beispielsweise bestimmte außerplanmäßige Projekte umzusetzen, welche die regelmäßigen Ausgabensummen überschreiten. Am schwierigsten haben es indes Vereine, die sich hauptsächlich aus Mitgliedsgebühren finanzieren müssen, welche aber in der Regel nicht ausreichen, um ein tragendes Finanzierungsmodell für die Gründung oder den Betrieb einer entsprechenden Einrichtung zu implementieren. Nichtsdestotrotz stellen gemeinnützige Zweckverbände in Form von Fördervereinen ein wichtiges Standbein für die Mittelbeschaffung allgemein sowie für die Bezuschussung und ehrenamtliche Organisation von bestimmten Dienstleistungen und Veranstaltungen im Speziellen dar. Die allgemeine Finanzsituation der Fernseharchivierung liefert Hinweise darauf, dass das Fernseherbe über kommerziell verwertbare Produktionen hinaus in der Wertschätzung der verantwortlichen Veranstalter offenbar nie einen Budgetlevel erreichen konnte, der aus Sicht von Fachleuten notwendig wäre, um auf breiter Basis eine einwandfreie Dokumentation des Sendebetriebs zu gewährleisten. Die ungenügende finanzielle Infrastruktur hat dazu geführt, dass Wunsch und Wirklichkeit im Archivalltag weit auseinander liegen. Auch wenn archivierte Programmproduktionen vermehrt als Anlage bzw. Aktivposten begriffen werden, trägt dies nicht konsequenterweise zur Stärkung des Fernseherbes als öffentliches Kulturgut bei, sondern festigt allenfalls seinen Charakter als konjunkturell bewertetes Konsumgut. Wachsende Wirtschaftsinteressen hatten bereits

32

Beispielhaft seien hier die Jahresetats des Deutschen Rundfunkarchivs und des Geschäftsbereichs Archiv-Bibliothek-Dokumentation des ZDF angeführt. Das DRA verfügt nach Auskunft von Vorstand Hans-Gerhard Stülb im Schnitt über einen jährlichen Gesamtetat von elf bis zwölf Mio. Euro (Stand: Dezember 2008), beim ZDF waren es im Jahr 2008 nach Auskunft von Archivleiter Axel Bundenthal sogar 19,9 Mio. Euro. Allein das ZDF-Programmarchiv verzeichnete dabei in 2008 Gesamtaufwendungen von 7,78 Mio. Euro.

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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starke rechtliche Einschränkungen beim allgemeinen Umgang mit Überlieferungen in der Öffentlichkeit zur Folge und betreffen daher auch konkret die finanziellen Implikationen und ergo den Umfang des Engagements von gemeinnützigen Einrichtungen zur Sicherung und Präsentation des Fernseherbes. Einen Kompromiss zwischen den beiden unvereinbar erscheinenden Zielvorgaben vonseiten der Wirtschaft und des Staates bzw. öffentlicher Bildungsinstitute bietet sich mit dem Finanzierungsmodell der Public-Private Partnership an. Hierbei handelt es sich um eine Teilprivatisierung staatlicher bzw. öffentlicher Aufgaben durch die Einbeziehung von privatwirtschaftlichem Kapital: ,,[P]ublic-private partnerships are agreed, cooperative ventures that involve at least one public and one private-sector institution as partners" (Carroll/Steane 2000: 37). Die Partner-Konstellation beschränkt sich dabei nicht allein auf kommerziellen Zielen verpflichtete Unternehmen und staatliche Organe, sondern beziehen sich auf jegliche öffentliche, auch öffentlich-rechtliche Organisation. Der Vorteil einer solchen Kooperation liegt vor allem in der Teilung von Kosten, aber auch in einer besseren Konkurrenzfähigkeit aufgrund der einbezogenen öffentlichen Gelder sowie der Beschleunigung administrativer Entscheidungsprozesse (Klijn/Teisman 2000: 91). Durch den Einsatz von Steuergeldern oder Rundfunkgebühren steht bei öffentlichprivaten Partnerschaftsabkommen die Orientierung des jeweiligen Projektes am Gemeinwohl im Vordergrund (vgl. The National Council for Public-Private Partnerships ο.J.; Heinze 2005: 64). Im Idealfall sind Chancen und Risiken zu gleichen Gewichtungen auf die Partner verteilt. Das Modell bietet sich vor allem für Einrichtungen an, die durch schmale Etats und geringfügige Re-Finanzierungspotenziale die Zusammenarbeit z.B. mit der Sendewirtschaft stärken und in gemeinsamen Projekten konkretisieren können. Ein existentielles Problem aller gemeinnützigen Einrichtungen besteht in den nur äußerst eingeschränkten Möglichkeiten zur selbständigen Erwirtschaftungen von Erlösen zur Re-Finanzierung. Für Gedächtnisinstitutionen mit einem televisuellen Interessensschwerpunkt bieten sich maßgeblich drei Möglichkeiten, um die anfallenden Kosten aufzufangen: - Einnahmen aus Eintrittsgeldern - Einnahmen aus der Produktion und Lizensierung eigenen Materials - Einnahmen aus der Vermarktung von gesammeltem (Fremd-) Material Jede dieser möglichen Erlösquellen ist abhängig von mehreren Variablen und ist nicht universell von allen Einrichtungstypen einsetzbar. So ist die Höhe der Erlöse aus dem Verkauf von Einlasstickets nicht selten verbunden mit dem jeweiligen Standort, dem touristischen Umfeld und allen voran mit dem Attraktionspotenzial des Angebots in der Einrichtung selbst. Während in jüngerer Vergangenheit Museen und Großausstellungen in den Metropolen Nordamerikas und Europas mit speziellen Events Besucherrekorde erzielten und hierbei von den Vorteilen urbaner Ballungsräume wie auch einer optimierten Verkehrsanbindung, dem Vorhandensein einer kulturellen Infrastruktur und einer dementsprechenden medialen Aufmerksamkeit profitieren konnten, haben vor allem

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

solche Institutionen mit dieser Re-Finanzierungsoption Schwierigkeiten, die ihre Aufgabe nicht im inszenatorischen Geschick sehen, sondern in der Kulturgutpflege. Zwar erheben auch Archive und Bibliotheken üblicherweise Nutzungsgebühren beispielsweise in Form von kostenpflichtigen Mitgliedschaften oder Verwaltungsvorgängen. Zwar steht auch ihnen die Möglichkeit offen, sich durch die Veranstaltung von Ausstellungen der musealen Arbeit anzunähern. Doch können sie durch ihre hauptsächlich auf eine wissenschaftliche Klientel ausgerichteten Angebote nicht mit Institutionen konkurrieren, die ein dezidiert breites Publikum ansprechen. Welche hohe Bedeutung der Tourismusfaktor für die Einnahmen aus dem Publikumsverkehr hat, zeigt sich beispielhaft an den Nöten des Paley Center for Media in New York, das einer starken Konkurrenz auf dem Freizeitmarkt ausgesetzt ist: „We are competing with the iPod-Store and the Sony Wonder up the block", erklärt Dale Zaklad aus der Bildungsabteilung des Museums, und ihre Kollegin Rebekka Fisk ergänzt: „That is hands-on and much more fun." Die Vermarktung eigener Produktionen bleibt vorrangig den Senderarchiven überlassen, die über einen konstanten Zufluss an Programmmaterial verfügen und eng mit den Lizenzabteilungen ihres Sendeunternehmens zusammenarbeiten, um über den internen Bedarf hinaus auch externe Anfragen zu bedienen. Demgegenüber haben gemeinnützige Einrichtungen wie vorrangig Museen die Möglichkeit, eigene Veranstaltungen medial festzuhalten und sie bei entsprechendem Interesse seitens des Publikums als Video, DVD oder Internet-Download zu vertreiben (vgl. Kapitel IV.4.2.6.). Besonders problematisch ist die dritte und letztgenannte Einnahmequelle, die den kostenpflichtigen Vertrieb von Material betrifft, das nicht originär ein Produkt der kreativen Arbeit der jeweiligen Institution ist, sondern von ihr bloß gesammelt wird. Die Rechtslage verbietet es, ohne eine vertragliche Vereinbarung mit den Inhabern der Urheber- und verwandten Leistungsschutzrechte einen direkten geldwerten Nutzen aus Fernseharchivalien zu ziehen. Gemeinnützige Archive können hingegen all solche Archivalien vermarkten, deren Rechte abgelaufen sind oder auf sie übertragen wurden. Letzteres dürfte vorrangig im Falle von direkten Materialspenden seitens des Urhebers eines Werkes der Fall sein, der selbst kein Interesse an einer kommerziellen Verwertung (mehr) hat, es aber dennoch bewahrt sehen und das Engagement des Archivs unterstützen möchte, indem er einer institutionellen Vermarktung zustimmt. Dies indes ist nach den Ergebnissen der Expertengespräche eher eine seltene Ausnahme als der Regelfall. Jegliche Veröffentlichung bedarf einer Genehmigung seitens der Rechteinhaber, sei es zu kommerziellen Zwecken, um direkte Einnahmen daraus zu erwirtschaften, oder als kostenlose Werbemaßnahme, um Interesse für die betreffende Einrichtung zu wecken und Besucher anzuziehen. Durch die Schwierigkeiten und den extraordinären Aufwand bei der Suche nach verschollenen Rechteinhabern setzen sich manche Akteure jedoch über die gesetzlichen Bestimmungen hinweg und veröffentlichen Material ohne rechtliche Absicherung. Ein prominentes Beispiel ist das Unternehmen Video Resources des Fernsehautors und Regisseurs Ira Gallen in New York. Gallen trug eine Privatsammlung von circa 10.000 frühen Werbespots, Variete Shows und anderen Programmrelikten aus

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IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

dem Goldenen Zeitalter des US-amerikanischen Fernsehens zusammen und hat im Jahre 2007 damit begonnen, etliche Stunden des Fernsehprogramm-Materials im Rahmen seines Projektes „TVdays" zum freien Abruf ins Internet zu stellen, auch um damit auf sich und seine Bestände aufmerksam zu machen und es an Unternehmen zum Beispiel für die erneute Verwendung im Sendebetrieb zu lizensieren. Pro Werbeclip berechnet Gallen etwa 2.500 bis 3.000 US-Dollar, indes ohne eine Genehmigung der schwer ausfindig zu machenden Rechteinhaber einzuholen oder einen Teil seines Umsatzes an diese abzuführen (vgl. Sarno 2007). Ein solch riskantes Vorgehen wird in der Gemeinschaft der gemeinnützigen Gedächtnisinstitutionen grundsätzlich abgelehnt, da die Gefahr, wegen eines Verstoßes gegen geltendes Urheberrecht verklagt zu werden, unkalkulierbar hoch eingeschätzt wird. 2.6.2. Förderungskultur/Kulturförderung: 2.6.2.1.

Quellen

finanzieller

Unterstützung

Staatliche Hilfen

Die Kulturförderung ist ein klassisches Betätigungsfeld des Staates: Ohne Steuermittel wäre unter anderem die Erhaltung des UNESCO-Weltkulturerbes in über 150 Staaten33 nicht denkbar. Ende des Jahres 2008 schüttete die deutsche Bundesregierung 150 Mio. Euro für Instandhaltungs- und Wiederinstandsetzungsarbeiten an 33 UNESCO-Welterbestätten aus, damit diese innerhalb eines Vierjahreszeitraums in neuem Glanz erstrahlen können (Bundesregierung 2008). Wohlweislich handelt es sich hierbei vorrangig um architektonische Gebilde, Landschaftsformationen oder ganze Altstädte. Das Weltdokumentenerbe wird von den Vereinten Nationen gesondert erfasst, selektiert und protegiert, blendet aber den Schaffensbereich des Fernsehens zumindest in Bezug auf Deutschland und Nordamerika vollständig aus, was zwangsläufig verheerende Auswirkungen hat auf das politische und allgemeine öffentliche Bewusstsein für die Probleme und Anforderungen bei der Langzeitsicherung televisueller Produktionen sowie die Bereitschaft, sich für ihren Erhalt finanziell zu engagieren. Staatliche Stellen treten in Deutschland aufgrund der Staatsferne des Rundfunks nur äußerst zurückhaltend als Förderer des Fernseherbes auf. Auf Bundesebene wird dahingehenden Forderungen zudem mit dem Verweis auf die Kulturhoheit der Länderregierungen begegnet. Mit Steuergeldern, über deren Höhe der Bundestag entscheidet, wird ausschließlich der Auslandssender Deutsche Welle finanziert. Obgleich mit dem sogenannten Hauptstadtvertrag die Trägerschaft für die Stiftung Deutsche Kinemathek in die Verantwortlichkeit des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) übertragen wurde und er die Berliner Einrichtung seitdem jährlich leicht steigend mit etwa 7,7 Mio. Euro ausstattet,34 ist die Finanzierung der Fernsehabteilung des Museums 33 34

Stand: August 2010 (UNESCO World Heritage 2010). Die Mittelzuteilung stieg von 6,5 Mio. Euro für das Haushaltsjahr 2005 auf ca. 8,34 Mio. Euro in 2010 (Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien 2005; Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien 2010).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

für Film und Fernsehen hiervon ausgeklammert und in ihrem Fortbestehen gebunden an privatwirtschaftlich bereitgestellte Mittel. Wurde die Zurückhaltung des Bundes, aber auch des Landes Berlin bereits während der Auseinandersetzungen um die Gründung der „Deutschen Mediathek" zum Stein des Anstoßes, gelten Steuergelder in Nordamerika als selbstverständliche Finanzierungsquelle öffentlicher Fernsehsender und ihrer Archivaktivitäten. Die Corporation of Public Broadcasting (CPB), die seit ihrer Gründung im Jahre 1967 als zentrale Regenschirmorganisation für die Finanzierung des öffentlichen Rundfunks in den USA fungiert, erhielt im Jahr 2010 420 Mio. US-Dollar an staatlicher Unterstützung, die zu 89 Prozent als Beihilfen an den öffentliche Rundfunk verteilt wurden. In 2007 erhielten 350 Lokalsender über 200 Mio. US-Dollar, weitere knapp 71 Mio. US-Dollar fungierten als konkrete Subventionen für die Programmproduktion (Corporation for Public Broadcasting 2010). Die kanadische CBC erhielt für ihren Rundfunkbetrieb im Zeitraum 2006-2007 insgesamt 974 Mio. kanadische Dollar (CBC/Radio-Canada 2007: 61). Die staatliche Direktförderung von konkreten Bewahrungsprojekten im Fernsehbereich wird in den USA aber in den meisten Fällen über die Library of Congress abgewickelt, welche unter anderem mit dem „National Digital Information Infrastructure and Preservation Program" (NDIIPP) einzelne nicht-kommerzielle Fernsehsender mit Summen in Millionenhöhe bei der Bewahrung von digitalen Programminhalten und programmbegleitenden Internet-Inhalten unterstützte (vg. Eggerton 2004; Anonym 2005; LeFurgy 2005). Solchen bundesweiten Förderprogrammen stehen Einzelabkommen zwischen gemeinnützigen Einrichtungen und lokalpolitischen bzw. bundesstaatlichen Gremien gegenüber, welche den Vorteil einer passgerechten und zeitökonomisch effektiven Förderregelung aufweisen, die zudem im Bedarfsfall auf regionaler Ebene flexibler gestaltet werden kann. Demungeachtet kann eine solche Finanzierungslösung auch existentielle Probleme für die Antragsteller aufwerfen, zumal wenn sie auf langfristigen Vereinbarungen basiert und einmal getätigte Förderungszusagen später nicht mehr eingehalten werden wie im Fall des Museum of Broadcast Communications. Dieses hatte den Neubau eines eigenen Museumsgebäudes in der Chicagoer Innenstadt maßgeblich an die Unterstützung des Staates Illinois geknüpft, der den Kauf des Grundstücks ermöglicht und weitere acht Mio. US-Dollar für die Fertigstellung des Museums in Aussicht gestellt hatte. Nach einer zweijährigen Wartezeit, in der die Baugesellschaft ihre Arbeiten aufgrund ausbleibender Zahlungen einstellte (vgl. Manor 2008; Baeb 2008), wartete Museumsleiter Bruce DuMont noch immer auf die versprochenen Mittel und sah sich zwischenzeitlich im Dezember 2008 nicht mehr in der Lage, die baldige Eröffnung des Museums zuzusichern.35

35

In einem Statement nahm DuMont die Verhaftung des Gouverneurs von Illinois Rod Blagojevich, dem schwerer Amtsmissbrauch und Untreue zur Last gelegt wurden, zum Anlass, die Zukunft des Museums in Frage zu stellen: „It is with deep regret that I announce the MBC Board of Directors on December 10th voted to sell its half-finished building at State and Kinzie in downtown Chicago. The failure of Illinois Governor Rod Blagojevich to keep his $6-million promise to the Museum — and the economic downturn that followed that broken promise has forced this decision. Much

IV.2. Strukturelle Imperative der

Fernseherbe-Verwaltung

111

Auch in Deutschland gibt es Kritik an einer vagen Haltung, die bisweilen politischen Akteuren im Hinblick auf die finanzielle Unterstützung ähnlicher Projekte zur Pflege des Fernseherbes attestiert wird. Für ein solches Haus sei es wichtig, politisch gewollt zu sein, sagt Rainer Rother von der Stiftung Deutsche Kinemathek. Trotzdem weist er auf die Distanz seiner eigenen Einrichtung zu den staatlichen Hierarchien hin, welche durch die Stiftungsstruktur ermöglicht werde und der Institution alle Freiheiten bei der Herausbildung einer eigenen Geschichte, eines eigenen Profils und eines selbstbestimmten Auftrags gegeben habe. Politischer Wille allein indes sichert nicht den Betrieb eines Archivs, einer Mediathek oder eines Museums. Vielmehr ist es die Signalwirkung, die von einer positiven Haltung der Lokalpolitik als tragende Säule des Finanzierungsrahmens ausgeht, welche die Bespielung einer derartigen Einrichtung zu sichern verspricht. Schon bei der „Deutschen Mediathek" hat sich gezeigt, dass es nicht ausreicht, wenn es die Politik allein bei lobenden Worten belässt, aber kein Geld in die Hand nimmt, um ein Projekt zu unterstützen. Als Negativbeispiel kann auch die Vereinsinitiative „Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden" dienen, welche aus Sicht der Planer an der allzu großen Abhängigkeit von einzelnen Persönlichkeiten aus leitenden politischen Kreisen scheiterte:Ein Bürgermeisterwechsel brachte die ursprünglich in Mainz angesiedelte Initiative zur Errichtung eines Museums für Fernsehtechnik ins Stocken. Da die Lokalpolitik in der Nachbarstadt Wiesbaden dem Projekt zwar zugetan war, aber nicht mehr als die Mietkosten für eine Lagerhalle aufbringen wollte, wähnt sich die Vereinsführung seit Ende der 1980er Jahre in einer Sackgasse. Die Hilflosigkeit solcher Initiativen gegenüber der staatlichen Haushaltspolitik unterstreicht einmal mehr, dass es für keinen Bereich der Fernsehbewahrung, sei dieser programmlicher, technischer oder kontextdokumentarischer Natur, eine Lobby gibt, die Einfluss auf wirtschaftliche oder politische Entscheidungsträger ausüben könnte. Letzteres wird zudem häufig durch die Fernsehveranstalter selbst blockiert, um sich bewusst von staatlichen Einwirkungen zu distanzieren und ihre wirtschaftliche und inhaltliche Unabhängigkeit zu erhalten - dies indes hat ebenfalls signifikante Auswirkungen auf das gesamte Feld der fernsehhistorisch aktiven Kulturinstitute. Auch die Förderung von Initiativen für die Bewahrung des Fernseherbes mit internationaler Dimension sind entwicklungsbedürftig. So wirken die entscheidenden Förderungsprogramme der Europäischen Union in Bezug auf die Fernseharchivierung kontraproduktiv: Während das „Culture"-Programm dezidiert die Sicherung des Kulturerbes betrifft und Archivprojekte finanziell unterstützt, schließt es gleichzeitig und ausdrücklich die Förderung des audiovisuellen Medienbereichs aus (Europäische Kommission 2008:29). In Frage kommt daher nur das regelmäßig neu aufgelegte „Media'-Programm, das sich indes wiederum auf die Produktions- und Vertriebsebene des audiovisuellen Sektors, zudem mit dem Schwerpunkt Film, konzentriert.36 Das audiovisuelle Erbe hat time and money has been lost due to the failure of the state to act. This is a very disappointing development" (DuMont 2008; vgl. auch Anonym 2008a). 36

Zwar heißt es im Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates, zu den allgemeinen Zielen des Programms gehöre es, „die kulturelle und sprachliche Vielfalt und das europäische

112

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

innerhalb der Kultur- und Medienförderung auf EU-Ebene einen schweren Stand und leidet unter den Überschneidungen und Ausschlusskriterien der zentralen Förderprogramme. Bedürftige Stellen sind angehalten, sich Nischen zu suchen oder sich auf Umwegen bei thematisch verwandten Förderprogrammen zu bewerben oder im Tandem mit Antragstellern unter anderem auf regionaler Ebene für Projekte in geringerem Umfang Förderung zu beantragen. Auf ähnliche Weise konnte in einem dreijährigen Zeitraum von 2006 bis 2009 das sogenannte „Video Active"-Projekt umgesetzt werden, indem es knapp 2,7 Mio. Euro aus dem „eContent plus"-Programm der EU für die digitale Zugänglichmachung von Kulturgut erhielt und dadurch ein Internet-Portal errichtet werden konnte, über welches Fernsehprogramm-Material aus 12 europäischen Nationen für jedermann zum Abruf bereitgestellt wurde. An der fehlenden Infrastruktur für die staatliche und supranationale Alimentierung von fernsehhistorischen Initiativen ändern solche erfolgreichen Einzelfälle indes nichts. 2.6.2.2.

Förderfundament

aus Philanthropen,

Spendern und

Sponsoren

„Ohne Fundraising lässt sich die Existenz einer gemeinnützigen Organisation nicht langfristig sicherstellen, und es fehlen die Ressourcen für viele wichtige gesellschaftliche Aufgaben. [...] Die im Vergleich zu den öffentlichen Mitteln doch bescheidenen privaten Gelder haben in denjenigen Bereichen die größte Wirkung, in denen keinerlei staatliche Mittel fließen oder diese bestimmte Erfordernisse nicht abdecken" (Haibach 2006: 3738). Zusätzliche Förderer wie aus der Wirtschaft, dem Stiftungsfeld oder private Spender sind angesichts der rudimentären Förderungsstrukturen, so auch der Tenor unter den Befragten, für viele Fernseharchive und -museen unverzichtbar. In den USA machen Einrichtungen vor, wie innerhalb weniger Jahre ein solides Finanzierungsfundament aus einer Vielzahl von Quellen etabliert werden kann wie im Falle des American Museum of the Moving Image, das sich eine räumliche Expansion mit Kosten von über 65 Mio. US-Dollar leistete: „Our funding streams are divided among various individuals, corporations, foundations (private, public, government) and then of course the city government, the state government and a little bit of the federal government", erklärt Kurator Carl Goodman. Ein solcher Finanzierungsmix mit starker privater und privatwirtschaftlicher Beteiligung, der vor allem bei kulturellen Einrichtungen in Nordamerika anzutreffen ist, wird auch für gemeinnützige Kulturinstitute in Deutschland empfohlen wie im Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland": Darin wird unter anderem resümiert, dass staatsferne Fördereinrichtungen im Hinblick auf die Transparenz, aber kinematografische und audiovisuelle Erbe zu wahren und zu stärken, der Öffentlichkeit den Zugang zu diesem Erbe zu gewährleisten und den Dialog zwischen den Kulturen zu fördern" (Europarat 2006: 14). Es fehlen jedoch konkrete Angaben zu in Frage kommenden Fördermaßnahmen im Bereich der Kulturerbesicherung. So lässt sich die ebenfalls im Grundlagenpapier getroffene Feststellung, im „völligen Fehlen von auf die Bereitstellung von Darlehensfinanzierungen für den audiovisuellen Sektor spezialisierten Unternehmen" bestünden erhebliche Wettbewerbshindernisse (ebd.: 13), ebenso auf die Archivsituation übertragen.

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

113

auch auf die Entscheidungsprozesse und Kompetenzverteilung gegenüber staatsnahen bzw. staatlich organisierten Förderinstrumenten im Vorteil seien (Sievers/Wagner/Wiesand 2004: 91-92). Als aussichtsreich ist hierbei auch die Förderung durch Stiftungsgelder zu bewerten: Durch ihre staatsunabhängige, gemeinwohlorientierte Ausrichtung sowie ihre oftmals reichen, aus Unternehmensquellen, aber teils auch aus Steuergeldern gespeisten Finanzmittelbestände fungieren sie für Archive und Museen als wichtige Stützpfeiler bei der Finanzierung von Projekten. In den USA stellten Stiftungen wie die Ford Foundation bereits mehrere Mio. US-Dollar für die Bewahrung und Zugänglichmachung von Teilen des Fernseherbes zur Verfügung. Seltenheitswert genießt die speziell auf die Bedürfnisse von Fernseharchiven ausgerichtete Fördertätigkeit der unabhängigen National Television and Video Preservation Foundation (NTVPF), die private Spendengelder sammelt, um Beihilfen für Projekte zur Sicherung bedrohter Videobestände z.B. in Archiven öffentlicher Lokalsender wie Thirteen/WNET oder WGBH, aber auch gemeinnützigen Universitätsarchiven wie dem Vanderbilt Television News Archive oder den Walter J. Brown Media Archives & Peabody Awards Collection zu vergeben (vgl. Compton 2007:132). So gering das Fördervolumen insgesamt ausfällt, desto größer wächst sich das Konkurrenzverhältnis zwischen den Anwärtern auf die Beihilfezahlungen aus. Selbst millionenschwere Museen wie das Paley Center for Media und das Museum of Broadcast Communications streiten bisweilen heftig um Fördergelder, die von Stiftungen ausgeschrieben werden. Übergreifend lässt sich dies- und jenseits des Atlantiks eine stetig gewachsene Bedeutung des privaten Sektors im Bereich der Kulturerbe-Verwaltung feststellen, der bereits eindrucksvoll seine Unerlässlichkeit unter Beweis gestellt hat. So hatten Archivfachleute bereits einräumen müssen, dass sich nur wenige Prozent des audiovisuellen Erbes der USA hätten retten lassen, wäre die Library of Congress nicht mit einem Philanthropen übereingekommen, in einem öffentlich-privaten Partnerschaftsabkommen das weltgrößte Archiv für Bewegtbilder zu errichten (vgl. Kramp 2008). Rund zwei Drittel der Kosten von über 235 Mio. US-Dollar zum Aufbau des im August 2007 eröffneten National Audio-Visual Conservation Centers (NAVCC) steuerte der Milliardär David Packard bei, der sein Vermögen als Sohn des Mitbegründers des Computerkonzerns Hewlett-Packard gemacht hatte. Packard gilt in der Archivbranche seither als Paradebeispiel für einen Mäzen, der sich aus altruistischen Beweggründen für die Förderung und den Erhalt kultureller Werke einsetzt. Die Tradition philanthropischen Engagements in Nordamerika ist lang, wovon auch das Fernseherbe profitiert hat. So wurde das Museum of Broadcasting, das später in Museum of Television & Radio und zuletzt in Paley Center for Media umbenannt wurde, vom CBS-Präsidenten William S. Paley gegründet sowie ideell und finanziell gefördert (vgl. Kapitel IV.4.3.1.1.). In Kanada wiederum gründete der Fernsehunternehmer Moses Znaimer sein eigenes Museum über die Fernsehgeschichte mit besonderem Augenmerk auf die internationale Designgeschichte der Fernsehempfangstechnik (vgl. Kapitel IV.4.3.2.1.). Doch auch auf der Ebene der Projektförderung engagieren sich namhafte Spender wie Oprah Winfrey oder der Finanzmakler Richard Gilder,

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IV. Status Quo und Perspektiven

der

Fernseherbe-Verwaltung

welche mit nennenswerten Beiträgen die kostenintensive Rechteklärung zur Wiederverwendung von Fernsehdokumentationen über die Bürgerrechtsbewegung unterstützten. Von der Spendenbereitschaft der Bevölkerung können Fernseharchive und Fernsehmuseen aber kaum profitieren. Hauptsächlich fließen deutsche Spendengelder an humanitäre Hilfsorganisationen, im ersten Halbjahr 2008 lag dieser Anteil bei knapp 78 Prozent. Nach Angaben des Deutschen Spendenrates folgten erst „mit großem Abstand" die Kultur- und Denkmalpflege, wobei das Spendenaufkommen für die Sicherung des Kultur-, geschweige denn des Rundfunk-, Fernseh- oder Filmerbes nicht gesondert erfasst wird (Deutscher Spendenrat 2008). Auf Basis der Ergebnisse der Expertenbefragung lässt sich aber vermuten, dass die finanzielle und auch die materielle Spendenbereitschaft in diesem Bereich mit Ausnahme bestimmter Bereiche wie der Überlassung von alten Gerätschaften (vgl. Kapitel IV.3.1.1.) unterentwickelt ist, auch weil in Frage kommende Empfängerorganisationen und Anlaufstellen nicht oder nur unzureichend bekannt sind. Das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft aus Berlin sieht in der Erhöhung der Spendenbereitschaft vor allem eine kultur- und medienpolitische Aufgabe, die einen komplexen „Motivationsmix" zum Ziel haben müsse, der die gesellschaftspolitische Relevanz und Bedeutung des Spendenwesens ähnlich wie in den USA konsequent in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücke: „Der ideelle, gesellschaftspolitische und materielle Wert von Zeit- und Geldspenden ist durch politische Akzentuierung, Medienbeeinflussung und eine konsequente Pflege aller Spendenformen hervorzuheben und zu würdigen. Kultur auch als Spendenkultur im Sinne einer .Kultur von allen ist als kultureller Wert herauszuarbeiten und öffentlich zu vertreten" (Sprengel/Strachwitz 2008: 149). Doch auch in Übersee wird die Situation insgesamt als verbesserungswürdig beschrieben: Dass sich selbst Dan Einstein vom UCLA Film & Television Archive regelmäßig wundern muss, dass seine Organisation trotz zahlreicher Veranstaltungen, einer beneidenswerten Medienpräsenz sowie ihrer universitären Grundversorgung mit audiovisuellen Überlieferungen in der Bekanntheit abgeschlagen hinter anderen kulturellen Einrichtungen zurückliegt, zeigt, dass der fernsehhistorische Fundus in der öffentlichen Wahrnehmung eine nur nachrangige Priorität genießt. Selbst der großzügige Förderer David Packard hatte bei seinem millionenschweren Engagement für das NAVCC vornehmlich die Erhaltung des von der Library of Congress verwalteten Filmerbes im Auge. Seit den späten 1980er Jahren bespielt er das legendäre Stanford Theater im kalifornischen Palo Alto mit klassischen, sonst meist unzugänglichen Filmen und stattete den Neubau des NAVCC mit einer exakten Nachbildung des Kinos aus, um auch dort verloren geglaubte Filme einem neuen Publikum vorzuführen. Im Vordergrund des Spendeninteresses stehen vor allem öffentlich präsente Einrichtungen, deren Aktivitäten und ihr Nutzen für die Allgemeinheit wie beispielsweise durch Bildungszwecke transparent verfolgt werden können. Als nicht-kommerzielle Einrichtungen können sie (genauso wie gemeinnützige Archive) an ihre Förderer Spendenbescheinigungen ausstellen, die steuermindernd geltend zu machen sind. Die hohe Bedeutung, die dieser indirekten staatlichen Subventionsmaßnahme zukommt, lässt sich am

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

115

Beispiel des MZTV Museums in Toronto zeigen, dessen alleiniger Träger Moses Znaimer sich dafür entschied, aus der privaten Unternehmung ein öffentliches Museum mit Verwaltungsrat zu machen. Auf diese Weise sei zwar die Agitationsfreiheit des Museums eingeschränkter als zuvor, als der Besitzer noch alleinig über Käufe, Verkäufe und sonstige Angelegenheiten entscheiden konnte, wie Museumsmanager Michael Adams erklärt. Dafür stünden dem Museum und seinem Betreiber nun jedoch auch zahlreiche Steuervergünstigungen und andere finanziell attraktive Erleichterungen zu, die ihm andernfalls verwehrt geblieben wären: „We have a collection that is worth a lot of money. It can be donated to a foundation and generate a tax receipt. That's fundamental. [...] [T]hat's always an important reason for a private museum to go public that there's a lot more opportunities for raising money and for acquiring collections. And there's also a museum community where you can share. When you are registered as a museum you can share... We always did it but we could never receive it because we were private. So we always gave but weren't receiving. Now we can start receiving" (Michael Adams, MZTV Museum). Maßnahmen zur Stärkung der Förderkultur müssen den gesellschaftlichen Kontext mit bedenken und auf die maßgeblichen Mentalitätsströmungen des Informationszeitalters eingehen: Zwar breitet sich die Anspruchshaltung, ungehinderten Zugang zu Informationen zu erhalten, immer weiter aus, nicht aber zwingend die Bereitschaft, für diesen Zugang oder seine Voraussetzungen auch zu zahlen. Wird im Zuge ubiquitärer Zugriffsmöglichkeiten auf einen scheinbar endlosen Informationsreichtum von der allgemeinen Öffentlichkeit tendenziell eine Öffnung der Archive zum Nulltarif angestrebt, bewegt sich die Kulturerbe-Verwaltung in die entgegengesetzte Richtung und vertritt einen protektionistischen Ansatz, vor dessen Hintergrund sich eine fast schon waghalsige Steigerung bei der kommerziellen Auswertung beinahe jeglichen Archiv- bzw. Sammlungsstückes abspielt. Diese diametral zuwiderlaufenden Entwicklungen erschweren den Bewusstseinswandel in der allgemeinen Öffentlichkeit hin zur Einsicht einer Förderungsnotwendigkeit für den televisuellen Überlieferungsstand zusätzlich - ganz nach der Auffassung, dass schließlich alles bereits durch Rundfunkgebühren bzw. Werbegelder bezahlt worden sei. Zu einem blühenden Zweig in der Finanzmittelbeschaffung hat sich demgegenüber die Zusammenarbeit mit der freien Wirtschaft entwickelt. Unternehmen, die in der Arbeit von Archiven, Mediatheken oder Museen Teile ihrer Unternehmensziele verwirklicht sehen oder sich Vorteile von einer diesseitsgerichteten Kooperation erhoffen, betätigen sich verstärkt als Sponsoren und fördern kulturelle Einrichtungen, erwarten aber im Gegensatz zu philanthropischen Ansätzen bestimmte Gegenleistungen (vgl. Bruhn 2003: 6-10). Meistens handelt es sich dabei u m Präsenz im öffentlichen Bewusstsein, sei es zum Beispiel durch die Einbindung eines Firmenlogos oder anderer unternehmerischen Repräsentationsmaßnahmen in den Rahmen einer gesponserten Veranstaltung oder durch eine anderweitige Nennung des Förderers in Pressemitteilungen, Ansprachen usf. Ob sich die Unternehmensziele mit dem jeweiligen Projekt decken oder aber inhaltlich keinerlei

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

oder nur schwer zu identifizierende Schnittbereiche aufweisen: Die Sponsorentätigkeit ergänzt die Aufmerksamkeitsstrategien der Werbewirtschaft im Kulturbereich. Nach Ansicht einiger befragter Experten wird dieses Potenzial im Geschäftsbereich der Fernseharchive längst nicht ausgeschöpft und beschränkt sich größtenteils auf Kooperationen bei der kommerziellen Auswertung von archiviertem Programmmaterial. Dadurch dass die meisten Archive aufgrund von Senderpolitik und Rechtsvorschriften im Verborgenen arbeiten (müssen), bieten sich für das Sponsoring auch vielmehr Einrichtungen an, die einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sind wie Mediatheken und Museen, wobei Letztere durch ihr größeres Angebotsspektrum und die inszenatorischen Qualitäten der musealen Präsentation auf Sponsoren eine deutlich größere Attraktivität ausüben. Hier können auch solche Interessen verwirklicht werden, die nicht zu den direkten Unternehmenszielen gehören, aber für die gesellschaftliche Akzeptant eines Unternehmens wichtig sind: die Schaffung eines positiven gesellschaftlichen Klimas für die Firma, ihre Integration in und Unterstützung durch die Gesellschaft, die Motivation von Mitarbeitern und potenziellen Bewerbern bezüglich ihres Lebensgefühls, des Standortfaktors und der positiven Identifikation mit dem Unternehmen sowie Wettbewerbsvorteile, die unabhängig vom eigentlichen Produkt- und Dienstleistungsangebot zu erringen sind (Heinze 2005: 62). Der Kulturbereich eröffnet wirtschaftlichen Akteuren also vor allem die Umsetzung weicher Ziele zur Stärkung des Unternehmensprofils, während speziell der Sektor der massenmedialen Kulturgutsicherung über Marketing-Effekte hinaus konkrete geschäftliche Anreize bei der Wiederverwertung von Archivmaterial verspricht. Für Museen wiederum ist es wesentlich leichter als für Archive, durch ihre inszenatorischen Schauwerte Anreize für Sponsoren zu schaffen. Wie Paul Peter Kubitz erklärt, kann daraus aber leicht das Risiko erwachsen, vom zahlenden Sponsor vereinnahmt zu werden. Am Beispiel von Verhandlungen der Deutschen Kinemathek mit dem Konzern Deutsche Telekom hatte sich gezeigt, dass der Werbeeffekt leicht drohen kann, Überhand zu nehmen: „Die wollten einerseits mit ihrer gesamten neuen Technologie und ihren Möglichkeiten Teile des Museums bespielen, präsent sein fürs Publikum, wollten natürlich auch die Attraktivität des Hauses und des Fernsehbereiches nutzen. Und da war ein langes Austarieren notwendig, eine interessante Erfahrung, zwischen der einen Seite, nämlich ein öffentliches Institut, gefördert mit Steuergeldern, und ein sehr klarer kulturpolitischer Auftrag, und auf der anderen Seite ein Big Player, wie kann man das abgleichen, weil man sich da auch politisch verrutscht und verhebt. [... ] Bei der Telekom ist das Gespräch erst einmal abgebrochen, weil ein Museum nicht mutieren darf - und sei es auch nur auf Zeit - in die Nutzung zur Selbstdarstellung eines Wirtschaftsunternehmens. Das war also ein gutes Scheitern" (Peter Paul Kubitz, DK). Besonders traditionsreiche und wandlungsfähige Institutionen mit hohem Veranstaltungsaufkommen wie das Paley Center for Media gerieren sich als willkommene Anlaufstelle für Sponsoren aus der Medien- und Kulturindustrie: Jede Vorführung, jede Podiumsdiskussion, jedes Symposium, aber auch Ausstellung oder Meet and Greet wird von

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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wechselnden Sponsoren mitfinanziert, sei es von der New Yorker Architekturliga, Künstlermuseen, Internet-Konzernen wie Microsoft oder Medienkunst- und Designagenturen wie Studio IMC. Dass einer Wiedereröffnung harrende Museum of Broadcast Communications in Chicago hat seine gesamte Ausstellungsfläche gemeinsam mit Sponsoren aus der Fernsehindustrie konzipiert und wird jeweils separate ko-finanzierte Bereiche in Zusammenarbeit mit Unternehmen wie NBC, TV Land und Walt Disney betreiben. Archive dagegen sind im Vergleich dazu aus Marketingperspektive kein lohnendes Terrain. Über eine projektbezogene, begrenzte Beteiligung an einzelnen Ausstellungsprojekten hinaus wird ein finanzielles Engagement von Fernsehsendern an einem unabhängigen Fernsehmuseum von einem Großteil der Befragten als unwahrscheinlich oder nicht sinnvoll zurückgewiesen. Während einige der US-amerikanischen Sendervertreter darauf verweisen, dass die museale Sphäre in den Aufgabenbereich der öffentlichen Kulturförderung und nicht zu den Pflichten des Sendebetriebs gehöre, regt sich im Kreise der deutschen Befragten zum Teil noch Hoffnung auf ein Umdenken in den Sendeanstalten, schließlich, so die Vereinskameraden Herber, Bartosch und Janning von der Wiesbadener Initiative zur Errichtung eines Fernsehtechnikmuseums, handele es sich nicht nur um die Geschichte der Gerätefirmen wie Grundig, Telefunken, Schneider oder der FernsehGmbH aus Darmstadt, die allesamt nicht mehr existieren, sondern von ausländischen Elektronikkonzernen übernommen wurden und daher als Sponsoren nicht mehr in Frage kämen, sondern auch um die Geschichte der Sender - ein Argument, das im Laufe der Verhandlungen um die „Deutsche Mediathek" ebenfalls häufig zu hören war. Auch bei der Deutschen Kinemathek wurde der Anspruch auf eine angemessene Förderung durch alle großen öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehveranstalter spätestens zum Ende der laufenden Förderung durch den Wasserkonzern Veolia im Jahre 2012 aufrechterhalten. Rainer Rother gibt sich frohen Mutes, weiß aber um die Schwierigkeiten: „[Wir] erwarten [...] auch, dass die Sender dieses Museum als ihr Museum betrachten und es auch fördern. Das wird nach unseren Erfahrungen nicht ganz einfach sein." Eine langfristige Bindung bzw. finanzielle Einstandspflicht eines Sendeunternehmens an eine gemeinnützige Einrichtung zur Aufarbeitung der Fernsehgeschichte steht also weiterhin zur Debatte, wird jedoch eher als unwahrscheinlich eingeschätzt. Die zerfransten wie kleinteiligen und in weiten Teilen unübersichtlichen Förderstrukturen für die Erhaltung des Fernseherbes und seine Stärkung im öffentlichen Bewusstsein führen eindrücklich vor Augen, dass die Finanzierung und das wirtschaftliche Überleben von gemeinnützigen Kulturinstituten zur Fernsehgeschichte einen erheblichen Verwaltungsaufwand erfordern, der zahlreiche Ressourcen bindet und die Tätigkeit der betreffenden Einrichtungen dadurch erschwert. Hinzu kommt die latente Anfälligkeit des Fördersystems für ungleichgewichtete Mittelzuweisungen, die im Falle staatlicher Ausschreibungen andere Kulturbereiche bevorzugt und im Falle des kommerziellen Sponsorings einer ,Trademarkisierung' der Fernsehgeschichte nach kommerziellen Kriterien Vorschub leistet. Dadurch wächst die Gefahr, dass die Entscheidungen der Bewahrungswürdigkeit von Überlieferungen vermehrt von der Frage abhängig gemacht werden, wie

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

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aussichtsreich es ist, Fördermittel für sie zu akquirieren (vgl. auch Spigel 2004: 22). Das drängendste Problem der Kulturförderung ist aus diesem Grund nicht unbedingt die Frage nach der konkreten Finanzierungsquelle und des von ihr ausgehenden Einflusses, der erst zu einem Risiko erwächst, wenn es zu inhaltlichen Entscheidungsfindungen und erzwungenen Kompromissen zwischen kommerziellen Intentionen und archivischen Kriterien kommt. Um auf solcherlei Angriffe auf die Autonomie gemeinnütziger Einrichtungen angemessen und unter Wahrung der institutionellen Prinzipien reagieren zu können, braucht es ein verlässliches Fördersystem, günstigenfalls mit internationaler Reichweite, das sich der strukturellen Verbesserung der Voraussetzungen für die Anforderungen des Archiv- und Museumswesens verschreibt, um die Bewahrung des Fernseherbes zu sichern, ohne inhaltliche Priorisierungen vorzunehmen bzw. diese von außen zu erzwingen. Einen eigenen vielversprechenden Weg schlugen im Jahr 2002 eine Handvoll US-amerikanischer Bewegtbildarchive ein und initiierten auf Initiative einer Interest Group innerhalb des Verbandes Association of Moving Image Archivsts (AMIA) in Eigenregie den sogenannten „Home Movie Day", der seit 2003 jährlich veranstaltet wird und breite Bevölkerungskreise dazu ermutigen soll, ihre privaten Heimvideos einem Publikum vorzuführen und gleichzeitig zu lernen, wie sie ihre Amateurfilme selbständig bewahren oder auch restaurieren können, damit sie auch noch im hohen Alter und für nachfolgende Familiengenerationen rezipiert werden können. Solche gemeinsamen, auf Verbandsebene vorangetriebenen und jeweils vor Ort umgesetzten Veranstaltungen bringen selbst kleinen Archiven, die sonst kaum eine Möglichkeit, ihre Mission in das Bewusstsein der allgemeinen Öffentlichkeit zu bringen, Interesse und Anerkennung eines Publikums ein, das sich unter Umständen auch bereit zeigt, sich als Spender für die Arbeit der betreffenden Einrichtungen einzusetzen. Gerade hier bewahrheitet sich die Binsenweisheit, dass gemeinsame Anstrengungen den Einzelnen durchaus stärker machen können. Modelle für kooperative Sammelanträge zur Förderung beispielsweise bei internationalen Staatengemeinschaften wie der Europäischen Union gehören im Fernsehbereich jedoch noch der Seltenheit an, obgleich länderübergreifende Projekte wie „Video Active" gezeigt haben, wie fruchtbar sich eine solche Zusammenarbeit erweisen kann (vgl. Kapitel IV.3.3.2.4.).

2.7.

Schlussfolgerungen

Wie stark die politische Großwetterlage das gesellschaftliche und kulturelle Klima bei der Wahrnehmung des Fernseherbes positiv oder negativ beeinflussen kann, ist evident: Während in Nationen wie Frankreich und Schweden die Fernsehgeschichte vonseiten der politischen Administration als entscheidender Bestandteil gesamtkultureller Prozesse verstanden wird und die breite Erfassung und retrospektive Zugänglichmachung von Fernsehprogramm-Material eine rege Nutzung seitens der Wissenschaft und der allgemeinen Bevölkerung angestoßen hat, zeigt sich in Ländern wie den USA und Deutsch-

IV.2. Strukturelle Imperative der

Fernseherbe-Verwaltung

119

land ein gegenteiliges Bild, das überwiegend von Zurückhaltung staatlicher Stellen in Fragen der Fernseherbe-Verwaltung gekennzeichnet ist und eine unter anderem von Wissenschaft und Forschung als wichtig erachtete Ressource in ihrer kultur- und medienpolitischen Agenda außer Acht lässt. Die Auseinandersetzungen um die rechtlichen und finanziellen Nöte von gemeinnützigen, aber auch privatwirtschaftlichen Einrichtungen legen eine gesetzliche Regelung nahe, um das Tohuwabohu beim Umgang mit Fernsehüberlieferungen, bei dem selbst erfahrene Praktiker oft nicht weiter wissen, wie sie sich rechtsgemäß verhalten dürfen und budgetgemäß verhalten können, aufzulösen. Symbiotisch begriffene Kultur- und Medienpolitik ist in einer medial gesättigten Kulturgemeinschaft immer auch Erinnerungspolitik, weil sie die gesellschaftliche Identitätsbildung und -pflege tangiert und in weiten Teilen erst ermöglicht. So identitätskonkret sich das Medium Fernsehen auf kollektiver und individueller Ebene im Laufe seiner Geschichte ausgewirkt hat, ist die Ausgangslage besonders für die televisuelle Erinnerungsarbeit gemeinnütziger Organisationen trotz vereinzelter Maßnahmen und Würdigungen als besonders kritisch zu bewerten. „Ein Anfang ist gemacht, jedoch ist die traditionelle Fixierung auf die Überlieferung des Schriftlichen und die beherrschende Stellung des Objekthaften in der kollektiven Erinnerungskultur nicht überwunden" (Kramp/Weichert 2006). Die Empfehlung der UNESCO zum Schutz und zur Erhaltung bewegter Bilder liest sich rückblickend aus deutscher und nordamerikanischer Perspektive wie ein ungehörter oder missverstandener Appell an eine staatliche Verantwortung einer verlässlichen Ordnungspolitik für die Sicherung des Fernseherbes. Nicht erst Fernseharchivare und -akademiker kritisieren eine Verschlusspolitik seitens der Fernsehindustrie, die allenfalls von gutwilligen Einzelfällen durchbrochen werde. Selbst von Senderseite wird mehrfach verlautet, dass kulturelle Zwecke nicht die Aufgabe ihres Archivs seien. So sehr sich die Fernseherbe-Verwaltung hier (mit Ausnahme der Novellierung des US-amerikanischen Copyright Law zugunsten der Aufzeichnung von Nachrichtensendungen zu Bildungszwecken) als medien- und kulturpolitisches Brachland erweist, lässt dies negative Rückschlüsse auf den Rang audiovisueller Medienüberlieferungen im Kontrast zu anderen Bereichen der Kulturgutverwaltung zu. Der politische Wille wird immer noch durch ein zweifelhaftes Vertrauen in Sender und Produzenten narkotisiert, die nur zu gern eine Selbstverpflichtung zur Bewahrung aussprechen und sich damit Autonomie sichern. Somit erscheint auch die jahrzehntelange Vernachlässigung des Fernsehens als Studienobjekt als Folge einer kaum entwickelten institutionellen Erinnerungsarbeit mit Fernsehinhalten durch Versäumnisse der Kultur- und Medienpolitik. Solange die politische Agenda den historischen Wert des Fernsehens wenn nicht negiert, dann doch tendenziell ignoriert und zumindest vernachlässigt, hat dies entscheidende Konsequenzen auf das Selbstbild einer Fernsehnation als Erinnerungsgemeinschaft. Obwohl mit der Kreierung von Archiwerbänden wie dem bereits in den 1960er Jahren gebildeten Film and Television Archives Advisory Committee in den USA, aus dem später die Association of Moving Image Archivists (AMIA) hervorging, oder der 1977 gegründeten International

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Federation of Television Archives (FIAT/IFTA) nicht die Implementierung einer Lobby einherging, die sich als Interessengemeinschaft nicht vorrangig der breiten kulturellen und politischen Anerkennung ihrer Tätigkeit verschrieb, sondern sich auf den internen Erfahrungsaustausch konzentrierte, konnte sich zumal in Nordamerika eine bescheidene Infrastruktur für die gemeinnützige Fernsehbewahrung etablieren, die spätestens seit Anfang der 1990er eine zunehmende Professionalisierung und das Streben nach einer verbindlichen Anerkennung ihrer Arbeit auszeichnet, welche indes bis heute politisch nicht zuverlässig erreicht werden konnte. Die Hoheit über weite Teile des Fernseherbe wird aufgrund gesetzlicher Bestimmungen noch Jahrzehnte in den Händen der Fernsehveranstalter und Produktionsgesellschaften liegen, die allen voran in den USA durch die steigende Nachfrage aus dem In- und Ausland und die damit verbundene Vermarktung den monetären Wert ihrer Programmschätze entdeckt haben. Die Bereitschaft seitens branchenfremder Organisationen, bei der nicht gewinnorientierten Arbeit mit Fernsehüberlieferungen eigene Wege zu gehen, sich beispielsweise durch Mitschnittsammlungen im breiten Stil selbst zu versorgen und damit die Senderarchive zu entlasten, wird nur zum Teil geduldet und birgt ein hohes rechtliches und finanzielles Risiko. Viele Gedächtnisinstitutionen harren daher einer ungewissen Zukunft. An der grundsätzlichen Problematik hat sich im Laufe der Jahrzehnte kaum etwas geändert: Archive, Bibliotheken/Mediatheken und Museen, die hauptsächlich Bildungsziele verfolgen, operieren qua ihres gemeinnützigen Mandats an den produktionsfixierten und gewinnorientierten Geschäftsplänen der Sende- und Produktionsunternehmen vorbei. Die zuwiderlaufenden Zielvereinbarungen von Kulturverwaltung und Industrie haben im Lauf der Zeit dazu geführt, dass sich die Lage in Bezug auf Rechtsauffassungen und die Finanzierungssituation stark verkompliziert hat. Die finanziellen Nöte und die diesbezügliche Abhängigkeit einiger Kulturinstitute im Hinblick auf Spendengelder und Beihilfen lassen die Ambivalenz des historischen Bewusstseins für das Fernsehen erkennen: Auf der einen Seite wird der Wert populärer Fernsehprogrammarchivalien durch die wirtschaftlichen Entitäten erkannt und offensiv gesteigert, doch bedeutet dies in der Konsequenz häufig, dass die Verwendung des Archivmaterials insgesamt harsch reglementiert wird. Dies führt nach Meinung einiger Experten dazu, dass sich Archivare und Museumskuratoren im Schraubstock der Lizenzgeber wähnen, die in einem prosperierenden Markt für Bewegtbilder streng darauf achten, dass ihre Rechte entgolten werden. Eine solche Entwicklungstendenz birgt die Gefahr einer fortschreitenden Kriminalisierung der audiovisuellen Kulturgutpflege und führt zu einer Abschottung betreffender Einrichtungen und ihrer Sammlungen. So ist in Nordamerika und Deutschland eine hohe Dunkelziffer all solcher Institutionen anzunehmen, die über archivierte Fernsehprogrammbestände verfügen, diese aber nicht an die Außenwelt kommunizieren, um dafür nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. So hat die protektionistische Haltung von Rechteinhabern durch die Kapitalisierung des Fernseherbes offensichtlich zu einem Ungleichgewicht in den Bewahrungsaktivitäten geführt. Während Senderarchive als Präsenzarchive verstanden werden, die einen

IV.2. Strukturelle Imperative der Fernseherbe-Verwaltung

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essentiellen Produktions- und Wettbewerbsfaktor darstellen, entbehren sie wesentlicher Charakteristika kultureller Gedächtnisinstitutionen. Im Vordergrund steht hier der wirtschaftliche Vorteil und nicht der kulturelle Wert, der einem tiefen Fundus entwächst. Während kritische Stellungnahmen aus dem Expertenfeld die Vergütungsansprüche mancher Rechteinhaber als Störung der Erinnerungsarbeit bezeichnen, was den Schluss einer Pervertierung des Gedächtniswerts zu Vermarktungszwecken nahelegt, zeigen Beispiele aus den USA eine andere Entwicklung auf, wo allein der renommierte Name einer unabhängigen Kultureinrichtung ausreicht, um Material unentgeltlich zu empfangen: Hier gelang es durch das geschickte Vorgehen einzelner Institutionen wie dem Paley Center for Media, sich die Unterstützung der Fernsehindustrie zu sichern und durch jahrzehntelange Kontinuität den internationalen Rang einer vertrauenswürdigen Anlaufstelle für die Deponierung von Programmmaterial zu erringen. Doch auch hier wird Relikten aus der Programmgeschichte das von Lessig apostrophierte „zweite Leben" nur unter starken Nutzungsbeschränkungen gewährt. Jüngere Organisationen oder Initiativen ohne entsprechende Reputation haben es aber auch diesbezüglich zweifellos ungleich schwerer und können sich leicht in der Zwickmühle wiederfinden, ihren Kernauftrag durch sowohl fehlende Archivierungs- und Nutzungsrechte als auch unzureichende Finanzmittel nicht oder nur unzureichend zu erfüllen. Es bleibt, wie die Beispiele einiger Universitätsarchive wie im US-Bundesstaat Wisconsin, in Maryland oder in Georgia gezeigt haben, sich eine Nische zu suchen, um sich gegenüber der Öffentlichkeit, gezielt aber auch gegenüber der Fernsehbrache als fachkundige Sammelstelle und Wissensbasis zu profilieren und damit die Sammlungstätigkeit zu rechtfertigen: ,,[I]n the absence of federal legislation, acquisition has of necessity been spasmodic and opportunistic. Academic institutions often end up with significant specialist collections" (Bryant 2004: 127). Im folgenden Kapitel werden diese und weitere Sammlungsstrategien von deutschen und nordamerikanischen Einrichtungen untersucht und der Frage nachgegangen, welcher Mittel sich bedient wird, um dabei der Gedächtnisrelevanz des Fernsehens gerecht zu werden.

122

3.

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Sammeln, Bewahren, Zugang ermöglichen: Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

Nach der eingehenden Analyse der medien- und kulturpolitischen, rechtlichen und finanziellen Ausgangslage für Organisationen, die sich der Pflege und Funktionalisierung von Überlieferungen aus der Fernsehgeschichte verschrieben haben bzw. damit betraut werden, stehen nun die prinzipiellen Aufgabenbereiche und praktischen Herausforderungen zur Debatte. Televisuelle Gedächtnisorganisationen versuchen sich der Flüchtigkeit ihres Gegenstandsbereichs zu entledigen und streben mit Sammlungs-, Bewahrungs- und Zugangsstrategien ihren jeweiligen gemeinnützigen oder kommerziellen Zielen nach. Doch auch Privatleute sind hierbei zu einer signifikanten Größe erwachsen. Im Folgenden werden die sich wandelnden Kräfteverhältnisse ebenso wie die Konstituanten in der Fernseherbe-Verwaltung diskutiert.

3.1.

Der Griff in den Äther: Fernsehen als diffiziles

Sammelobjekt

Will sich der Mensch erinnern, braucht er Anlässe. Also sammelt er Zeugnisse all dessen, was ihm wichtig erscheint. Je größer der zur Verfügung stehende Fundus an Überlieferungen ist, desto mehr Anlässe gibt es auch, Blicke zu werfen in eine unbekannte Vergangenheit und von ihr zu lernen. Art und Umfang der Materiallage entscheiden über das, was vergessen wird und über jenes, woran man sich erinnern kann oder zu erinnern glaubt. Hat die Gesellschaftskritik einen Drang zur Historisierung des gegenwärtigen Erlebens entdeckt (vgl. Kapitel II.8.3. und III.9.1.), wird das Sammeln zur Selbstverständlichkeit und Voraussetzung, um die Vergangenheit nicht nur mehr im Geiste, sondern in medialer Konkretion wieder auferstehen zu lassen. Nach Auffassung Noras ist die gesamt-gesellschaftliche wie die individuelle Beziehung zum Vergangenen vollständig psychologisiert: ,,[D]er Gedächtniszwang lastet auf dem Individuum und auf ihm allein, drängend und zugleich unbestimmt; auf dessen persönlicher Beziehung zur Vergangenheit beruht seine mögliche Wiederbelebung" (Nora 1998: 27). Die Folge sei ein schrankenloses Horten und die Anlegung von Privatsammlungen, die als materieller Grundstock das Tor zur eigenen Entwicklungsgeschichte aufstoßen sollen. Der Mensch häuft demnach sichtbare Zeichen an, weil er fürchtet, sich andernfalls nicht erinnern zu können. Zu sammeln ist damit in Art, Umfang und Intention eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe und konkret abhängig von der autobiographischen oder allgemein historischen Bedeutung, die ein Akteur dem Überlieferungsgegenstand zumisst. Im Sinne Noras strebt der Kollektionär danach, die Vergangenheit dingfest zu machen, sie in Form von medialen Repräsentationen festzuhalten, um mittels ihrer dokumentierenden Bewahrung einen Einlass- und Anhaltspunkt für die Weite und Tiefe der Erinnerung zu erhalten. Auf privater Ebene kann das Sammeln indes auch krankhafte Züge annehmen, wenn die Unfähigkeit zur bedächtigen Selektion einem zwanghaften

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

123

Horten weicht, um keinen Überlieferungspartikel zu verlieren und somit die ersehnte Verbindung mit der Vergangenheit nicht zu kappen. Der Alltag des institutionalisierten Archiv- und Sammlungswesens folgt verständlicherweise weniger dem Ansatz eines emotionsgeleiteten, sondern vielmehr dem Versuch eines strategisch-objektivierten Sammeins. Unter dem Eindruck der kulturellen Minderwertigkeit des Fernsehens in der allgemeinen öffentlichen Auffassung hatten es Einrichtungen, die sich der Sammlung und Archivierung dieses neuen Mediums widmeten und dementsprechend auch neue Wege bei der Bewältigung seiner spezifischen Herausforderungen finden mussten, verständlicherweise schwer. Das Fernsehen widersprach als ätherisch-flüchtiges wie auch materiell-komplexes Medium scheinbar völlig den Konventionen, die sich teils über Jahrhunderte hinweg bei der herkömmlichen schriftfixierten Sammlungstätigkeit in Aktenarchiven, aber auch Pressearchiven oder Bibliotheken herausgebildet hatten. So sehr das Fernsehen in der Debatte um Zustand und Zukunft über das kulturelle Gedächtnis und die gesellschaftliche Erinnerung als ephemeres Kommunikationsinstrument und damit als ungeeignet für die zeitenüberdauernde kulturelle Selbstverständigung galt, war es selbst in Zeiten fehlender oder unwirtschaftlicher Aufzeichnungsmöglichkeiten nie ein ganz und gar vergessliches Medium, weder nicht willens noch unfähig, gesammelt zu werden. Zwar kann das televisuelle Endprodukt des linearen Programmmediums nicht als eigenständiges Materialobjekt, sondern nur mittels einer technologischen Prothese, sei es mittels eines Videobandes, eines DVD-Rohlings oder eines Festplattengerätes, gesammelt werden. Doch hinterließ das Fernsehen schon lange vor dem technischen Kunstgriff, die elektronischen Signale aus dem Äther auf Magnetbänder zu bannen, Spuren: Waren anfangs aufwendige wie teure Filmaufzeichnungen die einzige Möglichkeit, Live-Sendungen einzufangen, weshalb eine Sammlung des Programmaufkommens nur unzureichend gewährleistet werden konnte (vgl. Kapitel IV.3.2.1.), waren die Fernsehveranstalter seit Beginn des Sendebetriebs jedoch als wirtschaftliche Entitäten gesetzlich verpflichtet, zumindest die Dokumente ihres Geschäftsgebarens zu Nachweiszwecken aufzubewahren. Zunächst wurde also größtenteils im Verborgenen gesammelt. Erst später wurde das Fernsehen zum Objekt und Anlass für breite öffentliche Sammelanstrengungen. Dennoch sind auch die internen Papiere greifbare Zeugnisse der flüchtigen televisuellen Existenz, abstrakt zwar, doch gleichwohl das Sendegeschehen und seine Hintergründe dokumentierend. Verträge, Geschäftsbriefe, Protokolle usf. zeugen ebenso auf ihre Art vom Reichtum der administrativen, kreativen und rezeptiven Prozesse wie das erst später festgehaltene Fernsehbild. Schon aus diesem Blickwinkel müssen all die Zweifler und Zauderer mit Unrecht gestraft werden, die der Television jegliche Dauerhaftigkeit abzusprechen nicht müde werden. Nichtsdestotrotz gestaltet sich das Sammeln des Fernseherbes im Vergleich zu anderen kulturellen Überlieferungsarten als besonders schwierig. Grund hierfür ist vor allem die Komplexität und Heterogenität der Überlieferungslage: Zwar sind die Forderungen nach einer Annäherung der Sammlungspraxis von Fernsehprogramm-Material an die zentrale und am Gebot der Vollständigkeit ausgerichtete Sammlung von literarischen

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Neuerscheinungen bei einigen befragten Experten nicht verstummt (vgl. Kapitel IV.2.3.). Fernsehen macht es dem geneigten Sammler jedoch nur scheinbar leicht, aus dem Vollen bzw. den Programmflüssen zu schöpfen. Die Befürworter einer allumfassenden Pflichtabgaberegelung für Fernsehproduktionen verkennen die schiere Menge an täglich gesendetem Material, das für sich genommen das Aufkommen der Buchproduktion um ein Vielfaches übersteigt. Neben dem Sendematerial produziert das Medium weiterhin direkt und indirekt eine kaum zu überblickende Vielfalt an Schriftgut und Realien. Während allein das Schriftgut den geschäftlichen und kreativen Bereich sowie die vielschichtige Dokumentation des Zuschauerfeedbacks umfasst, fallen unter die Realien-Kategorie technische Geräte aus dem Produktions- und Empfangsbetrieb, aber auch Requisiten, Mobiliar und Marketingartikel. Die Fernsehindustrie hat dabei aus wirtschaftlichen programmbezogenen Gesichtspunkten ein besonderes Interesse an der Sammlung von wiederzuverwendendem Material, aber auch an „Pro-Domo-Darstellungen" (Hans Hauptstock, WDR) der eigenen Senderidentität. Doch wird - wenn auch im Verborgenen - auf Akteursebene gesammelt, in der Regel aus autobiographischem Antrieb, wodurch persönliche Unterlagen aus den Senderabteilungen wie z.B. Redaktionen nach dem Ausscheiden eines Mitarbeiters auch kurzerhand mitgenommen werden (vgl. Kapitel IV.3.1.2.). Das Fernsehen ist darüber hinaus auch ein privat-leidenschaftlicher Sammlungsgegenstand, der als gesellschaftliches Medium Begehrlichkeiten weckt, seine unterschiedlichen kreativen Hervorbringungen, aber auch Instrumentarien festzuhalten, damit seine Funktion als Wegbegleiter und Kulminationspunkt autobiographischer Entwicklungen erfüllt werden kann. Bei der Aufarbeitung des dem Publikum zugewandten Fernsehbetriebs spielt die besonders sammlungsaktive Rezipientengruppe der Wissenschafts- und Bildungsgemeinde eine wichtige Rolle. Die an Lehr- und Forschungseinrichtungen angelegten Mediensammlungen (vgl. Kapitel IV.2.5.4.) zeugen von einem hohen Bedarf seitens Akademikern an den Überlieferungen des Fernsehens. Auf privater Ebene zeigt sich die Sammelleidenschaft für das Fernsehen hingegen besonders eindrücklich am Beispiel von Fans, also spezialisierten Erinnerungsgemeinschaften, die sich durch ihre Hingabe an eine bestimmte Produktion oder TV-Persona für das gesamte Überlieferungsspektrum innerhalb ihres thematischen Fokus interessieren (vgl. Kapitel III.4.2.). Obgleich die Fernsehindustrie längst den Sammlermarkt mittels der lukrativen Vermarktung limitierter DVD-Veröffentlichungen von populären Fernsehformaten für sich entdeckt hat, schlägt das Sammlerherz zuallernächst für nicht-konfektionierte Raritäten, die ihren Status als Sammelobjekt erst im Laufe der historischen Entwicklung erhalten haben. Ross Melnick vom American Museum of the Moving Image erwähnt hier die autobiographische Bedeutung von Begleitprodukten zu frühen Fernseherlebnissen: ,,[A] lunch-box which they carried around as a little kid can generate identification and pleasure." Fernsehen ist damit ein idealer Gegenstand der Medienarchäologie, da es seine Manifestationen nicht nur im audiovisuellen Endprodukt erhält, sondern sich seine kulturelle Bedeutung auch in Alltagsdingen, darunter zum Beispiel Merchandising-Produkte wie Brotdosen, bedrucktes Toilettenpapier, Action-Figuren usf. sedimentiert.

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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So facettenreich sich der Fernsehbetrieb mit seinen komplexen Verwaltungsstrukturen und Geschäftsabläufen darstellt, so zahlenmächtig ist auch das dokumentarische Aufkommen. Es besteht daher im Vergleich zu anderen Sammlungsgebieten ein erhöhter Bedarf an vielsträngigen Auswahlstrategien, um eine hinreichende Dokumentation des Fernsehgeschehens sicher zu stellen und eine erneute Nutzbarmachung für den Programmbetrieb ebenso wie eine wissenschaftliche Aufarbeitung zu ermöglichen. Bei dieser keineswegs leichten Aufgabe stehen die Gedächtnisinstitutionen Archiv, Bibliothek und Museum vor der großen Herausforderung, sich in ihrer Sammlungstätigkeit klar voneinander abzugrenzen und Kompetenzen herauszubilden, welche ihrer klassischen Funktion gerecht werden, ohne die spezifischen Anforderungen des Sammlungsgegenstandes Fernsehen zu negieren. Wie sich bereits an den beispielhaft aufgeführten Institutionenportraits im Kapitel IV.2.4. hat ablesen lassen, verschwimmen die angestammten Zuständigkeiten und klar von einander zu trennenden Akquisestrukturen in Bezug auf das Fernsehen zusehends. Archive gelten gemeinhin als passive Empfangsstellen, während Bibliotheken ihre Aufgabe in der aktiven Sammlung von Büchern und Museen in der Sammlung von dinghaften Objekten sehen. Was indes televisuelle Überlieferungen anbelangt, haben sich die zuvor klar getrennten Expertisen der klassischen Gedächtnisorganisationen aufeinander zubewegt und konvergieren in ihrem Bestreben, das Fernseherbe möglichst umfassend zu erschließen (vgl. Kapitel IV.3.1.2.). 3.1.1. Akquisepraxis

zwischen Automatismus

und Zufall

Sender und Produktionsgesellschaften sind in Deutschland und Nordamerika aufgrund ihrer endarchivischen Kompetenz sowie der Rechtslage üblicherweise die erste Anlaufstelle bei der Beschaffung von Fernsehmaterial durch öffentliche Einrichtungen. Aufgrund der eigenverantwortlichen Verwaltung des Fernseherbes durch die Industrie und einer fehlenden Pflichtabgaberegelung in den betreffenden Staaten sind senderexterne Organisationen bei ihrer Sammeltätigkeit daher in erheblichem Maße auf die Kooperationsbereitschaft der Sende- und Produktionsunternehmen angewiesen, um zunächst einmal das Programmmaterial zu erhalten und gegebenenfalls auch die zugehörigen Nutzungsrechte zu erwerben. In den USA haben gemeinnützige Institutionen in nur wenigen Fällen automatisierte Lösungen für die Zusammenarbeit mit der Fernsehbranche erarbeiten können, die einen kontinuierlichen Materialzufluss gewährleistet und den administrativen Aufwand für die Akquise erheblich mindert. Die Library of Congress empfängt den Großteil ihres archivierten Programmmaterials passiv über die freiwillige Anmeldung von Produktionen zum Copyright-Schutz, die automatisch in den Archivbestand der Motion Picture, Broadcasting and Recorded Sound Division übergehen und dort dauerhaft vorgehalten werden (vgl. Kapitel IV.2.4.1. und IV.2.5.2.). Dieser passive Ansatz wird jedoch durch die aktive Sammlung von Fernsehmaterial mittels breit angelegter Aufzeichnungsprojekte sowie durch direkte Verhandlungen mit Sendeunternehmen wie im Fall der Akquise der umfangreichen Schriftgutsammlung von NBC. Professionelle Mitschnitte werden in

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

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sogenannten „TiVo-Rooms", salopp benannt nach dem führenden US-amerikanischen Hersteller für digitale Festplattenrekorder, für bis zu 200 parallel gesendete Programmströme angefertigt: „The reason why we are doing that is, we are not getting all television programming. There's a lot of TV we don't get. We don't receive a lot of game shows, sporting events, talkshows, news programming, and we would like to capture that. Copyright is a passive acquisition whereas recording with TiVo is more of an active acquisition. That's one big change that we want to make" (Mike Mashon, LC). Eine ähnliche Kombination aus passiven und aktiven Akquisestrategien verfolgt das UCLA Film & Television Archive, das nach Angaben des Fernseharchivars Dan Einstein jährlich zwischen 600.000 und 800.000 Fernsehproduktionen über die Zulieferung der Academy of Television Arts & Sciences erhält, welche alle Nominierungen der Emmy Awards an das Universitätsarchiv abgibt.37 Hinzu unterhält das Archiv jedoch auch direkten Kontakt mit einer Vielzahl von Akteuren aus den kreativen und administrativen Sphären der Film- und Fernsehbranche, um eigene Sammlungsschwerpunkte zu pflegen: ,,[A]s far as the stuff in the general collections, we get it from the networks, TV stations, studios, producers, production companies, actors, directors, writers, cameramen, collectors, people who find things in trash cans, everyway" (Dan Einstein, UCLA). Einen etwas anderen Ansatz verfolgt das Paley Center for Media in New York und Los Angeles: Das Museum hat bereits früh in seiner Entwicklung seine Akquisestrukturen auf individuelle Verträge mit den führenden Sendeunternehmen ausgerichtet. So erhält es alljährlich je nach vertraglicher Vereinbarung von den Networks eine bestimmte Anzahl von Sendestunden an frei wählbarem Programmmaterial. Dieses gewissermaßen halb-automatisierte bzw. pro-aktive Verfahren ermöglicht dem Kuratorium eine weitgehend autonome Sammlungspolitik. Über diesen garantierten Zufluss an Archivmaterial hinaus ist aber auch das Paley Center bemüht, über seine Westküsten-Dependance in Los Angeles einen engen Kontakt mit Produktionsgesellschaften und möglichst vielen individuellen Akteuren wie beispielsweise Dokumentarfilmern zu pflegen, deren Bereitschaft, sich mit ihren Werken in die Museumsarbeit einzubringen, gestärkt werden soll. Die Option einer kostenfreien Bereitstellung von Fernsehwerken steht jedoch nur einer überschaubaren Zahl etablierter wie renommierter Einrichtungen offen. Grundsätzlich sind - mit wenigen Ausnahmen - für die Übernahme und Nutzung von rechtlich geschütztem Material Lizenzgebühren zu zahlen und die Rechteinhaber damit angemessen zu entlohnen (vgl. Kapitel IV.2.5.). Um hierbei den zukünftigen Kosten- und Verwaltungsaufwand gering zu halten, sind einige Kulturinstitute über die Akquise von Programmmaterial von der Fernsehbranche hinaus dazu übergangenen, im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und vertraglich mit Sendern und Verwertungsgesellschaften 37

Auch die Peabody Awards Collection an der Universität von Georgia zeichnet sich durch eine solche Empfangsregelung aus: Hier werden sämtliche zwecks Bewerbung für den Rundfunkpreis eingereichten Produktionen einschließlich des mitgelieferten Beiwerks wie Manuskripte, Pressemappen oder Marketing-Artikel archiviert.

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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getroffenen Vereinbarungen eigene Mitschnitte anzufertigen. Dies hat den entscheidenden Vorteil, selbstbestimmt, zeitnah und ohne Umwege über die Sammlungsrichtung bis hinein ins programmliche Detail entscheiden zu können. Jedoch werden abgesehen von diesen teils noch jungen Initiativen wie im Fall der Stiftung Deutsche Kinemathek bzw. thematisch eng gefassten Sammlungsbereichen wie im Fall des weltweit beispiellosen Nachrichtenarchivs der Vanderbilt University Form und Umfang des televisuellen Sammlungsbestandes von den brancheninternen Archivierungsaktivitäten der Fernsehindustrie bestimmt. Diese hat sich in der Vergangenheit durchaus dazu bereit gezeigt, in Einzelfällen umfangreiches Archivmaterial an gemeinnützige Einrichtungen zu spenden: So baute das Museum of Broadcast Communications seinen Sammlungsbestand durch Materialspenden von einigen lokalen Sendern und Akteuren aus der Fernsehindustrie auf. In anderen Fällen gaben Sender wie PBS oder NBC Teile ihrer Schriftgutarchive an Universitätsarchive (vgl. Kapitel IV.2.4.). Der mit Abstand umfangreichste Archiv- und Sammlungsbestand findet sich jedoch weiterhin in den Unternehmen selbst. Während bei Behörden- oder Unternehmensarchiven traditionell das Provenienzprinzip vor jenem der Pertinenz gilt, also Herkunft vor Sachzusammenhang, trifft dies nur eingeschränkt auf Fernseharchive zu, gleich ob sie in unternehmerische oder gemeinnützige Organisationszusammenhänge eingebettet sind: Fernseharchive sehen ihre Aufgabe nicht allein in einer passiven Empfangshaltung, sondern sammeln auch initiativ Material von unterschiedlichen Stellen. Jedoch gilt eine Sammlung erst als solche, wenn unter Ignorierung der Entstehungszusammenhänge allein nach inhaltlichen Gesichtspunkten archiviert wird (vgl. Teske 2004: 127). Dies wurde im Laufe der vergangenen Jahrzehnte auch in Bezug auf andere Überlieferungsfelder in die Archivpraxis umgesetzt, um den Bestand an Archivgut mit spezifischen, dem jeweiligen Aufgabenbereich zuzurechnenden Überlieferungen zu ergänzen. Dadurch entstand zumal in der Archiv-Terminologie mit der Eingliederung „archivischen Sammelguts]" ein „unbereinigtes Paradox" (Leonhardt 1989:215): Die Zuständigkeiten, bestimmte Sammlungen anzulegen, sind nirgendwo verbindlich geregelt. Während in der Forschung einerseits angezweifelt wird, dass es sich bei Sammlungen um Archivgut im eigentlichen Sinne handelt, sondern vielmehr um das genaue Gegenteil (vgl. Menne-Haritz 1999), plädieren andere Autoren für eine gewichtende Kooperation, um Anstrengungen zu koordinieren und bündeln zu können (vgl. Nimz 2005: 317). Typisches Beispiel für archivische Sammlungen sind Nachlässe, in denen Dokumente aus dem Leben und Wirken einer bestimmten Person versammelt sind und nach ihrem Tod als persönliche Sammlung gebündelt werden. Damit hat sich der Archivfokus von einer reinen Beweisfunktion her stark ausgeweitet und differenziert, so auch im Falle von Senderarchiven. Hier versteht sich der Archivar als „Sammler und Jäger" (Heiko Kröger, NDR), der hauptsächlich produktionsorientiert arbeitet, eine aktive Sammlungsfunktion erfüllt und stark selektiv vorgeht. Den Maßstab bei der Archiv- und Sammeltätigkeit bilden stets der institutionelle Rahmen und die organisationsspezifischen Bedarfskontexte. Sämtliche der befragten Vertreter von Programmarchiven verweisen auf den starken Produktionsfokus bei der Ausrich-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

tung der Archivoperationen. Dies hat im Detail unterschiedliche Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Material Eingang ins Archiv findet. Das Programmarchiv des ZDF beispielsweise erfasst neben den Arbeits- und Produktionsmaterialien aus den Redaktionen des Senders und externen Produktionsfirmen sowie professionellen Mitschnitten von eigenen Live-Sendungen auch Rohmaterial von Nachrichtenagenturen sowie Produktionen über das Austauschprogramm der European Broadcasting Union, welche nicht unbedingt gesendet wurden, sondern für eine mögliche zukünftige Ausstrahlung vorgehalten werden. In ähnlicher Weise verfährt ABC News, dessen Film/Videotape Library and Archives außer dem eigenen Produktionsaufkommen unter anderem auch Material der britischen BBC und des japanischen Senders NHK archiviert. Das Archiv von Fox News dagegen vertraut hauptsächlich auf das erhebliche Produktionsvolumen von Schwesterunternehmen unter dem Dach des gemeinsamen Mutterkonzerns Newscorp. So wird beispielsweise auch Programmmaterial des britischen Networks Sky mit verarbeitet, um damit den US-amerikanischen Sendebetrieb zu versorgen. Abseits geregelter Geschäftsbeziehungen mit anderen Sendeunternehmen, Agenturen und Produktionsfirmen findet kaum eine Aufnahme von Material statt. Laut Axel Bundenthal (ZDF) kommt es aber in Ausnahmefällen vor, dass bei Verlusten externe Aufzeichnungsdienste oder andere Stellen angesprochen werden, um das betreffende Material zu rekonstruieren und die entstandenen Lücken im Bestand zu füllen. Überlieferungen, die den Sendern aus Privathand angeboten werden, sind indes auch aus qualitativen Gründen nur selten von Interesse und werden fast ausschließlich auf Basis ihrer Wiederverwendbarkeit bewertet. „Ich habe in meiner Berufslaufbahn vielleicht vier oder fünf Fälle gehabt, wo Menschen ihren Dachboden aufgeräumt und dabei alte Filmrollen gefunden haben, und uns das dann zum Kauf angeboten haben. Wir haben in diesen Fällen dann dort jemanden hingeschickt, der das gesichtet hat, und meist handelt es sich dann um irgendwelche Trailer von Filmen aus der Frühzeit der Kinoprogramme, die für uns überhaupt keinen Wert haben, weil wir das ja auch nicht mehr ausstrahlen könnten, weil wir die Rechte dazu nicht haben. Zudem bieten uns Menschen alte Videokassettenbestände an von eigenen Mitschnitten. Diese benötigen wir aber nicht, weil wir die Materialien ja selbst haben" (Heiko Kröger, NDR). Spenden werden im Programmbereich kaum registriert, allenfalls Verkaufsangebote, die indes laut Angaben der Befragten aufgrund fehlender Budgets für derlei Ausgaben nur äußerst selten Aussicht auf Erfolg haben. Ein tatsächlicher Ankauf von sendefähigem Material unterliegt ohnehin nicht der Entscheidungsgewalt der Archive, sondern wird gewöhnlich über die Lizenzabteilungen abgewickelt. Eine andere Haltung herrscht in den Historischen Archiven der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Deutschland, die sich zum Teil explizit auch als Anlaufstelle für private Sammler wie vor allem ehemalige Mitarbeiter des Senders verstehen und sich als fachkundige Instanz für die Verwahrung von Nachlässen und anderweitige Privatsammlungen profilieren. Doch auch hier sind laut Bettina Hasselbring (BR) die Mittel begrenzt:

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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„Letztens hat uns jemand einen Fotobestand angeboten, der aber dermaßen teuer war, dass wir es dann abgelehnt haben. Es muss also in einem gewissen Rahmen und etwas Besonderes sein. Wir haben ihn an das DRA weitergeleitet, und die werden es kaufen. Mir liegt also sehr viel daran, dass so etwas auch erhalten bleibt. Das waren Fotos aus den 30er Jahren, den Rundfunk betreffend, der wollte aber 7.000 Euro für nur wenige Fotos haben. Das sprengt den Rahmen. Aber grundsätzlich, wenn es eine gute Sache ist, würde ich es kaufen" (Bettina Hasselbring, BR). Im Vordergrund steht hierbei an erster Stelle die Bereicherung des Institutionsgedächtnisses, das heißt: die Pflege der Senderidentität mittels einer Vertiefung des Sammlungsschatzes zu unternehmensrelevanten Kapiteln der Fernseh- bzw. Rundfunkgeschichte. Das Historische Archiv des Bayerischen Rundfunks verwaltet beispielsweise einen Bestand von circa 100.000 Akten,38 von denen etwa 70.000 Akten dauerhaft und 30.000 vorübergehend gemäß der gesetzlichen Aufbewahrungspflichten archiviert sind. Außerdem verwaltet die Abteilung einen Sammlungsbestand von ungefähr 1.500 Mappen mit Eigenpublikationen des Senders sowie 400 wissenschaftliche Arbeiten über die bayerische Rundfunkgeschichte sowie etwa 1.800 Realien, darunter vornehmlich Requisiten, aber auch technische Gerätschaften. Herausgehobenen Stellenwert räumt Hasselbring der Nachlasssammlung ein, die über 40 persönliche Spezialsammlungen umfasst. Besonders hier zeigt sich die Abhängigkeit des Archivs von der Bereitschaft der Programmverantwortlichen zur Kooperation. Es sei kaum zu kontrollieren, wie viel Material, das aufgrund seines jeweiligen Entstehungs- oder inhaltlichen Kontextes historische Bedeutung bekommen könnte, von den Mitarbeitern noch während ihrer Dienstzeit achtlos weggeworfen oder in welchem Umfang Schriftgut und anderweitige Überlieferungen mit nach Hause genommen werde. Trotz verbreiteter Regelungen, die Mitarbeiter per Dienstanweisung zur Abgabe der im Rahmen ihrer Tätigkeit für den Sender entstandenen Unterlagen zu verpflichten, bestehen kaum effektive Möglichkeit, die Archivpflicht durchzusetzen. Es wurden sogar gegenläufige Tendenzen im Umgang beispielsweise mit technischen Gerätschaften festgestellt, wie Heiko Kröger in Bezug auf den NDR berichtet, der in der Vergangenheit ausgediente Technik in den USA öffentlich versteigerte. Dadurch dass somit ein in seinem Umfang nicht zu unterschätzender Graubereich an Fernsehüberlieferungen einer ordnungsgemäßen zentralen Archiverfassung vorenthalten bleibt, wird die Wichtigkeit der Lokalisierung und Akquise von Privatsammlungen ehemaliger Fernsehakteure bei Sammlungsanstrengungen unterstrichen. Vor allem gemeinnützige Einrichtungen sind aufgrund ihrer meist angespannten Haushaltssituation angewiesen auf Materialspenden und verwenden aus diesem Grund viel Mühe darauf, einen engen Kontakt zu Sammlern aufzubauen. Bisher kursierten keine institutionsübergreifenden Modelle, um die Spendenbereitschaft zu erhöhen. Wenn eine Einrichtung allein auf ihren guten Ruf vertrauen muss, um ihren Sammlungsauftrag zufriedenstellend nachzukommen, wird die Pflege des Fernseherbes in letzter Konsequenz

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Stand: Januar 2007.

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der Beliebigkeit und dem Zufall unterworfen, abhängig allein von der Entscheidungsfreudigkeit materialproduzierender und -archivierender Stellen wie einzelner Sender oder Akteure, die bereit sind, Überlieferungen abzugeben. In Maryland bei der Library of American Broadcasting verlässt sich der Sammlungsleiter zum Beispiel nicht nur auf das institutionelle Renommee, das potenzielle Spender und ihre Sammlungen anlocken soll. Gebaut wird hier auf eine zielgerichtete Knüpfung von persönlichen Netzwerken: „I am here long enough now that the people know me before they ask themselves who that guy is and why he is calling them. The library is in Maryland for more than twelve years. I've been there for the whole time in one capacity or another. I think that helps that the people learn who you are. I met people at various stations and I hope they speak well about me. You go to certain events, black-tie dinners and try to get the word out" (Chuck Howell, LAB). Auch Joseph Hoppe vom Deutschen Technikmuseum in Berlin betont die strategische Notwendigkeit, sich auf individueller Ebene einen Namen zu machen und den entscheidenden Stellen Sympathien abzuringen, um im Fall des Falles über Spenden Material zu akquirieren: ,,[A]n viele Sachen kommt man nur über jahrelang aufgebaute persönliche Kontakte, die gepflegt werden wollen." Zudem konkurrieren beide Seiten - Industrie und Kulturbetrieb bzw. die Historischen Archive und gemeinnützige Institute - gleichermaßen um ein und denselben begrenzten Sammlungsbestand, der sich in privater Hand befindet und vor allem für eine personalisierte Perspektive auf die Fernsehgeschichte von großem Interesse ist, weil er sich um einflussreiche Akteure des Sendebetriebs rankt, deren autobiographische Entwicklung eng mit der Institutionsgeschichte verknüpft ist. So hat sich ein buchstäblicher ,Nachlasshandel' entwickelt, bei dem in Nordamerika und in geringerem Maße auch in Deutschland verschiedene Organisationen mit um die Übernahme eines jeweils möglichst geschlossenen Nachlassbestandes bekannter Fernsehpersönlichkeiten streiten, ohne bestenfalls etwas dafür zahlen zu müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass in bestimmten Bereichen wie bei der Sammlung von Realien der Kostendruck enorm zugenommen hat und die Sammlungsaktivitäten gemeinnütziger Einrichtungen wie beispielsweise Museen schnell an Grenzen stoßen lässt. Hat das Fernsehen über Jahrzehnte hinweg in Bezug auf seine kulturelle Konnotation ein Schattendasein fristen müssen, ist mittlerweile laut Expertenmeinung international ein entgegengesetzter Trend zu beobachten: Relikte der Fernsehvergangenheit haben sich zu einem begehrten Sammelobjekt entwickelt und wechseln teils zu Höchstpreisen den Besitzer. Insofern ereilt das Fernsehen derselbe Segen bzw. dasselbe Schicksal wie die Kunst im Allgemeinen: Was in früheren Zeiten achtlos entsorgt oder freigiebig einer vertrauenserweckenden Institution zur Verwahrung übereignet wurde, wird nun häufiger denn je gewinnbringend zu versteigern gesucht. Dieser Entwicklung zugrunde liegt ein fundamentaler Mentalitätswandel in der Wahrnehmung des Fernsehens bei der breiten Öffentlichkeit, nicht aber zwingend bei den kulturellen Eliten, der einherging mit seinem Aufstieg nicht erst zum gesellschaftlich-sozialen, sondern auch kulturell-künstlerischen Leitmedium. So hat sich ein zwar bescheidener, aber im Hinblick auf den historischen

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Werdegang prosperierender Markt für Fernsehüberlieferungen entwickelt, der mit Blick auf die juristischen Fesseln im Programm- und Schriftgutbereich noch größtenteils im Verborgenen operiert, wohingegen technische Artefakte und das weite Feld der Werbe· und requisitären Artikel offen feilgeboten werden. Wurden Sammlungen wie jene des American Museum of the Moving Image bereits Ende der 1980er und Anfang der 90er Jahre schon mit Artefakten bestückt, die von den Mitarbeitern auf Flohmärkten erworben wurden, ist dieser gewerbliche Mikrokosmos dem weltumspannenden elektronischen Handel über das Internet gewichen: ,,[T]here are things beside the technology and beside the programs like publicity materials, billboards, posters, ancillary products, your Teenage Mutant Hero Turtleslunchboxes and toys and promotional materials, badges, the Secret Decoder Ring, costumes: so many things. And supporting audiovisual material. That is not centrally collected. But you find it on Ebay" (Michele Hilmes, WCFTR). Während seitens Privatsammlern durch den potenziell weltweiten und zahlenmäßig kaum zu fassenden Käuferkreis im Netz selbst an ephemeres Begleitmaterial wie historische Pressemappen zur Erstausstrahlung erfolgreicher Fernsehproduktion oder Spielfiguren hohe Gewinnerwartungen geknüpft werden, wird die „Tradition des Gebens" (Lynn Teather, University of Toronto) nach Ansicht von Museumsleiter Bruce DuMont langsam auch in Bezug auf sämtliche andere Überlieferungsbereiche verdrängt. Dadurch leide auch das Bewusstsein für die kultursichernde Arbeit von öffentlichen Einrichtungen: „Ebay in many cases is an archivist's worst enemy because the reality is that there might be people who have inherited important historic documents and they are more concerned making a quick buck than having a bonified institution preserve it, study it, make it available, conserve it. And that's unfortunate. But that's a genie out of the bottle, I don't think that we can change that. It will go to people who either have more money to acquire it and keep it for themselves as opposed to the basic nature of a museum which is to interpret and to make important things available for the masses" (Bruce DuMont, MBC). Auch nach Angaben von Michael Adams vom MZTV Museum ist das Interesse an der Sammlung von Fernsehüberlieferungen innerhalb kürzester Zeit exponentiell gestiegen (vgl. auch Sassaman 2006). In den vergangenen zehn Jahren, so seine Einschätzung, habe sich die Zahl der Sammler von Fernsehgeräten u m den Faktor 50 vervielfacht. Dadurch übersteige das Angebot zwar den musealen Bedarf, doch ändere dies wenig an der allgemein festzustellenden Konzentration von ikonischen Exemplaren in nur einigen wenigen Großsammlungen, deren Besitzer ihren Wert durch geschickte Sammlungsstrategien zu steigern wissen. Die wertvollsten Stücke werden demnach jedoch nicht auf dem virtuellen Massenmarkt angeboten, sondern orientieren sich an den Veräußerungsstrategien des Kunstmarktes, die, wie Museumsberater Barry Lord erläutert, trotz der Popularität privater Versteigerungen im Internet besonders wertvolle und qualitativ einzigartige Werke auf professionelle Verkaufsstrukturen und den persönlichen Kontakt zum Kaufin-

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teressenten setzen. So zahlte das MZTV Museum für die Anschaffung seines wichtigsten Ausstellungsstückes, den Fernsehapparat GE Octagon von 1928, einen Millionenbetrag. Bieterkämpfe zwischen mehreren Institutionen sind jedoch nicht ausgeschlossen: Auch das American Museum of the Moving Image und die American Wireless Association hatten sich für die Erwerbung interessiert und warben jeweils mit ihren ganz eigenen Qualitäten u m die Gunst des Privatsammlers: „He called us independently. We didn't know that the others were called. He wanted to know what our vision was, what we wanted to do with our collections. And basically we showed him what we wanted to do and what our vision of the future was. And he was quite taken back by the fact that we are telling a unique story in a unique way and that if he was selling his TV set to us we wouldn't stick it in storage. We would immediately put it in display and would immediately tell its story. So we ended up with the GE Octagon, the most important piece in his collection" (Michael Adams, MZTV Museum). Je höher der Raritätenwert einer Fernsehüberlieferung eingestuft wird, desto wahrscheinlicher kann generell ihre lukrative Veräußerung und desto unwahrscheinlicher ihre Übereignung als Spende vermutet werden. Allerdings können gemeinnützige Einrichtungen in Nordamerika mit Steuervorteilen u m Spender werben: „You don't have to pay taxes for the value that you donate to the museum. So if I have a million dollar income and give something worth 500,000 dollar to a museum, I can take those 500,000 dollars off of my taxable income" (Bruce Altshuler, NYU). So wichtig die Möglichkeit, dass Privatleute ihre Materialspenden vollständig von der Steuerlast absetzen können, für die Erwerbungsmodalitäten beispielsweise von Museen auch sein mag, entfaltet sich ihre Attraktivität fast ausschließlich bei einem nur sehr begrenzten Teil des televisuellen Überlieferungsfeldes. Eine breite Spendenbereitschaft in der allgemeinen Öffentlichkeit hervorzurufen, verspricht diese Regelung nicht. Weder in Nordamerika noch in Deutschland gibt es daher übergreifend verlässliche Akquisestrukturen, die finanziell leistungsschwachen öffentlichen Bildungseinrichtungen eine reibungslose Sammlungstätigkeit ermöglichen. Zweifellos belegen Einzelfälle wie das Paley Center for Media oder die industriell und lokal gut vernetzten Institutionen in Los Angeles und Chicago, dass Absprachen mit der Fernsehbranche unter rechtlichen und finanziellen Gesichtspunkten über lange Zeiträume hinweg funktionieren. Diese individuell ausgearbeiteten Lösungen stellen jedoch Ausnahmen dar, die keineswegs auf eine ausgebaute Infrastruktur für die Sammlung von Fernsehüberlieferungen schließen lassen. Vielmehr hängen Sammlungserfolge nicht selten von Zufallskonstellationen ab, die sich auf persönliche Sympathien und Antipathien, das Interesse und Wissen von Sammlern und Fernsehunternehmen sowie die damit verbundene Bekanntheit einer sammelnden Institution gründen. Insbesondere neue Institutionen dürften daher mit ihren Sammlungsinitiativen vor großen Schwierigkeiten stehen. Zu stark hängt die Bereitstellung oder gar Übereignung von Material jeglicher Gattungsart davon ab, wie viel Vertrauen der betreffenden Orga-

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nisation und ihren einzelnen Mitarbeitern entgegengebracht wird. Eine entsprechende Reputation müssen sich Institutionen oft über Jahre und Jahrzehnte hinweg erarbeiten und bleiben zudem latent abhängig von den Verwaltungsstrukturen innerhalb der Fernsehbranche sowie unternehmenspolitischen Entscheidungen. Dies zeigt sich auch am Beispiel des etablierten Paley Center for Media, das trotz der historisch gewachsenen Kontakte zur Fernsehindustrie regelmäßig neue Hürden bei den Verhandlungen mit einzelnen Fernsehunternehmen zu bewältigen hat: „A lot of the negotiations are difficult and it was a lot easier a few years ago when networks as lean as they are now especially with staff. There were people whose job it was to get programs to various festivals and to get programs to other institutions. Now those departments have faded away. So its difficult just to deal with the structure of the networks and productions companies and who would responsible for the physical making of the cassettes. That is probably harder than the actual negotiation of the contract" (Ron Simon, PCM). Abbildung 2 stellt zusammenfassend die maßgeblichen Akquiseformen dar, die öffentlichen Einrichtungen in Nordamerika und Deutschland bei der Sammlung von Fernsehmaterial unterschiedlicher Überlieferungsgattungen zur Verfügung stehen.

Privatsammler

TV-Industrie (v.a. Programmmaterial,

(ehem. Fernsehakteure, allgemeines Publikum)

mitunter Schriftgut, sehr

(v.a. Realien, Schriftgut, sel-

selten Realien)

tener auch Mitschnitte)

(Institutionelle Ebene)

Gemeinnützige Gedächtnisorganisationen

Abbildung 2: Vernetzung als Voraussetzung: Öffentliche Einrichtungen beziehen ihre Sammlungsstücke ebenso von Fernsehunternehmen wie von ehemaligen Fernsehakteuren und dem Publikum (eigene Darstellung). 3.1.2. Die Qual der Wahl: Strategien priorisierender

Kriteriensetzung

„It's such a huge medium": Für Robert Thompson (SU) ist die Komplexität der televisuellen Überlieferungsbildung, die niemals stoppt, alle Ebenen des kulturellen Lebens zu

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

reflektieren und zu beeinflussen, das wichtigste Argument, Kriterien für einen möglichst klar zugeschnittenen Selektionsprozess zu entwickeln. Wegen der Unmöglichkeit, das gesamte Überlierfungsspektrum zu sammeln, und der Gefahr, bei der Auswahl überfordert zu werden und daher beliebig vorzugehen, müssen Schlüssel geschaffen werden, die eine verlässliche und verbindliche Auswahl ermöglichen. Das Medium selbst jedoch macht es seinen Sammlern schwer, Relevanzkriterien für die überbordende Menge an Material zu finden, ohne einfach den Logiken der nicht-enden-wollenden Programmströme mit ihren Konformisierungs- und Konfektionierungstendenzen, aber auch Aufmerksamkeitsund Eventisierungsstrategien zu folgen. Das stete Nebeneinander und Ineinandergreifen der Programminhalte lässt die Einzelüberlieferung im Gesamtbild leicht verschwinden, ebenso wichtig wie entbehrlich erscheinen. So verleitet das Fernsehen zum planlosen Sammeln oder zur Akribie - beides muss erfolglos bleiben, lässt das Medium mit den zahllosen Gesichtern im immer gleichen Rahmen doch keine pauschal formulierten Bewertungsmaßstäbe zu. Allgemeine Wertungskategorien wie die Wichtigkeit bzw. Relevanz einer Überlieferung bieten einer Bewältigung des Selektionsproblems kaum Halt, zu vielseitig, unbestimmt und daher willkürlich ist ihr Geltungsanspruch. „Important for the history of the medium, important to the history of the culture or the country, important to a particular person, a persons life or a career" - Dan Einstein vom UCLA Film & Television Archive skizziert die problematische Breite eines solchen Kriteriums. Die Debatte zur Frage, wie herauszufinden sei, welche kulturellen Indikatoren die nötige Validität aufweisen könnten, um eine dauerhaft verlässliche Auswahl zu ermöglichen, steht in Bezug auf das vergleichsweise junge Medium Fernsehen erst noch am Anfang. Noch befindet es sich in einer kulturellen Akklimatisationsphase, wodurch differenzierte Auswahlstrategien mittels priorisierender Kriteriensetzung als unumgehbar eingeschätzt werden. Dieser Anspruch wird aber selten eingelöst, wie Sam Kula mit Blick auf das strategische Vorgehen des kanadischen Nationalarchivs beschreibt: „In Canada we had three magic words: national, historic, significant. These are three english words that are very ambiguous. What exactly is .national'? What exactly is ,historic'? [...] So our criteria were, that it had to be of national and historical significance to some extent, leaving aside what exactly .significance' meant" (Sam Kula). Umso dringender braucht es Orientierung bei der Auswahl, die jedoch vom Staat nicht geleistet werden kann, da ein verbindlicher Gesetzesrahmen fehlt. Es herrscht „Archivpluralismus" (vgl. Reimann 2004: 30), der es der Fernseherbe-Verwaltung auferlegt, ihre jeweils eigenen verbindlichen Regelungen zu treffen. Die damit verbundenen Freiheiten für Archivare und Sammlungsleiter bei der Entscheidung über Wohl und Wehe des von ihnen verwalteten Bestandes eröffnen also enorme Spielräume bei der Ausarbeitung von Auswahlstrategien. Entsprechend lassen sich zahlreiche Unterschiede in den Herangehensweisen der betreffenden Organisationen bei der Auswahl von Fernsehüberlieferungen herausarbeiten, die sich nach dem jeweiligen Institutionstypus, der Überlieferungslage sowie temporalen und methodischen Gesichtspunkten richten.

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung 3.1.2.1. Auswahlstrategien

nach

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Institutionstypus

Zunächst sind mehrere institutionelle Organisationsformen zu differenzieren, welche die Auswahlbemühungen in ihrem Kern bestimmen: Das Wesen und die Ziele einer Einrichtung geben die Sammlungsrichtung vor und determinieren somit auch die Bewertungsmaßstäbe, mit denen eine Auswahl vorgenommen wird. So macht es einen wesentlichen Unterschied, ob der Selektionsprozess unter den Bedingungen einer hierarchischen Unterordnung der Sammlungsstelle innerhalb wirtschaftlicher Entitäten erfolgt oder aber in weitgehend freier Selbstbestimmung innerhalb einer unabhängigen Kultureinrichtung. Im Folgenden werden drei Institutionstypen unterschieden, auf deren Grundlage die Sammlung des Fernseherbes in Deutschland und Nordamerika hauptsächlich erfolgt. Entscheidend ist hierbei nicht nur die rechtliche Organisationsform, sondern auch die Frage, welche Arten von Nutzergruppen primär mit der Sammeltätigkeit bedient werden sollen. Die Ausgangslage ist jedoch in allen Fällen dieselbe: Die Auswahlanstrengungen gelten der Bewahrung televisueller Überlieferungen, jedoch mit unterschiedlichen Zielrichtungen und Schwerpunktsetzungen. - Fernsehunternehmen: Die Auswahlstrategien von Produktionsarchiven der Fernsehwirtschaft sind in erster Linie auf programmschaffende Nutzungszwecke ausgerichtet. Der Produktionsfokus betrifft dabei nicht allein kommerzielle Fernsehveranstalter, sondern ebenso die öffentlichen und öffentlich-rechtlichen Anstalten. Der dokumentarische Wert einer Überlieferung ist daher insofern zweitrangig, als dass er als Auswahlkriterium tendenziell mit der Bewertung nach programmlichem Interesse einhergeht, wenn die historische Relevanz an den Level der Wiederverwendbarkeit gekoppelt wird (vgl. auch Ernst 1998): Bedeutende Überlieferungen aus der Fernsehgeschichte, seien es beispielsweise Sternstunden kreativer Fernseharbeit oder televisuelle Dokumente über zeitgeschichtliche Entwicklungen, haben immer auch einen Programmwert, der eine erneute Ausstrahlung wahrscheinlich macht. Alle befragten Vertreter von Archiven kommerzieller Sender bestätigen die Ausrichtung der Auswahlstrategien auf die Anforderungen der Produktion, schließlich handele es sich nicht um öffentliche Archive (Roy Carubia, CBS). Produktionsarchive schwanken in ihrem Bestreben, eine möglichst breite Überlieferungsbasis für programmliche Zwecke vorzuhalten, bei der Auswahl von Material stets zwischen der Orientierung an einer dauerhaften Bewahrung und jener am Wert der Überlieferungen für eine mögliche Wiederverwendung. Im Falle der Programmarchive von Fernsehsendern lässt sich also keine klare Unterscheidung zwischen „preservation-oriented" und „reuse-oriented archives" (vgl. Hasegawa/Hiki 2004: 167) vornehmen. Einerseits bilden sie die breite endarchivische Basis für die gesamte, auch senderexterne Fernseherbe-Verwaltung, weshalb ihnen schon eine moralische Pflicht zur Bewahrung ihrer Überlieferungen zukommt, andererseits sind sämtliche Arbeitsabläufe und archivischen Operationen auf die Unterstützung des Sendebetriebs ausgerichtet, angefangen bei der Einbindung von Kontextinformationen in die archivische

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Datenbankstruktur, die den Programmredaktionen bei der Suche nach Material hilft, bis hin zur hauptsächlichen Archivierung sogenannter Clean-Feed-Fassungen der Sendeinhalte, also des geschnittenen Materials in seiner Ursprungsfassung ohne graphische Ergänzungen wie Senderlogos, Namenseinblendungen oder Laufbänder. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland haben ihre Auswahlkriterien in einem Regelwerk Mediendokumentation festgelegt (ARD/ORF/ZDF 2008), für das es bei der Senderkonkurrenz in Deutschland ebenso wenig wie bei Sendeunternehmen in den USA oder Kanada ein Äquivalent gibt. Die Grundlage für die Bewertung des Produktions- und Dokumentationswertes bilden vier Kategorien, in denen allgemeine, inhaltliche, gestaltungsbezogene und medienspezifische Kriterien formuliert wurden. Im Vordergrund der Archivierungsaktivitäten der Sender steht die Programmproduktion, wie unter anderem Heiko Kröger (NDR) und Michael Harms (SWR) bestätigen. Die im Regelwerk aufgeführten inhaltlichen Kriterien - relativ zu bestimmende „Dominanzereignisse", repräsentative Beispiele für längerfristige Tendenzen und Abläufe, „Alltagsrealität" und Kuriositäten in ihren signifikanten Ausdrucksformen, illustrierendes, wiederverwendbares Bildmaterial sowie Beispiele aus dem Programmgeschehen nach dem Gebot der Typizität - werden in der Auswahlpraxis demnach also im Zweifelsfall auf der Bemessungsgrundlage des Programmbedarfs eingesetzt. Dies trifft jedoch in geringerem Maße auf die medienspezifischen Kriterien zu, die Programminhalte betreffen, an welchen die Rundfunkgeschichte direkt oder indirekt abzulesen ist und der Sender ein Interesse hat, sie als Teil der Unternehmensgeschichte zu dokumentieren. Auch der Verweis auf die kulturpolitischen Verpflichtungen der Sender mit Blick auf ihre endarchivische Kompetenz richtet sich, wenn auch in seiner Formulierung relativ unspezifisch und interpretationsbedürftig, auf eine Dokumentation des Programmbetriebs unabhängig von produktionsorientierten Interessen. So haben öffentlich-rechtliche Senderarchive besonders mit dem Konflikt zwischen Sendeabwicklung und Kulturauftrag zu kämpfen. Kultur- und Bildungseinrichtungen: Im Vergleich zur Fernsehwirtschaft nähern sich Archive, Bibliotheken und Archive mit einem gemeinnützigen Mandat dem Fernseherbe mit einem divergenten Impetus an. Gemeinnützige Organisationen, die sich der Erschließung, Verwaltung und Aufarbeitung des kulturellen Erbes verschrieben haben, sind prinzipiell kulturellen Zwecken verpflichtet und erwirken ihre Daseinsberechtigung durch ihr Handeln im Dienste der Öffentlichkeit. Grob kann unterschieden werden zwischen Einrichtungen, die sich maßgeblich an die Wissenschaftsgemeinde richten, und solche, welche die allgemeine Bevölkerung ins Auge fassen. Im Dienste der Wissenschaft operieren beispielsweise das UCLA Film & Television Archive, das Wisconsin Center for Film and Theatre Research, aber auch das National Audio-Visual Conservation Center der Library of Congress. Diese Organisationen sehen ihre Leitfunktion in der Versorgung von Forschung und Lehre mit einem möglichst tiefen Überlieferungsbestand aus der Fernsehgeschichte. Dies erfolgt bei in die universitäre Infrastruktur integrierten Archivlösungen direkt vor Ort, indem Lehrveranstal-

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe- Verwaltung

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tungen mit Material versorgt und Forschungsprojekte mit Recherchemöglichkeiten am Campus unterstützt werden. Dadurch wird auch eine Einbindung der akademischen Nutzerklientel in die Selektionsprozesse ermöglicht: „Archives and scholars have a naturally synergistic relationship" (Michele Hilmes, WCFTR). Aufgrund der Orientierung am Bedarf für wissenschaftliche Zwecke werden bei der Auswahl eher längerfristige Ziele verfolgt, wodurch die dauerhafte Bewahrung eines möglichst exakt an den thematischen und gattungsspezifischen Schwerpunkten von Forschung und Lehre ausgerichteten Fundus im Vordergrund steht. An die allgemeine Öffentlichkeit richten sich vornehmlich auch Museen, denen dadurch bei ihrer Sammlungstätigkeit eine besondere Verantwortung bei der Aufarbeitung der Fernsehgeschichte zukommt. Im Gegensatz zu Nutzern wissenschaftlicher Einrichtungen müssen museale Auswahlstrategien die fehlende Vorbildung ihres Publikums mit einkalkulieren. Es gilt daher Überlieferungen auszuwählen, die auf ganz unterschiedliche Weise dauerhaft für ein bestimmtes kulturelles Themenfeld charakteristisch und aussagekräftig sind. Über die reine Dokumentation hinaus spielen hier auch präsentistische und auratische Qualitäten eine Rolle: Das Museum sammelt Überlieferungen, die „über ihren Dokumentationswert hinaus [...] noch einen Reizwert besitzen, der sie für historische Erfahrungen in besonderer Weise eignet" (Korff 1990: 333) und schließt daher notwendigerweise möglichst viele Überlieferungsgattungen mit ein. Museen stehen als Rückgrat der gesamtgesellschaftlichen Erinnerung in der Pflicht, dem Vergessen durch Bewahrung kultureller Überlieferungen entkommen zu können (vgl. auch Fehr 1990: 221). Sie haben idealtypisch ein genuines Bekenntnis zur erinnerungskulturellen Auswahl abzulegen, sind aber in der Praxis mit der steten Gefahr der Überfrachtung konfrontiert: ,,[J]e mehr das Museumswesen expandiert, desto wahrscheinlicher wird, dass die Museen selbst zu Müllhalden, also zu unbrauchbaren Materialanhäufungen verkommen, ähnlich [...] jenem ungeheuren Bilderberg, den unsere fotografierenden Mitmenschen in ihren Fotoalben anlegen" (ebd.). Als leitende Auswahlinstanz fungiert das Kuratorium, das bestrebt ist, möglichst nur dem Museumsmandat entsprechendes relevantes Material vorzuhalten. Für den Kunsthistoriker Veit Loers ist der Kurator ein „Arrangeur" (Loers 1994: 29), dessen Aufgabe nicht nur darin besteht, künstlerisch wertvolle Werke zusammenzutragen, sondern auch ganz Alltägliches zu finden, zu ordnen, zu trennen, auszuwählen und zu konzipieren, ob bestimmten Kategorien folgend oder willkürlich. Der fehlenden Spezifizität bzw. der weithin beliebigen Anwendbarkeit des Relevanzkriteriums sowie der allgemeinen Flexibilität bei der Auswahl legt die Erstellung von Kriterienkatalogen nahe, die möglichst eindeutig definieren, was gesammelt wird und was nicht. Waidacher nennt in seinem Handbuch der Museologie vier grundlegende Faktoren bei der kritischen Befragung des für die Aufnahme in die Museumssammlung in Frage kommenden Materials: Echtheit, Richtigkeit, Historizität und Vollständigkeit (Waidacher 1999:162). Hier steht die entsprechende Mission bzw. das Mandat der Einrichtung im Vordergrund: Hat es sich dem Fernsehen als solches und seiner Geschichte

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

verschrieben oder beschäftigt es sich mit dem Medium nur als einzelnen Baustein der Medienkultur? Wird das Fernsehen im übergreifenden Rundfunkkontext bzw. im Konzert der audiovisuellen Medien thematisiert oder wird nur eine spezifische Dimension der televisuellen Schaffensbreite ins Auge gefasst? Wo werden Schwerpunkte gelegt: auf die technischen oder die programmliche Entwicklung? Die Komplexität der televisuellen Überlieferungsproduktion hat in mehreren Einrichtungen dazu geführt, dass entsprechend des allgemeinen Trends zur Magazinierung in der Museumslandschaft weit mehr Sammlungsbestände angehäuft werden, als im Rahmen der Museumsarbeit präsentiert werden können (vgl. auch Fehr 1995: 18). So hat das Paley Center for Media seine institutionelle Identität maßgeblich über seine umfangreiche Sammlung von Programmmaterial definiert. Die Anlegung großer Sammlungsbestände führt in Museen zur Installation eines musealen Speichergedächtnisses: Nicht allein die Überlieferungen des musealen Funktionsgedächtnisses, welche aus der Sammlung heraus in die Museumsaktivitäten eingebunden und thematisiert werden, sondern auch eine weitaus größere Zahl aktuell weniger relevanter Sammlungsstücke, welche für eine spätere Nutzung eingelagert werden, machen eine stete museumsimmanente Wandelbarkeit möglich: „Museums never ,are'. They are always .becoming"' (Welsh 2005: 106). Ein möglichst breiter und tiefer Fundus bildet die Grundlage für ein kontinuierliches Neuerfinden des Museums, das durch den steten Objektstrom zwischen Depot und Ausstellung charakterisiert ist und damit der Dynamik des Fernsehens zwischen Archiv und Programmproduktion ähnelt. Auch sichert eine eigene Sammlung bis zu einem gewissen Grad die Eigenständigkeit der Einrichtung: Es wird ihr ermöglicht, einen eigenen Gedächtnisfundus durch aktive Auswahl aufzubauen und nicht immer wieder neu in Verhandlungen mit den endarchivischen Stellen zu treten. Dennoch wird der Selektionsprozess in der öffentlichen Kulturarbeit im Allgemeinen und in musealen Einrichtungen im Besonderen von zahlreichen hemmenden Faktoren wie Pflichten, Beschränkungen und Schwierigkeiten beeinflusst, die eine klare Ausrichtung der Auswahlstrategien an den jeweiligen Museumsaufgaben erschweren (vgl. auch Weil 2004:291). Dieser Eindruck wird durch die finanziell und rechtlich angespannte Lage von gemeinnützigen Institutionen zur Pflege des Fernseherbes erhärtet (vgl. Kapitel IV.2.5. und IV.2.6.). Während Einrichtungen wie das Paley Center for Media oder die Deutsche Kinemathek ihre Autonomie bei der Auswahlentscheidung behaupten, haben sie doch gleichzeitig mit einschneidenden Hemmnissen zu kämpfen, die zum Teil bürokratischer, zum Teil aber auch juristischer und monetärer Natur sind. So wird die Sammlungsstruktur nicht selten bestimmt von Kosten- und Zeitfaktoren, wenn beispielsweise die Ermittlung der Rechtesituation zu aufwendig und die Zahlung von Lizenzgebühren zu hoch ist. Selbst ressourcenstarken Einrichtungen wie das Newseum in Washington, D.C. wird Material in manchen Fällen verwehrt, was Fernsehkurator Paul Sparrow als intentionalen Hinderungsversuch der selbstbestimmten Auswahl wertet: „Even institutions that are our partners [...] sometimes don't allow us to show footage". Die tatsächliche Leistungsfähigkeit eines

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

139

Museums im Hinblick auf die Auswahl von Sammlungsgut divergiert also nicht selten eklatant von seinen kulturhoheitlich und gedächtnisorganisatorisch begründeten Sammlungspflichten.

3.1.2.2. Auswahlstrategien

nach

Überlieferungslage

„The hardest part of collecting television programming is to get the actual footage", sagt Michael Adams vom MZTV Museum. Sammlungskonzepte werden gemeinhin der Überlieferungslage angepasst. Selektiert werden kann allein, was unter bestimmten institutionellen, organisatorischen und wirtschaftlichen Bedingungen verfügbar ist. Zu sondieren ist also stets, welches Material der Fernsehbetrieb produziert und wo die Zuständigkeiten für die Verwaltung des jeweiligen Überlieferungsbestandes angesiedelt sind. Zwei maßgebliche Ansätze werden hierbei verfolgt: - Gattungsspezifischer Ansatz: Wie bereits deutlich wurde, besteht das Fernseherbe bei weitem nicht ausschließlich aus Programmmaterial, sondern umfasst eine Vielzahl weiterer Überlieferungsgattungen, die jeweils unterschiedliche Archivierungs- und Sammlungsvorkehrungen erforderlich machen. Je nach Entstehungs- und Nutzungskontexten werden Überlieferungen üblicherweise an separaten Stellen erfasst. Die Archivbemühungen der Senderarchive folgen mehrheitlich dem Provenienzprinzip: Geschäftsdokumente werden idealtypisch im der Verwaltung zugeordneten Unternehmensarchiv erfasst, audiovisuelle Sendeinhalte im Programmarchiv, Produktionsunterlagen wie Sendemanuskripte und Programmpläne verbleiben indes häufig in den Redaktionen. Auf welche Weise die Zuordnung durchgeführt wird, bleibt ganz der Unternehmensleitung überlassen, die bestrebt ist, einen reibungslosen Programmbetrieb zu gewährleisten, und sich die Freiheit nimmt, Ressourcen entweder zu bündeln oder diese durch eine Aufspaltung der Archivaufgaben in unterschiedliche Geschäftsbereiche zu verteilen. Realien, darunter technisches Produktionsgerät, Requisiten und Werbemittel, werden in den Sendeunternehmen jedoch mehrheitlich nicht strategisch gesammelt (vgl. Kapitel IV.3.1.3.). Senderunabhängige Einrichtungen haben durch ihre organisationelle Trennung vom Programmbetrieb die Möglichkeit, Sammlungsschwerpunkte zu setzen und dabei gattungsspezifische Gewichtungen vorzunehmen. Die damit verbundenen Freiheiten sind jedoch gleichzeitig auch die Ursache für den hohen administrativen Aufwand, der zu leisten ist, um durch die uneinheitliche Archivstruktur der Fernsehwirtschaft mit den zahlreichen und mit unterschiedlichen gattungsspezifischen Kompetenzen ausgestatteten Anlaufstellen der unternehmerischen Fernseherbe-Verwaltung über die Akquise von Überlieferungen zu verhandeln. Jede Überlieferungsgattung ist mit eigenen Auswahlschwierigkeiten behaftet und erfordert die Entwicklung spezifischer Auswahlstrategien: Das Programm als Endprodukt fungiert als traditionelles .Gesicht' des Mediums und dürfte daher auch bei retrospektiver Betrachtung vor allem für ein breites Publikum von vorrangigem Interesse sein. Sogenannte Flachware dagegen, das heißt papierene Dokumente wie Schriftgut und

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Fotos, bergen ihren Reiz in dem durch sie ermöglichten Blick hinter die Kulissen des Programmbetriebs und können beispielsweise Fragen nach der Entstehung einer Fernsehsendung von der ersten Idee über die Ausarbeitung des Formatkonzeptes bis hin zu ihrer programmlichen Einordnung, der Zuschauerresonanz und ihrer Lizensierung an Sender im Ausland beantworten. Gleich welche Nutzungsintention vorliegen mag, ermöglicht jede Überlieferungsgattung einen spezifischen, von anderen Gattungen nicht zu leistenden Blick in die Fernsehvergangenheit, der bei der Auswahl berücksichtigt werden kann. Genre- und themenspezifischer Ansatz: Eine Auswahl nach Genres und Themen folgt dem Charakter des Fernsehens als Programmmedium. Hier ist zu unterscheiden zwischen einem weiten Ansatz, der möglichst alle Facetten des Programmspektrums erfassen soll, und einem engen Ansatz, der bestimmte Bereiche fokussiert und sie sammlungstechnisch zu vertiefen versucht. „The one thing the museum tried in the beginning was to collect programs in every genre. We weren't saying that we just want news or entertainment. So every genre of television like the arts, sports, cultural, entertainment, news, comedy, public affairs, documentary, religious: We want to have a representation of all those categories" (Ron Simon, PCM). Das Paley Center for Media genießt durch seine umfassende programmzentrierte Sammelstrategie, die es seit seiner Eröffnung kontinuierlich verfolgt, weltweites Ansehen bei der Medienwissenschaft und im Sektor der unabhängigen Kulturerbe-Verwaltung. Die Signifikanz der Sammlung basiert auf ihrem Umfang und ihrem repräsentativen Anspruch, den US-amerikanischen, aber auch teilweise internationalen Sendebetrieb in seinen wesentlichen Programmentwicklungen zu dokumentieren. Der daraus resultierende Aufwand ist zweifellos immens und setzt voraus, dass die Institution über die Unterstützung der Fernsehwirtschaft und die nötigen finanziellen Mitteln verfügt, um den weiteren Ausbau und die Pflege der Sammlung gewährleisten zu können. Andere Häuser haben sich aus diesem Grund einen engeren Sammlungsrahmen auferlegt. Das Museum of Broadcast Communications arbeitet seit seiner Gründung an der Formung und Ausgestaltung von Spezialsammlungen, die zum Beispiel einen dezidiert regionalen bzw. lokalen Fokus auf den Standort Chicago als Fernsehmetropole haben, ohne den Anspruch einer Einrichtung mit nationalem Geltungsanspruch einzubüßen. Vielmehr ermöglicht es der Fokus auf den eigenen Standort, die historische Entwicklung des Fernsehens im Allgemeinen auf lokale Fernsehkarrieren, Formatentwicklungen oder Nachrichtenereignisse zurück zu beziehen: ,,[T]he talkshow genre became an important genre for us to grow with. Plus: Oprah Winfrey came from Chicago, Phil Donahue, Jerry Springer came from Chicago. It is not a hometown booster to say that Chicago is the centre of talkshows in America" (Bruce DuMont, MBC). Die Ausarbeitung spezifischer Sammlungsexpertisen verspricht einer Einrichtung erstaunliche Reputationssteigerungen, da sie sich mit einer eng-fokussierten Auswahl zu einer Leucht-

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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turminstitution, das spezifische Sammlungsfeld betreffend, entwickeln kann. Hierzu gehören freilich nicht ausschließlich Programminhalte, sondern jeglicher beliebige Überlieferungsbereich, welcher der Sammlung zur angestrebten Kohärenz verhilft. Generell kommen genre- und themenspezifisch beide Ansätze gleichermaßen zur Anwendung, jedoch in unterschiedlichen Gewichtungen: Enge und weite Auswahlstrategien schließen sich nicht aus, sondern lassen sich vorteilhaft verbinden, wenn zusätzlich zu einer breiteren Kernsammlung einzelne Spezialsammlungen angelegt werden, die beispielsweise einzelnen Akteuren und ihren Karrieren gewidmet sind. Auf diese Weise lassen sich unterschiedliche Genres, Themen und Gattungen gleichermaßen miteinander in Bezug setzen.

3.1.2.3.

Temporale

Auswahlstrategien

Fernsehsammler stehen vor dem grundsätzlichen Problem, sich bei der Annäherung an ihren Sammlungsgegenstand entscheiden zu müssen, ob sie das Medium in seiner unablässigen und wandelbaren Überlieferungsproduktion mit vorgefassten Auswahlkriterien zu domestizieren suchen oder ob sie sich in ihrer Auswahl leiten lassen von der Spezifizität des Einzelfalls. Wahrend eine vorausschauende Herangehensweise an das Problem nur die deduktive Methode zulässt, eröffnen rückblickende Strategien induktiv geförderte Argumente für oder gegen die Auswahl einer Überlieferung. - Prospektiver Ansatz: Die Schwierigkeit, historische Signifikanz bereits in der Gegenwart zu bemessen, betrifft nicht allein Einrichtungen mit einem explizit zeitgeschichtlichen Sammelfokus, sondern geriet auch zum Dilemma bei der Verwertung von Archiwermögen für die Programmproduktion. Welche Sendungen in unbestimmter Zukunft einen Wiederausstrahlungswert haben könnten, ist eine Frage, die nach Meinung von Hans Hauptstock (WDR) in der Vergangenheit zu selten gestellt wurde: „Eine Fahrt über die Autobahn A4, so die damalige Vermutung, wird niemanden mehr interessieren. Heute würde uns der Mund wässrig werden, wenn wir erstens einen Ford Taunus oder einen Opel Rekord oder Kapitän sehen würden, und man könnte das sofort ins Programm nehmen." Während Fernsehunternehmen lange einen vornehmlich produktionspragmatischen Fokus mit kurzem Zeithorizont bei der Auswahl des für die Archivierung in Frage kommenden Materials aufwiesen, erlangte die Dokumentation der Gegenwart besonders bei der Sammlungstätigkeit von Museen im Sinne eines „vorauseilenden Archivfs]" (Weschenfelder 1990: 187) Bedeutung. Diese drückt sich heute noch in breit angelegten Aufzeichnungsprojekten von Fernsehprogramm oder der Sammlung von Vorlässen noch lebender Akteure aus der Fernsehbranche aus. Dabei stellt sich auch hier grundsätzlich das Problem fehlender historischer Distanz zu den für die Auswahl in Frage kommenden Objekten. Umso wichtiger wird die anhand von wissenschaftlichen Erkenntnissen fundierte Einordnung eines relevant erscheinenden Themas. Schließlich lässt sich in den meisten Fällen nicht vorhersagen, was sammelfähig ist oder tatsächlich gesammelt werden muss (vgl. dazu auch Fehr 1995: 12).

142

IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Eine vorausschauende Auswahl ist aus zweierlei Gründen problematisch: Die auswählende Instanz kann programmliche Fluktuationen wie beispielsweise außerplanmäßige Sondersendungen nur unzureichend berücksichtigen, da sie zwangsläufig überraschend auftreten, und im Übrigen ist die prospektive Beurteilung von Fernsehüberlieferungen jeglicher Art nach ihrer historischen Relevanz oder ihrer inhaltlichen Qualität kaum möglich. Nichtsdestotrotz bot sich den Archiv- und Sammlungsverantwortlichen des Fernsehens jahrzehntelang keine Alternative, was vorrangig den kostenintensiven Aufzeichnungstechnologien geschuldet war: Wenn in den 1950er und 60er Jahren eine Live-Sendung dauerhaft bewahrt werden sollte, musste eine teure Filmaufzeichnung angefertigt werden. Dies erforderte im Vorwege eine genaue Evaluation, ob Kosten und Aufwand gerechtfertigt waren. Auch mit dem Aufkommen der professionellen Videotechnologie war dieses Problem keinesfalls bewältigt, sondern erübrigte sich erst mit der rapiden Verbilligung von Rekordern und Bandmaterial im Laufe der 1980er Jahre. Da in der damaligen Zeit die Auswahlkriterien deduktiv auf hochtheoretischem Niveau aufgestellt werden mussten und in ihrer Anwendung aufgrund der begrenzten Ressourcen stark selektiv und ebenso spekulativ in ungewisser Erwartung dessen, was tatsächlich über den Äther versendet wurde, ausfielen, war das Risiko hoch, dass wertvolles Material durchs Raster fiel. Die allein historisch zu bestimmende Wertigkeit einer Sendung, beispielsweise ihr einflussreicher experimenteller Charakter, worauf Henry Jenkins (MIT) abstellt, oder die Breitenwirkung einer technologischen Innovation wie Handy-TV, auf die Michael Adams (MZTV Museum) oder Peter Paul Kubitz (DK) verweisen, kann mit einem prospektiven Ansatz nicht erfasst werden. Zudem untersteht der Versuch einer Objektivierung der perspektivischen Selektion von kulturellen Beständen dem Risiko, von gegenwärtigen Konjunkturen in Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik beeinflusst zu werden. Dadurch dass die Fernseherbe-Verwaltung auf dem Grundsatz der institutionellen Selbstbestimmung erfolgt, kann sich jede Auswahlinstanz einen eigenen Kanon auferlegen. Die damit verbundenen Freiheiten verpflichten aber auch zu einem verantwortungsvollen und vorausschauenden Sammeln: Je klarer Leitfragen und je festgelegter und strukturierter die Rahmenkriterien zur Dokumentation der Gegenwart im Voraus formuliert werden, gepaart mit einem offenen Sammlungskonzept, das Neugier ebenso zulässt wie Experimentierfreude, desto abgesicherter und zugleich flexibler lässt sich auch perspektivisch sammeln (vgl. dazu auch Gottfried 2003: 21). - retrospektiver Ansatz: Eine technisch anspruchsvollere und ressourcenintensivere Strategie ist die Auswahl in der Rückschau. Ein solches Vorgehen macht es notwendig, zunächst eine möglichst lückenlose Dokumentation der gegenwärtigen Fernsehprogramme zu erstellen, um daraufhin aus dem vorliegenden Bestand zu selektieren. Mit dem Aufkommen digitaler Aufzeichnungsmodi und wachsender Speicherkapazitäten ist es erstmals in der Fernsehgeschichte möglich geworden, komplette Sendeabläufe mitzuschneiden. Idealiter verstreicht zwischen der Überlieferungskreierung, also dem Aufzeichnungsprozess, und seiner Bewertung eine Frist, die es den zuständigen Akteu-

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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ren ermöglicht, bereits eine historische Dimension bei ihrer Auswahlentscheidung an das zur Bewertung anstehende Material anzulegen. Diese Frist muss jedoch aus Gründen der Praktikabilität begrenzt bleiben und überschreitet in der Regel nicht die Dauer von einigen Wochen, kann im Einzelfall wie beim ZDF aber auch bis zu einem halben Jahr betragen. Steve Bryant (BFI) sieht einen wesentlichen Vorteil der Auswahl mittels eines solchen Zeitfensterns in ihrer Effizienz: ,,[B]ecause we now select with retrospect, we are able to select a lot less." Das für die dauerhafte Archivierung ausgewählte Materialaufkommen könne sich dadurch schlagartig halbieren. Anders verhält es sich bei der retrospektiven Auswahl, welche sich nicht mit dem Gegenwartsprogramm befasst, sondern mit bereits älteren Archivbeständen: Diese sind durch die entsprechenden Auswahlinstanzen in den Sender-, Universitäts- oder sonstigen Archiveinrichtungen zweifellos bereits vorselektiert. Dennoch ist hier durch die größere temporale Distanz zum Entstehungskontext der Überlieferungen ein noch treffsichereres Auswählen möglich. Ein entscheidender Vorteil des retrospektiven Ansatzes im Selektionsprozess ist die Unabhängigkeit des Selekteurs vom linearen Programmfluss. Die Auswahl erfolgt auf der Basis von Material, das bereits (z.B. aufgezeichnet) vorliegt. Kriterien können zwar, müssen aber nicht an das Material herangetragen werden, sondern ebenso aus den Überlieferungen heraus entwickelt bzw. ihre Eigenheiten stärker als Faktoren in die Auswahlentscheidung miteinbezogen werden. Eine solche induktive Ermittlung von Kriterien befähigt den Selekteur zu einer reflektierteren und passgenaueren Bewertung des Materials, da hier Zeit gewonnen werden kann, die bei der vorausschauenden Auswahl fehlt. Eine zeitlich versetzte Auswahl macht die Verknüpfung von deduktiven und induktiven Vorgehensweisen praktikabel und ermöglicht zusätzlich, dass Entscheidungen in einem stufenweisen Verfahren getroffen werden, das Diskussion und Revision zulässt, bevor eine Aufnahme der Überlieferung in die Sammlung erfolgt.

3.1.2.4.

Methodologische

Auswahlstrategien

So beliebig, sprunghaft und diskontinuierlich sich das Medium Fernsehen im alltäglichen Sendebetrieb geben mag, desto klarer müssen sich Auswahlinstanzen über die Zielrichtung ihrer Sammeltätigkeit bewusst sein: „Wenn man sich der Beliebigkeit des Sammeins entledigt und Schwerpunkte setzt, hat man bereits eine Vergegenwärtigung der eigenen Arbeit betrieben" (Peter Paul Kubitz, DK). In Anbetracht der überwältigenden Vielfalt und des Volumens des Sendebetriebs fordert das Fernsehen seinen Sammlern sowohl eine hohe Reflexionsebene als auch klar definierte Auswahlstrategien ab, um nicht in ein planloses Horten von televisuellem Stückwerk zu verfallen. Erst mittels einer klaren Sammlungslinie wird effektives Auswählen und damit aktives sowie passives Vergessen gleichermaßen möglich, aber auch nötig. Doch sollte fehlerhaft ausgewählt, das heißt sollten bei der Selektion Maßstäbe angelegt werden, die dazu führen, dass eine Sammlung hinsichtlich ihres Auftrages Lücken aufweist oder die notwendige Kohärenz vermis-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

sen lässt, ihre Zusammenstellung gar willkürlich erscheint, kann durch die .vergessenen, also nicht vorhandenen Überlieferungen die Arbeit der betreffenden Einrichtung und ihre gedächtnisbildende Funktion erheblich beeinträchtigt werden. Auf der empirischen Basis der durchgeführten Expertengespräche mit Vertretern der maßgeblichen televisuellen Sende- und Gedächtnisorganisationen in Nordamerika und Deutschland wurden insgesamt 13 methodische Ansätze identifiziert, die in den Einrichtungen zur Auswahl von Fernsehüberlieferungen zur Anwendung kommen. - Holistischer Ansatz: ,,[M]y guess is that at the moment the criteria focus on comprehensiveness, trying to get as much as they can so that the record is preserved: the video, that the television-record exists somewhere" (Horace Newcomb, UG). Der holistischen Auswahlmethode liegt das Streben nach vollständiger Erfassung eines Sammlungsgebietes zugrunde. Entgegen der Auffassung zahlreicher Zweifler im Expertenfeld, dass derlei Ambitionen von der Komplexität des Fernsehens selbst torpediert werde und daher zum Scheitern verurteilt seien, folgen manche Institutionen unerschütterlich dem Anspruch, sämtliche Überlieferungen des Fernsehens in ihrem Zuständigkeitsund Kompetenzbereich zu erfassen. Während das NBC News Archive sämtliche ausgestrahlten Nachrichtensendungen erfasst, archiviert die kanadische CBC gar ihr komplettes Programmaufkommen. Archivleiter Geoffrey Hopkinson dagegen rechtfertigt den hohen Aufwand mit der dokumentarischen Verpflichtung der öffentlichen Sendeanstalt und dem Recht der allgemeinen Öffentlichkeit auf eine vollständige Abbildung des Sendegeschehens im Archiv: ,,[A]s a public broadcaster we are mandated for a patrimony for the historical content and context for Canadians of anything that went to air. So from the morning right through to the evening will be cataloged." Einem ähnlichen Impetus folgt das Vanderbilt Television News Archive, das sämtliche Hauptnachrichtensendungen der führenden Fernsehnetworks aufzeichnet, ohne hierbei noch gesondert zu selektieren. Eine abgewandelte Strategie verfolgt Mike Mashon von der Library of Congress bei seinem Vorhaben, ganze Sendetage an Fernsehprogramm mitzuschneiden, um somit einen möglichst umfassenden Eindruck vom laufenden Programmgeschehen an ausgewählten Terminen zu erhalten. Weiterhin ermöglicht es die rasante Weiterentwicklung von Aufzeichnungstechnologien auch Privatpersonen, Programme beliebig vieler Fernsehveranstalter gleichzeitig mitzuschneiden. Howard Besser (NYU) berichtet von einem Privatmann, der seit 2002 strategisch das vollständige Programmaufkommen des US-Fernsehens aufzeichne, da dieses nach seiner Auffassung in unbestimmter Zukunft einmal besonderen Wert erhalten werde. Täglich entspreche dies laut Besser etwa 2.000 bis 3.000 Stunden. Unabhängig vom Umfang der Aufzeichnungsaktivitäten sowie ihrer tatsächlichen Kontinuität illustrieren solche extremen Fälle das gestiegene Bewusstsein für die Dokumentation des televisuellen Sendebetriebs. Universelle Herangehensweisen sind jedoch auch - zumal in abgestufter Form - im Schriftgut- und Realienbereich festzustellen. Institutionen wie die Library of American Broadcasting zeichnen sich durch einen breiten Sammelansatz aus, dem die Absicht zugrunde liegt, möglichst jegliche sich anbietende Überlieferung aus

IV.3. Die drei Problemfelder der

Femseherbe-Verwaltung

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der Rundfunkgeschichte zu Dokumentationszwecken zu erwerben: ,,[0]ur mission is really to collect and preserve anything containing the broadcasting history of the United States" (Chuck Howell, LAB). Hier zeigt sich, dass universelle Auswahlstrategien in ausgesprochen deutlicher Weise der Gefahr der Beliebigkeit unterliegen, weil sie sich stärker auf die Sammlung allen verfügbaren Materials und damit quantitative Gesichtspunkte konzentrieren und sich dem Risiko aussetzen, qualitative und vornehmlich inhaltliche Kriterien zu vernachlässigen. - Repräsentativer Ansatz: Eine verbreitete Auswahlstrategie ist die Bewertung von Überlieferungen nach ihrem Repräsentativwert. Hierbei argumentieren Archivare und Sammlungsleiter konsequent mit der Fülle an Material und der Notwendigkeit der harten Selektion, um Material-, Arbeits- und Kostenaufwand gering zu halten und Übersicht gewährleisten zu können. Im Vordergrund stehen also pragmatische Gründe bei der Bewältigung der Dokumentationslast. Dan Einstein (UCLA) versteht ein solches Vorgehen als Königsweg bzw. praktikabelste Alternative zu einem universellen Vorgehen: „Of course you can't have everything and your collection cant be complete in terms of television. That's impossible. But we have a real broad and representative collection, I think. We try to collect all kinds: good and bad television, local and national television." Ein weiteres Argument für eine repräsentative Auswahl ist ihr illustrativer Wert für den allgemeinen Nutzer sowie für die Bildungsarbeit: Da in diesen Fällen in der Regel übergreifende Typologien und Entwicklungen vermittelt oder Erinnerungsangebote an ein breites Publikum gemacht werden, reicht meist ein Beispiel wie zum Beispiel die erste Folge einer Show oder Serie, um unter anderem aufzuzeigen, was das betreffende Programmformat auszeichnet, wie Archivberater Sam Kula argumentiert: „You don't have to keep in your museum every single football-game that is broadcast in television. But you get the world cup, because the people expect you to have it." Außer Acht gelassen wird hierbei indes das wissenschaftliche Interesse an einem tieferen Einstieg in die Materie, um sich nicht allein oberflächlich mit einer Sendung, einem Genre usf. zu beschäftigen, sondern beispielsweise eine Serie in voller Länge, das komplette Werk eines bestimmten Fernsehregisseurs oder anhand von dokumentierten Geschäftsvorgängen den internationalen Handel mit Fernsehformaten zu erforschen. Kula verweist diesbezüglich auf die seiner Ansicht nach kurzsichtige Selektionspolitik des Museum of Modern Art, das ein Angebot ausschlug, alle Filme des legendären Schauspielers Buster Keaton zu erwerben: ,,[T]hey said: ,Νο, it's not necessary, two of the film are enough for the collection. We don't need them all.' They only wanted representative examples of the work of the artist. I'm not sure if they would have rejected the whole work of Henri Matisse, but that's another issue." Ferner bleibt bei dieser Auswahlmethode unklar, welche inhaltlichen Bewertungskriterien zugrunde gelegt werden, die sich allein an der unscharfen Formel des Repräsentativwerts einer Überlieferung ausrichten lassen. Schlussfolgerungen bezüglich der Repräsentativität einer Fernsehsendung für eine Grundgesamtheit aller entsprechenden bzw. ähnlichen Sendungen unterliegen einem komplexen inhaltsanalytischen

146

IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Bewertungsverfahren. Dieses im erforderlichen Maße zu leisten, ist jedoch im Großteil der untersuchten Einrichtungen aufgrund ressourcenbedingter Einschränkungen nicht möglich. So wird die Erhebungskategorie der Repräsentativität in einigen Fällen als Lehnbegriff für die intersubjektiv geteilte und erfahrungsbasierte Auswahlentscheidung verwendet, die sich am informativen Wert einer Überlieferung auf inhaltlicher, formalästhetischer, organisationsstruktureller usf. Ebene in Bezug auf ihre historische Dimension orientiert: Als bedeutend werden in dieser Hinsicht die Sättigung eines Dokuments mit relevanten Informationen sowie die damit verbundene Möglichkeit der Nachzeichnung gesellschaftlichen Lebens mit möglichst breiter Geltungskraft eingestuft. Erfahrungsgeleiteter Ansatz: Mit Ausnahme der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Deutschland existieren hierzulande und in Nordamerika bei den übrigen Fernsehveranstaltern keine verbindlichen Regelwerke für die Selektion von Programmmaterial für die Archivierung. Manche Sender wie unter anderem PBS und die CBC arbeiten in Unterkomitees an der Entwicklung von Auswahlstandards, um langfristig den universellen Ansatz auf eine verlässliche Grundlage zu stellen. Andere Senderarchive verlassen sich ob des Fehlens verbindlicher Richtlinien auf die berufliche Erfahrung ihres Personals, wie unter anderem Frank Hippeli vom RTL-Nachrichtenarchiv erklärt: ,,[D]er Kollege, der die Selektion macht, hat aufgrund seiner Erfahrung einfach das Gespür dafür, ob Bilder schon vorhanden sind, was interessant ist und wo die Lükken sind." Ermöglicht dieses Vorgehen im Falle mehrerer zuständiger Selekteure einen dynamischen und zeitsparenden Auswahlprozess im Gegensatz zum eher statischen Modell eines Kriterienkatalogs, wirft es durch die individuelle Annäherung an das Selektionsproblem auch zahlreiche Probleme auf, die vor allem die dauerhafte Gültigkeit der Auswahlentscheidungen sowie die historische Aussagekraft des betreffenden Materials betrifft. Fehlerquellen können sich diesbezüglich aus dem Arbeits- und Zeitdruck, routinisierten Arbeitsabläufen, Aufmerksamkeitsdefiziten oder auch aus dem Produktionsfokus bis hin zu Stimmungsschwankungen und persönlichen Interessen der verantwortlichen Personen ergeben. Erfahrungsbestimmte Auswahlstrategien leiden aber vorrangig durch das Vertrauen in die individuellen Bewertungskompetenzen der Mitarbeiter an einer fundamentalen Konzeptionslosigkeit. Während dies im Falle von Versäumnissen und Fehlentscheidungen in Senderarchiven zunächst wirtschaftliche Risiken birgt, sind davon auch konkret öffentliche Archive und Museen betroffen, die bei der Akquise direkt abhängig sind von den Archivbeständen der Fernsehunternehmen. Umso kritischer ist das Fehlen von Kriterienkatalogen und Sammlungsrichtlinien in kulturellen Einrichtungen, die vor einem historischen Hintergrund auswählen. Ein beruflicher „Erfahrungsschatz" der Mitarbeiter, auf den Museumsplaner Wolfgang Janning vom Förderverein Museum für Deutsche Fernsehgeschichte aus Wiesbaden verweist, kann allenfalls als zusätzliches Priorisierungsinstrument dienen, doch angesichts seiner Unverbindlichkeit und Fehleranfälligkeit nicht allein als Selektionsgrundsatz einer historischen Sammlung.

IV. 3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe- Verwaltung

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- Ökonomischer Ansatz: Einschlägig zeigt sich die Auswahl nach Maßgabe der Wirtschaftlichkeit an den Verfahrensweisen kommerzieller Senderarchive: „We are not like a library, but more like a production facility. So we are geared with the production process. We constantly provide content to the various shows that need material from the news archive" (Roy Carubia, CBS). Ausgewählt wird vorrangig Material, das einem Wiederverwendungszweck im Rahmen der Programmproduktion bzw. anderweitigen kommerziellen Verwertung zugeführt werden kann. Potenzielle Verwertungsmöglichkeiten haben einen direkten Einfluss auf Archiventscheidungen. Michael Harms (SWR) erkennt diesbezüglich selbst bei der praktizierten Auswahl in öffentlich-rechtlichen Senderarchiven das organisationsimmanente Risiko, dass der Produktions- und Programmfokus den historische Wert einer Überlieferung in den Hintergrund rücken könnte, wenn die Auswahl in erster Linie nach ökonomischen Gesichtspunkten erfolge. Dies entspricht der Warnung Aleida Assmanns, Archive und Sammlungen nicht nach dem Marktprinzip zu bestücken, das ein „dominanter Selektionsmechansimus der Massenkultur" sei (vgl. Assmann 2001: 56), wonach - so die implizite Folgerung - die erforderliche zeitenüberdauernde Kontinuität durch konjunkturelle Verwertungsaussichten ersetzt werde. Bestimmte Produktionen dürfen beispielsweise aufgrund kommerzieller Interessen der Rechteinhaber nicht dauerhaft von Fremdeinrichtungen archiviert werden. Von Wirtschaftsunternehmen, derer zugehörig auch die öffentlichen und öffentlich-rechtlichen Fernsehveranstalter sind, ist diese Bedingung aber nur stark eingeschränkt einzulösen, da sie zuallererst ihrem Programmauftrag verpflichtet sind und allenfalls sekundär einer möglichst umfassenden Dokumentationsfunktion. Daher sehen sich klassische senderunabhängige Gedächtnisorganisationen in der Pflicht und Not, ökonomischen Imperativen zu trotzen und das Fernseherbe dauerhaft zu bewahren. Jedoch sind es, wie bereits die Erörterung der wirtschaftsstrukturellen Ausgangslage gezeigt hat (Kapitel IV.2.6.), gerade die gemeinnützigen Organisationen und Initiativen, welche mit teils existenziellen Finanzierungsschwierigkeiten zu kämpfen haben und sich auch in ihrer Sammlungstätigkeit häufig den Marktprinzipien beugen müssen. Kuratoren und Archivare sind insofern keineswegs so unabhängig in ihren Auswahlentscheidungen, wie es ihr Amt durch die kulturelle Verpflichtung erfordert: „[Spätestens wenn es ums Geld geht, wird natürlich auch die Museumsleitung dazu gezogen", erklärt Joseph Hoppe (DTM) die hierarchische Einflussnahme innerhalb musealer Einrichtungen bei Entscheidungen, die finanzielle Aufwendungen mit einschließen. Museumswissenschaftlerin Lynn Teather (UT) kommt dahingehend sogar zu dem Schluss: „Curators haven't ever curated freely." Auswahlentscheidungen in gemeinnützigen Kulturinstituten sind traditionell vielen Faktoren unterlegen, die maßgeblich auch von wirtschaftlichen Erwägungen geprägt sind, wie auch Museumswissenschaftler Bruce Altshuler (NYU) unterstreicht: „Generally that involves people from a lot of fields: education, fundraising, marketing etc." Zur Frage der historischen und kulturellen Relevanz eines in Frage kommenden Sammlungsstückes gesellen sich daher auch monetäre Faktoren: Was ist bezahlbar, was rechnet sich auf Dauer? Nur

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wenige Einrichtungen wie das MZTV Museum, das Newseum oder die Bundeszentrale für politische Bildung sind in der Lage, umfänglich für das zu beschaffende Material in ihren Sammlungen und für ihre jeweiligen Aktivitäten zu zahlen. Andere Institutionen wie die Deutsche Kinemathek sehen sich in ihrer Arbeit durch die Forderung von - gemessen am zur Verfügung stehenden Budget - verhältnismäßig hohen Lizenzgebühren für anvisiertes Material behindert und müssen ihre Auswahlkriterien unter dem Kostendruck anpassen. So musste das Kuratorium mehrmals seine Auswahlentscheidungen revidieren und beispielsweise zeitweise einige im Ausland produzierte Sendungen wie „Die Biene Maja", „Pan Tau" oder auch „Knight Rider" und „Flipper" aus der Sammlungsliste streichen. Kuratorin Gerlinde Waz räumt ein: „Das ist immer eine Kosten/Nutzen-Überlegung." Für einige Überlieferungen wie die Krönung der britischen Königin Elizabeth II. sei etwas mehr Geld ausgegeben worden, wofür in Bezug auf andere Überlieferungen hätte Verzicht geübt werden müssen. So kann sich die Bemessung der Wirtschaftlichkeit der Auswahl zum einen von vornherein verengend auf den Auswahlfokus auswirken, indem vornehmlich die populären Qualitäten von Sammlungsstücken im Vordergrund stehen, um potenzielle Nutzungsinteressenten anzuziehen, zum anderen können bestimmte Auswahlentscheidungen aber auch nihiliert werden, sollte sich herausstellen, dass die entstehenden Kosten nicht aufgebracht werden können. Die hierbei wiederum zugrundeliegenden rechtlichen Beschränkungen bestimmen die Sammlungslage wesentlich und haben direkte finanzielle Implikationen, wovon größtenteils der Programm- und Schriftgutbereich betroffen ist. Einen Ausweg sieht der Museumsplaner Uwe Redlich (FMI) in einer divergierenden Schwerpunktsetzung bei der Auswahl durch die Konzentration auf die Sammlung von technischen Überlieferungen, die keinerlei rechtlichen Beschränkungen unterlägen. Dass indes auch hier ökonomische Faktoren eine immer größere Rolle spielen, belegen die hohen Mittelaufwendungen des MZTV Museums, dessen renommierte Sammlung insgesamt Investitionen in Millionenhöhe erforderte. - Bedarfsgeleiteter Ansatz: Die Ausrichtung der Selektionskriterien an einem festzustellenden Bedarf seitens der Nutzerschaft folgt einem organisationeilen Selbstverständnis, das die archivische bzw. sammlungsbezogene Hauptaufgabe im Dienstleistungscharakter erkennt. Die auswählenden Instanzen sind in diesem Fall stets danach bestrebt, ihre Auswahlentscheidungen im Geiste ihrer Nutzer zu treffen. Die Erstellung und Verwaltung einer solch bedarfsgerechten Sammlung kann jedoch trotz ihres stark perspektivischen Charakters nicht die Unvorhersehbarkeit zukünftiger Bedürfnisse im Sendebetrieb überwinden. Diesem Dilemma wird in Produktionsarchiven mit der Eingrenzung der archivischen Zuständigkeit sowie einer starken Binnendifferenzierung begegnet: Getrennt wird üblicherweise zwischen dem Unternehmens-, Nachrichten- und Programmarchiv, wobei Letzteres sämtliche Programmüberlieferungen umfasst, die nicht dem Nachrichtensektor zuzurechnen sind. Je enger die Zielgruppe der Archivnutzer eingegrenzt wird, desto effizienter kann eine Ausrichtung der Auswahl an den Nutzerbedürfnissen erfolgen. Durch die Orientierung an der Programmproduktion drängt der

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Dienstleistungsgedanke in Senderarchiven die Dokumentationsfunktion zwangsläufig in den Hintergrund. In einigen Unternehmen wie im DokuCenter der Sendergruppe ProSiebenSat. 1 richtet sich die Auswahl fast vollständig nach den Bewertungen aus den Fernsehredaktionen: Was der Sendebetrieb nicht für wichtig erachtet, droht übersehen zu werden. Dies betrifft die Dokumentation des Sendegeschehens ebenso wie die Anlegung eines Fundus aus Rohmaterial, das zukünftig von Nutzen sein könnte. Damit befinden sich Umfang und Tiefe von Sammlungsbeständen in entsprechenden Archiven in direkter Abhängigkeit der Weit-, aber auch Kurzsichtigkeit des archivisch ungeschulten Mitarbeiterstabs, dessen Aufgabe in der Bestückung des aktuellen Programmbetriebs besteht. Manche Senderarchive vertrauen daher auf zusätzliche Kriterien zur Absicherung; denn andernfalls bestünde auch die Gefahr eines unkoordinierten Hortens, so Frank Hippeli (RTL): ,,[W]ürde man die Entscheidung den Redakteuren überlassen, was aufzubewahren ist, sähe es ganz anders aus. Ein Redakteur kann alles brauchen und zwar immer. Die Selektion ist eine unsere Kernkompetenzen." Herauszufinden, an wen sich eine Sammlung richtet, lässt sich in voller Breite und Flexibilität nicht allein anhand der institutionellen Zugehörigkeit einer Einrichtung bzw. ihres Mandates ermitteln, sondern erfordert intensive Evaluationsbemühungen und einen engen Kontakt zu den jeweiligen Nutzergruppen, aber auch potenziellen Interessenten. Da Nutzungsinteressen im Laufe der Zeit starken Schwankungen unterliegen können, sehen sich selbst Institutionen mit einer starken Profilierung der Schwierigkeit ausgesetzt, ihre Auswahlkriterien möglichst offen für Rück- und Bedarfsmeldungen von außen zu halten, ohne dabei ihre etablierte Sammlungsexpertise zu gefährden. So kann eine Sammlung nur im Rahmen ihres historisch gewachsenen, selbstentwickelten oder hierarchisch zugewiesenen Organisationskontextes auf den Bedarf bestimmter Nutzergruppen eingehen wie im Fall von Senderarchiven, die nur im Einzelfall beispielsweise auf Sammlungsvorschläge auf Basis akademischer Forschungsprojekte reagieren können, sofern es ihre weisungsgebundene Agenda zulässt. Auch Universitätsarchive unterliegen einem ähnlichen Prinzip, folgen sie doch in erster Linie den Anforderungen des Lehr- und Forschungsbetriebs an ihrer eigenen Hochschule, und können daher auf auswärtige Vorschläge nur bedingt eingehen. Museen sind da durch ihre breitere Ausrichtung offener in Bezug auf den Bedarf einer breiten Öffentlichkeit, können Fans genauso wie Schulklassen oder bestimmte Alterskohorten, aber auch die Wissenschaft ansprechen. Doch sind auch hier der Auswahlflexibilität durch die spezifische Ausrichtung des Sammlungsfokus auf Basis der jeweiligen Mission der Einrichtung Grenzen gesetzt. Grundsätzlich sind Sammelstellen jeglicher Provenience gehalten, auch mit vorausschauender Perspektive auszuwählen, um potenziellen Konflikte zwischen Angebot und Nachfrage vorzubeugen, wie Stephan Schwanz vom Institut für Wissensmedien fordert: „Die Kriterien müssen von der zukünftigen Nützlichkeit der Sammlung her entwickelt werden." Die Orientierung der Selektionsmaßnahmen an einem tatsächlichen oder angenommenen Bedarf seitens der Nutzer führt jedoch grundsätzlich zu Einbußen hinsichtlich

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der Eigenständigkeit, Auswahlhoheit und damit Sammlungsautorität der betreffenden Einrichtung. Die unwidersprochene Protegierung des Service-Gedankens kann mit der Sicherstellung eines organischen und in sich kohärenten Sammlungsgefüges in Konflikt geraten, da Nutzer ihren Bedarf nicht gemäß der Archiv- und Sammlungslogiken anmelden, sondern aufgrund aktueller und in ihrer Gesamtheit stark disparater Vorhaben. Wenn auswählende Sammelinstanzen dem bedarfsgeleiteten Ansatz folgen, setzen sie sich stets partikularen Interessen aus, die zu relationieren, aber auch nicht auszublenden sind, um eine ausgewogene Auswahl anzustreben. - Nutzungsorientierter Ansatz: Anders als die am Bedarf orientierten Auswahlstrategien folgt der nutzungsorientierte Ansatz nicht der aktuellen Nachfrage nach Fernsehüberlieferungen, sondern der Popularität von Fernsehproduktionen, die sich an nachgewiesenen Nutzungswerten ableiten lässt. Sämtliche befragten Experten sehen die zwingende Notwendigkeit, auch (aber nicht ausschließlich) den Publikumserfolg von Sendungen, gemessen an der Zahl ihrer Zuschauer, bei der Auswahl zu berücksichtigen. Die Einschaltquote gilt den Sammlungsleitern für die Auswahl als wichtiger Anhaltspunkt, um die Relevanz einer Produktion in ihrem historischen Kontext zu ermitteln und sie gegenüber anderen Programmangeboten abzugrenzen. Hierzu wird jedoch unter anderem von Henry Jenkins (MIT) kritisch angemerkt, dass allein die quantitativ ermittelten Nutzungsprioritäten nicht ausreichen, um den Erfolg und die historische Geltungskraft einer Sendung zu erfassen. Vielmehr brauche es dazu auch qualitative Ansätze, um die Nutzungswerte zueinander in Beziehung zu setzen. Selbst die Durchsetzungsfähigkeit technologischer Innovationen lässt sich mit dieser Auswahlstrategie erfassen: Erst wenn eine gewisse Akzeptanzschwelle von Neuerungen beispielsweise bei der Distributionsform von Programminhalten wie im Fall des sogenannten HandyTVs oder des Internet-Fernsehens anhand von validen Nutzungsdaten nachzuweisen ist, erwägen einige der Befragten eine Integration in ihren Sammlungsbereich. Positiv bewertet wird die demokratische, rezipientenorientierte Ausrichtung dieses Ansatzes, der ein Gegengewicht darstelle zu den selbstreferentiellen Anleihen bei der produktionsorientierten Auswahl in den Senderbetrieben und gemessen am affirmativen Selbstverständnis des kreativen Personals: „Die Welt des Fernsehens oder die Welt der Medien im Allgemeinen ist eine ziemlich autistische Welt. Die leben ganz stark in einer Selbstbespiegelung, auch nicht frei von Eitelkeit, die sich ganz stark ausrichtet auf die Bildschirmpräsenz. Es gibt eine ganz fanatische Fokussierung auf das Arbeitsergebnis mediale Produktion. Und schließen daraus, dass, wenn das schon so spannend und erfüllend ist, das auch in einer Ausstellung oder einem Fernsehmuseum auf gleiche Weise funktioniert. Dass selbst Versatzstücke dieser Arbeit die Öffentlichkeit auch faszinieren müsste. Tut sie aber nicht, denn die leben eben nicht in dieser Medienwelt, sondern haben höchst individuelle Bezüge und Erinnerungen dazu, was sie mit Fernsehen verbinden. Wenn man die Menschen dort nicht abholt, dann wird auch so etwas wie ein Fernsehmuseum nicht funktionieren" (Joseph Hoppe, DTM).

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Dies betrifft vor allem das in Deutschland und Kanada stark vom internationalen Fernsehmarkt bestimmte Programmgeschehen: Populäre Produktionen aus den USA beispielsweise, die bei ihrer Ausstrahlung im Ausland hohe Marktanteile erzielten, sollten gemäß dieser Argumentation schon deshalb nicht ausgeblendet werden, weil der nationale Fernsehbetrieb dazu neige, seinen eigenen Leistungen im Rückblick eine höhere Publikumsakzeptanz zuzurechnen, als dies tatsächlich der Fall war, was einer Verfälschung der Fernsehgeschichte entsprechen würde. Für Peter Paul Kubitz (DK) steht zumindest fest: „Man kann einen Teil der westdeutschen Fernsehgeschichte nicht greifen, ohne quasi die .Amerikanisierung' oder .Angelsächsisierung' des Programms im Westen zu berücksichtigen. Und man kann den Kontext des DDR-Programms auf der anderen Seite nicht begreifen ohne die fremdländischen Einflüsse." Auch Rainer Rother (DK) erteilt einer negativistischen Sicht auf das fremdländische Programmerbe eine deutliche Absage: „Die Tatsache, dass Millionen Menschen Fernsehsendungen sehen, die nicht in Deutschland produziert wurden, ist nicht verwerflich, sondern Tatsache, und als solche müssen wir sie auch aufgreifen." Demnach sollten selbst rechtliche und finanzielle Probleme der Sammlung von ausländischen Programmproduktionen nicht entgegenstehen, um das Nutzungsverhalten bei der Auswahl abzubilden. Bei einer negativen Ableitung des nutzungsorientierten Ansatzes lassen sich jedoch auch solche Sendungen in die Sammlung integrieren, die nachweislich eine zahlenmäßig auffällig geringe Zuschauerschaft interessierte, obwohl ihr - auch in Korrelation mit anderen Kriterien wie der inhaltlichen Qualität - eine besondere Bedeutung zukommt. - Journalistischer Ansatz: Eine ungewöhnliche Herangehensweise an die Auswahl televisueller Überlieferungen verfolgt das Newseum. Als Museum über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Journalismus greift es seine Leitlinie nicht nur thematisch, sondern auch methodisch auf: „We apply a lot of the journalism procedures which are similar to other museum procedures, but in many ways more rigorous. [... ] Change is part of our DNA. It's like in journalism. If I have written a story and after I've published it new information comes out, I publish another story. That's sort of the point" (Paul Sparrow, Newseum). Innovativ ist dieser Ansatz also nicht erst aufgrund seines gegenwartszentrierten Blickwinkels auf die Vergangenheit, sondern umgekehrt in der Historisierung der Gegenwart: Die journalistische Auswahlstrategie folgt den Aktualitätsströmen in Echtzeit und stellt parallel Versuche an, eine historisierende Perspektive einzunehmen, um Relevanzen und Konsequenzen möglichst zeitnah zu kontextualisieren und somit einen von den Nachrichtenmedien nicht oder unzureichend geleisteten journalistischen Mehrwert anzubieten. Die Gedächtnisorganisation Museum nimmt dadurch unter Zuhilfenahme investigativer Methoden die massenmediale Funktion einer themensetzenden Instanz ein, welche sich am aktuellen Diskurs unter stetem Rückbezug auf das gemeinsame Erbe beteiligt (vgl. auch Kapitel IV.4.3.1.4.). Ähnliche Ansätze sind auch vereinzelt bei anderen Institutionen festzustellen wie beim Paley Center for Media, das mit seinem Projekt „She Made It" über Frauenkarrieren im Fernsehgeschäft jedoch längerfristig versucht, ein Thema mit historischer Perspektive

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auf die Agenda zu setzen. Dies kann dazu führen, dass das betreffende Museum sich nicht nur als Sammlerin von Fremdmaterial versteht, sondern den Überlieferungsfundus durch eigene Produktionen vergrößert, die beispielsweise mit wechselndem Projektbezug umgesetzt und in die Sammlung integriert werden. Dies macht jedoch eine ständige Anpassung der Kriterien an den Status Quo erforderlich. Gleichzeitig schließt das journalistische Vorgehen die Anwendung von (sich wandelnden) Nachrichtenfaktoren auf längst vergangene Entwicklungen und Ereignisse mit ein, die aus historischer Distanz ungewohnte Einblicke in die Geschichte ermöglichen und - gemäß der Nachrichtenwerttheorie nach Winfried Schultz (Schultz 1976) - die Rolle des Selekteurs und Arrangeurs als Konstrukteur von .Realität' herausstreichen. Wissenschaftlicher Ansatz: Anders als die Anwendung journalistischer Methoden bei der Auswahl von Fernsehüberlieferungen in Gedächtnisorganisationen zielt der wissenschaftliche Ansatz nicht auf die aktualitätsgebundene Ermittlung von Auffälligkeiten. Während beide Ansätze die Förderung und Vermittlung von Wissen qua Selektion verfolgen, kommen wissenschaftliche Methoden dort zur Anwendung, wo auf Basis bestimmter Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Kultur- oder Fernsehwissenschaft Relevanzbewertungen vorgenommen und Regelmäßigkeiten z.B. auf der Mikroebene des Programminhalts, der Mesoebene der Medienentwicklung oder auf der Makroebene der Kulturgeschichte herausgearbeitet werden sollen. Der Versuch einer wissenschaftlichen Herangehensweise an die Selektionsproblematik dient in einigen der untersuchten Kulturinstitute der Absicherung erfahrungsgeleiteter Auswahlentscheidungen, die stets dem Verdacht fehlenden Weitblicks unterliegen. Die Adaption wissenschaftlicher Erhebungs- und Bewertungsmethoden soll vor Fehleinschätzungen bei der Selektion schützen und Kontinuität in der Sammlungspolitik gewährleisten. Hierbei streben die öffentlichen Einrichtungen im Untersuchungsspektrum in den meisten Fällen eine Kooperation mit Wissenschaftsvertretern auf persönlicher oder institutioneller Ebene an, um von Forschungserkenntnissen profitieren zu können. Dies betrifft Archive, die in eine universitäre Infrastruktur eingebunden sind, noch stärker als museale oder anderweitige Gedächtnisorganisationen. Doch allen untersuchten Kulturinstituten ist gemein, dass sie auf wissenschaftlichen Rat nicht verzichten wollen. Ein weiteres Modell ist das der Einbeziehung von einzelnen Wissenschaftlern in den Auswahlprozess, wobei stets die fachliche Affinität der Kooperationspartner zur Fernsehgeschichte gewährleistet sein muss. Dennoch erfolgt die Selektion in Museen in vielen Fällen durch zahlreiche Beweggründe und Kriterien, die nicht immer eine wissenschaftliche Absicherung erfahren, sondern rhetorischen Formen der Argumentation genügen müssen und meist erst im Nachhinein eine wissenschaftliche Einordnung erhalten (vgl. auch Fehr 1995: 19; Fehr 2000: 35). Behelfsorientierter Ansatz: Wie bereits die wissenschaftlich ausgerichteten Auswahlstrategien nahe gelegt haben, orientieren sich Archivare und Kuratoren bei der Entscheidung über den Wert einer Überlieferung bisweilen an einer externen Vorauswahl. Diese kann konkret durch einzelne Personen wie Wissenschaftler, Kritiker oder Ver-

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treter der Fernsehbranche erfolgen oder aber auch durch Kollektive wie Komitees oder Jurys, die Auszeichnungen für Fernsehproduktionen ausloben. Durch das Vertrauen in die Bewertungskompetenz externer Akteure oder Stellen macht sich die sammelnde Institution zu einem hohen Grad abhängig von dem methodischen Vorgehen der preselektiven Instanz, ohne die Validität verifizieren zu können. Dennoch gilt die behelfsorientierte Annäherung an die Selektionsproblematik schon deshalb als gerechtfertigt, da inhaltliche Bewertungskriterien immer subjektiv bleiben müssen. Es ist daher durchaus konsequent, auf etablierte Systeme zurückzugreifen, um sich als sammelnde Institution zwar nicht der Verantwortung, aber der Grundsatzkritik an der Relevanzzuordnung zu entziehen. Dadurch dass qualitative Auswahlkriterien stark interpretationsbedürftig sind, schufen sich die zuständigen Institutionen Behelfsmodelle, an denen sie ihre Kernsammlungen zur Fernsehgeschichte ausrichteten: Dies sind in den meisten Fällen Fernsehpreise wie die Emmy und Peabody Awards bzw. der Grimme und der Deutsche Fernsehpreis oder auch statische Kataloge wie die „Hall of Fame" der Academy of Television Arts and Sciences. Fernsehpreise erleichtern besonders die Auswahl ausländischer Produktionen, da die Kuratoren nur durch erheblichen Rechercheaufwand eigene Wertemaßstäbe für das ihnen unbekannte Material entwickeln können. So verlässt sich das Paley Center for Media bei der Sammlung von Fernsehsendungen anderer nationaler Märkte unter anderem auf die jährliche Verleihung der internationalen Emmy Awards. Standen bisher diese traditionsreichen Wertungsinstanzen Pate bei der Auswahl musealer und universitärer Sammlungsbestände, wird vereinzelt auch der Charme kleinerer externer Auswahlgremien entdeckt wie im Fall des UCLA Film & Television Archive, das ein Zulieferabkommen mit der Organisation „Outfest" abgeschlossen hat, die sich der Förderung homo-, bi- und transsexueller Film- und Fernsehkunst widmet und sämtliche Produktionen, die für ihr jährlich stattfindendes Festival eingereicht werden, an das Universitätsarchiv abgibt. Auch in Deutschland gibt es zahlreiche Ansatzpunkte für derlei Kooperationen abseits eingefahrener Pfade wie zum Beispiel mit dem Fernsehfilm-Festival Baden-Baden oder dem Robert Geisendörfer Preis. Als Behelf dienen darüber hinaus auch programmstrukturelle Entscheidungen im laufenden Sendebetrieb, die auf die Bedeutung von Ereignissen schließen lassen. Dies betrifft einerseits klassische Medienereignisse, andererseits auch die simple Tatsache der Marktführerschaft innerhalb des Fernsehprogrammfeldes. So erhält laut geltender Auswahlpolitik des Vanderbilt Television News Archives ein Ereignis nur dann historische Relevanz, wenn es eine Berücksichtigung in den Abendnachrichten der führenden Fernsehnetworks findet. Hier werden Faktoren der Nachrichtenauswahl und zugrunde liegende Aufmerksamkeitsstrategien von einem bloßen Indikator zum wesentlichen Kriterium der Auswahlentscheidung in einer führenden Gedächtnisorganisation. Zwar kann es zweifellos als wichtiger Hinweis für die Wichtigkeit eines Ereignisses gewertet werden, wenn der Programmplan und damit beispielsweise populäre fiktionale Sendungen unterbrochen werden, um aktuelle Nachrichten zu verbreiten.

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Ungeachtet dessen wird dieses Auswahlkriterium durch den fundamentalen Wandel in der Mediennutzung erschüttert: Wenn Fernsehen im Internet abseits des linearen Programmverlaufs immer wichtiger bei der Nachrichtenverbreitung wird und damit auch die programmpolitischen Entscheidungen verändert, verlagern sich automatisch auch die Voraussetzungen für die Relevanzbewertung eines Programminhalts. Daher wird ein breiter Behelfsansatz mit Kontakten zu möglichst vielen unterschiedlichen Rezipientengruppen und Vertretern der Fernsehbranche für am aussichtsreichsten erachtet, um Hinweise zu erhalten, welche Sendungen sich in der Rückschau zu „landmark programs" (Ron Simon, PCM) entwickeln könnten, um auf dieser Basis in regelmäßigen Abständen eine Auswahl bzw. sogar Rangliste zu erstellen. Wie sich am Beispiel des Museum of Broadcast Communications zeigt, kann die Implementierung eines Netzwerks aus Spezialisten nicht nur selektionsspezifische Vorteile, sondern auch solche grundlegend konzeptioneller Natur haben. Das Museum verfügt durch seine in vier Bänden erschienene „Encyclopedia of Television" über enge Kontakte zu über 350 Fachleuten zu einzelnen Aspekten der Fernsehgeschichte, die eine im internationalen Vergleich beispiellose Ressource als Wissensbasis darstellt. Additiver Ansatz: Dass identische Doppel- oder Mehrfachüberlieferungen unnötige archivische Ressourcen binden, die wegrationalisiert werden können, ist eines der wichtigsten formalen Bewertungskriterien, das von der Archiv-Gemeinschaft weitestgehend geteilt wird (vgl. auch Tiemann 2004: 83). Additive Auswahlstrategien folgen der Auffassung, dass der Aufbau redundanter Bestände besonders bei der Sammlung von Fernsehprogramm-Überlieferungen durch die Möglichkeit der (mittlerweile verlustfreien) Kopienanfertigung wahrscheinlich ist, jedoch keinen erhöhten Nutzen mit sich bringt. Im Gegenteil: Da die Sammlung, Pflege und Einbindung von Programmmaterial in die institutionellen Aktivitäten mit einem hohen administrativen und finanziellen Aufwand verbunden ist, herrscht die Überzeugung, „not to duplicate the efforts of other institutions: That's very key" (Doug Gibbons, PCM). Der Aufwand lässt sich zwar nicht gänzlich vermeiden, da eine allzu strikte Abgleichung und Aufteilung von Sammlungsanstrengungen anderer Institutionen angesichts der Freiheit bei der individuellen Schwerpunktsetzung und Projektentwicklung mit zwangsläufigen Überschneidungen ebenso wenig sinnhaft erscheint, jedoch minimieren. Leitend ist diesbezüglich der Netzwerkgedanke, der das übrige Feld an senderunabhängigen Fernseharchiven und -museen als Gemeinschaft begreift, in der es für jeden einen Platz, aber auch Rang gibt, wodurch sich gleichzeitig der Drang ableitet, sich innerhalb der Gemeinschaft mittels des eigenen Sammlungsangebotes zu profilieren. Gleich welche Beweggründe im Vordergrund stehen mögen: ein pragmatischer Antrieb ist nicht von der Hand zu weisen, schließlich fühlen sich nur wenige senderunabhängige Einrichtungen für das Fernseherbe zuständig: ,,[I]n television its just a big job and you cant do it alone. In the US you have a handful of major archives and they all have their specialities" (Mark Quigley, UCLA). Fernsehmuseen sind noch weitaus spärlicher gesät und sehen daher eine signifikante Arbeitserleichterung in der Verständigung untereinander, welche

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Bestände an anderer Stelle existieren und wo etwas fehlt. Die Vielfalt des Sammlungsspektrums stellt die Sammlungsleiter beim additiven Vorgehen ob der sich anbietenden Auswahlrichtungen vor enorme Schwierigkeiten, da sich nur wenige Stellen darum kümmern, die Tiefe des Programmhintergrunds mit ihren Sammlungen auszuleuchten. Chuck Howell von der Library of American Broadcasting rechtfertigt aus diesem Grund den breiten Ansatz seines Instituts: „You name it: We get books, periodicals, magazines, pamphlets, industry publications, photographs - we have a huge photographic archive - audio, video, kinescopes, acetat-discs, every conceivable, thousands of reel-to-reel tapes, any recording medium you can think of." Vordringlich ist hier die Furcht davor, dass ein Großteil des Fernseherbes, vor allem die Hintergrunddokumentation, einer Sammlung vorenthalten bleiben und damit dem Vergessen überantwortet werden könnte. - Komplettierender Ansatz: Die Unvollständigkeit von Fernsehsammlungen in allen Bereichen des Überlieferungsgattungen hat in vielen mit einem historischen Mandat arbeitenden Institutionen dazu geführt, dass zu bestimmten Sammlungsschwerpunkten eine Komplettierung der Bestände angestrebt wird. Dieser Impetus ist den Senderarchiven größtenteils fremd: Wie Glenn Clatworthy (PBS) betont, sei es nicht sein Ziel, die bestehenden Archivbestände nachträglich überall dort aufzufüllen, wo Lücken bestünden. Eine Ausnahme stellen einige öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten dar, die nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung die Möglichkeit nutzten, ihre teils lückenhaften Archivbestände mit historischen Fremdaufzeichnungen ihres Programms aufzufüllen, die vom Staatssicherheitsdienst der DDR angefertigt worden waren (vgl. Kapitel IV.3.2.1.). Dies entspricht jedoch nicht dem üblichen Vorgehen von Produktionsarchiven, wie Frank Hippeli (RTL) bestätigt: „Es ist immer der Pragmatismus, der im Vordergrund steht. Rückwirkend das Material zu sichten, wäre zu aufwendig, macht keinen Sinn, machen wir also nicht. Wenn wir etwas nicht haben, haben wir es nicht." Externe Interessenten jedoch gehen in der Regel von einer Vollständigkeit des Archivbestandes bei den Fernsehveranstaltern aus, auch weil diese für sich eine endarchivische Kompetenz beanspruchen. Das daraus entstehende Dilemma sich nicht erfüllender Erwartungen vor allem wissenschaftlicher Nutzungsinteressen rückt erneut die hohe Bedeutung von alternativen Sammlungsinitiativen in den Mittelpunkt. Mike Mashon von der Library of Congress sieht seine Aufgabe somit auch in der Verknüpfung von historischen Wegmarken in der Entwicklung der Programmgeschichte sowie die Vertiefung der spezialisierten Sammlungsbestände: „I'm always on a look-out for television collections which help us to fill out the gaps." Wenn schon nicht umfassende Vollständigkeit erreicht werden kann, so auch die Auffassung von Kurator Ron Simon vom Paley Center for Media, dann sollte wenigstens versucht werden, seine Sammlungen durch zusätzliche Erwerbungen kohärenter zu gestalten. Hierbei verfolgen gerade Museen eine Vervollständigungsstrategie, die sich meist an einem narrativen Konzept orientiert, einer großen Erzählung, die mit einer Sammlung konstruiert werden kann, und sich der Frage stellt: ,,[H]ow you are going to choose the history you are construc-

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ting?" (Lynn Spigel, NWU). Museen verfolgen daher auch Komplettierungen nach dramaturgischen Kriterien. Ivan Harris vom CBC Museum spricht hierbei von einem thematisch geleiteten „historical puzzle", das es nach und nach zu vervollständigen gelte. Solche Projekte sind entsprechend der archivischen und musealen Philosophie der Einrichtungen auf Dauer, also ergebnisoffen angelegt. - Thesaurierender Ansatz: Eine genuin museale Aufgabe ist das Sammeln von wertvollen Überlieferungen. Das Thesaurieren, verstanden als die Sammlung bzw. gar das Horten von Schätzen, war bereits das vornehme Ziel der Vorläufer heutiger Museen, elitärer Privatsammlungen, die als Kunstkammern von Königen und Fürsten, aber auch als Kirchenschätze oder Galerien von wohlhabenden Kaufleuten angelegt worden waren (vgl. Vieregg 2006:15). Auch als gesamtgesellschaftliche Institution verstehen sich Museen darauf, sich über die Finesse ihrer Sammlungen zu definieren, und dies nicht allein in den Sphären der Bildenden Küste. Obzwar in weitaus geringeren Dimensionen hat sich mit dem Aufkommen eines Sammlermarktes für Raritäten aus der Fernsehgeschichte auch auf institutioneller Ebene ein Bewusstsein für den außerordentlichen Seltenheitswert manchen Reliktes entwickelt. Das MZTV Museum hat seine primäre Sammlungsstrategie auf das Aufspüren und den Kauf von Unikaten oder äußerst seltenen televisuellen Empfangsgeräten ausgerichtet, um sich von anderen Technik- und Designsammlungen weltweit zu unterscheiden: „Forinstance when you go to the Photography, Film and Science Museum in London: They brag that they have an airplane hangar full of television sets. They don't know what's in the airplane hangar actually. And I tell them that in this room with 35 television sets I probably have more important pieces that in your entire airplane hangar. So you better go into the airplane hangar and clear it out so you can make room for more important pieces. Because it's not about volume, it's about quality, not quantity" (Michael Adams, MZTV Museum). Voraussetzung für die Eruierung des Seltenheitswertes und die erfolgreiche Integrierung des betreffenden Artefaktes ist nicht allein fachliches Wissen und ausreichende Liquidität, sondern auch eine intensive Kenntnis des unübersichtlichen, weil einer historisch gewachsenen Struktur entbehrenden Sammlermarktes sowie persönliche Kontakte und eine grenzüberschreitende Reputation, um angesichts der dekohärenten Überlieferungslage als Anlaufstelle für Sammler zu fungieren. Raritäten zu sammeln versetzt die betreffende Einrichtung bei stringenter Auswahlstrategie somit in die Lage, ihre Position als primäre Anlaufstelle auf ihrem Sammelgebiet auszubauen und sich damit einer immer größer werdenden Öffentlichkeit gegenüber zu profilieren. Der thesaurierende Ansatz betrifft jedoch auch einzigartige Sammlungen in den Unternehmensarchiven der Fernsehveranstalter mit Geschäftsdokumenten, bis ins Detail dokumentierten Programmabläufen oder Drehbuchmanuskripten, wie sie die Library of Congress von den Sendern ABC und CBS zu akquirieren versucht, um auch für diese Akteure der US-amerikanischen Fernsehgeschichte eine ähnliche Forschungsressource zu bieten, wie sie bereits von NBC vorliegt.

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„Ihre Existenzberechtigung erhalten Museen [...] durch die Objekte; präziser gesagt durch die Originale" (Vieregg 1994: 303). Angewendet auf das Fernsehprogrammerbe, bedeutet dieser Sinnspruch, dass sich die Originalität von Sendematerial, das potenziell millionenfach als Aufzeichnung und damit als Kopien vorliegen kann, von seinem Seltenheitswert ableiten lässt: Eine Fernsehprogramm-Überlieferung ist erst dann ein Original im Sinne seiner angenommenen Einzigartigkeit, wenn es von führenden Sammelstellen gesucht und von ihnen als Rarität klassifiziert wird. Das Fernseherbe führt anschaulich vor Augen, das selbst die Kopie eines verschwundenen Originals zu einem Unikat avancieren kann, das die Unterscheidung von Objekt und Ersatzobjekt hinfällig macht; denn „ [d] as Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [... ] ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen" (Ernst 1991:37). Doch erst wenn sich die Kopie von ihrem Kopiencharakter löst, kann sie selbst zum Original werden (vgl. Loers 1994: 61). Die Kopie bleibt jedoch im Falle der reproduzierbaren Televisualität immer kopierbar, wodurch der Wert der Originalkopie schnell geschmälert werden kann. Jedoch muss dies nicht zum Schaden des kulturellen Wertes gereichen, wie Ernst argumentiert, weil erst Substitute in vielen Fällen die Verfügbarkeit, Unangreifbarkeit und Freiheit des einstmaligen Schatzes ermöglichen: „Wo die Zensur den Ort des Originals aufsucht, war die Kopie längst da" (Ernst 1991: 36). - Komparatistischer Ansatz: Eine Vergleichsstrategie muss nicht bei der Bemessung des monetären oder Seltenheitswertes einer Überlieferung ansetzen, sondern kann sich auch auf ihre inhaltlichen Dimensionen beziehen: Wirtschaftliche Imperative haben in zahlreichen Gedächtnisorganisationen ein Umdenken hinsichtlich ihrer Auswahlprioritäten erzwungen. Flexibilität in der Frage, welche Sendungen, papierenen Dokumente oder Realien ausgewählt werden, ist eine Grundanforderung bei der alltäglichen Sammelpraxis, um bei nicht aufzubringenden Kosten, rechtlichen Beschränkungen oder bei einer vergeblichen Suche kompromissgeleitet alternative Sammlungsstücke zu finden und als Ersatz für die ursprünglich anvisierte Auswahl zu akquirieren. Die Fernsehkuratorin der Deutschen Kinemathek Gerlinde Waz wandte unter anderem diese Strategie an, als eine Auswahlentscheidung zwischen zwei populären US-amerikanischen Sendungen zu treffen war, die im deutschen Kinderfernsehen liefen: ,„Fury' hat auch einfach Geld gekostet, war aber gerechtfertigt, weil die Serie Symbol für alle amerikanischen Sendungen der 50er und 60er Jahre steht und im Übrigen die erste amerikanische Serie im deutschen Fernsehen war. Außerdem wäre .Flipper' eh teurer gewesen" (Gerlinde Waz, DK). Der komparatistische Ansatz folgt der Auffassung, dass auch ähnliche oder extrem von der Ursprungsauswahl divergierende Überlieferungen ausgewählt werden können, um einen Standpunkt zu verdeutlichen und die vorgesehenen Vermittlungsziele zu erreichen. Fernsehüberlieferungen können einander substituieren und eine gleichwertige Aussagekraft erhalten, wenn die Kontextualisierung entsprechend gewährleistet ist. Eine vergleichende Perspektive findet darüber hinaus bei der Integration ausländischer Fernsehüberlieferungen eine Anwendung: Einrichtungen wie das MZTV Museum, das

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

American Museum of the Moving Image und das Newseum sehen für sich auch eine Sammlungspflicht mit internationaler Reichweite und verstehen es als Bereicherung, mittels internationaler Vergleichsmöglichkeiten ein besseres Verständnis der eigenen medialen Geschichte und Sozialisation zu fördern. Auch das Paley Center for Media mit seiner umfangreichen internationalen Sammlung sowie die Deutsche Kinemathek mit ihrer Berücksichtigung von US-amerikanischen, britischen, französischen, aber auch osteuropäischen Fernsehproduktionen ermöglichen vielseitige Vergleichsansätze mit dem Programmerbe des eigenen Landes. Dies funktioniert auch in entgegengesetzter Richtung, wenn beispielsweise die Aufnahme einer deutschen Produktion als herausragendes internationales Beispiel in eine Sammlung in den USA wiederum Institutionen in Deutschland die Möglichkeit gibt, sich anhand dieses Beispiels an der Auswahlentscheidung zu messen und über den Vergleich eine möglicherweise neue Sicht auf die eigenen Auswahlprioritäten bezüglich der eigenen Fernsehgeschichte zu erhalten. Ein mit Ausnahme des Paley Center for Media bisher weitgehend vernachlässigter, jedoch von einigen befragten Experten als sinnvoll erachteter Sammlungsaspekt betrifft die Auswahl von fremdländischem Programmmaterial, das dem jeweiligen Publikum vor Ort vollkommen unbekannt ist wie im Falle von Sendungen aus afrikanischen Fernsehnationen, die weder jemals im deutschen noch im nordamerikanischen Programmbetrieb in nennenswertem Umfang Aufnahme gefunden haben: „I would hope that [...] a television museum would broach from a national to an international context and this type of programming heritage would be around as well. But still the museums operate very American centric and don't help the American public to understand international television practice and history" (Henry Jenkins, MIT). Außerdem ergäben sich mittels des unbekannten und doch in seinen televisuellen Eigenschaften kenntlichen Materials neue Perspektiven auf die eigene autobiographische Fernseherfahrung. Erst eine komparatistische Auswahlstrategie, die neue Sammlungsgebiete nach Provenienzen erschließt und damit Relationierungen ermöglicht, ermöglicht einen ,Blick von außen auf das eigene Fernseherleben.

3.1.2.5.

Gedächtnisspezifische

Auswahlstrategien:

Das institutionelle Selbstverständnis televisueller Gedächtnisorganisationen gründet sich auf das konfliktreiche Verhältnis zwischen dem flüchtigen Medium und dem Wunsch, es in Gestalt seiner audiovisuellen Produkte und übrigen Überlieferungsbildung festzuhalten. Der grundlegende Sammelimpetus der Fernseherbe-Verwaltung zielt immer und in jedwedem organisatorischen Kontext auf die Bildung eines televisuellen Fundus, in welchem die Hervorbringungen des Mediums zusammengetragen und zu unterschiedlichen Zwecken utilisiert werden: Archive der Sende- und Produktionsbranche konstruieren ihr institutionelles Gedächtnisfundament zwecks Wiedereinspeisung ihres kulturellen Kapitals in den Verwertungszyklus, an Hochschulen und nationalen Einrichtungen wird

IV.3. Die drei Problemfelder der

Fernseherbe-Verwaltung

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das klassische Konzept eines Speichergedächtnisses als materielle Grundlage für Dokumentation, Forschung und Bildung zur kulturellen Bereicherung verfolgt, und Museen sammeln, um einer breiten Öffentlichkeit den Anschluss an die Vergangenheit zu ermöglichen. Diese zweckbasierte Aufgabenteilung zwischen Industrie, der Akademia und Volksbildung bildet die Grundlage gesellschaftlicher Erinnerung an das Fernsehen und mit dem Fernsehen. Jedoch finden diese gedächtnisspezifischen Ausrichtungen nur selten eine Konkretisierung innerhalb der Auswahlstrategien, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Vielmehr dient die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens als abstrakte Prädisposition bei der Aufgabenbeschreibung der jeweiligen Institutionen: „Our mandate is to serve as a collective memory of an industry that by its very nature is ephemeral, transcent and impermanent", konstatiert Chuck Howell beispielhaft das Mandat der Library of American Broadcasting. Steve Bryant, leitender Fernseharchivar des British Film Institute und ehemaliger Vorsitzender der Internationalen Föderation der Fernseharchive (FIAT/IFTA), weist diesbezüglich auf das Ungleichgewicht zwischen der zentralen Bedeutung der sich daraus ergebenden erinnerungsbildenden Funktion auf der einen und ihrer fehlenden Spezifität auf der anderen Seite hin: „Sometimes even the term ,cultural memory' is used, but not in a well defined way. It's clearly the best part of our criteria. And in a sense we create cultural memory and interpreting it: If we preserve something it becomes part of the cultural memory, if we don't maybe it doesn't. So it is really anticipating. We take that very seriously" (Steve Bryant, BFI). Meist gilt die Gedächtnisrelevanz im Allgemeinen als unbestimmtes Kriterium für die historische Signifikanz einer Sendung, was zu unnötigen Zuspitzungen der Phänomenologie als ganzes auf einzelne erinnerungskulturelle Aspekte führen kann. So versteht Peter Paul Kubitz (DK) darunter vorrangig die Leistung des Fernsehens, kollektive Fernseherfahrungen zu ermöglichen: „Gedächtnisrelevanz ist ein Kriterium, [...] das nicht überbewertet werden darf. Wer erinnert sich an Troller? Unter dem Aspekt der Gedächtnisrelevanz würde er vielleicht verkürzt werden auf das Pariser Journal, was ihn wahrscheinlich ziemlich fuchsig machen würde. Er hat, glaube ich, annähernd 100 Fernsehdokumentationen gemacht. Wer erinnert sich unter der Gedächtnisrelevanz an Fechner? [...] Die bezieht sich nur auf die großen populären Programme, aber die werden zum Teil ja auch später [...] auf dem DVD-Markt zugänglich sein" (Peter Paul Kubitz, DK). Auch wenn Kubitz hier scheinbar gegen eine gedächtnisspezifische Auswahlstrategie argumentiert, betont er doch implizit ihre Unabdingbarkeit als leitendes Kriterium. Indem er die bedeutenden Filmemacher Georg Stefan Troller und Eberhard Fechner als Beispiele wählt, um sich gegen einen umfassenden Gültigkeits- und Anwendungsanspruch der Gedächtnisrelevanz bei Auswahlentscheidungen auszusprechen, sind es doch auch in diesen Fällen - also den Ansätzen, Spezialsammlungen abseits populärer „Beschwörungsformeln" (Kubitz) anzulegen - Selektionsmuster, die der Bewertung gedächtnis-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

spezifischer Qualitäten folgen: Populärkultureller Massenerfolg versus gesellschaftspolitische oder künstlerisch-ästhetische Signifikanz, autobiographische versus übergreifend kulturelle Priorisierungen, Eventisierung versus Bildungswert, Sensationalisierung versus Aufklärung, Verkürzung versus Vertiefung sowie nicht zuletzt der zugrundeliegende Widerstreit zwischen Erinnern und Vergessen. Mit Blick auf das Gesamtfeld der untersuchten Institutionen lassen sich vier Auswahlstrategien identifizieren, die sich explizit an Gedächtnisphänomenen orientieren: - Kollektive Relevanz: Die Auswahl orientiert sich hier hauptsächlich am Publikumserfolg einer Sendung bzw. einer TV-Persona, eines Formats oder auch Genres. Als Kennzeichen fungieren messbare Popularitätswerte wie vorrangig hohe Nutzungszahlen (Einschaltquoten, DVD-Verkäufe, Internet-Downloads, Teilnehmer bei Public Viewing· Veranstaltungen), aber auch qualitative Daten wie zum Beispiel durch eine Fernsehsendung angestoßene gesellschaftliche Kontroversen, die sich in einem plurimedialen Diskurs ausdrücken, oder die auffällig rasante und weitreichende Bildung von Fan-Gemeinschaften auf nationaler oder sogar internationaler Ebene. Um hier nicht falschen Fährten zu folgen, das heißt bei der schwierigen Identifizierung von Kult-Phänomenen nicht bloßen Marketingmaßnahmen von einzelnen Interessensgruppen zu folgen, sondern tatsächlich erinnerungskulturelle basisgesellschaftliche Entwicklungen zu erfassen, müssen valide qualitative Erhebungs- und Bewertungsverfahren entwikkelt werden. Primär Fernsehmuseen sind hier ebenso prädestiniert wie in der Pflicht, befassen sie sich doch mit einem Medium, das in seiner Geschichte wie kein anderes populärkulturelle Strömungen aufgegriffen, assimiliert und in in erster Linie auch selbst verursacht hat. Dieser konzeptionelle Auftrag wurde in den betreffenden Institutionen bisher allenfalls ansatzweise wahrgenommen und mit Behelfsvorrichtungen wie der punktuellen Konsultation von Fernsehkreativen, Vertretern bestimmter Fan-Clubs oder eigenen Beobachtungen zu substituieren versucht. Schwierigkeiten der Einstufung kollektiver Relevanz ergeben sich auch in Bezug auf Medienereignisse. Werden ikonographische, vom Fernsehen in alle Welt übertragene Ereignisse wie die erste Mondlandung, die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder die Tsunami-Katastrophe in Südostasien im Dezember 2004 als Pflichtstücke in der fernsehhistorischen Programmsammlung angesehen, ergeben sich in Anbetracht der im Laufe der Fernsehgeschichte stark zugenommenen Ereignisdichte schnell Bewertungsprobleme bei der Relationierung der Ereignisrelevanz für die gesamtgesellschaftliche Erinnerung: „It's pretty obvious to us all for example, that the shootings at Virginia Tech are a big news story. They will remain a big news story twenty years from now. People will know that this was a significant event, it was the worst school shooting-massacre in American history. Paris Hilton going to jail is simply not a news-event. It may get 24 hour cable coverage, but it is not a news-event. [...] Sometimes you get that wrong: What may seem like a big news-event becomes lesser of a big event. Something like John F. Kennedy Jr. dying in that plane crash: When that happened it was a huge

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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media event, an enormous news coverage of this great tragedy. But five years later it's still a tragedy, but does it rank up with the Virginia Tech shooting? No, I don't think so. Some context comes in time, and we change" (Paul Sparrow, Newseum). Einerseits hilft die Adjustierung von Auswahlentscheidungen dabei, die kollektive Relevanz eines Ereignisses über seinen historischen Kontext zu ermitteln, andererseits verspricht die Eingrenzung des Sammlungsschwerpunktes auf bestimmte Gesellschaftsteile bzw. regionale und lokale Gemeinschaften eine andernfalls nicht zu erreichende zeitnahe und gleichsam treffende Relevanzbemessung: Die Einbindung der Sammlungstätigkeit in einen kommunalen Kontext befähigt die Auswahlinstanzen dazu, durch einen engen Fokus auf ein zudem überschaubares Sammelgebiet Ereignisse und ihre Bedeutung für die betreffende Gemeinschaft schneller und besser einschätzen zu können und in die historisch perspektivierte Sammlung zu integrieren. Das Museum of Broadcast Communications folgt einem solchen Ansatz, indem es seine Auswahlstrategie wesentlich auf Fernsehereignisse jeglicher Art ausgerichtet hat, die eine besondere Bedeutung für die Bevölkerung Chicagos gehabt haben. - Autobiographische Relevanz: Durch den fernsehspezifischen Rezeptionswandel von einem kollektiven Gemeinschaftserlebnis zu einem überwiegend individuellen Vorgang stehen Sammlungsleiter vor dem Dilemma, abseits der rar gewordenen singulären Fernsehmomente, die große Bevölkerungsteile gleichzeitig vor dem Bildschirm erleben, das weite Programmfeld auf solche Sendungen hin durchstöbern zu müssen, die im Leben des einzelnen Zuschauers eine besonders hohe Bedeutung erfahren haben. Obgleich es sich um ein ebenso aussichtsloses wie sinnloses Unterfangen handeln würde, das fragmentarisierte Programm- und Rezipientenfeld im Detail auf autobiographische Relevanzzuschreibungen hin zu untersuchen, lässt sich mithilfe der qualitativen Nutzungsforschung beispielhaft ermitteln, welche Programmformen aus welchen Gründen von den Zuschauern einen herausgehobenen Platz in ihrer Erinnerung zugewiesen bekommen haben. Auf diese Weise kann eine Auswahl getroffen werden, die es einer bestimmten Nutzerklientel ermöglicht, ihre persönliche Entwicklungsgeschichte anhand eines beispielhaften Programminhalts, zu dem sie eine Verbindung knüpfen kann, Revue passieren zu lassen. Andere Nutzer wiederum erhalten dadurch ebenfalls ein Eingangstor zur autobiographischen Erinnerung ihrer Mitmenschen: ,,[T]ouchstones that allow people to connect up with their own personal experience. [...] So we wanted to make sure that the people have the emotional response because of their memory and people of the younger generation who didn't live through it are still intrigued and engaged because the material we use is visually compelling" (Paul Sparrow, Newseum). Zweifellos ist auch das Nostalgiephänomen in solchen Fällen ein starker Anziehungsfaktor und Erinnungsmotivator, dem auswahlstrategisch eine wichtige Rolle zukommt: Durch das Angebot an den Nutzer, in den Sammlungsbeständen einen emotionalen Anker beispielsweise für die Rückbesinnung auf die eigene Kindheit zu finden, kann die Bereitschaft gesteigert werden, mehr über das eigentliche Sammlungsziel, die Ver-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

mittlung von Wissen über das Medium und seine Geschichte, zu erfahren: „ [N] ostaglia can help people to understand the changes of the media. So it's not only to see things you remember from the past only for the reason to do a trip down memory lane" (Ross Melnick, AMMI). Der autobiographische Ansatz eröffnet jedoch auch interessante Einblicke in das Leben und Wirken von Beteiligten an der Entstehung von Fernsehsendungen: Auf verschiedenen Ebenen lassen sich akteurszentrierte Spezialsammlungen anlegen, die der Sammlungsleitung die Freiheit lassen, je nach der Philosophie des Hauses ihre Favoriten aus dem Produktionsbetrieb auszuwählen und ihren Werdegang anhand von Fernsehüberlieferungen nachzuzeichnen. Gesammelt werden also Nachlässe bereits verstorbener oder Vorlässe noch lebender Akteure, die in direktem Kontakt mit der betreffenden Person bzw. ihren Angehörigen, welche meist als Nachlassverwalter fungieren, akquiriert werden. Während sich einige Einrichtungen auf prominente Charaktere des Fernsehgeschäfts konzentrieren - das Paley Center for Media hat beispielsweise Spezialsammlungen über Lucille Ball („I Love Lucy"), Walter Cronkite oder auch Edward R. Murrow angelegt, die Deutsche Kinemathek wiederum verfolgt unter anderem die Karrieren von Filmemachern wie Troller, Christian Petzold, Erik Ode oder Wolfgang Menge - um dadurch eine Art „Hall of Fame" im Sinne einer besonderen Würdigung bestimmter Fernsehlebensläufe zu etablieren, kümmern sich andere Einrichtungen auch um wenig bekannte, lokale Fernsehpersönlichkeiten, die für die Mehrzahl des oftmals unkenntlichen Produktionspersonals stehen, das Fernsehen erst möglich macht. Hier kommt der Aspekt zum Tragen, dass sich „the collective memory of an industry" (Chuck Howell, LAB) immer in den autobiographischen Leistungen der einzelnen Akteure widerspiegelt, diese aber leicht in ihrer Eigentümlichkeit in Vergessenheit geraten: „Just because a guy who did the news from West Virginia for 35 years on a local station there didn't become Walter Cronkite doesn't mean that his little broadcasting story wouldn't be of interest for somebody because it talks about a different aspect of broadcasting and one that's dying is the one of localism that was an important part of the American broadcasting history for a lot of years" (Chuck Howell, LAB). - Verklärende Intention: Die sammlungsspezifische Nachzeichnung der Institutionsgeschichte des Fernsehens anhand von individuellen Biographien der,Macher' unterliegt einer tendenziell affirmativen Haltung gegenüber dem einzelnen Akteur im Speziellen und dem Fernsehbetrieb im Allgemeinen. Die Auswahl von Persönlichkeiten, deren televisuelles Lebenswerk in Form möglichst aller verfügbaren Überlieferungsgattungen aus dem professionellen Wirkungsbereich gesammelt werden soll, folgt im überwiegenden Maße einer verklärenden Intention: Der Regisseur, die Autorin, der Schauspieler, die Produzentin, der Tontechniker, die Kamerafrau, der Ingenieur, die Programmchefin - sie alle finden Berücksichtigung in einer Sammlung, nicht weil eine Auswahlkommission ihre Leistung besonders kritisch bewertet oder eine negative Grundhaltung ihnen gegenüber hegt, sondern weil sie als herausragende Vertreter ihrer Profession

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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eingestuft werden, denen es Tribut zu zollen gilt: ,,[T]he engineers are always there and they become the keepers of the flame and they respresent the continuity of the corporate memory of the station" (Chuck Howell, LAB). Dieser stark selbstreferentielle Ansatz wird mancherorts komplementiert durch einen institutionellen Rahmen, der zur Imageförderung eines Fernsehveranstalters und zur Zelebration der Sendergeschichte beitragen soll. Einrichtungen wie das CBC Museum in Toronto oder das Cable Center der Kabelfernsehindustrie in Denver, Colorado haben den expliziten Auftrag, die historischen Errungenschaften und den als besonders wichtig empfundenen Beitrag ihrer Träger zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu feiern (vgl. Kapitel IV.4.3.2.2.). Im Vordergrund steht also die Rechtfertigung und Stärkung einer Organisation durch die Sammlung von herausragenden Beispielen ihrer Gedächtnisrelevanz für möglichst viele kulturelle Dimensionen. - Aufklärende Intention: Im Gegensatz zu solch verklärenden Affirmationstendenzen bei der Sammlung erinnerungskulturell relevanter Überlieferungen aus der Fernsehgeschichte wird in manchen Einrichtungen eine strikt kritische Haltung zum Selbstbildnis der Fernsehbranche eingenommen, was sich auch in den Auswahlstrategien niederschlägt. So sammelt das Newseum unter anderem projektbezogen nach der Maßgabe, Journalisten und Programmverantwortlichen anhand ihrer Fehltritte aus der Vergangenheit vor Augen zu führen, wie sie ihre Aufgabe in Zukunft verantwortungsbewusster wahrnehmen sollten. Den Hintergrund bildet ein Aufklärungsimpetus, welcher der Überzeugung folgt, dass der Blick in die Vergangenheit nie zum Selbstzweck erfolgen sollte, sondern vielmehr einen Anlass, aus Fehlern zu lernen. Weniger offensiv, aber mit einem ähnlichen Bildungsverständnis agieren alle gemeinnützigen Einrichtungen im Untersuchungsfeld, angefangen mit der Auffassung, dass es nicht dem freien Markt überlassen bleiben sollte, welche Überlieferungen Einblicke in die Fernsehvergangenheit gewähren. Bildung und Aufklärung sei in der erforderlichen Breite nur möglich, so Howard Besser (NYU), wenn es Institutionen gebe, welche sich der Sammlung und Bewahrung auch all solcher Dinge widmeten, die dem kommerziellen Verwertungszyklus entzogen seien. Die breite Dokumentation der Fernsehgeschichte bildet somit die Grundlage für Auswahlstrategien, die sich einzelner Überlieferungssegmente bedienen, um mittels Sammlungsverdichtungen über das Medium, seine Logiken, Leistungen, aber auch suggestive wie direkte Irreführungen, Gefahren und Vorteile aufzuklären. Dazu gehört auch die Zu-Tage-Förderung von vergessenen Relikten, die genauso zu einem besseren Verständnis beitragen können wie Dokumente, die ungewohnte Einblicke hinter die Kulissen - damals wie heute - ermöglichen und beispielsweise zeigen, „dass der HR in Frankfurt mindestens 25 Schneideräume hatte. So etwas sieht draußen ja keiner" (Uwe Redlich, FMI). Schon geringfügig erscheinende Details können auch nach Ansicht von Joseph Hoppe (DTM) „wie der Eintritt ins Arcanum" wirken und große Faszination auslösen, was die Lernbereitschaft zu erhöhen hilft. Eine Frage, die sich nur wenige befragte Sammlungsverantwortliche stellen, betrifft die Geltungskraft ihrer gedächtnisspezifischen Auswahl. Häufig wird implizit davon ausge-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

gangen, dass bestimmte Überlieferungen per se ihren Erinnerungswert in sich tragen und sich dieser automatisch auf die Sammlung überträgt. Doch bereits die Entscheidung, welcher Teil des Fernseherbes in welchem Umfang, in welcher Materialqualität und in welchem Kontext für die Sammlung ausgewählt wird, determiniert wesentlich, welche Erinnerungsfunktion der Überlieferung im jeweiligen institutionellen Rahmen zukommt. Wer auswählt, entscheidet gleichzeitig immer über die materielle Erinnerungsbasis und ebenso über das, was nicht ausgewählt und potenziell dem Vergessen überantwortet wird: „It will always be selective memory. When people use the term .cultural memory' or .collective memory' that's the key issue: Whose is it?" (Horace Newcomb, UG). Jede Gedächtnisorganisation übt also insofern Erinnerungsmacht aus, indem sie Überlieferungen für das Erinnerungsfundament, den televisuellen Fundus, das Speichergedächtnis des Fernsehens selektiert. Damit bestimmen nicht nur die kulturellen Determinierung, die medienimmanenten Faktoren und der jeweilige Sende- und Rezeptionskontext bei Ausstrahlung eines Programminhalts die Bildung des Erinnerungswertes, sondern in nicht unwesentlicher Stärke auch die kuratorische Selektion: „Obviously we are looking on the memory of the country as interpreted through television and we have our own memory that we built" (Ron Simon, PCM). Erst durch den Auswahlprozess mittels der zugrundeliegenden institutionellen und fachlichen Autorität erhalten viele Fernsehüberlieferungen eine kulturelle Gedächtnisrelevanz. Dadurch dass es im Zuge der fortschreitenden Fragmentarisierungstendenzen und der Proliferation von Programmangeboten bald kaum noch eindeutige Wertzuschreibungen gab, avancieren Sendungen oftmals erst dann zu Erinnerungssendungen, wenn sie Aufnahme in eine renommierte Fernsehsammlung finden und durch die generierte Aufmerksamkeit für ihre erinnerungskulturelle Bedeutung ausgezeichnet werden. Dennoch sind Sammlungen als materieller Grundstock gesellschaftlichen Erinnerns immer nur ein „potenzielles Gedächtnis" (vgl. Assmann 1999: 345), dessen sich das Publikum bemächtigen muss. Die Entscheidung über den erinnerungsrelevanten Rang einzelner Sammlungsstücke fällt ex ultimo also nicht mit dem Werturteil der verantwortlichen Archivare und Kuratoren, sondern erst im Diskurs mit den Nutzern. Der archivwissenschaftliche Konsens, dass Überlieferungen erst durch die fachkundige Bewertung kulturelle Signifikanz erlangen, wenn sie also den archivischen Bewertungsprozess durchlaufen haben und als archivwürdig eingestuft wurden (vgl. Brenner-Wiczek/CeplKaufmann/Plassmann 2004:46), trifft daher auf das Erbe des Fernsehens als gesellschaftliches Leitmedium nur zum Teil zu. Daraus leitet sich in Bezug auf die Bewertung und den Umfang des Überlieferungsbestands eine schwerwiegende Verantwortung des Archivars ab, der im konstanten Rückbezug auf die Relevanzzuschreibung nicht nur innerhalb des produzierenden und programmpolitischen Umfelds, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit und in der Wissenschaftsgemeinde seine Auswahltätigkeit anpassen und rechtfertigen muss.

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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3.1.2.6. Kriterienmix als Königweg Die Analyse der multi-perspektivischen, teils miteinander korrespondierenden, teils aber auch entgegenlaufenden Auswahlkriterien bei der Sammlung des Fernseherbes hat die zentrale Erkenntnis erbracht, dass ungeachtet nationaler Kontexte dieselben wesentlichen Strategien zur Anwendung kommen, wenn auch doch in ihrer Gewichtung und Kombination unterschiedlich, und sie alle gleichsam valide und praktikabel sind, jedoch auch Probleme aufwerfen, welche die Integrität von Fernsehsammlungen gefährden können. Dass die Herangehensweisen an die Selektionsproblematik in einigen Fällen stark voneinander divergieren, hängt im Wesentlichen zusammen mit den unterschiedlichen Interessen der Einrichtungen (z.B. kommerziell vs. gemeinnützig). Doch ist ferner eine tiefgreifende Unsicherheit bei der Kriterienwahl festzustellen, die mit dem allgemeinen Dilemma der Kulturerbe-Verwaltung zusammenhängt, dass es organisationsübergreifend keine Klarheit gibt, welche kulturellen Indikatoren auf Dauer valide sind. Wahrend manche Einrichtung die Entscheidung seinen Nutzern überlässt, indem in erster Linie nur das vorgehalten wird, was nachgefragt wird, wählen andere eine Kombination verschiedener Strategiezweige, um zu möglichst verlässlichen Auswahlentscheidungen zu kommen. Jedoch wird selten klar unterschieden, ob in die Breite oder Tiefe gesammelt werden soll. Auch traditionsreiche Institutionen wie das UCLA Film & Television Archive mäandern mit ihrem Anspruch, Beides zu leisten, also sowohl die Breite des Programmgeschehens abzubilden, was zwangsläufig nur oberflächlich geschehen kann, als auch das Vergessene, Reichweitenschwache, gar Misslungene zu erfassen, zwischen den Extremen. Das Fernseherbe zwingt seine Selekteure durch sein schieres Volumen dazu, hart zu selektieren, und setzt sie dem ständigen Risiko aus, unverhältnismäßige oder zumindest streitbare Distinktionen vorzunehmen, die sie nach Möglichkeit zu vermeiden haben, weil diese im Laufe der Zeit einem unvorhersehbaren Wandel unterworfen werden. Während manche Einrichtungen dieser Herausforderung mit der Aufstellung von möglichst umfassenden Richtlinien begegnen wie im Fall der Deutschen Kinemathek, die einem „Dekalog" (Peter Paul Kubitz, DK) folgt, verzichten andere vollständig auf verbindliche Kriterienkataloge, sondern entscheiden von Fall zu Fall, um sich vom Material leiten zu lassen und es nicht vorgefassten Schablonen zuzuordnen. Dennoch bleibt auch bei flexiblen Auswahlstrategien ein bindendes Organisationsmandat vonnöten, um bei der Sammlung nicht in Beliebigkeit zu verfallen. Paul Sparrow (Newseum) propagiert beispielsweise einen verbindend-vergleichenden Ansatz, der je nach Anwendungsfall synergetisch eine Vielzahl von methodischen Vorgehensweisen miteinander verschränkt, um Flexibilität innerhalb des institutionellen Sammlungskontextes zu ermöglichen: „It's much more like a syncretic process, the way we curate content here. We don't have hard criteria. And very few museums do, and if they do, they are lying. So in each individual project we have usually one team. [...] And then we always have experts coming in and giving us analysis. [... ] When we got to the end it all fit together" (Paul Sparrow, Newseum).

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Je gattungsspezifischer und thematisch enger eine Sammlung zusammengesetzt ist, desto verlässlicher werden auch die Auswahlstrategien eingeschätzt: Für Thorsten Schilling vom Medienzentrum der Bundeszentrale für politische Bildung besteht in der klaren Ausrichtung von projektbezogenen Sammelanstrengungen der entscheidende Vorteil gegenüber umfassender und dauerhafter angelegten Sammlungsinitiativen. Bei der Auswahl folge er deshalb keiner Sammlungslogik, sondern zielspezifisch der Dramaturgie der zu produzierenden Produkte: „Und da geht es immer, ob es eine Website ist oder ob das ein Dossier auf einer Website ist oder ob das eine Audio-CD oder was anderes ist, steht am Anfang der konzeptionellen Arbeit ein Gespräch mit den Autoren, die meist externe Partner oder Einzelakteure sind, also Journalisten oder Wissenschaftler. Am Anfang steht immer ein Benchmarking: Wo gibt es eine Marktlücke, also eine Bildungsmarktlücke, was ist der Bedarf, und in welchen Kontext hinein produziert man? Daraus ergeben sich dann konkret die Kriterien, die wir brauchen" (Thorsten Schilling, BpB). Mit Blick auf die uneinheitlichen, weil von Eigenwilligkeit geprägten Vorgehensweisen der Auswahlinstanzen insgesamt erscheint es nicht als hilfreich, sich an feste Kriterienkataloge zu binden. Um ein Argument Steve Bryants (BFI) aufzugreifen, soll hier resümiert werden, dass jedoch die Erkenntnis ihrer Inpraktikabilität den Anstoß leistet, über die gedächtnisspezifische Relevanz des Materials nachzudenken, es dahingehend zu relationieren und zu bewerten: „The actual canon itself doesn't always work, but thinking about what should be in it can be interesting." Der Archivwissenschaftler Botho Brachmann ist den Forderungen nach dem Ausbau einer „Bewertungswissenschaft" mit der Bemerkung begegnet, das hieße nichts anderes, als „Wunder oder Unmögliches zu vollbringen" (Brachmann 2000: 32). Theoretisch könne nicht begründet werden, was wertvoll oder was Informationsmüll sei. Dies trifft freilich ebenso auf die Selektion von Fernsehüberlieferungen zu: Die einzige Alternative stellen demnach Detaillösungen und transparente Vorgehensweisen dar. Doch diesbezüglich attestiert Brachmann gleichermaßen ein erschreckendes Maß von „intransparenter Transparenz bzw. transparenter Intransparenz" (vgl. ebd.: 30) innerhalb der allgemeinen Archivpraxis, verursacht auch durch finanziell-materielle, intellektuell-personelle und erkenntnistheoretisch-rezeptionelle Grenzen in den Reihen der Archivare (ebd.: 31). Ihrer erinnerungssteuernden Funktion und der inhaltlichen Komplexität des Mediums entsprechend haben manche televisuellen Gedächtnisorganisationen das klassische Modell eines weitgehend allein entscheidungsbefugten Archivars oder Kurators verworfen und durch Team-Lösungen ersetzt: Kuratorische Entscheidungen werden mittlerweile vielerorts von gut vernetzten Spezialisten getroffen, die in Rücksprache zueinander auf Basis ihrer jeweils eigenen Expertise die Verantwortung für die Sammlungskonstruktion übernehmen: „So all the people in the Curatorial Department have their own strings. And they are responsible for collecting programs for the museum. So they are responsible for the entire shape of the collection" (Doug Gibbons, PCM). Zumal Relevanzzuschreibungen in Bezug auf die Vergangenheit immer eine Konstruktionsleistung darstellen, die

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je nach Betrachter und Betrachtungswinkel streitbar bleibt, kann es sich umso positiver auf die Glaubwürdigkeit und die Authentizität der gesamten Einrichtung auswirken, wenn gerade auch die gedächtnisbezogenen Auswahlmechanismen in ihren Hintergründen und Intentionen so deutlich wie möglich zum Ausdruck kommen und auf ein breites fachliches Fundament gestellt werden sowie die auswählenden Verantwortlichen als Arrangeure für die Nutzer kenntlich sind; denn: „Welche spezielle Sendung [...] schließlich ausgewählt wird, hängt letztlich von der Entscheidung des Auswählenden ab, sprich: des Wissenschaftlers oder des Museumsfachmanns, der gesteuert ist auch von aktuellen Verhältnissen. Objektivität ist nie zu erreichen. Das muss auch gar nicht sein. Es soll ja auch eine Handschrift tragen. Ein Museum hat ja auch einen eigenen Charakter, also eine eigene Art von Relativität" (Thomas Beutelschmidt, HUB). Letztlich ist eben diese Transparenz bei der Festlegung der Selektionsmaßstäbe unerlässlich, um aktuelle, aber auch zukünftige Überprüfbarkeit der Auswahl zu ermöglichen. Bei der Sammlungsauswahl für sich zu beanspruchen, das .Beste' ermittelt und in einer Sammlung vereint zu haben, ist ohne die Offenlegung der Bewertungsmaßstäbe kaum glaubwürdig. Denn nicht nur von Epoche zu Epoche (vgl. Assmann 1999: 346), sondern selbst von einer Generation zur nächsten kann es durch Erinnerungskonjunkturen und Popularisierungstendenzen Differenzen in der Relevanzbemessung von Überlieferungen geben, gegen die eine Archiv- oder Sammlungsorganisation immun sein sollte, sich aber dennoch nie vollständig gegen die Tücken fehlender historischer Distanz und Fehlbewertungen schützen kann. 3.1.3. Der vernachlässigte Kontext: Sammeln wider die

Ganzheitlichkeit

Trotz der sich bietenden Möglichkeiten, zielgerichtet und effektiv aus dem reichen Überlieferungsbestand des Fernseherbes auszuwählen, wurde es bisher weitestgehend versäumt, Sammlungsstrategien zu entwickeln, die alle Materialgattungen gleichermaßen mit einbeziehen, um ein ganzheitliches Bild des Fernsehens und seiner historischen Entwicklung nachzuzeichnen. Besonders Museen unterstehen aufgrund ihres kulturschaffenden Charakters der Verpflichtung, den bewahrten Sammlungsfundus stets mit dem Ziel einer permanenten Steigerung seiner wissenschaftlichen und kulturellen Bedeutung zu verwalten (Waidacher 1999: 188). Selbst Einrichtungen, die den explizit formulierten Anspruch verfolgen, die Geschichte des Fernsehens zu erschließen, aufzuarbeiten und zu vermitteln, folgen eher schmalen Sammlungspfaden, indem sie sich auf das Programmerbe, Schriftgutsammlungen oder eine Realienkategorie konzentrieren. Als ursächlich kann hier das uneinheitliche Vorgehen innerhalb der Fernsehwirtschaft angesehen werden, die sich mit unterschiedlichem Eifer und Genauigkeit ihrer eigenen Überlieferungsproduktion annimmt. In manchen Unternehmen ist die Kontextdokumentation so schwach ausgeprägt, dass es an einzelnen Beschäftigten liegt, die Geschichte ihres Senders abseits der reinen Programmproduktion zu dokumentieren.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Zwar werden durch das Aufkommen digitaler Datenbanken zuvor getrennt voneinander operierende Redaktions- und Archivsysteme immer stärker miteinander verbunden, was auch die Annäherung von Programm- und Unternehmensarchiven beflügelt hat und die Integration unterschiedlicher digitalisierter Dokumente in ein und dieselbe Arbeitsoberfläche und damit die Kontextualisierung einzelner Überlieferungen ermöglicht. Die Einbindung von Geschäftsunterlagen und programmbegleitendem Schriftgut erfolgt hier nach dem praktischen Wert für den aktuellen Sendebetrieb: So verspricht Schriftgut unter anderem eine Erleichterung der allgemeinen Verwaltungsarbeit oder hilft bei der Rechteermittlung bei der Programmplanung, sollten einzelne Produktionen zur Wiederholung anstehen. Bestimmte Bereiche werden indes weiterhin von der ordnungsgemäßen Archivierung ausgeklammert wie unter anderem der Videotext, die somit auch externen Sammelinitiativen nicht zur Verfügung stehen. Zwar wird die Untertitelung von Sendungen, die über den Videotext erfolgt, unter anderem im Programmarchiv des WDR erfasst, jedoch nicht die übrigen Inhalte des Informationssystems. Die Ausblendung eines erfolgreichen programmbegleitenden Informationsangebotes wie des Videotextes sorgt im Expertenfeld für Unverständnis. Für Hans-Gerhard Stülb (DRA) besteht ein grundlegendes Versäumnis darin, dass bei den Fernsehveranstaltern kein archivischer Auftrag existiert, der abgesehen von der Programmproduktion auch andere Überlieferungsbereiche betrifft. So sei der Videotext zu keinem Zeitpunkt als archivwürdig eingestuft worden. Auch die Sammlung von Realien sei abhängig vom Zufall und dem Engagement Einzelner. Während sich in manchen Sendern wie dem ZDF zumindest kleine Techniksammlungen entwickelt haben, die als Liebhaberprojekte auf ehrenamtlicher Basis gepflegt werden, gehören Realiensammlungen bei Privatsendern zur Ausnahme: „Wir müssen einen Schritt zurücktreten und uns über die Wertigkeit von Materialien zur Archivierung unterhalten. Wir sind in einem Wirtschaftsunternehmen, und insofern ist die kommerzielle Verwertbarkeit natürlich relevant und nicht ein historischer Auftrag. [...] Einen historischen Bestand an Deko etc. haben wir im Programmarchiv nicht. Wenn überhaupt gibt es im Hause aber allenfalls eine Sammlung. Es ist nicht in Form eines Historischen Archivs in irgendeiner Form angesiedelt, und es wird auch nach Produktionsbereichen an unterschiedlichen Stellen gesammelt. Da gibt es keine homogene Struktur für Deko-Materialien" (Susanne Betzel, RTL). Auch Heiko Kröger räumt ein, dass es auch beim Norddeutschen Rundfunk keine systematische Sammlung von Requisiten gebe. Die Bewahrung einzelner Fundstücke verbleibe daher meist in der Verantwortung von interessierten Mitarbeitern. Er selbst verwahre auf seinem Schreibtisch das erste Pausenmännchen des NDR aus den 1950er Jahren: Ein Geigenspieler mit Notenblatt, der immer dann mit Musikuntermalung auf Sendung ging, wenn es eine Programmunterbrechung gab. Das Hauptaugenmerk der führenden Fernsehmuseen in den USA und Deutschland liegt auf den audiovisuellen Produkten des Fernsehschaffens, ohne den institutionellen, produktionsbezogenen oder rezeptiven Kontext bei ihrer Sammlungstätigkeit ausrei-

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chend mit einzubeziehen. Auch in den übrigen bestehenden Einrichtungen liefen die Sammlungsbemühungen mehrheitlich auf ein Entweder/Oder hinaus, wodurch bereits auf der ersten Ebene der Fernseherbe-Verwaltung, also des Erfassens und der Bewertung von Überlieferungen, gattungsspezifische Distinktionen vorgenommen werden, die dem organisch verknüpften Produktions- und Rezeptionsprozess des Fernsehbetriebs keinesfalls entsprechen. Fernsehgeschichte wird dadurch einer Kategorisierung unterworfen, die sich an der Perspektive bestimmter Nutzergruppen auf das Medium orientiert: Während einerseits davon ausgegangen wird, dass Sammlungen, die sich an ein breites Publikum richten, die ohnehin der allgemeinen Öffentlichkeit zugewandte Dimension des Fernsehens, also die ausgestrahlten Sendeinhalte, zu fokussieren haben, sind es auf der anderen Seite brancheninterne und wissenschaftliche Sammlungen, die ihr Augenmerk für ihr Fachpublikum auch auf die dem Programm zugrundeliegenden Schriftdokumente werfen. Henry Jenkins (MIT) sieht in der Spezialisierung der Sammlungsstrategien anhand archivischer Ordnungsschemata den maßgeblichen Störfaktor, der einem kontextualisierenden Sammeln im Wege stehe: „At the moment there is so much about the archive content and not that much about providing the full framework in which television was produced." Sofern die unterschiedlichen Überlieferungsgattungen bei Fernsehunternehmen existieren, seien es Sender, Produktionsunternehmen oder Werbeagenturen, können sie auch potenziell von wissenschaftlichen oder musealen Institutionen akquiriert werden. Dass dies unter dem Gesichtspunkt der ganzheitlichen Thematisierung der Fernsehgeschichte in nur unzureichender Weise geschieht, zeugt von einer Konzeptarmut, die ihren Ursprung in der strikten fachlichen Trennung im Bildungssektor hat. Interdisziplinarität ist in der Fernseherbe-Verwaltung ein Fremdwort, wie Howard Besser (NYU) meint. Generalistische Ansätze fänden sich nur selten im Rahmen der entsprechenden Ausbildungsgänge: „One of the reasons for this is that the training for conservation, for curating, for organizing material that are artifacts, that that training tends to be completely different than the training for organizing material of content, of videotapes or whatever. Where people learn about this and to deal with them is completely different. They are not connected. [...] [M]ost programs don't talk about artifacts, they talk about the tapes" (Howard Besser, NYU). Der fachbezogene Scheuklappenblick bestimmt daher auch die Ausrichtung von Spezialsammlungen in universitären Einrichtungen. Dass jedoch ebenso Museen als Wissens- und Vermittlungsagenturen im Dienste der Aufklärung den gattungsübergreifenden Kontext des Fernsehens vernachlässigen und nicht Sorge tragen, dass bei der Binnendifferenzierung ihrer Kuratorien auch Spezialisten anderer Überlieferungsgattungen mit einbezogen werden, ist vor allem den Fernsehwissenschaftlern im befragten Expertenfeld unverständlich. So seien Artefakte von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Hintergründe des Programms, seiner Lesarten und Implikationen, zeigt sich beispielsweise Horace Newcomb (UG) überzeugt. Michele Hilmes (WCFTR) spricht

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

angesichts der Überlieferungsbreite und -tiefe von verschiedenen Informationsebenen, die bei der Sammlung von Kontextdokumenten aus der Fernsehgeschichte zum Tragen kämen: Papierene Dokumentensammlungen seien zwar in erster Linie von wissenschaftlichem Interesse, doch sei es nichtsdestotrotz notwendig, die in ihnen sedimentierte Information auch für ein Laienpublikum zu Tage zu fördern. Dies unterstreicht auch Mark Quigley (UCLA), der auf die dadurch erst möglichen unterschiedlichen Blickwinkel auf das Fernsehschaffen verweist: „The imbedded content, the subtext that you are going to get from watching the television program is different from reading the teleplay of the same program. The actual visual reference is really important. In tandem with paper records you have an incredible historical resource, so one is not more important than the other, but certainly both are important for a critical analysis of history" (Mark Quigley, UCLA). Auch der Dokumentationswert von Merchandisingartikeln trägt dazu bei, das finale Fernsehprodukt in Form des Programms in einen Gesamtzusammenhang zu stellen, der multi-dimensional gleichzeitig autobiographisches Erinnern und die historische Kontextualisierung der gegenwärtigen Marktlogiken umfasst. Gleichwohl wird vereinzelt bemängelt, dass die historische Aussagekraft dieser Objekte aufgrund einer fehlenden Archivstruktur selbst von der wissenschaftlichen Klientel oft übersehen werde: „We haven't experienced it yet that a researcher came in and wanted to look at the marketing material to study that. But that has a lot to do with whether the people know about the collection in the first place. I don't think that people are aware of the richness of this rare particular collection" (Ruta Abolins, WBMA & PAC). Während Erwachsene Bezüge zu ihrer eigenen Vergangenheit anhand von derlei Begleitprodukten, sogenannter Tie-Ins, knüpfen können, wird Kindern vor Augen geführt, dass auch ihre Eltern und Großeltern eine enge Verbindung mit dem Fernsehen, seinen Figuren und Formaten pflegten, und es ihnen zugleich ermöglicht, ein besseres Verständnis für die Vermarktungstradition von Fernsehproduktionen zu gewinnen: „A lot of people think that all the tie-in stuff is something new that started with .Spongebob' or .Harry Potter'" (Robert Thompson, SU). Diese Erkenntnisse sind aber nur dann wahrscheinlich, wenn die Auswahl in voller Breite und im Bewusstsein der weit verzweigten und synergetisch miteinander verknüpften Überlieferungsgattungen erfolgt: „Alles, was mit Fernsehen zu tun hat, muss seinen Niederschlag finden. Das können diese Merchandising-Artikel sein, das können Eingangsstempel zum Beispiel sein, mit denen der Hessische Rundfunk seine Zuschauerpost bestempelt hat. Das können Drehbücher sein, das können Protokolle sein von irgendwelchen internen Sitzungen, das können Beschwerdebriefe sein, wenn bei einer Produktion mal was ganz böse gelaufen ist. Das können Verträge sein, das können kleine Reiseutensilien sein bis hin zur kompletten Dekoration einer traditionsreichen Sendung oder eines beliebten Fernsehspiels. Kostüme sind auch wunderbar" (Joseph Hoppe, DTM). Nachholbedarf besteht ebenfalls im Bereich der Fernsehrezeption: Weder bei den Fernsehveranstaltern noch in den senderunabhängigen Einrichtungen wird der Zuschauer-

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Perspektive ausreichend Relevanz beigemessen, resultierend aus den stark werks- und produktionsbezogenen Sammlungszielen. Stephan Schwan vom Institut für Wissensmedien kritisiert diese Auswahlpraxis, indem er auf die Rolle des Rezipienten als aktiven Konstrukteur von Sinn im Programmbetrieb verweist. So müssten die Zuschauer und die Hintergründe ihrer Rezeption deutlich stärker in den Blick genommen werden, als es bisher der Fall gewesen sei. Die Notwendigkeit eines verstärkten Sammlungsengagements in diesem Bereich wird auch durch die unzureichende Archivierung der Zuschauerresonanz in den Senderarchiven unterstrichen. Besonders der interaktive Rückkanal per E-Mail bereite der archivischen Erfassung Probleme, erklärt Bettina Hasselbring vom Historischen Archiv des Bayerischen Rundfunks: „Wir arbeiten gerade an einem Konzept der E-Mail-Archivierung, weil vieles ja heutzutage per E-Mail abgewickelt wird. Da habe ich schon Bedenken, dass durch diesen Umbruch ins rein digitale Zeitalter einiges verloren geht. Zuschauerpost läuft ja vieles gar nicht mehr per Brief, sondern per E-Mail. Wir haben zwar noch keine fertigen Konzepte, sind aber dabei, eine Arbeitsgruppe aus Archiven und EDV und Redaktion das zu erarbeiten, was wir mit E-Mails machen. Und perspektivisch sollen dann natürlich auch die E-Mails ins Historische Archiv übergeben werden. Aber bisher noch nicht. Bisher liegt alles auf den Servern, das Wesentliche wird ausgedruckt, aber vieles auch gelöscht, schätze ich" (Bettina Hasselbring, BR). Noch immer beansprucht auch die Briefpost eine wesentliche Rolle als Kommunikationsmittel: Zuschauer nutzen die Möglichkeit, per handschriftlich verfassten und eigenhändig illustrierten Briefsendungen ihre Begeisterung oder Abneigung gegenüber Sendern, Programminhalten, einzelnen Moderatoren oder bestimmten Themen auf individuelle Weise zum Ausdruck zu bringen. Auch jugendliche Spartenkanäle wie MTV oder Viva erreichen alle zwei Wochen bis zu 150 solcher meist aufwendig gestalteten Briefe (vgl. Kramp/Weichert 2007: 8). Gleichzeitig ist das Aufkommen elektronischer Mitteilungen rasant angewachsen und macht mittlerweile den Großteil des Zuschauerfeedbacks aus, was das Problem ihrer strategischen Archivierung umso dringlicher macht. Rezipientenorientierte Kontextdokumente wie Zuschauerpost, in der Presse veröffentlichte Reaktionen, aber auch Anrufprotokolle der Sender gewähren einen wichtigen und oftmals stark vom Produktionsfokus divergierenden Blick in die Fernsehvergangenheit: Wie unter anderem die Kontroverse u m die Ausstrahlung des Vierteilers „Holocaust" gezeigt hat, ist oftmals nur unter Einbeziehung von Zuschauerreaktionen die gesellschaftliche Relevanz einer Fernsehsendung zu bewerten (vgl. Kapitel III.9.2.2.). Schwan sieht darüber hinaus auch einen besonderen Wert für die Nutzungsforschung, die auch wichtige Erkenntnisse für die Fernsehprogrammentwicklung bereithalten könnte: „Es gibt ja keine andere etablierte Zuschauerforschung, die über diese Quotenerhebungen oder Befragungen stark hinausgeht. Insofern darüber systematisch qualitative Daten zu bekommen, weil diese ohnehin anfallen, und diese zu konservieren und zu sammeln, ist eine sinnvolle Sache" (Stephan Schwan, IfW).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Die Ausleuchtung des Programmhintergrundes mittels einer Vielfalt aus Kontextmaterialien aus dem uneinheitlich verwalteten Fundus der Fernsehwirtschaft, sollte zwar nicht als holistischer Auftrag verstanden werden: Sämtliches Material zu sammeln ist, wie dargelegt, im Rahmen der Möglichkeiten und Mandate gemeinnütziger Einrichtungen weder möglich noch zweckbestimmt. Die Alternative jedoch in einer Festlegung auf nur eine Dimension des Fernsehgeschehens mittels einer Konzentration auf eine bestimmte Überlieferungsgattung zu sehen, schränkt die Leistungsfähigkeit von televisuellen Gedächtnisorganisationen erheblich ein. Wie sich an der Entwicklung anderer Sammlungseinrichtungen zeigen lässt, haben beispielsweise Kunstmuseen aus diesem Versäumnis gelernt: So attestiert Museumswissenschaftler Bruce Altshuler (NYU) diesem Bereich der Kulturerbe-Verwaltung einen grundlegenden Mentalitätswandel, der von einer stark auf das finale Werk ausgerichteten Perspektive nun auch stärker den Entstehungsprozess und die Rezeptionshintergründe in den Mittelpunkt der Sammlungsanstrengungen rükken lässt: „There is an increasing interest in history of display and collecting, so now when you go to art museums you often see material on exhibition that relates to the history of the collection or how it was displayed in the past or something like that. There is much more interest in the process and the historical context in the museum display now than it was 20 years ago" (Bruce Altshuler, NYU). Gleichsam streicht Altshuler heraus, dass es nicht ausreiche, Kontextmaterial aus dem Produktionsumfeld des im Mittelpunkt stehenden Werkes vorzuhalten, sondern es auch angemessen aufzubereiten und anhand des jeweiligen konzeptionellen Rahmens zu übersetzen. Nicht alles müsse gezeigt werden, doch diene das zusätzliche Material zur inhaltlichen Bereicherung und Vermittlung von Informationen. So bräuchten derlei Überlieferungen nicht dauerhaft in eine Sammlung integriert werden, wenn sichergestellt würde, dass es bei Bedarf von anderen Sammelstellen zur Verfügung gestellt werde. Dies kann in gleichem Maße für das Fernsehen konstatiert werden: Durch die vielerorts entwickelten Expertisen und Sammlungsschwerpunkte drängt sich die Implementierung eines Netzwerks auf, welches das fachliche Sammlungs-Knowhow verschiedener Einrichtungen untereinander und füreinander nutzbar macht. Schon jetzt existiert innerhalb des untersuchten Feldes gemeinnütziger Institutionen die Bereitschaft, via Spenden akquiriertes Material, das nicht dem eigenen Sammlungsfokus entspricht, an jeweils fachkundigere Stellen abzugeben. Das vorgeordnete Ziel ist dabei die bestmögliche Bewahrung des Zeitzeugnisses. Daher sieht sich beispielsweise Bruce DuMont (MBC) in der Pflicht, bestimmte Überlieferungsgattungen, die an das Museum of Broadcast Communications herangetragen werden, aber nur unzureichend in den Sammlungskontext integriert werden können, an eine archivische Einrichtung wie das Wisconsin Center for Film and Theatre Research abzugeben: ,,[I]t seems to me that the synergy between what we are doing and what they are doing could be very strong because there are things that people will want to donate to us that frankly they could do a better job for preserving it." Ein solches Vorgehen ist also nur dann sinnvoll, wenn es sich bei der Transferierung

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von Material nicht um eine Einbahnstraße handelt, das heißt: Es sollte den beteiligten Instituten weiterhin ermöglicht werden, Zugriff auf das Material zu erhalten, um ihre verbleibenden Bestände sinnvoll kontextualisieren zu können. So optimistisch diese Ambitionen von DuMont formuliert werden und bereits auf Basis persönlicher Kontakte bei anderen Organisationen wie zwischen der Library of Congress und der Library of American Broadcasting zur Anwendung kommen, hapert es jedoch noch an der Entwicklung von Kooperationsmodellen, die für einen unkomplizierten Austausch des betreffenden Materials zwischen unterschiedlichen Institutionstypen wie Museen und Universitätsarchiven notwendig wären. Laut Chuck Howell (LAB) ist die Fernseherbe-Verwaltung von einer grassierenden Unwissenheit der Archivare und Kuratoren in Bezug auf bereits bestehende Sammlungen gekennzeichnet: ,,[I]t's always a matter of time. But as a sort of forum, at one time we spoke about a day long symposia-series or even for a couple of days where all the people from these institutions with seizable radio and television collections come together and talk about issues of their concern and maybe set up better communications, because resources are so slim for all of these organizations even for big institutions like UCLA. They can t do everything they want. [... ] But why should I spend my limited resources on something they already have preserved and I just don't know it? So better communication in that regard, what are you interested in, what do you have, what are you focussing on?" (Chuck Howell, LAB). Die fehlende Infrastruktur für einen interinstitutionellen Austausch von Fernsehüberlieferungen auf nationaler und internationaler Ebene bereitet auch bei der Auswahl neuer televisueller Distributionsformen Schwierigkeiten. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, stellen die bestehenden Sammel- und Auswahlstrategien ein längst nicht ausreichendes Instrumentarium zur Erfassung der virtuellen AV-Überlieferungsproduktion dar. 3.1.4. Die Unfassbarkeit des Virtuellen: Sammeln audiovisueller Inhalte im Internet

„ [G] iven the changes in technologies I think we are looking at a fundamental change right now what television means." Die von Horace Newcomb (UG) angerissene Grundsatzfrage betrifft televisuelle Archiv- und Sammlungsinstanzen ebenso wie die Strategie- und Entwicklungsabteilungen in den Senderleitungen und Programmredaktionen der Fernsehveranstalter. Im November 2008 veröffentliche das Marktforschungsunternehmen Nielsen anlässlich frisch erhobener Nutzungsdaten eine Pressemitteilung mit der Schlagzeile: „Americans Cant Get Enough Of Their Screen Time" (Nielsen 2008). Nie zuvor verbrachten die US-Amerikaner demnach mehr Zeit vor Fernseh- und Computerbildschirmen sowie mobilen elektronischen Empfangsgeräten: durchschnittlich insgesamt 142 Stunden pro Monat, also beinahe sechs volle Tage. Die wachsenden Nutzungszahlen spiegeln sich auch in der Wertigkeit der neuen Medien bei der Informationsbeschaffung wider: Das Internet wird immer stärker als bevorzugte Informationsquelle genutzt, hat mittlerweile die Zeitung überflügelt und nähert sich langsam dem traditionellen Spitzenreiter Fernsehen an (vgl. Pew Research Center for the People and the Press 2008).

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Rasant steigender Beliebtheit erfreuen sich dabei auch Online-Videos, die in ihrer ikonoklastischen Vielzahl dem televisuellen Programmangebot in nichts nachstehen und derer allein im Monat November des Jahres 2008 etwa 12,7 Milliarden auf US-amerikanischen Computern abgespielt wurden, was einen Anstieg von 34 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entsprach (comScore 2009). In Deutschland schauten sich in den ersten neun Monaten desselben Jahres drei von vier Internet-Nutzern insgesamt ca. 3,11 Milliarden Online-Videos an (Bitkom 2008). Ob zu Unterhaltungs- oder zu Informationszwecken: Das Internet hat mit seiner audiovisuellen Inhaltspalette das televisuelle Angebot komplementiert und potenziert. Je mehr Fernseh- und Internet-Technologien miteinander konvergieren, desto stärker wachsen die vormals getrennten Fernseh- und Computerbildschirme auch aus Sicht der Nutzer zusammen. Die Frage, was also unter dem Eindruck konvergierender Massenmedien noch unter Fernsehen zu verstehen sei, hat zweifellos auch die Sammlungsabteilungen der Gedächtnisorganisationen zu beschäftigen, die aufgrund ihrer systemischen Zugehörigkeit bzw. ihres historisch orientierten Sammlungsfokus der klassischen Fernsehgeschichte verhaftet sind und daher Schwierigkeiten bei der Anpassung an die neuen Verhältnisse im Mediengeschäft haben, auch damit, die erforderliche Re-Perspektivierung ihres Sammlungsauftrags durch den rasanten Medienwandel zu erfassen. „In the days of .YouTube' and even a week after Google bought YouTube: Is television just something that comes on a television set, or is it some form of moving image? Television is ubiquitous: People are watching television shows on their handhelds and it really is ubiquitous. For most of history, the last half of the 20th century is the age of television, so to speak. During that time period television appeared on a set. If you said the word television, you sat in a living room and you looked at something. And it was at the end of the 20th century when it became untethered from that set and more mobile. And that's gonna make all kind of changes" (Howard Besser, NYU). Dass nicht nur das linear versendete Programmangebot, sondern auch die audiovisuellen Inhalte des Internets bewahrt werden müssen, ist im Expertenkreis unbestritten. Doch auf welche Weise dies geschehen soll und kann, wirft altbekannte und auch neue Fragen auf: Wie ist umzugehen mit dem digitalen Gattungsmix aus Video-, Text- und graphischen Inhalten? Erfordert der sich bietende multimediale Reichtum eine kategorisch trennende archivische Erfassung wie im Fall der gattungsbezogenen Zuordnung in Senderarchiven oder eine Sammlung en bloc unter Einbeziehung aller multimedialen Konstellationen? Wenn von Fernsehen im Internet die Rede ist, schließt das auch die „elektronische Presse" mit ein, eine Kategorie, welche über die lange Strecken des Jahres 2008 die Debatte u m den zwölften Rundfunkänderungsstaatsvertrags bestimmte und mit der Verlagshäuser die Online-Angebote der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten kritisierten? Durchaus lässt sich diese Argumentation institutionsbezogen führen: Sämtliche im Internet veröffentlichte Inhalte und zur Produktion dieser Inhalte anfallenden Dokumente, seien sie audiovisueller, textlicher und graphischer Form, gehören ebenso zum Überlieferungsaufkommen eines Fernsehveranstalters wie sein linear versendetes

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Programm und dessen Kontextmaterialien. Doch was geschieht mit der übrigen unüberschaubaren Menge an Videoproduktionen und Begleitdokumenten im Netz, die nicht von klassischen Fernsehunternehmen angeboten werden, sondern von Myriaden professioneller und laienhafter Produzenten aus allen erdenklichen Ecken und gesellschaftlichen Bereichen der Welt? In den Senderarchiven sind auch über 15 Jahre nach dem offiziellen Start des Internets Konzepte für die Archivierung webexklusiver Fernsehinhalte rar gesät und allenfalls rudimentär entwickelt. Erfasst werden meist allenfalls einzelne Bestandteile von Online-Angeboten: Die bestehenden Archivabteilungen befassen sich beispielsweise je nach ihrer Zuständigkeit mit den digitalen Medieninhalten und archivieren Texte, Fotos oder Videos getrennt. Dass es dahingegen Sammlungskonzepte bedarf, die speziell auf die virtuelle Überlieferungslage ausgerichtet sind, unterstreicht Hans-Gerhard Stülb (DRA), der jedoch zugesteht, dass das Deutsche Rundfunkarchiv seine Internet-Seiten zwar regelmäßig archiviere, diese aber entgegen der sonst gängigen Praxis multimedial gesättigter Online-Angebote der Fernsehsender keine audiovisuellen Inhalte enthalten: „Wir haben im DRA ja statische Seiten, die sich auch nicht stark verändern, so dass man relativ gut dasteht, wenn man im regelmäßigen Abstand eine Sicherungskopie von den kompletten Seiten macht. Das ist natürlich bei den Seiten, so wie sie in den Rundfunkanstalten gemacht werden, schon etwas problematischer. Möglicherweise wird es deswegen dort auch nicht archiviert" (Gerhard Stülb, DRA). Die Unbeholfenheit vieler Fernsehveranstalter in der Frage der Bewahrung ihres virtuellen Angebotsspektrums drückt sich unter anderem auch in der Delegierung der Archiwerantwortung an neu gegründete Unternehmensbereiche bzw. Tochterfirmen aus, die getrennt von den etablierten Archivstrukturen der Sender operieren. Die Gefahr, dass sich in Internet-Unternehmen durch fehlende Anleitungen und ausbleibende Erfahrungstransfers aus den Senderarchiven weder ein Bewusstsein noch eine Kompetenz für die Bewahrung von Online-Angeboten entwickeln, wird in der Expertenrunde als groß eingeschätzt. Selbst bei integrierten Archivlösungen wie bei der Sendergruppe ProSiebenSat.l, die ein breites virtuelles Portfolio unterhält, darunter die Videoplattform „MyVideo", gibt es (noch) keine umsetzbaren Archivkonzepte für die Sammlung aus dem Netz wie beispielsweise: „Das ist natürlich alles möglich, auch dass wir Material von uns bei diesem Portal einstellen, aber auch deren Material bei uns archivieren. Auch da gibt es noch nichts Konkretes. [...] Die Archivierung solchen Materials widerspricht aber nicht unserer Philosophie. Wir sind ja nicht auf harte Nachrichten spezialisiert, sondern haben auch Boulevardmagazine bei uns im Archiv. Da kommen solche Themen ja auch vor. Für mich sind Internet und Fernsehen nur zwei verschiedene Vertriebswege, aber die Inhalte können dieselben sein" (Mardiros Tavit, ProSiebenSat. 1). Fernsehsender sehen sich im Internet einer Vielzahl von konkurrierenden Bewegtbildanbietern gegenüber, welche ebenfalls virtuelle Plattformen nutzen, um audiovisuelle Inhalte zu verbreiten. Während die Werbewirtschaft das Internet als Distributionska-

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nal für die audiovisuelle Unternehmenskommunikation entdeckt hat und mittels einer breiten Strategiepalette Online-Videos als Marketinginstrumente einsetzt, hat auch die Zeitungsindustrie das Potenzial der audiovisuellen Berichterstattung schätzen gelernt: Videoberichte wurden zum wichtigsten redaktionellen Expansionssektor von Presse-Ablegern im Internet und gelten zugleich als Hoffnungsträger und wichtiger Baustein bei der Leserbindung und der Entwicklung eines tragfähigen Geschäftsmodells für Journalismus im Netz (vgl. Lawton 2008; Weichert/Kramp/Jakobs 2009). Die Eintrittsschwelle ins virtuelle Fernsehgeschäft ist niedrig: Die technologischen und organisatorischen Voraussetzungen, die für ein zumindest semi-professionelles Online-Videoangebot erfüllt werden müssen, sind dank verbesserter Heimvideotechnologie, leistungsfähiger Datenverbindungen, kostengünstiger Internet-Zugänge und rudimentärer administrativer oder regulativer Auflagen verschwindend gering. Der Lockruf des Netzes ist betörend: Selbst der Vatikan stellt seit Januar 2 0 0 9 täglich ein bis drei Videoberichte online, um die Gläubigen unter Umgehung televisueller Nachrichtenauswahl direkt zu erreichen. Immer mehr Institutionen des öffentlichen Lebens und aus der Wirtschaft streben mit audiovisuellen Angeboten ins Netz und richten sich eigene Kanäle ein wie zum Beispiel der Getränkekonzern Coca Cola, der über das Portal „YouTube" per virtuellem Firmenfernsehens mehrere hundert Werbeclips zur Ansicht anbietet. Schon allein die Zahl der betrieblich zuständigen Archivstellen hat sich also durch die Attraktivität des Internets für die Produktion und Zirkulation audiovisueller Inhalte erheblich vergrößert, die Zuverlässigkeit der Bewahrung jedoch nicht. Mit Blick auf die stark divergente und fragmentierte Gesamtheit der institutionellen Überlieferungsproduzenten sind unabhängige Sammelstellen prädestiniert, um aus den Produktionen des vielgestaltigen Internet-Fernsehens auszuwählen, sie mit archivischem Impetus zu sichern und sie mit fernsehgeschichtlichen Sammlungen zu korrelieren. Doch die Anforderungen bezüglich der Akquise sind hoch: Kontakte in das ohnehin hochkomplexe Netzwerk der Fernsehwirtschaft reichen bei weitem nicht aus, um die neuen Bewegtbildangebote im Netz zu sammeln. Auch hier fehlen übergreifende Rahmenbedingungen, die eine Bewahrung des virtuellen Fernseherbes sicherstellen könnten. Richtungsweisend sind daher Gesetzesregelungen wie jene zur Sammlung von Internet-Publikationen durch die Deutsche Nationalbibliothek. Diese schließt zwar ausdrücklich die Online-Aktivitäten von Fernsehveranstaltern aus, nicht aber alle übrigen audiovisuellen Angebote. Auf welche Weise und nach welchen Kriterien jedoch die Sammlung vonstatten gehen soll, ist aus dem Gesetzestext nur vage abzuleiten. Trotz der Verabschiedung des Gesetzes konnte nicht klar spezifiziert werden, wie und was genau gesammelt werden soll, die rechtlichen Grundlagen wurden vielmehr als Richtungszeig verstanden, um ein „noch zu erreichendes Ziel" zu verfolgen (Löbbert 2006). Allein die Maßgabe des öffentlichen Interesses leitete die bibliotheksinterne Entwicklung einer Sammlungspolitik für unkörperliche Werke. Auch bleibt die Deutsche Nationalbibliothek weiterhin der Schriftlichkeit verbunden: Der deutsche Bundesbeauftragte für Kultur und Medien Bernd Neumann wertete den erweiterten Sammlungsauftrag der Nationalbibliothek als Garant dafür, dass

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sich „das kulturelle Gedächtnis der Nation auch künftig auf die vollständige Breite der schriftlichen kulturellen Leistungen Deutschland erstrecken" wird (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2007). Zwar setzte die Deutsche Nationalbibliothek mit der Entscheidung, ihren Sammlungsauftrag auf das Internet auszudehnen, ein selbstgewisses Zeichen. Doch beginnt das Engagement viel zu spät und schließt wesentliche Bereiche des Überlieferungsaufkommens aus. Schon sind die ersten prägenden Jahre der Internet-Geschichte verloren: „Wer gar in hundert Jahren ein Internetmuseum ausstatten möchte, wird auf Schwierigkeiten stoßen, da seine frühen Stufen nirgendwo archiviert sind" (Assmann 2004b: 55). Das Versäumnis ist deshalb so eklatant, weil sich die spezifischen Kommunikations-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster des virtuellen Medien(er)lebens auf ähnlich synergetische und sozialgeschichtlich prägende Weise wie in der Historie der Fernsehnutzung auf komplexe Weise mit jenen des realen Lebens verbinden, überlappen und teils auch ersetzen (vgl. Poster 2008:25). Eklatant sind diesbezüglich die Defizite bei der Aufzeichnung des soziotechnischen Handelns im Virtuellen, obwohl dieses sich leicht durch digitale Spuren in Form von Internet-Protokollen und elektronischer Kommunikation festhalten ließe (vgl. Nohl/Ortlepp 2008: 91). Dass die etablierten Medienarchive mit ihrer starken audiovisuellen Expertise erst verspätet die Dringlichkeit der Erweiterung ihres Sammlungsauftrages erkennen, macht deutlich, dass nicht allein das Internet bzw. seine Akteure eines Verständnisses für seine Geschichtlichkeit entbehrten, sondern auch und in eklatanter Weise seine ko-mediale Umwelt: ,,[W]e are making exactly the same mistakes with the new media that we made in the beginning of television. Now we learn to honor the old television stuff, but forget to keeping the first generation of the portable, broadband, all of the new media stuff. That comes and goes as any ephemera else. And we are already losing it. There is a vast percentage of the stuff that one will want to look at in 20 years from now when we are doing the history of the new media that is already gone" (Robert Thompson, SU). Obgleich kein Rundfunkmedium, sondern ein virtueller Speicher, der einen potenziell dauerhaften Abruf desselben Inhalts ermöglicht, sind Netzpublikationen in ihrer ursprünglichen Version gemeinhin nur über eine kurze Zeitdauer verfügbar. Wie lange die durchschnittliche Lebensdauer einer Website beträgt, seien es etwa 100 Tage (Mayfield 2001) oder nur noch 44 bis 75 Tage (Barksdale/Berman 2007), spielt bei der Frage ihrer Archivierung nur insofern eine Rolle, als dass es Sammlungsstrategien bedarf, um zumindest eine Auswahl bewahren zu können; denn eines ist sicher: Im Internet veröffentlichte Inhalte sind ebenso ephemer wie alle anderen elektronischen Medieninhalte, derer sich keine Archiv- oder Sammelstelle annimmt. Umso notwendiger werden im Rahmen der wenig ausgereiften Sammlungsanstrengungen von Nationalbibliotheken Kooperationen mit eigeninitiierten Online-Initiativen wie

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dem Internet Archive,39 dessen Initiator Brewster Kahle bereits frühzeitig in der Entwicklung des World Wide Web die Historizität der virtuellen Welt erkannt hat. Das Internet Archive arbeitet seit 1996 als gemeinnützige Organisation an der möglichst kompletten Erfassung von Internet-Veröffentlichungen. Über 85 Milliarden Internet-Seiten40 finden sich wenigstens auszugsweise auf den Servern der Initiative, deren Plattform „Waybackmachine" zu einer beliebten Anlaufstelle für den Aufruf längst vom Netz genommener Internet-Auftritte wurde. Auch finden sich Text-Scans, Audiodateien, Konzertmitschnitte und Videos. Das Internet Archive fungiert somit als Historisierungsmaschine, weil sie die nicht datumsgebunden verfügbaren und damit sozusagen .gedächtnislosen Websites durch die archivische Erfassung mit einem chronologischen Raster versieht (vgl. Lessig 2004: 108-115). Die über 150.000 archivierten Internet-Videos werden jedoch aus rechtlichen Gründen nicht direkt und vollautomatisiert aus dem Netz gesammelt, sondern dem Archiv von Institutionen und Nutzern zur Verfügung gestellt, um sie zentral zu sichern. Voraussetzung für eine erfolgreiche Sammlung ist also ähnlich wie im Falle des Programmfernsehens ein möglichst enger Kontakt zu den Rechteinhabern bzw. Verwaltern von virtuellen AudioVisionen. Bei der zweifellos unüberschaubaren Menge an Netzpublikationen ist es aber auf lange Sicht unumgänglich, das Gros der in Frage kommenden Applikationen mithilfe automatisierter Verfahren zu erfassen.41 Unter anderem wird dahingehend vorgeschlagen, dass etablierte Archive mittels eines sogenannten Web Crawlers, also eines softwarebasierten Roboters, der das Internet nach bestimmten Suchkriterien durchforstet und eine Kopie der zutreffenden Seiten erstellt, eigene Initiativen starten, um zielgerichtet bestimmte Internet-Inhalte sammeln zu können: „Essentially, this would perform the same function as the Internet Archive, but on a smaller, more focused level by collecting selected diaries that related strictly to the archives' collection" (O'Sullivan 2005: 72). Diese automatisierte Suche solle insofern qualitativ erfolgen, als dass der Archivar auf geschützte Seiten, die durch eine bestimmte Datei die Erfassung durch Suchroboter ausschließen, aufmerksam gemacht werde, um sich manuell um die Freigabe bzw. Zusammenfassung der InternetSeite für die Archiv-Zwecke zu kümmern. Doch schon regt sich Kritik: Die Fernsehwirtschaft verfolgt die Sammlung ihrer audiovisuellen Netzpublikationen mit Argusaugen

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Die Library of Congress wurde bereits im Jahr 2000 mit dem „National Digital Information Infrastructure & Preservation Program" betraut, das auch der Bewahrung von digitalen Werken aus dem Internet gilt. Hierbei wurden thematische Sammlungen unter anderem über die Präsidentschaftswahlen der Jahre 2000, 2002 und 2004, die Krise im sudanischen Darfur und die Terroranschläge vom 11. September 2001 angelegt. Im Juli 2003 wurde zudem das International Internet Preservation Consortium gegründet, an dem sich neben der Library of Congress und dem Internet Archive auch die Nationalbibliotheken einiger europäischer Ländern sowie Australiens und Kanadas, nicht aber die Deutsche Nationalbibliothek beteiligen. An einer strategisch breiten Sammlung von Internet-Seiten wird noch gearbeitet (Library of Congress o.J.). Stand: Januar 2009. Die Deutsche Nationalbibliothek benutzt hier den Begriff des „Aberntens", des sogenannten „Harvesting" (Weber 2009).

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und droht mit rechtlichen Schritten, sollte ohne ausdrückliche Genehmigung urheberrechtlich geschütztes Material von Dritten systematisch gesammelt werden: „They search the web and crawl the web for every single news story and so forth. They archive right from the web which is still copyrighted material" (Roy Carubia, CBS). Auch aufgrund dieser Problematik befassen sich die großen senderexternen Fernseharchive und Museen nur zögerlich mit dem virtuellen Überlieferungsbereich. Dan Einstein (UCLA) macht zusätzlich schiere Unkenntnis der tatsächlichen archivischen Anforderungen für die Auswahl und Bewahrung multimedialer Produktionen dafür verantwortlich, dass sich televisuelle Gedächtnisorganisationen der Problematik nur schleppend annehmen: „We haven't really gotten into that. I imagine we will have to. But I don't know what archiving something like that will mean" (Dan Einstein, UCLA). Die Vorreiterrolle, die sich gut vernetzten und profilierten Platzhirschen wie dem Paley Center for Media, damals noch Museum of Television & Radio, oder dem UCLA Film & Television Archive bot, wurde leichtfertig verspielt. Zehn Jahre, nachdem das Internet Archive seine Arbeit aufgenommen hat, sind seitens einiger Einrichtungen allemal erste Willensbekundungen zu vernehmen, sich mit der Thematik zu befassen. Die Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen versteht sich explizit als „House of Moving Images" (Peter Paul Kubitz), das sich keiner audiovisuellen Ausdrucksform, auch nicht aus dem Internet, verschließen möchte. Das Paley Center for Media hat bereits seine zweite Umbenennung hinter sich: Nach langen Diskussionen entschied sich die Museumsleitung im Juni 2007, seinen weltweit bekannten Namen Museum of Television & Radio, den es seit 1990 führte, abzulegen und sich als Medienzentrum im Namen seines Gründers William S. Paley auch den neuen Medien gegenüber zu öffnen. Dementsprechend steht das Kuratorium vor großen Aufgaben: „Now we're rethinking again who we are because of the whole new environment: the internet, the whole idea of digitization of media, homegrown media that people put up to ,YouTube' or ,MySpace' - that is another consideration for us. We're gonna have to engage that community, be very creative", erklärt Fernsehkurator Ron Simon. Um jedoch zu bestimmen, welche Maßstäbe angelegt werden sollten bei der Auswahl der audiovisuellen Vielfalt im Netz, sei noch viel Entwicklungsarbeit notwendig. Das Problem der Selektion stellt sich im Internet noch viel deutlicher, da institutionelle und nationale Rahmen beim Gros der AV-Produktionen fehlen, auch weil private Nutzer zu ihrer Potenzierung beitragen und sie im Bewusstsein eines globalen Publikums erstellt werden. Übersicht in das konfuse Potpourri zu bringen ist nahezu unmöglich. Während bei einigen Sammelinitiativen inhaltliche Kriterien zur Geltung kommen wie bei der Bemessung der Relevanz einer Publikation für das öffentliche Interesse, das für sich genommen ebenso wie im herkömmlichen Programmgeschehen keine Klarheit verspricht und mehr Fragen aufwirft, als Antworten bereithält, wollen sich andere Einrichtungen wie die Deutsche Kinemathek dem Thema „organisch" aus der Nutzerperspektive nähern, was ebenfalls von einer konzeptionellen Unschärfe gekennzeichnet ist: „Also wir werden das ganz organisch aus der Zuschauerperspektive erweitert in unsere Sammlungspolitik

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

aufnehmen" (Peter Schwirkmann, DK). Wie angesichts einer kornukopischen Vielzahl von Nutzungsintentionen und -interessen vorzugehen ist, bleibt hierbei schleierhaft. Die hohe Bedeutung, die schon aus historischer Perspektive nutzergeneriertem Bewegtbildmaterial zukommt, lässt sich an einem weltbekannten Amateurfilm aus dem Jahre 1963 illustrieren: Damals zeichnete der Bekleidungsfabrikant Abraham Zapruder, der auf einer Urlaubsreise Dallas besuchte, mit seiner 8-mm-Filmkamera zufällig die Ermordung von US-Präsident John F. Kennedys auf (vgl. Bradwell/Hannon/Tims 2008). Zu jener Zeit gab es für die schockierenden Bilder, die in den Folgejahren und -jahrzehnten zu einem der meistgesehenen und -gesendeten Bewegtbilddokumente avancierten, nur einen Weg: ins Fernsehen. Über 45 Jahre später ist diese Distributionslogik für Amateuraufnahmen nicht mehr garantiert: Immer häufiger werden diese zuerst im Internet veröffentlicht und finden erst durch diesen Umweg ihren Weg ins Fernsehen. Zwar setzen Fernsehsender alles daran, spektakuläre Amateurvideos aus allen denkbaren Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens zu erwerben wie bei Unglücken wie der Massenpanik auf der Loveparade 2010 in Dusiburg, bei Naturkatastrophen, Terroranschlägen oder Einblicken in das Prominentendasein. Doch der Reiz, unvermittelt und postwendend mit dem eigenen Videomaterial an die Öffentlichkeit gehen zu können und zudem ein potenzielles weltweites Millionenpublikum zu erreichen, hat den Weg, den nutzergenerierte Inhalte nehmen, ins Internet umgeleitet (vgl. auch Klopp 2010). Aufnahmen, die mit dem Camcorder, der Webcam oder dem Mobiltelefon angefertigt werden, lassen sich dank leistungsstarker Übertragungstechnologien ohne Umschweife ins Netz stellen und stehen sofort zum Abruf bereit - ohne jeglichen Filter oder journalistische Kontrollinstanz. Videoportale wie „YouTube", „Liveleak" und „MySpace" mit globaler Nutzerschaft oder „MyVideo" und „Clipfish" im deutschsprachigen Raum gehören zu den meistfrequentierten Anlaufstellen im Netz. Hier werden Musikkarrieren gestartet wie bei der 14-jährigen Mina, die mit ihrem Video „How the Angels Fly" über „MyVideo" bekannt wurde und durch die überbordende Resonanz einen Plattenvertrag erhielt, auch weil Fernsehmagazine das Thema aufgriffen und wiederum das Interesse an der Online-Präsenz der jungen Sängerin steigerten. Hier spielen Fans ihre Lieblingsszenen aus Kinofilmen und Fernsehserien nach oder üben sich in der Imitierung ihrer Stars. Hier wird all das veröffentlicht, was den Regulierungsbestimmungen des Fernsehbetriebs niemals standhalten würde: „Fitna", der islamkritische Film des niederländischen Politikers Geert Wilders, erregte weltweites Aufsehen und führte zu Morddrohungen an die Mitarbeiter des Videoportals „Liveleak", die den Film angesichts der angespannten Lage zunächst entfernten, um ihn kurze Zeit später wieder online zu stellen (vgl. Spencer 2008: 280-281). Hier gründen experimentierfreudige Hobbyfilmer ihren eigenen virtuellen Fernsehkanal und senden regelmäßig mit dem Anspruch, den großen Fernsehveranstaltern mit ihrem ganz persönlichen Programmangebot Konkurrenz zu machen. So war der erste sogenannte „YouTube-Star" (vgl. Hilderbrand 2007: 51) das Produkt eines neuen virtuellen Umgangs mit dem wirklichkeitsnahen Schein audiovisueller Medialität: Ein Teenager-Mädchen mit dem Pseudonym lonelygirll5 erzählte regelmäßig über ihr

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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langweiliges Alltagsleben, über ihre romantisch-ambivalente Beziehung zu ihrem besten Freund und viele weitere Themen, die Anknüpfungspunkte für andere Internet-Nutzer in ihrem Alter boten. Gestärkt wurde der authentische Eindruck durch den kommunikativen Austausch des Mädchens mit ihren Zuschauern. Wenige Monate später stellte sich heraus, dass es sich um einen fiktiven Charakter handelte, der von zwei ambitionierten Nachwuchsautoren bewusst auf die audiovisuelle Suggestion von Glaubwürdigkeit hin ersonnen und von einer Schauspielerin verkörpert wurde. Der televisuelle Schaffensraum hat sich also längst auf das Internet ausgedehnt und hat zu innovativen Ausdrucks- und Inszenierungsweisen geführt, die erneut und ähnlich nuanciert all jene grundsätzlichen Probleme aufwerfen, die bereits in der Fernsehgeschichte eine Rolle spielten. Große Popularität erfahren in den USA und Westeuropa vor allem sogenannte Vlogs,42 audiovisuelle Tagebücher, die entweder über die vielgenutzten Videoplattformen oder über private Websites veröffentlicht werden. Nur mit geringem Kostenaufwand produzierte Videoblogs wie „Rocketboom" in Nordamerika oder „Ehrensenf"43 in Deutschland erzielen teils höhere Zuschauerzahlen als formatähnliche Fernsehmagazine (vgl. Farhi 2006). Das Internet hat sich damit bereits als weltumspannende Distributionsplattform für privates Einer- und Allerlei bewährt. Der große Durchbruch dieser vollkommen neuen Art der audiovisuellen Kommunikation und des direkten Bewegtbildvertriebs erfolgte nach der Tsunami-Katastrophe in Südostasien im Jahre 2004, der über dreihunderttausend Menschen zum Opfer fielen. Aufnahmen von Touristen wurden zwar auch im regulären Fernsehen gesendet, doch recherchierten die zuständigen Nachrichtenredaktionen in überwiegender Zahl in den aus dem Boden schießenden Videoblogs, die nicht selten unter der Last der Zugriffe zusammenbrachen (vgl. Regalado/Mintz 2005). Dass originäres Bildmaterial von Katastrophen und menschlichem Leid mittlerweile unzensiert und in aller Deutlichkeit nicht im Fernsehen, sondern im Internet zu sehen ist, war im Laufe der Zeit an weiteren Tragödien zu beobachten: So wurde das Internet zeitweise zum schockierenden Fundus für Bewegtbilder von getöteten und verletzten Menschen, die den Bombenattentaten in der Londoner Innenstadt im Juli 2005, dem Massaker an der Universität Virginia Tech im April 2007 oder den Terroranschlägen in Bombay im November 2008 zum Opfer gefallen waren. Inwiefern solche Bilder oder auch solche von terroristischen Vereinigungen, die das Internet verstärkt für die Verbreitung von Videobotschaften nutzen (vgl. Weimann 2006), bewahrt werden sollten, muss allein aufgrund ihrer Signifikanz als Faktor für den Fernsehprogrammbetrieb, der sich immer häufiger und aus vielerlei Gründen wiederum größtenteils nur ausschnitthaft für das Online-Material interessiert, zum Thema in Sammlungsfragen werden.

42

43

Zum Jahresbeginn 2009 listete das mittlerweile eingestellte Portal „VlogMap.org" (http:// community.vlogmap.org) 819 private Videoblogs in den USA: 80 in Kanada und über 50 in Deutschland. „Ehrensenf' ist ein Anagramm von „Fernsehen". Das Videoblog wurde in Anlehnung an das erfolgreiche „Rocketboom"-Format konzipiert und präsentiert täglich auf satirische Weise Neuigkeiten und Kurioses aus dem Internet (vgl. Alby 2008: 84-85).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

„YouTube", Vlogs und Co. wurden zu einem Phanal der Deinstitutionalisierung und Demokratisierung des Fernsehens: Nutzer werden selbst zu Produzenten von Televisionen, als diese nur am Bildschirm zu konsumieren. Der produktiv-kreative Ansporn hat buchstäblich sämtliche Erdteile, Gesellschaftsschichten und Wirtschaftssektoren erfasst und führt dazu, dass sich in den weltumspannenden digitalen Netzen ein Fundus auf Zeit bildet, über dessen Verfügbarkeit keine Prognosen getroffen werden können: „Will someone begin to archive .Youtube'? My guess is, that it will simply reside on their server. And that's what is a major difference: Its a component of the digitalization of the distinct archives, but as material is exclusively produced for the computer and for distribution in that sense: Yes, we can call that television in some way. [...] There is so much material out there now that I don't know how it will play into the archival world. I think our purpose still remains the preservation of key archival materials" (Horace Newcomb, UG). Die Ratlosigkeit der Archivgemeinschaft in Bezug auf das versprengte, fluktuierende Feld nutzergenerierter Inhalte erfordert ein zielgerichtetes Vorgehen unter Beteiligung vorhandener Expertisen bei der Archivierung von audiovisuellen Überlieferungen, um ein unkoordiniertes Vorgehen in der Frage nach Zuständigkeiten, methodischen Herangehensweisen, thematischen Foki und technologischen Instrumenten zu vermeiden. Wenn Newcomb den Kern eines adäquaten Sammelauftrags in der Auswahl von „key archival materials" sieht, suggeriert er eine Priorisierung, die auch unter Rückbezug auf Erfahrungswerte und Erkenntnisse aus der Archiv- und Sammeltätigkeit von elektronischen Medieninhalten wie des klassischen Fernsehens getroffen werden können. Diesem strategischen Vorgehen stimmt auch Stephan Schwan vom Tübinger Institut für Wissensmedien zu, der durch die Schwierigkeiten bei der Bewertung neuer Medienformen im gesellschaftlichen Leitmedium Fernsehen auch ein archivisches Leitmedium sieht: „Wie sich das nun durch die Entwicklung neuer Sachen wie Internet, Stichwort: ,YouTube', entwickelt, das ist sehr schwer abzuschätzen, da diese ,YouTube'-Entwicklungen noch disperser und heterogener sind und noch weniger homogenisierend im Sinne einer großen Rezipientengruppe wirken. Daher würde ich weiterhin die klassischen Medien wie das Fernsehen als stilbildend oder großen Einfluss habend ansehen" (Stephan Schwan, IfW). Inwiefern die Auswahlprinzipien und -Werkzeuge der Fernsehbewahrung tatsächlich auf multimediale Netzpublikationen übertragen werden können oder zumindest Orientierung bei der Kriterienfindung bieten, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Die Analyse der praktizierten Herangehens- und Vorgehensweisen, der Prioritätssetzungen und der damit verbundenen Schwachstellen und Komplikationen bei der Sammlung von Fernsehüberlieferungen bietet jedoch zahlreiche Anknüpfungspunkte, um die fachspezifischen Kompetenzen von Fernseharchivaren und -kuratoren für die Annäherung an die Eternisierung virtueller Audiovisionen zu nutzen, die durch ihre Expertise im Umgang mit elektronischen Medienwerken der Populärkultur dem zeitgenössischen digitalen Überlieferungsaufkommen deutlich näher sind als Vertreter der Schriftgutbewahrung.

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung 3.1.5.

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Schlussfolgerungen

Das Fernseherbe ist ein gefragtes Gut: Programmveranstalter, Bildungseinrichtungen und Privatleute streiten jeweils mit ganz eigenen Absichten, Qualifikationen und Optionen um die Überlieferungen des bedeutendsten und bildgewaltigsten Massenmediums. Doch den Unterschied machen die dabei getroffenen Unterscheidungen: In der Komplexität seiner Produktivität verleitet das Fernsehen zur Kurzsichtigkeit. Unbenommen sind Schwerpunktsetzungen bei der Konzeptualisierung, Pflege und Erweiterung von Fernsehsammlungen eine augenfällige Notwendigkeit. In der Archiv- und Sammlungspraxis haben sich hingegen eindimensionale Sammlungskonzepte durchgesetzt, die aufgrund von Pragmatismus, fehlenden Mitteln, Desinteresse, aber auch blanker Unkenntnis bestimmte Überlieferungsbereiche anderen gegenüber bevorzugen und deshalb eine nur bruchstückhafte Ausgangsbasis für die Erinnerungsarbeit mit dem und über das Fernsehen bilden. Zusammenfassend lassen sich folgende Problembereiche bei der institutionalisierten Sammlung von Fernsehüberlieferungen identifizieren: - Die Verwaltung des Fernseherbes hängt ab von den uneinheitlichen Archiworkehrungen in den Femsehunternehmen, die rein rechtlich die Archivierungshoheit für sämtliche Fernsehüberlieferungen innehaben. Die Heterogenität der Archiv- und Sammlungsbestände ist eine Folge der Anpassung der Archivstrukturen an die Erfordernisse des Programmbetriebs und der Senderorganisation. - Da es keine vorgeschriebenen Archiv- oder Sammelstrukturen gibt, die allen Fernsehunternehmen eine klare Zuordnung der Überlieferungsgattungen auferlegt, hat sich das Durcheinander schon aus pragmatischen Gründen auch auf die Sammelpraxis öffentlicher Einrichtungen übertragen: So waren einige der untersuchten Einrichtungen zumindest in ihren Anfangsjahren stärker damit beschäftigt, angesichts der unklaren Überlieferungslage sowie der schwierigen Rechts- und Finanzsituation möglichst jegliches Material anzusammeln, das ihnen vonseiten unterschiedlicher Branchenkontakte kostenfrei angeboten wurde, als sich von vornherein ein klares Sammlungskonzept aufzuerlegen, das sich nicht auf Zufallsakquisen wie im Fall vieler Materialspenden verlässt, sondern einer klaren Linie folgt. Welche Sammlungsschwerpunkte sich nach und nach herausbildeten, war in solchen Fällen weniger der Verdienst der Sammlungsleiter, sondern jener der Spender. - Im Detail ausgearbeitete Sammlungsrichtlinien und Kriterienkataloge sind in der Fernseherbe-Verwaltung selten. Dies begründet auch eine weitgehend intransparente Selektionspraxis, die sich in einer uneinheitlichen methodischen und konzeptionellen Vielfalt der Vorgehensweisen ausdrückt. Die erforderliche Nachvollziehbarkeit der Auswahlentscheidungen könnte durch klar ausgearbeitete und verbindliche Auswahlstrategien erreicht werden, indem eine nicht erst inhaltlich fokussierte, sondern zuallererst methodisch differenzierende Kombination von Herangehensweisen an die unbestreitbar schwierige Aufgabe der Selektion verfolgt wird. Andernfalls machen sich

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Institutionen in ihren Entscheidungen, so durchdacht sie auch sein sollten, angreifbar und können sich dem Vorwurf einer beliebigen oder gar arbiträren Auswahl aussetzen. Konzeptionelle und methodische Klarheit bei der Strukturierung erfordert eine selbstbewusste Wahrnehmung der jeweiligen gemeinnützigen Gedächtnisorganisation als aktiver Agent im Dienste der Öffentlichkeit mit dem ausgewiesenen Anspruch und Anrecht auf die Erstellung eines eigenen televisuellen Fundus. Der Konflikt um das eigenmächtige Vorgehen des Vanderbilt Television News Archive bei der breit angelegten Aufzeichnung von Fernsehnachrichtenprogrammen hat offenbart, dass eine politische Lösung zugunsten kultureller Zwecke in diesen Fragen möglich und nötig ist. Wie die Schwierigkeiten beim Aufbau neuer Fernsehsammlungen am Beispiel des Projektes „Deutsche Mediathek" und der Deutschen Kinemathek gezeigt haben, wirkt sich das Fehlen infrastruktureller Rahmenbedingungen und verlässlicher Akquisestrukturen außerordentlich hemmend auf die Sammlungstätigkeit senderunabhängiger Gedächtnisorganisationen aus. Hier könnten Kooperationsmodelle auf nationaler und stärker auch auf internationaler Ebene helfen, um ein gesellschaftliches Bewusstsein und eine politisch einflussnehmende Lobby für die Stärkung kultureller Sammlungsanstrengungen im Hinblick auf das Fernseherbe zu schaffen. Die Mannigfaltigkeit televisueller Erinnerungskultur(en) findet nur rudimentär und oftmals metaphorisch unbestimmt Berücksichtigung in den Sammlungsaktivitäten der untersuchten Einrichtungen. Die explizite Gedächtnisrelevanz stellt paradoxerweise einen blinden Fleck in der Arbeit televisueller Gedächtnisorganisationen dar. Eine Differenzierung zwischen den voneinander klar zu unterscheidenden Erinnerungsmodi in ihren individuellen und sozialsystemischen Bedeutungen bis hin zu ihren subkulturellen Gewichtungen wird nicht vorgenommen. Die Folge ist eine nach gedächtnisrelevanten Typologien und Charakteristika weithin inkonsequente Sammlungspraxis, die dem institutionsimmanenten erinnerungsfördernden Auftrag durch die fehlende Spezifik der Ausrichtung an gedächtnistheoretischen Konzepten und durch die Dominanz pragmatischer Auswahlstrategien wie beispielsweise quantitativ nutzungsorientierter Ansätze nur unzureichend gerecht wird. Hier ist nicht nur eine deutlich umfänglichere Einbindung theoretischer Erkenntnisse aus der Wissenschaft über die mit dem Fernsehen verbundene Erinnerungsspezifik, sondern auch die Erhebung qualitativer Daten wie medienbiographischer Befragungsergebnisse notwendig, um den erinnerungskulturellen Sammlungsauftrag angemessen erfüllen zu können. Die Schaffung einer Grundlage für gesellschaftliches Erinnern und für die Bildungsarbeit kann sich in Bezug auf das Fernsehen nicht allein auf die Programmgeschichte beschränken, sondern verlangt nach einem breiten Sammlungsansatz, der eine ganzheitliche Zielrichtung unter Einbeziehung aller Facetten des Fernsehbetriebs verfolgt. Ein solcher ist jedoch in keiner der untersuchten Einrichtungen zufriedenstellend festzustellen. Gleich ob sich eine Sammlungsstelle der institutionellen, der Programm- oder der Technikgeschichte verschreibt, stets sollte der Gattungsfokus geöffnet und auch

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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Querbezüge getroffen werden. Während wissenschaftliche und öffentliche Leuchtturminstitutionen wie das Paley Center for Media und das UCLA Film & Television Archive ihre Reputation allem voran auf die Größe ihrer programmbasierten Sammlungsumfänge gründen und die übrigen Hochschuleinrichtungen eine Expertise für televisuelles Schriftgut ausgebildet haben, fristen Realien aus der Fernsehgeschichte größtenteils ein Schattendasein. Zwar finden sich vereinzelt requisitäre Artefakte des vergangenen Sendegeschehens sowie Produktions- und Empfangsgerätschaften, doch wird diesen Überlieferungen hauptsächlich ein nur illustrativer Wert beigemessen, der im Zweifelsfall zu vernachlässigen sei. Eine Dokumentation der Fernsehgeschichte ist immer auch eine Re-Thematisierung der gesellschaftlichen Bindung zu ihrem Leitmedium, die in Zuschauerresonanzen ebenso Ausdruck findet wie in Werbeartikeln, die vor allem in Kinderhänden zu Alltagsgegenständen werden und im späteren Leben Erinnerungen auszulösen vermögen. Die Vernachlässigung von Entstehungs- und Begleitkontexten der Fernsehproduktion ist eine maßgebliche Schwachstelle in der Fernseherbe-Verwaltung und beeinträchtigt eine ganzheitliche Perspektivierung des Mediums Fernsehen, die notwendig wäre, um eine tiefergehende, dezidiert medienbezogene Erinnerungs- und Bildungsarbeit zu betreiben. - Letztlich muss eine gattungs- und organisationsspezifisch umfassende Sammlungspolitik in Zeiten der fortgeschrittenen Konvergenz von Fernsehen und Internet auch Derivate des Fernsehens mit einschließen, welche Ausdruck sind für eine demokratische Öffnung des televisuellen Sendebetriebs für jedermann im Sinne Enzensbergers (vgl. Kapitel III.2.1.): Wenn Nutzer dank digitaler Netzwerke zu Sendern avancieren können, wenn also jeder im Internet ,sein Fernsehen machen und damit bisweilen mehr Zuschauer erreichen kann als eine Sendung im herkömmlichen Fernsehprogramm, dann sollte diese Entwicklung als entscheidender Evolutionsschritt für die Fernsehgeschichte begriffen und mit und in ihr kontextualisiert werden. Adjustierungen in der Sammlungspolitik sind auch deshalb notwendig, weil es Fernsehspezialisten braucht, um den Herausforderungen bei der Auswahl populärkultureller Überlieferungen aus den Tiefen des Internets mit entsprechenden Erfahrungswerten begegnen zu können. Die Vorteile, die eine Implementierung von digital erstellten Werken in die Sammlungsaufträge von Fernseharchiven und -museen erbringen, lassen sich noch deutlicher aus der Beschaffenheit des Überlieferungsmaterials ableiten: Die Schwierigkeiten, die über das Sammeln hinaus auch bei der Bewahrung von elektronischen Medieninhalten auftreten, sind in den Organisationen der Fernseherbe-Verwaltung zwar längst nicht bewältigt, aber schon lange bekannt, wohingegen schriftgutorientierte Institutionen erst den Umgang mit den ätherischen Eigenschaften der unkörperlichen Überlieferungen lernen müssen. Das Problem der Langzeitsicherung des audiovisuellen Erbes bildet den zweiten Grundpfeiler der Fernseherbe-Verwaltung, das im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung auf das Zusammenspiel technologischer und bewertungsabhängiger (Stör-) Faktoren untersucht wird.

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3.2.

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung Die Eternisierung des Ephemeren: Komplikationen bei der Bewahrung des Fernseherbes

Als US-Präsident Lyndon B. Johnson am 1. April 1968 eine Rede vor den Spitzenvertretern der US-amerikanischen Rundfunkwirtschaft hielt, scherzte er nicht, als er den audiovisuellen Massenmedien attestierte, sie besäßen zwar die Macht zur Aufklärung, aber auch jene zur Verwirrung, da die Akkuratesse oft der Unmittelbarkeit des Bildes geopfert werde. Sein nachfolgender über das Fernsehen live ausgestrahlter Satz verlor sich keineswegs im Äther: „Unlike the printed media, television writes on the wind" (zitiert nach Roper 2000: 85). Für Fernseharchivare erscheint dieser keineswegs bewahrungskritisch konnotierte Ausspruch rückblickend wie ein mahnender Appell, dem von Johnson angeklagten Medium und seinen Inhalten, das so brachial direkt wie suggestiv die Welt in seine audiovisuellen Darstellungslogiken übersetzt, Bestand zu verleihen. Die ätherischen Qualitäten des Fernsehens wurden zur größten Herausforderung der Kulturgutsicherung - und sind es noch heute. Um weiterhin als Selbstverständigungs-, Ausdrucks- und identitätsbildendes wie -pflegendes Instrument und somit der gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit dienen zu können, müssen die televisuellen Audiovisionen eingefangen und bewahrt werden: eine Aufgabe, die von den Fernsehveranstaltern erst spät in ihrer vollen Bedeutung erkannt wurde und erfüllt werden konnte. „Every asset has a life after it goes off television", sagt Doug Gibbons vom Paley Center for Media und spricht damit eine fundamentale Weisheit der Fernseherbe-Verwaltung gelassen aus: Television ist kein präsentistischer Akt, sondern bleibt auch nach seiner Versendung funktional. Die Voraussetzungen hierfür waren und sind jedoch nur unter äußerst schwierigen Bedingungen zu bewerkstelligen.

3.2.1. Verloren und Vergessen? Die Irreversibilität von Überlieferungsverlusten Wer mehr aufbewahrt, kann weniger erinnern: Je umfänglicher ein Überlieferungsbestand ist, desto anspruchsvoller sind die Anforderungen an die Archivierungsanstrengungen, desto höher ist der Erschließungsaufwand, desto wahrscheinlicher fehlt der Überblick, desto schwerer fällt die Verwaltung und Durchsicht des Materials, desto schwieriger ist die Nutzbarmachung des Fundus. Im Rückschluss lässt sich feststellen: Je mehr Archivgut, desto wichtiger wird auch die Aussonderung von archivunwürdigen Überlieferungen. Die sogenannte Kassation von Archivbeständen erfordert indes einerseits effektive, andererseits weitsichtige und fundierte Kriterien, die möglichen Schaden infolge einer nicht rückgängig zu machenden Vernichtung von Überlieferungen eingrenzen. Gleichwertigen Ersatz gibt es meist nicht, zumindest wenn es sich um endarchivisch verwaltete Bestände handelt. Die besondere Verantwortung der Senderarchive in dieser Frage wurde erst spät erkannt: Schätzungen zufolge ist beispielsweise nur ein Bruchteil des US-amerikanischen Fernsehprogrammaufkommens überliefert. Horace Newcomb (UG) vermutet aus dem Zeitraum von den 1940ern bis zum Jahr 1960 eine Überlieferungsquote von nur 20 Prozent. Michele Hilmes (WCFTR) glaubt sogar, dass aus den

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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1950er Jahren allenfalls fünf Prozent erhalten seien, aus den 60ern und 70ern vielleicht zehn bis zwölf Prozent. Mike Mashon von der Library of Congress hält jedoch eine exakte Bezifferung des tatsächlichen Verlustes für müßig, da hierbei nicht differenziert werde zwischen erhaltenswertem und entbehrlichem Material: „I don't know if there are really hard figures on how much TV was not preserved. It's kind of a misleading figure anyway because it would be unfair to say, for example from an 18 hours broadcast day only 30 minutes were preserved what would lead to a really low percentage. One shouldn't think in those figures" (Mike Mashon, LC).44 Dennoch deuten die im Detail zweifellos variierenden Schätzungen auf denselben Problemkern: Die Tragweite des Materialschwunds wirkt sich direkt auf die Fähigkeit einer Gesellschaft aus, sich an das Fernsehen und mit dem Fernsehen an ihre eigene Geschichte zu erinnern. James H. Billington, Chefbibliothekar der Library of Congress, bemängelte im Vorwort einer Grundlagenstudie über den Stand der Fernseharchivierung im Jahr 1997, dass der Zufall bestimme, welche Fernsehsendungen „überleben" würden. Übrig geblieben sei ein nur unvollständiges Zeugnis der Leistungen und Fehler einer ganzen Kultur - mit allen nachteiligen Konsequenzen für das Selbstbild der öffentlichen Gemeinschaft (Billington 1997). Unzählige Wegmarken der Zeitgeschichte, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer auch Fernsehgeschichte war, verschwimmen vor dem Auge, weil bestenfalls noch schriftliche Dokumente darüber erzählen können, doch das televisuelle Zeugnis verschollen ist. Die Fernsehgeschichte der USA ist reich an solchen Lücken: Weder findet sich die erste vom Fernsehen übertragene Ansprache eines US-Präsidenten an die allgemeine Bevölkerung von 1947 in den Archiven, als Harry S. Truman an seine Landsleute appellierte, ihren Lebensmittelverbrauch zum Wohle der hungernden Europäer zu reduzieren, noch die ersten Hauptnachrichtensendungen der großen Networks wie die „CBS Evening News", „All-Star News" auf ABC oder „Camel News Caravan" auf NBC bis zum Jahr 1955. Auch sind teils mehrmonatige Überlieferungslücken im Hinblick auf populäre Shows aus dem ersten Goldenen Zeitalter des Fernsehens wie das „Texaco Star Theatre" festzustellen. Sowohl Johnny Carsons Einstand in seiner legendären Unterhaltungssendung „The Tonight Show" als auch zahlreiche historisch signifikante Produktionen des bedeutenden Drehbuchautors Rod Serling aus den frühen 1950er Jahren sind ebenfalls nicht überliefert. Hierbei handelt es sich jedoch nur um einige prominente Beispiele, die den tatsächlichen Umfang des verschollenen Programmvermögens aus der Geschichte des US-amerikanischen Fernsehens nicht einmal erahnen lassen:

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Die Schwierigkeiten, die Verluste von weiten Teilen der Fernsehvergangenheit prozentual zu konkretisieren, betreffen nicht allein den Programmbereich, sondern auch angesichts fehlender Dokumentationsressourcen umso mehr die Schriftgut- und Realienbestände des Fernseherbes. Moses Znaimer, Gründer des MZTV Museums, wies auf diese Problematik mit dem Sinnspruch hin: „There are fewer prewar (meaning Second World War) TVs left in the world than Stradivarius violins" (zitiert nach MacDonald 2002).

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

„Any television historian gets crazy thinking about all that stuff that was lost [...]. Any TV historian can tell you a number of stories like the TV network didn't have enough storage room so they dumped all of those episodes. And that includes not only the tapes and everything, it also includes paper and ephemera" (Robert Thompson, SU). Auch in Deutschland ist die Überlieferungslage in einigen Senderarchiven „eklatant", wie Susanne Betzel (RTL) einräumt. Vor allem aus den Anfangsjahren des Kölner Privatsenders sei nur wenig Material erhalten: „Hintergrund ist einfach, dass RTL seine Anfänge in Luxemburg hatte in den Jahren von 1984 bis 1988. Da gab es natürlich in dem Sinne kein Fernseharchiv. Viele der Materialien sind natürlich dann auch von dem einzelnen Redakteur gehegt und gepflegt worden und als persönliches Eigentum zum Teil betrachtet worden. Mit dem Umzug sind damals Kriterien angelegt worden, die nicht archivischen Kriterien für eine Kassation entsprachen. Das hat dahingehend niemand beurteilt, sondern nur ob das Material mit nach Köln genommen werden sollte und ob es dort ausgestrahlt werden sollte. Das waren natürlich nur sehr kurzfristige Entscheidungen" (Susanne Betzel, RTL). Haben inkonsistente Sammlungsaktivitäten und Fehler bei der archivischen Bewertung von Programmmaterial bei RTL dazu geführt, dass unter anderem mehrere BundesligaSaisons nicht aufgehoben wurden und damit unwiederbringlich verlustig gingen, sind auch bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehveranstaltern empfindliche Versäumnisse zu beklagen: Beliebte Unterhaltungsshows wie „Der goldene Schuss" oder „Vergiss mein nicht" des ZDF sind aufgrund von Fehlentscheidungen verloren gegangen. Auch bei anderen Senderarchiven wird beklagt, dass in der Vergangenheit offenbar mit falschem Impetus entschieden wurde, „dass solche Reihen wie .Tanzunterricht mit dem Ehepaar Fern, .Turnen mit Adalbert Dickhut' oder .Gymnastik mit Frau Pilss-Samek' nicht überlieferungswürdig sind, so dass allenfalls ein oder zwei Belegexemplare aus dieser Abfolge von 30 reichen würden" (Hans Hauptstock, WDR). Die Verluste beim Namen bzw. beim Sendungstitel zu nennen, um damit die Irrigkeit so mancher Kassationsentscheidung aufzuzeigen, darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ansprüche an die Fernseherbe-Verwaltung erst seit Mitte der 1980er Jahre sprunghaft gestiegen sind. Ein Archivar entscheidet, wie gezeigt wurde, stets im Kontext seiner institutionellen Verpflichtungen und kann sich nur bedingt von den Zwängen seiner Zeit und dem Dilemma der Beurteilung historischer Signifikanz befreien. Es mag auf den ersten Blick kaum plausibel erscheinen, dass Hervorbringungen eines solch omnipräsenten Mediums wie des Fernsehens in solch unüberschaubarer und im Detail kaum nachvollziehbarer Zahl auf buchstäbliches Nimmerwiedersehen verschwunden sind. Dies resultierte letztlich auch in den Initiativen zur Gründung von Fernsehmuseen in Deutschland und Nordamerika: Eberhard Fechners, Bruce DuMonts und selbst die Beweggründe des Network-Titans William S. Paley gründeten sich auf das Unverständnis darüber, dass allzu viele Teile der Fernsehgeschichte abhanden gekommen wa-

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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ren. Gleichwohl sind die Überlieferungsverluste aus dem jeweiligen Kontext ihrer Zeit und ihrer Umstände heraus erklärbar. Zugrunde lag in der Regel eine Kombination aus menschlichem Versagen, pragmatischen Vorzeichen und technologischen Determinanten: - Mentalitätsproblem:

Die sogenannten Löschzüge, die bereits Eberhard Fechner und

den übrigen Planern der „Deutschen Mediathek" als ausdrucksstarke Metapher für die aktive Vernichtung von Programmgut dienten, um die Archivpolitik der Sender zu kritisieren, fuhren zwar nicht tagein tagaus, wie die befragten Archiwerantwortlichen heute betonen. Doch rissen sie nichtsdestotrotz tiefe Lücken in ein Überlieferungsfeld, das von einer Vielzahl unterschiedlicher Forschungsdisziplinen verstärkt als Quelle für die Analyse zeit-, alltags- oder mentalitätsgeschichtlicher Themen genutzt wird. Der frühen Archivarbeit in den Sendern eine Wegwerfmentalität zu attestieren, ist mit Blick auf die evidente Vernachlässigung eines Großteils des Fernseherbes und die sich dadurch ergebenden Hinweise auf ein fehlendes Bewusstsein der Entscheidungsinstanzen für die eigene Historizität und den Wert ihrer televisuellen Überlieferungen sicherlich nicht verfehlt, wie auch NDR-Archivleiter Heiko Kröger bestätigt: „Der Produktionsgedanke war [...] vorrangig, und es fehlte das Verständnis für die eigene Geschichtlichkeit. Dass zu einem späteren Zeitpunkt die Wiederholung der ganzen ,Tagesschau (die ,Tagesschau vor 20 Jahren ist in dieser Hinsicht ein Klassiker) relevant werden würde, konnte sich in den 50er und 60er Jahren kein Programm- oder Produktionsverantwortlicher vorstellen" (Heiko Kröger, NDR). Beim Norddeutschen Rundfunk wurden insgesamt drei konzertierte Löschaktionen in den 1970ern und Anfang der 80er Jahre durchgeführt, denen einzelne Sendungen fast vollständig zum Opfer fielen wie im Fall der Show „Musik aus Studio B": „Sowohl auf archivarischer als auch auf programmlicher Seite wurde die Bedeutung einzelner Programmelemente in Hinblick auf ihre programmliche Wiedereinsetzbarkeit und auch in Hinblick auf ihren historischen Wert verkannt", sagt Kröger. Dass es sich bei diesem Vorgang nicht um einen Einzelfall handelte, liegt schon aufgrund des Anlasses für die damaligen Kassationen nahe: Im Expertenkreis wird wiederholt auf Platzprobleme sowie Kosten- und Nutzenabwägungen in Bezug auf das Speichermaterial und auf den Archivfokus rekurriert, der sich fast ausschließlich an der kurzfristigen Wiederverwendbarkeit einer Sendung oder eines Sendungsbestandteils orientierte. Mit besonderer Heftigkeit traf diese Vorgehensweise Sendungen aus den Vormittagsprogrammen, aber auch aus den Mittags- und Nachmittagsprogrammen, die gemeinhin geringere Zuschauerzahlen verzeichneten und welchen seitens der Programmplanung kein bleibender Wert beigemessen wurde, wie Ron Simon (PCM) erklärt: „It's hard to document the everyday game shows or even the everyday newscast of television. That is an example of what we are always looking out for, what daily television looked like." Auch Laurie Friedman (Fox News) fasst die klaren produktionsfixierten Prioritäten auf das Abend- bzw. Prime Time-Programm in Worte:

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,,[W]e didn't keep a lot of the daytime programming. We kept the primetime shows, some four o'clock forward. But daytime between 9am and 4pm we recycled in the early days of the network. That was a collector's decision: We needed tapes back to reuse. The tapes weren't really being used for the amount of space they were taking up. It's not at all a big loss for us, because we don't need it for production" (Laurie Friedman, Fox News). Gleiches galt grundsätzlich auch für verbindende Programmelemente als Klammern im Programmfluss, denen im Laufe der anwachsenden Konkurrenz unter den Fernsehveranstaltern eine immer größere Bedeutung zukam, um den Zuschauer an das eigene Angebot zu binden: Trailer und Vorschauen, aber auch Programmhinweise mittels der Auftritte von Ansagern wurden ebenso selten archiviert wie sporadisch wiederkehrende Lückenfüller wie im Fall des RTL-Maskottchens Karlchen oder regelmäßigeren Sendestücken wie die Wettervorhersage: „Gerade die Präsentationsformen, wie bei RTL der Karlchen, da gibt es höchstens mal eine Sendeform. Aber Ansagerinnen, was auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten betrifft, und all die Dinge, die keine speziellen Sendungen sind, sondern Präsentationsformen der Sender wie Wetter, Ansagen, programmverbindende Elemente: Wenn man so etwas in den Archiven findet, ist das ein reiner Zufallsfund" (Gerlinde Waz, DK). Durch die weitgehende Ausblendung des alltäglichen Fernsehprogramms bei den Bewahrungsanstrengungen der Senderarchive, die wirtschaftlichen Erwägungen folgten, haben sich die betreffenden Fernsehveranstalter eines wichtigen Teils ihrer Senderidentität beraubt: Im bald kaum noch zu unterscheidenden Bilderfluss zigfacher Programmangebote boten - und bieten auch heute umso mehr - kurze Einspieler, Signets oder sonstige Inserts dem Zuschauer Halt und tragen zur Bindung an den jeweiligen Sender bei. Allen voran die Ansager dienten als para-soziale Orientierungsgeber im televisuellen Allerlei und waren über ihre Lotsenfunktion hinaus identitätskonkrete Begleiter im Alltagsablauf von Millionen von Fernsehzuschauern (vgl. Kapitel III.5.2.5.). Die Ignorierung solch fernsehbiographisch signifikanter Angelpunkte im Verhältnis des Rezipienten zu .seinem' Sender zeugen von einer Unfähigkeit zur Selbstreflexion innerhalb des frühen Fernseharchivbetriebs. Der Einfluss von kurzsichtigen Produktionsentscheidungen auf die Bewahrung des Fernseherbes auf Seiten der Fernsehindustrie wurde umso offenkundiger, wenn bei manchen kleineren Sendern im Falle einer angespannten Geschäftslage selbst jahrelang gepflegte Archivbestände kassiert wurden: „I know of many many cases in North America where television stations had valuable libraries of footage which they built up over ten, fifteen years which was practically a history of the region in which they operated: all aspects of live in the community. But the question was whether the storage room with all the old tapes is really needed. So in so many cases archives were wiped out" (Sam Kula).

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Fernseherbe-Verwaltung

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Die größten Verluste sind nach den Befragungsergebnissen beim Lokalfernsehen zu verzeichnen. Die Überlieferungslage bei kleinen Fernsehstationen desolat, wie Henry Jenkins (MIT) und Glenn Clatworthy (PBS) berichten: Der Sammlungsfokus sei auf das national ausgestrahlte Programm gerichtet, dessen verantwortliche Stellen in den großen Senderunternehmen über deutlich mehr finanzielle, personale und materielle Ressourcen verfügten als jeglicher Lokalsender. Regionale Erinnerungsarbeit werde dadurch erheblich erschwert oder nahezu unmöglich gemacht, da die audiovisuelle Dokumentation in Form von Lokalnachrichten nicht überliefert wurde - meist aus Gründen fehlenden Archivbewusstseins, das unter dem unaufhörlichen Produktionsdruck und knappen Ressourcen kaum entstehen konnte: „These people work under such deadlines, that they are not worried about what they did yesterday and whether it will be saved. It's very hard to even get their ear. [... ] It may have an archivist, but many will just call it tape-librarian. They only keep track of their various clip-reels so they can draw them in if they need one. In the future there is no comprehensive effort to save copies of individual news broadcast from every night of the week. They probably have it or at least some of it, but what its long term future is, is unclear. We try to get to these people, but it is a little bit discouraging sometimes" (Chuck Howell, LAB). Auch zentrale Archivstellen können die Verluste in solchen Fällen nur selten ersetzen, da lokales Fernsehprogramm nur in der betreffenden Region verfügbar ist und seine eng gesteckten Territorialgrenzen nicht überschreitet: „Occasionally we will get a call from someone interested in a current local production and they contacted the station who wouldn't have it and they would call us as a place of last resort and unfortunately we don't have any of the local productions except to the extent they entered national distribution. Normally we cant help in that situation" (Glenn Clatworthy, PBS). Häufig lässt sich nur unter aufwendiger Konsultation von Presseveröffentlichungen rekonstruieren, welche Eigenproduktionen überhaupt im Lokalfernsehen gezeigt wurden. So ist es ebenfalls durchaus möglich, dass eine Überlieferung tatsächlich noch existiert, aber nicht auffindbar ist, weil Erschließungs- und Katalogisierungsmethoden nicht oder zu uneinheitlich zur Anwendung kamen. Da es weder in Nordamerika noch in Deutschland einheitliche Protokolle für die Archivierung in Fernseharchiven gibt, erfordert es viel Geduld, um bei der Suche nach verschollen geglaubten Sendungen Ergebnisse zu erzielen: „It can be a real hunt to find something" (Lynn Spigel, NWU). Dies bestätigt auch John Koshel (NBC), der am Beispiel einer ikonischen Programmüberlieferung über den Rücktritt von US-Präsident Richard Nixon erklärt, wie das entsprechende Exzerpt, das zeigt, wie sich Nixon nach dem Verlassen des Weißen Hauses beim Einstieg in den Marine One-Helikopter mit dem Victory-Zeichen verabschiedete, keineswegs verlustig ging, sondern in einem späteren Fernsehbeitrag über die Inaugurationsfeierlichkeiten des Nachfolgers Gerald Ford wiederverwendet wurde, ohne dass es in den Katalogdaten vermerkt worden war:

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung „So often you would find an archival asset in a later reproduction, e.g. in a highlightshow of the week's news or in an annual retrospective of the news highlights of the year. So often they removed a special piece of film and integrated it into another context. So sometimes the main problem was poor record keeping: When you look for a specific news event and go to the original place in the archive where the reference data guide you, it wouldn't be there. So people would say: ,What a devastating loss! Why was that thrown out?' But actually it only has been moved and moved and moved - because it was reused over and over again over time" (John Koshel, NBC).

Ressourcenknappheit: Viele Programminhalte aus der Anfangszeit des Fernsehbetriebs sind jedoch verschollen, nicht weil sie nachträglich entsorgt wurden, sondern weil sie aufgrund der hohen Kosten für die Speichermaterialien von vornherein nicht für eine Aufzeichnung in Erwägung gezogen wurden: „So much of the early television was live. There was not much recording made of it. It was screened once and if you were lucky you saw it and if not it was gone into space somewhere" (Dan Einstein, UCLA). Wenn darauf verzichtet wurde, aufwendige Filmaufzeichnungen von einer Live-Sendung zu erstellen, dann versendete sich das Fernsehprogramm im Äther. Eine ausreichende Motivation für solcherlei Anstrengungen waren selten gegeben, da das Kosten-NutzenVerhältnis durch die mäßige Qualität der vom Fernsehschirm abgefilmten Sendungen als unzureichend eingestuft wurde und der Wiederverwendungswert entsprechend gering ausfiel. Nicht betroffen von diesem kritischen Abwägungsverfahren, das bei der Frage der Aufzeichnungsrelevanz beim Gros der Sendungen im Zweifelfall negativ ausfiel, waren Programminhalte, die bereits im Vorfeld produziert und somit auf Film festgehalten wurden. Dies war ein zwar material- und kostenaufwendiger, aber innerhalb des Produktionsprozesses oftmals nicht zu umgehender und außerdem im Hinblick auf eine zukünftige Wiederverwendbarkeit vorteilhafter Weg, der abgesehen von Filmproduktionen und Serienformaten vor allem auch bei journalistischen Beiträgen in Informationssendungen eingeschlagen wurde. Dies führte zu einem stark fragmentarischen Überlieferungsbestand, der nur bestimmte Teile einer Nachrichtensendung umfasste, die bereits als Einzelbeiträge auf Film vorproduziert und während der Sendung eingespielt wurden. So finden sich im Programmarchiv des NDR zwar eine hohe Zahl von Einspielfilmen aus der „Tagesschau" bis 1973, aber die nicht weniger bedeutenden Wortnachrichten, die von den Sprechern live vorgelesen wurden, fehlen. Zwar wurde durch die beitragsbezogene Archivierung die Ausschnittverwertung erleichtert, doch führte sie gleichsam dazu, dass der Sendungskontext nicht mehr rekonstruiert werden kann und zahlreiche wichtige, aber nur mündlich vorgetragene Tagesinformationen nicht dokumentiert wurden. Mit der Entwicklung der analogen Videoaufzeichnung im Jahre 1956 besserte sich die Archivpraxis kaum, eher noch führte die Möglichkeit der Mehrfachbespielung des magnetischen Bildträgers zu einer rapiden Verschlechterung der Überlieferungssituation: Die höhere Bildqualität der Videoaufnahmen führte zwar zu einer enormen Attraktionssteigerung von Aufzeichnungen für Wiederverwendungszwecke, doch lag die be-

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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sondere Qualität der neuen Technologie in ihrer eigenen Wiederverwendbarkeit. Die Folge war ein rigoroses Überspielen aufgezeichneter Programminhalte, sobald eine neue Sendung zur Aufzeichnung anstand. Insbesondere der US-Programmbetrieb empfand die neuen technischen Möglichkeiten als Segen, glaubt man Joel Kanoff (ABC): „Programs were rerecorded because they could be recorded. You couldn't rerecord film." So finden sich heute oftmals nur noch schriftliche Spuren in Form von stichwortartig notierten Verweisen auf dem Videoband, die jedoch ins Nichts führen: „Sometimes I get a box with a tape with a game show or something on it. And the log tells you about the forty times the tape was used before. And you read for example: ,Lindon Johnson News Conference' or .Space Shuttle landing' and you can only say: ,Oh, no!' There is an awful lot that's gone" (Dan Einstein, UCLA). Videobänder waren ebenso wie ihr Aufnahme- und Abspielequipment zunächst nur für die führenden Fernsehunternehmen erschwinglich. Ein frühes Zwei-Zoll-QuadruplexVideoband kostete in der damaligen Zeit mehrere hundert US-Dollar - in Deutschland gingen die Preise in die Tausende. Während in Anbetracht des hohen Kostendrucks die regelmäßige Überspielung der Bänder nur der Produktionslogik entsprach, wurde das archivische Potenzial des analogen Speichermaterials bis Mitte der 1980er Jahre kaum erkannt. Wie der unabhängige Archivberater Jeff Martin anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Videotechnologie konstatierte, ließ das Medium die Entwicklung einer Archivmentalität auf der Grundlage der neuen Speichertechnologien nicht zu, weil es den neu entwickelten Speicher mit einer Transmissionslogik besetzte: ,,[V]ideotape was not for the long term, but only for the now" (Martin 2005: 58). Demnach wurde die Videobandtechnologie nicht erfunden, um als Bewahrungsinstrument zu dienen, sondern um zur Verbilligung der Übertragung zu führen. Die US-amerikanischen Fernsehveranstalter hatten von Beginn an mit vier (später fünf) Zeitzonen zu kämpfen, um ihr nationales Publikum zu erreichen: Sendungen, die live an der Ostküste über die Fernsehschirme flimmerten, wurden zunächst auf Film, später dann auf Videobändern aufgenommen, um sie nur wenige Stunden später an der Westküste ausstrahlen zu können. Die Singularität des Live-Fernsehens hatte also zur Folge, dass die Nutzung und Haltbarkeit von Videobändern im Dienste der möglichst vielmaligen Distribution des Programms im Vordergrund stand und nicht die Langlebigkeit und Stabilität im archivischen Sinne. Eines der prominentesten Opfer dieser Überspielpraxis war Johnny Carson, der in seiner populären „Tonight Show" die Ereignisse des Tages auf pointierte und ironische Weise kommentierte. Vollkommene Jahrgänge seiner Sendung sind nicht überliefert: „The Johnny Carson show in the 1960s was done on a videotape, and the 2-inch videotape was very expensive and NBC used to re-record over those tapes. So you have many important historical figures that appeared on that program, but they didn't realize at that time that anybody would like to watch those old shows again" (Mark Quigley, UCLA).

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- Nutzungsverluste: Aufgrund der nahtlosen Einbindung von Senderarchiven in den Produktionsprozess liefen die Bewahrungsstellen immer Gefahr, ihre Speichermaterialien durch die rege Nutzung des vorgehaltenen Programmmaterials für programmliche oder redaktionsinterne Sichtungszwecke zu beschädigen. Wie Mardiros Tavit (ProSiebenSat.l) betont, werden sämtliche Bandformate durch allzu häufiges Abspielen gefährdet. 45 Die pragmatischen Ansätze, die beim Zugriff auf archivierte Videobänder die längste Zeit über verfolgt wurden und zum Teil noch heute an der Tagesordnung sind, verhinderten in Kombination mit wirtschaftlichen Zwängen eine Bewahrungsstrategie, welche die dauerhafte Sicherung der Archivbestände als vorrangiges Ziel hat. So gehörte und gehört es noch immer zum Standardverfahren, Unikatbänder, für die es keine Sicherungskopien gibt, aus den Händen zu geben, um den Sendebetrieb zu beliefern. Das CBS News Archive lässt allwöchentlich 3.000 Bänder zirkulieren, die von Mitarbeitern der unterschiedlichen Informationssendungen des Senders gesichtet und bei Bedarf ausschnittsweise kopiert werden. Hierbei laufen insbesondere ältere Bildträger Gefahr, von ungeübtem Personal nicht fachgerecht behandelt und damit beschädigt zu werden (vgl. auch Feldmer 2009): „We have problems more often with damaged tapes from the %-inch era or early betacam-tapes that are deteriorating and we try to train our producers and tell them: If the tape doesn't play, then stop and send it back to us" (loel Kanoff, ABC). Michael Harms vom SWR betont angesichts der hohen Nachfrage aus der Produktion, dass „keineswegs von allem, was wir im hausinternen Austausch herausgeben", Kopien angefertigt werden: „Also das sind Unikate, die ausgetauscht werden. Wir fertigen nur Kopien an, wenn es die SWR-Grenzen überschreitet." lohn Koshel (NBC) unterstreicht dies an dem anschaulichen Beispiel der Berichterstattung rund um die Terroranschläge in New York vom 11. September 2001: Damals hätten die Nachrichtenredaktionen nur ein einziges Band mit den wertvollen Aufnahmen der Anschläge gehabt, das herumgereicht werden musste, weil nicht genügend Zeit vorhanden war, um eine, geschweige denn mehrere Kopien zu erstellen. Bereits eine solche fachlich nicht begleitete Nutzung einer Archivalie kann zur Beschädigung oder Komplettverlust führen, wie Mardiros Tavit bestätigt: „Es ist schon vorgekommen, dass Bänder weggekommen sind und damit unwiederbringlich verloren waren. Das könnte natürlich wieder passieren. Wenn das Band nicht wieder beschaffbar ist, gibt es eine gewisse Summe, die von dem Verursacher des Schadens als Strafe zu bezahlen ist" (Mardiros Tavit, ProSiebenSat. 1).

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Interessanterweise verhält es sich bei einzelnen technischen Gerätschaften aus der Fernsehgeschichte genau anders herum: Bei alten Fernsehapparaten gehört es zum Instandhaltungsprozess, die Bildröhren in bestimmten Abständen mit Gas zu füllen, sie also in Betrieb zu nehmen, damit sie ihre Darstellungsqualität nicht verlieren: „You look at a cathode ray tube and you might say it's 70 percent. If you don't want it to go down to 50 percent you keep turn it on and charging it. And that's part of the restoration process" (Michael Adams, MZTV Museum).

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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Hier wird die Fernsehüberlieferung als abschreib- und monetär kompensierbarer Wertgegenstand klassifiziert, dessen historische Relevanz durch verwaltungstechnische Imperative in den Hintergrund gedrängt wird. Der Überlieferungsverlust ist demnach ein geschäftliches Erratum, das bestenfalls zu den Konditionen des aktuellen Sendewertes des betreffenden Inhalts finanziell, aber nicht substanziell bereinigt werden kann. - Eigenmächtiges Handeln: Nach Angaben einiger befragter Experten hat es aber auch gegenläufige Entwicklungen gegeben, wobei Mitarbeiter von Sendern und Produktionsunternehmen den Wert ihrer eigenen Sendungen durchaus erkannten und sie vor der nimmermüden Überspielungsmaschinerie schützen wollten. Dies führte in zahlenmäßig nicht zu bestimmenden Fällen zu Diebstählen von Aufzeichnungsträgern, welche insofern auch der archivischen Erfassung entzogen wurden und fortan in einem Büro oder dem privaten Zuhause des betreffenden Akteurs lagerten, ohne dass dies bekannt wurde: „People took a lot of stuff home in the old days. And now they have a garage full of old television shows" (Joel Kanoff, ABC). Ähnlich verhält es sich im Schriftgutsektor, wo Dokumente aus den kreativen und administrativen Bereichen teils aus Nachlässigkeit, teils aber auch mit einer bestimmten Absicht einer Archivierung vorenthalten bleiben. Mit dem Problem einer gezielten Vernichtung von umfangreichen Aktenmaterialien vor der Möglichkeit einer archivischen Bewertung war beispielsweise das Historische Archiv des Bayerischen Rundfunks konfrontiert: „Es gab natürlich, bevor es irgendwelche Regelungen wie die Dienstanweisung gab, gab es große Verluste. Der ehemalige Verwaltungsdirektor Helmut Oeller ist in Pension gegangen und hat einfach seinen gesamten Bestand vernichten lassen aus welchen Gründen auch immer. Das ist natürlich weg. Also gibt es manchmal ganze Abteilungen wo gar nichts überliefert ist. Wir haben auch ganz wenig vom Fernsehen aus den 1950er Jahren. Da gab es einfach noch kein Bewusstsein dafür" (Bettina Hasselbring, BR). Der Verlust interner Dokumente über das Geschäftsgebaren und die Verwaltungsabläufe in einem Fernsehunternehmen, der auf die Initiative einzelner Führungspersönlichkeiten zurückzuführen ist, macht das ambivalente Verhältnis von leitenden Fernsehverantwortlichen deutlich, die über die Missachtung des Bewahrungsgebots Geschichtspolitik betreiben und das historische Bild eines Fernsehveranstalters durch die Extinktion von Spuren ihres Handelns nach ihrem Willen zu prägen bemächtigt sind. Die Fragwürdigkeit dieses Vorgehens in öffentlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern steht der Brisanz einer nach politischen Interessen gelenkten staatlichen Archivtätigkeit in nichts nach, da es sich in beiden Fällen um die Dokumentation des Sendegeschehens handelt, dass das gesellschaftliche Selbstverständnis geprägt hat und retrospektiv nachzuzeichnen imstande wäre. In der jüngeren Vergangenheit hat es einige manchmal mehr, manchmal weniger erfolgreiche Anstrengungen gegeben, aktiv nach unauffindbaren Zeugnissen der Fernsehprogrammgeschichte zu suchen. Singulären Charakter hatte die überraschende Entdeckung

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IV. Status Quo und Perspektiven der

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von umfangreichen Filmaufzeichnungen aus den ersten zwei Jahrzehnten des Fernsehbetriebs in Deutschland, die seitens der DDR-Staatsführung aus Gründen strategischer politischer Beobachtung vom bundesrepublikanischen Fernsehprogramm erstellt worden waren. Hier fanden sich auch zahlreiche Komplettmitschnitte von „Tagesschau'-Ausgaben und Sendungen des Politikmagazins „Panorama" (NDR). Zwar liegen diese nun in keiner sendefähigen Qualität vor, stellen jedoch eine wichtige wissenschaftliche Ressource dar, welche einen wichtigen Teil des Sendegeschehens des westdeutschen Fernsehens zu dokumentieren hilft. Gleiches gilt auch für Filmaufzeichnungen des DDR-Fernsehens durch das Bundesministerium des Innern der Bundesrepublik Deutschland sowie ARD und ZDF, die im selbigen Zeitraum ein ebensolches Interesse daran hatten, das Programmgeschehen im Nachbarland zu dokumentieren. Auch hierdurch konnten die Lücken in den älteren Archivbeständen des DFFs bei weitem nicht geschlossen werden; der kontextuale Dokumentationswert der Überlieferungen ist jedoch immens: ,,[E]s ist kaum zu glauben, was aus diesem Filmmaterial, was mitgeschnitten wurde, jetzt rekonstruiert und dem DRA zur Verfugung gestellt werden konnte. [...] Man hat einen Einspieler in einer Magazinsendung, dann ist der Einspieler irgendwo im DRA. Aber das Wichtige: Die gesamte Struktur des Programms, die Anmoderation der Sendung, die ja live gesendet wurde, ist natürlich nicht erhalten, weil die Gesamtsendung nicht aufgezeichnet wurde. Aber durch die Westaufzeichnung ist das Gesamtbild noch da. Das betrifft die Unterhaltung, das betrifft die Magazine, und der Prozentsatz war relativ hoch, was im Austausch jetzt wieder dem DRA zur Verfügung gestellt werden konnte. Also die Überlieferungslage ist sehr hoch. Natürlich naturgemäß in den Zeiten, wo es gar keine Aufzeichnung gab: 50er Jahre, relativ schwach. Aus den ersten Jahren haben sie ja kaum Überlieferungen. Deswegen hat man damals Programme, die sehr wichtig waren, sozusagen vor der Filmkamera inszeniert. Aber das sind wirklich eine Handvoll Sendungen pro Jahr in den ersten Jahren" (Thomas Beutelschmidt, HUB). Im internationalen Feld liegt die Hoffnung maßgeblich auf Privatleuten und ehemaligen Beschäftigten der Fernsehindustrie, in deren Besitz sich möglicherweise alte Bandbestände mit eigenen Aufzeichnungen oder professionell angefertigten Mitschnitten befinden. Während Senderarchive sich bei der Suche nach derlei verschollen geglaubtem Material kaum beteiligen, verstehen es die öffentlichen und wissenschaftlichen Einrichtungen im Untersuchungs-Sample als ihre Pflicht, mit ihren Mitteln Sammlungslücken zu schließen. Je jüngeren Datums die vermissten Überlieferungen sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es Privatmitschnitte der originären Sendung gibt: „There are more and more ways to record programming, not merely by the producing or transmitting organization itself, but there is more and more work that is being collected by collectors, by amateurs" (Horace Newcomb, UG). Internationalen Vorbildcharakter für den Versuch, eine breite Öffentlichkeit für die problematische Überlieferungslage des Fernseherbes herzustellen, genießt auch heute noch die Buchveröffentlichung „Missing Believed Wiped" des British Film Institute (Fid-

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dy 2001): Der schmale Band macht anhand von 21 Beispielen verschollener Sendungen aus der britischen Fernsehgeschichte darauf aufmerksam, dass die Beschäftigung mit der Fernsehprogrammgeschichte aufgrund der katastrophalen Überlieferungssituation in den institutionellen Archiven nur mit einem verschwindend geringen Bestand operieren kann, der einem „tip of the iceberg" entspreche: „Every genre, indeed every sub-genre, has important gaps among the archive holdings" (ebd.: 139). Obwohl es bisher nur wenige Indikatoren dafür gibt, dass eine solche Strategie der Engagierung der Massen für die Suche nach Spuren des Fernsehprogrammerbes von Erfolg gekrönt sein könnte, spielt auch Mike Mashon von der Library of Congress mit dem Gedanken, eine ähnliche fernseharchäologische „national campaign" in den USA anzustoßen: Wenn sich darauf auch nur wenige Sammler mit ihren Schätzen melden sollten, sei das schon ein Gewinn. Eine solche Initiative startete das ehemalige Museum of Television & Radio in Kooperation mit dem Kabelsender Nick at Night (vgl. Kapitel III.9.3.) bereits in den 1990er Jahren unter dem Titel „Lost Programs Campaign" (vgl. Swartz 1999), die auch heute noch vom Paley Center for Media weitergeführt wird. Ziel der Kampagne war und ist es, am Beispiel ikonischer Sendungen aus der Fernsehgeschichte national wie international ein allgemeines Bewusstsein für die Fatalität der Überlieferungsverluste zu schaffen und mit der Hilfe von Privatsammlern einen Teil der Lücken schließen zu können. Auf diese Weise gelang es, eine vollständige Aufnahme des Fernsehspiels „12 Angry Men" (CBS) von 1954 zu akquirieren, das jahrzehntelang als verschollen galt. Von dem damals in der Anthologieshow „Studio One" live ausgestrahlten einstündigen Drama lag zuvor nur eine Filmaufzeichnung der ersten 30 Minuten vor. Der komplette Mitschnitt wurde beinahe 50 Jahre später von den Kindern des Strafverteidigers und späteren New Yorker Richters Samuel Leibowitz im Privatarchiv ihres Vaters entdeckt, der die Filmrollen vonseiten des Senders kurz nach der Ausstrahlung erhalten hatte, weil er sich für die in der Sendung behandelten juristischen Fragen interessierte (vgl. Littleton 2003). Ein anderes Beispiel ist das des 1997 verstorbenen Fernsehpuppenmachers Morey Bunin, dessen Kinder zwar bereits kurz nach seinem Tod die originalen Puppen an das American Museum of the Moving Image spendeten, jedoch 200 Filmrollen früher Kindersendungen mit populären Puppenfiguren wie „Foodini", „Pinhead" oder „The Schnozz", die sich ebenfalls anfanden, zunächst für wertlos erachteten und im Keller deponierten. Erst durch Presseveröffentlichungen, die über die großen Überlieferungsverluste aus der Fernsehgeschichte berichteten sowie auf den daraus resultierenden hohen Sammlerwert für Originalaufnahmen, die verloren geglaubt scheinen, hinwiesen, wurden sie auf die historische Relevanz der Überlieferungen aufmerksam und spendeten Teile der zuvor achtlos behandelten Sammlung an die Library of Congress, das Paley Center for Media und das UCLA Film & Television Archive (vgl. O'Shaughnessy 2007). Welche Rolle pures Glück bei der Entdeckung manchmal spielen kann, belegt auch das Wiederauftauchen der ersten Folge der legendären Sitcom „I Love Lucy", das als „Hubble telescope to another time" gefeiert wurde und große Publikumsresonanz hervorrief (Shales 1990). Die Pilotsendung war zwar ursprünglich kaum jemandem bekannt gewesen,

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IV. Status Quo und Perspektiven der

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da sie niemals ausgestrahlt worden war, sondern als Testballon live gespielt und innerhalb des Studios von Bildschirmen abgefilmt wurde. Doch ihr historischer Wert und das große Interesse seitens einer breiten Öffentlichkeit waren in Anbetracht des epochalen Erfolgs der Serie unbestritten. Obgleich die Filmrolle zunächst im Privatbesitz von Desi Arnaz, dem Co-Produzenten und Ehemann der Hauptdarstellerin Lucille Ball, vermutet wurde, wurde sie zufällig von der Witwe des Darstellers Pepito Perez, der in eben jener Folge als Clown auftrat, über 14 Jahre nach dessen Tod entdeckt. Perez hatte die Filmkopie von seinem Anglerfreund Arnaz geschenkt bekommen. Der Verlust einer Überlieferung in Senderarchiven muss also nicht zwangsläufig zu einem totalen Vergessen im Sinne einer Unbrauchbarkeit des verschollenen Programminhalts für die Erinnerungsarbeit führen, da sich auf Dachböden, in Kellern oder Büros immer noch Kopien, wenn auch häufig in minderer Qualität, finden lassen. Eine der jüngeren Entdeckungen betrifft den ersten „Super Bowl", also das erste Meisterschaftsendspiel der US-amerikanischen Profi-Football-Liga vom 15. Januar 1967. Zwar war das Sportereignis - ein Unikum in der Fernsehgeschichte - von zwei der großen Networks, CBS und NBC, übertragen worden, doch keines hatte es für notwendig erachtet, es auch aufzuzeichnen und zu archivieren. Nach fast 4 0 Jahren meldete sich ein Sammler, der dem Paley Center eine nahezu vollständige Aufzeichnung der Sendung anbot (Farhi 2008). Nach Aussage von Kurator Ron Simon illustriert dieses Beispiel, dass die Akquise von Raritäten aus der Programmgeschichte nicht immer reibungslos abläuft, sondern aufwendige Instandsetzungsarbeiten, komplizierte Verhandlungen und den Aufbau und die Pflege eines filigranen Kontaktnetzwerks erfordern: ,,[T]hese cassettes contain many technical problems. We still need to retransfer again and get contracts signed. [...] That discovery is very complicated. It will be a very delicate and costly transfer of material to a digital format. We are still trying to make it happen with all the parties concerned. We are contacted frequently who see our lost programs notice on the internet. For each of those programs we have contacted every person connected with the program. We have built a network of people who assist us in looking for the program. One lost program leads us to more; we now have leads for the first Super Bowl broadcast by the other network. It is a continuing process" (Ron Simon, PCM). 46 In Deutschland dagegen gibt es weder von den Fernsehveranstaltern noch von gemeinnützigen Einrichtungen vergleichbare Initiativen, mithilfe der allgemeinen Öffentlichkeit Lücken in den Überlieferungsbeständen zu füllen, was zur Folge hat, dass das Problem des Überlieferungsschwunds nur temporär durch vereinzelte Presseveröffentlichungen wie im Verlauf der Debatte um die Entwicklung der „Deutschen Mediathek" öffentlich thematisiert wurde, darüber hinaus aber kaum im öffentlichen Bewusstsein präsent sein dürfte, was sich unter anderem auch in dem geringen Interesse der Senderarchive an möglichen Angeboten seitens Privatsammlern ausdrückt (vgl. Kapitel IV.3.1.1.).

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Ergänzende schriftliche Stellungnahme Ron Simons auf Anfrage des Autors vom 9. Februar 2009.

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung 3.2.2. Aktuelle Bewahrungshaltung

zwischen Unbelehrbarkeit und

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Auch in Zeiten eines millionenschweren Sortimentshandels für die kommerzielle Auswertung von historischen und aktuellen Fernsehproduktionen auf dem Video- und Onlinemarkt, hat sich nur wenig an den grundlegenden Schwächen der Fernseherbe-Verwaltung geändert: Mit dem Bewusstsein für die Notwendigkeit und Profitabilität für die programmlichen Archivalien wuchs auch die Hilflosigkeit gegenüber der überwältigenden Masse an neuer Überlieferungsbildung. Um ihrer Herr zu werden, sehen sich manche Senderarchive trotz deutlicher Fortschritte in der technischen Entwicklung gezwungen, Archivmaterial nicht auf Dauer vorzuhalten. Auch wenn die Aussonderung von Programmsubstanz immer ein Risikobereich bleibt, wie Axel Bundenthal (ZDF) warnt, setzen steigende Kosten für die Unterhaltung der wachsenden Bestände die Archivabteilungen unter erheblichen Rechtfertigungsdruck gegenüber der Senderleitung: ,,[T]here is pressure to not keep stuif", räumt zum Beispiel Dina Gunderson von CNN ein. Unter den nach wie vor widrigen Bedingungen für die Bewahrung des Fernseherbes lastet der Druck, Überlieferungen ohne kurz- bis mittelfristigen Wert für den Programmbetrieb zu vernichten oder bei den Bewahrungsanstrengungen zu vernachlässigen (vgl. Kapitel IV.3.2.3.). Insbesondere gemeinnützige Einrichtungen mit einem breiten Sammlungsfokus haben an ihrer Aufgabe der Sicherung dessen, was in den Sphären endarchivischer Kompetenz als verschmerzbar angesehen wird, schwer zu tragen, schließlich ist selbst für kundige Beobachter mit Kenntnissen unternehmerischer Archivlogiken nur schwer zu überblicken, wo etwas verlustig zu gehen droht: „The situation today is even worse with the expanding number of networks. It becomes impossible for a public institution to save everything that passes over television when you have hundreds of networks broadcasting 24 hours a day" (Henry Jenkins, MIT). Jenkins fordert daher eine unabhängige Kontrollstelle, die eingreifen soll, bevor Archivbestände vonseiten der Sender und Produktionsgesellschaften kassiert werden, und diese nach separater Bewertung gebenenfalls übernimmt: „They hold on to the content as valuable intellectual property in the short term and then they dump it as worthless in the long term without any ability of public institutions to step up and collect it." Von den Sendern wird eine solche (pflichtmäßige) Schleuseninstitution jedoch abgelehnt: Olaf Moschner (RTL) verweist auf das unternehmerische Selbstbestimmungsrecht des Programmveranstalters, im Fall des Falles ohne Konsultation einer externen Einrichtung Archivbestände zu entsorgen. Da sich die Sender ungern in die Karten schauen lassen, wie sie ihre endarchivischen Kompetenzen wahrnehmen (vgl. Kapitel IV.2.3.3.), hängen Wohl und Wehe der Überlieferungsbildung und ihrer Erhaltung auch weiterhin am seidenen Faden der Produktivität und Rentabilität des archivierten Programmaufkommens. Weit davon entfernt, das Fernseherbe in angemessener Breite zu retten, hat die Wertschätzung des kommerziellen Vermarktungspotenzials bestimmter Überlieferungsbereiche keinesfalls dazu geführt, einen allgemeinen präservationistischen Eifer in der Fernsehindustrie auszulösen. Vielmehr wurde das Urteilsvermögen der Archiwerwal-

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tungen für eine lukrative Schwerpunktsetzung bei der Restaurierung, das heißt immer auch Rettung von einzelnen Sammlungsbeständen, geschärft. Anhand der erfolgreichen Sitcom „Seinfeld" lässt sich illustrieren, wie das neue Bewahrungsprinzip funktioniert: Für die technische Aufbereitung des alten Programmmaterials für das hoch auflösende HD-Fernsehen wurde ein bis dato nicht gekannter Aufwand geleistet. In einem dreieinhalbjährigen Restaurationsprozess wurden die 180 Episoden der Serie im Auftrag der Produktionsfirma Sony Pictures Television für mehrere Mio. US-Dollar vollständig überarbeitet, um sie den aktuellen technischen Qualitätsansprüchen anzupassen und gewinnbringend vermarkten zu können (vgl. Kramp 2006a). Einige der befragten Experten sehen bei allen positiven Effekten einer solchen Unternehmung für die Erhaltung der betreffenden Fernsehproduktionen und für den allgemeinen Erkenntnisgewinn in der Archivgemeinschaft in Bezug auf neue Bewahrungstechnologien jedoch in der Marktorientierung von Bewahrungsinitiativen das Risiko, dass die Langzeitsicherung zugunsten kurzfristiger Profitziele außer Acht gelassen werde und nur ein verschwindend geringer Bruchteil des Überlieferungsbestandes überhaupt für solch aufwendige Restaurationsprojekte in Frage komme: ,,[T]hose entitees have other means of distribution that they see as a revenue stream and they keep it in house rather than giving it to someone where it is safe. So the long term preservation is endangered" (Mark Quigley, UCLA). Auch Robert Thompson (SU) und Daniel Berger (MBC) glauben nicht daran, dass eine kapitalistische Archivideologie das Fernseherbe retten könnte: Zu deutlich stehe der Profitgedanke im Vordergrund der Bemühungen, Archivmaterial möglichst schnell und möglichst gewinnträchtig zu vermarkten. Wahrscheinliche Folgen sind demnach zugeschnittene Aufwendungen für abgegrenzte Überlieferungsbereiche, deren Bestand durch ihre Popularität und ihre Wiederholungsqualitäten im laufenden Programm ohnehin als gesichert gelten kann. Vielmehr, so die Kritik, habe dies einer Entwicklung Vorschub geleistet, die Fernsehproduktionen vermehrt nicht mehr in ihrem Programmkontext erfasst, sondern „den narrativen und ästhetischen Zusammenhang einer einmal ausgestrahlten Sendung wieder auflöst, das thematisch relativ unabhängige Bildmaterial indiziert" (Öhner 2005: 86), es also als autonome Entität beschreibt ohne jeglichen Bezug zur ihrem Entstehungshintergrund und Sendeumfeld: „In the 1950s or 60s television programs were syndicated via kinescopes or 16-mm prints that had the national network commercials embedded in prints. A lot of the archival material we have from that period has those national spots in it. So if you want to see a program in context with its sponsorship and how that might have impact on the program, it's an opportunity to see some of that, while now if current television is being exploited on DVD, we are not acquiring material recorded off air, we are not likely to get material within the context of its broadcast" (Mark Quigley, UCLA). Dies betrifft fiktionale Produktionen wie Fernsehfilme und Serien ebenso wie Sportveranstaltungen oder Shows, die ohne die bei Ausstrahlung oft so organisch implementierten Werbeblöcke und -einblendungen ein vollkommen anderes Bild vermitteln als in

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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ihrem ursprünglichen Sendezusammenhang. Um einen verhältnismäßig vollständigen Eindruck vom vergangenen Programmgeschehen zu erhalten, setzt häufig ein imaginäres Kunststück seitens des Betrachters voraus, da die einzelnen Programmteile jeweils getrennt und oft unvollständig an unterschiedlichen Orten archiviert sind: „When you write about television, you have to piece together a mosaique of what might have actually been on air" (Lynn Spigel, NWU). Erschwerend wirkt sich die fatale Abhängigkeit der Archivbemühungen privater Produktionsfirmen am Geschäftserfolg aus, wodurch eine dauerhafte Bewahrungshaltung schon aufgrund unternehmerischer Unwägbarkeiten nicht garantiert werden kann und auf diese Weise einzelne Überlieferungsbestände unvorhersehbaren Gefährdungen ausgesetzt sind: „Bei den privaten Produktionsfirmen ist es sicher oftmals schwierig, das war auch in der Debatte um die EU-Konvention zur Sicherung des audiovisuellen Erbes ein Thema, dass dort noch stärker über Produzenten gearbeitet wird, so dass bestimmte Dinge gar nicht dauerhaft im jeweiligen Sender vorgehalten werden. Natürlich ergibt sich daraus ein Problem, wenn der Produzent insolvent wird oder wenn er von einer neuen Produktionsfirma übernommen wird. Ich will den Privaten nicht das Bewusstsein oder die Anstrengung absprechen, doch durch die andere Produktionsform ist das Sichern oft noch schwieriger" (Axel Bundenthal, ZDF). Weitaus verheerender mutet die Situation der Fernsehbewahrung bei kleineren regionalen und lokalen Sendern an. Wer sich um den ebenso reichen wie unübersichtlichen und daher von Verlust bedrohten Überlieferungsschatz von latent bedrohten Fernsehüberlieferungen aus diesem Überlieferungsfeld kümmert, bleibt weitgehend ungeklärt. Bei kleinen Sendern existiert oft nur eine rudimentäre Archivstruktur, die aus Kosten-, Personal- und Platzgründen sowie rechtlichen Beschränkungen ihre Funktionen als lokale Vermittlungs- und Dokumentationsagentur des öffentlichen Lebens im Dienste des Allgemeinwohls der Gemeinde(n) vor Ort oft nicht entsprechen können (vgl. auch Snider 2000). „We still run into situations where they want to get rid of their archived materials because they need or don't have the space" (Sam Kula). Solchen Fernsehveranstaltern, aber auch Produktionsfirmen ist es weiterhin größtenteils ein Ding der Unmöglichkeit, eine ordnungsgemäße Archivierung ihres Programmaufkommens zu bewerkstelligen, was sich bisweilen in einer schwach ausgeprägten Bewahrungshaltung ausdrücken kann: ,,[L]ocal television stations are notorious for having their material thrown out. [...] Many small tv-stations can t afford an archive [... ] Take a local station like WALB: We got their newsfilm collection some years ago and the station manager there who was very concerned of the material, signed off the rights and simply said: Take the stuff. Then a different station manager comes in who knows that there is another section of these films, and he doesn't care where they go. They could go anywhere. They just didn't care" (Ruta Abolins, WBMA & PAC). So klafft die Schere einerseits zwischen einem gewachsenen professionellen Archivbewusstsein bei finanzstarken Sendeanstalten, die aus ihren Fehlern in der Vergangenheit

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

gelernt haben und aus Gründen eines „Gebrannten Kind-Effekts" (Axel Bundenthal, ZDF) vorsichtiger mit der ihnen übertragenen Verantwortung für die Bewahrung von Fernsehüberlieferungen umgehen, sowie unbelehrbaren Pragmatikern hauptsächlich in den Archiven kommerzieller Sender, die einem vorrangig wirtschaftlichen Impetus folgen und die kulturellgeschichtliche Tragweite von Überlieferungsverlusten verkennen. Anderseits wiederum ist für das weite Feld der lokalen und regionalen Fernsehveranstalter mit nur geringen finanziellen Mitteln festzustellen, dass hier aufgrund geringer Ressourcenausstattung, einer nur schwach ausgeprägten Vernetzung mit anderen Sendern und Archivspezialisten sowie demzufolge fehlendem Fachwissen eine aufkommende Bewahrungshaltung oftmals im Keim erstickt wird. Dies entzieht einem wichtigen, aber durch seinen engen lokalen Fokus und die bereits verheerende Überlieferungslage gemeinhin aus dem Blickfeld der Geschichtsschreibung geratenen Teil des Fernseherbes einer angemessenen Pflege und Maßnahmen zur Langzeitsicherung, die, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, mit immensen Herausforderungen verbunden sind. 3.2.3. Maßnahmen zur

Langzeitarchivierung

Die möglichst dauerhafte Konservierung kultureller Überlieferungen ist das zentrale Problem aller Gedächtnisorganisationen, die sich der Erhaltung und Nutzbarmachung von Zeugnissen der Vergangenheit verschrieben haben. Bei der langfristigen Bewahrung von digitalen Überlieferungen wird immer mit einem unspezifischen Zeithorizont gearbeitet, der indes maximal ausgedehnt werden soll. In einem Grundlagenaufsatz über die idealen Voraussetzungen für die Bewahrung des Kulturerbes stellte der kanadische Museologe Duncan Cameron eine Reihe von Anforderungen auf, die eine vorbildliche Bewahrungsinstitution zu erfüllen habe: Die Luft innerhalb der Räumlichkeiten müsse schadstofffrei sein, weiterhin seien vollkommene Dunkelheit, eine konstante Temperatur nicht niedriger als 15 und nicht höher als 20 Grad Celsius zu gewährleisten, die relative Luftfeuchtigkeit dürfe den Bereich von 50 bis 60 Prozent weder unter- noch überschreiten, und die Gebäudestruktur müsse Schutz vor Druck- und Schallwellen bieten. Darüber hinaus sei eine Abschottung des Kulturguts vor sämtlichen Organismen - und hier müsse auch ausdrücklich der Mensch miteinbezogen werden - zu empfehlen sowie eine Gebäudelage im Hochland und mit feuersicherer Ummantelung. Ausgefeilte Notfall- und Kontrollsysteme seien dabei ebenso selbstverständlich wie ein guter Draht zum Allmächtigen (Cameron 1968: 17). So theoretisch und voraussetzungsreich Camerons mit sanguinischem Einschlag verfasste Checkliste auch sein mag, macht sie doch gleichzeitig implizit darauf aufmerksam, dass die Kulturerbe-Verwaltung ihre oberste Pflicht zur dauerhaften Sicherung historisch signifikanter und gedächtnisrelevanter Überlieferungen immer nur mit unzureichenden Mitteln nachkommen kann. Nichtsdestotrotz scheuen einige Staaten nicht den Aufwand, der mit der Gewährleistung von möglichst idealen Bedingungen für die Langzeitsicherung ihres Kulturguts einhergeht, um die kostbarsten Werke ihrer Geschichte zu schützen. So hat Deutschland im Jahre 1974 im Schwarzwald einen „Zentralen Bergungsort" eingerichtet, wo im söge-

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nannten Barbara-Stollen am Fuße des Berges Schauinsland unter der Federführung des Bundesministeriums für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe und bezeichnenderweise nicht vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien die „wichtigsten Dokumente deutscher Geschichte" (vgl. Pröse 2003; vgl. auch Menke 2009) verwahrt werden. Die Kulturgutsicherung mit einem Zeithorizont von über 500 Jahren beschränkt sich hier ausschließlich auf abfotografiertes und auf Mikrofilm transferiertes Schriftgut. Audiovisuelle Überlieferungen werden vollständig ausgeklammert.47 3.2.3.1. Im Wettlauf gegen die Zeit: Materialisiertes Zerfall und Formatwirrwarr

Fernsehen

zwischen

Während sich althergebrachte Speichermedien wie Papier oder Mikrofilm trotz gewisser Einschränkungen leicht über Hunderte von Jahren als alterungsbeständig erweisen, fordern audiovisuelle Medieninhalte die bisherigen Bewahrungsstrategien heraus, erweisen sich doch ihre Speichermedien als weitaus fragiler. Eine Langzeitsicherung, so auch der Konsens im befragten Expertenkreis, wird als schlichtweg unmöglich bezeichnet. Verwöhnt vom Speicherprimus Papier, durch seine hölzerne Grundlage für die möglichst verlustfreie Lagerung konservierbar, müssen die audiovisuellen Medienarchive spätestens dieser Tage feststellen, dass das von ihnen verwaltete Programmgedächtnis, also die Gesamtheit der verwalteten Sendungsüberlieferungen, auf einem bereits stark unterspülten Kliff gebaut ist, das zusehends abzubröckeln droht. Darunter - um bei dem nicht grundlos dramatischen Bild zu bleiben - liegt nur der Ozean des Vergessens, schließlich droht bei Deterioration des Speichermediums der Totalverlust des auf ihm festgehaltenen televisuellen Inhalts. Doch bereits Ende der 1980er Jahre wurde die Instabilität der Träger evident (vgl. auch Fisher 1993). Der Druck, eigene Strategien entwickeln zu müssen, um die bedrohlichen Herausforderungen bewältigen zu können, lastet schwer auf den teils noch verhältnismäßig jungen Kulturinstituten und nicht zuletzt den Senderarchiven, die allesamt durch das bereits diagnostizierte fehlende Verständnis für die Historizität des vermeintlich so präsentistischen Mediums Fernsehen bei der Entwicklung von Lösungsoptionen ins Hintertreffen geraten sind. Im Jahre 2005 kursierte eine Zahl, die fassungslos stimmt: Weltweit seien nach Schätzungen des internationalen Fernseharchiwerbandes FIAT/IFTA über 200 Millionen Stunden an professionell erstelltem Audio- und Videomaterial vor Vernichtung oder Unbrauchbarkeit bedroht (UNESCO/FIAT-IFTA 2005). Gesicherte Zahlen über die Gesamtzahl der gefährdeten Bestände in Fernseharchiven gibt es nicht und könnten auch nicht 47

Nach Angaben des zuständigen Archivoberrats Gerhard Fürmetz vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv gab es bislang keine Unternehmungen oder Pläne, Film- und Tonmaterial in die Sicherungsverfilmung mit einzubeziehen, da es hierfür erst seit jüngster Zeit technische Lösungen gebe. Dennoch halte er es grundsätzlich für möglich und sinnvoll, audiovisuelle Überlieferungen per Laserbelichtung auf langzeitstabilem Mikrofilm zu sichern und werde diese Möglichkeit bei den zuständigen Gremien ins Gespräch bringen (persönliche Mitteilung an den Autor vom 13. März 2009).

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

mehr als Richtwerte sein, da allein in den untersuchten Fernseharchiven keine verlässlichen Angaben darüber gemacht werden können, wie rasch den betreffenden Überlieferungsbeständen Alterungsschäden drohen. Auch die größte Bibliothek der USA kämpft gegen die Zeit: Nur fünf Prozent des vom Zerfall bedrohten Ton- und Videomaterials, so die Annahme der Verwaltung der Library of Congress, hätte mit den vorhandenen Mitteln bis zum Jahr 2015 bewahrt werden können, wenn es nicht gelungen wäre, mittels eines öffentlich-privaten Partnerschaftsabkommens das National Audiovisual Conservation Center zu errichten (vgl. Kapitel IV.2.6.2.2.) und dadurch zumindest die Hälfte aller gefährdeten Bestände für eine Langzeitsicherung zu konservieren. Das NAVCC gehört zu einigen von wenigen Einrichtungen weltweit, in der Film- und Videobandbestände gleichermaßen bei exakt abgestimmter Temperatur und Luftfeuchtigkeit bewahrt und somit vor einem vorschnellen Alterungsprozess geschützt werden können. Dass der Neubau des Archivzentrums gerade auch im Hinblick auf die europäische Archivinfrastruktur eine Ausnahme mit Signalcharakter hat, wird durch den Seltenheitswert einer neunstelligen Investitionssumme allein für Erhaltungsmaßnahmen des audiovisuellen Erbes unterstrichen, die sonst allenfalls ein zusätzliches und noch bis vor gar nicht langer Zeit ein vor allem lästiges Nebengeschäft darstellten: „We were able to design this building around our workflows" (Mike Mashon, LC). Trotz dieser wegweisenden Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen innerhalb der Fernsehprogrammbewahrung bereitet den Archivaren vor allem Sorgen, dass sie mit Speichertechnologien zurechtkommen müssen, die weder eine verlässliche Langzeitsicherung noch die Entwicklung zufriedenstellender Konzepte zur Kontrolle ihrer Fragilität zulassen. Die überwiegende Mehrzahl der Progammüberlieferungen wird auf Videobändern unterschiedlicher Formate vorgehalten. Wie lange sie sich als lesbar erweisen, können selbst erfahrene Fernseharchivare und Videoingenieure nicht sagen: Sind einzelne alte Bestände auch noch nach 50 oder 60 Jahren zu gebrauchen, gab es mancherorts bereits nach zehn Jahren Schwierigkeiten, einzelne Bänder abzuspielen. Unter den befragten Einrichtungen gilt die grobe Faustregel, dass Videobänder gleich welchen Formats nach etwa 20 Jahren in eine kritische Phase eintreten, in der nicht mehr mit Sicherheit festgestellt werden kann, ob sie weiterhin abgespielt werden können, ohne dass sie und damit der auf ihnen gespeicherte Inhalt schaden nehmen: „You cant guarantee anything, but we store our material in a temperatur and humidity controlled storage facility. Today [we] tried to transfer a %-inch tape and it didn't work, even although it was stored probably and was not older than 20 years" (Dan Einstein, UCLA). „There is the prospect of certain tragedy as we ,go to the videotape' only to find our history reduced to snow on a flickering TV screen. Whether the loss of memories exists on the scale of a single life or that of an entire nation, the loss of primary documents recorded on videotape threatens our cultural legacy" (Boyle 1993: 3). Die gravierendsten Probleme treten derzeit mit magnetischen Videobandformaten auf, die sich im Laufe der Jahrzehnte als kostengünstige und platzsparende Alternative zur Archivierung von Filmmaterial erwiesen haben. Zwar gilt Film als Speichermedium im-

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mer noch als der zuverlässigste Träger, er ist jedoch durch den hohen Materialaufwand auch erheblich kostenintensiver und benötigt im Vergleich zu Videobandformaten deutlich mehr Platz bei gleichsam erhöhten Anforderungen an die klimatische Regulierung der Archivumgebung: „Bei Filmen haben wir ja eine andere Ausgangslage, weil wir nach wie vor der Auffassung sind, und da teilen wir wohl auch die weltweite Auffassung, dass Filme von der Qualität her immer noch das beste Material sind und auch für die Langzeitsicherung, wenn man sie denn ordentlich lagert, im Moment durch nichts anderes ersetzt werden kann" (Hans-Gerhard Stülb, DRA). Wurde und wird das Gros der fiktionalen sowie für eine kommerzielle Nachverwertung vorgesehenen Fernsehproduktionen auf Film gedreht und in den Produktions- bzw. Senderunternehmen entsprechend archiviert, liegt der überwiegende Rest des Fernseherbes auf einer Vielzahl unterschiedlicher Videobandformate vor. Präventive Konservierungsmaßnahmen in Form optimierter Lagerungsbedingungen wurden - wenn überhaupt - erst spät getroffen, so dass Filmmaterial heute in Fernseharchiven im Falle von Trockenklebung leicht spröde und rissig oder im Falle von Nassklebung elastisch und damit leicht beschädigt und unbrauchbar werden kann. Letzte Rettungsversuche durch sogenanntes Recanning, bei der die alten Filmrollen aus ihren Blechbüchsen genommen, chemisch behandelt und dann in neuen Metallbehältern konserviert werden, erfordern eigens dafür eingerichtete, von Umwelteinflüssen abgeschlossene Räumlichkeiten mit SpezialVorrichtungen zur Behandlung der instabilen Materialien, die jedoch kaum ein Senderarchiv vorweisen kann. Bei Videobändern wiederum kommt es immer wieder zu Schichtablösungen, durch die das Videoband und das Abspielgerät gleichermaßen ruiniert werden können. Weitere Probleme: Demagnetisierung, Oxidation, Verschmutzung, Ausleiern, Bandsalat. Wirklich ideal sind die Archivierungsbedingungen in den meisten Sammelstellen jedoch auch heute nicht. Während in neuen Einrichtungen wie dem NAVCC bzw. modernen Anbauten wie beim UCLA Film & Television Archive penibel auf die Einhaltung klimatischer Vorkehrungen geachtet wird, müssen die meisten Senderarchive mit den ihnen seitens der Intendanz bzw. Unternehmensleitung zur Verfügung gestellten inhäusigen Räumlichkeiten Vorlieb nehmen. Zudem gibt es wiederum auch beim Umgang mit den offenkundigen Krisensymptomen beim Kampf gegen die materielle Zersetzung des Fernseherbes zwischen den einzelnen industriellen und gemeinnützigen Einrichtungen erhebliche Unterschiede: Während manche Senderarchive alles in ihrer Macht Stehende versuchen, die profitträchtigsten und am häufigsten vom Produktionsbetrieb nachgefragten Assets in ihrem Besitz zu retten, und hierfür auch keine Kosten und Mühen scheuen, verlassen sich einige der musealen Einrichtungen in Ermangelung der nötigen Ressourcen fast gänzlich auf die externen Bewahrungsanstrengungen seitens der Fernsehveranstalter. Peter Schwirkmann von der Deutschen Kinemathek gibt sich optimistisch: „Was bei uns kaputt geht, kann von uns jederzeit aus dem Archiv, das es hat, wiederbeschafft werden." Eine ähnliche Haltung vertritt Kurator Don Adams vom Sendermuseum der kanadischen CBC: „[Long term stability] doesn't matter for us, because in the case that we

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

cant use one of the VHS copies any more we go back upstairs and get a new master-copy." Das Vertrauen in die Archivkompetenzen und Bewahrungsbemühungen der endarchivischen Stellen in den Fernsehunternehmen führt zu einem dauerhaften Abhängigkeitsverhältnis, das Doug Gibbons vom Paley Center for Media für sein Museum ausschließen möchte und für jeweils eigene Bemühungen zur Langzeitsicherung plädiert. Außer dem NAVCC, dem UCLA Film & Television Archive sowie dem Paley Center for Media kann es sich jedoch kaum eine andere Einrichtung leisten, sich in ähnlichem Umfang um die Langzeitsicherung ihrer Sammlungsbestände auf Masterbändern zu kümmern. Selbst beim Museum of Broadcast Communications konnten die wertvollen Masterbänder der Kernsammlung durch die lange Zeit ungewisse Zukunft des Museumsneubaus nur unter verhältnismäßig unvorteilhaften Bedingungen im Keller des Chicagoer Kulturzentrums, der ehemaligen Heimatstätte des Museums, zwischengelagert werden. Umso drängender stellt sich die Frage, wer die Verantwortung für die Langzeitarchivierung des Fernseherbes zu tragen hat, wenn die Vielzahl kleinerer und mittelgroßer Kultur- und Forschungseinrichtungen den anspruchsvollen Bedingungen der Bewahrung audiovisueller Speicher nicht entsprechen können: „Here we are: The work of art in the world of mechanical reproduction: Walter Benjamin. What is the TV artifact? First of all there is the whole problem with formats. I am constantly reminded by our archivists that DVD is not a stable format. Videotape is not a stable format. Film is a more stable format. Does that mean that every museum should own 35-mm films of TV-shows? Its produced on that. But I don't think so. There should be only a few archives and museums that preserve things. Most of us will be using copies. That is just perfectly keeping with television as a medium" (Michele Hilmes, WCFTR). Die Kopiehaftigkeit des Fernsehens dient Michele Hilmes als Argument für die Ersetzbarkeit seiner Inhalte: Einige wenige Anlaufstellen sorgen sich um die Verfügbarkeit der Unikate und übernehmen die Verantwortung für den bedarfsgerechten Nachschub an Kopien. Tatsächlich entspricht dieses Szenario einer arbeitsökonomischen Auffassung, die davon ausgeht, dass sich nicht alle Gedächtnisorganisationen um die Bewahrung des manifesten Grundstocks des Fernsehens kümmern brauchen, sondern sich besser um die Nutzbarmachung und Vermittlung der Inhalte verdient machen sollten: „The largest museums of course can afford to have a large conservation lab, but for the vast majority, even for the large ones, the tendency is to maintain only a minimum of conservation capability inhouse and to contract out mostly" (Barry Lord, LCR). Allen voran musealen Einrichtungen ist aus dieser Perspektive anzuraten, sich auf ihre Präsentationskompetenzen zu besinnen, anstatt ihre begrenzten Ressourcen für archivische Operationen einzusetzen. Ruta Abolins (WBMA & PAC) und Archivberater Sam Kula sprechen sich auch aus Kostengründen dafür aus, Partnerschaft zwischen archivischen Spezialeinrichtungen und Museen auszuarbeiten, um Material dort zu bewahren, wo genügend Ressourcen vorhanden sind und man sich am besten damit auskennt:

IV.3. Die drei Problemfelder der

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„The preservation function is an expensive ongoing operation. It doesn't have to think about all the issues in terms of new formats and changes and constant needs to transfer the collection from one format to another. It could let someone other think about that and focus on the programming and footage it needs. It makes the life of a museum a lot easier to be able to focus on the museology aspects of its work rather than on the archival aspects which are very expensive" (Sam Kula). Auch einige nicht-museale Einrichtungen wie das PBS Senderarchiv oder das Vanderbilt Television News Archive betreiben selbst keine Langzeitsicherungen, sondern kooperieren mit der Library of Congress, die als „deep storage" fungiert: „They send us their digital files, and we tuck them away in our archive. They certainly have them there and they access them, but we essentially do the archiving. We have a lot more capacity that other people ever will to store this material" (Mike Mashon, LC). Neben ausgedehnteren Kapazitäten verfügen auf die Archivierung und Restaurierung audiovisueller Speichermedien spezialisierte Organisationen gemeinhin auch über entsprechend geschultes Personal, das alleinig mit der Pflege der Archivalien und ihre Langzeitsicherung betraut und nicht mit anderweitigen Aufgaben belastet ist. Die Auslagerung von Instandsetzungsarbeiten gehört auch für das Paley Center for Media, das seine Sammlung selbst verwaltet, zum üblichen Procedere. Das New Yorker Unternehmen VidiPax bietet als weltweit größter kommerzieller Dienstleister im Bereich der Magnetbandrestaurierung Unterstützung bei der Langzeitarchivierung audiovisueller Medien an, um deterioriertes Filmmaterial, Videobänder und sonstige Datenträger wiederherzustellen und die enthaltenen Daten zu sichern. Kunden sind neben dem Paley Center unter anderem auch alle großen US-Networks (außer CBS), das UCLA Film & Television Archive, die Library of Congress und zahlreiche weitere Museen, Kabelsender, Filmstudios und Universitäten. Der Bedarf an professioneller Hilfestellung ist höher denn je. Die Fernseharchive sind gefüllt mit einer nie zuvor gekannten Formatvielfalt. Im Gegensatz zu Deutschland befinden sich in Nordamerika zahlreiche Altlasten: Die Bestände an Zwei- und Ein-Zoll-Videobändern gehen in die Zehntausende und sind zu großen Teilen bereits überaltert, weil sie nicht rechtzeitig auf neue Speichermedien transferiert wurden. Dies ist zum einen auf die Unterentwicklung eines Bewusstseins für die spezifischen Probleme magnetischer Speichermedien sowie einem daraus resultierenden Mangel an Vorausschau in den ersten drei bis vier Jahrzehnten des regelmäßigen Fernsehprogrammbetriebs zurückzuführen, zum anderen aber auch auf eine atemlos am Puls des Produktionsalltags operierende statt mit der nötigen Übersicht agierende Archivpraxis, die in der Vergangenheit nicht immer selbständig über ihr primäres Archivmedium entscheiden konnte und sich an den jeweiligen im Sendebetrieb dominanten Formaten auszurichten hatte: „Some archives have more control, I guess, over the formats they use. But basically whatever the production environment will be, it is going to be our format. So in that sense it is what it is and then what's true for any archive is that over time that becomes an obsolete format and the ability of play it back is reduced because the machines are old" (Kathy Christensen, CNN).

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Hinzu kommt eine kompromisslose Bevormundung der Fernseharchivierung durch die industriellen Vorgaben im Hinblick auf die verfügbaren Speichertechnologien. Die audiovisuelle Geschichte aller erdenklichen Lebens- und Gesellschaftsbereiche ist genauso abhängig von der intentionalen Pflege der Bestände und der Haltbarkeit der Speichermaterialien wie von den Innovationszyklen der Elektronikindustrie, welche durch ihre konjunkturellen Prinzipien die Anstrengungen der Archive, sich auf ein einheitliches Standardformat zu verständigen, unterlaufen haben. Bis dato war es der Fernseherbe-Verwaltung nicht möglich, auch nur annähernd verlässlich abschätzen zu können, welches Speicherformat sich langfristig durchsetzen könnte. „If you've asked me fifteen years ago in 1990, the optical discs seemed to be the answer to everything. And now you can't buy one" (Ivan Harris, CBC Museum). Da auch durch profunde Marktkenntnis nicht prospektiv ermittelt werden kann, welche Speichertechnologie sich durchsetzt, sind Fehlentscheidungen bei der Formatwahl, das gesteht sich unter anderem Michael Harms (SWR) ein, vorprogrammiert. So fühlen sich Fernseharchive in einem latenten Notzustand, der sie ständig vor die Frage stellt, welche ihrer Bestände bei dem Wettrennen mit den Neuerungen der Informationstechnologie zurückgelassen werden müssen: ,,[A]11 the moving image archivists are wondering the same things: What do we do, where do we go, and how will we realize it? There is this market that pushes new technology in the direction what consumers want and you have a hard time to catch up. As an archivist that's what you end up doing: Playing catch up with what you already have" (Ruta Abolins, WBMA & PAC). Eine zufriedenstellende Lösung für das Problem der Langzeitstabilität von audiovisuellen Speichermedien liegt trotz des technischen Fortschritts auch heute noch wenn nicht außerhalb der technologischen Möglichkeiten, dann doch zu weit abseits der Strategien der Elektronikbranche, die ihren Erfolg an Quartalsergebnissen und Absatzzahlen misst, nicht aber an der Zuverlässigkeit ihrer Produkte im archivischen Sinne. Denn bei den Bewahrungsinstanzen gilt das Diktat der Ewigkeit: Nicht fünf, nicht zehn, nicht zwanzig Jahre will man sich auf die Stabilität der Informationsträger verlassen können, sondern möglichst für immer: .„Langzeit' bedeutet für die Bestandserhaltung digitaler Ressourcen nicht die Abgabe einer Garantieerklärung über fünf oder fünfzig Jahre, sondern die verantwortliche Entwicklung von Strategien, die den beständigen, vom Informationsmarkt verursachten Wandel bewältigen können" (Liegmann 2007). Das zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Fernsehkreisen dominierende Speichermedium Digi-Beta ist vielerorts seit Anfang der 1990er Jahre im Einsatz. In Archiven gibt es noch reiche Bestände der Vorgängerformate Betacam und Betacam SP. Schon jetzt sind auch bei ihnen Alterungsschäden festzustellen, die es dringlich machen, große Teile des archivierten Materials zu migrieren, also auf neue Formate zu überspielen: „The industry has gone from kinescope to 1-inch videotape to %-inch videotape to Beta SP and all the other formats that all have their specific problems. It's challenging for the archivist to migrate the astronomical high volumes of material before the original legacy tape deteriorates and you lose access to it" (Mark Quigley, UCLA).

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Zwei-Zoll-Quadruplex, Ein-Zoll-Type Α bis C, Dreiviertel-Zoll-U-matic, Betamax: Diese knappe Auswahl professioneller Bandformate lässt nur erahnen, wie häufig bereits Teile des Fernseherbes vor der Auslöschung standen, weil ein neuer, ein vermeintlich leistungsfähigerer, stabilerer und dauerhafterer Kurzzeit-Standard alle vorigen Formate in die Obsoleszenz verwies; denn nicht nur die Bandformate verschwinden aus dem Handel, sondern auch die Aufnahme- und Abspielgeräte. Während statische Inhalte wie im Fall von Texten, Fotos oder selbst extrem verkleinert auf Mikrofilm ohne maschinelle Unterstützung im Zweifelsfall auch mit „Lupe und Kerze" (vgl. Encke 2004: 48) rezipiert werden können, bedürfen dynamische audiovisuelle Inhalte immer eine technologische Abspielapparatur, um wiedergegeben zu werden. Im Jahre 1986 gab sich der britische Aufzeichnungstechniker John C. Mallinson noch pessimistisch, dass sich an dem maschinellen Dilemma bald etwas ändern werde: „The machines are the principal source of the archival problem, not the records, tapes, or the discs. And it seems unlikely that future machines will solve the problem. Indeed, it seems more likely that they will exaggerate rather than solve the problem" (Mallinson 1986: 152). Mallinsons Befürchtungen haben sich nicht nur bewahrheitet, sondern Ausmaße erreicht, welches die höchsten Wächter des Fernseherbes in Alarmbereitschaft versetzt. So türmen sich in Archiven wie dem NAVCC alte Gerätschaften bis zur Zimmerdecke. Was aussieht wie ein Museumsfundus, ist in Wahrheit ein unentbehrliches Ersatzteillager, denn die antiquierten Maschinen können nur noch von langsam aussterbenden Spezialisten repariert werden, wenn sie überhaupt noch zum Laufen gebracht werden können. ,,[W]e've been scouring the earth looking for 2-inch and 1-inch machines and we need people who know how to operate them. My hope is that we can find some retired guys who can come in and work on some of the machines teaching younger people" (Mike Mashon, LC). Die Kenntnis darüber, wie die klobigen Geräte zu bedienen (und zu reparieren) sind, ist oft der einzige Ausweg, um Sendungen aus den ersten zehn bis 15 Jahren des Fernsehens aus den 1940ern und 50ern zu erkunden, zu bewerten und gegebenenfalls auf neue Bandformate zu migrieren, um ihren Fortbestand zu sichern. Wenn einzelne Archivare über ihre Altbestände sprechen, dann lässt sich erahnen, welch auratische Wirkung von den frühen Vermächtnissen des Programmbetriebs ausgeht, die kurz davor stehen, unbrauchbar zu werden, weil niemand sie mehr abzuspielen imstande ist: „The 2-inch tapes: big cases and very heavy, the worry with those is that the men you know how to do the transfers and treat the old machines and get a useful copy out of an old tape that is deteriorating: these people are getting older, they are retiring. The long term concern is that soon there won't be anybody who can do that any more" (Margaret Compton, WBMA & PAC). So hat die Obsoleszenz das Fernseherbe fest im Würgegriff: Selbst wenn die instabilen Magnetbänder überleben sollten, lässt das die verantwortlichen Archivstellen noch lange nicht aufatmen, da die Haltbarkeitsdauer von Abspielgeräten nach der Einstellung ihrer

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Produktion durch fehlende Ersatzteile oft jener eines scheckheftgepflegten Autos weit unterschreiten (vgl. auch Holl 2010: 109-110). CBS verfügt beispielsweise nur noch über zwei Zwei-Zoll-Abspielmaschinen an der US-amerikanischen Ostküste. Archive werten es daher nur als kleinen Etappensieg im Wettlauf gegen das materielle Vergessen, wenn sie zumindest ihre Bestände an Ein-Zoll- und Zwei-Zoll-Bändern aus den 1950er und 60er-Jahren erfolgreich sichern können, indem sie die Sendungen nach und nach auf neuere Formate transferieren. Trotz aller Bemühungen bei der Suche nach einem dauerhaften Speicherstandard wird jedoch davon ausgegangen, dass die Migration die einzige Konstante im Alltag eines Fernseharchivars bleiben wird: „Ich denke, dass es den allgemeinen Standard nie geben wird. Wir gehen davon aus, dass wir weiterhin in regelmäßigen Zyklen, die leider immer kürzer werden (waren es anfangs 15 Jahre, dann 10 Jahre, so sind es heute nur noch 7 Jahre), regelmäßig auf neue Träger werden überspielen müssen" (Axel Bundenthal, ZDF). Die aufwendigen Sicherungsprojekte der Gegenwart werden oft auf mehrere Jahre angelegt und können von öffentlichen Einrichtungen ohne die nötige finanzielle Schubkraft nur partiell abgearbeitet werden: „We do what we can: A lot of the kind of formal preservation efforts that we have in television are based on the transfer of 2-inch videotape to Digi-Beta and Beta SP. [...] We don't have like a whole program to transfer everything to one particular format" (Dan Einstein, UCLA). Die Migration, so der grundsätzliche Tenor im Befragtenfeld, kann immer nur ein Zwischenschritt sein im Kampf gegen die Zeit und die Innovationsbeschleunigung, da bereits dann, wenn ein Sicherungsprojekt abgeschlossen ist, das jeweils neue Trägerformat langsam obsolet zu werden droht. 3.2.3.2. Die digitale Zukunft: Erzwungener Paradigmenwechsel

oder die Lösung aller Probleme?

Auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Hamsterrad einer unablässigen Transferierung der Archivbestände von einem Träger auf den nächsten dient sich die digitale Informationstechnik an und gewährt einen Hoffnungsschimmer auf eine Lösung im Kampf gegen Deterioration und sich rasant ablösende Formatstandards: In der Enkodierung von audiovisuellen Analogsignalen in Digitalisate, das heißt binäre Zeichenfolgen ohne physikalische Bezugsgröße, sehen die meisten Bewahrungsinstanzen die Zukunft der Archivkultur. Der Fluch der Obsoleszenz scheint im Falle leistungsstarker Computertechnologie ungleich weniger bedrohlich wie im Fall physischer, vom Zerfall bedrohter Bewahrungsinstrumente. Schon seit Anfang der 1990er Jahre sind professionelle Bandformate in Gebrauch, die digitale Signale per Magnetbandaufzeichnung speichern. Die weiteste Verbreitung in Fernseharchivkreisen erfuhr Digital Betacam, kurz Digi-Beta, der Firma Sony. Doch erst die Proliferation von computerbasierten Speicherlösungen, die als attraktive, weil viele der bisherigen Bewahrungsprobleme überwindende Alternative erscheint, stellt die Fernseherbe-Verwaltung vor die Frage, ob sie in Zukunft vollständig auf Archivierung von Videobändern und Filmmaterial verzichten soll.

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Wahrend zwischen 2004 bis 2007 in jedem der untersuchten Senderarchive im Zuge der fortschreitenden Umstellung des Sendebetriebs auf digitale Produktionstechniken eine neue Ära der entmaterialisierten Fernsehbewahrung begann, haben es nur wenige Einrichtungen gewagt, sich frühzeitig auch einer Digitalisierung ihrer bereits vorhandenen Bandbestände zuzuwenden. Eine Ausnahme bildet das Vanderbilt Television News Archive, das seinen kompletten Sammlungsumfang in einem konzertierten Kraftakt über einen Zeitraum von nur vier Jahren digitalisierte. Dass dies kein Einzelfall bleiben wird, zeigt die allgemeine Aufbruchsstimmung: Keiner der befragten Archiwerantwortlichen schließt eine Digitalisierung für die jeweils eigenen Bestände aus; vielmehr herrscht eine ausgesprochen positive Erwartungshaltung gegenüber den archivischen Möglichkeiten einer dateibasierten Verwaltung des Fernseherbes. Auch bleibt den Fernseharchiven keine Wahl: Sollten sie sich den verändernden Imperativen in der elektronischen Medienproduktion verschließen, droht ein noch viel verheerendes Ausmaß der Überlieferungsvernichtung. Nicht nur wird sich die Problematik obsoleter Trägermedien und damit das Bewahrungsdilemma weiter zuspitzen, sondern auch die Archivhoheit über die neuen Medienformen steht auf dem Spiel. Sorge und Unsicherheit macht sich vor allem am Umgang mit genuin digitalen Dokumenten fest, deren Bewahrung bisher nicht selbstverständlich im Aufgabenbereich der Senderarchive lag: „Though at the present time resource allocation and technological skills may force the handling of digital material into another department, this is a dangerous longterm strategy" (Besser 2001:47). John Koshel (NBC) bemerkt hierzu, dass der Archivbegriff von immer unterschiedlicheren Funktionsträgern innerhalb des Fernsehbetriebs für sich beansprucht wird und dadurch unbestimmter geworden sei: In einer digitalen Sendeabwicklung habe jeder einen „archive server", deshalb sei die Archiwerwaltung zum Teil in die IT-Abteilungen der Sender abgegeben worden. Dies hat, sollte es zu einer weiteren Aufspaltung von Archiv- und archiv-ähnlichen Aufgaben kommen, freilich tiefgreifende Konsequenzen für die Autorität von ausgebildeten Archivaren bei der Verwaltung des Fernseherbes nach professionellen Standards. Um weiterhin relevant zu bleiben und sich in Opposition neu erwachsener Ansprüche produktiver Einheiten bei der Zuordnung der Überlieferungsverwaltung als unentbehrliche Instanz bei der Bewahrung televisueller Werke jeglichen Aggregatzustands zu profilieren, steht die Fernseherbe-Verwaltung vor der Herausforderung, sich einer Informationstechnologie zu bedienen, deren archivische Qualitäten sich noch im Vagen befinden. Umso dringlicher wird die Frage nach einer verlässlichen Langzeitsicherung, die seit Anbruch der computergestützten Informationsverarbeitung in der Auseinandersetzung um das Für und Wider der Digitalisierung des analog gespeicherten Kulturerbes kulminiert. Die Digitalisierung von Archiv- und Sammlungsgut gilt Archivaren als unabdingbare Maßnahme, um Dokumente einerseits vor dem Verfall zu bewahren, der in manchen Fällen unausweichlich ist, andererseits um die Zugänglichkeit zu verbessern oder - beispielsweise bei besonders empfindlichen oder bereits angegriffenen Überlieferungen - überhaupt erst zu ermöglichen. Angelehnt an Enzensberger soll hier zwar

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nicht, was Manfred Osten in seinem Essay über „Das geraubte Gedächtnis" (Osten 2004) vorgezogen hat, von Apokalyptikern und Evangelikern die Rede sein, die jeweils gegenläufige, entweder äußerst ablehnende oder befürwortende Extrempositionen in dieser Frage einnehmen, sondern in pragmatischer Weise von Theoretikern und Praktikern. Die theoretische Beschäftigung mit dem kulturwissenschaftlichen Reizthema der Entmaterialisierung von historischen Überlieferungsschätzen wird zumal in Europa noch immer geprägt von einer Dominanz der Schrift, durch die sich der Archivbegriff „am Fluchtpunkt von alphabetischen Texten und papierenen Formaten orientiert" (Ernst 2002:132). Dass sich mit der digitalen Enkodierung von analogen Materialien ein Konsistenzwandel der Gedächtnisspeicher und damit auch der von Aleida Assmann postulierten Erinnerungsräume (vgl. Assmann 1999: 411) vollzieht, kann als unbestritten gelten. Elektronische Speicherinhalte sind unantastbar: Was zuvor als Konglomerat verschiedener Kulturtechniken mit allen Sinnen erfahrbar war, ist nunmehr ein bloßer Code, bestehend aus zwei Ziffern: der Null und der Eins. Die Erstellung eines materiellen Bildträgers erfordert dagegen verschiedene Materialien: Magnetbänder, Plastik, Silicium usf.; als fertiges Produkt lässt er sich greifen, abspielen, verstauen. Das Digitalisat ist nur mehr ein temporäres Leuchten von Transistoren auf dem Bildschirm: the „flat, cold, glassy glare of a computer screen" (O'Sullivan 2005: 70). Dass es sich also bei der anstehenden Digitalisierung des Fernseherbes um mehr handelt als eine leichte Anpassung der Bewahrungssysteme, kann mit Blick auf die dramatische Debatte in der Kulturwissenschaft um die Konsequenzen des digitalen Fortschritts für die zukünftige Basis des gesellschaflichten Erinnerns unterstrichen werden, haben die Gedächtnisorganisationen des Fernsehens doch mit ihren eigenen Prinzipien zu kämpfen, ist ihr Archivobjekt doch das televisuelle Artefakt: das Film und Band gewordene flüchtige Fernsehsignal, das mittels seiner Zerlegung in den digitalen Code nun wieder ebenso immatriell zu werden verspricht bzw. droht wie während seiner Ausstrahlung. Das Fernsehen selbst entbehrt als ätherisches Medium jeder Materialität. Trotzdem hat sich zu seinen Gunsten eine Bewahrungskultur herausgebildet, die sich an den Prinzipien der Schriftguterhaltung orientiert: Das Fernsehprogramm ist im Archiv als solches nicht mehr existent, sondern erfährt eine rigide Zerlegung in seine einzelnen Bestandteile, die als Kassetten wiederum passgerecht in die Regalordnung eingepflegt werden. Die Archive stehen nun mit ihren gewachsenen Präservationskonventionen vor der Entscheidung, ob sie mit ihren bewährten Methoden und Arbeitsprinzipien auch entmaterialisierten Überlieferungen habhaft werden können oder ob sie angesichts des vor ihnen liegenden Digitalisierungsvolumens und der Verfasstheit digitaler Speicher gänzlich andere Maßstäbe an die Archivierung anlegen müssen. So steht ein gesamter Verwaltungsapparat, dem die dauerhafte Sicherung des Fernseherbes obliegt, vor einem Paradigmenwechsel, der in seinen Konsequenzen noch nicht überblickt werden kann: „Apart from examining the skills required of the moving image archivist to deal with the new infrastructure of digital technology, however, we must also examine the economic, political, cultural, and philosophical ramifications of building the digital ar-

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chive. With our current emphasis on the artifact, the moving image archive field has invested heavily in materiality and in concepts of evidential value: originality and authorial intent, authenticity, fixity of the object (and information contained within it), and the aesthetics of the format itself. Our activities, particularly preservation and restoration, reflect these biases. Much of our presupposed framework will be rethought in the digital era" (Gracy 2008, vii). Nichts ist für den kulturellen Fundus gefährlicher, das hat die Genese der FernseherbeVerwaltung gezeigt, wenn das Archiv nicht weiß, wie es dem Medienwandel zugleich folgen und doch auch trotzen soll. Wie nie zuvor sehen sich Bewahrungsstellen in die Verantwortung genommen, technisch auf der Höhe der Zeit zu bleiben, doch gleichzeitig nicht ihren Charakter als verlässlichen Ruhepol im medialen Innovationssturm zu verlieren und für Kontinuität in der Kulturgutsicherung einzutreten, die zu gewährleisten jedoch bei grassierender Unsicherheit ob der Archivqualitäten der zur Verfügung stehenden Speichertechnologien immer schwerer wird. Dies mag auch mancherorts die Zurückhaltung bzw. Kapitulation vor der Menge der für die Digitalisierung in Frage kommenden Überlieferungen erklären: Allein im Nachrichtenarchiv von CBS müssten zwei Millionen Videokassetten und fast 17.000 Kilometer an Filmmaterial enkodiert werden, um die digitale Wende vollständig zu erwirken. Trotz weiter fallender Preise für Speicherlösungen im Privatkonsumentenbereich wird die Digitalisierungseuphorie im professionellen Archivsektor also primär von horrenden Kosten gebremst, die mit einer rückwirkenden Digitalisierung der Archivbestände verbunden sind: „Man sollte sehen, dass es sich dabei um kein billiges Verfahren handelt, dass die Speicher aufwendig sind, der Administration bedürfen und man Sicherheitsvorkehrungen treffen muss, denn ein Roboter kann genauso abbrennen oder durch einen Wasserrohrbruch beschädigt werden wie ein klassisches Regallager. Oder durch gravierende Softwarefehler können Daten schwer reproduzierbar bzw. falsch abgespeichert werden. Nein, wir sind in der Aufbauphase, und zu euphorische Vorstellungen scheinen mir da noch verfrüht" (Axel Bundenthal, ZDF). Ein gewisses „Hinterherhinken" (Hans-Gerhard Stülb, DRA) resultiert zudem aus dem Misstrauen gegenüber den Heilsversprechen der Digitalwirtschaft, nun endlich die Lösung für alle analogen Kapazitäts- und Haltbarkeitsprobleme gefunden zu haben: Noch kann keiner der befragten Archivfachleute klar benennen, worin bei der Digitalisierung der tatsächliche Nutzen für die Langzeitsicherung von Programmmaterial liegt. Daher gehen einige Einrichtungen wie das Paley Center for Media bedächtig vor und wollen sich nicht sofort von ihren bisherigen Archivprinzipien lösen. Was von Doug Gibbons als Übergangsphase beschrieben wird, die in erster Linie dem großen Umfang des Digitalisierungsaufkommens geschuldet sei und ein Nebeneinander von analogen und digitalen Systemen zur Folge habe, ist damit auch Ausdruck des wackeligen Spagats über der konzeptionellen Kluft zwischen analogen und digitalen Bewahrungsstrategien, in dem sich die Fernsehbewahrung derzeit wähnt. Die parallele Aufrechterhaltung analoger Archivbemühungen zur gleichzeitigen Erkundung digitaler Möglichkeiten zur Langzeitsi-

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cherung macht die Archivtätigkeit keineswegs leichter, sondern hat zu einer erheblichen Steigerung des Arbeitspensums geführt. Jedoch lassen sich Selektionsentscheidungen, welche Altbestände enkodiert werden sollen, nur bedingt aufschieben. Vielmehr sind hierbei Bewertungskonflikte an der Tagesordnung. Hat sich in Institutionen wie dem UCLA Film & Television Archive oder dem Medienarchiv der Universität von Georgia die Auffassung durchgesetzt, dass allen voran vom Zerfall bedrohte Bänder digitalisiert werden müssen, um weiterhin für eine möglichst umfassende Sicherung der Bestände einzutreten, wird andernorts mit Blick auf den qualitativen Nutzen der Sammlung allein nach inhaltlichen Gesichtspunkten entschieden: „First we had the priority that the most endangered programs should be digitized first. These decisions were made at the very beginning and abandoned very quickly because we realized that endangered programs are not necessarily quality programs. Like I said: It's not about to have the oldest collection, but about having the most accessible and educational one" (Daniel Berger, MBC). In den Senderarchiven wiederum entscheidet fast ausschließlich der Bedarf seitens des Produktionsbetriebs darüber, welche Sendungen einer Digitalisierung zugeführt werden, wie unter anderem John Koshel (NBC) und Laurie Friedman (Fox News) schildern. Das NBC News Archive folgt auch bei der Digitalisierung seiner Bestände einem sogenannten „Hierarchical Storage Management"-System: Zuvorderst werden all diejenigen Bänder digitalisiert, die am dringendsten in der Sendeabwicklung benötigt werden und die höchsten Archivkosten vor Ort im Sendezentrum im Rockefeller Plaza in Manhattan verursachen. Es folgen die circa 1,8 Millionen Bänder umfassenden Bestände, die außerhalb der Stadt, aber in greifbarer Nähe jenseits des Hudson Rivers archiviert sind. Zuletzt sollen die am seltensten benötigten Bestände (etwa 600.000 Bänder) digitalisiert werden, die weiter entfernt in einer günstig zu betreibenden, aber schwerer zugänglichen Archivumgebung in Pennsylvania eingelagert wurden. „The real driver behind the digitization efforts here - though there are several - are the production needs", sagt Koshel. Im Programmarchiv von Fox News wird es nach Aussage von Friedman aus demselben Grund möglicherweise dauerhaft Bestände geben, die aufgrund der ausbleibenden Nachfrage seitens des Sendebetriebs nicht digitalisiert werden: „We don t go backwards, we just gonna use what we need and digitize it as we need it. So it is possible that some assets wont be digitized at all." Die daraus erwachsene Gefahr einer „stillen Löschung", wie Heiko Kröger (NDR) die Vernachlässigung von überalterten Beständen bezeichnet, betrifft angesichts der umfangreichen Altbestände in den Archiven der Fernsehveranstalter wesentliche Bereiche des Fernseherbes. Trotzdem wird das Fernziel einer umfassenden Digitalisierung der Bestände propagiert, auch um auf Dauer mit der technischen Entwicklung Schritt halten zu können. Archivberater Sam Kula geht daher auch davon aus, dass spätestens im Jahre 2016 der gesamte Fernsehbetrieb Nordamerikas einschließlich der Archive digital senden, aufnehmen und archivieren wird. Mit dem Digitalisierungstrend gehen hochgesteckte Ziele und Hoffnungen einher, die wie folgt zusammengefasst werden können:

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- Universelle und dauerhafte Nutzbarkeit durch einheitliche Datenstruktur - Internationale Standardisierung und Angleichung der Bewahrungsstrategien - Kompressionslose Archivierung in bester Bild- und Tonqualität durch wachsende Speicherkapazitäten - Verlustfreie und automatisierte Migration der audiovisuellen Inhalte - Optimierte Sicherheit durch dezentrale Speicherlösungen Erscheinen Verlustängste ob der aufregend neuen und vor allem großen, das heißt kapazitätsreichen Speicherwelt auf den ersten Blick abwegig, stellen sich die altbekannten Problemfragen der analogen Ära nach wie vor: Wie lassen sich digitale Massenspeicher möglichst lange betreiben, und können Dateiformate für audiovisuelle Medieninhalte auch morgen noch abgespielt werden? Kurzum: Wie lässt sich gewährleisten, „to stave off the twin evils of bit rot and technological obsolescence" (Lavoie 2008)? Die Krux liegt weiterhin in erster Linie in dem keinesfalls trivialen Problem der Verhinderung einer massenhaften Unbrauchbarkeit audiovisueller Archivalien (vgl. Besser 1999). Auch digitale Formate versprechen hierbei keine Sicherheit: „When you take care of acetate film and take it out a hundred years later, you don't have a problem with it. But when you store something digitally, you might have a corrupt file after two or three months" (Mark Quigley, UCLA). Grundsätzlich gilt: Je kompakter und leistungsfähiger ein Speichermedium ist, desto größer ist auch seine Anfälligkeit für Beschädigungen. „All archivists are waiting for the big digital fallout where there is some big loss of digital information", beschreibt Ruta Abolins (WBMA & PAC) die Ängste nicht nur im audiovisuellen Archivsektor. Wurden CDRoms oder DVDs anfangs noch als ernsthafte Archivierungsoption mit der Aussicht auf über 150 Jahre lange Stabilität eingestuft, hat sich schnell auch in der digitalen Domäne bewahrheitet, was für alle Träger audiovisueller Inhalte bis hin zu Servern, also zentralen Computeranlagen, gilt: Ihre Lebensdauer ist äußerst beschränkt und wird durch allerlei Störfaktoren aus der Umwelt in Mitleidenschaft gezogen (vgl. auch Besser 2001: 51). Die Digitalisierung entlastet die Gedächtnisorganisationen also keineswegs finanziell: Vielmehr sind regelmäßige Erneuerungen des Maschinenparks zur digitalen Datenverwaltung mit „riesigen Investitionssummen" (Hans Hauptstock, WDR) verbunden, auch weil wegen des Ausfallsrisikos einzelner Speichervorrichtungen auf komplexe Sicherungssysteme gesetzt werden muss. Ein noch viel offensichtlicheres Problem besteht in der Lesbarkeit von Digitalisaten, die zu einer bestimmten Zeit in dem jeweils leistungsfähigsten bzw. für die Archivierung am geeignetsten Format gespeichert werden. Die Flut an Videodateiformaten - die Internet-Datenbank „FileInfo.net" listete Mitte 2010 über 225 verschiedene (FileInfo.net 2010) - macht die Herausbildung von Standards auch hier nahezu unmöglich. Während physische Trägerformate zumindest bis zu zehn Jahre oder länger am Markt bestehen können und somit eine gewisse Planbarkeit der Migrationsanstrengungen großer Überlieferungsbestände zulassen, wird bei Dateiformaten von einer Obsoleszenzfrequenz von

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etwa zwei bis drei Jahren ausgegangen: Alle Welt digitalisiert und speichert virtuell, ohne sich darüber im Klaren zu sein, ob es sich dabei um eine zuverlässige und darüber hinaus auch nachhaltige Speicherform handelt. „Viele Probleme tauchen dadurch erst auf. Oder müssen in einer höheren Frequenz beantwortet und gelöst werden. Digital Betacam haben wir ab 1994/95 hier eingeführt und ist auch dort, wo wir noch bandbasiert arbeiten, noch Standard. Kaum ein File-Format wird diese Zeit so überdauern. Insofern sind bestimmte Fragen, was Abwärtskompatibilität, was möglicherweise Überführung alter Bestände in die neuen File-Formate angeht, da wird sich die Frequenz eher verkürzen eine Zeitlang, so dass wir es mit unterschiedlichen Standards zu tun haben, was natürlich Probleme mit sich bringt. Die Schwierigkeit, Systeme miteinander zu koppeln, wird komplexer, die Schwierigkeiten, die in der Interoperabilität auftreten, etc. etc." (Olaf Moschner, RTL). Außerdem gibt es für die an Relevanz gewinnenden multimedialen oder gar interaktiven Inhalte des Internet-Fernsehens noch keine Formatkonzepte, die nicht zu einer unverhältnismäßigen Reduktion auf die statische Momentaufnahme eines dynamischen Prozesses und damit zu einer inhaltlichen wie ästhetischen Verkümmerung führen würden. Die unbeeinträchtigte Abbildung von digitalen Applikationen erfordert sowohl plattformübergreifende als auch mit zeitlicher Perspektive verlässliche offene Softwaretechnologien, welche eine archivisch standardisierte Verarbeitung trotz oftmals untereinander inkompatibler Insellösungen ermöglichen. Erschwert wird die archivische Langzeitsicherung von genuin digitalen Inhalten aus dem Netz durch das Fehlen eines multimedialen Standards, der „alle medialen Formen digitaler Objekte beschreibt" (Coy 2006:39). Noch wird jede Medienform separat in unterschiedlichen Formatstandards gespeichert: „Was ist da als Objekt zu definieren? Die Website, das einzelne Dokument oder die integrierten Elemente? Das ist äußerst schwierig. Das Gesetz zur Nationalbibliothek ist auch etwas verdeckt, also heimlich verabschiedet worden, ohne dass man mit den eigentlichen Content-Produzierenden gesprochen hat. Wir beschäftigen uns mit dem Problem, ohne aber bisher eine vollkommen schlüssige Lösung dafür zu haben" (Axel Bundenthal, ZDF). Die Digitalisierung des Fernseherbes ist also mit Hürden verbunden, die in ihrer Zahl und Höhe noch kaum zu überblicken sind und den tatsächlichen Nutzen digitaler Technologie für die Langzeitsicherung in Frage stellt. Dass jedoch die noch zu leistende Entwicklungsarbeit zu einer gütigen Lösung für die Bewahrungsprobleme der Fernseharchive führen kann, ist an der übergreifenden Entwicklung der Kulturgutverwaltung abzulesen: Anders als bei der Auseinandersetzung mit den Innovationszyklen analoger Bandformate, für die sich allein die audiovisuelle Medienindustrie interessierte, sind im Falle der Digitalisierungsprobleme sämtliche Archive auf allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ebenen betroffen. Ob Regierungen, Banken, Verbände oder nicht zuletzt die Verlagswirtschaft: Sie alle sind angewiesen auf zuverlässige digitale Speicherlösungen und Verwaltungssysteme. So könnte sich der Konflikt zwischen Elektronikindustrie und

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der Archivgemeinde nach Einschätzung von Hans-Gerhard Stülb schon bald in Wohlgefallen auflösen, weil weltweit in allen Medien- und Dokumentationssektoren behände nach zukunftsfähigen Modellen für die Datensicherung gesucht wird: „Die ganze Entwicklung in der Welt geht dahin, dass Material digitalisiert und gespeichert werden muss. Das heißt: Es werden überall große Speichermengen gebraucht. Darauf hat sich die Industrie eingestellt und entwickelt auch in diese Richtung. Insofern bin ich da ganz zuversichtlich dass wir irgendwann auch die Technologie zur Verfügung haben, die wir brauchen. Da müssen wir uns als Archive, glaube ich, keine Sorgen machen" (Hans-Gerhard Stülb, DRA). Die grundsätzlichen Bedenken von Vertretern der Kulturwissenschaft sind indes noch lange nicht ausgeräumt und werden den Digitalisierungsdrang wohl weiterhin mit der Warnung einer neuen Krise der Speicher begleiten: Was den hinsichtlich der Ferseherbeverwaltung häufig fachfremden Theoretikern Sorge bereitet, ist die neue Qualität, die sie dem Vergessensbegriffs mit dem Eintritt in die digitale Ära bescheinigen. Wenn bisher vom ,Verwahrensvergesserf (vgl. Kapitel II.2.8.4.) die Rede war, sei diese harmlose Form der Unzugänglichkeit im Sinne eines Aus-dem-Sinn-Geratens im digitalen Zeitalter nicht mehr das Hauptproblem: Bei digitalen Dokumenten gehe es um Alles - um die Existenz der ausgelagerten Gedächtnisinhalte an sich, ohne die Erinnerungen nicht möglich sind, weil mit ihnen auch die Anlässe schwinden. Die Vorstellung eines nicht rückgängig zu machenden Verlustes von Informationen gilt den Zweiflern des digitalen Fortschritts als „der ,horror digitalis' eines kollektiven Wissensschwunds" (Osten 2004: 81). Ein Gedächtnis-GAU ist nach Ansicht von Kritikern wie des Kulturhistorikers Manfred Osten jederzeit möglich, wenn beim digitalen Dupliziervorgang „schon das Umschlagen eines einzelnen Bits (von Null nach Eins oder von Eins nach Null)" zur Unbrauchbarkeit des Datensatzes führe (ebd.: 83). Dieser Einwand ist in der theoretischen Diskussion zwar angebracht, doch bezogen auf die Praxis ist ein solches Risiko ebenso gering einzuschätzen wie ein Kurzschluss im Archiv, der einen Brand auslöst und die Bestände gefährdet, oder - sinngemäß eines menschlich versursachten manuellen Enkodierfehlers - wie der versehentliche Wegwurf oder der Diebstahl eines physischen Unikats. Gleichwohl gibt es zweifellos noch zu wenige Erkenntnisse über die Fallstricke und Nebenwirkung der digitalen Langzeitarchivierung, die noch in ihren Kinderschuhen steckt. Auch unter Fernseharchivaren hat sich daher die Angst vor dem Totalverlust verbreitet: Steve Bryant (BFI) fasst das oftmals grundsätzliche Misstrauen gegenüber den Tücken einer jeden neuen Technologien in Worte: „We are responsible for the preservation, so we hesitate because we simply don't know whether we should trust newer forms of archiving." Die landläufige Auffassung jedoch, dass bereits mit einer Entmaterialisierung von Information ein spurloses Löschen der Daten ermöglicht werde, entspringt einem unzureichenden Spur-BegrifF: Spuren sind nicht an die physische Dinghaftigkeit gebunden, sondern sind vielmehr bloße Hinweise, mit deren Hilfe eine Interpretation der Vergangenheit ermöglicht wird - mit allen Unwägbarkeiten wie die angewandte Lesart, kontextuale Umstände und die jeweilige Ausprägung der Spur (vgl. Holtorf 2007:

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344). Die Digitalisierung suggeriert zwar, dass „alles Körperliche in eine Datenstruktur transformierbar sei, insofern das Binäralphabet sich als ,Atom' einer universellen Zeichensprache erweist, in der das Gegebene entweder ,anschreibbar' oder - wie im Falle der Erbinformation - immer schon angeschrieben ist. [...] Dematerialisierung, Derealisierung, Entkörperung, Informatisierung, Virtualisierung, Simulationseuphorie - das sind nur unterschiedliche Ausdrücke für die Tendenz, die Zeichen von aller Verbindung mit dem Nichtzeichenhaften freizusetzen und damit die Zeichennatur der Welt absolut zu setzen. Damit aber verschwinden die Dinge" (Krämer 2007: 12 - Hervorh. im Orig.). Doch Digitalisaten von vornherein die Möglichkeit abzusprechen, eine Spur zu hinterlassen, greift zu weit: Die Hypothese einer Löschung durch bloßen Programmbefehl ist nicht ohne weiteres haltbar. Das Vergessen auf Knopfdruck ist (noch) nicht möglich: Auch das Virtuelle hinterlässt Spuren, die rekonstruiert werden können. Eine Berliner Computerfirma ersteigerte im Jahre 2007 Festplatten sowie mobile Datenspeicher wie u.a. USB-Sticks in Deutschland und den USA und unternahm den Versuch, die ehemals darauf gespeicherten, aber vor dem Verkauf in den meisten Fällen gelöschten Daten wiederherzustellen. Dies gelang bei 67 Prozent der Geräte (Kehrer 2007). Die Ineffektivität eines einfachen Löschvorgangs liegt in der bloßen Löschung der Dateiverweise im Inhaltsverzeichnis des Datenträgers. Selbst ein vollständiges Überschreiben des Datenträgers stellt für Spezialisten keine Hürden dar: Die Inhalte können auch in solchen Fällen üblicherweise ausgelesen werden. Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder sehen daher nur im mehrmaligen Überschreiben oder der physikalischen Zerstörung des Datenträgers durch magnetische, mechanische oder thermische Einwirkung eine potenzielle Rekonstruktionsfähigkeit als verhindert an (Reinke 2004). Doch selbst Schäden durch Brände, Stürze oder Wasserkontakt müssen nicht in jedem Fall zum Datenverlust führen (vgl. Uehlecke 2005). Die Arbeit der Rekonstruktionsspezialisten unterscheidet sich dabei im Prinzip nicht von der klassischen Archäologie, wenn man einem Mitarbeiter des Brandenburger Innenministeriums Glauben schenkt, der im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" zitiert wird: „Schicht für Schicht kann ich mit Filterprogrammen die alten Daten herauspräparieren - auch wenn eine Festplatte 20-mal überschrieben worden ist" (Schmundt 2003). Der erhebliche Aufwand, der für eine tatsächliche Zerstörung von digitalen Daten aufgewandt werden muss, übertrifft damit in seinen Anforderungen jenen Aufwand um ein Vielfaches, der nötig ist, um beispielsweise papierene Dokumente - spurlos - zu zerstören. Bedenken sind dennoch angebracht, da die Rekonstruktion gelöschter oder beschädigter audiovisueller Daten durch ihre Komplexität ungleich aufwendiger ist als jene von Text. Digitale Aufzeichnungen mögen fragil sein, doch gibt es bereits Systemlösungen, die sich auch die Fernseherbe-Verwaltung zunutze macht, um Schadensfälle auszuschließen. „Diese digitalen Daten kann man nur bewahren, wenn man sie dauernd in Bewegung hält. Das ist wie mit dem Jongleur mit seinen Tellern: Wenn er aufhört zu jonglieren, fällt ein Teller runter", beschreibt Peter Schwirkmann (DK) die Anforderungen an die digitale Massenspeicherung, als deren größter Vorteil gilt, Daten ohne menschliches

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Zutun und verlustfrei zu migrieren. Dass zunehmend auf automatisierte Archivlösungen gesetzt wird, bereitet einigen befragten Experten Kopfzerbrechen: ,,[Y]ou better have the original asset and you got to take care of it while enjoying the new technology" (Doug Gibbons, PCM). Auch wenn sich zur Digitalisierung langfristig keine Alternativen anbieten: Materielle Sicherungskopien in Form von separat gepflegten Masterbändern werden nach Gibbons Ansicht weiterhin notwendig bleiben, um sich nicht vollständig dem unsicheren Wagnis der Digitalisierung zu verschreiben. Axel Bundenthal (ZDF) stimmt zu: „Man kann diesem Problem meines Erachtens nach nur durch regelmäßiges Umkopieren auf die jeweilig aktuellen Software- und Formatversionen begegnen, wie wir es betreiben. [...] Im Augenblick sind z.B. alle Bestände, die wir im digitalen Archiv haben, auch noch auf einem klassischen Träger parallel vorhanden. Künftig werden wir auch Files stets wieder in die jeweils aktuellen Formate umwandeln müssen, um den archivierten Bestand dauerhaft zu erhalten" (Axel Bundenthal, ZDF). Dieses Vorgehen wird angesichts des Aufwands nicht überall für notwendig erachtet: Wie Mardiros Tavit (ProSiebenSat. 1) und Susanne Betzel (RTL) erklären, soll das einmal digitalisierte Sendematerial in ihrer Zuständigkeit in Zukunft nur noch in Dateiform bewahrt werden. Die Ausspielung von Dateien auf physische Träger kann tatsächlich hinsichtlich der wachsenden Menge des digital produzierten Archivguts auf Dauer keine Lösung sein. Die einfache wie verlustfreie Transferier- und Duplizierbarkeit digitaler Inhalte rückt vielmehr eine dezentrale Archivierungsvariante in den Fokus, die Schutz bieten könnte vor unvorhersehbaren Katastrophenfällen wie beim Großbrand in den Anlagen der kalifornischen Universal Studios im Juni 2008, der über 40.000 Videobänder und Filmrollen zerstörte (vgl. Cieply 2008). Wenngleich die Unternehmensleitung beschwichtigte, es habe sich dabei nur um Kopien gehandelt und es seien keine Unikate verloren gegangen, erinnern solche Vorfälle doch an die Zerstörung der antiken Bibliothek von Alexandria. Zwar sind solche Schreckensmeldungen selten, doch kommt es immer wieder vor, dass Fernsehmaterial durch Unglücke beschädigt oder zerstört wird wie auch beim ZDF, bei dem eine verirrte Silvesterrakete im Berliner Hauptstadtstudio zum Jahreswechsel 2003/2004 nach Aussage von Archivleiter Axel Bundenthal zwar nur die Archivräume beschädigte, nicht aber Material vernichtete. Jedoch war viereinhalb Jahre zuvor im Sommer 1999 im damaligen ZDF-Landesstudio Berlin durch Brandstiftung erheblicher Schaden angerichtet worden: „Eines Nachts ist dort ein Brand ausgebrochen, und Bestände sind teilweise vernichtet bzw. durch die Löschbemühungen stark beschädigt worden. Das ZDF ist aber versichert und hat nahezu alle Bestände an Sendematerial wieder rekonstruieren lassen können. Wir haben sogar noch eine verschmorte Kassette zur Erinnerung, die fast wie ein Kunstobjekt wirkt. Die Kassetten wurden aufbereitet, gereinigt und überspielt. Nur ein kleinerer Bestand ging unwiederbringlich verloren. [...] Wir sind versichert gegen bestimmte Schäden, aber natürlich - wenn man das vom ursprünglichen Gesamtproduktionswert ausgeht - nicht in Milliardenhöhe" (Axel Bundenthal, ZDF).

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Durch das Internet bietet sich der institutionellen Archivierung von digitalen Fernsehwerken die Chance, mit der Etablierung verteilter Speicher nicht nur einen wirksamen Schutz vor lokalen Störfällen zu erzielen, wie sie Archive, Bibliotheken und Museen immer wieder ereilen und das verwaltete kulturelle Erbe bedrohen,48 sondern auch die Vertiefung von Kooperationen und der engmaschigen Vernetzung zwischen kompetenten Partnerorganisationen voranzutreiben. Das Internet Archive macht vor, wie die Zukunft eines neuen Archivparadigmas aussehen könnte, wenn es konsequent unter dem Vorzeichen der Digitalität weitergedacht wird: Die Pionierinitiative zur digitalen Web-Archivierung speichert ihre gesammelten Daten an ihrem Hauptquartier in San Francisco sowie an weiteren Serverstandorten in Europa und Ägypten, um mittels Duplikaten das Verlustrisiko zu minimieren: „If there's one lesson we can take from the (destruction of the original) Library of Alexandria, it s don't have just one copy", wird der Gründer Brewster Kahle in der Fachpresse zitiert (Chen 2006: 42). Kahle legt ein besonderes Augenmerk auf Kooperation und Dezentralisierung bei der Langzeitsicherung von Digitalisaten, die nicht einem einheitlichen Archivformat unterworfen, sondern in ihrer ursprünglichen Form archiviert werden. Diesbezüglich ist Aleida Assmanns Charakterisierung des Internets als „Speichergedächtnis ohne Speicher" (Assmann 2004b: 56), die das World Wide Web als Reißwolf im Kostüm eines Tresors versteht, überholt: Mittels der Auslagerung von Datenmaterial auf verschiedene ServerStandorte und dem Bau eines strategischen Speicher-Netzwerkes können Gedächtnisinstitutionen die Internet-Technologien für die Schaffung eines digitalen Tiefenspeichers nutzen, der durch seine dezentrale Struktur höchstmögliche Sicherheit gegen Datenverlust ermöglicht, gesetzt den Fall, es handelt sich um archivisch zertifizierte Lösungen, die unbefugten Zugriff und Missbrauch der Daten verhindern sowie nach Maßstäben der Langzeitsicherung operieren.49 Auch für Fernsehveranstalter wird die dezentrale Archivierung mittels digitaler Speicher- und Netzwerktechnologien erschwinglich und attraktiv: „Wir fahren unsere Bänder nach wie vor über die Autobahn zwischen den Standorten hin und her. Je mehr das digital gestützt ist, desto weniger wird das vorkommen und irgendwann ist es weg. Aber die letzten zehn Jahre waren eindeutig von diesem Verkehr über die Autobahn mit dem sogenannten Suppenwagen, wie das bei uns heißt, geprägt" (Michael Harms, SWR). Für Korrespondentenbüros gehört es ohnehin schon länger zum geregelten Betriebsablauf, Fernsehbeiträge über digitale Breitbandleitungen an das Sendezentrum zu übermit-

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So brach Anfang März 2009 das Kölner Stadtarchiv aufgrund von Fehlern bei Untergrundarbeiten an einer U-Bahn überraschend in sich zusammen. Bei dem Unglück wurde ein Großteil der unersetzbaren Schriftüberlieferungen, die zum „sozial- und wirtschaftsgeschichtlich bedeutendste [n] Bestand der Bundesrepublik an mittelalterlichen Dokumenten" (Müller 2009) gehören und teils zurückreichen bis zum Jahr 922, unwiederbringlich zerstört. Zur Entwicklung internationaler Zertifizierungsstandards für vertrauenswürdige digitale Archive vgl. nestor Arbeitsgruppe Vertrauenswürdige Archive - Zertifizierung 2006.

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teln: Die vollautomatische Datenübertragung erleichtert nicht nur den Betriebsablauf bei der Nachrichtenproduktion, sondern ist auch eine vielversprechende Perspektive für die Archiwerwaltung. Die Konzeptualisierung einer dezentralen Archivstruktur ist erstmals auch finanziell umsetzbar, sofern ihre Vorteile denn erkannt werden; schließlich kann die reibungslose Übertragung von Archivinhalten über das Internet auch dazu verleiten, auf zusätzliche Standorte zu verzichten, um digitale Kopien vorzuhalten: „Also wenn wir vom Digi-Band weggehen und mit Files arbeiten, da ist es ja dem File egal, ob es in Bangalore in Indien liegt oder in München oder Berlin auf dem Server oder auf einer Disk liegt. Wir haben einmal das File, und das können wir hin und herschieben" (Mardiros Tavit, ProSiebenSat. 1). Die Digitaltechnologie und das Internet allein sind also keineswegs für eine womögliche Speicherkrise verantwortlich, sondern die daraus folgenden Handlungsimplikationen für die Archivpraxis. Eine weitere interessante und konstruktive Gegenargumentation zur Herleitung einer Gedächtniskrise durch den Konsistenzwandel der Speicherformen und die Karriere des Internets vertritt die australische Medienwissenschaftlerin Belinda Barnet: Anknüpfend an Derrida, der dem Menschen ein urtümliches Begehren nach der Bewahrung seiner Überlieferungen unterstellt (vgl. Derrida 1997: 161), versteht sie das weltumspannende Netzwerk als Paradebeispiel eines distributiven Archivs, dadurch dass es ursprünglich als gemeinsam gespeiste und genutzte Ressource für Wissenschaftler und Ingenieure intendiert war (Barnet 2001: 225). Barnet sieht nicht allein die rasante Weiterentwicklung von Kommunikationstechnologien als maßgebliche Triebfeder des Internets an, sondern das zugrundegelegte Verständnis von Kommunikation als Auslagerung von Denkmodellen und einen damit zusammenhängenden globalen „archive drive" (ebd.: 231). Mit anderen Worten: Das Internet wurde erst möglich durch die Motivation, Wissen mithilfe eines dezentralisierten Speichers miteinander zu teilen und zu erhalten (vgl. Kapitel IV.3.3.2.). Auch Barnet stellt die Vermutung an, es gebe schwerwiegende Erkenntnisdefizite in der zeitgenössischen Internet-Nutzung, indem der Rezipient mehr Wissen abgrase als die tatsächliche Tiefe der Wissensbestände zu registrieren (Barnet 2001: 217). Doch führe die Virtualisierung der Gedächtnisinhalte durch die potenziell mögliche Partizipation von jedermann innerhalb des weltumspannenden Netzwerks dazu, dass persönliche Erinnerungen zu Knotenpunkten innerhalb des Netzes des kulturellen Gedächtnisses werden lässt (ebd.: 222). Osten wertet das Copy-and-paste-Prinzip der Informationszirkulation im Netz als fruchtbaren gedächtnisrelevanten Habitus: „Eine Langzeit-Überlebensfähigkeit von Memorabilien könnte daher zumindest potenziell durch eine globale Ubiquität digitaler Informations-Klone gesichert werden. Das heißt, die jeweilige Information müsste durch ihr digitales .mirroring', durch .Spiegeln weltweit geographisch verteilt werden" (Osten 2004: 88). Bei der verbreiteten Angewohnheit, mediale Inhalte kurzerhand von einer InternetSeite herunterzuladen und auf anderen Seiten wie beispielsweise Diskussionsforen wieder zu veröffentlichen, handelt es sich zweifellos um Urheberrechtsverstöße. Dennoch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass das Prinzip des dezentralen Spiegeins von Speiche-

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rinhalten die Verlustgefahr des einzelnen Digitalisats vermindert. Dies entspricht auch der Alltagserfahrung, dass einmal im Netz veröffentlichte Inhalte schnell Verbreitung finden und sodann nicht mehr oder kaum noch durch einfache Löschung aus der Welt zu schaffen sind, weil nicht mehr nachvollzogen werden kann, wer sie heruntergeladen und an anderer Stelle im Netzwerk gespeichert hat. Gedächtnisinhalte werden damit zu Nomaden, die nur durch ständige Migrationsmaßnahmen in Bewegung bleiben, sich in steter Ruhelosigkeit befinden und ihren Speicherort wechseln bzw. sich an immer mehr Orten gleichzeitig ansiedeln (vgl. auch Hoffmann 2006). Dieses letztlich unkontrollierbare Phänomen entbindet die verantwortlichen Bewahrungsstellen jedoch nicht davon, in gemeinsamer Anstrengung verlässliche Wege für die langfristige digitale Sicherung zu finden, auch um rechtliche Problematiken aus dem Weg zu räumen. 3.2.4. „Spread the Burden": Kooperative Lösungsansätze für eine ungewisse

Zukunft

Das unüberwindbare Dilemma der Fernsehbewahrung einer auf Basis der bisherigen abwechslungsreichen Entwicklungsgeschichte elektronischer Technologien zu erwartenden Kurzlebigkeit technischer Standards macht es erforderlich, eine plattformübergreifende Kontinuität in der Speicherung von Digitalisaten und deren Stabilität zu gewährleisten. Angesichts des hohen Kostenaufwands für bandbasierte Migrationsprojekte drängt die Zeit, digitale Lösungen zu entwickeln, die nachhaltige Positiveffekte in der Langzeitsicherung von Fernsehprogramm-Material nach sich ziehen. Um gegenüber unsteten Marktströmungen erhaben und stets in der Lage zu sein, verlässliche Pflege sowie eine unproblematische Nutzung des verwalteten Kulturerbes sicher zu stellen, führt kein Weg an stärker kooperativ ausgerichteten Bewahrungsstrategien vorbei, auch um nicht ins Hintertreffen bei der Adaptierung von digitalen Speicherformaten zu geraten. „We want to spread the word, the knowledge and share what we have to the extent we can": Was Chuck Howell (LAB) als übergreifendes Ziel seiner Einrichtung beschreibt, trifft den Kern einer neuen Selbstauffassung der Fernseherbe-Verwaltung, die im Zuge des Digitalisierungstrends weite Verbreitung findet und auch vor den unter kommerziellen Vorzeichen handelnden Akteuren nicht Halt macht. Vermeintliche Wettbewerber werden dadurch zu Verbündeten im Kampf gegen die Konvulsionen der digitalen Sphäre. Auch wenn sich der Austausch größtenteils (noch) auf persönliche Kontakte auf Verbandsebene beschränkt, bei der sich Archiwertreter gegenseitig über vielversprechende oder misslungene Sicherungsstrategien informieren, kann es sich in Zukunft kein Archiv mehr leisten, auf die Erfahrungswerte der jeweils anderen zu verzichten und beispielsweise formattechnische Alleingänge zu unternehmen - zu bitter waren die bisherigen Erfahrungen durch die sich später als Fehler entpuppte Festlegung auf ein Speicherformat, das sich nicht durchsetzen konnte, und zu hoch die dadurch entstehenden Kosten. Dass die televisuelle Archivgemeinde ob der neuen Herausforderungen näher zusammenrückt, kommt vor allem kleineren und gemeinnützigen Archiven zugute, die auf die Bündelung von Kräften angewiesen sind und von der allgemeinen Einsicht profitieren, dass Wissens- und Technologietransfers ebenso wie gemeinsame Projekte für alle Betei-

IV.3. Die drei Problemfelder der

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ligten in einer digitalen Infrastruktur Vorteile bringen; denn selbst der schwächste Partner kann etwas beisteuern: Je mehr (institutionelle) Akteure sich auf die Nutzung einer Technologie verständigen, desto größer sind die Chancen auf eine effektivere Erprobung derselben sowie die Minderung des sonst so verlustreichen Versuch-und-Irrtum-EfFekts, desto wahrscheinlicher wird die Ausbildung eines Standards. Dreh- und Angelpunkt solcher Kooperationen bleibt jedoch die Finanzierung: „It would be helpful to share information about practices and technology and storage and where the industry is going, where digital formats are going [...], but it always comes down to funding", erklärt Daniel Berger (MBC), auch mit Blick auf das mögliche Einspringen größerer Institutionen für die Sicherung bedrohten Materials in Einrichtungen, die sich eine ordnungsgemäße Archivierung nicht leisten können - „to spread the burden with a broad cooperation", auch auf internationaler Ebene. Nach Ansicht mehrerer befragter Experten sollten Archiveinrichtungen in Deutschland und Nordamerika ungeachtet ihrer kommerziellen oder gemeinnützigen Ausrichtung zumindest partiell Verantwortung für bedrohte fremdländische FernsehprogrammÜberlieferungen übernehmen. Wie Barry Lord (LCR) erklärt, sei es in weiten Teilen Asiens und auf dem afrikanischen Kontinent versäumt worden, Verbände oder anderweitige Organisationen aufzubauen, um das dortige Kulturerbe auf kooperativer Ebene besser schützen zu können. Eine weitere Gefährdung stellt laut Lynne Teather (UT) die fehlende Spendenbereitschaft dar. Besonders Afrika ist den Befragten ein Dorn im Auge: „You could work with other organizations in concert on a world-basis to try to preserve the damaged heritage of countries that are in constant danger. Think about the archival work in Africa! In terms of audiovisual archives there is literally nothing in Africa at all! There is a little bit in Simbabwe at some time, but that was a British guy and he might been kicked out by now. There is a whole continent that is like a desert in terms of that audiovisual archives are concerned" (Sam Kula). Henry Jenkins (MIT) sieht vor allem die großen Fernsehmuseen in der Pflicht, sich stärker nicht nur um die Sammlung ausländischer Fernsehsendungen zu kümmern, sondern sich auch für die Bewahrung vor Ort einzusetzen, sollte dieser Teil des globalen Fernseherbes bedroht sein. Gerlinde Waz von der Deutschen Kinemathek und Dietmar Preißler vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland halten dies zwar für ehrbar, aber aus Kostengründen für kaum durchsetzbar und stimmen damit Berger zu, der in einer internationalen Allianz von Bewahrungsinstitutionen die einzige Möglichkeit sieht, eine tragfähige Basis für ein solches Anliegen zu konstruieren. Dennoch unterstreicht Peter Paul Kubitz (DK) die Notwendigkeit einer dahin gerichteten Initiative und sieht in einer Engagierung supranationaler Organisationen wie der UNESCO gute Chancen für die Realisierung: „Ich glaube, man müsste das dann mit der UNESCO in irgendeiner Weise verbinden. Da bin ich in ersten Gesprächen mit der deutschen UNESCO-Kommission, in der auch Senderleute sitzen. Das ist ja nicht völlig neues Land. Die UNO hat ja in allen möglichen Bereichen das Etikett Welterbe vergeben: Hier ist es ein Gletscher, da eine

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung Wüste oder eine historische Altstadt. Das gilt im Grunde genommen für bestimmte audiovisuelle Bereiche ebenso. Es geht dabei nicht nur um .Memory of the World', sondern es geht auch darum, das Verschwinden von Programmen zu verhindern, von denen man nicht weiß, was sie in zwanzig, dreißig, vierzig Jahren bedeuten werden - wo der Verlust vermutlich gar nicht spürbar ist, weil man um ihn gar nicht weiß" (Peter Paul Kubitz, DK).

Von Senderseite hingegen wird in Einzelfällen bereits seit längerem Entwicklungshilfe geleistet, die über die internationalen Fernseharchiwerbände FIAT/IFTA und AMLA koordiniert wird. Vorrangig sind es Vertreter öffentlicher bzw. öffentlich-rechtlicher Senderarchive, die sich in der Verantwortung wähnen, über den nationalen Tellerrand hinauszublicken und Entwicklungshilfe zu leisten. So berichtet Michael Harms (SWR) von einem Kollegen, der mit Unterstützung des Senders Dienstreisen unternimmt, um vor malaysischem Archivpersonal Vorträge zu halten und auch in anderen Entwicklungsund Schwellenländern gezielt Schulungen zu veranstalten, u m das Programmmaterial der jeweiligen Fernsehveranstalter erhalten zu helfen. Auch Geoffrey Hopkinson (CBC) erkennt für sich eine Aufgabe darin, in bestimmten Erdregionen, wo Defizite bei der Fernsehbewahrung festzustellen sind, für ein ausgebildeteres Archivbewusstsein zu werben und die nötigen Kenntnisse zu vermitteln: „I was asked to go to the Bahamas to look at their archives and make recommendations for preservation and moving forward. My counterpart in Montreal just came back earlier this year from Algiers to look at their archives. This is part of our former vice president of English television who retired and installed a need for public broadcasters to help third world countries in terms of their television preservation, production, whatever. We've started to go on with that. [... ] What I really would like to do is, once I have finished my preservation, to look at others and perhaps work with them. There are very few 2-inch machines left in the world, so maybe we can preserve somebody else's collection of 2-inch, then we would start looking at that - for example on the Bahamas" (Geoffrey Hopkinson, CBC). Dass hier nicht, zumindest nicht ausschließlich, nach Maßstäben der Profitabilität entschieden werden sollte, beispielsweise durch die teilweise Übereignung von Nutzungsrechten an den Hilfesteller als Gegenleistung, sondern vielmehr der Schutz einer wertvollen Ressource, die ebenso wie in den USA, Kanada oder Deutschland in den betreffenden Staaten signifikanten Einfluss auf die Entwicklung von Erinnerungskulturen hat, findet widerspruchslose Zustimmung im Expertenfeld. Eines der zentralen Erkenntnisse aus den Transitionsströmungen innerhalb der von analogen zu digitalen Bewahrungsstrategien wechselnden Archivarbeit ist, dass das perspektivische Ziel einer allgemeinen Stärkung des televisuellen Archivsektors im Konzert der vielgestaltigen Akteursebenen der Medienindustrie langfristigen - auch geldwerten Nutzen verspricht. Nicht mehr allein der Archivar ist mit der Verwaltung digitaler Fernsehinhalte betraut, sondern integriert Sachkenntnisse, Ideen und Bedarfsanmeldungen auch aus verschiedenen anderen Bereichen in seine Bewahrungsstrategien: „Preservation

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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of digital content must be a collaborative effort that involves the professional archivist, the technology expert, the user, and the creating and producing entity" (Ide/MacCarn/ Shepard/Weisse 2002: 98). Gemeinsame Anstrengungen zahlen sich aus, wie Initiativen wie das US-amerikanische Kollaborationsprogramm „Preserving Digital Public Television" zwischen den öffentlichen Sendeanstalten WGBH, Thirteen/WNET, dem Network PBS und der New York University belegen: Die im Herbst 2003 formierte Initiative akquirierte in gemeinsamer Anstrengung Fördermittel in Millionenhöhe und leistete mit dem Ziel, Szenarien für die Langzeitarchivierung digitaler Fernsehproduktionen zu entwickeln, Grundlagenarbeit in Bezug auf neu erwachsene technische Probleme, Selektions- und Bewertungsfragen sowie Erschließungsmethoden. Die erarbeiteten Best Practice-Modelle sind ein substanzieller Beitrag in der Entwicklung von Präservationsstrategien im gesamten Feld der Fernseherbe-Verwaltung. Aus dem Projekt heraus entstand zudem die Initiative „The American Archive", mit dem die Archivbestände öffentlicher Rundfunkanstalten in den USA einheitlich digital erschlossen und für eine breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen (vgl. auch Kapitel IV.3.3.2.). Mit dem nationalen Förderprogramm sind hohe Erwartungen an die Kooperationsbereitschaft vorwiegend kleinerer lokaler Fernsehstationen verbunden, denen, wie bereits ausgeführt, ein zum Teil unterentwickeltes Archivbewusstsein attestiert wird, doch die erst durch ihre breite Streuung zu einem Erfolg des Projekts beitragen würden: „WGBH and Thirteen create 60 percent of the national programming seen on public television, but the American Archive has to include small stations as well as independent and minority producers in both television and radio. [...] I consider it a really important to represent those community producers. And they're not going to be brought to the table unless they have advocates. It's not just Great Performances and Nova that need to be preserved; it includes all these other parts of public broadcasting - local stations, independent and small producers, who represent the heart of our rich collective program sources" (zitiert nach Anonym 2008b). Über solche bereits fruchtenden Kooperationsbemühungen hinaus, welche die Fernsehbewahrung nach langer Zeit des Einzelkämpfertums zu einer Lobby zusammenwachsen lässt, die ihren Ansprüche und Bedarfsanmeldungen gegenüber der Politik und der Elektronikindustrie nun (etwas) mehr Geltung verschaffen kann, bietet sich jedoch außerdem die seltene Gelegenheit, Brücken zwischen den bislang strikt getrennten Agenturen der Kulturerbe-Verwaltung zu bauen und allen voran die Institutionen der Schriftgutarchivierung mit jenen audiovisueller Überlieferungen zusammen zu bringen, um gemeinsam an Lösungen für die digitale Zukunft zu arbeiten. Archive, Bibliotheken, Museen, Forschungsdisziplinen und sämtliche massenmedialen Wirtschaftssektoren, einschließlich der Literaturbranche, folgen gleichermaßen dem Ruf des Internets und müssen ergo auch bei der Überlieferungsbildung mit den digitalen Imperativen zurechtkommen. Dennoch beklagen Vertreter von Fernseharchiven mangelnde Gesprächsbereitschaft seitens der übrigen Gemeinschaft von Institutionen,

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

die sich der Bewahrung kultureller Überlieferungen verschrieben haben. In Deutschland forscht zum Beispiel das Institutionsnetzwerk „Nestor" („Network of Expertise in longterm STOrage and availability of digital Resources in Germany") mit Hochdruck über Möglichkeiten der Langzeitarchivierung digitaler Ressourcen. Projektpartner sind unter anderem die Deutsche Nationalbibliothek, das Bundesarchiv sowie einige Universitätsbibliotheken und das Berliner Institut für Museumsforschung. Die Bewegtbildarchivierung rückt durch die fokussierten Expertisen der beteiligten Institute zwangsläufig in den Hintergrund bzw. wird fast vollständig ausgeklammert, was als wesentliches Manko der Initiative angesehen wird: „Ich glaube, so etwas wie Nestor wäre eine Initiative gewesen, die das mehr hätte zusammenbringen können. [... ] Doch da habe ich den Eindruck, dass es nicht richtig gewollt ist. [...] Der Verband Fachgruppe 7 wäre sicherlich nicht in der Lage, solch eine Initiative schon aus zeitlichen Gründen hinzubekommen. Ich könnte mir vorstellen, dass es den anderen Gruppen genauso geht. Aber wenn man schon den Anspruch hat, solch eine Initiative zu machen wie Langzeitdigitalisierungssicherung weltweit oder europaweit, dann müsste man sämtliche relevanten Verbände an den Tisch holen. Das sehe ich als Versäumnis. Als Beispiel lässt sich sagen, dass in ein Tagungsprogramm wie das der Konferenz in Frankfurt die Situation des Fernsehens zumindest unter einem Aspekt beleuchtet wird" (Hans-Gerhard Stülb, DRA). Bei der von Stülb erwähnten Konferenz handelte es sich um eine im Zuge der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands im April 2007 vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien gemeinsam mit der Deutschen Nationalbibliothek und Nestor veranstalteten Europäischen Konferenz zur digitalen Langzeitarchivierung, auf der die Probleme der Überlieferung kultureller Dokumente in einer digitalen Infrastruktur diskutiert wurden (vgl. auch Jehn 2007). Mit Ausnahme einiger Randbemerkungen über hohe Speicheranforderungen bei der Archivierung von Radio- und Fernsehprogramm-Überlieferungen seitens der Referentin Birte Christensen-Dalsgaard von der dänischen Staatsbibliothek wurden weder Vertreter von Fernseharchiven noch von Filmarchiven als Referenten eingeladen oder die Strategien und Problemfelder ihrer Tätigkeitsbereiche diskutiert. Demungeachtet konstatierte Elizabeth Niggemann, Leiterin der Deutschen Nationalbibliothek, auf der Konferenz, dass eine Bündelung von Anstrengungen die einzige Möglichkeit sei, auf effektive Weise dem rasanten technologischen Wandel begegnen zu können: „Weil es in der dynamischen und flüchtigen Welt der Netzpublikationen so schwer ist, Kulturgut zu erhalten, ist die Entwicklung von Verfahren und Methoden der Langzeitarchivierung so sehr auf Kooperation angewiesen, national wie international" (Niggemann 2007: 5). Eine stärkere Verzahnung zwischen den kulturbewahrenden Stellen unterschiedlicher Mediengattungen erscheint jedoch immer noch utopisch. An einem gemeinsamen Strang zu ziehen, da digitale Inhalte gleich welcher medialen Form dieselben Vorteile und Probleme aufweisen, ist gerade auch im Hinblick auf die Erfassung von multimedialen Netzpublikationen ein Kooperieren von Schriftgut- und AV-Experten unabdinglich (vgl. auch Hans-Bredow-Institut 2008: 302). Dazu braucht es jedoch nicht nur gemeinsame Ziele:

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

227

Auch gegenseitiger Respekt für die kulturelle Wertigkeit der jeweiligen Überlieferungsbereiche ist eine Grundvoraussetzung für gelingende Kollaborationen (vgl. auch Besser 2007: 223). Dieser aber hat sich offenbar noch nicht ausreichend entwickeln können. Fernseharchive verfügen über kostbare Erfahrungswerte, die auch der übrigen Archivlandschaft zugute kommen können. Auch wenn vor der Fernseharchivierung selbst noch viel Entwicklungsarbeit liegt, um tragende Konzepte für die digitale Bewahrung von Bewegtbildinhalten zu entwickeln, ist sie, das Gesamtfeld der Kulturgutsicherung betreffend, dennoch die Einäugige unter den Blinden, weil die Deteriorationsanfälligkeit von elektronischen Aufzeichnungen Präservationskonventionen wie beispielsweise die kontinuierliche Migration von elektronischen Überlieferungen anstieß, die unter anderem in der Langzeitsicherung von Schriftgut bisher völlig unbekannt waren. Dass die mit der Digitalisierung verbundenen Herausforderungen nun diese Stellen besonders hart und unvorbereitet trifft (vgl. auch LeFurgy 2005: 164), liefert umso mehr Gründe für die Annäherung zwischen den vormals strikt voneinander getrennten Überlieferungsbereichen. Kleine Verbandsgruppen wie die Fachgruppe 7 der Medienarchivare und -dokumentäre im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare können zu Orientierungsgebern bzw. Think Tanks avancieren, die mit ihren Praxiserfahrungen auch mit übergeordneter Zielrichtung Probleme der digitalen Kulturgutpflege von gestern, heute und morgen erörtern und Lösungsmöglichkeiten vermitteln. So lange jedoch kein Mechanismus für die Verknüpfung der unterschiedlichen Archivbereiche unter dem Vorzeichen der Digitalität existiert, werden die notwendigen Kooperationsansätze von der Einsicht einzelner Akteure abhängen, dass der fortschreitende Medienwandel auch die Archive zwingt, ihre gattungsspezifischen Zugehörigkeiten zu überdenken und sich den Konvergenzbewegungen zu öffnen, um ihre Bestände nachhaltig zu bewahren und gleichzeitig zukünftige technologische Spielarten erfassen zu können. 3.2.5.

Schlussfolgerungen

Das Fernsehen erscheint wie eine offene Wunde einer Mediengesellschaft, die erst spät den Reichtum ihrer televisuell geprägten Entwicklungsgeschichte erkannt und schätzen gelernt hat. Bruchstück- und lückenhaft mutet der Überlieferungsbestand der Programmhistorie an wie eine verschwommene Erinnerung an den ursprünglichen Sendezusammenhang, der sich in den meisten Fällen kaum noch rekonstruieren lässt. Zweifelsohne hat das Fernsehen es seinen Veranstaltern nicht leicht gemacht, ein Bewusstsein für seine Historizität und die Notwendigkeit für Bewahrungs- und Pflegemaßnahmen auszubilden: In seinem verführerischen Präsentismus, der singulären Linearität seines Sendeverlaufs, erschien es kaum greifbar, auch weil Zeit und Geld fehlten, sich neben der Bespielung immer neuer Programmplätze noch um ihre Aufbewahrung zu kümmern. Zunächst einem plätschernden Bach gleichend, sich aber bald in eine Vielzahl reißender Ströme verwandelnd, überflutete der unbändige Programmfluss nicht nur seine Rezipienten, sondern auch diejenigen, die für ihn verantwortlich zeichneten. Erst spät wurden Maßnahmen ergriffen, dem gedächtnislosen Handeln der Fernsehindustrie Einhalt zu

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

gebieten. Mittlerweile fahren schon lange keine metaphorischen Löschzüge mehr durch die Archive, die wichtige Zeugnisse der Fernsehgeschichte ausradierten und auf Dauer dem Vergessen überantworteten. Dennoch hat sich, wie gezeigt, die Situation nur zum Teil entspannt und ist nur scheinbar einem emsigen, vom kommerziellen Ansporn getriebenen Bewahrungseifer gewichen. Die Fernseherbe-Verwaltung hat auch heute noch Schwierigkeiten, dem ihr überantworteten Medium habhaft zu werden und die dauerhafte Sicherung seiner Werke zu garantieren. Zusammenfassend lassen sich folgende Problembereiche bei der Bewahrung von Fernsehprogramm-Überlieferungen identifizieren: - Die von Anbeginn des Fernsehbetriebs von den Veranstaltern in Nordamerika und Deutschland wahrgenommene endarchivische Kompetenz hatte neben signifikanten Überlieferungsverlusten auch nachwirkende Konsequenzen für die Basis-Voraussetzungen bei der Pflege des Fernsehprogrammerbes: Die eigenverantwortliche Wahrnehmung der Bewahrungsanstrengungen hat zu einer stark uneinheitlichen Verwendung von Speichertechnologien geführt. Die divergierenden Formatentscheidungen, die aufgrund einer fehlenden Abstimmung innerhalb der Fernsehwirtschaft von jedem Sender und Produktionsunternehmen separat getroffen wurden, hatte auch zur Folge, dass sich die Fernseherbe-Verwaltung nicht zu einer einflussreichen Lobby entwickeln konnte, die mit einhelliger Stimme und einem konformen Sicherungskonzept ihre Interessen gegenüber der Elektronikindustrie durchzusetzen imstande war und ist: „As we've seen it with libraries and to a lesser extent with archives: If you get international agreement on a standard, than you'll have vendors who will sell you the kind of servers and software you need for that. But they won't make it if there is only one institution that have that set of requirements. So if a number of museums have the same set of requirements, there's a big enough market for a vendor to actually come in and provide it" (Howard Besser, NYU). So haben sämtliche Archive und Sammelstellen auch heute noch mit der Verkürzung von Innovationszyklen in der Formatentwicklung zu kämpfen und haben ihre Schwierigkeiten, mit dem Fortschritt, der sich am Bedarf anderer Wirtschaftsbereiche orientiert, mitzuhalten. Die erforderliche Arrangierung mit den Marktkonjunkturen in der Speicherentwicklung ist ein zentrales Hemmnis der Eternisierungsbemühungen von Bewahrungsstellen und vergrößert das die Fernseherbe-Verwaltung umtreibende Dilemma, sich aufgrund ihres eigentlich ätherischen Überlieferungsgegenstandes nicht aus der maschinellen Abhängigkeit lösen zu können. - An der Rollenverteilung zwischen der Fernsehwirtschaft und den öffentlichen Einrichtungen bei der Erhaltung von Fernsehüberlieferungen hat sich im Grundsatz nichts geändert: Sender und Produktionsgesellschaften behaupten ihre endarchivische Kompetenz und haben sich erfolgreich gegen Versuche der Einflussnahme bei der Verwaltung ihrer Archiwermögen gewehrt. Riskant ist dabei vor allem, dass aufgrund geschäftlicher Überlegungen unter dem Zeichen der Kosteneffizienz Bestandsbereinigungen vorgenommen werden, bei denen regelmäßig Duplikate aussortiert werden.

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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Öffentliche Einrichtungen müssen sich wohl oder übel auf die Verlässlichkeit der Archivierungsmaßnahmen seitens der Fernsehindustrie verlassen, da in Nordamerika und Deutschland keinerlei Kontrollmöglichkeiten oder Sanktionierungsmechanismen implementiert wurden, um beispielsweise im Falle einer Kassation von Überlieferungen sicherzustellen, dass das Material vor seiner Zerstörung einer unabhängigen Sammeleinrichtung angeboten wird, um über ihren historischen Wert für die allgemeine Öffentlichkeit zu entscheiden. Solange in Ermangelung infrastruktureller Vorkehrungen nicht geklärt werden kann, wo welche Bestände in welchem Umfang bedroht oder bereits beschädigt worden sind, ist das Fehlen einer solchen Abgabepflicht und die Selbstverwaltung singulärer Bewahrungsorte kritisch zu beurteilen. - Die Flüchtigkeit des elektronischen Fernsehsignals und des daraus erwachsenen fundamentalen Problems seiner erschwerten Handhabbarkeit im Bewahrungskontext verlangt nicht nur einen erhöhten Ressourcenaufwand, sondern auch eine angemessene Sensibilität für die technischen Fallgruben bei der Pflege und dem Umgang mit Programmüberlieferungen. Damals wie heute, wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen, ist die in ausreichendem Maße erfolgende Einhaltung beider Bedingungen anzuzweifeln. Weder konnte das grundsätzliche Problem der Ressourcenknappheit in den Archiven zufriedenstellend gelöst werden, noch lässt der Termindruck der Sendeabwicklung nur in Ausnahmefällen eine vorsichtige Nutzung des Überlieferungsmaterials zu, das häufig immer noch primär als Produktionsgegenstand und nicht als schützenswertes Gut gilt. So konnte die bestehende Kluft zwischen ahistorischer Utilisierung durch archivfremdes Personal auf der einen und das eigenmächtige Handeln einzelner Fernsehakteure, die ihre als wertvoll erachteten Werke (ob Sendungen oder Requisiten) oder die schriftliche Dokumentation ihres Handelns nicht den Unwägbarkeiten eines Produktionsarchivs überantworten möchten, auf der anderen Seite nicht gänzlich geschlossen werden. - Während den Fernsehveranstaltern ein eher defensives Vorgehen in Fragen der Aufklärung und Eruierung von Überlieferungsverlusten attestiert werden kann, erfüllten bisher vornehmlich öffentliche Gedächtnisorganisationen diese Aufgabe. Die von Pragmatismus und Imagepflege gekennzeichnete Archivarbeit bei den Sendern verbietet offensichtlich eine öffentliche Adressierung der Problematik sowie das Eingeständnis von Versäumnissen. So hilflos bzw. eingeschränkt gemeinnützige Einrichtungen durch ihre Mittelknappheit bei der Langzeitsicherung von Fernsehprogramm-Material auch sein mögen, zeigt sich am Beispiel der „Lost Programs'-Kampagne des Paley Center for Media sowie der Vorgängerinitiative des British Film Institute, welche breite Aufmerksamkeit das Engagement öffentlicher Einrichtungen generieren und wesentlich zur Erschließung bereits verloren geglaubter Überlieferungen beitragen kann. Die Einbeziehung aller Öffentlichkeitsbereiche in die Suche nach Zeugnissen der Fernsehgeschichte, die immer auch Zeugnisse der Gesellschaftsgeschichte sind, ist in seiner Bedeutung für die kulturelle Anerkennung des Mediums als Erinnerungsgenerator und seine zukünftige Erhaltung nicht hoch genug einzuschätzen. Hier besteht vor allem in

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Deutschland erheblicher Nachholbedarf, der insbesondere zurückzuführen ist auf die im internationalen Vergleich extrem verspätete Institutionalisierung einer televisuellen Gedächtnisorganisation. - Von dem Paradigmenwechsel in der Fernseherbe-Verwaltung, der sich durch die um sich greifende Digitalisierung ankündigt, gehen große Chancen, aber auch Gefahren für das Fernseherbes aus, nicht etwa wegen des sich wandelnden Aggregatzustandes der Archivalien an sich, sondern wegen der in Kostenhöhe, technischen Anforderungen und Haltbarkeit unvorhersehbaren Konsequenzen. So sehr die archive und Museen im digitalen Code Antworten auf die hohe Obsoleszenzfrequenz von Bandformaten suchen, kann nicht zuverlässig bestimmt werden, welche Risiken mit der Umstellung der Speicherung auf Dateiformate langfristig drohen. Bereits heute ist jedoch absehbar, dass die erhofften Erleichterungen bei der automatischen Migration der Programmüberlieferungen noch Jahre auf sich warten lassen werden. Ob am Ende der langen Transitionsphase, die in vielen Einrichtungen durch eine parallele Bestandsverwaltung in analogen und digitalen Content Management Systemen die Arbeitspensen erheblich erhöht hat, eine vorteilhaftere, den Anforderungen der Audiovision besser entsprechende Sicherungslösung stehen wird, bleibt abzuwarten. Bisher hat sich das Heilsversprechen der Digitalisierung aus bewahrungstechnischen Gesichtspunkten zumindest noch nicht bewahrheitet, da sich der Um- bzw. Aufbau der erforderlichen Archivstruktur als um einiges komplizierter und materialaufwendiger entpuppt hat als vielerorts erwartet. Vor allem kleine, kapitalschwache Einrichtungen geraten dabei leicht ins Hintertreffen, doch auch große Senderarchive sind nicht vor Fehlentscheidungen bei den Digitalisierungsstrategien ihres Materials gefeit, so dass erneut Verluste drohen, weil sich alte Fehler unter dem Vorzeichen wirtschaftlicher Zwänge wiederholen könnten. - Ebenfalls nicht überschaubar sind die mit der Digitalisierung auftretenden ethischen Probleme bei der Sicherung der inhaltlichen Integrität der Überlieferungen. Auch wenn eine unwiderrufliche Löschung von Digitalisaten nicht ohne Weiteres möglich ist, kann ihr Inhalt doch durch den zugrundeliegenden alphanumerischen Code unmerklich verändert werden. Nicht nur die Umwandlung von Dateistrukturen bei der wiederholten Migration digitaler Daten könnte automatisch zu einer Verfälschung des originären Inhalts führen, sondern es steigt auch das Risiko, Eingriffen Tür und Tor zu öffnen. Ein digital gespeichertes Dokument lässt sich, sofern es nicht entsprechend schreibgeschützt gesichert wurde, beliebig ändern, ohne dass sich dieser Vorgang am Inhalt des Dokumentes nachvollziehen ließe: keine Radierungen, Streichungen, Schnittoder Klebespuren oder sonstige Hinweise auf eine Bearbeitung finden sich in geschickt manipulierten elektronischen Überlieferungen. Ein solches Manipulationsrisiko ging indes - in unterschiedlichen Abstufungen und bei entsprechendem Geschick des Fälschers - stets mit jeder Mediengattung einher. Dass fernsehhistorische Zeugnisse im Schutzraum des Archivs von Fälschern manipuliert werden könnten, mag ein unwahrscheinliches Szenario sein, doch die hypothetische Gefahr, im Falle der Manipulation digitalisierter Unikate nicht mehr zwischen Original und Fälschung unterscheiden zu

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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können, wirft die Frage auf, ob sich die Fernseherbe-Verwaltung tendenziell schuldig macht, durch die womöglich bald umfassende Digitalisierung aller audiovisuellen, schriftlichen und fotografischen Fernsehüberlieferungen Missbrauch zu erleichtern. Auf diese Weise könnte im Schadensfall das ohnehin suggestive Fernsehbild, das so effektiv als Erinnerungsanlass und -ersatz fungiert (vgl. Kapitel III.6.3.), zum gefährlichen Instrument der Geschichtsfälschung werden und in seiner audiovisuellen Erscheinung zu technologisch herbeigeführten Erinnerungsmutationen führen. - Das sprichwörtliche Ziehen an einem Strang hat sich innerhalb der Fernseherbe-Verwaltung als sinnvolle Strategie bei der Entwicklung und Bewältigung von Lösungen für digitale Bewahrungssysteme erwiesen. Kooperative Modelle jedoch stecken insgesamt noch in den Kinderschuhen und beschränken sich zum erheblichen Teil auf persönliche Kontakte unter den einzelnen Archivaren und Sammlungsleitern, die sich auf Verbandstagungen austauschen, aber eine institutionelle Zusammenarbeit auf Archivebene aufgrund des unternehmerischen Wettbewerbsverhältnisses zwischen den Fernsehveranstaltern ausschließen. Gravierender ist jedoch, dass angesichts der grundlegenden Umwälzungen durch die Digitalisierung, die sämtliche dokumentarischen Aufgabenbereiche gleich welchen Sektors betrifft, die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Dokumentationsbereichen offenbar so erheblich gestört ist, dass Lösungsansätze über Fragen der digitalen Langzeitsicherung des kulturellen Erbes nicht gemeinsam diskutiert werden. So erörtern die Hüter des Papiers und jene der Audiovision ihre jeweiligen Problemstellungen weitgehend unter sich, ohne aber in notwendigem Maße crossmedial grundsätzliche Modelle für die ohnehin zunehmend miteinander verschmelzenden Mediengattungen zu entwickeln. Von wem der Impuls für eine Annäherung ausgehen muss, ist dabei nachrangig: Gemessen an der hohen Wertigkeit des Fernseherbes für die kulturelle Identitätspflege ist die diagnostizierte Zurückhaltung der Kulturerbe-Verwaltung bei der medienunabhängigen Kooperation zur Bewahrung und strategischen Entwicklung neuer Langzeitsicherungssysteme ein unverständliches und fatales Versäumnis. So halten sich Chancen und Risiken der digitalen Langzeitarchivierung die Waage und erfordern ein ausbalanciertes Vorgehen bei der Erhaltung des Fernseherbes. Der physische Zugang zum Archivmaterial wird zugunsten einer erleichterten Verwaltung und Verfügbarkeit vom virtuellen abgelöst, indem oftmals in erster Linie besonders vom Zerfall bedrohte, unersetzliche Überlieferungen in Form digitaler Surrogate verfügbar gemacht werden. Mit der fortschreitenden Entwicklung von Präservationslösungen für die Verwaltung und Verarbeitung von digitalisierten Überlieferungen liegen die Vorteile in der erweiterten orts- und zeitunabhängigen Zugänglichkeit des Archiv- und Sammlungsgutes, in vereinfachten und beschleunigten Navigations- und Findmöglichkeiten sowie der Kumulation von verschiedenen Dokumentenarten in einer virtuellen Datenbankumgebung. Dies hat auch weitreichende Implikationen für die Zugänglichkeit des Überlieferungsmaterials zur Folge: „Archive können so interaktiv aus der Benutzung neu generiert werden, gleich der Warburgschen Magazinstruktur, die nach Vorgaben der

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Nützlichkeit entstand und nicht nach einer Idee" (Ernst 2002:130). Die Digitalisierungsprojekte der Fernseherbe-Verwaltung haben also immer zweierlei Vorhaben im Blick: die Rettung bedrohten Film- oder Videobandmaterials und die verbesserte Handhabbarkeit und ergo Einsatzfähigkeit für den Gebrauch. Letzteres Ziel geht einher mit dem gestiegenen Bedarf an archiviertem Programmmaterial für die Sendeabwicklung, aber auch seitens der allgemeinen Zuschauerschaft, deren Nachfrage die Vermarktungsmaßnahmen der Fernsehindustrie weiter antreibt. Dennoch ist ein Großteil des Fernseherbes weiterhin nahezu unzugänglich. Im folgenden Kapitel wird daher untersucht, welcherart die bestehenden Einschränkungen beim Zugriff auf Überlieferungen aus der Fernsehgeschichte sind und inwieweit diese durch den digitalen Medien- und Gesellschaftswandel überwunden werden können.

3.3.

Das Rumoren der Nutzer: Hürden beim Zugang zu Fernsehüberlieferungen

„Ein Archiv ist nicht nur .Friedhof' der abgebenden Stelle und damit eine Art Endstation aller Vorgänge, die dort ihr Leben aushauchen", resümiert der Archivwissenschaftler Eckart Henning in seinen einleitenden Bemerkungen zum Handbuch über „Die archivalischen Quellen". Ein Archiv sei vielmehr immer auch ein Ort, in dem wiederbelebt und rekonstruiert werde, ein Fundus im besten Sinne: eine Grundlage, auf der kultureller Sinn konstruiert werden kann. Das Archiv diene damit dem organisationsinternen Informationsaustausch ebenso wie dem gesellschaftlichen, für den die historische Forschung durch die Aufarbeitung der Überlieferungen sorge (Henning 2004: 6). Die Soziologin Elena Esposito weist überdies auf die funktionale Untrennbarkeit der Langzeitsicherung von Überlieferungen und ihrer Zugänglichkeit hin: Erst wenn ein Zugriff auf Archivalien ermöglicht werde, könne man tatsächlich von einem Archiv sprechen (Esposito 2002: 239). Das Archiv als „Medium einer endzeitlichten Gegenwart von Speichern" (Ernst 2002: 39) ist also mit Blick auf die Gedächtnisrelevanz seiner Überlieferungen konstruktiv zu verstehen: Erinnerungen werden nicht in gespeicherter Form vorgehalten, sondern mithilfe der Speicher (re-) konstruiert. Als Fundus von Informations- und Wissensinhalten bildet das Archiv ein „Reservoir möglicher noch nicht aktualisierter Erinnerungsanlässe" und bietet damit „Chancen der Wiederanknüpfung" (Assmann 1999: 409). Archive sind damit wichtige „Hüter der Erinnerung" (Schulze 2000: 26), denen bei gesellschaftlichen Selbstfindungs- und Orientierungsbemühungen eine zentrale Rolle zukommt. Je komplexer und fragmentierter eine Gesellschaft, desto notwendiger ist eine daraufhin ausgerichtete Archivarbeit, die sich nicht nur als Hintergrund administrativer Prozesse begreift oder einem einseitigen produktiven Ziel widmet, sondern sich den Bedürfnissen der pluralistischen Gesellschaft annähert, wie der Historiker Winfried Schulze fordert. Nur wenn es möglichst vielen Nutzergruppen erlaubt wird, auf Basis ihrer divergierenden Nutzungsintentionen Archivgut für ihre jeweiligen Zwecke zu funktionalisieren, mit Hilfe des Überlieferungsfundus Sinn zu konstruieren und sich damit auf

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

233

unterschiedliche Weise um den gesellschaftlichen Diskurs verdient zu machen, hat die Gedächtnisorganisation Archiv ihre Funktion erfüllt: „Bei dieser umfassenden Aufgabe müssen alle Archive zusammenwirken, denn diese Aufgabe ist letztlich unteilbar: Die staatlichen Archive wie die Archive öffentlichrechtlicher Anstalten, die kommunalen Archive wie die Wirtschaftsarchive, die Archive der Kirchen, Religionswissenschaften und politischen Parteien wie die der großen Stiftungen und anderer Institutionen mit gesellschaftlicher Tiefenwirkung, sie alle haben sich als Teilorte eines großen Erinnerungskontextes zu verstehen, der als solcher freilich erst einmal bewusst gemacht werden müsste. Hier scheint mir noch ein erhebliches Defizit zu bestehen" (Schulze 2000: 27). Schulze attestiert der stark ausdifferenzierten Archivgemeinde weder ein fehlendes Geschichtsbewusstsein noch eine unzureichende Bewahrungshaltung. Vielmehr hapert es seiner Ansicht nach an der Erkenntnis, dass das Kulturerbe in deutlich breiterem Ausmaße als bisher nutzbar gemacht werden müsse für die gesellschaftliche Erinnerungsarbeit. Das Grundproblem der Kulturerbe-Verwaltung liegt demnach in ihrer juristisch-körperschaftlichen, administrativen und ökonomischen Aufspaltung, die zu einem unübersichtlichen Überlieferungsfeld sowie zu einem stark uneinheitlichen Umgang in Bezug auf die Zugangsgewährung zu Archivalien geführt hat. Betrifft dieser fundamentale Kritikpunkt die Archivpraxis im Allgemeinen, äußern sich die Symptome einer eingeschränkten Zugänglichkeit von Archiv- und Sammlungsgütern besonders nachdrücklich bei der Verwaltung des Kulturerbes aus staatsfernen Entstehungszusammenhängen, da hier mit Ausnahme bestimmter gesetzlicher Bewahrungsfristen prinzipiell das Selbstverwaltungsprinzip bei der Archivierung von Überlieferungen zur Anwendung kommt. Dadurch untersteht auch das Zugangsrecht den jeweiligen Reglementierungen der betreffenden Institution, die von Gesetzeswegen her frei entscheiden kann, wem, zu welchem Zweck und unter welchen Bedingungen sie Einblick in ihre Archiv- und Sammlungsbestände gewährt. Die Kommunikations- und Informationswissenschaftler Ronald Rice, Maureen McCreadie und Shan-Ju Chang unterscheiden insgesamt sechs Konzepte, die bei der Frage nach dem Zugang zu Informationen grundsätzlich unterschieden werden können, jedoch insbesondere auch für die Zugangsproblematik von kulturellen Überlieferungen relevant sind (vgl. Rice/McCreadie/Chang 2001: 46-47): - Von elementarer Bedeutung ist demzufolge der Zugang zu Wissen, das in verschiedenartiger Form zirkuliert und gespeichert vorliegt. Wissensreichtum steigere die Lebensqualität, helfe bei der Entscheidungsfindung, bemächtige zur Kontrolle von Informationsflüssen und verspreche in allen Lebensbereichen vorteilhafte Auswirkungen. Anzumerken ist hier, dass der Zugang zu Wissen bereits bestimmtes Wissen voraussetzt, beispielsweise ob, wo und in welcher Form bestimmte Wissensbestände verfügbar sind und funktionalisiert werden können. - Hierfür sind in immer ausgeprägterem Maße technische Hilfsmittel dienlich: Technologien und Medien sind also eine weitere Voraussetzung, um Zugang zu Informationen

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

zu erhalten. Dies unterstreicht zum einen die Relevanz von medialen Überlieferungen als historische Quellen, andererseits impliziert dieses Zugangskonzept gleichzeitig eine Benutzungskompetenz in Bezug auf Medien- und Informationstechnologien. - Dies führt wiederum zur dritten Kategorie, der Kommunikation: Nicht nur wird eine mindestens basale Kompetenz zur Sinnkonstruktion beim Umgang mit Informationsangeboten vorausgesetzt, sondern auch die Fähigkeit und Bereitschaft, auf diese Weise gewonnene Inhalte kommunikativ für sich zu nutzen, um Vorteile im sozialen Miteinander zu generieren. Zugang führt in dieser Hinsicht zu einer gesteigerten Kompetenz, die wiederum den Zugang erleichtert. - Der Zugang zu Information wird weiterhin geprägt durch Kontrolle, das heißt die Möglichkeit, den Zugang einzuschränken, bestimmte Personen oder Personengruppen zielgerichtet auszuschließen oder Inhalte für eine Nutzung zu sperren. Wer über den Zugang bestimmen kann, kann aus Gründen des Machterhalts, aber auch aus Gründen der Wirtschaftlichkeit nur solchen Nutzungsinteressenten Zugang gewähren, deren Nutzung in Übereinstimmung mit den Zielen der Kontrollinstanz erfolgt, was wiederum eine Verarmung des Utilisierungs- und Interpretationspotenzials der Informationen bedeuten kann. - Als fünfte Kategorie nennen die Autoren den Zugang zu Gütern oder Handelserzeugnissen, die mit einem sozialen und/oder wirtschaftlichen Wert ausgezeichnet werden. Dieser Wert ist allerdings so lange unbekannt, wie die jeweilige Überlieferung und die enthaltenen Informationen nicht einer Nutzung zugeführt werden. - Schlussendlich muss der Bürger, also der allgemeine Nutzer, Kenntnisse über seine Zugangsrechte und die Durchsetzungsmöglichkeiten derselben erlangen. Dies setzt Anstrengungen voraus, die Allgemeinheit über die Rechte des Einzelnen aufzuklären und einen öffentlichen Rahmen für ihre Praktizierung zu schaffen. In Bezug auf das Fernseherbe lässt sich feststellen, dass aufgrund der kultur- und medienpolitischen Zurückhaltung trotz eindeutiger Richtungsansagen durch die Politik, die ihren Forderungen nach einem ungeteilten Zugang zu Wissen und Bildung jedoch keine verbindlichen Entscheidungen im Sinne einer stärkeren Öffnung der Archive folgen ließ (vgl. Kapitel IV.2.3.4.), keine Modelle gefunden wurden, die einen breiten gesellschaftlichen Zugang zum Kulturerbe gewährleisten. Wie im Folgenden problematisiert wird, gibt es mit Blick auf Fernsehüberlieferungen in allen genannten Zugangskategorien Defizite. Die existierenden Nutzungsmodalitäten der endarchivischen Instanzen der Fernseherbe-Verwaltung widersprechen damit dem gesellschaftspolitischen Anspruch auf einen demokratischen Zugang zum Kulturerbe, wie er bereits seit Jahrzehnten mit der verlässlichen allgemeinen Verfügbarkeit von Druckpublikationen in öffentlichen Gedächtnisorganisationen eingelöst wird und eine wichtige Grundlage für die gesamtgesellschaftliche Erinnerungs- und Bildungsarbeit bildet.

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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3.3.1. Zwischen Verweigerung und Verständigung: Die vier Ebenen des Zugangsproblems In ihren Aufzeichnungen über ihre intensive Forschungstätigkeit in deutschen Fernseharchiven kommt die Medienwissenschaftlerin Lilli Hobl zu einem resignierenden Resümee: „Hierzulande bleibt uns das Erinnern in Bruchstücken" (Hobl 2005: 96). Hinter der teils launischen, teils wehklagenden Abrechnung mit der gängigen Zugangspraxis in den Senderarchiven des Landes versteckt sich eine Fernsehhistorikerin, die unter dem Schutz eines Pseudonyms aufmerksam machen möchte auf die erheblichen Schwierigkeiten, mit denen ein Wissenschaftler rechnen muss, sollte er den Plan fassen, sich mit einem Forschungsvorhaben der Fernsehprogrammgeschichte zuzuwenden. Hobls Erfahrungen lassen bei den archivischen Instanzen weder geregelte Abläufe bei Nutzungsanträgen von außerhalb erkennen noch den Willen, die Öffentlichkeit abseits des Sendebetriebs am Reichtum des Fernseherbes teilhaben zu lassen. Vielmehr zeugen sie von findigen Abwehrstrategien, mit denen Archiwerantwortliche in den Sendern versuchen, Nutzungsanfragen möglichst im Keim zu ersticken. So werde der Wissenschaftler bisweilen mit der enttäuschenden Aussage konfrontiert, dass die gefragten Überlieferungen nicht mehr vorhanden oder gerade nicht auffindbar seien. Wecke dies noch die Hartnäckigkeit des Forschers, sorgten spätestens hohe Gebührenforderungen für archivische Beratungsleistungen oder das Kopieren von einzelnen Sendungen für Verzagen. Nur durch Zufall, persönliche Sympathien zwischen Archivar und Antragsteller oder Glück im Unglück wie die blanke Not einer überforderten Archivabteilung, welche sich auf die Hilfe der Wissenschaft besinnt, um verlotterte Archivalien retten, erfassen und für ihre Zwecke wieder nutzbar machen zu können, lasse sich ein Weg durch die Irrgärten bahnen. Ähnliche Kritik bringt auch Mike Mashon von der Library of Congress vor: „The film studios and television networks, which are mostly the same thing now, don't offer you an archive. I can't go to Fox and watch episodes of ,21 Jump Street'. You have to go to a publicly available archive, and that tends to be the Library of Congress. Then they may have some episodes at Peabody, maybe at UCLA and a handful maybe in the MT&R, but there are not many places you can go. The library by far has a bigger collection than anybody else. In Germany there are a lot of state broadcasters. Even the state broadcasters in Europe won't let you in to watch shows. Some of them will, some of them won't. [... ] It's hard to get that stuff" (Mike Mashon, LC). Bei Hobl avanciert die Erforschung der Fernsehgeschichte zu einer Odyssee, das Archiv zur Büchse der Pandora und der Archivar zum kafkaesken Türhüter, der dem wissenschaftlichen Nutzungsinteressenten allmächtig und vorwiegend kompromisslos den Zugang zu den verborgenen Schätzen verwehrt (vgl. Kafka 1934: 8). Senderarchive haben sich ihren Ruf als schwer zu enternde Festungen über lange Jahre verdient (vgl. u.a. Oldenhage 2000; Hecht 2005; Ubois 2005). Auch heute noch geben einige Archivleiter freimütig zu, dass Vertreter der Öffentlichkeit, seien es Studenten oder der interessierte Durchschnittszuschauer, nichts in ihren heiligen Hallen zu suchen hätten: „The general public doesn't have access to our archive", konstatiert beispielsweise Laurie Friedman

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(Fox News). Selbiges unterstreicht Roy Carubia von CBS. Produktionsarchive erwecken daher leicht den Anschein, sie seien Trutzburgen, welche sich über die in ihnen deponierten Überlieferungen ausschweigen und sie alleinig für eigene Verwendungszwecke vorhalten und die Allgemeinheit daran nur mittels massenmedialer Verwertungsangebote teilhaben lassen. Das Gros der befragten Wissenschaftler und Vertreter gemeinnütziger Gedächtnisorganisationen kritisiert unisono die Unzulänglichkeiten bei der Zugangsgewährung von Archiven von Fernsehsendern und Produktionsfirmen in Deutschland und den USA. Wenn Jane Johnson (LC) meint: „There is virtually no accessibility for television programs", bemängelt sie in erster Linie das Fehlen von allgemein verbindlichen Richtlinien und Rahmenbedingungen, die den Zugang zu den Zeugnissen der Fernsehgeschichte auf eine wie auch immer geartete, aber zumindest verlässliche Weise gewährleisten würden. Selbst Geoffrey Hopkinson von der CBC, welche sich um eine besonders offensive Zugangspolitik verdient macht, indem sie eng mit der nationalen Sammelstelle Library and Archives Canada kooperiert und auch eigene Anstrengungen unternimmt, um ihr verwaltetes Programmerbe über das Internet zugänglich zu machen (vgl. Kapitel IV.3.3.2.3.), stellt fest, dass Überlieferungen des Fernsehens noch immer nicht in ähnlich vorbildlicher Weise verfügbar seien wie Bücher oder Kunstwerke: „Because it tends to be buried somewhere and you actually go out there digging for it." Joseph Hoppe vom Deutschen Technikmuseum Berlin hat ähnliche Erfahrungen gemacht und hält die Hürden bei Zugangsersuchen zu Produktionsarchiven für symptomatisch für die in vielerlei Hinsicht ausbleibende Funktionalisierung des Fernsehens in der öffentlichen Erinnerungskultur: „Die Senderarchive sind meiner Meinung nach auch heute noch absolut vorrangig darauf ausgerichtet, Service für die eigene Anstalt beziehungsweise für die befreundeten Anstalten zu machen. So etwas wie Publikumsanfragen sind dort extrem unbeliebt, und wenn nicht eine renommierte Institution dahinter steht, wird eine solche Anfrage eher auf die lange Bank geschoben. Dazu kommt ja oft genug noch, dass man als Außenstehender gar nicht ohne weiteres recherchieren kann, was an Material vorhanden ist. Ich habe mittlerweile durch all die Projekte, die ich gemacht habe, fast in jedem Fernseharchiv jemanden, den ich kenne oder habe Leute im Deutschen Rundfunkarchiv, die ich anrufe und für mich schnell mal solche Recherchen machen und mir am Telefon eine Auskunft geben. Das ist purer Luxus, etwas von dem andere, die Ausstellungen machen, nur träumen können. Da hat man das Gefühl sich in einem dunklen Wald zu bewegen, ahnt, irgendwo liegt der Schatz verborgen, aber weiß nicht, in welche Richtung man laufen soll" (Joseph Hoppe, DTM). Der erstrangig von wissenschaftlichen Akteuren gehegte Groll gegenüber einer fehlenden Transparenz und Offenheit der Fernseharchivierung seitens der Senderverantwortlichen steht nach Ansicht des Wissensforschers Stephan Schwan einem generell nur rudimentär ausgebildeten Interesse der Allgemeinheit für die Vielfalt des Fernseherbes gegenüber: „Es gibt zwei Prozent, auf welche die Leute gerne zugreifen würden, und der Rest ist von untergeordnetem Interesse. Wäre würde sich schon gerne die Nachrichten-

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sendung von vor 14 Tagen oder drei Jahren anschauen wollen? Das wäre für Privatleute allenfalls interessant, wenn sie in den Lokalnachrichten sich selbst, Verwandte oder Bekannte sehen können. Aber ansonsten ist der Bedarf relativ gering" (Stephan Schwan, IfW). Die grundsätzliche Frage nach Umfang und Art des Zugangs zum archivierten Fernsehprogrammvermögen sowie dem nicht weniger reichen Überlieferungsbestand an Kontextdokumenten verlangt eine möglichst klare Differenzierung zwischen den Nutzungsinteressenten. Wer welchen Zugang verlangt, aus welchen Gründen und mit welcher Berechtigung, ist von entscheidender Bedeutung bei der Suche nach Lösungsansätzen in diesem komplexen, weil mit zahlreichen wirtschaftlichen, rechtlichen und nichtsdestoweniger strategischen wie pragmatischen Implikationen verbundenen Problembereich. Je nach Nutzungsmotiv sowie wichtigen Randfaktoren wie dem institutionellen Hintergrund und der Mittelausstattung wird Zugangsgesuchen von Akteuren der Produktionswirtschaft, der Wissenschaft, des Journalismus und des allgemeinen Fernsehpublikums seitens der verantwortlichen Stellen höchst different begegnet. Obgleich ein Großteil der befragten Experten einen auf die Bedürfnisse der Nutzer zugeschnittenen Zugang als positiv bewertet, wird kritisiert, dass die Verschlussproblematik längst noch nicht überwunden sei. Wie unter anderem Henry Jenkins (MIT), Howard Besser (NYU) und Peter Paul Kubitz (DK) fordern, verlange die exzeptionelle Stellung des Fernsehens als Instrument und Objekt gesellschaftlichen Erinnerns nach Regelungen, die eine uneingeschränkte Zugänglichkeit für die private und wissenschaftliche Nutzung unter bestimmten Bedingungen wie beispielsweise kostenpflichtigen Zugängen sicherstellten. Ein exklusiver Zugang für die Wissenschaft reiche nicht aus, wie Bruce DuMont vom Museum of Broadcast Communications mit Verweis auf die Privilegierung wissenschaftlicher Nutzer durch die Library of Congress betont, wo erst durch den Nachweis eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes mit einem Publikationsvorhaben Zugang gewährt wird: „Most of the great things that have been preserved are still sitting in the Library of Congress. [...] For something that sits on a shelf in Culpeper, Virginia, waiting for some researcher to come in and pull that nugget out to put it into his dissertation or documentary, is in my view as a tax payer not the wisest use of federal Dollars. [...] Because if you got all this AV-content and nobody ever hears or see it: What's the point?" (Bruce DuMont, MBC). Nach DuMonts Ansicht bleiben einmal ausgestrahlte Fernsehprogramminhalte auch als Archiv- und Sammelgut immer ein Konsumgut. Insgesamt lassen sich vier Konzeptebenen beschreiben, welche die mit dem Zugang in Verbindung stehenden Ansprüche und Intentionen von Bewahrungsstellen und Nutzern unterscheiden. Aus Nutzerperspektive stellen sich Ansprüche auf normativer und funktionaler Ebene, während auf Anbieterseite Entscheidungen auf strategischer und operativer Ebene vorrangig sind. Auf normativer Ebene fußt der Zugangsanspruch auf den leitenden Werten und Grundsätzen, die sich aus der gesellschaftlichen Gedächtnisrelevanz des Fernsehens herleiten lassen. Aus dieser Perspektive ließe sich beispielsweise die Forderung formulieren, dass

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jeder Fernsehzuschauer ein Recht darauf habe, Zeugnisse der Fernsehgeschichte aufgrund ihrer Bedeutung für die kulturelle Entwicklung und die Identitätsbildung in den Mediengesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts zu konsultieren. Zu erweitern wäre aus diesem Blickwinkel der Begriff der Grundversorgung im Sinne eines Grundrechts auf Informationsversorgung und Meinungsbildung auf die historische Quellenlage, die nicht nur in öffentlichen und gemeinnützigen Einrichtungen verwaltet wird, sondern auch von Wirtschaftsunternehmen wie beispielsweise Fernsehsendern und Produktionsfirmen. Ob dies kostenfrei oder gegen monetäre Aufwendungen zu erfolgen hat, ist dabei zunächst einmal nachrangig. Neben den vielen individuell motivierten Gründen für den Zugriff auf Fernseharchivalien ist das historische Interesse daran konstitutiv: Die Beschäftigung mit der Fernsehvergangenheit bzw. allgemeinen historischen Geschehnissen, wie sie vom Fernsehen begleitet, eingefangen und inszeniert wurden, kann nur mittels verfügbaren Überlieferungen aus der Fernsehgeschichte erfolgen. Auch wenn sich der normative Anspruch auf ein allgemeines Zugangsrecht zum Fernseherbe aufgrund der Gesetzessituation formaljuristisch nicht erhärten lässt (vgl. Kapitel IV.2.5.), leiten mehrere der befragten Experten ein solches Recht für die öffentlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Sender ab, da sie, wie in den USA, aus Steuern bzw., wie in Deutschland, aus Mitteln einer allgemeinen Rundfunkgebühr finanziert werden: Fernsehprogramminhalte seien dadurch schließlich „schon einmal bezahlt worden", sagt Thomas Beutelschmidt (HUB). Auch Wolfgang Ernst sieht für den Gebührenzahler ein „moralisches Recht", archiviertes Fernsehprogramm einzusehen. Dementgegen steht der Anspruch der Veranstalter, Produzenten und Rechteinhaber auf die alleinige Verfügung über das Zugangsrecht zu ihren Werken sowie die normative Auffassung, dass Fernsehprogramm-Material nicht automatisch durch seine Ausstrahlung zu Allgemeingut werde, auf das externe Nutzer Zugriffsrechte erhalten. Die moralische Qualität dieser Streitfrage macht deutlich, dass auf normativer Ebene weniger juristische Problemlösungsansätze gefragt sind, sondern vielmehr Appelle an den freiheitlichen Entscheidungswillen seitens der verantwortlichen Akteure, für eine Verbesserung der Zugangsmöglichkeiten einzutreten. Auf funktionaler Ebene wiederum wird der Frage nachgegangen, welcher Nutzungsinteressent aus welchen Gründen einen berechtigten Anspruch auf einen Archivzugang hat, wie also der Anspruch aus der Funktion des Nutzers und seiner Nutzung heraus gerechtfertigt werden kann. Während Historiker ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse antreiben dürfte, mit dem sie im Dienste der Aufklärung langfristige Ziele verfolgen und eine Übersetzungsfunktion für die allgemeine Öffentlichkeit und das kulturelle Bildungswesen wahrnehmen, benötigen Journalisten in erster Linie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Kontroll-, Kritik- und Chronistenfunktion Zugang zu Fernsehüberlieferungen, um den aktuellen Diskurs zu moderieren und aktuelle Entwicklungen, Themen und Problembereiche in Rückbezug auf das durch das Fernsehen dokumentierte gesellschaftliche Leben zu thematisieren. Darüber hinaus ist der Bildungsarbeit der Bedarf an Überlieferungen aus der Fernsehgeschichte zu attestieren, um über sie und mit ihnen einen Lehrauftrag zu erfüllen. Doch auch das künstlerische Schaffen ist auf das Fernseh-

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erbe als Fundus audiovisuell-gestalterischen Wirkens und ästhetischer Entwicklungen angewiesen, um sich seiner kreativ zu bemächtigen, Traditionen zu pflegen, bestimmte künstlerische Strömungen aufzugreifen und wiederzubeleben, sich davon abzugrenzen usf. und somit gleichsam durch den Anschluss an oder den Bruch mit bestimmten Aspekten der Fernsehgeschichte das Gestern, Heute und Morgen des Fernsehschaffens zu verbinden. Nicht zuletzt verfügt der durchschnittliche Fernsehzuschauer über die wohl zentralste Funktion des Rezipienten, an den sich der massenmediale Sendebetrieb richtet und sich daraus ein enges persönliches Verhältnis zum televisuellen Programmangebot ableitet, das in verschiedenartigen gedächtnisrelevanten Phänomenen wie einer besonderen autobiographischen Wertigkeit oder nostalgischen Gefühlen Ausdruck finden kann und einen Zugangsanspruch rechtfertigt. Welchen Stellenwert den jeweiligen Funktionen jedoch zugeschrieben wird, hängt nicht nur ab von der Belegbarkeit und der Nachvollziehbarkeit der Nutzungsinteressen im Sinne ihres funktionalen Kontextes, sondern auch von der strategischen Ausrichtung der Archivpolitik in der betreffenden Organisation. Damit lässt sich beispielsweise nicht von vornherein endgültig bestimmen, ob der Wissenschaft durch ihren Dienst an der Allgemeinheit und ihren kulturell bedeutenden Forschungsleistungen eine privilegierte Rolle zukommt. Auf strategischer Ebene greifen die institutionellen Determinanten und Ziele der Archiv- oder Sammelstelle. Der Zugang zu den Überlieferungen wird daher bestimmten administrativen Vorgaben untergeordnet. Fernsehveranstalter richten ihre Archiwerwaltung, wie dargestellt, vornehmlich nach produktiven Gesichtspunkten aus und folgen damit in erster Linie geschäftlichen Kriterien. Vordringlich gilt es, die unternehmerischen Ziele zu erreichen, das heißt im Falle von Sendeunternehmen den laufenden Programmbetrieb aufrecht zu erhalten und möglichst effektiv mit Archivmaterial zu bedienen. Doch auch Bildungseinrichtungen verfolgen mit ihrer auf den jeweiligen Lehrbetrieb, Curricula oder Schwerpunktthemen ausgerichteten Sammlungsauswahl konkrete, auf bestimmte Bildungsziele zugeschnittene Vorhaben, welche Auswirkungen auf die Art, den Umfang und die Nutznießer des Zugangs haben. Je deutlicher sich eine Bewahrungsentität einem strategisch eingegrenzten Ziel bei der Utilisierung ihres Archiv- oder Sammlungsgutes verschreibt, desto eher sind Einschränkungen bei der Verfügbarkeit von Fernsehüberlieferungen für eine möglichst breite Nutzerschaft zu vermuten. Letztlich entscheidet sich oftmals auf operativer Ebene, welche Nutzergruppen in welcher Form Zugang erhalten können bzw. dürfen. Hier widerstreiten normative Ansprüche mit den funktionalen Werten der Nutzer und den strategischen Zielen der Archive. Wie sich bereits auf funktionaler Ebene zeigt, braucht nicht jeder Nutzer dieselbe Art von Zugang. Auch wird aus strategischen wie zum Beispiel unternehmenspolitischen Gründen nicht jedem Nutzertypus Zugang gewährt. Im operativen Archivbetrieb zeigt sich schnell, wer aufgrund der herrschenden Imperative Zugang erhält und wer nicht. Da die Nutzung von Archivmaterial, sei es eine bloße Sichtung, eine Ausleihe oder Duplikation, stets die Bereitstellung von Ressourcen voraussetzt, werden zwangsläufig Prioritäten bei der Zugangsgewährung gesetzt: Fernsehveranstalter budgetieren ihre Archive vorrangig

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oder ausschließlich nach dem Eigenbedarf; Zugang für Außenstehende bedeutet daher eine zusätzliche Belastung, die nicht von den Mittelzuteilungen gedeckt ist. Für Hochschulmediatheken und Universitätsarchive gilt mit Einschränkungen dasselbe Prinzip: Hier wird zuerst der eigene Bedarf gedeckt. Darüber hinaus gehende Zugangsanfragen müssen auf Basis der übrig bleibenden Ressourcen geprüft werden. Dass die Senderarchive im Mittelpunkt der Kritik stehen, ist ihrer konsequenten Ausrichtung auf die Versorgung des Produktionsbetriebes sowie der kostenpflichtigen Lizensierung ihres Archivmaterials geschuldet. Ihre präferierte Nutzerschaft sind die Redaktionen im eigenen Sendeunternehmen sowie Kunden aus der Fernsehbranche, die an einer kommerziellen Wiederverwertung der Programmüberlieferungen interessiert und bereit sind dafür zu zahlen. Zu diesem Zweck haben die meisten Fernsehveranstalter die Recherche- und Abrufsysteme in ihren Archiven optimiert, um einen möglichst reibungslosen internen Zugang zu ermöglichen. Der digitale Produktionsbetrieb mit der einhergehenden Digitalisierung des Archiwermögens (vgl. Kapitel IV.3.2.3.2.) verspricht eine vollautomatische Datenübertragung vom Archiv- zum Produktionsserver und eine unkomplizierte Einrichtung von Zugangs- und Buchungsmöglichkeiten für externe Kunden. Digitale Vorschauarchive ermöglichen jederzeit einen Überblick über die zur Verfügung stehenden Programmbestandteile und dies, ohne selbst vor Ort in den Archivräumen sein zu müssen. Diese enge Verzahnung von Sendeabwicklung und Archiv zeigt die technische Umsetzbarkeit eines enormen Zugangspotenzials. Nichtsdestotrotz erwecken die Befragungsergebnisse den Eindruck, dass nicht-gewerbliche Nutzer von außerhalb größtenteils kaum willkommen sind. Allen voran die wissenschaftliche Klientel, die mit umfangreicheren Forschungsvorhaben Zugang erbittet, erscheint aus Archivsicht wie ein Klotz am ohnehin schon stark vom Sendebetrieb belasteten Standbein. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die sich hinter dem Pseudonym der eingangs erwähnten Lilli Hobl verbergende Fernsehhistorikerin ihre Identität auch heute noch aus Angst vor der Rache der Archivare verschleiern möchte. Die Schilderungen ihrer skurrilen Erlebnisse in deutschen Senderarchiven zeugen von allerhand Erfindungsreichtum, wie sie sich oft nur mit kleinen Gefälligkeiten wie einer Flasche Whiskey einen Weg in die Archive bahnen konnte. Entspricht dies der von Lynn Spigel (NWU) konstatierten Rechercheromantik - „Historians love to find inaccessible things, so the more rare a document is the better" - lassen die kreativen Einfalle jedoch auch erahnen, dass der auch in den Expertengesprächen immer wieder untermalte Anschein einer willkürlichen Verfügungsgewalt der Archivhüter über die Zugangsmöglichkeiten zu den von ihnen verwalteten Beständen des überlieferten Fernseherbes nicht weit hergeholt ist. Auch Thomas Beutelschmidt (HUB) spricht von einem schwierigen Unterfangen, sich den Archivar gewogen zu machen, dessen „Lustfaktor" zu erhöhen, damit er Anfragen von außen nicht gleich reflexartig abblocke. Die Archivare indes verteidigen ihre Position und weisen daraufhin, dass sie durchaus und schon aus berufsethischen Gründen darauf achten würden, Zugangsmöglichkeiten aus kulturell oder auch individuell motivierten Gründen zu gewähren, solange sie bei

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ihren primären Arbeitsverpflichtungen nicht behindert werden. So macht unter anderem Laurie Friedman von Fox News nach eigener Aussage eine Ausnahme, wenn sich beispielsweise die trauernde Mutter eines im Irak getöteten US-Soldaten meldet und Nachrichtenbilder aus dem Archiv anfragt, auf der ihre Tochter oder ihr Sohn möglicherweise zu sehen ist. Auch Katastrophenereignisse wie die Anschläge vom 11. September 2001 zogen eine temporäre Öffnung des Senderarchivs nach sich, um auf Anfrage Fernsehprogramm-Material mit Berichterstattung über den Ereignisablauf für private Erinnerungszwecke herauszugeben. Je persönlicher und schicksalshafter ein Zugangsgrund vonseiten des Nutzers artikuliert wird und je spezifischer und umgrenzter sein Interesse an dem jeweiligen Archivmaterial ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Archiwerantwortlichen der Sender den Anfragen unbürokratisch und direkt nachkommen. Aus dieser liberalen Einstellung im Einzelfall lässt sich allerdings keine verbindliche Regel ableiten, die einer bestimmten Nutzergruppe einen verlässlichen Zugang zu (einzelnen) Senderarchiven sichert. Vielmehr bilden solche Fälle eine seltene Ausnahme, wie Laurie Friedman zu erkennen gibt, indem sie darauf verweist, dass sie trotz ihrer leitenden Funktion im Grunde keine Entscheidungsgewalt über die erweiterten Zugangsmöglichkeiten zu ihrem Archiv für externe Nutzer habe, sondern höhere Hierarchieinstanzen darüber entschieden. Auch Heiko Kröger (NDR) räumt ein: „Allenfalls wenn der NDR einen Tag der offenen Tür macht, was selten vorkommt, gewähren wir der allgemeinen Öffentlichkeit einen umfassenderen Einblick in unsere Arbeit." Mit der Betonung des Ausnahmefalls als Menschenmöglichstes präsentieren sich die Mitarbeiter der Senderarchive selbst als gutwillige Seelen, die nur allzu gern einen breiteren und tieferen Zugang zu ihren Speichern gewähren würden, wenn sie nicht den hierarchischen Strukturen und im Übrigen auch zuallererst dem Schutz des Archivmaterials verpflichtet wären. Schon der anfängliche Streit zwischen den Initiatoren der „Deutschen Mediathek" und den Archiwertretern der Sender konnte erst beigelegt werden, als die Mediatheksplaner einsahen, dass nicht die Archivare die Verschlusspolitik und die zu beklagenden Löschungen zu verantworten hätten, sondern die Senderleitungen, die mittels Dienstanweisungen, Budgetbemessung und Personalpolitik die eigentliche Macht über das Archiv innehätten. Dies wird auch nochmals von Michael Harms (SWR) betont: „Das können wir guten Gewissens sagen, dass wir es bewahren. Aber wir machen es nicht in ausreichendem Maße zugänglich. [...] Wir verstehen uns als Archive aber auch als Einrichtungen mit einer Aufgabe gegenüber der Öffentlichkeit außerhalb der Rundfunkanstalten. Nur unsere Ressourcen werden uns nach anderen Gesichtspunkten zugeteilt. Die Frage nach der eingeschränkten Zugänglichkeit müsste also eher an die Geschäftsführung gerichtet werden, nicht an die Archive. Die Archive haben da ein anderes Selbstverständnis. [...] Natürlich ist es so, ich verallgemeinere das jetzt, dass von der Geschäftsleitungsseite häufig gesagt wird, dass es die Aufgabe des Senders ist, Programm zu machen und nicht auch noch die Öffentlichkeit mit Archivgut zu versorgen. Das ist eine sehr abschottende Haltung" (Michael Harms, SWR).

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Aleida Assmann hat daraufhingewiesen, dass sich Archive immer über „Schließung und Öffnung" definieren: Bei ihrer Analyse unterschiedlicher politischer Archivfunktionen kam sie zu dem Schluss, dass unter totalitären Regimen Archive als Herrschaftsinstrument dienten und kaum bis nicht zugänglich seien, wohingegen in demokratischen Gesellschaften das archivische Ideal eines möglichst umfassenden Wissensdepot gelte, das öffentlich zugänglich sei (Assmann 1999: 344). Eine stark restriktiv gehandhabte Verfügbarkeit von Archivmaterial ist indes kein alleiniges Kennzeichen von totalitären Systemen. Wie das Beispiel der Produktionsarchive zeigt, spielen dabei nicht allein machtpolitische Faktoren eine Rolle, sondern vor allem auch allgemein wirtschaftliche und geschäftsstrategische. Angesichts der eingeschränkten Zugänglichkeit mancher Archive spricht Ernst ihnen das Wesen einer primären Zugehörigkeit zum kulturellen Gedächtnis ab (vgl. Ernst 2002: 7). Je mehr ein Archiv aus (Unternehmens-) politischen Beweggründen unter Ausschluss der Öffentlichkeit agiert, desto intransparenter sind seine Sammlungsentscheidungen, desto unkontrollierbarer die Verwaltungs- und damit auch die Bewertungs- und Kassationspraxis. Laut Ernst müssten in solchen Fällen stets Zweifel angemeldet werden, ob bestimmte Lücken in Archivbeständen tatsächlich gerechtfertigt seien. Stets müsse daher die Frage gestellt werden: „Ist eine Lücke im Archiv der Nachweis eines originären Schweigens oder eines Verschweigens?" (ebd.: 25). Was sich an Archiven im Allgemeinen und an Fernseharchiven im Besonderen zeigt, ist die als nicht zu gering einzustufende Verantwortung, die sich mit der Macht über den Überlieferungsfundus verbindet: Jacques Derrida hat in seinem Essay „Archive Fever" auf die konstitutive Bedeutung des Archivs für die gegenwärtige demokratische Gesellschaftsordnung hingewiesen: „There is no political power without the control of the archive, if not of memory. Effective democratization can always be measured by this essential criterion: the participation in and the access of the archive, its constitution, and its interpretation" (Derrida 1996: 4). Nach Ansicht von John Lynch vom Vanderbilt Television News Archive trifft dies auch uneingeschränkt auf Fernseharchive zu: „That's not a society that's gonna have much success unless you find away to make this material accessible. [...] [I]f it just disappears into the ether, then every argument about television becomes a ,He said, she said' and nobody knows the answer" (John Lynch, VTNA). Trotz der Scharnierfunktion des Fernsehens zwischen Gesellschaft und Individuum bei der gesellschaftlichen Selbstverständigung in modernen Demokratien gibt es jedoch begründete Einwände gegen eine allgemeine Zugangserlaubnis zu den Archivstellen, ob sie nun Sendern, Produktionsgesellschaften oder Bildungseinrichtungen angegliedert sind. - Erstens ist in Anbetracht der Selbstverwaltung der Fernseherbe-Verwaltung das institutionelle Selbstverständnis der betrachteten Einrichtung ausschlaggebend: Senderarchive in Deutschland und Nordamerika, auch solche öffentlicher bzw. öffentlich-rechtlicher Fernsehveranstalter, sind aufgrund ihrer organisationsrechtlichen Verfasstheit unabhängige Unternehmensarchive, die ihren Zugang nach Belieben limitieren können.

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Sie unterstehen also nicht zwangsläufig einer Verpflichtung, Außenstehenden die Nutzung ihres Archivmaterials zu gewähren. Es liegt also im Ermessen der Archiv- bzw. Senderleitung, über Art und Umfang des Zugangs zu entscheiden. Da die Fernsehveranstalter aufgrund ihrer Organisationsform von keiner öffentlichen oder kulturellen Instanz Gelder erhalten, um den öffentlichen Bedarf an Archivmaterial zu befriedigen, stellt sich die berechtigte rhetorische Frage, wie Joseph Hoppe (DTM) anmerkt, was die Sender denn für Vorteile davon hätten, über den Programmbetrieb hinaus mit ihren Archiven kulturellen Zwecken zu dienen. - Zweitens folgt aus der Orientierung am Produktionsbedarf, dass über die damit verbundenen Dienstleistungen hinaus keine Bedarfsbefriedigung vorgesehen ist. Es herrscht also in Bezug auf archivische Service-Angebote, die außer der Reihe, das heißt für betriebsfremde Nutzungsinteressenten geleistet werden, Ressourcenmangel. Weder ist genügend Personal noch ausreichend Platz vorhanden, um der hohen Nachfrage nachzukommen. So berichtet Heiko Kröger (NDR), es werde zwar ein wachsender Bedarf an archiviertem Programmmaterial vonseiten der Zuschauerschaft angemeldet, dieser könne indes mit den Mitteln des Archivs nicht befriedigt werden. Auch Joel Kanoff (ABC) führt an, dass im alltäglichen Archivbetrieb die Zeit fehle, um Material in größerem Umfang bereitzustellen. Im Vordergrund stehe die Bewahrung und interne Nutzung. An Brisanz gewinnt diese grundsätzliche Problematik, die sich in den USA und Kanada wie auch in Deutschland zeigt, durch die endarchivische Kompetenz der Senderarchive, welche die umfangreichsten Sammlungen des Fernseherbes vorhalten. Je umfassender der Sammlungsansatz und je umfangreicher die Sammlungsbestände, so wurde bereits in Kapitel IV.3.2. argumentiert, desto schwieriger gestalten sich die Sammlungsverwaltung und die Zugangsmöglichkeiten: „Given that the scarcity of resources of archives requires decisions concerning their allocation, a .democratic' approach to collecting (take everything in) is in tension with a .democratic' approach to archiving (organize the collection for maximum accessibility), insofar as a greater volume and diversity of input renders its organization for accessibility all the more difficult and expensive" (Brown/Davis-Brown 1998: 27). Produktionsarchive konzentrieren sich also aus schierer Notwendigkeit auf die Nachfrage aus dem eigenen Programmbetrieb, um mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln einen funktionierenden Archivbetrieb aufrecht zu erhalten. Externe Anfragen führen in diesem Zusammenhang fast zwangsläufig zu einer Gefährdung des geregelten Arbeitsablaufs. So verweist Axel Bundenthal (ZDF) unter anderem auf die Blockierung von Telefonleitungen durch Auskunftsersuche seitens externer Nutzungsinteressenten. - Ein dritter Einwand betrifft die Bewahrungspflicht des Archivars, der die Unversehrtheit der von ihm verwalteten Überlieferungen sicherstellen muss. Daher wird generell keine Selbstbedienung durch den Nutzer zugelassen. Archive sind ohne Anleitung und fehlendem Verständnis für die dokumentarischen Organisationsstrukturen für den Laien ohnehin unlesbar. Da Archiv-Benutzer trotz fachlichem Interesse und disziplinarer Schulung wie beispielsweise Historiker größtenteils archivische Laien bleiben,

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fehlt ihnen das Handwerkzeug, sich eigenständig einen Weg durch das „Regelwerk von Geheimnis und Wissen" (Ernst 2002: 76) zu bahnen. Die Abhängigkeit vom Archivpersonal ist also immens und bildet zugleich einen Schutz vor Beschädigungen des Materials oder Diebstahl. Daher verursachen Nutzeranfragen einen erheblichen Arbeitsaufwand, um die entsprechenden Archivalien für eine Nutzung vorzubereiten wie im Fall der Erstellung einer Nutzungskopie oder sie in einem sicheren Nutzungsumfeld zur Verfugung zu stellen wie im Fall einer durch den Archivar initiierten Wiedergabe eines Videobandes. - Der vierte Einwand betrifft die juristische Problematik der Nutzung von Archivmaterial, das in den meisten Fällen mit einer Vielzahl von unterschiedlichen rechtlichen Restriktionen belegt ist und daher nicht ohne weiteres zugänglich gemacht werden darf (vgl. Kapitel IV.2.5.). In diesem komplexen Problembereich sind verwaiste Werke, deren Rechteinhaber unbekannt sind, besonders problematisch und der Umgang mit ihnen diffizil. Glenn Clatworthy (PBS) beklagt, dass für den Archivar daraus eine vertrackte Situation erwachse, die im Regelfall zu einem erzwungenen Wegschluss der betreffenden Überlieferung führe: „One of the heardgraving things is when you cant find an owner to a program, because the producer has disappeared or passed away or a company suddenly disappears. In those cases there is nothing you can do to grant access to a program." Auch Axel Bundenthal (ZDF) weist auf das hohe Risiko für das Archiv hin, bei unklaren Rechteinformationen Zugang zu den betroffenen Werken zu gewähren, da es aufgrund der Gesetzeslage im Zweifelsfall verklagt werden könne, wenn es unautorisiert eine Nutzung erlauben würde. Der Zugang zum Fernseherbe ist also an zahlreiche Voraussetzungen und Bedingungen geknüpft, die auf Seiten der Nutzer wie der Veranstalter Zeit, Geld und Nerven kosten. Im September 2006 trafen sich in der kleinen Universitätsstadt Athens nahe der Medienmetropole Atlanta, Georgia ein knappes Dutzend an Fernsehwissenschaftlern und Vertretern nicht-kommerzieller Fernseharchive (u.a. UCLA Film & Televsion Archive, Wisconsin Center for Film and Theater Research) und des Museum of Broadcast Communications, um sich über die Zugangsschwierigkeiten bei der Kooperation zwischen Fernseharchiven im Allgemeinen, der Wissenschaft und der allgemeinen Öffentlichkeit sowie über Ansatzpunkte für eine Optimierung der gegenseitigen Ansprüche und Einschränkungen auszutauschen. Die von Horace Newcomb (UG) einberufene Konferenz konzentrierte sich auf die vier zentralen Areale, die bereits in der Studie der Library of Congress zur Fernseharchivierung im Jahre 1997 bezüglich des Zugangs zu Fernseharchivmaterial genannt wurden: Auffindbarkeit („Description"), Sichtungsmöglichkeit („Consultation"), Reproduktionsfähigkeit („Reproduction") und Nutzungs- bzw. Vorführgenehmigungen („Use") (Murphy 1997:139; vgl. auch Ubois 2005). Dass in der Folge der kleinen Zusammenkunft keine konkreten Maßnahmen ergriffen wurden bzw. ob der komplizierten politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt rechtlichen Lage ergriffen werden konnten, um eine Aufhebung oder Abschwächung bestehender prohibitiver Zugangsbedingungen anzustoßen, wurde doch erreicht, dass sich die Anwesenden ihrer ge-

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meinsamen Ziele versicherten und verabredeten, das in ihrer Verfügungsgewalt Stehende zu unternehmen, um für eine verbesserte Zugänglichkeit zum Fernseherbe einzutreten. Hierzu gehört auch die Aufklärung über die hauptsächlichen Problembereiche, die den Zugang bis dato erschweren: - Vor allem zum Leidwesen von Wissenschaftlern, die sich einen Überblick über die Quellenlage in Fernseharchiven und Sammelstellen verschaffen wollen, um ihre Forschungsanstrengungen zu konzipieren, gibt es nur im Ausnahmefall öffentlich zugängliche Übersichten über die Archivbestände in den Produktionsarchiven von Fernsehunternehmen. Das Prinzip der Selbstverwaltung der Fernsehveranstalter erschwert die Recherche erheblich. Damit ist bereits die erste Voraussetzung für die Errichtung eines zuverlässigen Zugangs zur Fernsehgeschichte, die Auffindbarkeit, verbaut: ,,[H]ow do you find the needle in the haystack? How do you determine who has it?", umschreibt Bruce DuMont (MBC) die Problematik. Diese Frage müsse vor allen anderen beantwortet werden. Die meisten Senderarchive gewähren jedoch von außerhalb keinerlei Einblick in ihre Datenbanken. Olaf Moschner (RTL) begründet die protektionistische Vorgehensweise mit der Wettbewerbssituation: „Man würde ja relativ weitgehend seine Daten offen legen und öffnet ganz anderen Nutzerkreisen Möglichkeiten der Programmanalyse, bei denen man sehr aufpassen muss." Auch Frank Hippeli (RTL) steht einer öffentlichen Recherchemöglichkeit skeptisch gegenüber, da aus geschäftsstrategischen Gründen wertvolle Informationen über Informanten, Gesprächspartner und Quellen nicht nach außen dringen sollten. Mardiros Tavit (ProSiebenSat. 1) und Peter Schwirkmann (DK) führen darüber hinaus die rechtliche Problematik an, da in den Archivdatenbanken bei der Bezeichnung von Personen zum Teil Klarnamen verwendet würden, die nicht an die Öffentlichkeit dringen dürften, um ihr Persönlichkeitsschutzrecht nicht zu verletzen: „Das große Wissen liegt bei den Fernsehveranstaltern, das muss man einfach sagen, und die sagen nach wie vor, dass für ihre Datenbanken das Datenbankprivileg gilt, da massenhaft personenbezogene Daten enthalten sind, die nur erhoben werden dürfen für innerbetriebliche Zwecke. Das wäre zwar schön, wenn ich als Nutzer einen Sendungstitel eingebe und dann erfahre, wo das Band liegt, doch das sehe ich im Moment nicht" (Peter Schwirkmann, DK). Eine Ausnahme bilden Sender und Produktionsfirmen, die archiviertes Nachrichtenprogrammmaterial über Online-Plattformen zur kostenpflichtigen Lizensierung anbieten und kurze Vorschaumöglichkeiten einräumen. Die angebotenen und recherchierbaren Bestände umfassen aber aufgrund unterschiedlicher Vorgehensweisen bei der Retro-Digitalisierung (vgl. Kapitel IV.3.2.3.2.) nur einen Bruchteil des tatsächlich archivierten Programmvermögens. Unter anderem bieten die US-amerikanischen Nachrichtenarchive der Netzworks NBC, ABC und CBS diese Art von Zugang an, wobei CBS seinen Service an die britische BBC ausgegliedert hat, welche in ihrer „Motion Gallery" auch Teilbestände weiterer Fernsehveranstalter wie des japanischen Senders NHK, der australischen ABC sowie von China Central Television vermarktet. Die ka-

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nadische CBC dagegen ermöglicht auf einem eigenen Internet-Portal eine kostenfreie Nutzung der wachsenden Zahl an digitalisierten Programmüberlieferungen. Aufgrund der fortschreitenden Konvergenztendenzen und der steigenden Popularität internetbasierter Mediennutzung sollen nach Plänen der Fernsehveranstalter solche und ähnliche Angebote in Zukunft wachsende Verbreitung finden. Wie in Kapitel IV.3.3.2.3. noch eingehender thematisiert wird, liegt das Hauptaugenmerk hierbei jedoch zumindest bei den kommerziellen Anbietern auf Konsumgesichtspunkten, weshalb passgerechte Angebote für die Wissenschaft vermutlich nicht oder nicht in erforderlichem Maße von der Entwicklung profitieren können. Ein umfassendes digitales Vorschauarchiv für Fernsehinhalte, wie es unter anderem von Stephan Schwan (IfW) gefordert wird, in Anlehnung an die Services des Suchmaschinenkonzerns Google („Google Scholar"/ „Google Books") oder des Internet-Händlers Amazon, die eine auszugsweise Voransicht von sowie die Recherche in digitalisierten Büchern ermöglichen, ist noch fern jeglicher Realisation. - Wie bereits angemerkt, gibt es zudem generell keine Zugangsgarantien zu den Senderarchiven sowie zum Teil nicht zu wissenschaftlichen Fernseharchiven oder Mediatheken, die einen Nachweis über ein akademisches Forschungsprojekt oder Publikationsvorhaben verlangen. Dadurch kann die Sichtungsmöglichkeit als stark eingeschränkt beurteilt werden: Die Nutzung vor Ort im Produktionsarchiv ist für Außenstehende selten möglich. Hier gibt es nur wenige Ausnahmen, da die Sender keine Verpflichtung haben, die Öffentlichkeit mit Archivmaterial zu versorgen. Unter den befragten Institutionen erklärten nur wenige Senderarchivleiter (u.a. CNN, NDR und RTL), dass sie im Ausnahmefall Arbeitsplätze für die Sichtung durch Wissenschaftler bereitstellen könnten wie beispielsweise zur Urlaubszeit oder zu Randzeiten wie am Abend oder am Wochenende. - Die Sichtungsmöglichkeiten werden außerdem beschränkt durch das Fehlen eines Fernleihsystems, wie es für Druckpublikationen existiert. Dort steht der allgemeine Nutzer im Vordergrund, der Publikationen verstärkt permissiv und eigenverantwortlich einsehen kann. Erst durch die Ermöglichung eines weitgehend uneingeschränkten Leihverkehrs erfüllen Sammlungseinrichtungen ihren zweiten Hauptzweck, indem sie ihre Sammlungen zur Benutzung frei stellen (vgl. auch Plassmann/Rösch/Seefeldt/ Umlauf 2006: 9). Hiervon ausgeschlossen sind jedoch jegliche Fernsehmitschnitte sowie auch kommerziell vertriebene Werke wie zum Beispiel Kauf-DVDs. Aus rechtlichen Erwägungen wird im überwiegenden Großteil der untersuchten Einrichtungen auf eine Herausgabe von Material zur privaten oder wissenschaftlichen Nutzung verzichtet, sofern nicht alle Rechte bei der sammelnden Institution liegen. Das Vanderbilt Television News Archive bildet hierbei mit seinem Leihversand von historischen Fernsehnachrichtensegmenten eine Ausnahme und kann sich auf eine besondere Regelung im Urhebergesetz berufen (vgl. Kapitel IV.2.5.2.). In allen anderen untersuchten Fällen sind in der Regel Anreisen erforderlich, um auf Antrag eine Genehmigung zur Archivnutzung vor Ort zu erhalten. Solange die meisten Bestände analog vorliegen, wird

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sich diesbezüglich bereits aus praktischen Notwendigkeiten heraus keine Änderung vollziehen können. - Kopien werden üblicherweise nur gegen Gebühr angefertigt, sofern keine rechtlichen Einwände dagegen sprechen, welche wiederum oftmals ein Reproduktionsanliegen zum Scheitern bringen. Die Vergütungsansprüche werden von den meisten senderunabhängigen Befragten als generell zu hoch und unverhältnismäßig beschrieben. Jedes Senderarchiv entscheidet eigenständig über die Benutzung und die Höhe des dafür zu entrichtenden Entgeltes. Die öffentlich-rechtlichen Archive in Deutschland verfügen beispielsweise über Benutzungsordnungen, welche Art, Umfang und die Gebühren für die Archivnutzung und damit verbundende Archivdienstleistungen regeln. Bei privaten Fernsehveranstaltern wird dagegen überwiegend auf individueller Basis entschieden. Die Kosten für die Erstellung von Kopien übertreffen in der Regel die Erwartungen der Nutzer um ein Vielfaches, werden aber durch den mit der Nutzung verursachten Personalaufwand vonseiten des Archivs erklärt, da Benutzern üblicherweise ein direkter Kontakt mit der Primärquelle aus konservatorischen Gründen verwehrt bleibt. Wer zahlt, wird in der Regel auch bedient, wie Hans-Gehard Stülb vom Deutschen Rundfunkarchiv anmerkt. Jedoch werden die hohen Gebühren, wie bereits das Beispiel Lilli Hobl zeigte, vonseiten der Wissenschaft als Abschreckungsmaßnahme wahrgenommen, wie auch Sam Kula unterstreicht: ,,[T]he prices are outrageous: For particular footage they are charging people 2000 to 3000 dollars a minute. Obviously, if you have a high priced staff and a lot of responsibilities so they have to hire additional staff in order to provide these kind of services, then they have to recreate those costs. But in a lot of cases they make the prices so high because they don't want that kind of business. They don't want individuals or researchers to come into the archive and bother them for 50 dollars here and 100 dollars there. They have to write a contract with every sale, and it costs them 175 dollar simply to draft the contract, because they have to give it to a lawyer and verify that they are allowed to sell the program and clear the rights. That's what they say" (Sam Kula). - Umfangreiche Forschungsvorhaben waren und sind unter diesen Bedingungen kaum möglich. Die fehlenden Sichtungsmöglichkeiten vor Ort und die für Wissenschaftler als unerschwinglich eingestuften Gebühren für Beratungs-, Recherche- und Duplikationsleistungen unterminieren breit und tief angelegte Studien mithilfe fernsehhistorischer Überlieferungen. Historiker können ohne Quellen ihres Amtes nicht walten, wie es Winfried Schulze in einer Rede vor dem Deutschen Archivtag unterstrich: „Ohne sie verfehlt er seine eigentliche Aufgabe, eine mögliche Missdeutung der Vergangenheit durch den Rekurs auf die Quellen zu objektivieren. Erst mit ihnen kann er seine wahre Funktion erfüllen" (Schulze 2000:17). Damit wird der Nutzer, der auf Archivgut förmlich angewiesen ist, um seine (Forschungs-) Ziele zu verfolgen, in die unangenehme Lage versetzt, in eklatanter Weise abhängig zu werden von der Gunst von entscheidungsbefugten Archivmitarbeitern, die mit ihrer Zugangsgewährung oder Zugangs-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

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Verweigerung über das Wohl und Wehe eines Forschungsprojektes entscheiden können. So bereitwillig sich einige Archiwertreter von Fernsehunternehmen zeigen, so klar lehnen sie aufwendige Nutzungsanträge ab. Für Susanne Betzel (RTL) zählt daher vorrangig die Überschaubarkeit eines Forschungsanliegens als Entscheidungskriterium, ob Zugang gewährt wird oder nicht. „They don't have the resources and they don't have the means to allow a researcher to go in and use their material. For instance if you were a historian and you wanted to use CBS resources, you'd have great difficulty to get access to their television archive if you want to look at - let's say - a dozen of different programs, because they don't have the time or the specialized staff to set up these kinds of viewing for you" (Sam Kula). Während Kula fordert, aus der misslichen Lage Konsequenzen zu ziehen und bestimmte Überlieferungsbereiche, die für die Wissenschaft von Interesse sind, in Archiven vorzuhalten, welche die Möglichkeiten haben, umfangreicheren Zugang anzubieten, belegt das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Großprojekt „Programmgeschichte des DDR-Fernsehens komparativ" (vgl. Steinmetz/Viehoff 2008), das mit Unterstützung durch das Deutsche Rundfunkarchiv durchgeführt werden konnte, dass Kooperationen auch in umfänglicheren Dimensionen möglich sind, wenn auch höchst selten realisiert werden. Wissenschaftliche Einrichtungen und gemeinnützige Archive geben sich entsprechend offen und versuchen - „as broad as we can" (Dan Einstein, UCLA) - Interessierte anzusprechen und sie zur Beschäftigung mit ihren Sammlungen anzuregen. Das Beispiel des Vanderbilt Television News Archive zeigt, wie stark das Angebot umfangreicher Kopienerstellung zu vergleichsweise erschwinglichen Gebühren von der Wissenschaft angenommen wird: „During the summer the only academic stuff are big projects. When fall starts, we are starting to get all the small academic stuff back. The way we work almost everything is individuals, but some individuals are doing a large project, like I have a few people at the University of Illinois. They are doing a huge study about the first months of [Hurricane] Katrina. So they get virtually every story, and they will have as soon as we get everything up every story from that time that was virtually on all the evening news" (John Lynch, VTNA). - Von den Einschränkungen hinsichtlich des Umfangs von wissenschaftlichen Nutzungsanfragen ist auch in hohem Maße die Lehre und die Bildungsarbeit betroffen: Vorführgenehmigungen sind grundsätzlich an Vergütungen geknüpft, die, sollten sie nicht durch eine Pauschalregelung zum Beispiel für die ausschnitthafte Vorführung von Mitschnitten an Hochschulen abgedeckt sein, meist die finanziellen Möglichkeiten von Lehrenden und Bildungsinstitutionen überlasten. Auch hapert es bei der notwendigen Fremdrechteklärung, bei der Nutzungsinteressenten von Senderseite aufgrund der eingeschränkten Personal- und Zeitressourcen keine Hilfe erwarten können. Eine eigenständige Recherche erweist sich, wie bereits in den Kapiteln IV.2.5.3. bis 2.5.5. erörtert wurde, als außerordentlich schwierig und ist von herkömmlichen Nutzern oder

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Einrichtungen ohne die nötigen Vorkenntnisse, Kontakte und Mittel kaum zu bewältigen. Nach Ansicht von Mike Mashon (LC) habe dies auch dazu beigetragen, dass im Vergleich zu anderen medialen Überlieferungsbereichen verhältnismäßig wenig über fernsehhistorische Themen geforscht wurde. Archive sollten sich laut Mashon daher einem mehr kuratorischen Ansatz verschreiben, der für die Archivarbeit zwar generell untypisch sei, jedoch den Vorteil einer Steigerung der Aufmerksamkeit für die Geschichte des Mediums und der Wertigkeit seiner Programmschätze habe. Dem Ansatz einer aktiven Auswahl bestimmter Überlieferungen und ihrer Präsentation folgen unter anderem Einrichtungen wie das NAVVC, das UCLA Film & Television Archive sowie das Paley Center for Media mit Vorführungen historischer Fernseharbeiten und themenrelevanten Ausstellungen. Selbst kleine Einrichtungen wie das Medienarchiv der University of Georgia mit den integrierten Sammlungen der Peabody Awards halten ein ähnliches Engagement für möglich und nötig, um der Fernsehgeschichte an sich und der eigenen Bewahrungsleistung im Besonderen mehr Geltung zu verschaffen: „We are on the verge of really wanting a museum in our new building. We want people to access material. We also want a museum that tells the story about the Peabody Awards and that also focus on the material in our regional collections. So for us its great because we don't make those decisions. We are allowed to show the Peabody entries because we are still on campus. We wouldn't charge for it of course" (Ruta Abolins, WBMA&PAC). - Als fatale Konsequenz der Zugangs- und Nutzungsbeschränkungen wird gesehen, dass sich nur spärliche oder keine archivische Benutzungskompetenz in den akademischen Reihen hat entwickeln können. Das Archiv beheimatet also eine überschaubare Zahl an Spezialisten, schließlich erinnert nach Ernst so manche archivische Einrichtung an ein Grab, an einen „Friedhof der Fakten" (Ernst 2002: 60), das für Unkundige nur Orakel bereithalte, aber keine Erkenntnisse (vgl. ebd.: 129). Das Archiv selbst stellt keine erklärenden Zusammenhänge her, sondern nur ordnungshalber logistische. Damit verweigert sich das Archiv von Grund auf dem historisierenden Drang nach narrativer Kohärenz und Verzeitlichung. Es macht nachweisbar, in welchem Herkunftskontext, zu welchem sogenannten Primärzweck die versammelten Überlieferungen entstanden sind. Erst als Archivale erfährt die Überlieferung eine Zweckänderung, indem sie einen Sekundärzweck oder auch möglichen Tertiärzweck usf. zugewiesen bekommt, je nachdem wann, wie und wie häufig sie für welche Zwecke wiederverwandt wird. Weder der Umgang mit den Logiken der Archivarbeit, noch die quellenkritische Arbeit mit historischen Fernsehinhalten konnten unter den gegebenen Zugangsrestriktionen in ausreichender Form gelehrt werden. Die Vermittlung von Benutzungskenntnissen von Fernseharchivmaterial ist weder Teil der Schulausbildung noch des Studiums, wie Joseph Hoppe kritisiert: „Das wichtigste Problem ist schlicht und einfach, wenn man sich auf solch einen Job vorbereitet, Geschichte oder Kulturwissenschaft studiert, man lernt alles Mögliche: wie man Bibliotheken benutzt, im Internet recherchiert. Doch der gesamte Bereich

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der Fernseharchive ist schlichtweg ausgeklammert. Das gilt auch für die Tonarchive. Dazu gibt es keine Unterweisung und keine Schulung, und das aus nachvollziehbaren Gründen" (Joseph Hoppe, DTM). Die Vermittlung von Benutzungskenntnissen erfolgt vonseiten der Senderarchive mit Konzentration auf die Mitarbeiter des zuständigen Fernsehveranstalters. Hierbei werden allgemeine Weiterbildungsmaßnahmen zur archivischen Nutzung ebenso wie spezielle Datenbankschulung für Redakteure angeboten. Außerhalb des Fernsehunternehmens sind Nutzungsinteressenten aber auf sich allein gestellt und werden allenfalls mit „Hilfe zur Selbsthilfe" (Axel Bundenthal, ZDF) unterstützt, indem öffentlich zugängliche Recherchemöglichkeiten wie die Jahrbücher von ARD und ZDF oder Programmübersichten, die in historischen Ausgaben von Fernsehzeitschriften (z.B. „TV Guide", „HörZu") zu finden sind, aufgezeigt werden, obgleich diese in vielen Fällen keineswegs Auskunft über die tatsächlichen Archivbestände geben können, sondern nur eine erste Orientierung ermöglichen, welche Programminhalte welchem Veranstalter zuzurechnen sind. Durch den Zwang zur autodidaktischen Annäherung externer Nutzer an die archivischen Arbeitsprinzipien (qua Versäumnissen in der akademischen Ausbildung, fehlenden Anleitungsdiensten seitens der Archive usf.) sowie ihre umfassende Abhängigkeit von der Bereitschaft und Verfügbarkeit des Archivpersonals zur Hilfestellung muss die handwerkliche wie inhaltliche Kompetenz breiter Bevölkerungs- und Fachkreise in Bezug auf die Nutzung des televisuellen Gedächtnisfundus notgedrungen rudimentär ausgeprägt bleiben. Eine unabhängige wie lebendige, vielseitige wie umfassende Erforschung der Fernsehgeschichte sowie ihre Utilisierung für die Erinnerungsarbeit sind auf diese Weise nicht möglich, glaubt man den Aussagen der Wissenschaftsvertreter: Der Lehrbetrieb werde durch die eingeschränkte Zugänglichkeit der Fernseharchive vielmehr zum Rechtsverstoß animiert, in umfangreichem Maße auf eigene Mitschnitte zurückzugreifen und sie in ausgiebigerem Maße als erlaubt zu verwenden. Diese Grauzone sei dabei oft die „einzige Lebensrettung", wie Thomas Beutelschmidt (HUB) erklärt. Dennoch gibt es verschiedene Behelfsmodelle, mit denen Wissenschaftler, Journalisten oder der allgemeine Zuschauer sich den für ihren Nutzungskontext passenden Zugang verschaffen können. Dabei kommen auch alternative Wege in Frage, die das Personal von endarchivischen Instanzen nicht direkt mit einbeziehen und daher die wesentlichen Probleme der Arbeitsüberlastung, Zuständigkeitskonflikte und hohe Kosten umgehen. - Trotz der grundsätzlichen Beschränkungen beim Zugang zu den Archiven von Fernsehunternehmen werden individuelle Verhandlungen mit den zuständigen Abteilungsleitern von einem Teil der Befragten als vielversprechend bewertet. Allen voran die Archivare selbst beurteilen das Verständigungspotenzial als hoch: „Nonkommerzielle Anfragen wurden bei uns nie bürokratisch geregelt. Das wird auf individueller Ebene abgeklärt", konstatiert Mardiros Tavit (ProSiebenSat. 1). Auch die Vertreter der Archive von RTL, dem NDR, WDR und einigen nordamerikanischen Sendern erklären, dass sie durchaus bereit sind, bei geringer Arbeitsbelastung und dem Nachweis der Rele-

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vanz einer wissenschaftlichen Arbeit Wege zu finden, die den Zugang und die Nutzung in ihren Räumlichkeiten ermöglichen. Wird bei den untersuchten Senderarchiven des Privatfernsehens generell nach dem Einzelfall entschieden, haben sich die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten darauf verständigt, nur die Recherche für wissenschaftliche Projekte ab der Dissertationsebene zu genehmigen. Dennoch sei der Zugang aufgrund der Hauptaufgabe zur Versorgung der Sendeabwicklung stets eine Gratwanderung, wie Hans Hauptstock (WDR) erklärt. Einen Ausweg könnte die Errichtung von Wissenschaftszentren innerhalb der Senderkomplexe darstellen, zeigt sich Michael Harms (SWR) überzeugt, um gleichsam einzuräumen, dass eine solche Initiative wohl kaum zu realisieren sei. Dennoch habe man in der Vergangenheit bereits aktiv nach Lösungen für die Zugangsproblematik gesucht und Wissenschaftlern unter anderem kurzzeitige Redakteursverträge angeboten, die es ihnen erlaubten, als Mitarbeiter des Senders die Archivdienstleistungen frei in Anspruch zu nehmen. Harms hebt somit die erforderlichen Bemühungen des Fernsehveranstalters hervor, der sich als engagiert handelnder Protege von Wissenschaft, Kultur und Bildung erweisen müsse: „Ich selbst bin hier herein gekommen mit einem Forschungsprojekt einer Universität, wo sich auch die Frage stellte, wie wir an das Archivmaterial herankommen können, ohne Rechte zu verletzen. Und wir als Universität haben einen Verein gegründet, und dieser Verein ist von der Rundfunkanstalt beauftragt worden, das Material zu erschließen. Das war also der Weg, um diese Dinge zu lösen. Da machen wir, glaube ich, mit relativ großem Einfallsreichtum alles Mögliche. Nur darf man es sich nie so vorstellen, dass es wirklich ein Volumen bekommt. Es sind immer Einzelaktionen, die ermöglicht werden" (Michael Harms, SWR). Die Sendervertreter verlangen jedoch auch Verständnis seitens der Nutzungsinteressenten für ihre primären Verpflichtungen gegenüber dem Produktionsablauf. Die individuelle Aushandlung von Recherche- und Sichtungsanliegen müsse immer den „möglichen Rahmen" berücksichtigen, betont Heiko Kröger (NDR), was immerhin nicht ausschließe, dass sich beide Seiten miteinander arrangieren. - Zur Steigerung der Arbeitseffizienz innerhalb der archivischen Operationsstrukturen der Sender wird zumindest bei der föderal organisierten ARD vermehrt auf Arbeitsteilung und die Delegierung von Nutzungsanfragen gesetzt. Wie Hans-Gerhard Stülb (DRA) schildert, fungiert das Deutsche Rundfunkarchiv als Gemeinschaftseinrichtung der ARD für die einzelnen Senderarchive in den Landesrundfunkanstalten verstärkt als Schnittstelle zur Öffentlichkeit, indem es Anfragen aufnimmt, Cross-Recherchen in den Archivdatenbanken der Anstalten durchführt und somit die einzelnen Senderarchive entlastet. Zwar bieten auch Dachorganisationen wie das öffentliche Fernsehnetwork PBS auf individuelle Anfrage ähnliche Hilfestellungen an, um den Nutzungsinteressenten bei Bedarf in Kontakt mit den Archiven von Lokalsendern zu bringen, jedoch fehlt es insgesamt an einer Clearingstelle, deren hauptsächliche Aufgabe es wäre, derlei Anfragen (auch über Sendergrenzen hinweg) zu koordinieren.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Abhilfe versprechen Netzwerkinitiativen wie das MIC-Projekt der Library of Congress, der Rutgers University und der Association of Moving Image Archivists. Hinter dem Akronym verbirgt sich das Portal „Moving Image Collections", das den Anspruch verfolgt, durch eine verbesserte Übersicht über bestehende Bewegtbildsammlungen den Zugang zum Film- und Fernseherbe zu verbessern und damit auch für bessere Rahmenbedingungen bei der Bewahrung von Archivmaterial einzutreten, da sich die Sammlungsstellen dadurch untereinander besser vernetzen, austauschen und ihre Kräfte bündeln können. Daniel Berger vom Museum of Broadcast Communications sieht den maßgeblichen Wert einer solchen Initiative in seiner alternativen Funktion zu einer zentralen Institution, die ohnehin nicht zu befürworten sei, da sich ansonsten ein Informationsmonopol bilden könnte. Im Vordergrund jeglicher Bemühungen solle stehen, Klarheit darüber zu erlangen, welche Sammlungsinstanzen es gebe und über welche Bestände sie verfügten. Berger betont hierbei nicht allein die Ansprüche externer Nutzer, sondern meldet auch einen erheblichen Klärungsbedarf innerhalb der Fernseherbe-Verwaltung an, da ohne jegliche Übersicht nicht ersichtlich sei, ob eine Archivoder Sammlungseinrichtung Unikate besitze oder nicht, was notwendigerweise Konsequenzen für die Bewahrungsanstrengungen hat, da eine thesaurierende Bewertung des Materials nicht angemessen vorgenommen werden kann. Anspruch und Wirklichkeit klaffen allerdings auch bei MIC weit auseinander, wie Projektmanagerin Jane Johnson darlegt: „The first idea was that everyone should put their titles into the Union Catalog, but we also knew that some places would never do that." So zeigt sich an der dürftigen Teilnahme kommerzieller Einrichtungen, dass die Offenlegung der Bestandsangaben anscheinend nicht im Interesse von gewinnorientierten Unternehmen liegt. „Sony Pictures would never put their whole titles into the Union Catalog of MIC, because that is not part of their mission: They don't do public service." Insgesamt 14 US-amerikanische Sammlungsstellen beteiligen sich an dem Verbundkatalog, der Auskunft gibt über mehrere hunderttausend verfügbare Überlieferungen, die vor Ort bei den jeweiligen Institutionen eingesehen werden können. CNN ist das einzige Fernsehunternehmen, das seine Datenbank in das Katalogsystem integriert hat. Darüber hinaus sind die Library of Congress Motion Picture, Broadcasting, and Recorded Sound Division, die Walter J. Brown Media Archives & Peabody Awards Collection sowie das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies (vgl. Kapitel III.9.2.) involviert. Eine generell ausgeprägtere Offenheit bei der Zugänglichmachung von Archivmaterial wird noch vermisst: Zwar macht Johnson hauptsächlich bürokratische und hierarchische Hürden dafür verantwortlich, doch spielen neben rechtlichen Einwänden (siehe oben) auch Befürchtungen vor einer unkontrollierbaren Arbeitsmehrbelastung eine Rolle: „Wenn wir an solchen Projekten teilnehmen, zieht man sich aber auch Anfragen an Land, die wir gar nicht haben möchten", sorgt sich beispielsweise Mardiros Tavit (ProSiebenSat.l). Im Vordergrund stehen nach Einschätzung von Thomas Beutelschmidt indes geschäftsstrategische Gründe, die gegen eine offenere Informationspolitik seitens der kommerziellen Archive sprechen:

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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„Es reicht ja, wenn nur einige Basisinformationen über die Archivgüter in diesen Datenbanken öffentlich gemacht werden wie die Mitwirkenden und die Sendedaten. Das ist überhaupt kein Problem, wird aber politisch und auch nicht in den Archiven gewünscht" (Thomas Beutelschmidt, HUB). Eine Alternative zur Einbringung wertvoller Bestandsinformationen bietet ein zusätzliches Archiwerzeichnis, in dem sich über 240 Institutionen mit Adressdaten, Ansprechpartnern und zusammenfassender Beschreibung der verfügbaren Sammlungsbestände finden. Dadurch erhält der Suchende zumindest einen Überblick, u m sich in dem unübersichtlichen Feld der audiovisuellen Sammlungsinstanzen und ihrer Zuständigkeiten besser zurechtzufinden. MIC wird ein besonderer Wert zugeschrieben, weil das Portal eine Vielzahl unterschiedlicher AV-Sammlungen zusammenführt und miteinander in Relation setzt. Neben öffentlichen und industriellen Filmarchiven finden sich Angaben zu universitären Medienzentren und Fernseharchiven, die ansonsten ohne weiteres nicht eruiert werden könnten. Johnson bezeichnet das Projekt daher auch als „collaborative space", u m seine Binnenfunktion für die Fernseherbe-Verwaltung bei der gegenseitigen Verständigung hervorzuheben: ,,[T]he one thing that is very appealing about MIC is that the very small regional archives with their very interesting and important unique collections can reside there right next to the Library of Congress. So there is a lot of networking, bringing people into their archives and into the Library of Congress" (Jane Johnson, LC). Als mit internationaler Zielrichtung konzipierte Schnittstelle zwischen Gedächtnisorganisationen, der Wissenschaft und der allgemeinen Öffentlichkeit konnte MIC sein Potenzial aber bisher kaum entfalten. So nehmen hauptsächlich US-amerikanische, kanadische und (in weitaus geringerem Maße) europäische Institutionen am Register teil, aus Deutschland wiederum sind alleinig das Filmarchiv des Bundesarchivs sowie die Fachhochschule für Technik und Wirtschaft aus Berlin beteiligt. In Zukunft soll die internationale Nutzerschaft stärker in den Blick genommen werden, indem regionalisierte Versionen des Portals entwickelt werden, welche die Informationen in der jeweiligen Landessprache und unter Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Symboliken, einschließlich der Farbwahl, anbieten (vgl. Turner/Sambaino/Sahn 2007). In Deutschland hat sich seit dem Jahr 2000 eine eigene Initiative entwickelt, die sich unter dem Namen Netzwerk Mediatheken als Zusammenschluss vornehmlich universitärer Sammlungseinrichtungen, aber auch musealer, archivischer und sogar vereinzelt Sender-Institutionen zum Ziel gesetzt hat, einen einfacheren Weg zum audiovisuellen Erbe zu bahnen, wie der Geschäftsführer Dietmar Preißler erklärt: „Wir haben eine Sendung zwar in unserem individuellen oder kollektiven Gedächtnis, doch das HB-Männchen, ein Gaus-Interview oder einen bestimmten Film zu finden, ist z.B. häufig zum Scheitern verurteilt. Das ist eine Barriere, die sowohl für Forscher, als auch für Studenten schwer zu überschreiten ist. Da versuchen wir als Netzwerk Mediatheken auch mit anzusetzen, damit wir zumindest die Institutionen,

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung die sich bereits jetzt mit dem Thema professionell beschäftigen, auf einem Internetportal zusammenführen. Wenn man den richtigen Ort dann gefunden hat, bleibt es natürlich weiterhin schwierig, Zugang zum einzelnen Programm zu bekommen. Doch der erste Schritt muss getan werden, und da versucht das Netzwerk Mediathek, die erste Barriere zu überwinden zu helfen" (Dietmar Preißler, HDG/NM).

Nach anfangs 13 Mitgliedern hat sich die Zahl der beteiligten Institutionen auf über 50 erhöht. Das zentrale Vorhaben sei jedoch nicht, eine übergreifende Suchmaschine oder Cross-Datenbank einzurichten, wie Preißler und auch Stülb betonen. Vielmehr liege das Augenmerk darauf, die einzelnen Anlaufstellen mit ihren Ressourcen, Leistungsangeboten und jeweils eigenen Nutzungsbedingungen vorzustellen, damit der Nutzungsinteressent die Vielfalt mediensammelnder Institutionen vor Augen geführt bekomme, ohne an ihr zu verzweifeln: „Wir sind ein föderales Land, und Mediensammlungen finden sich dezentral an ganz unterschiedlichen Stellen. Es gibt bei den über 50 Mitgliedern, die wir haben, wirklich sammelnde Institutionen, die selbst Spezialisten nicht direkt präsent sind. Da können wir dazu beitragen, diese Barriere zu überwinden", sagt Preißler. Einen europäischen Ansatz verfolgt die Online-Bibliothek „Europeana", ein von der Europäischen Kommission ins Leben gerufenes Projekt zur Zugänglichmachung des kulturellen Erbes der EU-Mitgliedsstaaten, das aber durch die nur äußerst geringe Beteiligung von Bewegtbildarchiven hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Solche Vernetzungsansätze bilden nichtsdestotrotz nach Ansicht von Bruce DuMont (MBC) die Grundlage für eine stärkere Partizipation breiter Bevölkerungskreise an der Beschäftigung mit dem Fernseherbe und seiner intellektuellen wie emotionalen Erschließung, die nur realisiert werden kann, wenn neben den Rahmenbedingungen auch die Bereitschaft vorhanden ist, die audiovisuellen Quellen auszutauschen und einer Nutzung zuzuführen. Derartig ausgerichtete Clearingstellen könnten ihre Aufgabe daher auch breiter begreifen und in ausgeprägterem Maße unabhängige Sammlungsinitiativen in staatlichen Einrichtungen, Unternehmen, Bildungsorganisationen, Archiven, Bibliotheken und Museen sowie von privaten Nutzern informationstechnisch miteinander verbinden und damit ihr Schattendasein beenden, um einen wesentlichen Beitrag zu einer Infrastruktur des Zugangs zu leisten (vgl. Kapitel IV.3.3.2.). - Dem durchschnittlichen Zuschauer ohne professionelles Nutzungsanliegen stehen nicht dieselben Zugangsmöglichkeiten zur Verfügung wie dem kommerziellen oder dem wissenschaftlichen Nutzer. Publikumsanfragen werden aufgrund ihrer privaten Natur bei den großen Fernsehveranstaltern an Mitschnittdienste verwiesen, die unabhängig von den Archivabteilungen arbeiten und Programmmaterial entgeltlich zur Verfügung stellen, indem sie eine individuelle Kopie anfertigen (lassen) und sie an den Besteller versenden. Aufgrund der Spezialisierung der zuständigen Dienstleister auf die Bedienung des Zuschauerbedarfs können archivierte Sendungen auf diese Weise kostengünstiger zugänglich gemacht werden als mittels einer Archivdienstleistung. Michael Harms (SWR) spricht dahingehend von einem „Fließbandverfahren". Die Preise liegen zum Beispiel bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zwischen circa

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30 und über 50 Euro pro Stunde oder Sendung. Dennoch kann es sich bei diesem Behelfsmodell allenfalls um eine Ausweichmöglichkeit oder eine Notlösung handeln, da viele Fernsehveranstalter, darunter hauptsächlich kommerzielle Sender, keine eigenen Mitschnittdienste unterhalten und extern beauftragte Unternehmen ihre Aufzeichnungen nur wenige Wochen aufbewahren. In anderen Fällen wie unter anderem bei einigen Serviceanbietern in den USA, aber auch bei einigen öffentlich-rechtlichen Anstalten in Deutschland, können teilweise auch Sendungen bestellt werden, die weiter zurückliegen wie einzelne CNN-Formate aus den 1980er Jahren oder Sendungen des MDR seit 1992. Je älter die Archivbestände sind, darauf weist Axel Bundenthal (ZDF) hin, desto aufwendiger und teurer können solche Mitschnittanforderungen werden. Zudem können aufgrund der diffizilen Rechtelage generell nur Sendungen herausgegeben werden, für die sämtliche Rechte bei dem jeweiligen Veranstalter liegen. Produktionen, die auch nur mit wenigen Fremdrechten belegt sein mögen, sind daher grundsätzlich von dieser Bezugsmöglichkeit ausgeschlossen. Daher beschränkt sich die Auswahl in der Regel auf Sendungen mit berichterstattendem, dokumentierendem oder ereignisbezogenem Charakter, wobei auch all solche Produktionen gleich welchen Inhalts, die regulär im Handel als Kaufvideos erhältlich sind, nicht als Mitschnitte angeboten werden. - Externen Nutzern bietet sich außerdem die Option, sich bei der Beschäftigung mit der Fernsehgeschichte auf die Marktgegebenheiten zu verlassen. Ein probates Mittel ist die selbständige

Mitschnitterstellung,

die eine gute Programmkenntnis voraussetzt und den

Zuschauer in die Pflicht nimmt, das Programmgeschehen akribisch zu verfolgen und Sendungen, die den Nutzungsinteressen entsprechen (zum Beispiel eine Nachrichtenspezialsendung über ein Medienereignis oder die Wiederholung eines Lieblingsfilms aus Kindertagen), entweder mit eigenem technischen Gerät aufzuzeichnen oder eine persönliche Aufzeichnung durch eine öffentliche Einrichtung wie eine Bibliothek zu beantragen. Die selbstbestimmte Aufzeichnung, die bei rein privaten Nutzungszielen keinen Beschränkungen unterliegt, stellt den Rezipienten indes vor dasselbe Problem wie jenes der institutionellen Sammlungsinstanzen: Die prospektive Bestimmung, welche Programminhalte zukünftig von Relevanz sein werden, lässt sich auch bei einem klaren Nutzungsziel nur unzureichend ermitteln. Fällt das Interesse wiederum auf bereits in der Vergangenheit ausgestrahltes Programmmaterial, gerät der Nutzer in eine unkomfortable Abhängigkeit zu den Programmstrategien der Fernsehveranstalter, deren Entscheidungen, ob, wann und wie häufig eine Sendung im laufenden Programm wiederholt wird, vom einzelnen Zuschauer häufig weder nachvollzogen noch vorhergesagt werden können. Der Zugang zur Fernsehgeschichte erfolgt hier also mit einer temporal unbestimmten Verzögerung und einem hohen Zufallsfaktor, welche das televisuelle Erinnern aufgrund des hohen Ausfall- und Frustrisikos zu einem Vabanquespiel avancieren lässt. Einen Ausweg bieten private Netzwerke, wie sie unter anderem in Form von Fan-Clubs existieren. Hier herrscht ein mitunter reger Tauschverkehr zwischen den einzelnen Mitgliedern, die sich untereinander private Aufzeichnungen ausleihen. Diese sind für Außenstehende jedoch im Allgemeinen schwer zugänglich

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

und erfordern die Akzeptanz des Nutzers in der Gruppe, die im Zweifelsfall durch ein zeitaufwendiges Engagement für die Ziele der Fan-Gemeinschaft errungen werden kann (vgl. Kapitel III.4.2.). - Ein weiterer Pfad in die Fernsehgeschichte führt spätestens seit dem Aufkommen des Heimvideomarktes über das Kauf- und Leihvideo-Angebot von Produktionsfirmen und Fernsehveranstaltern. Der Erfolg von außerhalb der Programmschemata separat vermarkteten Fernsehproduktionen zeichnete sich bereits Anfang der 1990er Jahre ab und gehört mittlerweile zu den wesentlichen Faktoren bei der Re-Finanzierung von Sendungen wie hauptsächlich Serienproduktionen. Insbesondere alte Fernsehserien, Fernsehfilme und -shows, aber auch TV-Dokumentationen aus den Archiven feiern durch eine verspätete oder neu aufgelegte DVD- oder Online-Veröffentlichung bemerkenswerte Verkaufserfolge und gehören zum stärksten wachsenden Marktsegment der Heimvideoindustrie (vgl. Blowen 1989; Hernandez 2003; Snider 2004). Die Verbilligung der Produktionstechniken und -materialien sowie neue effiziente Vermarktungs- und Vertriebskonzepte über das Internet sorgen dafür, dass sich selbst geringe Auflagen eines Produkts nicht nur als kosteneffektiv erweisen, sondern auch lukrative Gewinne versprechen. Die daraus erwachsene Vielfalt der Veröffentlichungen ist gemäß der „Long Tail"-1heorie des Publizisten Chris Anderson, Chefredakteur des Technologiemagazins „Wired", der marktwirtschaftlichen Erkenntnis geschuldet, dass selbst Nischenprodukte rentabel zu veräußern sind, wenn eine ausreichende Auswahl an solchen verfügbar und für den Kunden leicht auffindbar ist (vgl. Anderson 2006: 53). Fernsehhistoriker wie Michele Hilmes (WCFTR) und Lynn Spigel (NWU) loben die auf diese Weise gewährleistete Verfügbarkeit eines zuvor verborgenen Teils der Fernsehgeschichte und sehen darin zum Teil eine Alternative zum Archivzugang. Doug Gibbons vom Paley Center for Media hebt zudem die Bedeutung von Zusatzmaterial hervor, mit denen zahlreiche DVD-Veröffentlichungen aufgewertet werden und für Wissenschaftler wie auch für den allgemeinen Nutzer wichtige Einblicke in den Produktionsprozess des jeweiligen Werkes und damit in fernsehhistorische Zusammenhänge bieten. Auch lassen diese „archival features" (Rombes 2004: 347) beim Nutzer das Bewusstsein und den Anspruch wachsen, auch Kontextüberlieferungen aus der Fernsehgeschichte heranzuziehen: „The first step is to recognize that DVDs are more than a simple technical advancement - that they signal the emergence of a new and more complex sensibility on the parts of many viewers" (ebd.). Der signifikante Nachteil dieses Behelfsmodells liegt darin, dass der Nutzer der Willkür von Marktkonjunkturen unterstellt wird, die unvorhergesehene Probleme aufwerfen können. Die Handelsbezeichnung Out of Print als Kennzeichnung vergriffener Titel wird diesbezüglich zum Synonym für das Marktvergessen: Was nicht (mehr) käuflich erworben werden kann, hat zwangsläufig keinen Platz im öffentlichen Bewusstsein, weil es dem Nutzer als Erinnerungsanlass bzw. als mediales Erkundungsmittel der Vergangenheit nicht zur Verfügung steht. Henry Jenkins (MIT) bemängelt aus diesem Grund, dass sich auch die Wissenschaft durch ihr erzwungenes Marktvertrauen eben

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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diesen nicht kontrollierbaren Mechanismen ausgeliefert sieht und sich nur schwerlich dagegen wehren kann: „Whenever you discover an old show that goes into syndication or appears on a cable channel the television historians are drawn to write about it because it's the first time they have access to large numbers of episodes. We see the same thing when television shows appear on DVD: They shape the scholarship because of the access to a broader range of material [...]. And that can be disturbing because the selection is governed by market conditions and not necessarily by the priorities a historian would have. Yet, once the scholarship is in place, it than determines what is taught and what gets remembered from different historical periods. It reinforces a particular preconception of what television was at a particular time and place. And it is very difficult to break out of that model by doing original archiving research, because most of the stuff you might want to look at might not be available" (Henry Jenkins, MIT) Jenkins Kritik an der Ausrichtung von Forschung und Bildungsarbeit an Marktgegebenheiten betrifft einen wichtigen Aspekt der Zugangsproblematik, da sich Nutzungsinteressenten durch das wachsende Angebot an Archivmaterial im Handel dafür entscheiden könnten, aus Gründen der Zeit- und Kosteneffizienz mit leicht verfügbarem Material Vorlieb zu nehmen. William Uricchio wies bereits daraufhin, wie verheerend eine solche Sicht auf die (Fernseh-) Geschichte haben kann: „[A] plethora of readily available evidence entails a similar but related problem concerning the researcher s historiographic assumptions. A fixation with readily available .facts' can obscure the complexities and contradictions which help to construct a historical moment, privileging ,dead certainties' over the ambiguities of competing discourses" (Uricchio 1995: 260). Dass hierdurch trotz der Proliferation von Nischenmärkten einer einseitigen Hinwendung zur Fernsehgeschichte Vorschub geleistet wird, die zudem nicht den originären Sendungszusammenhang in den Blick nehmen kann, sind problematische Aspekte, die das marktbasierte Zugangsmodell zwar zu einem wichtigen Instrument machen, aber keine Alternative mit Ausschließlichkeitsanspruch darstellt: „I would make the argument against the free market economists. Because I would say that there is a market for those things today but there may not be a market ten or twenty years from now. There will be a .market failure' in the future, but by then it will be too late. So the role of a cultural institution is to maintain cultural memory for a very long time. And markets usually ajusts on a ten year basis, not on a hundred year basis" (Howard Besser, NYU). - Auch die Archive und Mediatheken an Hochschulen sind trotz niedriger Budgets gemeinhin rege Käufer von Video- und DVD-Veröffentlichungen, um eine verlässliche Versorgung des Lehr- und Forschungsbetriebs zu gewährleisten und nicht ausschließlich auf Wiederholungen im laufenden Programm vertrauen zu müssen. Als Selbstversorger agieren universitäre Sammlungseinrichtungen oft unter großer Unsicherheit, da sie sich durch die hohe Fluktuation in der Nutzerschaft, fehlender Kontrollmechanismen bezüglich der externen Nutzung ihrer Bestände sowie Grundsatzfragen der Archi-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

vierungszuständigkeit in einer rechtlichen Grauzone bewegen (vgl. Kapitel IV.2.5.4.). Die unausgesprochene Duldung durch Fernsehveranstalter und Produktionsfirmen bietet zwar keineswegs die erforderliche Rechtssicherheit, dennoch werden Wissenschaftler mit nachgewiesenen Forschungsanliegen bestmöglich unterstützt. Während sich Hans Hauptstock (WDR) deutlich gegen die Praxis audiovisueller Medienzentren an den Hochschulen ausspricht und die dortige Praxis als illegal bezeichnet, bewerten andere Vertreter von Senderarchiven wie Heiko Kröger (NDR) und Axel Bundenthal (ZDF) die Situation aufgrund der Arbeitsentlastung im Rahmen ihrer eigenen Archivtätigkeit als weniger kritisch. Insofern gilt oftmals das geläufige Sprichwort: Wo kein Kläger, da kein Richter. „Weil bislang noch keine dieser Mediatheken geschlossen worden ist durch den Staatsanwalt, sehe ich da kein wirkliches Problem", resümiert auch Peter Schwirkmann von der Deutsche Kinemathek. Dennoch sehen sich Sammlungseinrichtungen an Hochschulen weitestgehend gezwungen, eine defensive Zugangspolitik und Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, in ihren Angeboten informell zu bleiben und sich möglichst nur auf persönliche, wissenschaftliche Kontakte zu beschränken, worauf Thomas Beutelschmidt (HUB) hinweist. Auch sei das Selbstversorger-Modell niemals ausreichend, betont Hans-Gerhard Stülb (DRA), weil selbst universitäre Medienzentren mit großen Sammlungsbeständen nur eine geringe Auswahl dessen bereithalten können, was vom Forschungsbetrieb nachgefragt werde. Die Konsultation der Senderarchive bleibt damit nicht nur eine Option, sondern eine Notwendigkeit. - Museale und bibliothekarische Sammlungsinitiativen setzen dort an, wo den Sammlungsanstrengungen individueller Zuschauer, aber auch wissenschaftlicher Selbstversorger Grenzen gesetzt sind: Welcher Bedarf vom Markt nicht bedient werden kann, wird in begrenztem Ausmaß durch Vorkehrungen seitens öffentlich zugänglicher Institutionen befriedigt, die sich zum Ziel gesetzt haben, der Allgemeinheit Zugang zu den Überlieferungen der Fernsehgeschichte zu verschaffen. Dies kann thematisch wechselnd fokussiert und inhaltlich spezialisiert erfolgen wie bei der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung, deren Hauptaufgabe darin besteht, mit ihrem Angebot an audiovisuellen Medienproduktionen als bundesbehördliche Anlaufstelle für die politische Aufklärung und Weiterbildung in Schule, Studium und Beruf zu fungieren und die Flut an zur Verfügung stehendem Material redaktionell wie kuratorisch aufzuarbeiten; dies kann aber auch in breiterem, thematisch weniger fixiertem Umfang erfolgen wie im Falle des Paley Center for Media. Ein wichtiger Faktor ist hierbei die Unterstützung der Sammlungspraxis sowie die Genehmigung der Präsentation des Materials in den jeweiligen Instituten. Michael Harms (SWR) hält es für eine Senderpflicht, nicht nur der Wissenschaft nach allen Möglichkeiten Hilfe angedeihen zu lassen, sondern auch Stiftungen, Vereine und sonstige der allgemeinen Öffentlichkeit verpflichteten Projekte zur Funktionalisierung von Fernsehüberlieferungen, damit dort je nach ihren Zielen aussagekräftige Sammlungen zusammengestellt werden könnten. Die aktive Unterstützung der großen Museen in New York, Chicago und Berlin bei der Akquise von historischem Programmmaterial unterstreicht die allgemein wohlwollen-

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

259

de Haltung der Fernsehveranstalter gegenüber etablierten Gedächtnisorganisationen, die ihre Zuverlässigkeit im rechtlich abgesicherten, nicht-gewerblichen Umgang mit dem ihnen zur Verfügung gestellten Überlieferungen unter Beweis gestellt haben. So überantwortete der Sender RTL seinen archivierten Komplettmitschnitt des gesendeten Programms aus den Jahren 1984 bis 2004 dem Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main unter der wissenschaftlichen Betreuung der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg. Diese Entscheidung fiel laut Susanne Betzel (RTL) aufgrund der Kassationserfordernisse durch den Umzug der Senderzentrale: Die Überlieferungen hätten durch die enthaltenen Senderlogos keinen Produktionsnutzen mehr. Im Normalfall sind jedoch auch gemeinnützige Organisationen Problemen der hohen Kostenbelastung qua Lizenzgebühren sowie dem nicht unerheblichen Aufwand bei der selbständigen Rechteklärung ausgesetzt (vgl. Kapitel IV.2.5.3. bis 2.5.4.). Etwas leichter haben es dagegen die rar gesäten Leuchtturmorganisationen wie das Paley Center for Media und die Stiftung Deutsche Kinemathek, mit denen von Senderseite Sonderabkommen bei der Zurverfügungstellung von Archivmaterial getroffen wurden und häufig auf dem „kurzen Dienstweg" (Michel Harms, SWR) kooperiert wird. Diese operieren anders als die Archivabteilungen der Fernsehunternehmen mit einem ausgeprägteren Fokus auf die transparente Gestaltung der Zugangsmöglichkeiten: So bieten Einrichtungen wie unter anderem das UCLA Film & Television Archive, das Museum of Broadcast Communications und das Paley Center for Media Recherchemittel im Internet an, mit welchen die Bestandsdatenbanken durchsucht werden können und sich der Nutzer Klarheit darüber verschaffen kann, ob ein Besuch der Institution zu dem gewünschten Rechercheziel führen kann. Dieser ist größtenteils aufgrund der Ausleih- und Vorführbeschränkungen noch notwendig und zwingt die öffentlichen Einrichtungen, ihre Sammlungen ausschließlich vor Ort zugänglich zu machen. Ihre Bestände einem größeren Publikum auch außerhalb der eigenen Mauern zur Nutzung anzubieten wie beispielsweise durch DVD-Veröffentlichungen oder durch Abrufmöglichkeiten im Internet, ist ohne gesonderte vertragliche Geschäftsvereinbarungen noch illusorisch, wie auch Ruta Abolins (WBMA & PAC) unterstreicht: „At this point it is a dream." Dennoch gibt es vielseitige Ansatzpunkte, größere Kreise der Bevölkerung von den unabhängigen Sammlungsinitiativen profitieren zu lassen. Hier ist der Einfallsreichtum der jeweiligen Einrichtung gefragt, der zur Bedingung macht, seine aktive Vermittlerrolle in der Fernseherbe-Verwaltung zu erkennen und kooperative Lösungen zu finden, wie Archivberater Sam Kula fordert: „Instead of simply being a passive repository of past programming which people can consult on their premises, they can become an active custodian of the collection from which you can then pull out certain themes and present them. In fact you could be an active role player in re-using the material in your custody to present programs that are not only available on your own premises, but tour around the country through universities or film-societies or specialized exhibition places, things like that" (Sam Kula).

260

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Einer solchen Ägide folgen beispielsweise das Paley Center for Media mit seiner 1996 eröffneten Dependance in Los Angeles oder die Library of Congress mit ihrem Motion Picture and Television Reading Room in Washington, D.C., an den die digitalisierten AV-Überlieferungen aus dem National Audio-Visual Conservation Center in Culpeper, Virginia quasi hausintern versandt werden. Die ambitionierteste Initiative zur Errichtung eines Netzes von Sichtungsplätzen in öffentlichen Bibliotheken, Schulen und Universitäten verfolgt jedoch das British Film Institute mit seinem „Screen Online'-Projekt. Was Fernseharchivleiter Steve Bryant für Großbritannien beschreibt, schließt an die Gedankenspiele während der Planung der „Deutschen Mediathek" an, bei denen zeitweise auch eine dezentrale Lösung unter Einbindung der einzelnen Landesrundfunkhäuser diskutiert wurde. Seit 2007 bietet auch das Vanderbilt Television News Archive US-amerikanischen Hochschulen auf Abonnementsbasis den OnlineZugriff auf ausgewählte Teile seiner digitalisierten Archivbestände an, für welche die betreffenden Sender (zuerst CNN, in der Folge auch NBC) ihre Einwilligung gegeben haben. Damit ein solches Angebot in Zukunft nicht mehr ausschließlich von einer senderseitigen Zustimmung abhängt, hat eine Gutachtergruppe aus Rechtsexperten sowie Vertretern von Gedächtnisorganisationen und der Verlagsbranche einen Bericht zur Ausweitung des Paragraphen 108 des US-amerikanischen Copyright Acts vorgelegt, in dem sie unter anderem empfiehlt, dass es Archiven, Bibliotheken und Museen über die bereits bestehenden Privilegien beim Umgang mit urheberrechtlich geschützten Werken hinaus erlaubt sein soll, anderen speziell zertifizierten Bildungseinrichtungen den Zugang zu Fernsehnachrichtensendungen auf digitalem Wege durch das StreamingVerfahren zu ermöglichen, ohne aber ein Herunterladen der Daten zuzulassen (The Section 108 Study Group 2008). - Auch wird an Wegen und Möglichkeiten gearbeitet, das Material nicht zum Nutzer, sondern den Nutzer zum Material zu bringen: Das UCLA Film & Television Archive schreibt jedes Jahr zwei Reisestipendien aus, mit denen Promovenden (auch aus dem Ausland) im Rahmen ihres Dissertationsprojekts, das eine Sichtung von audiovisuellen Überlieferungen erfordert, welche sich in den Sammlungsbeständen finden lassen, nach Los Angeles reisen können, um im Studienzentrum des Archivs ihren Forschungen nachzugehen. Dieses Behelfsmodell bietet sich ebenso für andere Universitätsarchive, Bibliotheken oder Museen an, die ihre Sammlungen notgedrungen nur in ihren eigenen Räumlichkeiten präsentieren dürfen. Selbst Forschungsanliegen in Senderarchiven ließen sich mittels Stipendien durch Drittmittel finanzieren, um die anfallenden Kosten zu decken.

IV.3. Die drei Problemfelder der

Fernseherbe-Verwaltung

261

Auffindbarkeit

Sichtung

Reproduktion

Vorführung

Senderarchive

Nur eigenes Programmaufkommen; Angebot von Recherchemöglichkeiten mit wenigen Ausnahmen nur intern

Sichtung des Materials ausschließlich vor Ort; Zugang stark restriktiv

Angebot von Kopierdienstleistungen gemeinhin nur für Material, dessen Rechte vollständig beim Sender liegen

Lizensierung eigenen Materials über entsprechende Verwertungsabteilungen der Sender, keine Klärung von Fremdrechten durch den Sender

Einzelhandel/ Mitschnittdienste

Material beschränkt sich auf Β erichterstattung (Mitschnitte) und kommerzielle Einzelveröffentlichungen (DVDs, etc.)

Sichtung nur nach kostenpflichtiger Bestellung

Kostenpflichtige Belieferung

Rechteklärung durch den Anbieter möglich

Universitätsarchive/ Hochschulmediatheken

Oftmals nur stark selektiv und lükkenhaft; Bestände nur vor Ort recherchierbar

Vervielfältigung von Archivbeständen ist in der Regel untersagt

Im Ausnahmefall kann bei der Rechteklärung vermittelt werden

Museen

Selektierte Bestände, leicht aufzufinden und zu recherchieren Sehr kleine, partielle Bestände, schwer zu lokalisieren und zu recherchieren

Sichtung des Materials nur vor Ort; Zugang auf Universitäts-, Fachbereichsangehörige und Gastforscher beschränkt Sichtung des Materials ausschließlich vor Ort; unbeschränkter Zugang Keine verlässlichen Möglichkeiten, abhängig von der Bereitschaft des Besitzers

Eine Kopienanfertigung wird grundsätzlich ausgeschlossen Abhängig von der Bereitschaft des Besitzers, rechtlich generell fraglich

Im Ausnahmefall Vermittlung bei Rechteklärung

Fan-Clubs/ Privatsammlungen

Verbesserungspotenziale

Rechteklärung durch den Anbieter unwahrscheinlich

- Ausbau netzwerkbasierter Clearingstellen (z.B. MIC, Netzwerk Mediatheken) - Verbesserung der Rechtssicherheit bei der Nutzung für Forschung und Bildung - Verstärkte kompromissgeleitete Kooperation/Verständigung zwischen Sendewirtschaft, Wissenschaft und Kulturarbeit zur besseren Verfügbarkeit von Fernseharchivalien auf breiter Basis - Schaffung von dezentralen Sichtungsmöglichkeiten in Bibliotheken und Bildungseinrichtungen für digitale/digitalisierte Fernsehüberlieferungen - (Internationale) Reisestipendien für Besuch und Nutzung von Archiv- und Sammelstellen, einschließlich der Archivabteilungen der Fernsehveranstalter

Tabelle 6: Bestehende Zugangsmöglichkeiten zum Fernsehprogrammerbe. (Quelle: Ubois 2005 und eigene Erhebung/Darstellung)

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

262 3.3.2.

Von der Sackgasse auf die Datenautobahn? Die Revolutionierung des Zugangs im Internet

So offenkundig verschiedenartig und unkalkulierbar die Probleme beim Zugang zum Fernseherbe sind, desto größer sind die Hoffnungen auf Besserung, die allseitig mit der aufkommenden Digitalisierung und dadurch auch Virtualisierung der Fernseherbe-Verwaltung durch die Karriere des Internets verbunden werden. Michele Hilmes vom Wisconsin Center for Film & Theatre Research spekuliert, dass der Medienwandel schon bald eine heute noch unvorstellbare Vielfalt an Zugriffsmöglichkeiten auf Fernsehüberlieferungen heraufbeschwören könnte, so dass es möglich werde, über simple Suchmechanismen in die Tiefen der Fernsehgeschichte vorzustoßen: ,,[W]e are now entering in perhaps a time with all the digitization of so much old footage and various things that are out there that we might be going to a place where this is less problematic. Where you type in a word in Google and you will taken to an archive website where you actually can download video or audio" (Michele Hilmes, WCFTR). Auch Robert Thompson (SU) hofft zum Wohle von Forschung und Lehre ebenfalls auf eine Re-Organisation der Archivkultur hin zu einer digitalen Infrastruktur, die zu einer Perfektionierung der Long Tail-Theorie führen könnte, indem bedarfsgerecht aus dem Reichtum eines komplexen televisuellen Fundus ausgewählt werden könnte und zwar nicht in der konventionellen Form vorselektierter Komplettpakete wie vollständiger Serienstaffeln, sondern in Form einer Datenbank, die je nach Wahl Clips, Einzelepisoden usf. bieten würde. Natürlich, da stimmen die befragten Wissenschaftsvertreter überein, wäre es vorteilhaft, wenn sämtliches Überlieferungsmaterial nicht nur digital, sondern auch kostenlos verfügbar wäre. Dies berührt freilich Fragen der Re-Finanzierung sowie der zugrundeliegenden Geschäftsmodelle, die eines der inkrementellen Probleme beim Ausbau der bisher in die Fernsehgeschichte führenden Sackgasse zur Datenautobahn darstellen. Die folgenden vier Kapitel thematisieren die fundamentalen Umwälzungen, die der Fernseherbe-Verwaltung bevorstehen und sie zum Teil bereits erfasst haben: Neben innovativen Erfassungs- und Suchinstrumenten wird der Zugang zum Fernseherbe und den auf ihm basierenden Erinnerungen auch immer deutlicher von einer Archivbewegung im Internet bestimmt, welche die Fernsehveranstalter wie auch die öffentlichen Gedächtnisorganisationen vor neuartige Herausforderungen stellen.

3.3.2.1. Vom Suchen und Finden: Herausforderungen bei der Indexierung

von

Erinnerungsanlässen

Rapide Kapazitätssteigerungen bei digitalen Datenträgern haben zu einer Wissensexplosion im Sinne einer medial gespeicherten Informationsanhäufung geführt, die bisher ungekannte Anforderungen an die Verwaltung und Selektion digitaler Audiovision stellt. Dank digitaler Codes kann aber nicht nur eine bisher ungeahnte Menge gespeichert werden; diese kann auch mittels digitaler Metadaten, wechselseitiger Verknüpfungen von

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

263

Inhalten und zusätzlicher Kontextinformationen sowie intelligenter Suchinstrumente effektiver als jemals zuvor erschlossen werden. Doch um einen komplexen Archivbestand funktionalisieren zu können, braucht es ebenso ausgereifte Such- und Distributionsmechanismen. Hier stellen digitale Technologien Speicher-, Katalogisierungs- und Auffindungsinstrumente bereit, um den televisuellen Fundus nutzbar zu machen. So wertvoll die Qualitäten der Audiovisualität jedoch bei der direkten sinnlichen Vermittlung von Inhalten sein mögen: Bei ihrer archivischen Erschließung bereitet eben diese Form der Medialität die größten Schwierigkeiten. Um die Auffindbarkeit einer Fernsehprogramm-Überlieferung zu gewährleisten, braucht es Hilfsmittel, die eine detaillierte Deskription ermöglichen. Eine Fernsehproduktion kann sozusagen nicht für sich sprechen und nicht wie ein Buch oder ein Manuskript aus sich selbst heraus, dass heißt auf Basis ihrer eigenen Textlichkeit Zugang zu ihren Inhalten gewähren, sondern erfordert eine Beschreibung mit Schlüsselbegriffen, um im Archiv gesucht und gefunden werden zu können. Aufgrund der inhaltlichen Komplexität des Materials ist die dafür notwendige Gewinnung der „intellektuellen Kontrolle" in Form von aussagekräftigen Katalogeinträgen (vgl. Edmondson 1998: 26) kein leichtes Anliegen. Je umfangreicher außerdem die verwalteten Überlieferungsbestände sind, desto aufwendiger sind auch die Anforderungen an effektive Katalogisierungsmethoden. Die Erstellung sogenannter Metadaten, also Daten, die wiederum bestimmte Zieldaten wie beispielsweise Medienwerke und ihre Inhalte beschreiben und somit dabei behilflich sind, zweckgerichtete Zugänge zu ihnen zu erhalten, erfolgt in der Fernseherbe-Verwaltung größtenteils unter Berücksichtigung der wichtigsten Sendungsdaten, einschließlich der Produktionsangaben sowie einer zusammenfassenden Inhaltsangabe, die in eine digitale Datenbank eingepflegt und somit recherchierbar werden. Sie sind der Schlüssel zu den Fernseharchivalien bzw. ihre „Produktverpackungen" (vgl. Greco 2008: 37). Das Hauptproblem dieser Form der Katalogisierung liegt in der zwangsläufigen Unvollständigkeit der abstrahierenden Angaben sowie in den damit einhergehenden Beschreibungsproblemen. Deskriptive, technische und administrative Metadaten dienen dazu, ein archiviertes Werk hinreichend zu beschreiben, um es für eine Nutzung bereitstellen zu können. Speziell die deskriptive Erfassung des Inhalts stellt die Fernseharchive vor Probleme, da sie durch die Offenheit des hierzu benötigten Vokabulars mit veralteten Schlüsselwörtern zu kämpfen haben, die bei der Katalogisierung früher Fernsehprogramm-Überlieferungen eingesetzt wurden, aber kaum oder nicht mehr im aktuellen Sprachgebrauch vorkommen, wodurch das Risiko wächst, dass Rechercheanstrengungen in Gegenwart und Zukunft nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen. Das Archivpersonal, das mit der Aufnahme von Titeln befasst ist, wird daher dazu angehalten, möglichst einfache Begriffe zu verwenden, wie unter anderem Joel Kanoff (ABC) erklärt: ,,[W]e try to train our cataloguers to use very objective flat language. Language should not be colored editorially; we use certain words and not other certain words. It's a never ending struggle to find the right words. We train our cataloguers in that

264

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung way because we think it's good for journalism and it's the way that more producers or clients will be able to find our material" (Joel Kanoff, ABC).

Die manuelle Eingabe der Metadaten per Hand ist eine ebenso mühsame wie zeitaufwendige Angelegenheit und beansprucht enorme Personalkapazitäten. Durch das weiter ansteigende Programmvolumen wird der Druck auf die Katalogisierungsmaßnahmen stetig erhöht und lastet schwer auf den Archivstellen. So kann ein Archivmitarbeiter bis zu sieben Stunden dafür benötigen, eine 50-minütige Nachrichtensendung vollständig zu katalogisieren (vgl. Dowman/Tablan/Cunningham/Popov 2005: 225). Es nimmt daher nicht wunder, dass die archivische Erfassung schnell in Verzug geraten kann und vor den Erwartungen einer Echtzeit-Erschließung des neu eintreffenden Materials kapitulieren muss. So staute sich selbst in ressourcenstarken Institutionen wie der Library of Congress durch die arbeitsintensive Dateneingabe ein Rückstand auf, der sich nur schwerlich abbauen ließ. Als Bruce DuMont im Jahre 1987 eine Sondervorführung der historischen Fernsehaufnahmen der öffentlichen Anhörungen zum Watergate-Skandal im Museum of Broadcast Communications plante, musste er feststellen, dass diese aufgrund des Nachholbedarfs bei der Katalogisierung (noch) nicht zugänglich waren: „We went to the Library of Congress to see whether we can get copies of the shows. We were told: No, because they had not yet cataloged the Watergate Hearings. 15 years after one of the biggest events in the history of this country it hadn't been cataloged! At that time they told us, there was a 19 year backlog in cataloging" (Bruce DuMont, MBC). In vielen kleineren Archiv- und Sammlungseinrichtungen konnte in der Vergangenheit aufgrund des unbefriedigten Bedarfs an geschultem Personal und der notwendigen Investitionen in Datenbanktechnologien eine nur rudimentäre Erschließung der Überlieferungsbestände erfolgen. Betroffen sind insbesondere Programmarchivalien aus den ersten Jahrzehnten der Fernsehgeschichte, da sich bisweilen das fehlende Archivbewusstsein (vgl. Kapitel IV.3.2.1.) im vor-digitalen Zeitalter mit einer wenig zuverlässigen Zettelwirtschaft verband und die somit unstete Karteikartenkatalogisierung nicht zur Übersichtlichkeit der Bestände beitrug. Übergreifend kann der heutigen Fernseherbe-Verwaltung durch die uneinheitliche Herausbildung von Erschließungs- und Verwaltungsmethoden ein eklatant hohes Maß an Heterogenität mit Blick auf die zur Anwendung kommenden Katalogisierungssysteme attestiert werden. Das Problem der nur schwer herzustellenden Interoperabilität zwischen den unterschiedlichen Metadatenstandards erhält durch den wachsenden Nutzungsbedarf an archiviertem Fernsehprogramm-Material Gewicht. ,,[I]ts all in these diverse corky systems of recording that would be difficult to standardize the access", sagt Jane Johnson von der Library of Congress. Dass vor allem Wissenschaftler durch die divergierenden Katalogisierungskonventionen in der Fernseherbe-Verwaltung bei ihren Recherchen erheblich behindert werden, betont Lynn Spigel (NWU): „It can be a real hunt to find something." Wie Thorsten Schilling von der Bundeszentrale für politische Bildung beklagt, gereiche die Systemvielfalt den Zugangsanliegen nicht zum Vorteil, son-

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

265

dem drohe sie vielmehr im Klein-Klein versanden zu lassen. Forderungen nach digitalen Vorschauarchiven für die akademische Nutzung, wie sie unter anderem Wolfgang Ernst (HUB) vorschlägt, sind aus diesen Gründen zumindest in integrierter senderübergreifender Form mittelfristig nicht zu realisieren. Was den befragten Experten vorrangig Sorge bereitet, ist die zweifelhafte Aussicht auf eine tatsächliche Verbesserung der Zugangsmöglichkeiten zum Fernseherbe durch die Implementierung digitaler Technologien. Solange kein Weg gefunden werde, durch gemeinsame Bemühungen eine einheitliche Datenbankstruktur mit allgemein verbindlichen Metadatenstandards durchzusetzen, um dadurch eine dezentral oder zentral im Internet aufgestellte Clearingstelle auf Basis einer neuen digitalen Infrastruktur zwischen den Archiven zu erschaffen, bestehe keine Aussicht auf Erfolg, glaubt Joseph Hoppe vom Deutschen Technikmuseum Berlin: „Wenn man es aber heutzutage wirklich will, sind solche Konversionsprozeduren aber machbar. Doch da ist der Egoismus der Anstalten auf der einen Seite noch zu sehr ausgeprägt, und auf der anderen Seite sehe ich keine Institution, die die organisatorisch-administrative Kraft sein könnte und auch die finanziellen Möglichkeiten haben würde, um diese Datenintegration wirklich bewerkstelligen zu können" (Joseph Hoppe, DTM). Unabhängig von den rechtlichen und geschäftsstrategischen Hürden, die für solch ein Projekt zu überwinden sind, sprechen also zuallererst gravierende verwaltungstechnische Gründe dagegen. Wie wichtig die Vereinheitlichung der Metadatenerstellung ist, kann fast täglich an der Sendeabwicklung wie beim Programmaustausch zwischen den ARD-Anstalten oder innerhalb der Gemeinschaft öffentlicher Fernsehanstalten in den USA abgelesen werden. Während die Archive der Landesrundfunkanstalten mit Ausnahme des WDRs mit der FESAD-Archivdatenbank arbeiten und sich zusammen mit dem ZDF durch das Regelwerk Fernsehen auf eine einheitliche Linie bei der Erschließung von Programmmaterial verständigt haben, verfügen die öffentlichen Fernsehveranstalter in den USA erst seit 2005 über einen gemeinsamen Metadatenstandard namens PBCore, dessen Ziel es ist, ein systemweites Übereinkommen über die Art und Weise zu erzielen, wie archivierte Fernsehüberlieferungen zu klassifizieren und zu ordnen sind, um eine umfassende Interoperabilität unter den Senderarchiven zu gewährleisten (vgl. PBCore Public Broadcasting Metadata Dictionary Project 2007). Die Konzentration großer Teile der Fernseharchivgemeinschaft auf die Durchsetzung eines kongruenten Deskriptionsvokabulars verspricht jedoch keine Abhilfe bei der Bewältigung des grundsätzlichen Dilemmas: Audiovisuelle Archivalien werden auf lange Sicht nur durch die Zuweisung von schriftlichen Informationen und der Eingabe von Schlüsselbegriffen zugänglich sein. Eine Revolution der Fernseherbe-Verwaltung verspricht die automatische Indexierung von audiovisuellen Produktionen durch digitale Softwaretechnologien. Mit Hochdruck werden seit Jahren Wege der digitalen Wissenserschließung und Wissensweiterverarbeitung erforscht, die unter den Sammelbegriff des Semantischen Netzes („Semantic Web") fallen. Die fortschreitende Enkodierung televisueller Archivbestände in digitale Datei-

266

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

formate lässt diese Optionen zu vielversprechenden Alternativen bei der arbeitsintensiven Katalogisierung neuer Programminhalte avancieren. Bereits heute kommen entsprechende Verfahren in der kommerziellen Medienbeobachtung zur Anwendung: Dienste wie das Bremer Unternehmen „Mediaclipping" beobachten hauptsächlich im Auftrag von PR-Agenturen und Großunternehmen die laufenden Programme von bis zu mehreren hundert Sendern und durchsuchen sie auf bestimmte Schlagworte, um beispielsweise die Medienpräsenz einer Firma nachweisen zu können. Hierbei wird das Programmangebot nicht automatisch mitgeschnitten, sondern rund um die Uhr mithilfe einer Spracherkennungssoftware in Echtzeit transkribiert. Die automatisch erstellten Texte werden zudem in einzelne Textsegmente unterteilt (zum Beispiel wenn ein Sprecher- oder Themenwechsel stattfindet), mit einem Zeitstempel versehen und in einer Datenbank gespeichert, so dass sie auch retrospektiv recherchierbar sind. Der zusätzliche Abgleich mit den Programminformationen aus dem elektronischen Programmführer versieht die Transkripte mit den notwendigen Sendungsdaten. Die Spracherkennung ist zurzeit die am häufigsten eingesetzte Methode zur automatischen Indexierung von Fernsehprogramm. Die Technik, die auch von Online-Anbietern wie TV Eyes, Blinkx oder Truveo verwandt wird, um digitale Videoinhalte im Internet zu durchsuchen, ist indes noch größtenteils unausgereift, da die Fehleranfälligkeit beispielsweise bei sich überlagernden Dialogen, Hintergrundgeräuschen, Sprachfehlern oder starken Dialekten noch sehr hoch ist, und daher weit davon entfernt, ihr Potenzial für den Einsatz in Fernseharchiven zu entfalten. Nichtsdestotrotz liegen die Vorteile auf der Hand: Intelligente Content Management-Systeme, wie sie bereits unter anderem von Unternehmen wie Delve Networks, EveryZing oder der österreichischen APA-IT entwikkelt werden, versprechen bei einer erfolgreichen Implementierung in Fernseharchiven erhebliche Kostenersparnis bei gleichzeitiger Verbesserung der Recherchemöglichkeiten. Neben der automatischen Spracherkennung kann sich die Suche nach audiovisuellen Inhalten in den USA auf programmbegleitende Textinhalte stützen, da der überwiegende Großteil des Fernsehprogramms anders als in Deutschland mit Untertiteln versehen ist (vgl. Kapitel III.6.2.1.). Archiveinrichtungen wie das UCLA Film & Television Archive haben bereits mit der automatischen Indexierung von Fernsehprogramminhalten per Untertitel experimentiert. Nicht nur die Hoffnungen des nach Effizienz und Arbeitsentlastung strebenden Archivpersonals ruhen auf den technologischen Innovationen, sondern auch die der allgemeinen Nutzerschaft: „The holy grail of visuality is to search the library of all movies the way Google can search the Web. Everyone is waiting for a tool that would allow them to type key terms, say .bicycle + dog,' which would retrieve scenes in any film featuring a dog and a bicycle. In an instant you could locate the moment in ,1he Wizard of Oz' when the witchy Miss Gulch rides off with Toto. Google can instantly pinpoint desirable documents out of billions on the Web because computers can read text, but computers are only starting to learn how to read images" (Kelly 2008).

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

267

Das Ziel ist zwar hochgesteckt, aber rein technisch kein Ding der Unmöglichkeit: Der größte Nutzen liegt angesichts der Vielseitigkeit von Inhalten, ihrer Qualität und der Kontextinformationen mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer cross-medialen Kombination verschiedener inhaltlicher Suchtechnologien (vgl. auch Copano 2008: 32). Die Schrift wird indessen weiterhin ihre zentrale Rolle bei der Erfassung und Zugänglichmachung von audiovisuellem Archivmaterial behaupten: Sie dient auch in der digitalen Archiv-Infrastruktur als einziges Mittel und Filter zur Ordnung der Überlieferungsbestände. „There is no way around the need for metadata", konstatiert dementsprechend Nan Rubin, Archivarin des öffentlichen New Yorker Lokalsenders WNET/lhirteen (Rubin 2007). Kritiker sehen durch diese allgemein verbreitete Auffassung das Pferd von hinten aufgezäumt: Schriftbasierte Metadaten könnten nicht mehr sein als eine Notlösung, die den Reichtum von audiovisuellen Quellen nur unzureichend erfassen könnten (vgl. Ortiz Jr. 2007: 18). Zweifel erhebt auch Wolfgang Ernst, die Archivpraxis denke in ihren Konventionen nicht vom Medium her: „Das ist immer noch eine Verschlagwortung und die Unterwerfung der Bilder und Töne unter die Metabegriffe. Dadurch wird es natürlich such- und findbar, aber verdoppelt dann noch mal die Vorherrschaft der Schrift über die audiovisuellen Medien. Und wenn wir dann die digitale Kultur denken, in der Bild und Text und Ton gleichrangig sind, sollten wir den einen Schritt weiter gehen und eine Kultur fördern, die in den Medienformaten selbst suchen kann. Dann sind neue Optionen der Suche möglich, an die wir noch gar nicht denken. Ich möchte zum Beispiel alle kreisrunden Gegenstände, die im Jahr 1960 über Fernsehbildschirme liefen, ob das nun Fußbälle sind oder Köpfe, die möchte ich mal haben. Das wäre mit keiner Metamaschine findbar" (Wolfgang Ernst, HUB). Die von Ernst angesprochenen visuellen Suchmechanismen stecken in ihrer Entwicklung noch in den Kinderschuhen. Von Verifikationssystemen zur Bild- oder Gesichtserkennung in Videoaufzeichnungen wird zunächst der Regierungssektor profitieren, wo die Entwicklung derartiger Softwarelösungen zur Personenidentifizierung unter anderem im Rahmen der Terrorismusbekämpfung vorangetrieben wird (vgl. Heinrich 2007:256). Das visuelle Tracking von Personen oder Objekten anhand bestimmter Merkmale ist durch seine Zeit- und Positionsabhängigkeit, der hohen Anzahl von in Frage kommenden Personen/Objekten sowie der semantischen Segmentierung von Programminhalten von äußerster Komplexität und konnte in Bezug auf Fernsehinhalte bisher nur im Einzelfall erprobt werden. Ein solcher Versuch wurde von einem britischen Entwicklungsteam um den Computerwissenschaftler Mark Everingham unternommen, dem es gelang, mithilfe eines vollautomatisierten multi-modalen Analysemodells das Erscheinen von Charakteren in einzelnen Episoden der Fernsehserie „Buffy - The Vampire Slayer" (1997-2004) zu ermitteln. Hierzu wurden sowohl Untertitel und Drehbuch-Manuskripte zur zeitgenauen Erfassung der Dialoge und der beteiligten Personen herangezogen als auch Technologie zur Erkennung von Gesichtern und Kleidung (Everingham/Sivic/Zisserman 2006).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Auch wenn die Datenkomplexität besondere Herausforderungen an diese Methode der automatischen Indexierung stellt - eine einzige „Buffy"-Episode besteht aus bis zu 20.000 zu erfassenden Gesichtern - stellt die kombinatorische Auswertung von audiovisuellen Primärquellen und ihren begleitenden Kontextmaterialien die verlässlichste inhaltliche Erfassung einer Fernsehsendung in Aussicht. Dadurch dass sich immer mehr Archiveinrichtungen für integrierte digitale Datenbanksysteme entscheiden, in denen nicht nur das digitalisierte Bewegtbildmaterial, sondern auch Manuskripte, komplette Drehbücher und Produktionsakten sowie Angaben über den Sendeablauf, Schnittlisten, Lizenzverhandlungen oder Verwendungsbeschränkungen digital hinterlegt werden, wird zumindest der potenzielle Nutzen von derlei Erschließungs- und Zugangsinstrumenten ersichtlich. Die hohen Entwicklungskosten werden einen Einsatz der Technologie für den Großteil der an der Fernseherbe-Verwaltung beteiligten Institutionen allerdings in naher Zukunft unwahrscheinlich machen. Hilfestellung kann diesbezüglich von Förderprogrammen wie dem mit 200 Mio. Euro budgetierten Leuchtturmprojekt „Theseus" ausgehen. Der Gesamtetat wird zu gleichen Teilen vom deutschen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und den beteiligten Forschungs- und Industriepartnern, darunter die Fraunhofer-Gesellschaft, SAP und Siemens, finanziert. Bei Theseus handelt es sich um ein staatlich gefördertes Programm zur Entwicklung und anschließenden Standardisierung von Basistechnologien, die für verschiedene Anwendungsfelder eine internetbasierte Wissensinfrastruktur aufbauen sollen, die möglichst vielseitig eingesetzt werden sollen. Für den zukünftigen Umgang mit dem Dokumentenerbe ist das von der Deutschen Nationalbibliothek betreute Teilprojekt „Contentus" von besonderem Interesse, in dessen Rahmen ebenfalls erforscht wird, wie digitalisiertes Archiv- und Sammlungsgut unterschiedlicher Medientypen - darunter Schrift- und Ton- wie auch Videomaterial - automatisch mit Metadaten versehen und untereinander inhaltlich verknüpft werden kann (vgl. auch Hans-Bredow-Institut 2008: 309). Ein besonderes Augenmerk liegt auch auf der Einbeziehung von Internet-Nutzern in den Erschließungsprozess, um mittels der Anreicherung der Digitalisate mit zusätzlichen Informationen durch die Nutzer das Prinzip der sogenannten Folksonomien aufzugreifen. Bei Folksonomy handelt es sich um ein Kunstwort und Konzept, das sich von den Begriffen folks (Leute) und taxonomy (Klassifikationssystem) ableitet und die hervorgehobene Rolle der Nutzer bei der Erstellung von Kategorisierungen innerhalb der internetbasierten Wissensorganisation in den Vordergrund stellt (vgl. Tränt 2007: 4). Die Implementierung von nutzergenerierten Metadaten in die professionelle FernseherbeVerwaltung wird bei den zuständigen Stellen noch recht hypothetisch behandelt und Folksonomien insgesamt als Nischenphänomen mit wenig Aussicht auf weite Verbreitung betrachtet (vgl. Hans-Bredow-Institut 2008: 308). Dennoch beschäftigen sich Fernseharchivare schon seit einiger Zeit mit der Frage, ob social tagging, also die Annotation von Programmmaterial mit Schlüsselbegriffen durch die Masse der Nutzer, eine Möglichkeit darstellt, um bei steigender Arbeitsbelastung Zeit und Kosten zu sparen. Auch le-

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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gen diese innovativen Formen der Wissensorganisation und -Vernetzung eine Adaption insbesondere in der Verwaltung des Fernseherbes nahe, um die Rezipientenperspektive stärker bei der Kategorisierung und Verschlagwortung von Programmüberlieferungen zu berücksichtigen und dadurch die Indexierung von televisuellen Erinnerungsanlässen auf ein solideres, kollektives Fundament zu stellen. Gedächtnistheoretisch ist die Teilhabe von Rezipienten an der Erstellung von deskriptiven Daten zu historischen Fernsehwerken von immenser Bedeutung, fügen sie den televisuellen Hinterlassenschaften hierdurch doch ihre ganz eigenen Lesarten, Bedeutungszuschreibungen, Werturteile und Erfahrungen hinzu und leisten ihren mnestischen Beitrag für eine Funktionalisierung des Fernseherbes. Natürlich sind mit einer dahingehenden .Demokratisierung' der Katalogisierung nicht nur normative und wirtschaftliche Vorteile verbunden. Die Schattenseiten betreffen die Beschränkungen, die Unzuverlässigkeit und die fehlenden Kontrollmöglichkeiten der nutzergenerierten Metadaten: So kann der Durchschnittsnutzer, der mit einer solchen Strategie adressiert werden soll, gemeinhin weder etwas zu den Rahmen- noch Kerndaten, der Zustandsbeschreibung einer Überlieferung oder den Rechteinformationen beitragen. Seine Rolle beschränkt sich allein auf die Anreicherung von Inhaltsbeschreibungen und gegebenenfalls kontextuellen Informationen. Das hohe Risiko von Fehlern bei der Deskription, ob inhaltlich oder sprachlich, kann den erhofften Nutzen stark einschränken. Hinzu kommt, dass die Durchsetzung einer standardisierten Terminologie aufgrund der Offenheit des Annotationsverfahrens unwahrscheinlich bis unmöglich ist. Auch besteht dabei generell die Gefahr eines zu komplexen Datenvolumens, das zu einer Häufung irrelevanter Suchergebnisse führen kann, die wiederum nur mittels einer redaktionellen Betreuung durch eine Fachkraft bereinigt werden können. Andererseits ließe sich konstatieren, dass eben diese Komplexität mithilfe digitaler Filterwerkzeuge effektiv nutzbar gemacht werden kann und so weitaus mehr Zugangspunkte in die Tiefe der Überlieferungsbestände bietet als die herkömmlichen Katalogisierungsmethoden. Außerdem kann durchaus von einer hohen Kompetenz einzelner Nutzerschichten beim Einsatz entsprechender Instrumentarien ausgegangen werden: Die rege Beteiligung von Nutzern an Bewertungssystemen beispielsweise für Produkte und Dienstleistungen im Internet oder bei der Verwendung neuer Formen des Informationsaustauschs auf Social Network-Portalen wie „Flickr", „Facebook" und nicht zuletzt „YouTube" belegen die wachsende Motivation, in entsprechenden Projekten aktiv zu werden. Besonders eindrücklich zeigt sich die Bereitschaft, an der kollektiven Informationsgenerierung zu partizipieren, am Beispiel der Online-Enzyklopädie „Wikipedia", die einen Paradigmenwechsel bei der Wissensmodellierung herbeiführte und die traditionellen Strukturen der institutionellen und redaktionellen Hoheit zugunsten des Prinzips der kollektiven bzw. Schwarmintelligenz (vgl. Kapitel III.4.2.2.) tendenziell aufhob. ,Wiki' bedeutet im hawaiianischen Wortschatz,schnell' und dient der globalen Internet-Gemeinde als Sammelbegriff für Internet-Seiten, die von einer Mehrzahl von Nutzern in Echtzeit bearbeitet werden können, um dadurch Informationen untereinander zu teilen. Dieser

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gemeinnützige Ansatz gilt als Gegenpol zu der traditionellen Wissensaggregation, die einer Hierarchie kultureller Eliten folgt und den Nutzer ausschließlich in der Rezipientenund nicht in Produzentenrolle sieht. Das über Jahre präferierte Vermittlungsmodell wich einem pluralistischen Ansatz bei der Wissenserstellung und -Verwaltung (vgl. Wagner 2004). Die von dem Internet-Unternehmer Jimmy Wales gegründete und mittlerweile in zehn Sprachen verfügbare Enzyklopädie ist durch diese Philosophie zum meistfrequentierten Wissensportal für die allgemeine Öffentlichkeit geworden.50 Das Open Source-Prinzip der partizipatorischen Wissensorganisation von „Wikipedia", in das jede Person mit Zugang zum Internet Informationen einspeisen, aber auch verändern und löschen kann, macht Überprüfungsmechanismen notwendig, an deren Effektivität es aber angesichts der Zahl der Einträge und der Fluidität ihrer Änderungen hapert. Die Entscheidung, welche Angabe schlussendlich korrekt ist und welche falsch, wird in der virtuellen Umgebung einem Kollektiv überlassen. Die Anfälligkeit für fehlende Prägnanz, tendenziöse Sichtweisen, unbeabsichtigte Fehler, aber auch bewusste Manipulationsversuche bietet immer wieder Anlass für Kritik (vgl. Margolis 2007; Garfinkel 2008; Bartsch/Brauck/Hülsen/Müller 2009). In entfernter Anlehnung an die Begutachtung von wissenschaftlichen Aufsatzveröffentlichungen durch Fachexperten (peer-reviewed) wird jedoch auch bei „Wikipedia" der Versuch unternommen, durch Peers, also gleichgestellte Nutzer, eine rigorose Qualitätskontrolle zu garantieren (vgl. Möller 2006: 174). In diesem Zuge werden die Daten nicht durch eine singuläre Prüfung beglaubigt oder mittels der Reputation einer kulturellen Entität verifiziert, sondern vielmehr über die nicht festgelegte Dauer des Aggregationsprozesses sowie eine unbestimmte Zahl von Teilnehmern: Je mehr Zeit vergeht, als desto gesicherter gelten die Daten, weil sich mehr Nutzer an der Diskussion mit ihren jeweiligen Perspektivierungen und Wissensständen beteiligen und die bereits vorhandenen Daten im ständigen Fluss falsifizieren (vgl. Hoffmann 2006: 168; Rosenzweig 2006). Das Beispiel „Wikipedia" liefert also Hinweise darauf, dass eine Engagierung der breiten Masse auch bei der Verwaltung von Fernsehüberlieferungen bei aller erforderlichen Vorsicht durchaus hilfreiche Implikationen auch bei der ergänzenden Generierung von Metadaten haben könnte, zumal der Impetus seitens der Nutzer ähnlich gelagert sein kann: die gemeinsame Kreation von Wissen und seine Kartierung im Dienste der Allgemeinheit. „User-created metadata is not a panacea for archival cataloging woes, but it is an important strategy that should be considered seriously for its potential to provide cheap and easy content level descriptions that are catered to the user. Over time, and with different levels of editorial control, user-created metadata could prove very useful to the archival community" (Andreano 2007: 92).

50

Die internationale Startseite von „Wikipedia" (www.wikipedia.org) ist nach Angaben des USamerikanischen Statistik-Dienstes „Alexa.com" regelmäßig in der Rangliste der zehn am häufigsten besuchten Internet-Seiten weltweit gelistet.

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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Im Vordergrund muss, so die normative Forderung, wie bei „Wikipedia" der Mehrwert für die allgemeine Öffentlichkeit stehen: Voraussetzung hierfür ist freilich eine offensivere Zugänglichmachung des Fernsehprogrammerbes im Internet, um das Interesse und die Bereitschaft der Nutzer für die aufwendige Annotation zu wecken, ohne die zentrale Funktion der Ordnungsinstanz Archiv zu schwächen: Anders als in den CommunityStrukturen des Internets wird die Partizipationsmodellierung in diesem Fall aufgrund der systemischen Rahmenbedingungen der Fernseherbe-Verwaltung nicht kollaborativ erfolgen können, sondern muss unter der klar hierarchisierten Kontrolle der institutionellen Kompetenzzentren bei den Veranstaltern oder den gemeinnützigen Gedächtnisorganisationen erfolgen. Digitale Technologien und die virtuelle Einbindung von Nutzern in die Metadatengenerierung versprechen auf operativer Ebene also sowohl eine Verringerung des Katalogisierungsaufwands als auch eine Bereicherung des Informationsgehalts von Metadaten. Dies entspräche auch den normativen Forderungen nach einer verbesserten Tiefenzugänglichkeit der Überlieferungsbestände. Die qualitative Aufwertung des Materials durch seine erleichterte Auffindbarkeit und die daraus folgende Erhöhung seines Nutzwertes kann wiederum einen erhöhten Zugangsbedarf evozieren und eine weitere strategische Öffnung der Archive anstoßen, wie in den folgenden Kapiteln argumentiert wird. 3.3.2.2. Zwischen krimineller Aberration und anarchistischem Pioniergeist: Auf dem Weg zu einer neuen Archivkultur im Internet

Am Anfang stand das Advanced Research Projects Agency Network: Im Oktober 1969 in den Betrieb genommen, legte das sogenannte ARPANet die Grundlage für die heutige Infrastruktur des allgegenwärtigen Internet, das immer stärker mit dem Fernsehen verschmilzt. Nicht ganz 24 Jahre lang war es alleinig Forschungseinrichtungen und Hochschulmitarbeitern vorbehalten. Akademische Nutzer blieben unter sich und nutzten rege die neu erwachsene Möglichkeit, sich mithilfe von Computern zu verständigen und in bis dato ungekannter Geschwindigkeit und Leichtigkeit Informationen austauschen. Schon lange bevor die Öffnung des Netzwerkes für die globale Allgemeinheit im Jahre 1993 die unterschiedlichsten Vergemeinschaftungsformen hervorbrachte, hatte sich die wissenschaftliche Gemeinde des elektronischen Netzwerks bedient, um nicht nur ihre Wissensressourcen in einem Gemeinschaftskontext effizient auszutauschen, sondern sich auch gegenseitig menschlichen Beistand und hilfreiche Tipps in Alltagsfragen anzubieten (vgl. Rheingold 1993). Was sich im Laufe der 1980er Jahre mit dem ARPANet ankündigte, ist heute eine Selbstverständlichkeit: Das Internet ist spätestens seit dem lückenlosen Ausbau der telekommunikativen Infrastruktur in Nordamerika und Europa und der Versorgung eines Großteils der Haushalte mit Breitbandanschlüssen zum (virtuellen) Schauplatz eines sozialen wie ökonomischen Wandels geworden, der auch die Arten und Funktionen des gesellschaftlichen Erinnerns betrifft (vgl. u.a. Assmann 2006:243-246; Sumner 2004; Marotzki 2007). Der unaufhaltsame Aufstieg post-posttraditionaler Vergemeinschaftungs-

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Fernseherbe-Verwaltung

formen zur dominanten Sozialstruktur im Internet unter dem Zeichen von Portalen wie „Facebook", „MySpace" oder „StudiVZ" hat nicht erst der elektronischen Text-Kommunikation und Wissensdistribution eine persönliche Note verliehen, sondern mit der gestiegenen Leistungsfähigkeit der Übertragungswege auch den audiovisuellen Ausdrucksund Kommunikationsformen. Mit dem zunächst zaghaften und bald immer kraftvolleren Einzug des Fernsehens in die Netzwerkstrukturen der digitalen Sphäre haben sich auch letztlich die Grundsätze seiner Funktionalisierung durch das Publikum verändert: Wie bereits in Kapitel IV.3.1.4. erörtert, haben das Internet und namentlich das Videoportal „YouTube" einen signifikanten Beitrag bei der Transformation des Rezipienten zum Produzenten von audiovisuellen Werken geleistet. Das Angebot beschränkt sich aber nicht auf selbst gefilmte Videos. Mit nachdrücklicher Experimentierlust und allzu häufig unter Missachtung gesetzlicher Bestimmungen wird überall dort mitgeschnitten, kopiert, bearbeitet und wiederveröffentlicht, wo Fernsehen empfangen werden kann - entsprechend der weit gefassten „YouTube"-Philosophie „Broadcast Yourself". Das mit über 100 Millionen Nutzern monatlich führende Videoportal ist freilich bei weitem nicht die einzige Plattform, auf der sich Aufzeichnungen und Kopien von Fernsehprogramm-Material finden lassen: Aus der Aktivität der Nutzer versuchen zahlreiche Anbieter Profit zu schlagen und bieten ebenfalls die Möglichkeit, Videoinhalte kostenlos online zu stellen, um damit die Nutzungszahlen in die Höhe zu treiben. Darüber hinaus werden sogenannte Peer-2-Peer- bzw. Filesharing-Netzwerke wie „BitTorrent", „Gnutella" oder „eDonkey", die gemeinhin als Tauschbörsen bezeichnet werden, dazu benutzt, Filme und Fernsehsendungen in ganzer Länge und hoher Qualität untereinander in Dateiform auszutauschen. Letztere Systeme stehen im besonderen Fokus der Strafverfolgung, da es sich größtenteils um rechtswidrige Angebote kompletter Serienläufe oder privater Filmbibliotheken handelt, die in ihrem Umfang der Film- und Fernsehindustrie finanziellen Schaden zufügen. So mancher Nutzer stellt nicht bloß vereinzelt Ausschnitte aus seiner Lieblingsserie oder einen Fernsehbeitrag aus den Lokalnachrichten online, sondern gleich komplette Sendungen. Wolfgang Ernst (HUB) sieht darin eine eingreifende Bewegung, die in ihrer Kleinteiligkeit zwar jeder Koordination entbehre, jedoch den Zugang zum Fernseherbe revolutionieren werde: „Es müsste [... ] eine Clearing-Stelle eingerichtet werden, kein zentrales Archiv, kein zentraler Bau, in dem Videokassetten und Tonkassetten herumliegen, sondern nur die schon längst vorliegenden digitalisierten Archivbestände exemplarisch anzapfen zu dürfen. Allerdings habe ich da eher einen anarchistischen Gedanken, denn im Internet zirkuliert auf eine paralegale Weise mittlerweile so viel interessantes audiovisuelles Material, dass sich das Internet quasi am Staat vorbei selbst organisiert" (Wolfgang Ernst, HUB). In den Händen des Publikums entfalten digitale Fernsehinhalte offenbar eine ungeahnte Attraktivität: Jugendliche Zuschauer erteilen dem herkömmlichen Fernsehprogramm zwar immer häufiger eine Absage; das bedeutet aber nicht, dass die betreffenden Sen-

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düngen nicht rezipiert würden. Vielmehr führen immer mehr Wege ins Internet: Statt die pompöse Show rund um die Filmpreisverleihung der Oscars am herkömmlichen Fernseher zu verfolgen, entscheiden sich junge Rezipienten dafür, den Ablauf online in Echtzeit und im Freundeskreis zu beobachten und virtuell zu diskutieren. Je mehr sich hierbei innovative Kommunikationsinstrumente wie unter anderem internetbasierte Kurzmitteilungen über den Dienst „Twitter" (zu deutsch: .zwitschern) großer Beliebtheit erfreuen, desto konkreter werden die einstmals imaginativen Gemeinschaften der Fernsehzuschauer im Virtuellen. So erzielte auch das Nachrichtennetwork CNN nicht mit den Einschaltquoten seiner klassischen Live-Berichterstattung über die Amtseinführung von US-Präsident Barack Obama Rekorde, sondern vielmehr indem es mit der Social Network-Plattform „Facebook" kooperierte und seine Live-Streams in die CommunityStruktur des Portals integrierte. Auf diese Weise wurde für jeden Web-Zuschauer sichtbar, welche anderen Nutzer gleichzeitig zuschauten. Außerdem konnten die Zuschauer das Geschehen auf ihre ganz eigene Weise kommentieren und traten in einen Dialog mit den Fernsehjournalisten, die moderierten, auf Fragen eingingen oder irrtümliche Äußerungen richtig stellten. Sind derlei Senderstrategien im Zuge konvergierender Geschäftsfelder und des wachsenden Engagements von Fernsehunternehmen im Internet stark im Kommen, hatten die Veranstalter lange Zeit Bedenken, ihre digitalisierten Archivgüter ebenfalls über diesen Vertriebsweg zugänglich zu machen. Die selbstmotivierte Aktivität des Publikums, das keine Scheu zeigt, die Fernsehvergangenheit in Wort, Ton und Bild eigenmächtig wiederauferstehen zu lassen, könnte hier eher früher als später ein Umdenken anstoßen. Schließlich wurde „YouTube" nicht durch die Weitsicht der Fernsehindustrie zum Sinnbild einer neuen Archivkultur, sondern durch eine Graswurzelbewegung51 aus der Mitte der Publika, die heute dank digitaler Werkzeuge beim Umgang mit Fernsehproduktionen aktiver sind als jemals zuvor. Wurden die Urheberrechtsverletzungen, die aus der ungenehmigten Veröffentlichung von Fernsehprogrammsegmenten auf „YouTube" resultieren, anfangs gutmütig ignoriert, veränderte sich die Lage radikal mit der Übernahme des Videoportals durch die „Weltmacht Google", wie die Zeitschrift „Stern" den Suchmaschinenkonzern noch vor dem Kaufabschluss im Mai 2006 betitelte. So strengte das Medienunternehmen Viacom eine Klage über eine Milliarde US-Dollar an, weil mehrere hunderttausend illegal abrufbarer Fernsehmitschnitte nicht wie gefordert von der „YouTube"-Geschäftsleitung gelöscht worden waren. Dass der Fall auch nach über zwei Jahren noch gerichtlich verhandelt werden musste, zeigt die fundamentale Verunsicherung der etablierten Geschäftsmodelle der alten neuen Medien und belegt, wie weit bereits die

51

Die metaphorische Umschreibung Graswurzelbewegung bzw. der englische Ausdruck Grassroots bezeichnet basisdemokratische Initiativen, die ursprünglich im gesellschaftspolitischen Bereich angesiedelt waren. Mittlerweile dient der Begriff zur Charakterisierung jeglicher Gruppenbildungsansätze, die sich aus der gesellschaftlichen Masse heraus entwickeln und nicht einem hierarchischen Leitsystem folgen. Rheingold (1993) knüpfte die Metapher erstmals an das Phänomen der kommunikativ-asynchronen Vergemeinschaftung im Internet.

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Ansichten des Publikums und der Fernsehindustrie in Bezug auf die Zugänglichkeit von einmal gesendeten Fernsehwerken auseinanderdiffundiert sind. Dass der Rechtsbehelf kaum eine Lösung verspricht, liegt angesichts der schieren Vielfalt von Zugangsinitiativen seitens der Nutzer nahe. Die medial besonders umworbenen Zielgruppen der unter 25-Jährigen sind nach Ansicht von Jane Johnson (LC) keineswegs bereit, auf traditionellen Pfaden Zugang zum Fernseherbe zu erlangen: „We live in a visual universe and the thought that the content resides at the Library of Congress or somewhere else and they have to go there: Forget about it!" Die Erwartungshaltung ist offenbar derart hoch, dass der Zugriff auf Fernseharchivalien gänzlich anderen Determinanten unterliegt als zuvor: Weder Fernsehsender noch der Heimvideomarkt bestimmen hier vordergründig mit ihren Marktzyklen, welche historischen Sendungen im sogenannten Web 2.0 rezipiert werden können, sondern allen voran der kollaborative wie kommunale Geist des Netzes, unter dessen Ägide Fernsehsammlungen aus der Verborgenheit der Privatsphäre ans Licht der Öffentlichkeit drängen. Internet-Nutzer sind offenkundig nicht mehr (ausschließlich) angewiesen auf Wiederholungen im laufenden Programm, DVD-Veröffentlichungen, Mitschnittservices oder die Gnade des Fernseharchivars, um mit fernsehhistorischen Werken in Kontakt zu kommen, sondern haben sich bis zu gewissem Grad von den institutionellen Zugangsrahmungen emanzipiert, indem sie sich untereinander selbst mit Programmmaterial versorgen. Die Vorzeichen der Zuschauerbeteiligung am öffentlichen Diskurs über und mit dem Fernsehen haben sich im Zuge der Medienentwicklung von Grund auf gewandelt: - Der rasante technische Fortschritt im Internet hat dazu geführt, dass sich durch die Leichtigkeit der digitalen Übertragung audiovisueller Inhalte im Heimbereich innerhalb von nur wenigen Jahren ein lebendiger Austausch von Fernsehwerken aus dem aktuellen und vergangenen Programmangebot entwickelt hat. War es in der analogen Medienumgebung nur unter erheblichem Aufwand praktikabel, andere Zuschauer wie beispielsweise Fans mit denselben Interessen an der eigenen Privatsammlung von Videokassetten teilhaben zu lassen, was erhebliches Engagement und Opferbereitschaft des Einzelnen voraussetzte, um Kassetten mittels zweier Videorekorder zu kopieren und die Duplikate per Post an die Interessenten zu versenden, wurde dieser Vorgang durch digitale Hilfsmittel stark vereinfacht. - Mit der steigenden Internet-Nutzung weiter Publikumskreise wurde nicht nur die kapazitive Leistungsfähigkeit der Netztechnologie ausgeweitet, sondern auch der Ausbau interaktiver Veröffentlichungs- und Kommunikationsinstrumente vorangetrieben. Eine Folge war die Entstehung von virtuellen Freundschaftsnetzen, mit deren Hilfe sich von Nutzern eingestellte Inhalte gegenseitig verknüpfen und somit Empfehlungsstrukturen implementieren lassen, die einer rezipientengesteuerten Aufmerksamkeitslenkung bei der Beschäftigung mit Fernsehinhalten den Weg bereiten. Die Bereitschaft, fremde Nutzer an der eigenen Fernsehsammlung teilhaben zu lassen, ist also nicht nur ein Resultat der technischen Möglichkeiten, sondern auch und vor allem der optimierten sozialen Interaktion.

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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- Graswurzelbewegungen inhärent ist ein Pioniergeist, ohne den eine selbstbewusste Vereinnahmung und Kultivierung innovativer Interaktions- und Diskursformen durch eine breite Nutzerschaft unwahrscheinlich wäre. Die kommunikative und informative Vielfalt des Internets resultiert zu erheblichen Teilen aus einer neu erwachsenen „Kostenlos-Mentalität", die dem Nutzer suggeriert, im Überangebot des deregulierten globalen Netzwerks seien digitale Medieninhalte grundsätzlich frei abrufbar und ohnehin alles möglich (vgl. Wirtz/Becker 2002:915; Wiedmann/Langner 2004:221). Diese auch als „Gratiswahn" (Schmalz 2009) titulierte Veränderung in der Konsumpsychologie hat freilich schwerwiegende Implikationen für das allgemeine Unrechtsbewusstsein bei der Nutzung und Veröffentlichung von Medienwerken. - Die schier unüberblickbare Menge an kostenfreien Angeboten im Internet schafft ein Gefühl grenzenloser Freiheit beim virtuellen Austausch und ermöglicht es potenziell jedem geneigten Nutzer, sich eine eigene Online-Sammlung aus Fernsehinhalten aus den Tiefen des Netzes zusammenzustellen und eigene Aufzeichnungen oder Kopien beizusteuern. Der immer stärker zur Geltung kommende Gemeinschaftssinn innerhalb der Nutzerschaft spornt weiter dazu an, sich verfügbarer Fremdinhalte zu bedienen und sie für eigene Zwecke zu gebrauchen. Die Bereitschaft, angesichts der netzweiten Verfügbarkeit von Fernsehaufzeichnungen eben diese zu einem willkommenen Anlass für eigene Erinnerungskonstruktionen anhand autobiographischer Fernseherfahrungen zu nutzen, dürfte daher beträchtlich ansteigen. Die Vielfalt ist so betörend, dass sich schnell der Eindruck einstellen kann, im Internet fänden sich komplette Überlieferungsbestände: „Have you noticed that kids - and many adults, too - think every article ever written and every song ever sung is on the internet? It won t be long now before young people will grow up assuming that every TV program ever made is online, too. That's what they will expect" (Rubin 2007). Der Schein der Verfügbarkeit weiter Überlieferungsbereiche trügt freilich, da ein Großteil der Archivbestände längst noch nicht digitalisiert wurde. Die Signifikanz der plebiszitären Aktivitäten im Netz liegt daher eher in der unorthodoxen und vielseitigen Bemächtigung der Fernsehvergangenheit durch die Nutzer: Der Archivbegriff gründet sich im Netz nicht mehr auf einen institutionellen Sammlungsauftrag, kontrollierte Bewahrungsanstrengungen und restriktiven Zugang, sondern auf die kollektivierte Funktionalisierung einzelner Programmexzerpte. Das Ziel besteht nicht darin, Überlieferungen möglichst originalgetreu und verlustfrei zu erhalten, sondern in der Bearbeitung, Kommentierung und Zirkulation derselben im Hier und Jetzt: „Once people have got that material, its really hard to stop them to put it on an illegitimate platform on the internet", beschreibt Robert Thompson (SU) den Veröffentlichungsdrang vieler Nutzer. Fernsehsendungen gereichen nicht mehr nur zum Anlass für .Watercooler-Gespräche' (vgl. Kapitel III.6.2.4.1.), sondern werden zum Illustrations- und Ausdrucksmittel für persönliche Befindlichkeiten und zum Diskursobjekt im besten Sinne: In der Netzöffentlichkeit ist das Fernseherlebnis asynchrone und doch kommunikativ verbundene Gemeinschaftsaktivität und intellektuelle Übung zugleich - die Inhalte werden diskutiert und annotiert, persifliert oder reminisziert.

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Auch Sammler haben das Internet für sich entdeckt: Waren umfangreiche Privatsammlungen im analogen Medienzeitalter nahezu unzugänglich und nur durch das persönliche Vertrauen und die Gunst des individuellen Sammlers betretbar, da jede Einsicht durch externe Nutzer mit hohem Aufwand und Störungen der Privatsphäre verbunden war, bieten digitale Plattformen die Möglichkeit, unter Ausschluss der Öffentlichkeit zusammengetragene Sammlungen eben dieser stolz zu präsentieren und sich als Experte für fernsehhistorische Belange zu profilieren. Auf „YouTube" stellen unzählige Sammler Ausschnitte ihres Mitschnitt-Repertoires aus, die den Umfang ihrer televisuellen Besitztümer öffentlich dokumentieren. Ganz nach dem Sinnspruch „Everything helps" (Steve Bryant, BFI), gibt es im Internet bereits viele unterschiedlich akzentuierte von Rezipientenseite ausgehende Zugangsmodelle in die Fernsehgeschichte: Allen voran tragen Fan-Websites zur Bereicherung des Internets hinsichtlich eines themengeleiteten Tiefen-Ansatzes bei der Bereitstellung von Informationen über fernsehhistorische Aspekte bei. Dank des Internets erlebten Fan-Angebote eine beispiellose Proliferation und gewährten Zugang zu einem Fundus an Überlieferungen aus allen nur erdenklichen Gattungsbereichen der Fernsehgeschichte, die bisher in ihrer Menge und Vielfalt weder bekannt noch öffentlich verfügbar waren, weil sich Privatpersonen nur selten eine Gelegenheit bot, ihre Sammlungen beispielsweise auf Fan-Zusammenkünften zumindest einem kleinen Publikum zu präsentieren. Fan-Websites können sich so populären wie weltweit bekannten Fernsehserien wie „The Twilight Zone" verschreiben, der gar von leidenschaftlichen Verehrern ein virtuelles „Museum" gewidmet wurde, in dem unter anderem digitalisierte Autogrammkarten präsentiert werden mit dem Aufruf an die Besucher, sich auch mit eigenen Sammelstücken zu beteiligen, aber auch einzelnen, weniger bekannten Fernsehakteuren wie Lara Logan, der leitenden Auslandskorrespondentin von CBS, deren Berichterstattung, aber auch Auftritte in Talkshows von ihren Fans genauestens verfolgt und auf einer Website präsentiert werden. Einige Liebhaber des Mediums Fernsehen haben sich darüber hinaus dem übergreifenden Ziel verschrieben, für Orientierung in der aktuellen und historischen Programmvielfalt zu sorgen. Die von Wolfgang Ernst (HUB) geforderte Clearing-Stelle im Netz existiert bereits nutzerseitig in bruchstückhafter und vielfältiger Form: In der Regel angestoßen von einzelnen Nutzern, entwickelten sich Seiten wie „TV Tome" (heute: „TV.com"), „Sitcoms Online" oder „Fernsehserien.de" durch die Beteiligung zahlloser weiterer Nutzer, die ihr Detailwissen über Akteure, Episodenhandlungen oder trivialen Anekdoten freigiebig beisteuerten, bis hin zu enzyklopädischen Datenbanken über Fernsehproduktionen von anno dazumal. Mit dem zusätzlichen Anspruch von zentralen Verweisstellen geben sie Auskunft über weitere Informationsquellen, über die Verfügbarkeit von DVD-Fassungen einer Sendung oder die Möglichkeit, sie sich auf bestimmten Portalen online anzuschauen. Damit erwuchs zwar auch dem privaten Nutzer ein Reservoir an allerlei Wissenswertem über die Fernsehgeschichte zur Verifikation und Ergänzung seiner autobiographischen Erinnerungen; der wahre Profiteur dieser televisuellen Schwarmintelligenz ist aber die Wissenschaft, welche die erleichterten Recherchemöglichkeiten

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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dankend annimmt, wie Lynn Spigel (NWU) erklärt: „Things like TV.com are very helpful: You can go online and find endless episode descriptions. That wasn't available in the early 80's." Die Variationsbreite der von Fernsehenthusiasten betriebenen Informationsdienste reichen von Episodenführern (auf „Fernsehserien.de" finden sich beispielsweise mehr als 13.700 Fernsehserien) über die eigenhändige Erstellung von Transkripten zu bestimmten Serienfolgen wie bei „TV-Serien Infos" („tvsi.de") bis hin zur akribischen Erfassung von historischen Programmtagen, die aus alten Fernsehzeitschriften rekonstruiert werden wie bei „tvprogramme.net", oder veröffentlichter Zuschauerpost aus der Zeitschrift „HörZu" („zuschauerpost.de"). Selbst Randaspekte werden ausgiebig thematisiert, um den Wissenseifer der diversifizierten Fan-Gemeinschaften bedienen zu können. So versucht der selbständige Rechercheur Jerome Holst auf seiner Seite „TVAcres.com" so viele Fernsehcharaktere, auch solche aus den hinteren Reihen, Orte, Autos und sonstige Details aufzulisten, die in Sendungen der US-amerikanischen und teilweise auch britischen Hauptabend- und Samstagvormittagprogramme vorkamen und -kommen. Indem die digitale Infrastruktur des Internets eine starke Ausdifferenzierung von Interessensschwerpunkten und Expertisen bei den Herangehensweisen an die mannigfaltigen Themen und Aspekte der Fernsehgeschichte sowie gleichsam eine optimierte Auffindbarkeit, Verknüpfung und Erreichbarkeit der Datendepots ermöglicht, erweist sich das Netz als ideales Komplement zu den bestehenden institutionellen Dienstleistungen seitens der Fernsehwirtschaft und den gemeinnützigen Gedächtnisorganisationen. Dennoch sind die Barrieren beim Zugang zum historischen Fernsehreichtum weiterhin von nicht zu unterschätzender Höhe. Die bisherigen Nutzer-Initiativen vermochten bisher allenfalls die Spitzen einer Myriade von Eisbergen freizulegen. Wie Chuck Howell (LAB) analog zu Gerhard Stülbs (DRA) Hinweis auf die Unverzichtbarkeit der umfangreichen Bestände in den Senderarchiven für die wissenschaftliche Forschung bemerkt, ist das Internet nur scheinbar gefüllt mit erschöpfenden Archiv-Ressourcen. Bei der InternetRecherche könne es sich aber nur um eine oberflächliche Suche handeln. Durch die rechtlichen Hindernisse und damit zusammenhängenden Beschränkungen komme kein Wissenschaftler daran vorbei, ein Archiv persönlich zu besuchen und sich persönlich vor Ort in die Bestände einzuarbeiten (vgl. Howell 2006: 305). Eine stichprobenartige „YouTube"-Schnellrecherche im April 2009 zu einigen Sendungen aus der deutschen Fernsehgeschichte unterstreicht diese Auffassung: So erbrachte die Suche nach der Diskussionssendung „Kontrovers" (1973-77, ZDF), dem Kindermagazin „Flimmerstunde" (1958-96, DFF, RBB), der erfolgreichen Interviewreihe „Ich stelle mich" (1980-93, WDR), der Historienserie „Omaruru" über deutsche Farmer in Südafrika (1976-77, ARD) sowie der norddeutschen Heimatserie „Onkel Bräsig" (1978-79, ARD) keinerlei Ergebnisse. Dagegen fanden sich Ausschnitte des Jugendmagazins „Elf 99" (1989-94, DFF, RTL, Vox), eine komplette Folge des Internationalen Frühshoppens (1953-1987, ARD) mit Werner Höfer von 1969, sogar ein Ausschnitt aus der Sendung des ersten Fernsehkochs Clemens Wilmenrod (NWDR: 1953-1964), in der er sein angeblich selbst erfundenes Rezept der mit Mandeln gefüllten Erdbeere verteidigt, sowie eine Par-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

odie der Ratgebersendung „Eine Chance für die Liebe" (1987-1991) mit Erika Berger und Hape Kerkeling von 1989, allerdings kein originäres Material der Show. So vielversprechend sich der virtuelle Fundus andient, schnelle Antworten auf tiefgreifende Fragen zu liefern, besteht seine eigentliche Qualität daher nicht in der Erstellung und Pflege eines Repositoriums, sondern darin, wofür die Clips nutzerseitig eingesetzt werden, also in der dynamischen Funktionalisierung von Überlieferungsbestandteilen für die facettenreich gestaltete Erinnerungsarbeit an der gesellschaftlichen Peripherie. Der Veröffentlichungsmodalitäten von Portalbetreibern wie „YouTube" ist es geschuldet, dass Nutzer lange Zeit keine Videos einstellen konnten, die eine Länge von mehr als zehn Minuten aufweisen. Später wurde die zulässige Länge auf 15 Minuten erweitert. Die Limitierung wurde als notwendig erachtet, da nach Angaben des Unternehmens viele Nutzer die Möglichkeit genutzt hatten, unrechtmäßig komplette Filme und Episoden von Fernsehserien zu veröffentlichen (The YouTube Editors 2006). Solche vermeintlichen Schutzmaßnahmen haben indes nicht dazu geführt, den Materialfluss an urheberrechtlich geschützten Fernsehproduktionen von Nutzerseite zu stoppen. Während die einen es dabei belassen, Sendungen zu in mehrere Teile zu splitten und online zu stellen, konzentrieren sich andere Nutzer auf die kreativen Aspekte ihrer Partizipation am digitalen TV-Fundus und exzerpieren, kompilieren und manipulieren das Programmmaterial, um eine Botschaft zu vermitteln: Verhältnismäßig selten wird Fernsehmaterial als Rohmasse benutzt, um eigene audiovisuelle Kunstwerke zu erstellen, die in mal mehr, mal weniger ambitionierter Form veröffentlicht werden wie im Fall des Videokünstlers Julian Perez, der Bilder aus Fernsehshows in Stopmotion-Collagen integriert, oder bei der rudimentären Untermalung eines Kommentatorengesprächs während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 aus dem ZDF-Programm mit dem Sprechgesang der Berliner Band Seeed oder einer Szenenkompilation aus der Soap Opera „Passions" mit dem lasziven Rocksong „Sex is not the Enemy" der Band Garbage. Herausgebildet hat sich dadurch eine „Clip-Kultur", wie das Magazin „Economist" das Phänomen taufte (vgl. Anonym 2006), deren deutlichstes Charakteristikum es ist, dass Fernsehprogramm-Material von den Nutzern nicht mehr primär als Produkt wahrgenommen wird, sondern als frei verwendbares Ausdrucksmittel ihrer eigenen Kreativität. Im Vordergrund steht das Motiv, nicht einfach bloßen Zugang zur Fernsehvergangenheit zu erhalten, sondern sich ihrer zu bedienen, um mittels einzelner als Erinnerungsanlass und somit als mnestische Kristallisationspunkte fungierende Ausschnitte die eigenen Kommunikations- und konkret Vermittlungsziele zu erreichen. In den seltensten Fällen kann dabei jedoch Kontinuität in der Online-Verfügbarkeit des benutzten Programmmaterials garantiert werden, da die Nutzer ihre digitalisierten Sammlungen der Verfügungsgewalt externer Internet-Unternehmen überantworten, die jederzeit eine Löschung durchführen können, zum Beispiel wenn Verdachtsmomente für einen Rechtsverstoß vorliegen. Dennoch suchen und finden Nutzer immer wieder neue Wege, um an gewünschtes Material heranzukommen oder es selbst anzubieten, obgleich damit eine Übertretung gesetzlicher Bestimmungen verbunden ist. Diese Auflehnung gegen geltendes Recht macht

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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die erfindungsreichen und zugangssuchenden Fernsehzuschauer im Netz zu „Cultural Outlaws" (vgl. Costello/Moore 2007), die durch die Kriminalisierung ihres Strebens nach kostenfreien Zugängen zum digitalisierten Fernseherbe in die Rolle von Aktivisten gedrängt werden. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um noch frisches Programmmaterial aus der jüngsten Fernsehvergangenheit handelt oder die Erstausstrahlung schon lange zurückliegt. Die revolutionäre Formel der neuen Archivkultur im Netz scheint zu lauten: Wenn ein Fernsehwerk erst einmal gesendet ist, gelangt es schnell in die Public Domain. Selbst wenn Rechteinhaber die rigide Löschung und Sperrung von unzulässig abrufbaren Sendungen und Sendungsbestandteilen durchsetzen oder bestimmte Inhalte nur für eine gewisse Dauer online publiziert werden dürfen, tauchen die besagten Inhalte schnell an anderer Stelle wieder auf.52 So sah sich „YouTube" zwar gezwungen, die neunminütige Parodie der Serie „Twin Peaks" (vgl. Kapitel III.4.2.1.) in der Comedy-Show „Saturday Night Live" auf Initiative von NBC Universal zu löschen. Der Clip erschien aber kurze Zeit später in voller Länge bei anderen Videoportalen wie „Dailymotion.com". Das ständige Auf- und Ableben televisueller Überlieferungsfetzen mutet an wie das ununterbrochene Ringen zwischen Erinnern und Vergessen, ebenso unwägbar, aber auch überraschenden Wiederentdeckungen offen wie das menschliche Gedächtnis: „Like memory (cultural or personal), YouTube is dynamic. It is an every-changing clutter of stuff from the users past, some of which disappears and some of which remains overlooked, while new material is constantly being accrued and new associations or (literally, hypertext) links are being made. The images are often hazy but may suffice to induce recall or to fill in where we could only previously imagine how things were from written or word-of-mouth accounts" (Hilderbrand 2007: 50: 54). Hilderbrand versteht „YouTube" hier nicht als konkretes Unternehmen, sondern als technizistisch-ästhetisches Konzept einer neuen Spielart von Erinnerungskultur: Die von Zuschauern ins Netz hochgeladenen Fernsehclips lassen in der Regel die Aufzeichnungsmodalitäten erkennen, die sich in geringfügiger Bild- und Tonqualität wie beispielsweise in Unschärfen und farblichen Schlieren ausdrücken können, aber auch durch graphische Einblendungen wie Senderlogos, integrierte Programmhinweise oder Laufbänder Rückschlüsse auf den Ausstrahlungs- und die Mitschnittzusammenhang zulassen. Sie werden damit zu einem Zeugnis der zielgerichteten Sammeltätigkeit von Rezipienten, welche die institutionelle Zugangshegemonie von Fernsehindustrie und Gedächtnisorganisationen negieren und sich selbst als Auswahl- und Verteilungsagentur entwerfen. „YouTube" gedieh durch diese rege Beteiligung zigtausender Hobby-Sammler nicht nur zu einem

52

Als die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Deutschland im Sommer 2010 nach den geänderten Regelungen des Rundfunkänderungsstaatsvertrages damit beginnen mussten, einen Großteil der eigenen Text-, Audio- und Videoinhalte auf ihren Internet-Seiten zu löschen und neue Beiträge nur für einen festgelegten Zeitraum online zu veröffentlichen, formten sich auch hier NutzerInitiativen wie zum Beispiel „Depub.org", eine Website mit dem Ziel, depublizierte Artikel aus dem Angebot von „Tagesschau.de" mit dem Anspruch einer freien Verfügbarkeit gebührenfinanzierter Inhalte öffentlich und für jedermann zugänglich zu archivieren.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Deonym für nutzergespeiste Videoportale im Internet, sondern auch zu einem Synonym für eine Ästhetik des Zugangs zu kulturellen Bewegtbildüberlieferungen. Erst durch die von Nutzerhand massenhaft vorgenommene Digitalisierung und Segmentierung des auf Videokassetten, optischen Speichermedien, Festplatten oder auch Filmspulen in Privatbesitz befindlichen Fernseherbes konnte sich ein neues Archiwerständnis bahnbrechen, das einen egalitären und kreativgeleiteten Zugang zur Fernsehgeschichte predigt. Fernsehwerke in Stückform, ausgewählt, zusammengestellt und kommentiert von Zuschauern, sind schlechterdings als reines Konsumgut zu bezeichnen, sondern fungieren eher als „building blocks of creative acts or public speech acts" (Gracy 2007: 183). Von Interesse ist daher auch oft nicht der Veranstalter, dessen Präsenz durch programminhärente Rückbezüge auf die Senderidentität im linearen Sendeschema unübersehbar ist (vgl. Kapitel III.5.2.5.), sondern dieser verkommt im Netz zur Unkenntlichkeit, da allein die TV-Inhalte im Vordergrund stehen (vgl. auch Sixtus 2008: 40). Im personalisierten Sammlungsfokus steht ein Clip-Reigen, der emotionalen Imperativen folgt und dazu genutzt wird, Befindlichkeiten auszudrücken, eine bestimmte Sicht auf die Geschichte zu untermalen, um aufzuklären, um zu unterhalten, usf. Grundlage für den ungezwungenen Umgang mit den audiovisuellen Medienwerken ist ein verändertes Sozialverhalten, das sich unter dem Vorzeichen der kommunikativen Vernetzung und der egalisierten wie variablen Sender-Empfänger-Relation im Internet herausgebildet hat. Jenkins schlägt daher vor, statt von „personal media" lieber von „communal media" zu sprechen, welche nicht isolieren, sondern einen neuartigen Zugang zur Gemeinschaft ermöglichen und somit für innovative Formen der Vergemeinschaftung prädestiniert sind (Jenkins 2006a: 245). Damit remodellieren sich auch die Kontexte des Erinnerns mit und über das Fernsehen: Programminhalte werden in ihrer audiovisuellen Konkretion zu Bezugspunkten der virtuellen Gruppenbildung. So wird Fernsehen nach Jahrzehnten funktionaler Absenz im Sinne eines elektronischen Lagerfeuers wieder als eben dieses benutzt, wenn auch nur in der entkörperlichten Umgebung des Netzes. Schon lange vor der digitalen Medienrevolution haben sich rund um Fernsehbilder Fan-Gemeinschaften und Interessensgruppen gebildet, doch erweist sich erst das Internet mit seinen zahllosen Artikulationsgelegenheiten und der asynchronen Kommunikationsmodi als ideale Umgebung, um auf breiter gesellschaftlicher Ebene Erinnerungsnetze zu knüpfen und die Fernsehgeschichte(n) in ihrer unvermittelten Überlieferungsform als verbindendes Element zu gebrauchen. In erster Linie sind es Fan-Gemeinschaften, die sich bereit und experimentierfreudig zeigen und die Partizipations- und Interaktionsinstrumente des Internets für sich utilisiert haben. Von beliebten Serien der Fernsehgeschichte wie „Buffy - Im Bann der Dämonen", über „Dallas" und „Denver Clan" bis hin zu den Kindersendungen wie „Neues aus Uhlenbusch" und der international erfolgreichen polnischen Zeichentrickproduktion „Lolek und Bolek" feiern Fans ihre Lieblingswerke aus dem televisuellen Schaffensspektrum und sprechen damit auch bewusst die allgemeine Nutzerschaft an. Eine solche Öffentlichkeitsarbeit trägt zur Vergrößerung und Vitalisierung der jeweiligen Fan-Gruppierung bei und bindet sie gleichsam an den gemeinsamen fernsehhistorischen

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Bezugspunkt. Auf diese Weise wird die Allgemeinheit sprichwörtlich auf den Geschmack gebracht, auch weil sie nicht auf abstrahierter und zufälliger Ebene von den Erinnerungsstücken aus der Fernsehvergangenheit angesprochen wird, sondern mittels der unablässigen Fan-Anstrengungen direkt mit den audiovisuellen Zeugnissen konfrontiert, zur autobiographischen Erinnerung animiert und in die gemeinschaftlichen Aktivitäten der fernsehzentrierten Erinnerungsgemeinschaft involviert wird. Dies kann je nachdem in Form spezifischer Fan-Topoi wie „Star Trek" geschehen, jedoch auch thematisch offener wie in Foren, in denen Fernseherinnerungen an ganz unterschiedliche Sendungen elaboriert werden. Die Bereitschaft, sich an diesem Diskurs nicht nur in Textform zu beteiligen, sondern auch eigene digitalisierte Mitschnitte, anderswo im Netz zusammengetragene Fernsehclips oder Ausschnitte aus der DVD-Sammlung beizusteuern, ist mit Verweis auf die Leichtigkeit der Enkodierungs- und Veröffentlichungsmodalitäten sowie die ideelle Honorierung durch positive Gruppenresonanz als hoch einzustufen. Hier spielen bisweilen außerdem Motive der Selbstdarstellung eine Rolle, indem der Nutzer die Netzöffentlichkeit an seinen persönlichen Erinnerungen teilhaben lässt. Das partizipative Internet hat den Rezipienten des Weiteren dazu befähigt, die zuvor genuin journalistische Funktion des Kontrolleurs gesellschaftlicher und insbesondere politischer Entwicklungen wahrzunehmen. Fernsehmaterial, seien es Programmausschnitte oder sonstige Dokumente, als Quellen und Belege bei der Argumentation im kritischen Diskurs zu verwenden, ist eine Vorgehensweise, die nun auch dem souveränen Zuschauer frei zur Verfügung steht. Die Erfolgsgeschichte des Bloggens liefert Hinweise auf ein solches Bedürfnis der substanziellen Teilnahme des Bürgers an der öffentlichen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Weblog bedeutet ursprünglich Netzprotokoll und wird von manchen Autoren daher auch als Verweissammlung benutzt, um ihren Lesern die thematische Orientierung durch die unübersichtliche Vielfalt von Informationsangeboten im Internet zu ermöglichen.53 Blogs haben erheblich zu einer Verlebendigung und Dynamisierung des öffentlichen Diskurses beigetragen. „Vielfach ergänzen sich die beiden Öffentlichkeitsarenen, denn die Online-Kommunikation ergibt sich oft erst als Anschlusskommunikation aus der Massenkommunikation und setzt sich mit neuen Kommunikations- und Verbreitungsmöglichkeiten fort. Die Massenmedien verleihen Themen Öffentlichkeit, die im Internet interaktiv innerhalb virtueller Gemeinschaften diskutiert und reflektiert werden können. Insbesondere die Interaktivität verändert die Gestalt des öffentlichen Diskurses, der teilweise komplett ins Internetverlagert wird" (Thimm/Berlinecke 2007:92). Da Blogger bei ihren Veröffentlichungen erheblichen Wert auf die Äußerung ihrer eigenen Meinung legen, besteht die Gefahr fehlender Sachlichkeit. Dennoch ist die Meinungsfreude, die offen und erkennbar zum Ausdruck kommen soll, ein Grundprinzip des Blogger-Selbstverständnisses (vgl. Neuberger/Nuernbergk/Rischke 2007:110). Wenn

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Zur Geschichte, den Spielarten und Problemen wie auch Perspektiven von Weblogs erschien bereits 2002 ein Sammelband mit 34 kompakten Einzelbeiträgen (Perseus Publishing 2002).

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Fernsehinhalte Anstoß für Zuschauerkritik bieten wie zum Beispiel eine angeblich tendenziöse Berichterstattung und Kommentierung auf dem Nachrichtensender Fox News oder vermeintliche Pannen und Inkompetenzen bei der Reaktion auf Medienereignisse wie beim Amoklauf eines ehemaligen Realschülers im baden-württembergischen Winnenden im März 2009, äußert sich diese nicht mehr nur in der Tages- und Programmpresse, sondern immer häufiger auch in Blogs unter Verwendung televisuellen Belegmaterials. Das Potenzial der Blog-Technologie für die Zwecke der Medienkritik zeigte sich bereits im Jahr 2004, als eine Reihe von (konservativen) Bloggern angeblich authentische Dokumente falsifizierte, die in der traditionsreichen Magazinsendung „60 Minutes" von CBS-Anchorman Dan Rather präsentiert worden waren und belegen sollten, dass sich der damalige US-Präsident George W. Bush in jungen Jahren während seines Militärdienstes bei der Luftwaffe nicht seinen Pflichten nachkam und durch politischen Druck gedeckt wurde. Während die Massenmedien die Echtheit der Memos zunächst nicht hinterfragten, sorgte erst die penetrante Anzweiflung der Blogger für die Entlarvung der Dokumente als Fälschungen (vgl. Barlow 2007: 165-174). Die Möglichkeiten dieser Form von Zuschauerkritik betreffen aber auch programmpolitische (Fehl-) Entscheidungen wie beispielsweise die Ausstrahlung nicht jugendgerechter Inhalte im Vormittags-, Nachmittags- oder Vorabendprogramm. Fernsehmaterial dient außerdem zur Untermauerung oder Illustrierung von kritischen Kommentaren über gesellschaftliche Akteure wie den im Jahr 2008 zurückgetretenen Gouverneur des US-Bundesstaates New York Elliot Spitzer, der sich vor laufenden Kameras dazu bekannt hatte, Kunde einer Vermittlungsagentur für Edelprostituierte gewesen zu sein. Andere Beispiele betreffen Kritik an den Praktiken der Sekte Scientology oder die Verballhornung der Deutschen Bahn. So kritikfreudig sich Zuschauerblogger zeigen, sind es in zunehmendem Maße Blogs, welche Erinnerungskulturen mitgestalten, schon alleine deshalb, weil sie die Arbeit der etablierten klassischen Medien nicht nur kritisch begleiten, sondern mittels ihrer eigenen Kommentierung und Nachrichtenselektion auch selbst publizistische Arbeit betreiben und damit den medialen Diskurs demokratisieren. Solche sogenannten Watchblogs verschreiben sich der Aufgabe, Gedächtnisgenese in actu zu beeinflussen, indem sie aufmerksam machen auf Irrwege, Manipulationen oder anderweitige fehlerhafte Massenkommunikation durch klassische Medien oder Akteure in Politik, Wirtschaft und sonstigen Gesellschaftsgruppen54 (vgl. Kahn/Kellner 2006). Indem sie sich textlich und audiovisuell an den öffentlichen Debatten beteiligen, wirken sie als Korrektiv und hinterfragen 54

Zum Beispielhaft hatte sich das Blog-Projekt „The Memory Hole" des Publizisten Russ Kick (www.thememoryhole.org), das mittlerweile eingestellt wurde, auf besonders nachdrückliche Weise dieser Aufgabe verschrieben und verstand sich als metaphorische Füllinstanz für öffentliche Gedächtnislöcher: Unter dem Motto „rescuingknowledge,freeinginformation"wurdenDokumente und Gegenpositionen veröffentlicht, die nach Ansicht des Bloggers Kick durch Ignoranz in der Mainstream-Berichterstattung und Kommunikationsstrategien mächtiger Gesellschaftsgruppen unterdrückt wurden und somit keinen Einzug in die .offizielle' Erinnerungskultur fanden. Hierbei bediente sich Kick zwar nur äußert selten Fernsehmaterials, für den öffentlichen Diskurs leistete sein Publikationsansatz jedoch einen interessanten Beitrag, der bei zunehmender Audiovisualisierung

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die im idealen Fall aufklärerische Funktion der Massenmedien, verbreitern damit aber auch die Zugänglichkeit einzelner ausgewählter Fernsehinhalte, indem sie die Aufmerksamkeit ihrer Leser bzw. Zuschauer auf die betreffenden Programmbestandteile lenken. Blogs stehen wie jedwedes andere mediale Angebot in Konkurrenz zueinander in der Frage, Nutzer für ihre Inhalte zu interessieren. So schwanken die Zahlen von mehreren einhunderttausend Besuchern bis hin zu einem verschwindend kleinen „Nano-Publikum" (vgl. Eriksson/Enlund 2004: 330). Die Popularität richtet sich augenscheinlich nach der Alltagsrelevanz der behandelten Themen: So führte bei der Bestandsaufnahme des Journalisten Erik Möllers im Jahre 2006 noch ein Blog über die Auswirkungen des Hurricanes Katrina, eines über angeblich skandalöse Arbeitsbedingungen bei einem Softwareunternehmen sowie eines über den Einsatz von Phosphorbomben durch die US-Armee im Irak-Krieg die Rangfolge der meistbesuchten Blogs des Betreibers „Livejournal, com" an (Möller 2006: 124-125). Bei einer Gesamtzahl von mehreren Millionen Blogs, deren Inhalte von „Banalitäten des Alltags" (ebd.: 124) bis hin zu politisch brisantem Qualitätsjournalismus reichen, schwanken die Präferenzen der Nutzer verständlicherweise stark. „Der Ruhm aller drei Blogs dürfte von begrenzter Dauer sein", prognostizierte Möller dementsprechend bezüglich der referierten Spitzenreiter (ebd.: 125). Dennoch haben Blogs in der Mediengeschichte durch ihre rasante und weit verbreitete Erstellung und Rezeption bei professionellen und laienhaften Autoren eine besondere Bedeutung bekommen. Für das Jahr 2006 kürte das Time Magazine daher überraschend keine einzelne „Person des Jahres", sondern das globale Kollektiv der Blogger. Inwieweit Qualität im Sinne von Sprachschliff und substanziellen Inhalts bei den Veröffentlichungen festzustellen ist, spielte bei der Entscheidung keine Rolle. Allein die erwachte Begeisterung weiter Gesellschaftskreise für das eigeninitiative publizistische Engagement beeindruckte die Juroren: „Its a tool for bringing together the small contributions of millions of people and making them matter. Silicon Valley consultants call it Web 2.0, as if it were a new version of some old software. But it's really a revolution" (Grossman 2006: 38). Auch wenn sich nach Ansicht des Web 2.0-Kritikers Andrew Keen der „Kult, den alle Welt um Bürgerjournalisten" veranstalte, schon wieder am abflauen sei (zitiert nach Kramp/Weichert 2010), haben die interaktiven Internet-Technologien die Medienlandschaft nachhaltig verändert. Blogs zeichnen sich durch eine inhaltliche Dynamik aus, die mithilfe einer zusätzlichen Kommentarfunktion einen konkreten Gedankenaustausch zwischen Autor und Rezipient ermöglicht: „Blogging is turning information into a conversation" (Schneider 2005). Die Archivwissenschaftlerin Catherine O'Sullivan sieht dies jedoch nicht als Ausschlusskriterium für die Charakterisierung von Blogs als Tagebuch: Vielmehr sei dies ein Beleg für den Wandel der privaten Kommunikationskultur (vgl. O'Sullivan 2005: 69). Diese drückt sich nicht mehr nur in der Formulierung heimlicher Journal-Einträge aus, sondern auch in einer Suche nach Katharsis durch die öffentliche Teilhabe am eigenen autobiographischen Erleben. Als Beispiel nennt O'Sullivan die der Netzkommunikation auch verstärkt von Bloggern aufgegriffen werden könnte, die sich vermehrt auf Fernseh- und Bewegtbildinhalte konzentrieren.

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Reaktionen auf die Terroranschläge vom 11. September: Privater Schrecken kulminierte im Internet zum Ausdruck kollektiver Leiderfahrung, die sich in bereits bestehenden oder neu erstellten Blogs artikulierte und sich offensiv Fernsehbildern bediente. Dieses Beispiel führt zu einem weiteren wichtigen Impuls, der vom Web 2.0 für die Funktionalisierung von Fernsehprogramm-Material durch den Rezipienten ausgeht: Trauerarbeit im Netz wird zunehmend audiovisuell und öffnet sich damit auch bewusst unbekannten Publika, um sie für die Todesfälle und ihre Umstände zu sensibilisieren. Das Gedenken an die Verstorbenen ist weltweit ein fester Bestandteil der kulturellen Erinnerungsarbeit (vgl. Michaels 2007: 8). Die massenmediale Kundgabe von Todesfällen durch nachrichtliche Berichterstattung, Nachrufe oder Traueranzeigen gehört zum festen Bestandteil der westlichen Kulturen (vgl. Hume 2000; Hosselmann 2003). Auch das virtuelle Erinnern als Trauerarbeit ist keinesfalls nur simulativ zu verstehen, sondern wird zu einem eigenständigen Erinnerungsvehikel und damit Ergänzung oder sogar Ersatz für die kommunikative Verarbeitung des Todesfalls von Angesicht zu Angesicht (vgl. Veale 2004). Virtuelle Gedenkstätten sind nicht nur einer weitaus breiteren Öffentlichkeit zugänglich, da keine räumlichen Distanzen überwunden werden müssen, sondern auch in ihrer Erscheinung und inhaltlichen Ausrichtung wandelbarer als ihre physischen Äquivalente. Sollten sie Partizipation in Form von Text- oder anderweitigen Mitteilungsformen zulassen und damit als Forum konzipiert sein, besteht selbst für private Trauerseiten die Möglichkeit, sich mit der Zeit zu öffentlichen lebendigen Denkmälern zu entwickeln. Die elektronische Kommunikation hat in dieser Weise einen wesentlichen Transformationsprozess in der Trauerarbeit ausgelöst: Durch die prinzipielle Offenheit der Netzöffentlichkeit wird ein Diskurs über und für den Verstorbenen sowie den Umständen seines Todes aus unterschiedlichen Sichtweisen möglich. Die Trauerkommunikation im Internet ist ob ihrer Anonymität, ihrer Schnelligkeit und Unmittelbarkeit zwar tendenziell enthemmter als sonst üblich, was hingegen auch die Möglichkeit bietet, über ritualisierte Floskeln hinweg auch Themen anzusprechen, die beim direkten Gespräch oftmals vermieden werden (Geser 1998). Im Kontext der virtuellen Social Networks zeigen sich die gewandelten Trauerpraktiken der mit dem Fernsehen und Internet aufgewachsenen Jugend besonders deutlich. Auf dem Portal „MyDeathSpace" werden Nachrufe auf in jungem Alter verstorbene Mitglieder der weltweit größten Online-Community „MySpace" veröffentlicht und mit den durch ihren Tod inaktiv gewordenen Profilseiten verknüpft. Da das Unternehmen selbst über lange Jahre inaktive Seiten seiner Mitglieder nicht automatisch, sondern allenfalls auf konkrete Bitte von Familienangehörigen löscht, sind die persönlich gestalteten und mit Medieninhalten wie Musikclips oder auch Ausschnitten aus TV-Lieblingssendungen bestückten Seiten meist auch noch lange nach dem Tod verfügbar und werden von lebendigen Selbstpräsentationen zu Online-Schreinen, der Aufbahrung des Verblichenen in seinem Wohnzimmers nicht unähnlich (vgl. St. John 2006). Besucht werden sie von den innerhalb des „MySpace"-Systems vernetzten Freunden und Bekannten, aber auch von vollkommen fremden Personen: „When a person dies, his or her MySpace page and its

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assortment of photos, blog entries, songs, videos and other digital ephemera becomes a de facto shrine to the deceased — teenage life's trivialities, dilemmas and existential crises packaged and displayed as a neat narrative" (Pietras 2007). Nicht nur letzte Gruß- und Videobotschaften finden sich post mortem in den virtuellen Gästebüchern der Verstorbenen, sondern auch Diskussionen über die Umstände des Todes und was daraus gelernt werden könnte. Diese Form einer Message Board-Kultur kann sich unter Umständen zeitlich unbegrenzt fortentwickeln, je nachdem ob ein Familienmitglied die Löschung des kostenlosen Mitgliedskontos beantragt. Das Portal „MyDeathSpace" veröffentlicht nach dem Bekanntwerden eines Todesfalls Pressemeldungen sowie Fernsehberichte über die teils spektakulären Unfälle oder Gewalttaten mit Todesfolge. Die in der Regel aus dem Lokalfernsehen stammenden Nachrichtenbeiträge werden von Anteilnehmern entweder mitgeschnitten oder von den Websites der betreifenden Sender kopiert, auf „YouTube" veröffentlicht und mit den Nachrufen per Hyperlink verknüpft, um die Grundlage zu bilden für Kondolenzen und Diskussionen. Derlei Traueraktivität in sozialen Netzwerken belegt die Dynamisierung und die teilweise Zersetzung von traditionellen Trauerritualen. Mithilfe des Internets kann Gedenken also in einem solchen Sinn demokratisiert und in bestimmten Fällen auch televisualisiert werden, dass womöglich beengend wahrgenommene Konventionen überwunden werden, dies aber gleichzeitig dazu führen kann, dass sich ein beispielsweise von der Familie intendiertes Erinnerungsbild nicht mehr halten lässt, weil es von den Fernsehbildern und den zuwiderlaufenden Kommentaren der Internet-Nutzer konterkariert wird. Die Implementierung von Fernsehinhalten kann dabei einerseits eine demystifizierende Funktion einnehmen, wenn beispielsweise Nachrichtenbilder die Grausamkeit oder Umstände der Todesfälle enthüllen, andererseits jedoch auch verklärende Wirkung entfalten, wenn Ausschnitte aus Lieblingssendungen mit möglichen Identifikationsfiguren bzw. Vorbildern aus dem Starsystem des Fernsehens an das verstorbene Mitglied erinnern. Der virtuelle Schrein mag das materielle Denkmal des Grabes mit der Inschrift in Stein freilich nicht ersetzen. Das Internet bietet aber einen komplementäre und unkonventionelle Weise, Trauer auszudrücken, mit seinen Mitmenschen zu teilen und untereinander zu kommunizieren. Die Benutzung audiovisueller Hommagen ist dabei ein emotional wirkmächtiges Mittel, um sich zu artikulieren und Gemeinschaft herzustellen, indem sie die Möglichkeit der zwar immateriellen, aber mit Auge und Ohr wahrnehmbaren Manifestation eines bleibenden Erinnerungsanlasses in Form einer multimedialen Präsentation bieten. Besonders in Fällen, wo physische Bestattungen durch das Fehlen der menschlichen Überreste wie im Falle der Tsunami-Katastrophe aus dem Jahr 2004 oder vieler Opfer der Terroranschläge vom 11. September 2001 nicht möglich ist oder ebenfalls eine bloß symbolische Funktion annimmt, kann das Internet besonders in Verbindung mit digitalen Segmenten aus dem Fernsehprogramm zu einem Anlaufpunkt avancieren, um in der Netzöffentlichkeit das Andenken an einen Menschen und aufrechtzuerhalten und den Sinn bzw. die Sinnlosigkeit seines Todes vor Augen zu führen.

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Trauerarbeit im Speziellen wie die Erinnerungsarbeit im Allgemeinen kann im Netz auf einen vielteiligen, wenn auch keineswegs erschöpfenden Fundus an dokumentarischen Fernsehaufnahmen von Ereignissen der Zeitgeschichte bauen, der wenigstens auszugsweise einige der wichtigsten Wendepunkte in der gesellschaftlichen Entwicklung Nordamerikas und Deutschlands umfasst. Die Veröffentlichung historischer Nachrichtenbilder von Medienereignissen durch Rezipienten ist ein deutlicher Ausdruck der anerkannten Dokumentationsfunktion des Fernsehens sowie der damit einhergehenden Auffassung, dass Fernsehgeschichte und Zeitgeschichte untrennbar miteinander verbunden sind. Der Bau und Fall der Berliner Mauer, Willy Brandts Kniefall in Warschau, die Explosion des Space Shuttles „Challenger", die Mordattentate auf John F. Kennedy im Jahre 1963 und seinen Bruder Robert Kennedy beim Verlassen des Ambassador Hotels in Los Angeles im Jahre 1968, die Schüsse auf Ronald Reagan 1981, Gefechte aus den Irak-Kriegen von 1991 und 2003 ebenso wie die Höhepunkte der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wie unter anderem der blutig niedergeschlagene Marsch über die Pettus Bridge nahe Selma, Alabama von 1965, der als „Bloody Sunday" in die Geschichte einging, oder Martin Luther Kings berühmte Rede („I have a dream") auf der National Mall in Washington, D.C.: Die allgemeine Verfügbarkeit von zeithistorisch wichtigen Fernsehdokumenten über das Internet ist größtenteils engagierten Nutzern zu verdanken; indes zeigt die Bruchstückhaftigkeit der Auswahl von den eng gesteckten Grenzen des nutzergenerierten Fernsehrepositoriums und lässt überdies erkennen, dass es sich bei dem präsentierten Material überwiegend um Ausschnitte aus Geschichtssendungen und nicht um Mitschnitte der originalen Fernsehübertragungen handelt. Eine Ausnahme stellen Medienereignisse der jüngeren Vergangenheit dar, die bereits von vielen Zuschauern im Bewusstsein ihrer Historizität aufgezeichnet wurden. Neben der Vermittlungsfunktion des Fernsehens ist aber auch die Fernsehgeschichte selbst in den Mittelpunkt des Interesses vieler Nutzer gerückt. Dabei bleibt es nicht bei der Zelebration legendärer Werbeabenteuer wie des „HB Männchens" oder ambivalenter Quotenmirakel aus der Programmgeschichte wie der „The Frank Sinatra Show" (19501952, CBS; 1957-1958, ABC), die in der damaligen Zeit nur geringe Publikumsresonanz hervorrief, sich heute aber aufgrund der prominenten Gesangseinlagen großer Beliebtheit auf Videoportalen erfreut. Auch leicht in Vergessenheit geratene oder unbeachtete Auftritte und Inzidenzen finden überraschend den Weg zurück an die Öffentlichkeit wie Johnny Carsons letzter, einminütiger Fernsehauftritt in der Late Night Show von David Letterman im Jahre 1994. Auf „YouTube" finden sich zudem Ausschnitte wie zum Beispiel aus der CBC-Gesprächssendung „Close Up", in der Vladimir Nabokov Ende der 1950er Jahre über seinen Roman „Lolita" diskutierte, Barbara Streisands erster Fernsehauftritt in der „Jack Paar Show" (NBC) oder die acht Minuten dauernde Vorstellung der über 120köpfigen „CBS Familie", bestehend aus allen bekannten Gesichtern des Networks von Telly Savalas über Alfred Hitchcock, Arthur Godfrey, Bill Cosby und den Waltons bis hin zu Dick van Dyke, Dan Rather und Lucille Ball, in der Auftaktshow der Jubiläumssendung „CBS: On Air - A Celebration of 50 Years" von 1978. Historischen Sendungen zu mehr

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Aufmerksamkeit zu verhelfen, die im laufenden Programm nur wenig Aufmerksamkeit erfuhren, ist offenbar ein wichtiges Anliegen vieler engagierter Proteges auf Rezipientenseite, die sich dem CEuvre eines bestimmten Fernsehakteurs verschreiben wie im Fall der Magazinbeiträge und Interviews von Alexander Kluge (vgl. Kapitel III.8.3.3.), die sich als Mitschnitte auf Videoportalen im Netz finden lassen. Manche Nutzer haben es sich auch zur Aufgabe gemacht, für wichtig erachtete Sendungsauszüge in englischer Sprache zu Untertiteln, damit sich auch für fremdsprachige Nutzer im In- und Ausland die vermittelten Informationen und Sichtweisen erschließen lassen. Natürlich werden auch zahllose Kuriositäten und vermeintliche Belege eines qualitativ geringwertigen ,Trash-TVs' ins Netz hochgeladen wie beispielsweise die kommentarlose Wiedergabe eines Clips aus einem Home-Shopping-Kanal, in dem sich eine Verkäuferin des RTL-Shops beim Anpreisen einer Massagematte dem Selbstversuch aussetzt und zweideutig stöhnt. Ein Beispiel für die senderzentrierte Thematisierung der Fernsehprogrammgeschichte durch Privatsammler ist die Internet-Präsenz „fernseh-kult.chapso.de" sowie der dazugehörige Kanal bei „YouTube", wo die Programmgeschichte von ARD und ZDF sowie sechs Privatsendern in Form kurzer Programmfüller-Clips und Sendungsausschnitte nachgezeichnet wird. Enthalten sind auch Raritäten wie Mitschnitte von Programmhinweisen der später aus den Sendekonzepten gestrichenen Fernsehansagern sowie zahlreiche frühe Aufzeichnungen der Programmangebote des Senders Tele 5 aus den Jahren 1988 bis 1992 sowie des ersten deutschen Musikkanals und Tele 5-Vorläufers musicbox. Gilt diese Sammlungspräsentation vorrangig einer populären wie nostalgischen Annäherung an die Fernsehvergangenheit, nutzen andere Sammler wie Ira Gallen mit seinem „TVdays"Projekt (vgl. Kapitel IV.2.6.1.) die virtuelle Bühne nicht nur dazu, seine Sammlungsschätze auszustellen, sondern auch dazu, auf die Dringlichkeit von Maßnahmen zum Schutz des Fernseherbes hinzuweisen, indem er mit der offensiven Veröffentlichung seiner Bestände die Aufmerksamkeit von Fernsehtalkshows und der Presse erregt und für ein präservationistisches Bewusstsein wirbt. In beiden Fällen wird auf unterschiedliche Weise ein Beitrag zur notwendigen Bewusstseinsrahmung für die impulsive Archivbewegung im Netz geleistet, die ob der Leichtigkeit des Zugriffs auf die audiovisuelle Vielfalt leicht den Kern der Bewahrungsproblematik rund um das televisuelle Kulturerbe übersieht. Entscheidend ist also letztlich, auf welche Weise und wozu das Fernseherbe von Zuschauerseite funktionalisiert wird. Die vielen Spielarten, die dabei zum Ausdruck kommen, haben bereits, darauf deutet die Lebendigkeit der Aktivitäten rund um Fernsehprogrammexzerpte im Internet hin, das Verhältnis weiter Nutzerschichten zur Fernsehgeschichte revolutioniert. Der selbstmotivierte Antrieb der Rezipienten bei der Zugänglichmachung einzelner televisueller Überlieferungsbestandteile hat sich zu einer treibenden Kraft bei der Gestaltung öffentlicher Erinnerungskulturen entwickelt und beeinflusst auch zunehmend die institutionalisierte Fernseherbe-Verwaltung in ihrem strategischen Handeln. Das Prinzip des Miteinander-Teilens wurde zum Nonplusultra der virtuellen Interaktion und Leitformel populärkulturell ausgerichteter Erinnerungsgemeinschaften. Der Zugang zur Fernsehprogrammgeschichte ist keine exklusive Domäne von Senderar-

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chiven und Gedächtnisorganisationen mehr, auch Privatsammler nehmen mit ihren frei verfügbaren Online-Angeboten mittlerweile eine signifikante Rolle innerhalb der Versorgung der wissenschaftlichen Klientel mit historischen Fernsehwerken ein. Die Messlatte für eine Anpassung der Zugangsmodelle der bestehenden Bewahrungs- und Verwaltungseinrichtungen hängt also hoch: Fernsehinhalte wollen vernetzt und individuell in unterschiedliche Kontexte wie Blogs, Social Networks oder Websites virtueller Erinnerungsinitiativen eingebunden werden. Im Internet ist das normative Ziel eines demokratischen Zugangs zu Fernsehüberlieferungen zumindest in Ansätzen erreicht. Herausgebildet hat sich ein selbstgeneratives Archiv, das weder einer institutionellen Kontrolle noch einer Geschäftsstrategie gehorcht, sondern als Nebenprodukt sozialer Aktivitäten entstand und sich in Form und Bestand ununterbrochen wandelt und weiterentwickelt (vgl. auch Gracy 2007: 196). Die Grundfesten dieses kollektiven Fundus werden gebildet von der individuellen Bewertungskompetenz der partizipierenden Nutzer, seiner interessensgerichteten wie selbstbestimmten Auswahl und dem Bedürfnis, die Allgemeinheit an der für wichtig erachteten Fernsehvergangenheit teilhaben zu lassen. Dass diese basisdemokratische Archivbewegung aufgrund juristischer und wirtschaftlicher Konflikte, aber auch aufgrund der eingeschränkten Verfügbarkeit von Fernsehaufzeichnungen und anderlei Dokumenten aus der Fernsehgeschichte in privater Hand quantitativ einen nur unzureichenden Zugang zum Fernseherbe bewerkstelligen kann, setzt ihren Perspektiven zweifellos Grenzen. Zwar stellt sie keine Alternative für die Sicherung des audiovisuellen Erbes dar, dennoch geht von ihr ein wichtiger Impuls aus, damit die zuständigen Institutionen in Wirtschaft und Kultur einen notwendigen Wandel in der Bedienung der allgemeinen Öffentlichkeit mit Fernsehüberlieferungen einläuten. Der eigentliche Wert der neuen virtuellen Archivkultur liegt in dem vielgestaltigen Motivationspotenzial, das der qualitative Zugang mittels unterschiedlicher Funktionalisierungen des verfügbaren Materials für die breite Nutzerschaft bereithält. Neue multimediale Herangehensweisen können Interesse wecken, nicht nur Fernsehwerke an sich zu rezipieren, sondern sich ihnen aus intermedialer Perspektive zu nähern und ihre jeweiligen Kontexte zu ergründen. Die bereits angesprochene Beteiligungsoption der Nutzer an der Zugänglichmachung von Archivbeständen über die Einbindung in Annotationsprojekte ist ebenso eine Folge dieser Entwicklung als auch die generelle Erhöhung der Kompetenz bei der Beschäftigung mit audiovisuellen und multimedialen Medienwerken. Wie im Folgenden gezeigt wird, haben das veränderte Nutzungs- und Partizipationsverhalten bereits zu einem Umdenken in der Fernsehindustrie geführt, ohne aber idealiter auch eine entsprechend umfassende Öffnung ihrer Archive bewirkt zu haben. 3.3.2.3. Zwischen Illusionierung und Bedarfsbefriedigung: Virtuelle Zugangsangebote der Fernsehindustrie

Mario Sixtus hat die Zeichen der Zeit erkannt: Als „elektrischer Reporter" hat der Onlinejournalist mit unkonventionellen Videobeiträgen über Technik-Trends, mediale Geschäftsmodelle und politische wie rechtliche Probleme von sozio-kulturellen Entwick-

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lungen im Internet die Aufmerksamkeit von Fernsehmachern geweckt. Vierzehntäglich sendete er bald nicht mehr allein für die Netzdependance des „Handelsblatts": Seine Beiträge über interaktive Vorschlagsysteme, wählergenerierte Wahlkämpfe und digitalen Aktivismus fanden sich nun auch im klassischen Fernsehprogramm des digitalen Informationskanals des ZDF. Neben aktuellen Interviews zum jeweiligen Thema illustriert Sixtus seine Beiträge mit einer bilderstürmerischen Melange aus Schwarz-Weißund Farbaufnahmen aus der Film- und Fernsehgeschichte, garniert und verfremdet mit graphischen Kunstgriffen. Mit seinem experimentellen Ansatz gilt Sixtus als Pionier des Videojournalismus im Internet (vgl. Bongen 2009) und Vorbild für die Annäherung zwischen dem Fernsehen von gestern und dem Fernsehen von morgen. Das Material für seine Collagen bezieht er aus dem audiovisuellen Fundus des Internet Archive und der assoziierten Prelinger Archives, die eine hohe Zahl rechtefreier, digitalisierter Bewegtbildbestände aus der Film-, Fernseh- und Videogeschichte zur kostenlosen Nutzung bereitstellen (vgl. auch McLeod 2005: 304-306). Sixtus zeigt sich überzeugt, dass einem solchen Zugangsmodell die Zukunft gehört und dass die etablierten Fernsehunternehmen sich dringend darüber Gedanken machen sollten, wie sie die wachsende Nachfrage an Programminhalten im Internet befriedigen können: „Für ihr Überleben benötigen die Massenmedien der Eltern die Aufmerksamkeit der Kinder. Also müssen die Medien zwangsläufig Dependancen in Digitalien aufbauen und sich, ob sie wollen oder nicht, auf die dort herrschenden Naturgesetze einlassen und die haben es in sich" (Sixtus 2008a: 35). Gleichzeitig erkennt Sixtus die Zerrissenheit der Medienindustrie, die Geld verdienen muss, um auch in der neuen Medienumgebung überleben zu können, angesichts der schwindenden Bereitschaft der Nutzer, für Medieninhalte zu zahlen. Die Lösung aller Probleme könnte in einer kostenfreie Netz-Öffnung digitalisierter Archive für private, nicht-gewerbliche Nutzung bestehen, glaubt man Sixtus, der dieses Modell „Urheber 2.0" nennt und fragt: „ [Vielleicht braucht es mehr solcher Ideen, um die Welt zu verbessern?" (Sixtus 2008b). Die Bereitschaft der Fernsehindustrie zumindest, sich auf das veränderte Nutzungsverhalten einzustellen, scheint zu wachsen. Längst ist auch in Deutschland das sogenannte IP-TV auf dem Vormarsch: Professionelles Fernsehprogramm aus dem Computer, nicht bloß per Live-Stream, sondern alle Sendungen jederzeit und auf Wunsch individuell abrufbar. Mit ihrem virtuellen Engagement versuchen sich die Sender an die Speerspitze einer Bewegung zu setzen, die sich auch ohne ihr Zutun bis dato rege entwickelt hat. Dort potenziert sich das Angebot audiovisueller Inhalte von Tag zu Tag. Bruce DuMont vom Museum of Broadcast Communications glaubt, dass Sender und Produzenten seit dem Kauf „YouTubes" durch Google Lehren aus dem Erfolg von nutzerbespielten Videoplattformen gezogen haben: ,,[Y]ou have this historic Google-,YouTube'-merger just two weeks ago. That has unlimited opportunities. There are very powerful people out there who now want to share the content whereas eight months ago the number of people who wanted to hide it was larger. The Google-YouTube-thing will dramatically change the world" (Bruce DuMont, MBC).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Lange galt das Internet als blinder Fleck in den Senderstrategien: Die traditionelle Fixierung auf die Bestückung des linearen Programmplans hat sich erst in den jüngsten Jahren mit der gestiegenen Popularität multimedialer und speziell audiovisueller Angebote im Internet tendenziell aufgeweicht und nimmt zunehmend neue Angebotsformen in den Blick, welche dem „Publishing"-Prinzip gehorchen (vgl. Kapitel III.5.2.7.)· U m auf diese Weise ein datenbankähnliches Angebot an selektiv im Netz abrufbaren Inhalten zu erstellen, müssen die zuständigen Fernsehveranstalter erst einmal sicherstellen, dass ihr reichhaltiger Programmfundus digital aufbereitet vorliegt. Obgleich es aufgrund der hohen Kostenintensität unwahrscheinlich ist, dass sämtliche Archivbestände bei den Veranstaltern vollständig digitalisiert werden (vgl. Kapitel IV.3.2.3.2.), liegt bereits ein ansehnlicher Digitalbestand an jüngeren und teils auch älteren Programmüberlieferungen vor, der für einen Vertrieb über virtuelle Kanäle in Frage kommt. Im zweiten Schritt verlangen die veränderten Anforderungen der Nutzer jedoch auch eine deutlich größere Offenheit der institutionellen Anbieter in der Frage, inwieweit das angebotene Sendematerial in unterschiedliche Nutzerkontexte wie beispielsweise Blogs oder Social Networks eingebunden werden darf und welche kreativen Funktionalisierungen erlaubt sind. Auf dem Mainzer Mediendisput 2 0 0 8 oszillierte eine Diskussionsveranstaltung mit dem Titel „Was mit Medien?" zwischen aktuellen Problemstellungen der Journalistenausbildung und der viel grundsätzlicheren Frage, welche Rolle die klassischen Massenmedien, allen voran das Fernsehen, für das Publikum überhaupt noch erfüllen. Schnell bildete sich bei den Podiumsteilnehmern, darunter Kuno Haberbusch, Redaktionsleiter des Medienmagazins „Zapp" (NDR), Fernsehautor Günter Ederer und WDR-Redakteur Gert Monheim, und dem Plenum der Konsens heraus, dass deutsche Fernsehsender offenbar noch kaum auf ihre Transformation zum konkurrenzfähigen Inhalte-Anbieter im Netz eingestellt seien. Haberbusch forderte eine stärkere Aufgeschlossenheit von Fernsehverantwortlichen auf allen Entscheidungs- und Arbeitsebenen gegenüber der neuen audiovisuellen Netzkultur. Zu oft werde sich hinter fadenscheinigen Argumentationen über Rechtsproblematiken oder administrative Hindernisse versteckt: „Wir strahlen zum Teil schon im Fernsehen aus, bevor die Rechte endgültig geklärt sind. Machen wir uns nichts vor. Und beim Internet schieben wir plötzlich alle Gründe davor, warum es angeblich nicht passt. Da ist auch ein bisschen viel Bequemlichkeit dahinter" (Mainzer Mediendisput 2008). Die Sender müssten selbst die Initiative ergreifen, anstatt es anderen zu überlassen: Es sei nicht zu tolerieren, dass ein privater Internet-Konzern mit fremden Produktionen hohe Werbeumsätze erziele. Außerdem werde dadurch die Frage virulent, wer letztlich die Entscheidung treffe, was online gestellt und damit als herausragendes Beispiel des Fernsehschaffens hervorgehoben werde. Dass Veranstalter die Kontrolle über ihre Programminhalte zurückerlangen wollen, ist ein zwar verständliches, aber im Hinblick auf die rege Nutzeraktivität auch vergebliches Anliegen. Fernsehunternehmen sind im Netz Anbieter unter vielen und haben erst spät erkannt, dass altbewährte Programmpolitik und Sendestrategien auf die neuen interaktiven Verhältnisse nicht mehr anzuwenden sind. Auch die bisherigen Produktionsme-

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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chanismen sind nur schwerlich auf die Nutzungslogik im Internet zu übertragen: Große Produktionen können nur finanziert werden, wenn sie sich weltweit auf verschiedenen Fernsehmärkten verkaufen lassen. Wenn Zuschauer aus aller Welt aber über das Internet Zugriff auf dieselben Sendungen haben, kann dies, so zumindest die Befürchtungen einiger Produzenten, Geschäftsabschlüsse verhindern (vgl. Gangloff 2008). Wenn sich das Produktions- und Vertriebsmodell des Fernsehens auch nur langsam wandelt, so sehr stellt sich doch die Frage neuer Geschäftsmodelle für die Wieder-Holung alter Fernsehsendungen für die Vermarktung auf digitalen Abrufplattformen. Die öffentlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Sender sind hier schon weiter, da sie primär keinen kommerziellen Zielen verpflichtet sind und ihre Angebote anders als privatwirtschaftliche Unternehmen auch im Internet in den Dienst des Gemeinwohls stellen können, indem einmal gesendetes Programmmaterial kostenfrei zum nochmaligen Abruf bereitgestellt wird, ohne um ihre wirtschaftliche Existenz zu fürchten. Nun sind es indes auch eben diese mit Gebührengeldern und/oder Steuermitteln finanzierten Anstalten, welchen eine „Bringschuld" gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit zugeschrieben wird, wie Thorsten Schilling von der Bundeszentrale für politische Bildung betont. In Nordamerika machen unter anderem die CBC und Corporation of Public Broadcasting vor, wie sich öffentliche Fernsehsender selbstbewusst als Bestandteil und Agent des gesamtgesellschaftlichen Kulturerbes und seiner Zugänglichmachung verstehen können. Während die kanadische CBC ihre Pläne weiter offensiv vorantreibt, auf lange Sicht ihr gesamtes Archiv online zu stellen und für solches Material, das Fremdrechten unterliegt, Sonderregelungen zu finden, engagiert sich die US-amerikanische Gemeinschaft der öffentlichen Fernsehveranstalter bei der Schaffung eines virtuellen Verbundarchivs, mit dessen Hilfe unter dem keinesfalls bescheidenen Titel „The American Archive" möglichst umfassend die Bestände lokaler Sender digitalisiert und bewahrt werden sollen mit dem Ziel „to make a treasure trove of content available to the public through the American Archive - the future centerpiece of public broadcastings digital library" (Association of Public Television Stations 2008). In einem im Frühjahr 2009 gestarteten Pilotprojekt sollen zunächst Programmüberlieferungen über die Bürgerrechtsbewegung sowie den Zweiten Weltkrieg erfasst werden (Corporation for Public Broadcasting 2009). Der öffentliche Fernsehfundus wird sich zwar an die gesamte Bevölkerung richten, doch soll damit vor allem die Bildungsarbeit und wissenschaftliche Projekte unterstützt werden, auch um mit dem Material innovative Lernkonzepte und -materialien zu entwickeln. Doch auch einzelne Initiativen wie die des größten öffentlichen Senders WGBH aus Boston, Massachusetts wirken sich vitalisierend auf die allgemeine Aufbruchsstimmung innerhalb der sich transformierenden Fernseherbe-Verwaltung aus: Auf dem InternetPortal „Open Vault", zu deutsch: .offener Tresor', das seit Jahresende 2006 ansteuerbar ist, werden mehr als 2.000 Clips sendereigener Produktionen aus den Themenbereichen Kunst, Wirtschaft, Bildung, Gesellschaft, Wissenschaft und Technologie, Sozialwissenschaften sowie Regionales aus dem Bundesstaat Massachusetts für die private Nutzung und Bildungsprojekte zum Abruf angeboten. Doch zeigten sich hier bald Grenzen: In ei-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

nem beispiellosen Kraftakt hatte der WGBH Ende 2006 die Digitalisierung der seit 1983 produzierten Dokumentationsreihe „Frontline" abgeschlossen - mit 485 Folgen und einer Speicherbelegung in der Höhe von elf Terabyte eines der bisher aufwendigsten Projekte dieser Art. Ursprünglich sollte diese reiche Sammlung vollständig über das Internet zugänglich gemacht werden. Am Ende schaffte es vorerst aber nur eine vergleichsweise geringe Zahl an jüngeren Sendungen, die Hürden zu meistern. Zu kostspielig wäre es gewesen, die Rechte für ältere Programme zu klären (vgl. auch Kapitel IV.2.5.). Für internationales Aufsehen sorgte die britische BBC, als sie im Jahre 2005 ihr für Fernsehveranstalter neuartiges wie ungewöhnliches Angebotskonzept des sogenannten „Creative Archive" vorstellte, das jedoch ein knappes Jahr später wieder vom Netz genommen wurde. Ungefähr 500 Fernsehclips aus archivierten BBC-Produktionen waren unter der Devise „Find it. Rip it. Mix it. Share it. Come and get it" (vgl. Ludwig 2006: 52) online gestellt worden. Im Vordergrund stand die Wiederverwendung des Materials: Sofern die BBC als Urheber genannt wurde, durfte der Nutzer das Material für private Zwecke auch auf seiner Homepage veröffentlichen. Eine selbstständige Funktionalisierung der Sendungsexzerpte wurde also ausdrücklich unterstützt. Möglich war dies deshalb, weil die BBC sämtliche Rechte an den abrufbaren Clips hielt und die Ausschnitte als Rohmaterial verstand, das für nicht-kommerzielle Zwecke frei zur Verfügung gestellt werden sollte. Mit ihrer Creative Archive Lizenz (CAL) betrat Europas größter Fernsehsender neuen Boden und folgte der Idee der Creative Commons Lizenzen des amerikanischen Rechtswissenschaftlers Lawrence Lessig (vgl. Kapitel IV.2.5.3.), die es Rechteinhabern ermöglichen, ihre Werke zur unentgeltlichen Verbreitung verfügbar zu machen. Eine ähnliche Vorgehensweise wählte der staatliche norwegische Sender NRK und ging sogar noch einen Schritt weiter: Sendungen werden nicht nur ausschnittsweise zum Herunterladen angeboten, sondern in voller Länge und in bestmöglicher Qualität. Zudem entschied sich NRK bewusst gegen eine Portallösung, da dies den Datenverkehr verlangsamen würde (vgl. Solheim 2009) und für eine Peer-to-Peer-Lösung, die auch von sogenannten Software- bzw. Musik-, Fernseh- oder Filmpiraten genutzt wird, um urheberrechtlich geschützte Werke unentgeltlich zu verbreiten. Das Ziel, neue Publikumsschichten für die eigenen Programmangebote zu gewinnen, ging auf und führte bereits zu aufopferungsvollem Nutzerengagement, indem beispielsweise einzelne Sendungen mit englischen Untertiteln versehen wurden. Hier zeigt sich das enorme Potenzial, das sich Fernsehproduzenten bei der Annäherung an ihr Publikum bietet und der Formel des New Yorker Medienvisionärs Jeff Jarvis für die zeitgemäße Interaktion zwischen Medienproduzenten und -nutzern entspricht: „Collaboration is co-creation. It requires giving up some control of assets so collaborators may remix, add to, and distribute content" (Jarvis 2009: 127-128). Dass diese durchaus treffende Beobachtung allerdings nicht als Faustformel dienen kann, zeigt die Einstellung des Creative Archive durch die BBC: Zwar wird weiterhin über Möglichkeiten der Bereitstellung von Fernsehprogramm-Material zur freien privaten Verfügung nachgedacht, doch gilt das einstmals antizipierte Modell als gescheitert. Michael Harms (SWR) sieht den Misserfolg als Konsequenz aus der nicht ausreichend

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breiten Materialbasis: Da es sich nur u m Sendungen handeln konnte, für welche die vollständigen Rechte beim Sender lagen, musste die Auswahl eng begrenzt bleiben, was sich in Relation zur audiovisuellen Vielfalt des Internets negativ auf die Attraktivität des Angebots auswirken musste. Auch Steve Bryant vom British Film Institute sieht keine Zukunft für das ursprünglich hochgelobte Konzept: „The Creative Archive is barely small scale and really it has been superseded by ,YouTube' in the last few years. I don't see a future for that. The idea was to license material that could be reused in any way that is owned completely by the BBC. I'm not sure how relevant it is anymore although it was an important attempt to provide legal use of broadcasting material on the internet. But for most people the stuff that was available was boring" (Steve Bryant, BFI). Die allgemeinen Bemühungen u m eine langsame Öffnung der Senderarchive wurden von dieser Entwicklung jedoch kaum tangiert. So gab ZDF-Intendant Markus Schächter im April 2008 die Parole aus: „Wer nicht ins Netz geht, geht ins Museum" 55 (zitiert nach Brauck 2008: 106). Die Bemühungen der öffentlichen-rechtlichen Veranstalter in Deutschland, ihr Programmangebot möglichst dauerhaft auch im Internet zum Abruf anzubieten, erfuhren indes durch Auflagen der EU-Kommission sowie in der Folge durch den zwölften Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge einen herben Dämpfer. Die deutsche Situation stellt aufgrund der ähnlich starken Markstellung des privaten und öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Vergleich zu den USA, wo öffentliche Sender nur geringe Marktanteile verbuchen können, einen Sonderfall dar. In Deutschland wurde harsche Kritik an der digitalen Expansion von ARD und ZDF geübt, da es nach Ansicht der kommerziellen Konkurrenz dabei u m eine gebührenfinanzierte Wettbewerbsverzerrung handele (vgl. Kapitel III.2.5.). Waren in den Online-Mediatheken von ARD und ZDF bis zu dieser Regelung Sendungen bisweilen auch noch Wochen, Monate und teils Jahre nach ihrer Ausstrahlung einsehbar, gilt fortan eine zeitliche Sperrregelung: Seit Juni 2009 dürfen Sendungen der öffentlich-rechtlichen Sender im Internet nur noch sieben Tage verfügbar sein, große Sportereignisse nur noch 24 Stunden. Thorsten Schilling (BpB) sieht durch das veränderte Fernsehverhalten in der Debatte um die Rechtmäßigkeit der öffentlich-rechtlichen Abruf-Angebote sowie u m die Erweiterung des Grundversorgungsauftrags auf den Netzkanal die Legitimationsfrage des Gebührenmodells berührt: „Wenn man permanent bei entscheidenden Zielgruppen nicht vorhanden ist, dann stellt sich als nächstes die Frage der Legitimität der öffentlichen Eintreibung von Gebührengeldern. Wenn also alle dafür bezahlen, es aber keiner mehr sieht, dann fragt sich die Masse bald, wieso sie noch dafür bezahlen soll, wenn die Angebote nicht dort zu finden sind, wo sie es erwartet" (Thorsten Schilling, BpB). 55

Wie in Kapitel IV.3.4. problematisiert wird, zeugt Schächters Ausspruch weniger von Weitblick, als dass hier vielmehr auf oberflächliche wie kontraproduktive Weise eine klischeehafte Museumsmetapher verwendet wird, um die fortschrittliche Senderpolitik des ZDF herauszustreichen.

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Auch aus Sicht des Kommunikationswissenschaftlers Volker Lilienthal ist die zeitbegrenzte Abbildung von Teilen des Programms nicht ausreichend. Die integrale Funktion der öffentlich-rechtlichen Programmproduktion für die Dokumentation gesellschaftlicher Entwicklungen verlange nach einer dauerhaften Online-Verfügbarkeit. Lilienthal verweist hierbei auch nachdrücklich auf das Kriterium der Gedächtnisrelevanz: „Gerade wenn man öffentlich-rechtlichen Beiträgen die höhere Glaubwürdigkeit und den Status eines ,Leuchtturms' in der unüberschaubaren Medienflut attestiert, was ja Konsens ist, auch über politische Grenzen hinaus - dann ist es unter Gemeinwohl-Gesichtspunkten ein politisch unhaltbares Vorhaben, der Gesellschaft gerade dieses verlässliche Gedächtnis vorenthalten zu wollen. Zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Internet gehört also unbedingt die dauerhafte Archivfunktion" (Lilienthal 2008: 6). Tatsächlich schließt der Rundfunkänderungsstaatsvertrag nicht grundsätzlich einen über die Fristen hinausgehenden Zugang aus. Jedoch muss der herausragende zeit- und kulturgeschichtliche Wert der jener Sendungen mit einem Drei-Stufen-Test nachgewiesen werden. Darüber hinaus ist es den Veranstaltern zudem freigestellt, ihre eigenen Produktionen kommerziell feilzubieten. Anhaltende Kritik macht sich allerdings an dem besagten Test fest, mit dessen Hilfe über die historische Relevanz von Fernsehproduktionen entschieden werden soll, um sie zeitlich unbegrenzt kostenlos anbieten zu können. Dabei soll ermittelt werden, ob das intendierte Angebot, in diesem Fall also die partielle Versorgung der allgemeinen Öffentlichkeit mit archivierten Programminhalten, den sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht (Stufe 1), ob das Angebot in dem intendierten Umfang den publizistischen Wettbewerb bereichert (Stufe 2) und ob der finanzielle Aufwand, der mit der Bereitstellung zusammenhängt, gerechtfertigt ist (Stufe 3). Aufbau, Zuordnung und Durchführung des Verfahrens boten bereits mehrfach Anlass für Debatten über die Sinnfülle der Regelung: Neben Zweifeln an der Effektivität des „bürokratischen Monsters" (vgl. Schader 2009) wurden auch Zweifel an der Kompetenz und Leistungsfähigkeit der Rundfunkräte laut, in deren Verantwortungsbereich die Bewertung der Programminhalte fiel (vgl. Heimlich 2009). Weitere Kritikpunkte betreffen eine fehlende Transparenz der Entscheidungsprozesse, die methodischen Herangehensweisen an die Problematik sowie die Dauer des Verfahrens von bis zu zwölf Monaten. Außerdem wurde mehrfach auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich aus der wenig konkreten Maßgabe der Bemessung des öffentlichen Wertes ergeben. Zwar kann durch die Entwicklung eines sogenannten Telemedienkonzeptes, das erfolgreich den Drei-Stufen-Test besteht, auch das Angebot von Archivmaterial in den Online-Mediatheken der beiden Sendeanstalten erfolgen; doch geht mit der Überprüfung, ob eine Sendung oder ein Sendeformat mit dem entsprechenden Telemedienkonzept vereinbar ist, das Risiko einher, dass die Zuordnung durch Unschärfen bei der inhaltlichen Bewertung, interpretativer Freiheiten und fehlender Präzision streit- und anfechtbar bleibt, auch weil archivische Bewertungskriterien in den Rundfunkräten nicht zwingend erforderlich sein müssen (vgl. u.a. auch Hasebrink 2007; Henle 2007; Meyer 2008; Schulz 2008).

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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Nun lässt sich wiederum anführen, dass die Sieben-Tage-Regel von Nutzern ohnehin leicht umgangen werden kann und auch wird, indem Streaming-Angebote mitgeschnitten oder Download-Sperren mittels unterschiedlicher Softwarelösungen umgangen werden und sich die jeweiligen Sendungen in Clipform oder komplett anderswo wiederfinden lassen. Der Fall der Hitler-Parodie „Der Bonker", eines Zeichentrick-Videoclips von Walter Moers, zeigt, wie rasant Beiträge aus den Online-Mediatheken kurzerhand von Unbekannten kopiert werden und vielfach dupliziert auf anderen Plattformen im Netz auftauchen, um letzten Endes auf diese Weise mehr Interesse auf sich zu ziehen als innerhalb des Angebots des eigentlichen Senders. Auch lagen die Zugriffszahlen bei weitem höher als bei die Einschaltquote der ZDF-Kultursendung „Aspekte", in welcher der Clip zuvor gezeigt worden war. Es ist daher wahrscheinlich, dass populäres Fernsehen bzw. solches, für das sich eine Liebhabergemeinde findet, wohl ohne weiteres durch die sich vielseitig bietenden Aufzeichnungsmöglichkeiten dauerhaft irgendwie und irgendwo im Internet zugänglich sein wird. Doch sehen immer mehr Fernsehveranstalter die Pflicht und auch den Reiz, selbst stärker mit ihren Produktionen in der virtuellen Medienumgebung präsent zu sein und hierzu eine Angebotsinfrastruktur aufzubauen, die auch digitalisiertes Archivmaterial umfasst. Vereinzelt gibt es auch Ansätze, sich die wissensökonomisch relevanten Früchte von Fan-Aktivitäten im Netz zunutze zu machen. Fernsehunternehmen können aus dem vollen Schöpfen, wie das Beispiel der ehemaligen Fan-Website „TV Tome" zeigt, die nun unter dem Namen „TV.com" firmiert: Zunächst wurde die Seite mit ihrer umfangreichen Seriendatenbank, die detailgenaue Angaben zu über 5.700 Fernsehsendungen enthielt (vgl. Graff 2005), im Januar 2005 für fünf Mio. US-Dollar vom Internet-Unternehmen CNET gekauft, welches wiederum im Jahr 2008 vom Fernsehnetwork CBS übernommen wurde. Den Ausschlag gab hier nicht erst der informative Reichtum, der aus dem jahrelangen Fan-Engagement resultierte, sondern auch die Aussicht auf eine Nutzbarmachung der Zuschaueraktivität. Zunächst aber hatte die .feindliche' Übernahme zur Folge, dass die einstmals so regen Mitglieder der „TV Tome"-Gemeinschaft ihre Beteiligung verweigerten (vgl. Head 2005; Paul 2006). Kennzeichnend ist jedoch der emphatische Versuch der Fernsehindustrie, nicht mehr (ausschließlich) die Konfrontation mit ihrem Netzpublikum zu suchen, indem sie Verstöße gegen ihre Verwertungsrechte kompromisslos verfolgen, sondern auf die medienökonomischen Vorteile des hohen Bedarfs an professionellen Fernsehproduktionen erkennen und von Verhinderungs- zu Lockstrategien wechseln: Seit Sommer 2006 setzen nicht mehr nur die US-amerikanischen Fernsehnetworks, sondern auch die deutschen Sender auf das Angebot exklusiver Web-Inhalte wie unter anderem Pilotfolgen neuer Serien, speziell für die Rezeption im Internet produzierte Episoden (Webisodes) oder Hintergrundberichte. Seither hat sich langsam ein Markt konturiert, der nahe legt, dass Kooperationsansätze mit populären Portalen und die Einladung der Zuschauer zur Partizipation sich auch monetär auszahlen. Auch kuratierte Archivzugänge können sich über das Netz als einträgliche Geschäftsstrategie erweisen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, wie Archivberater Sam Kula skizziert:

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung „If you take the material that is of considerable value and put it up on the internet so people could see it and you put it up that way that nobody couldn't download it effectively in a good quality or you put your logo in it. And once they pay for it you can beam it directly to them in a high quality copy. Then you have a very attractive way of availability. A wide range of imagery would be accessible. And if you hooked that together in a program like the MIC that gives you a guide to collections with schematic searches: I hope that more and more collections will join this in the future. And you could access it globally. We are very fast reaching the point where this is possible" (Sam Kula).

Im Expertenkreis wird die Öffnung der Archive über das Internet als ,,notwendige[r] Folgeschritt" (Mardiros Tavit, ProSiebenSat. 1) der Digitalisierung bewertet. Noch seien die Überlegungen über eine Online-Vermarktung von Archivmaterial bei den Sendern noch wenig explizit und allenfalls ein „kleines Pflänzchen", wie Michael Harms (SWR) und Gerhard Stülb (DRA) einräumen. Es müsse erst eine „kritische Masse" digitalisierten Archivmaterials vorliegen, u m mit einem angemessenen Vertriebskonzept zu starten. Nach Ansicht von Wolfang Ernst von der Humboldt-Universität zu Berlin ist nicht die Erreichung dieser Schwelle entscheidend, sondern die Digitalisierungsanstrengungen an sich, welche die aktuellen Bewahrungsstrategien bestimmen: „Wenn man ohnehin aus Sicherheitsgründen digitalisieren muss, dann kann man diese Digitalisate auch gleich online verfügbarer machen für eine größere Öffentlichkeit, denn die Infrastruktur ist da, das Internet ist vorhanden, die StreamingTechnologien funktionieren, die Datenübertragungsraten sind im überschaubaren Bereich: Also aus dieser Not heraus, Daten vor dem Verfall zu retten, ergibt sich eine Digitalisierung, und für diese Daten sollte man wirklich eine Infrastruktur schaffen, die zugänglicher ist für Wissenschaft und Öffentlichkeit" (Wolfgang Ernst, HUB). Dass die Zeit auch aus der Perspektive der Nutzer mehr als reif ist, u m das Angebotsspektrum auch auf Archivmaterial zu erweitern, unterstreicht Thorsten Schilling (BpB): „Durch die Entwicklung des Internets wird das einfach der Wettbewerb, dem sich Inhalteanbieter stellen, erfordern, dass zumindest eine zeitweise Verfügbarkeit von Archivinhalten gegeben ist." Dieser Auffassung nach vermögen die neuen Rezeptionsgewohnheiten, also der kreativ-ungezwungene Umgang mit audiovisuellen Medienwerken im Netz, genau in den Problembereichen einen Wandel anzustoßen, wo Politik und Rechtssprechung bisher eher zur weiteren Einschränkung der Zugänge zum Fernseherbe gesorgt haben. Noch vor wenigen Jahren war es nahezu undenkbar, dass die Archive über digitale Datenkanäle geöffnet werden könnten. Heute hat sich die Haltung der Fernsehveranstalter scheinbar ins Gegenteil verkehrt: Immer mehr Schranken, die bisher den Weg zum Programmvermögen versperrten, öffnen sich im Virtuellen. Je mehr Programmarchivalien digitalisiert vorliegen und sich ohne erheblichen zusätzlichen Kostenaufwand vermarkten lassen, desto attraktiver erscheint die Zugänglichmachung nach dem Prinzip der Long Tail-Theorie auch aus Sicht der Verwertungsberechtigten. Was sich bereits durch die Proliferation der Angebote älterer Fernsehproduktionen auf DVD angekündigt hat,

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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wird im Internet noch deutlicher: In der digitalen Medienumgebung mit ihren effektiven Such- und Distributionsinstrumenten erhöht eine Ausweitung des Zugangs zu Fernsehprogramm-Überlieferungen das Interesse und den Bedarf an historischen Fernsehsendungen, woraus wiederum eine zusätzliche Ausweitung des Zugangs resultiert, um die gestiegene Nachfrage zu bedienen (vgl. Anderson 2007: 52-53). Das marktwirtschaftliche Prinzip von Angebot und Nachfrage fördert somit tendenziell auch die Ausweitung des Zugangs zu einstmals weggeschlossenen Fernsehüberlieferungen (Abb. 4).

Ausweitung

Steigerung

Ausweitung

des Zugangs

des Bedarfs

des Zugangs

Abbildung 3: Idealtypisches Prozessmodell der Zugangserleichterungen nach dem Long Tail-Prinzip (eigene Darstellung). Bei der Entwicklung adäquater Angebotskonzepte für Fernsehprogramm-Überlieferungen im Internet ist vor allem die Unsicherheit über ein verlässliches selbsttragendes Finanzierungsmodell hinderlich. Zwar sind weiterhin die klassischen Vermarktungsmodelle wie Werbefinanzierung (kostenlos für den Nutzer) auf der einen und Micropayments oder Abonnementzugänge (werbefrei, aber kostenpflichtig für den Nutzer) anwendbar. Doch für eine gewinnbringende Monetarisierung der partizipativen Eigenschaften des Web 2.0 mittels televisuellen Archivalien fehlt den Veranstaltern noch die Erfahrung. Dennoch herrscht bereits eine ansehnliche Angebotsvielfalt, die darauf schließen lässt, dass von den Fernsehunternehmen eine diversifizierte Vermarktungsstrategie mit möglichst vielen unterschiedlichen Ansätzen bevorzugt wird: - Die meisten Sender setzen auf ein integriertes Programmangebot mit Streaming-Inhalten auf ihren eigenen Sender-Websites: Auf den Internet-Präsenzen der Networks ABC, CBS, Fox, NBC, The CW und CNN sowie zahlreicher weiterer Kabelsender können Zuschauer sich kostenlos komplette Episoden und einzelne Clips aktueller Serien aus dem laufenden Programm nach ihrer Fernsehausstrahlung ansehen. PBS und die größten öffentlichen Lokalsender WGBH und Thirteen/WNET warten mit ähnlichen Angeboten auf. In Deutschland bieten RTL mit seinem Dienst „RTL Now", ProSiebenSat.l mit „Maxdome" und ARD und ZDF mit ihren Online-Mediatheken sowie Phoenix mit seiner audiovisuellen Ereignisbilbiothek ähnliche kostenfreie StreamingAngebote. Bei „RTL Now" und „Maxdome" können Nutzer Sendungen außerdem kostenpflichtig herunterladen. - Die Erkenntnis, dass es nicht mehr ausreicht, ausschließlich Inhalte zum Abruf bereitzustellen, hat sich ebenfalls durchgesetzt. Zahlreiche Sender (nicht nur) aus den USA und Deutschland suchten die Kooperation mit dem weltweit führenden Videoportal „YouTube", zunächst um mit Clips und Previews für das eigene Programm zu wer-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

ben, später aber auch um Sendungen in voller Länge kostenfrei anzubieten und anteilig Werbeerlöse zu erwirtschaften. So stellte unter anderem CBS zahlreiche Episoden älterer Serien wie „MacGyver", „Beverly Hills 90210" und „Star Trek - Raumschiff Enterprise" in voller Länge online. Auch das ZDF und die ARD sind mit einer Vielzahl von Einzelsendung auf eigenen „YouTube"-Kanälen vertreten und suchen auf diese Weise Kontakt zu neuen Zuschauerschichten. - Der Nutzererfolg der Kooperationen bestärkte die Sender in ihrem Bestreben, eigene Videoplattformen zu entwickeln, die parallel zu den Senderwebsites als eigenständige Marken operieren und sich mittels sozialer Web-Instrumente zu führenden Anlaufpunkten für die Fernsehnutzung im Internet entwickeln sollen: So haben die beiden Medienkonzerne NBC Universal und News Corp., der das Fox Network betreibt, das Gemeinschaftsunternehmen „Hulu" gegründet, dessen chinesischer Name so viel heißt wie .Besitzer wertvoller Dinge', um maßgeblich werbefinanziert eigene und lizensierte Programminhalte anderer Sender anzubieten, welche von den Nutzern wiederum in private Seiten wie beispielsweise Blog implementiert, untereinander verknüpft und kommentiert werden können. CBS verfolgt mit „TV.com" einen ähnlichen Ansatz und baut auf die gewachsene Fan-Gemeinschaft des Portals, geriet jedoch aufgrund der konzeptionellen Nähe mit „Hulu" und rasant steigenden Nutzungszahlen in einen Wettbewerbskonflikt und musste auf Sendungen aus dem NBC- und Fox-Programm verzichten (vgl. Gruenwendel 2009). Die Idee eines senderübergreifenden Online-Portals für Fernsehinhalte schien auch den Fernsehkonzernen ProSiebenSat. 1 und RTL ein erfolgsversprechendes Modell für den deutschen Markt zu sein, die eine gemeinsame Netzplattform für den kostenlosen, wenn auch zeitbegrenzten Abruf von aktuellen Fernsehsendungen günstigenfalls aller deutschen Programmveranstalter vorschlugen (vgl. Busse 2010). Mit „MyVideo" (ProSiebenSat. 1) und „Clipfish" (RTL) hatten die Sender zuvor bereits den Sprung ins partizipative Web gewagt und versorgen die Nutzer, welche nach dem „YouTube"-Vorbild auch eigene Videobeiträge veröffentlichen können, mit Clips aus dem Programmportfolio populärer Shows wie „Germany's Next Top Model" (ProSieben) oder „Deutschland sucht den Superstar" (RTL), aber auch mit webexklusiven Produktionen. Unterdessen sind auch große Kabelbetreiber wie der weltweit drittgrößte Medienkonzern Comcast (vgl. Kramp/Schmalz 2009) in das Internet-Geschäft mit audiovisuellen Inhalten eingestiegen, ohne sich von ihrem dominanten Subskriptionsmodell zu verabschieden: Mit seinem Portal „Fancast" verfolgt Comcast ähnliche Pläne, wie sie bereits unter dem Etikett „TV Everywhere" von TimeWarner diskutiert wurden (vgl. Learmonth/Hampp 2009), welche vorsehen, dass Kabelkunden für ihre monatlichen Abonnementsgebühren einen zusätzlichen Mehrwert geboten bekommen, indem sie exklusiven Internet-Zugriff auf alle ohnehin im herkömmlichen Kabelportfolio verfügbaren Sendungen erhalten. Eine solche Ausweitung des Zugangs via Internet beschäftigt auch die Senderarchivare, die aber größtenteils von den Online-Strategien der Sendeleitungen ausgeschlossen sind und allenfalls als Zulieferer von Material fungieren. So unterstehen auch die Online-Me-

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diatheken von ARD und ZDF nicht den Archivabteilungen, sondern eigenen Redaktionen. Noch reagieren die Fernseharchivare selbst gegenüber dem Internet als Distributionskanal verhalten: Für Michael Harms (SWR) beispielsweise sind Kooperationsmodelle wie mit „YouTube" noch viel zu unbestimmt in ihrem Nutzen - und ihren Gefahren. Dennoch sei davon unbenommen, dass auch die Archive zwangsläufig zu einem Anbieter werden müssten, um ihrer Rolle als Versorger des Produktionsbetriebs und damit der allgemeinen Nutzerschaft gerecht zu werden. Für zahlende Produktionskunden bieten Sender wie NBC („nbcnewsarchives.com"), ABC („abcnewsvsource.com") und CNN („imagesource.cnn.com") Zugänge zu sogenannten Footage-Pools an, wie sie auch von unabhängigen Dienstleistern wie „1heNewsmarket.com" betrieben werden. In Deutschland gibt es ebenfalls konkrete Überlegungen, entsprechende Services im Internet auszuweiten: „Dieser Pool würde einerseits auch aus dem bereits bestehenden Bestand bestückt werden, und andererseits mit neu hinzukommenden Programmen. Auch wäre vorstellbar, dass man diesen Pool ab einem bestimmten Stichtag mit allen Programmen bestückt" (Mardiros Tavit, ProSiebenSat. 1). Roy Carubia von CBS, deren Nachrichtenarchivmaterial international für die kommerzielle Nutzung über die „Motion Gallery" der BBC vermarktet wird, hält jedoch eine breite Onlinestellung von Archivbeständen noch nicht für realisierbar, obgleich über derartige Szenarien intern durchaus diskutiert werde: „We are always talking about having an archive channel on the internet or something where we can show old shows, not in their entirety, but we cut them and wrap off and which would generate revenue, too." Eine Möglichkeit wird bereits in Kooperation mit dem Internet-Händler Amazon in den USA praktiziert: Für jeweils 17,95 US-Dollar sind über 2.300 Ausgaben der „CBS Evening News" bis zurück ins Jahr 2000 auf DVD zu beziehen, gleichwohl ohne nach den Inhalten der einzelnen Sendungen suchen zu können.56 Vorausgesetzt wird hier also eine vorhandene Kenntnis der jeweiligen Themen der historischen Nachrichtentage, was freilich aufgrund der fehlenden bzw. stark eingeschränkten Recherchemöglichkeiten in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht zutreffen dürfte. Dies weist auf das zentrale Zugangsproblem hin, das auch durch die neuen Vermarktungsmöglichkeiten (noch) nicht bewältigt wurde: Es wird zwar immer leichter, immer mehr Programmmaterial (ob kostenlos oder gegen Entgelt) an den Kunden zu bringen. Der entsprechende Markt hat sich trotz Proliferation der Angebote aber noch lange nicht dahingehend entwickelt, dass fernsehhistorische Zeugnisse in der Komplexität ihrer Vielfalt zugänglich sind: „I think there will be very soon an enormous amount of things you can download - after the model they did with whole Napster-businesses. To some extent the kind of stuff that is put up there is already available. DVD releases are larger than you would expect. There is stuff out there; it's hard to believe that anybody is interested in it. However, the research issue will always be there because their will be a lot of stuff, that people need, that wont be available for download" (Robert Thompson, SU).

56

Stand: August 2010.

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Zwar haben die Sender erfolgreich auf die virtuelle Archivbewegung der Nutzer reagiert und potente Vertriebsmodelle für Internet-Fernsehen etablieren können. „Hulu" zum Beispiel erwirtschaftete bereits ein Jahr nach seiner Gründung mehr Werbeumsätze als Branchengigant „YouTube". Zurückgeführt wird das Erfolgsrezept auf die herausragende Qualität der Inhalte: Die präsentierten Audiovisionen waren nicht mehr klein, unscharf und unvollständig, sondern beeindruckten in HD-Qualität - ein schlagendes Argument für die Werbewirtschaft, die sich zudem im Gegensatz zu den Portalen mit Schwerpunkt auf nutzergenerierte Videos darauf verlassen kann, dass die angebotenen Produktionen unter professionellen Maßstäben entstanden sind (vgl. Lyons 2009). Filmemacher und Filmarchivar Rick Prelinger sieht in dieser Entwicklung bereits das drohende Ende der sich so energetisch herausgebildeten Archivkultur im Netz: „It is quite likely that the ownership and content profiles of major online video sites will soon mirror the corporate taxonomy of the entertainment industry. This means that the quasi-archival functions fulfilled by online video sites may be regarded as temporary" (Prelinger 2007:116). Prelingers These, dass sich bald auch im Internet durch die geschickten Geschäftsstrategien und Übernahmen der Fernsehwirtschaft ein industrielles Angebotsmonopol manifestieren könnte, das dem selbstgenerativen Archiv der Nutzer den Garaus machen könnte, wird gestützt durch die aktuelle Marktentwicklung, die darauf hinausläuft, dass unautorisierte Materialveröffentlichungen durch Nutzer vehement unterbunden werden und die professionell bespielten Plattformen zunehmend an Popularität gewinnen. Diese Entwicklung wäre im Sinne Prelingers bei weitem weniger kritikwürdig, wenn die beobachtete korporative Taxonomie der Unterhaltungsindustrie nicht darauf ausgerichtet wäre, trotz der stark ausgebauten Menge an Abrufangeboten im Internet fast ausschließlich aktuelle und zudem nur populäre Sendungen für eine kurze Zeit online zu stellen. Dies stellt weder einen tiefergreifenden Archivzugang dar, noch können diese Modelle das Potenzial entfalten, die traditionelle Wertschöpfungskette der Medienindustrie neu auszurichten, was aber die Voraussetzung wäre, um die breite wie aktive Hinwendung der allgemeinen Öffentlichkeit zum Fernseherbe zu evozieren. Prima Vista handelt es sich bei „Hulu" und Co. tatsächlich um einen willkommenen Zugangskanal, der mit intelligenten wie praktischen Suchmodalitäten aufwartet und in einer übersichtlichen Datenbankstruktur den selektiven Abruf einzelner Fernsehproduktionen in beeindruckender Qualität ermöglicht. Doch was sich dem Zuschauer darbietet, ist hauptsächlich kontemporäre Massenware und keine virtuelle Entdeckungstour in die Tiefen unbekannter Archivschätze. Außerdem ist die Verfügbarkeit der bereitgestellten Sendungen mehr als unsicher: Lassen einige Sender ihre Produktionen mehrere Wochen und sehr vereinzelt auch über Monate online, sind andere bereits am nächsten Tag nicht mehr auffindbar. Die Verwertungsinteressen diktieren eine möglichst minimale freie Zugänglichkeit im Netz, um weiterhin den DVD- bzw. BluRay-Markt bedienen sowie die Sendungen an andere Sender lizensieren zu können. Daher bleibt der virtuelle Blick in die Fernsehgeschichte hier notgedrungen begrenzt. Was von den Sendern im Internet zur Sichtung zur Verfügung gestellt wird, hätte der aufmerksame Zuschauer auch selbst

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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mitschneiden bzw. sich auf einem optischen Träger kaufen können. Diese Schwerpunktsetzung auf aktuelle oder bereits auf dem Heimvideomarkt erschienene Produktionen trifft auch auf die umfangreichen Abrufservices wie „Fancast" zu, wo sich über 10.000 Titel laden lassen. Sehr vereinzelt gibt es Ausnahmen: Der Musikkanal M T V startete Ende des Jahres 2008 die Videoplattform „mtvmusic.com" mit dem Anspruch, den vollständig digitalisierten Archivbestand des Senders, einschließlich aller gesendeten Musikvideos und Konzertauftritte abrufbereit vorhalten zu wollen. Ein anderes Beispiel ist die Münchener Produktionsfirma Motorvision, die ihr komplettes Archiv des gleichnamigen Automagazins im Deutschen Sportfernsehen DSF kostenfrei und geordnet nach Einzelbeiträgen auf „motorvision.tv" schrittweise online stellt. Gemessen an der Grenzenlosigkeit der Netzkommunikation wird die hemmende Wirkung des Festhaltens an traditionellen Geschäftsstrategien umso offenbarer. Bruce DuMont vom Museum of Broadcast Communications sieht in der globalen Reichweite von Internet-Inhalten die Möglichkeit, Nutzer in fremden Ländern mit wichtigen Kapiteln der Fernseh- und Zeitgeschichte in Kontakt zu bringen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung zu leisten: „The internet makes everything international. If you're studying of the American Civil Rights movement whether you are in Birmingham, Alabama or in Stuttgart, you can read everything you possibly can about the Civil Right movement, but until you see the barking dogs and the water hoses and the way which blacks were treated in this country as recently as forty years ago: Those are powerful images and also the Civil Right movement represents a perfect example how television made the movement successful, nothing but television: It was those powerful pictures the way we lived in America" (Bruce DuMont, MBC). Unabhängig davon, welcher Bildungswert einer Sendung attestiert wird, sind mit dem Internet-Zugang grundsätzlich nicht nur Erwartungen einer zeitlich unbeschränkten Nutzung von abrufbaren Inhalten verbunden, sondern auch die Wunschvorstellung, sich Fernsehproduktionen aus dem Ausland anschauen zu können. Die Unabhängigkeit nicht nur von Zeit, sondern auch Raum wird indes von den US-amerikanischen Networks aufgrund lizenzrechtlicher Bestimmungen durch Geoblocker verhindert: Dabei erkennt das System automatisch, ob ein Nutzer das Videoangebot aus den Vereinigten Staaten oder aus dem Ausland aufruft. Im letztgenannten Fall werden die angesteuerten Inhalte nicht abgespielt. Auch wenn sich derlei Sperren durch die Einrichtung sogenannter Virtual Private Networks außer Kraft setzen lassen, ist eine solche geographische Zugangsbeschränkung eine zusätzliche Hürde, die es einer globalen Nutzerschaft erschwert, wenn nicht unmöglich macht, interkulturell Fernsehinhalte zu rezipieren: „In an ideal world you'd like to have our collection accessible worldwide via something like the internet. And the database would be there and you could browse it and then you could watch assets. But right now we don't have the mechanism for that and obviously there are a lot of vague legal issues" (Doug Gibbons, PCM).

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Der weltweite Zugang zum Fernseherbe ist also durch wettbewerbliche Zwänge und konjunktierte rechtliche Fragen noch ferne Zukunftsmusik. Erst wenn die retrospektive Digitalisierung der Archivbestände voranschreitet und eine kosteneffiziente Distribution über das Internet in Aussicht stellt, sollte dem kostenpflichtigen oder kostenlosen, aber jedenfalls breiten und tiefen Zugang auch zu Nischenbereichen des Fernsehfundus abseits populärer Produktionen nichts mehr im Wege stehen. Die tatsächlichen Potenziale des Internets für die Funktionalisierung des Fernseherbes können jedoch derzeit mit den Mitteln des Marktes kaum in annähernd erforderlicher Weise ausgeschöpft werden. 3.3.2.4. Auf der Schwelle zur Marginalisierung: Öffentliche Gedächtnisorganisationen im

Legitimationskampf

Archive, Bibliotheken und Museen, die sich dem Fernseherbe angenommen haben, um es in ihrer traditionellen Rolle als Dokumentationsinstanzen und als Anwälte des Zugangs zu pflegen, erscheinen bei oberflächlicher Betrachtung leicht obsolet, wenn Mediennutzer und Medienwirtschaft in einem dynamischen Wechselspiel für und gegeneinander den Weg zu Fernsehprogramm-Überlieferungen bahnen. Doch lassen die bisherigen Entwicklungen vermuten, dass auf absehbare Zeit eine verlässliche Verfügbarkeit einer breiten Materialbasis aus der Fernsehgeschichte für die allgemeine Nutzung im Internet weder vom Markt noch von der sich selbst versorgenden Nutzerschaft geleistet werden kann. Zudem erweisen sich die Maßnahmen seitens der Medienindustrie zur Unterminierung des sich aus zahllosen Mitschnitten und Kopien zusammensetzenden selbstgenerativen Kollektivarchivs im Netz als immer effektiver: Innovative Such- und Filtertechnologien mit Namen wie „Take Down Stay Down" (vgl. Lowry 2007) ermöglichen es Betreibern von Portalen wie „MySpace" und „YouTube", die unautorisierte Veröffentlichung von urheberrechtlich geschützten Werken oder Teilen davon automatisch zu erkennen und zu unterbinden, sofern die jeweilige Videodatei bereits einmal als Verstoß gegen das Copyright registriert wurde. Die Sorge Prelingers erklärt sich also aus der sich zuspitzenden Rivalität zwischen Fernsehvermarktern und Fernsehnutzern beim Kampf um die televisuelle Zugangshoheit im Netz, die zu einer Erstickung der archivisch konnotierten Bemühungen der breiten Nutzerschaft führen könnte. Die befragten Vertreter öffentlicher Einrichtungen betonen daher die Mittlerrolle der gemeinnützigen Gedächtnisorganisationen, denen die Aufgabe zufalle, sich für eine Stärkung des demokratischen Zugangs zum Fernseherbe einzusetzen - durch die herrschenden Beschränkungen seitens der Fernsehwirtschaft auch und vor allem international, wie unter anderem Bruce DuMont vom Museum of Broadcast Communications betont. Die großen Lücken, die trotz des aktiven Nutzerengagements und der Ausweitung des Angebots durch die Fernsehveranstalter bei der Zugänglichkeit von Fernsehüberlieferungen weiterhin zwischen Wunsch und Wirklichkeit klaffen, können mittels der kulturellen Leitfunktion von öffentlichen Archiven, Bibliotheken und Museen zumindest verkleinert werden. Gleichzeitig birgt das Engagement der Gedächtnisinstitutionen im Internet die nicht zu unterschätzende Gefahr, eben jene Leitfunktion im egalisierenden Datenfundus

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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des Netzes einzubüßen. Damit könnten sich die Rollen der drei Eckpfeiler der gesellschaftlichen Erinnerung als Informationsquellen marginalisieren: Sie werden zu einem von vielen Dienstleistern im unüberschaubaren virtuellen Angebot und haben mit der Schwierigkeit zu kämpfen, ihrer zuvor exklusiven Stellung innerhalb der informationellen Infrastruktur der Gesellschaft Geltung zu verschaffen. Archiv- und Sammlungsbestände können in der virtuellen Ubiquität von Informationen als Alleinstellungsmerkmal nicht mehr herhalten: „Perhaps the digital context will reduce the intensity historians invest in the archive and perhaps they will less likely fall under the illusion, characteristic of earlier generations, that archives contain the truth of the past" (Poster 2008: 21). Das Internet hat also den bereits beschriebenen Effekt einer möglichen Abwendung des Nutzers von den professionellen Bewahrungsstellen, der aus der attraktiven Leichtigkeit des Zugangs zu einem fraktionellen Bereich des Überlieferungsbestandes erwachsen ist, noch erheblich verstärkt: „The problem right now is that people really want the information on the fingertips on the internet. Having to come to a facility physically is barrier. The proliferation of something like .YouTube' shows that people are posting many things that were hard to find or see before with that regards to copyright. That's the way the young generation likes to do research" (Mark Quigley, UCLA). Zudem haben es Archive, Bibliotheken und Museen versäumt, sich an der Entwicklung der innovativen Formen von Community- und Content-Portalen zu beteiligen, aus denen eine neue Archivform entstand, die sich jedoch ohne jegliche Beteiligung der Archivgemeinschaft etabliert hat (vgl. auch Prelinger 2007: 115). Fraglich ist, ob Gedächtnisinstitutionen als kulturelle Gatekeeper noch erfolgreich den Kontakt und den Austausch mit der aktiven Nutzerschaft im Virtuellen finden können, um sich ihnen anders als die Fernsehwirtschaft zu nähern, sie also nicht kurzerhand zu übernehmen, um Geschäftsziele zu verfolgen, sondern sie zu engagieren und zu integrieren, um gemeinnützige Ziele zu erreichen. Die Informationswissenschaftlerin Karen Gracy glaubt, dass der „soziale Vertrag" zwischen Gesellschaft und Gedächtnisorganisation gerade in Anbetracht der Umwälzungen beim Zugang zu Informationen durch das Internet und der damit einhergehenden Profaneisierung im Umgang mit digitalisiertem Überlieferungsmaterial verteidigt werden muss, um weiterhin verlässlich als Grundlage und Akteur der audiovisuellen Erinnerungsarbeit an der kulturellen Peripherie zu wirken (vgl. Gracy 2007: 187-188). Hierzu reicht es sicherlich nicht aus, dass öffentliche Einrichtungen sich auf die Besetzung thematischer Nischen verlassen, wie Thorsten Schilling das Angebot des Medienzentrums der Bundeszentrale für politische Bildung charakterisiert. Vielmehr gilt es, sich der kommunalen Pflichten des Archivs, der Bibliothek und des Museums zu erinnern und ihre Relevanz als professionelle Verwalter des Kulturerbes herauszustreichen. Joseph Hoppe vom Deutschen Technikmuseum zeigt sich optimistisch, dass trotz der Virtualisierung der Informationsbeschaffung und des sozio-kulturellen (Er-) Lebens sich die Lage für die etablierten Einrichtungen nicht zum Schlechteren verändern wird:

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

„Es gibt auch viele Orte nichtphysischer Öffentlichkeit wie das Internet, aber da wo Menschen sich treffen, was früher der Marktplatz war, was die Straßen gewesen sind, findet man heute oft unkommode Bedingungen vor, und Museen sind nun die Orte, wo man gerne hingeht, um ein physisches soziales Gemeinschaftsverhältnis zu haben" (Joseph Hoppe, DTM). Nicht nur vom Museum, sondern auch vom Archiv und von den Bibliotheken und (ihren) Mediatheken geht nach der optimistischen Meinung einiger Befragter immer noch eine unverwechselbare auratische Anziehungskraft aus, die ihre Wirkungen auf die unterschiedlichen Nutzergruppen, seien es Wissenschaftler, Journalisten, Medienproduzenten oder die allgemeine Öffentlichkeit auch weiterhin ausüben werde. Hans-Gerhard Stülb (DRA) meint, es gehe nichts über einen solchen Platz, den man besuchen könne und der viel mehr biete, als „ob ich im Internet ein bisschen herumklicke und auf die Hesselbachs stoße." Stülb räumt aber auch ein, dass sich jeder Bürger heutzutage „von überall auf der Welt" Informationen besorgen könne und daraus ein epochaler geistiger Wandel eingetreten sei, der es notwendig mache, sich über Angebotsmodelle im Internet Gedanken zu machen. Sämtliche der untersuchten öffentlichen Einrichtungen stellen Überlegungen zur Erweiterung ihres Angebots ins und im Internet an, um ihre Leitfunktion im fernsehhistorischen Diskurs zu verteidigen und ihre Reichweite zu erweitern. Bruce DuMont vom Museum of Broadcast Communications verspricht sich davon den Anbeginn einer neuen Epoche der Aufklärung, welche auch der Fernseherbe-Verwaltung die einmalige Chance biete, mittels des Attraktionspotenzials televisueller Anschauungsbeispiele auch bildungsferne Gesellschaftsschichten über das Internet zu erreichen und für die Fernseh- und Zeitgeschichte zu interessieren: „I think we may be going into a greater period of enlightenment and most importantly in sharing information and willingly wanting to participate." Die steigenden Nutzungswerte von audiovisuellen Inhalten im Internet legen nahe, dass Chancen und Risiken für die etablierten physischen Institute des Zugangs nah beieinander liegen. Während die bisherige prohibitive und umständliche Zugangsweise vor Ort vom netzbasierten Tausch-Prinzip herausgefordert wird und das Fernseherbe nicht mehr in seiner originären Überlieferungsform in der Obhut zertifizierter Bewahrungsinstitutionen zum Maß aller Dinge wird, sondern als dekontextualisiertes, ausschnitthaftes Rohmaterial, wird gleichsam hoffnungsfroh auf das gestiegene Interesse für das Fernseherbe und die ebenfalls überbordende Partizipationsbereitschaft verwiesen. Die befragten Vertreter der öffentlichen Gedächtnisorganisationen sind daher optimistisch, sich den Wandel der televisuellen Erinnerungskultur zunutze machen zu können, sich an die Speerspitze der Bewegung zu setzen und ihre Legitimation weiterhin sichern zu können. Ron Simon vom Paley Center for Media spricht entsprechend von einer aufregenden Zeit, in der sich alte institutionelle Identitäten auflösen und unter Beteiligung des Publikums formbar werden: „The Museum of Television & Radio had created some problems, because especially for young people television and radio seemed a little old fashioned. For them there is

IV.3. Die drei Problemfelder der

Fernseherbe-Verwaltung

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this whole new world of cell phones, the world of the internet, .YouTube', and videos are exchanged back and forth on so many ways. We want to be part of that world. [... ] We're gonna have to engage that community, be very creative. And we're gonna have to change this environment and that's what we're thinking about right now. We're about to go through our third major stage. And it will change the physical building; it will change our internet presence. It will change what we are and what we collect. We're in cusp of something new" (Ron Simon, PCM). Im Vordergrund der Internet-Pläne steht weiterhin die Versorgung der Öffentlichkeit mit dem primären Fernsehprodukt, also historischen Programminhalten: Die Zugänglichkeit von konkreten Medienwerken wurde im Kontext digitaler Euphorie und Praxis zum ausgesprochenen Leitmotiv der Erhaltungsbestrebungen des Kulturerbes. Sollte sich die momentan noch diffizile und den Online-Zugang zu Archiv- und Sammlungsbeständen stark einschränkende Rechtslage vereinfachen und eine Ausweitung des Verfügbarkeit von Fernsehprogramm-Material im Internet zulassen, streben die meisten der untersuchten gemeinnützigen Einrichtungen eine stärkere Internet-Präsenz ihrer Bestände an. Für Mike Mashon (LC) kann es dabei aber nicht bei der Vernetzung von Bildungsorganisationen bleiben, um einen Online-Zugriff zu ermöglichen: „A small step would be to be able to work with access partners and be able to send a file to a partner for educational purposes. That's a good step. But I want to go broader than that and send literally everything that we digitize out and make it available." Mit einem massiven Veranstaltungspaket aus Ausstellungen, Festivals und Vorführungen ist das National Audio-Visual Conservation Center der Library of Congress bereits in die Offensive gegangen, um die verborgenen Sammlungsschätze an die Öffentlichkeit zu bringen. Doch Mashon möchte, und das erscheint angesichts der tektonischen Verschiebungen auf dem globalen Mediensektor mittlerweile weniger utopisch, als es klingt, die ganze Welt an der wachsenden Digital-Sammlung teilhaben lassen. Pläne, Material weltweit verfügbar zu machen, unterliegen längst keinen technischen Hürden mehr, sondern allenfalls rechtlichen: „Someday when we are going into an era when we digitizing more material, I'd like to be able to stream the digital content to places around the globe. [...] The law allows us to transfer from one library facility to another. However, if I have a digital file of every episode of .Survivor', there is no reason why I can send it to Capitol Hill, why not also to Moscow and Los Angeles and Timbuktu. [...] What I want to be able to is sending a file to any computer wherever you are in the world" (Mike Mashon, LC). Manche Einrichtungen haben schon einen kleinen Schritt in diese Richtung gewagt: Das Paley Center for Media hat eine langsam wachsende Zahl drei- bis fünfminütiger Exzerpte in ein virtuelles Vorschauarchiv gestellt, um die weltweite Nutzerschaft teilhaben zu lassen an sonst nur vor Ort im Museum zugänglichen Überlieferungen. Solche ersten zaghaften Versuche, im Rahmen der eng gesteckten Möglichkeiten orts- und zeitunabhängig einen audiovisuellen Eindruck vom Reichtum des Fernseherbes zu vermitteln, werden komplementiert durch Initiativen wie jene des Internet Archive, das in seiner Spezialsammlung „September 11 Television Archive" die vollständige Sonderberichter-

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stattung der Sender ABC, CBS, CNN, Fox, NBC und der britischen BBC vom 11. bis 13. September zum Abruf bereitgestellt hat. Auch wenn solche Teilprojekte noch die Ausnahme sind und das Engagement vieler Sammlungseinrichtungen aufgrund der Ungewissheit über die Rechtmäßigkeit ihrer Bestände unter widrigen Vorzeichen steht (vgl. Kapitel IV.2.5.4.), stellen vereinzelte Gedächtnisinstitutionen wie das Museum of Broadcast Communications, das aufgrund der Hindernisse bei der Fertigstellung des neuen Museumgebäudes seine Internet-Aktivitäten forcierte, durch Verhandlungsgeschick einen bereits ansehnlichen Online-Bestand an digitalisierten Programmüberlieferungen für registrierte Nutzer zur Verfügung: ,,[W]e are certainly in the forefront to make that happen, given our aggressive use of the internet: We were the first institution to take our holdings to catalog them on the computer. We were the first to offer our card-catalog completely online, search ability online. We have over 300 hours of streaming media on our website. So we feel that we have really pushed the envelope in making content accessible to as wide an audience as possible. [...] We are a museum that is not just about tapes, but what's on the tapes. When you think about the bigness of that idea with the internet, with streaming media, we can be providing content that has nothing to do with the history of radio and television, but it has everything to do with the history of divorce or Civil Rights" (Bruce DuMont, MBC). So selbstbewusst sich einige der Institutionen als Vorkämpfer beim Vorantreiben ihrer Netz-Dependancen profilieren, ändern sich mit dem von überall aus nutzbaren Abrufangebot notgedrungen auch die Zugangsparadigmen innerhalb der Organisationsstrukturen der öffentlichen Verwalter des televisuellen Fundus: Die gestandenen Einrichtungen wandeln sich im übertragenen Sinne zu virtuellen „self-service hold-shelves" (vgl. Balas 2006: 39), aus denen sich der Benutzer bedienen kann, wie es ihm beliebt: Die Suche und der Abruf elektronischer Datensätze sind nicht mehr auf eine Inanspruchnahme durch Fachpersonal angewiesen, sondern Tag und Nacht, während und außerhalb der Öffnungszeiten eines Archivs, einer Bibliothek oder eines Museums möglich. Die Gefahr, sich selbst durch das eigene Internet-Angebot als physischer Erinnerungsort zu relativieren, ist ebenso nicht von der Hand zu weisen wie das Potenzial, neue Zielgruppen über den Netz-Kanal für die Einrichtung zu begeistern und sie zu einem Besuch vor Ort zu bewegen. So hält sich das Für und Wider der virtuellen Öffnung die Waage, kann einerseits dazu führen, dass sich eine Gedächtnisinstitution nicht mehr durch eine geographisch definierte Gemeinschaft bestimmt, andererseits aber auch zu internationalem Renommee und einer verbesserten Nutzerbindung durch die fortgesetzte Zugangsmöglichkeit aus der Ferne, wie Daniel Berger vom Museum of Broadcast Communications erklärt: „Interpretation, preservation: the website will be an important part of that, building a relationship with people who study the medium, and then also go with the needs of educators, because no matter how accessible stuff is to the general public, schools may not have the luxury. We might be able to provide that resource" (Daniel Berger, MBC).

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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Im Idealfall ergänzen sich die Funktionen, dies setzt allerdings die Generierung eines attraktiven Profils und klarer Alleinstellungsmerkmale voraus, die auch im Internet die Mission der betreifenden Einrichtung um- bzw. fortzusetzen imstande sind. Hierbei bilden televisuelle Inhalte nur einen, wenn auch zentralen Bestandteil, bedürfen aber zudem einer Komplementierung durch Text- und Bildinhalte, mit deren Hilfe Themen der Fernsehgeschichte aufbereitet und einzelne Überlieferungen kontextualisiert werden. Inmitten der Angebotsvielfalt im Internet ist ein rein auf Informationsvermittlung angelegtes Konzept nicht mehr ausreichend: Gedächtnisorganisationen müssen sich eingliedern in ein Wissens- und Gedächtnisnetz ungeheurer Komplexität, in dem sie ihre Stellung nur finden und behaupten können, wenn sie die Regeln des virtuellen Kommunikationsapparates akzeptieren: effiziente Präsentation des Angebots, interaktive Schnittstellen und eine Suchmaschinenkompatibilität, die ihnen im Wettbewerb um die schlagwortfixierte Zuordnung im direkten Vergleich mit anderen populären Wissensangeboten wie „Wikipedia", Online-Medien, Blogs und nicht zuletzt den verführerischen Abrufdiensten der Fernsehindustrie Nutzer zuführt. Nur auf diese Weise wird es ihnen möglich sein, weiterhin als Anlaufstellen für Belange des Fernseherbes für gegenwärtige und zukünftige Generationen relevant zu bleiben und ihre kulturhoheitliche Funktion zu legitimieren. Jürgen Schlegel warnte daher in seiner Funktion als Generalsekretär der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung sämtliche öffentlichen Einrichtungen der Kulturerbe-Verwaltung, dass die neuen Technologien die Grenzen zwischen Gedächtnisinstitutionen und Datenbanken unscharf werden ließen und appellierte an eine stärkere Besinnung der Gedächtnisinstitutionen auf ihre traditionellen, bereits von Altkanzler Helmut Schmidt herausgestrichenen Stärken als „geistige Tankstellen der Nation" (Schlegel 2006:221). Wie nie zuvor werden sie - losgelöst von der architektonisch-mächtigen Präsenz ihrer Gebäude - in der virtuellen Medienumgebung über ihre Dienstleistungen definiert: Das zentrale Unterscheidungsmerkmal zu anderen Informationsangeboten im Netz ist demzufolge ihr historischer Bildungsauftrag. Bruce DuMont (MBC) sieht diese Verpflichtung auch für die öffentliche Fernseherbe-Verwaltung, die nicht dem Reiz der Unterhaltung verfallen, sondern sich klaren Bildungszielen widmen sollte: „We are in the knowledge sharing business, and the educational use of the internet is still viewed in a very small way by all of the major companies. They want to entertain you. Their goal is not to educate you, because you make less money with that. But our mission is not to entertain, but to educate" (Bruce DuMont, MBC). Der Spagat zwischen der Versorgung der lokalen Nutzerklientel vor Ort und der Engagierung der globalen Netzöffentlichkeit kann nur dann gelingen, meint Archivberater Sam Kula, wenn auf die neuen Produktionsverhältnisse in der digital gerüsteten Mediengesellschaft reagiert werde. An der Einbindung der Publika auch durch die Sammlung und Präsentation von nutzergenerierten Videowerken führe kein Weg vorbei: „One of the things a television museum would have to do is to reflect that everyone is now their own television producer. They have cell phones which takes images and

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they can transmit them to their friends or to the whole world through the internet. Any media museum and television museum that ignores that aspect is going to find itself obsolete" (Sam Kula). So könnte die Transformation von einer elitären Pflege des kulturellen Bewegtbildfundus zu einem breiten, demokratischen Ansatz gelingen: Gracy (2007: 193) envisioniert auf Basis einer Mischsammlung von professionellen und privaten AV-Produktionen eine neue Form des demokratischen Archivs. Öffentliche Einrichtungen wie allen voran Fernsehmuseen erscheinen dafür prädestiniert: Wenn sich Gedächtnisinstitutionen nicht nur als bloße Depotstelle verstehen, die von unterschiedlichen Nutzergruppen rekrutiert wird und es ihnen überlässt, die vorgehaltenen Beständen zu funktionalisieren, sondern sich aktiv als Gestalter um eine integrative Synergetisierung beider Überlieferungsbereiche verdient macht, Verbindungen erkennt und Verknüpfungen erstellt, dann könnte einer neuen Form von Erinnerungsarbeit unter Zusammenführung hegemonialer und gesellschaftlich-pluralistischer Dokumentations- und Ausdrucksformen am Beispiel des Fernsehens der Weg bereitet werden. Ansätze hierzu sind in Einrichtungen wie dem Paley Center for Media oder der Deutschen Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen zu beobachten, wo Konzepte entwickelt werden, um Produktions- und Rezeptionskontexte kreativ zu verbinden und kuratorisch aufzubereiten. Anders als den Fernsehveranstaltern, die durch ihr profitorientiertes Bias den Konflikt mit dem selbstgenerativen Archiv der Nutzer auf absehbare Zeit nicht überwinden werden können, bietet es sich gerade gemeinnützigen Institutionen an, die partizipationsbereiten Publika für ihre Zwecke zu gewinnen, selbstproduziertes Material zu erstellen und zur Verfügung zu stellen, sich an der Annotation von Datensätzen zu bestimmten Fernsehüberlieferungen zu beteiligen oder sich anderweitig unter dem Zeichen des Allgemeinwohls und des Gemeinschaftsideals für die Belange der Einrichtung zu engagieren. So kann es ihnen gelingen, den längst in andere Sphären der NetzöfFentlichkeit abgewanderten Diskurs über die diversen Facetten der Fernsehgeschichte wieder in ihr Hoheitsgebiet zurückzuholen, ihn zu moderieren, einzugreifen und ihn anzureichern. Dass sich im Internet Erinnerungskulturen, Wissensangebote und eine bisher in ihrer Publizität nicht gekannte Gedächtnismaschinerie finden lassen, steht zwar außer Frage (vgl. Kapitel IV.3.3.2.2.). Doch fehlt (noch) der Überblick, der ihre Entfaltungsmöglichkeiten sichert und in konstante Bahnen lenkt. Aus diesem Blickwinkel müssen öffentliche Gedächtnisorganisationen keine Marginalisierung fürchten, sondern ihnen kann vielmehr eine stärkere Position als jemals zuvor zugeschrieben werden, weil der lebhafte, aber unstrukturierte und kleinteilige Fernsehdiskurs im Netz Koordinations- und Orientierungsangeboten bedarf, die effektiv nur von unabhängigen Instanzen mit der entsprechenden fachkundigen Autorität ausgehen können. Dies macht ein Engagement der Gedächtnisinstitutionen Archiv, Bibliothek und Museum im Internet nicht nur möglich, sondern zwingend notwendig, um mit kooperativen Anstrengungen selbst Anlaufstellen zu erstellen und bereits bestehende partizipatorische Informationsangebote bei der Schaffung einer verlässlichen Infrastruktur des Zugangs zu Wissen und Überlieferungs-

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beständen zu unterstützen. Die Dringlichkeit wird außerdem dadurch unterstrichen, dass der basisdemokratische Archivdiskurs im Netz durch seine Konzentration auf die Funktionalisierung des Überlieferungsmaterials und den damit verbundenen Möglichkeiten der Zugangsmechanismen paradoxerweise die zugrundeliegenden Bewahrungsaspekte fast völlig außer Acht lässt. Die Probleme bei der Erhaltung von Fernsehüberlieferungen sind auch durch die Digitalisierungsanstrengungen längst nicht gelöst (vgl. Kapitel IV.3.2.3.2.). Die Bewusstseinsschärfung für solch drängende Fragen hält Dietmar Preißler (HDG/NM) für eine der vornehmsten Aufgaben von Gedächtnisorganisationen: „Es muss aber die Frage gestellt werden, ob die Inhalte, die ins Internet gestellt werden, überhaupt langzeitgesichert sind. [...] Für uns als kulturelles Gedächtnis ist es eben wichtig, dass wir uns darauf verlassen können, dass die Medien in einem solchen Fall wirklich für die Ewigkeit dort verfügbar sind. Wenn sie nach zehn Jahren weg sind, hilft auch kein Nachrecherchieren mehr" (Dietmar Preißler, HDG/NM). Aufklärung ist auch innerhalb der gemeinnützigen Fernseherbe-Verwaltung vonnöten. Je mehr Institutionen mit ihren Sammlungen ins Netz streben, um den Zugang zu verbessern, desto deutlicher rücken auch die Risiken von Abhängigkeiten bei der Umsetzung der aufwendigen und kostenintensiven Digitalisierungspläne ins Blickfeld. So hat es sich der Internet-Konzern Google zur Aufgabe gemacht, weltweit in Zusammenarbeit mit Bibliotheken in wenigen Jahren Millionen von Büchern zu digitalisieren und über simple Suchbefehle recherchierbar und im Volltext zugänglich zu machen (vgl. Flagg 2007: 208).57 Damit ergänzt und unterstützt Google Digitalisierungsinitiativen finanziell und vermag einen Beitrag zur Stärkung des Buches als kulturelles Vermittlungsmedium zu leisten (vgl. Coleman 2007). Ähnliche Kooperationsprojekte zwischen der (Internet-) Wirtschaft und Fernseharchiven gibt es nicht. Dennoch illustriert die Initiative von Google auf anschauliche Weise, welche Konsequenzen aus der allgemeinen Finanzknappheit in öffentlichen Gedächtnisorganisationen für die Kontrolle über das Kulturerbe resultieren können: In seinem Vorwort zur US-amerikanischen Ausgabe der viel beachteten Streitschrift des ehemaligen Direktors der französischen Nationalbibliothek Jean-Noel Jeanneney hinterfragt Ian Wilson, leitender Archivar und Bibliothekar Kanadas, die Liaison vieler Bewahrungseinrichtungen mit Google zum Zwecke der Digitalisierung ihrer Bestände kritisch und sieht die Gefahr eines Scheuklappenagierens. Durch die Möglichkeit der Umsetzung ihrer Ideale von Zugänglichkeit und Freiheit des Wissens könnten die notorisch unterbudgetierten Einrichtungen in die kommerzielle Falle tappen, die ihre traditionelle Funktion als Wächter über das Kulturerbe schwächen könnte (Wilson 2006, viii). Die Beantwortung der Frage, ob sich die Bibliotheken eines finanzstarken Partners nur bedienen, um ihren Auftrag effizienter erfüllen zu können, oder ob damit im Gegenzug einer Instrumentali-

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Im „Economist" wurde Ende März 2007 vorgerechnet, dass mindestens zehn Millionen Bücher von Google innerhalb eines Jahres digitalisiert werden können - bei einer Gesamtzahl existierender Bücher von etwa 65 Millionen (Anonym 2007b: 93).

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sierung von Kulturerbe zur Durchsetzung kommerzieller Interessen Vorschub geleistet wird und die Autorität der gemeinnützigen Einrichtungen über die Bestände schwindet, kann wohl kaum abschließend erfolgen, da es sich dabei um Entwicklungen globalen Ausmaßes handelt, die von einem symbiotischen Verhältnis charakterisiert sind, das nur in seinem Verlauf Aufschluss darüber geben kann, welche Absichten die Oberhand gewinnen oder ob es bei einem gegenseitigen Vorteilsverhältnis bleibt. Angesichts der wachsenden Macht wirtschaftlicher Akteure vor allem aus den USA sieht Jeanneney Europa in der Pflicht, schnell und vor allem gattungsübergreifend eine Regelung für die Digitalisierung des Dokumentenerbes der einzelnen Mitgliedsstaaten zu finden: „Nehmen wir an, Google (oder Microsoft?) triumphiert über seine schwächeren Rivalen und keine amerikanische oder internationale Kontrollinstanz zerschlägt sein Monopol. In diesem Fall muss Europa erst recht Entschlossenheit zeigen und all seine Kräfte daransetzen, unsere Schriften, Bilder und Tondokumente im Rahmen eines ausschließlich europäischen Programms zu digitalisieren" (Jeanneney 2006: 83). Sein Plädoyer an eine „europäische Kraft" (ebd.: 84), das heißt ein gemeinschaftliches Vorantreiben der digitalen Sicherung und Zugänglichmachung des europäischen Kulturerbes durch politische, kulturelle und (angeleitete, aber unter Kontrolle stehende) privatwirtschaftliche Kräfte in der Europäischen Union resultiert aus seinem Eindruck, dass das bisherige Digitalisierungsengagement in den USA von marktwirtschaftlichen Motivationen geleitet gewesen sei und zu einer quälenden Beliebigkeit und Zersplitterung von Wissen führe (ebd.: 86). In Europa wird daher mit Eifer versucht, verlorene Zeit in der Bewahrung und Verfügbarkeit durch gemeinschaftlich koordinierte Digitalisierungsinitiativen aufzuholen: Mit dem im Rahmen des Förderprogramms Contenplus der Europäischen Union realisierten Projekts „Video Active" („videoactive.eu") wurde ein Archivportal entwickelt, das Ausschnitte aus der Fernsehprogrammgeschichte sechs europäischer Staaten zugänglich macht. Ausgewiesenes Ziel der Initiative ist die Verbesserung des Zugangs zum Fernsehprogrammerbe für Bildungszwecke, private Nutzung sowie für die Kulturerbe-Verwaltung im Besonderen. Neben Sendungen mit Reisetipps und Freizeitthemen („Tourismus und Ferien") lässt sich aus über 30 weiteren Themenbereichen auswählen: Von „Arbeitswelt" über „Emigration und Integration", „Familie", „Kalter Krieg" und „Jugendkultur" bis hin zu „Katastrophen", „Konsumgesellschaft", „Sexuelle Revolution" und „Wohnen". Daneben finden sich auch historische Clips, in denen sich das Fernsehen selbst zum Thema machte („Fernsehen über Fernsehen"), sowie Sendungen, die gesellschaftliche Kontroversen anstießen wie die Berichterstattung über das Geiseldrama von Gladbeck im August 1988. Den Kern der Arbeitsgemeinschaft, von der „Video Active" betrieben wird, bilden fünf europäische Gedächtnisorganisationen sowie sechs öffentliche bzw. öffentlich-rechtliche Fernsehveranstalter: Neben den Nationalarchiven Schweden, Ungarns, Griechenlands, Italiens und den Niederlanden steuern die britische BBC, der dänische Sender DR, die Deutsche Welle, der österreichische ORF, RTBF aus Belgien sowie TVC aus Spanien digitalisiertes Archivprogrammmaterial bei. Nach der Gründung des gemeinnützigen Konsortiums wurden ergänzend das franzö-

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sische Institut National de l'Audiovisuel, der belgische Sender VRT sowie der britische Film- und Fernsehdatenbankdienstleister Moving Image Communications in die Arbeitsgemeinschaft aufgenommen. Das Videoportal gilt als wichtiger Baustein einer digitalen europäischen Bibliothek unter der Leitung der Europäischen Kommission (vgl. Oomen/ Tzouvaras 2007), die im November 2008 unter dem Namen „Europeana" („europeana. eu") als Prototyp startete und über vier Millionen digitale Archivalien verschiedener kultureller Überlieferungsbereiche integriert, jedoch kurz nach ihrer virtuellen Eröffnung aufgrund überlasteter Serverkapazitäten kurzzeitig wieder vom Netz genommen werden musste. Das öffentliche Interesse hatte sich als so groß herausgestellt, dass innerhalb von nur einer Stunde mehr als zehn Millionen Seitenaufrufe verzeichnet wurden (Jungen 2008). Einige Wochen später wurde ein Neuanfang gewagt, der unter dem Motto „think culture" bewusst auch auf ein Community-Modell setzte (vgl. auch Sach 2008). Die verstärkten Bestrebungen zur Etablierung eines allgemein zugänglichen Fundus von digitalisierten Überlieferungen äußern sich also in recht unterschiedlicher Weise, wobei eine Zusammenarbeit zwischen Fernsehveranstaltern und öffentlichen Gedächtnisinstitutionen am vielversprechendsten erscheint. Kim H. Veltman, Direktor des Virtual Maastricht McLuhan Institute, plädiert dabei entgegen Jeanneneys nicht für eine Vereinheitlichung oder Zusammenfassung der Projekte auf europäischer Ebene, sondern für ein Netzwerk aus virtuellen Fundusverwaltern, das er als World Online Networked Digital Electronic Resource, kurz: WONDER (Veltman 2007: 32) bezeichnet. Das Akronym umschreibt nicht zufällig ein buchstäbliches Wunder: Internationale oder gar globale Gemeinschaftsprojekte stecken noch in den Kinderschuhen und lassen deutliche Kompatibilitätsprobleme erkennen. Einen wichtigen Impuls in diese Richtung geht von der im Jahre 1992 angestoßenen UNESCO-Initiative „Memory of the World" aus, die es sich zum Ziel gesetzt hat, mithilfe digitaler Technologien und dem weltumspannenden Netzwerk einen Kanon an besonders bedeutenden historischen Dokumenten jeglicher Gattungsform zusammenzustellen, um damit sowohl für Bewahrungsanstrengungen als auch für die Zugänglichkeit der betreffenden Überlieferungen im Speziellen und der übrigen Überlieferungsbestände des jeweiligen Landes im Allgemeinen zu werben (vgl. Edmondson 2002). Dabei handelt es sich um ein virtuelles Register mit dem Ziel, einzelne Staaten und ihren Archiven, Bibliotheken, Gedenkstätten und Museen bei der Sicherung und Digitalisierung ihrer besonders gefährdeten Dokumentenschätze zu unterstützen und diese im Internet präsentieren zu können, damit sie uneingeschränkt zugänglich werden (vgl. Metze-Mangold 2007:472). Im Vordergrund steht die Signalwirkung, die sich die Initiatoren von dem Projekt versprechen und sich bereits ähnlich bei anderen deutlich länger etablierten UNESCO-Programmen zum Schutz des Weltkultur- und des Weltnaturerbes, die Bekanntheit der berücksichtigten Stätten erheblich steigerte und weite Bevölkerungskreise dazu ermunterte, sich durch einen Besuch einen eigenen Eindruck von ihnen zu machen. So soll innerhalb der einzelnen Nationalgesellschaften, aber auch länderübergreifend ein ähnlich starkes Bewusstsein für das Weltdokumentenerbe geschaffen werden sowie für die dringen-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

den Erfordernisse ihrer dauerhaften Bewahrung, damit auf das dokumentarische Erbe der Menschheit im Sinne eines „Gedächtnisses der Menschheit" (Leonhard 2000: 372) auch in Zukunft zugegriffen werden kann. Die teilnehmenden Institutionen erfahren bei Aufnahme einer ihrer Vorschläge eine besondere Würdigung in Form eines Zertifikats bzw. einer Plakette. Die Auswahl zeichnet sich durch eine besondere Rigidität aus, wobei anerkannt wird, dass bei der nur geringen Zahl von möglichen Beiträgen eines Landes bzw. Kulturraums für das Programm weder eine Vollständigkeit noch Repräsentativität erreicht werden kann. Ein Komitee der UNESCO entscheidet über die weltweite historische Relevanz eines vorgeschlagenen Dokuments, das über nationale Grenzen hinweg Einfluss auf die Weltgeschichte gehabt haben muss, um in das Register aufgenommen zu werden. Das faktische Streben nach einem kulturellen Kanon mit globaler Dimension, also einer Zusammenstellung der wichtigsten Dokumente des historischen Welterbes, mag die Aufmerksamkeit für das Kulturerbe steigern und in der Folge ein wachsendes allgemeines Bewusstsein für notwendige Maßnahmen zur Erhaltung desselben wecken; doch muss eine solche kanonisierte Liste besonders bedeutender Dokumente angesichts der schieren Komplexität der Weltgeschichte des dokumentarischen Wirkens, einschließlich seiner vielfältigen Divergenzen, immer unter pragmatischen Gesichtspunkten erstellt und erweitert werden (Leonhard 2000: 372), die dadurch immer auch Kritik und Widerspruch ausgesetzt sein wird. Manfred Osten erhebt grundsätzliche Zweifel, indem er schreibt, es handele sich bei „Memory of the World" um ein Paradox, da die Inhalte der kulturellen Langzeitgedächtnisse einem technisch-bedingten Kurzzeitspeicher, also dem Internet, anvertraut würden (Osten 2005: 187), verkennt dabei aber die aufklärerischen Qualitäten der Initiative. Dass für ihn die unsichere Langzeitstabilität digitaler Daten und die Diskontinuitäten des Internets den hauptsächlichen Kritikpunkt ausmachen, zielt am Kern des Projektes vorbei: Von der zweifellos festzustellenden Ambivalenz digitaler Netzwerke ist es nicht betroffen, stellt es doch in einem festen institutionellen Rahmen maßgeblich auf die Verbreiterung und Vertiefung eines weltweiten Bewusstseins für die Bedeutung der identitätsbildenden historischen Dokumente ab, die mithilfe einer verbesserten Zugänglichkeit von Archiv- und Sammlungsgut in Form eines hinführenden Verweises erreicht werden sollen. Eine Deakzessionierung, also Aussortierung der materiell archivierten Originaldokumente steht nicht zur Debatte. Kritikwürdig aus einem zeitgeschichtlichen Blickwinkel ist dagegen die Vernachlässigung des Fernseherbes: Zwar wurde dem Antrag Ungarns entsprochen, die ersten Aufzeichnungen des Ingenieurs Kaiman Tihanyi von 1926 über sein Fernsehsystem namens „Radioskop", fraglos eines der zentralen Dokumente der Fernsehtechnikgeschichte, in das Register aufzunehmen. Darüber hinaus finden sich aber bisher kaum fernsehhistorische Zeugnisse. Eine Hinwendung zu weiteren, vor allem programmlichen Fernsehüberlieferungen wird aber auch nicht ausgeschlossen: So finden sich bereits wichtige Zeugnisse der Rundfunk- und Filmgeschichte wie etwa eine der berühmtesten Ansprachen in der französischen Geschichte: die Hörfunkübertragung des Durchhalteappells von Charles de Gaulle vom 18. Juni 1940 an seine Landsleute im von

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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Deutschland besetzten Frankreich, oder der deutsche Science-fiction-Filmklassiker „Metropolis" des Regisseurs Fritz Lang. Nach Ansicht von Archivberater Sam Kula gereicht die Aufnahme in einen solch prominent aufgestellten Kanon nicht nur dem betreifenden Überlieferungsstück und der zuständigen Gedächtnisorganisation zum Vorteil, sondern schafft auch weltweite Aufmerksamkeit für die Mediengeschichte des jeweiligen Landes im Allgemeinen: „You have a role and responsibility in terms of the awareness for these issues. There is a constant battle an organization has to make the public in general aware of the need to preserve this material and of the value of the material in terms of their national culture and consciousness. And so you work with others in order to do so. [...] When the German government brought .Metropolis' on the .Memory of the World'-program, it got a lot of comments in German television: Look, there is a German film that got into the UNESCO-program. That's a valuable aspect of the world" (Sam Kula). So sehr das Weltgedächtnis, auf das schon in dem Projektnamen so deutlich Bezug genommen wird, in seiner abstrakten Metaphorik nicht nur immer umfassender, sondern auch grundlegend von Fernsehbildern geprägt wird, ist eine stärkere Berücksichtigung von Fernsehüberlieferungen, vor allem solchen zu identitätsbildenden Ereignissen der Gesellschaftsgeschichte, unumgänglich und im Kontext der Gefährdungen, die den Zeugnissen des audiovisuellen Leitmedium weltweit immer noch drohen, überfällig. 3.3.3.

Schlussfolgerungen

Wie kein anderes Medium zuvor hat das Fernsehen die Welt zusammenrücken lassen. In seiner Karriere zum audiovisuellen Leitmedium für Generationen wurde es mal verehrt, mal verschrien, mal über-, oft unterschätzt, aber stets schaute ein Millionen-, ein Milliardenpublikum zu. Gesellschaftliche Erinnerung ist auf dieses kulturelle Erbe angewiesen, das sich in den Fernsehprogrammen vergangener Tage audiovisualisiert. Doch nicht erst der deutsche Wissenschaftsrat musste bemängeln, dass die Nutzung von AV-Überlieferungen durch Forschung und Lehre durch mangelhafte Verfügbarkeit gehemmt wird (Wissenschaftsrat 2007: 53-56). Wie gezeigt werden konnte, ist die eingeschränkte Zugänglichkeit zum Fernseherbe ein historischer Makel in den Mediengesellschaften Nordamerikas und Deutschlands, der schwer auf den öffentlichen Einrichtungen der Fernseherbe-Verwaltung lastet. Dass bis heute in diesem wichtigen Bereich kulturellen Schaffens und Dokumentierens keine verbindlichen Rahmenbedingungen für einen allgemeinen Zugang geschaffen werden konnten, stellt die gesamtgesellschaftliche Identitätsbildung und -pflege, die inter-kulturelle Verständigung und die individuelle wie kollektive Erinnerungsarbeit auf die Probe und bleibt somit eine der großen Herausforderungen bei der historischen Forschung über alle televisuell geprägten Lebensbereiche. Zusammenfassend lassen sich folgende Problembereiche beim Zugang zu Fernsehüberlieferungen identifizieren:

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

- Das Fernsehen verteidigt zwar auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Führungsrolle in der Nutzung und Beliebtheit massenmedialer Angebote, doch beschränkt sich die Kompetenz der Zuschauer nahezu ausschließlich auf die Auswahl und Rezeption der Programmangebote. Wie sich der souveräne Rezipient dem weiten Feld fernsehhistorischer Überlieferungen nähern kann, um eigenständig aus den reichen, aber dispersen Archiv- und Sammlungsbeständen zu selektieren, ist dagegen weitgehend unbekannt. Eine Infrastruktur des Zugangs fehlt fast vollständig, wohingegen selbst ambitionierte Behelfsmodelle wie die Clearing-Netzwerke MIC und Netzwerk Mediatheken durch ihre noch sehr rudimentären Verweisstrukturen nur begrenzte Hilfestellung versprechen. Paradox mutet die Diskrepanz zwischen der Ubiquität aktuellen Fernsehschaffens und der Unauffindbarkeit der unter Verschluss liegenden Zeugnisse der Fernsehvergangenheit an: So leicht auch mithilfe (elektronischer) Programmführer zu ermitteln sein mag, wann und auf welchem Sender der nächste „Tatort", die x-te Wiederholung von „Raumschiff Enterprise" oder die neue Staffel der Casting-Show „American Idol" ausgestrahlt wird, sind die Aussichten auf einen übergreifenden Archivführer allemal schlecht. Eine der wichtigsten Aufgaben der Fernseherbe-Verwaltung im Allgemeinen und der Fernsehindustrie im Besonderen ist mit der Entwicklung effizienter Lösungen für Cross-Recherchen verbunden, die es Nutzern jedweden Hintergrundes ermöglichen, den televisuellen Fundus zu durchsuchen. - Die systemisch zu erklärende Unzugänglichkeit großer Teile des Fernseherbes, welche aus der endarchivischen Verantwortung der Fernsehwirtschaft resultiert, hatte zur Folge, dass weite Bevölkerungskreise trotz ihrer engen Verbundenheit mit televisuellen Produktionen keine allgemeine Kompetenz ausbilden konnten, was die Annäherung an den historischen Gegenstand Fernsehen betrifft. Kommen die diesbezüglichen grundlegenden Defizite des durchschnittlichen Zuschauers bereits im normalen Heimgebrauch zum Vorschein wie bei Schwierigkeiten bei der Aufzeichnung (z.B. Programmierung des Videorekorders) oder der unzureichenden Vorsicht bei der Nutzung von Videokassetten oder DVDs, die leicht unbrauchbar werden können, wenn sie nicht pfleglich behandelt und gelagert werden, fehlen Kenntnisse zur Archivnutzung gemeinhin völlig. Selbst Studierende der Medienwissenschaften werden nur unzureichend auf die mit der Sichtung ihres Studiengegenstandes verbundenen Voraussetzungen vorbereitet. Weil die Archive in den Fernsehunternehmen größtenteils unter Ausschluss der Öffentlichkeit agieren (müssen), um ihren produktiven Aufgaben nachzugehen, profitieren vor allem geschäftsorientierte Nutzer von den Weiterbildungsangeboten und Hilfestellungen zur Nutzung der Archivdienste. Sollte dieser im Hinblick auf den Erkenntnisbedarf über die Fernsehvergangenheit immer wichtiger werdende Teil der Medienkompetenz weiterhin vernachlässigt werden und dadurch zwangsläufig unterentwickelt bleiben, wird sich auch eine mögliche Liberalisierung und Flexibilisierung des Zugangs seitens der Fernsehindustrie nicht in wünschenswerter Weise auszahlen können, da das Angebot aufgrund fehlender Erfahrung von der Allgemeinheit nicht oder nur unzureichend angenommen werden kann.

IV.3. Die drei Problemfelder der

Fernseherbe-Verwaltung

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- Bei der Problematisierung der sich anbietenden Zugangsalternativen wurde zwischen Ansprüchen und Determinanten auf normativer, funktionaler, strategischer und operativer Ebene unterschieden. Zweifellos wiegen die normativen Argumente für eine generelle Erleichterung des Zugangs für die Allgemeinheit in Anbetracht der Tragweite der Gedächtnisrelevanz von Fernsehüberlieferungen schwer. Abgesehen von der Streitoder Nachvollziehbarkeit eines moralisch abgeleiteten Zugangsrechts der Zuschauerschaft zu bereits ausgestrahlten Fernsehsendungen verspricht die funktionale Vielfalt der mit dem Zugang verbundenen Nutzungsinteressen auch keineswegs zu vernachlässigende geschäftliche Vorteile für den Anbieter: So sehr die Strategien der Veranstalter derzeit noch auf die lineare Sendeabwicklung sowie konventionelle Wertschöpfungsketten fixiert sind, kann sich eine Öffnung der Archive unter dem Vorzeichen digitaler Verwertungsmöglichkeiten als profitable Geschäftsstrategie erweisen, die für den Nutzer durchaus mit Kosten verbunden sein kann, aber nicht muss. Die gesamte Medienbranche arbeitet an innovativen Geschäftsmodellen, welche die Zukunft der klassischen Massenmedien Zeitung, Radio und Fernsehen in den digitalen Kanälen des Internets sichern sollen. Insbesondere können Fernsehveranstalter die Potenziale der Vergemeinschaftung im Netz gewinnbringend nutzen, indem sie sich auf die televisuelle Stärke, imagined communities zu erschaffen, besinnen und durch eigene Portale oder in Kooperation mit bestehenden Social Networks die Zuschauerbindung stärken und die Attraktivität ihrer Angebote in der virtuellen Konkretion von Web-Communities steigern. Wie gezeigt wurde, kann auch die Archiwerwaltung von der Partizipationsbereitschaft der Nutzer profitieren, indem sie den Zugang zu den kleinen und großen Archivschätzen aus der Fernsehgeschichte zum Beispiel mit der Animation zur Erstellung von Metadaten verbindet, womit kostenfrei eine Verbesserung der Erschließung und Auffindbarkeit ihrer Bestände erreicht wird. Kommt eine solche Zusammenarbeit auch der allgemeinen Nutzerschaft zugute, sind mit anderen Instrumenten der Internet-Nutzung auch Risiken für die Souveränität des Nutzers verbunden: Je mehr sich von Fernsehunternehmen betriebene Videoportale als Zuschauermagneten erweisen, desto mehr Daten erhält die Fernsehwirtschaft von ihren Nutzern. Im Internet ist das Nutzungsverhalten anders als bei telemetrischen Messungen oder selbst qualitativen Befragungen in der klassischen Fernsehnutzungsforschung rezipientengenau erfassbar, indem die Signaturen eines jeden Nutzers, die sogenannten IP-Adressen, gespeichert werden oder eine manuelle Registrierung verlangt wird, bei der sich der Nutzer selbst identifizieren muss. So lassen sich nicht nur generell Selektionsprioritäten individuell zuordnen, aufzeichnen und auswerten, sondern im Falle von Sendungen aus der Fernsehgeschichte auch Erinnerungsmodalitäten verfolgen. Die automatische Anlegung von nutzerspezifischen Erinnerungsprofilen wird damit zur Leichtigkeit und kann unter Umständen - beispielsweise durch die Cross-Analyse von schriftlichen Beiträgen des Rezipienten in Kommentaren oder Annotationen zur jeweiligen Sendung - auch Rückschlüsse über die frühere Nutzung des Fernsehprogramms zulassen.

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IV. Status Quo und Perspektiven

der

Fernseherbe-Verwaltung

- Noch jedoch be- und verhindert die Archivpolitik der Fernsehunternehmen die Funktionalisierung von Fernsehüberlieferungen eher, als sie im umsetzbaren Maße zu fördern. Die Nutzerschaft hat sich längst Schleichwege gesucht und Alternativlösungen konstruiert, um sich selbst innerhalb der vielen unterschiedlichen Netzgemeinschaften mit Informationen über die Fernsehgeschichte und mit audiovisuellen Zeugnissen aus derselben zu versorgen. Die in ihrer Grundtendenz anarchistisch handelnde Archivbewegung im Netz hat zu einer Vervielfachung des Angebots von televisuellen Überlieferungen geführt, wenn sie auch weit hinter der tatsächlichen Menge und Vielfalt der Archivbestände in den Archiven der Fernsehindustrie zurückbleibt. Überdies sind die nutzerseitigen Veröffentlichungen von Programmmitschnitten oder Videokopien aufgrund von Gegenmaßnahmen der Rechteinhaber zur Unstetigkeit verurteilt. Das Prinzip des Miteinander-Teilens, welches die junge Archivkultur im Netz auszeichnet, ist keine neue Qualität, sondern ein fester Bestandteil des traditionellen Archivwesens, dessen Funktion es stets war, nicht nur zu bewahren, sondern auch Zugang zu ermöglichen. Die Umständlichkeit des Zugangs, welche sich aus den Imperativen der unternehmerischen Fernseherbe-Verwaltung ergab, hat sicherlich ihren Anteil an den apostrophierten kriminellen Aberrationen, welche dem Reiz des unkomplizierten Angebots und Abrufs urheberrechtlich geschützter Fernsehprogramminhalte entwachsen. Dadurch wird einer Kriminalisierung der urmenschlichen Suche nach Kristallisationspunkten autobiographischer Erinnerungen Vorschub geleistet. Innovative Vertriebsstrategien, die eine hinreichende Akzeptanz bei der Nutzerschaft erreichen, könnten hier Abhilfe schaffen. Im Internet bietet sich die seltene Chance, mit bestehenden Vorurteilen über das Archivwesen aufzuräumen, wie sie allgemein vom australischen Bewegtbildarchivar Ray Edmondson in Worte gefasst wurden: „With its popular connotations of dust, cobwebs and decay, of material forgotten, locked away and remote from ordinary access, the word is often a public relations liability. The perception of material .discovered in or .dredged up from' the archives carries no suggestion of the precision, client orientation and dynamism of a well run archive" (Edmondson 1998: 7). Mit den operativen Erleichterungen, welche mit der digitalen Medienrevolution verbunden sind, können Senderarchive mit der Unterstützung ihrer Unternehmensleitungen einen Imagewandel vollziehen und von der Offenheit und dem Interesse der aktivistischen Rezipienten lernen. - Die Graswurzelbewegung der tauschfreudigen Fernsehsammler im Internet hat zu einer Schwerpunktverlagerung innerhalb des Ebenenmodells des Zugangsproblems geführt: Während bisher strategische und operative Imperative im Vordergrund standen und durch die Verwaltungshoheit der Fernsehwirtschaft den Zugriff auf Fernsehüberlieferungen regulierten, sind es im Internet zunehmend normative und funktionale Aspekte, welche die Oberhand gewinnen. Entscheidend ist weniger worauf (z.B. populäre Sendungen) und wie (z.B. profitable Verwertungsschiene) der Zugang auf das Fernseherbe erfolgt, sondern von wem (= von allen) und wofür (= Funktionalisierungsvielfalt

IV.3. Die drei Problemfelder der Fernseherbe-Verwaltung

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nach Interesse der Nutzer). Ganz ohne die Verwertungsberechtigten geht es indes, wie gezeigt wurde, nicht. Jason Kilar, Geschäftsführer von „Hulu", machte darauf im Firmenblog des Senderportals aufmerksam: „While we stubbornly believe in this brave new world of media convergence — bumps and all — we are also steadfast in our belief that the best way to achieve our ambitious, never-ending mission of making media easier for users is to work hand in hand with content owners. Without their content, none of what Hulu does would be possible" (Kilar 2009). Das Modell „Hulu" (im Gegensatz zum traditionell stark nutzerorientierten Modell „YouTube") startete mit seinem eng an den aktuellen Programmplänen ausgerichteten Angebot zwar keineswegs als ernst zu nehmende Zugangsalternative zum archivisch vorgehaltenen Fernseherbe, jedoch hat es durch die Annäherung an die Funktionalisierungsbedürfnisse der Nutzer wie beispielsweise mittels sogenannter Sharing Tools sowie nicht zuletzt durch seinen Nutzer- und Werbeerfolg zumindest das Potenzial bewiesen, sich bei etwaiger Ausweitung des Materialangebots zu einem möglichen Zukunftsszenario für die Lösung des Zugangsproblems zu entwickeln. Erst wenn Verwertungsberechtigte mit dem Reichtum ihrer Archivbestände, öffentliche Gedächtnisorganisationen mit ihren Orientierungs-, Kontextualisierungs- und Bildungsleistungen sowie die breite Nutzerschaft wenn nicht gemeinsam, dann doch überlappend und komplementär zu einem Modell des Zusammenwirkens gelangen, das nicht von ökonomischen Scharmützeln geprägt ist wie im Fall der Diskussion in Deutschland um die Erweiterung des Programmauftrags der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ins Internet, sondern von einem ausgewogenen Geben und Nehmen, erst dann kann das globale Netzwerk seine tatsächlichen Qualitäten als Datenautobahn in die Fernsehvergangenheit unter Beweis stellen. Bisher ist es bestenfalls ein (stark unvollständiges) digitales Vorschauarchiv der Fernsehgeschichte, ein Schlüsselloch, durch das nur ein winziger Lichtkegel in die Tiefen des televisuellen Fundus fällt. Die Sonderrolle Deutschlands im internationalen Vergleich kann hier sogar Modellcharakter haben: Mittels des Drei-Stufen-Tests für Programminhalte von ARD und ZDF, deren dauerhafte Veröffentlichung im Internet geplant ist, kann reflektierter über die online verfügbaren Archivalien entschieden werden, als es sonst möglicherweise der Fall wäre. Um diesen Vorteil zu nutzen, sind die Einbeziehung archivischer, kuratorischer und wissenschaftlicher Bewertungskriterien in die Auswahlentscheidungen einzubeziehen sowie eine breite Beteiligung der Zuschauerschaft erforderlich, um die Nutzerrelevanz zu ermitteln. Bei allen aussichtsreichen Perspektiven und sich bereits abzeichnenden Trends bleibt die Rechtsproblematik aber letztlich die wohl größte Herausforderung aller Beteiligten. Umso wichtiger wird es sein, dass - auch mit Beteiligung der Medien- und Kulturpolitik - ein Prozess des Umdenkens in den Reihen von Urhebern und Verwertungsberechtigen einsetzt, um angemessen auf die veränderten Nutzungskontexte reagieren zu können. - Zu den aktivsten externen Nutzern der Fernseherbe-Verwaltung gehört die Wissenschaft. Nicht bloß für die Medien- und Kommunikationswissenschaft genießt der Zugang zu Fernsehüberlieferungen einen essentiellen Stellenwert. Auch Vertreter zahlrei-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

eher anderer akademischer Fachrichtungen wenden sich aufgrund der Breite, Vielfalt und schieren Masse der in Fernsehsendungen dokumentierten Inhalte im Rahmen ihrer Forschungsanliegen der Fernsehvergangenheit zu. Nie standen Wissenschaftlern mehr televisuelle Quellen zur Verfügung als heute: Neben dem zwar schwierigen, aber dennoch privilegierten Zugang zu den Archiven der Fernsehindustrie profitieren auch sie von der wachsenden Zahl an Veröffentlichungen von altem Programmmaterial auf dem Heimvideomarkt. Mit der digitalen Revolution des Zugangs im Internet vollzieht sich auch innerhalb der Wissenschaftsgemeinde bei der Annäherung an ihren Untersuchungsgegenstand eine Entwicklung, die mit einschneidenden Veränderungen für das wissenschaftliche Selbstverständnis verbunden sein könnte. Anders als die öffentlichen Gedächtnisorganisationen hat die Wissenschaft im Zusammenhang mit der Proliferation verfügbarer Fernsehüberlieferungen weniger mit Legimitations- als vielmehr mit Rechtfertigungsschwierigkeiten zu kämpfen. Trotzdem sind auch ihre Erklärungs- und Einordnungsleistungen in der unüberschaubaren, stark fragmentarischen und dekontextualisierten Flut an Audiovisionen im Netz mehr gefragt als jemals zuvor. Die sich abzeichnende Pluralisierung der Zugangsmittel und -kanäle führt im Idealfall zu einer Verbreiterung und Vertiefung der Auswahl an fernsehhistorischen Dokumenten, die sich nicht allein der wissenschaftlichen Nutzerklientel bietet, sondern sich durch die widerstreitenden und doch komplementär geltenden Prinzipien der Vermarktung und des Tausches primär an die uneingeschränkte Allgemeinheit richtet. Hinzu kommen die Verdienste der kollaborativen Wissensgenerierung im Netz, welche trotz einiger Vorbehalte auf immer effektivere Weise das Phänomen der Schwarmintelligenz nutzt. Ebenso wenig wie das einstmalige Zugangsprivileg zum Fernseherbe kann für den Wissenschaftler also auch die informationelle Erschließung der Fernsehgeschichte nicht mehr als Unterscheidungsmerkmal herhalten. So lösen sich klassische Rollenverteilungen auf: Zwar verfügt die Wissenschaft aufgrund rechtlicher Bestimmungen auch im Internet über einige exklusive Ressorts wie unter anderem im Falle der geplanten Oral History-Datenbank des ZDF (vgl. Kapitel III.9.2.4.) oder bei der Darstellungsqualität der Videoinhalte auf dem EU-Portal „Video Active". Doch insgesamt stehen die Zeichen auf Wandel und Liberalisierung des Zugangs: Immer mehr Dokumente aus der Fernsehgeschichte finden ihren Weg ins Netz, ob mit geschäftlichen Erwägungen der Sender, ob unter dem kulturellen Leitgedanken gemeinnütziger Gedächtnisorganisationen oder mit den subversiven Untertönen der Nutzer. Mit einer Ausweitung der digitalen Verfügbarkeit könnte nicht nur die Deutungshoheit der Wissenschaft durch die Marginalisierung ihrer Stimme im demokratisierten fernsehhistorischen Diskurs tendenziell entwertet werden. Auch werden die analytischen und interpretativen Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zunehmend am konkreten Quellenmaterial für die Allgemeinheit überprüfbar sein: Die Entwicklung einer ,Watchdog-Kultur' in Bezug auf wissenschaftliche Arbeiten ist angesichts der populärkulturelle Attraktivität des medienhistorischen Untersuchungsgegenstands nicht unwahrscheinlich. Wissenschaftliche Reflexionen werden nicht mehr nur vornehmlich von einem Fachpublikum

IV.3. Die drei Problemfelder der

Fernseherbe-Verwaltung

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falsifiziert und in ihrer Erkenntnisqualität bewertet werden, sondern auch einem erhöhten Rechtfertigungsdruck vonseiten der breiten Masse an partizipations- und diskussionsfreudigen Nutzern ausgesetzt sein. Durch die Multiplikation der individuellen Reflexionsebenen im öffentlichen Diskurs ist die Wissenschaft aber genauso als Orientierungs- und Leitagentur gefordert und muss in den Vergemeinschaftungsstrukturen des Netzes agieren, um die gestiegenen Anforderungen an Interpretations-, Darstellungs- und Vermittlungsleistungen im sozialen, diskursiven Kontext zu befriedigen und ihren wesentlichen Anteil zur Aufklärung und Erkenntnisgewinnen beizutragen. Insbesondere der Fernsehwissenschaft bietet sich erstmalig die Chance, sich ihrer Juvenilität im Kontrast zu den traditionsreicheren Welterklärungsdisziplinen zu entledigen, selbstbewusst als Vorreiter für andere wissenschaftlichen Disziplinen bei der Engagierung und Kollaboration mit der allgemeine Öffentlichkeit zu fungieren und mittels der in die Jahre kommenden Televisionen nah am Werk und seiner Macher, aber auch nah am Rezipienten eine alternative Sicht auf historische und kontemporäre Entwicklungen aller Lebensbereiche zu geben. Bei allen signifikanten Öffnungstendenzen, die sich in den Verwaltungsstrukturen rund um das Fernseherbe beobachten lassen, sind die elementaren Zugangsprobleme noch nicht gelöst. Die produktionszentrierte Taxonomie beim Umgang mit und der Pflege von Fernsehüberlieferungen stellt weiterhin das größte Hindernis beim Streben nach etwa dem Literaturerbe nahe kommenden Zugriffsmöglichkeiten dar. So lebendig die Funktionalisierungsansätze auf der bescheidenen Grundlage des verfügbaren, sich ständig durch Marktkonjunkturen und Nutzerengagement wandelnden Grundstocks an historischem Fernsehmaterial auch sein mögen: Eine der Gedächtnisrelevanz des Fernsehens angemessene Auseinandersetzung mit seinen Hinterlassenschaften vor allem programmlicher Natur bleibt nach wie vor unerfüllt. Politische Zurückhaltung bei der Adressierung der Zugangsprobleme sowie die in vielen Fällen unklare Rechtslage leisten ihren Beitrag zu einer Situation, die nicht ausweglos erscheint, allerdings ein fortgesetztes und ausgeprägteres Engagement öffentlicher Gedächtnisinstitutionen als Fürsprecher, Anwalt und Realisateur des Zugangs erfordert, um das Bewusstsein für die historische und mnestische Relevanz des Fernsehens weiter wachsen zu lassen und sich dabei der Popularität des Mediums beim Rezipienten zu bedienen. Wie bereits am Beispiel des Projekts „Deutsche Mediathek" deutlich wurde, lastet die Verantwortung insbesondere auf musealen Einrichtungen, denen die Aufgabe zuteil wird, mit einer aussagekräftigen Sammlung, integrativen Bildungsangeboten und attraktiven Unterhaltungsprogrammen einer breiten, nicht zwangsläufig interessierten Besucherschaft den Zugang zur Fernsehgeschichte und damit auch zu ihrer eigenen Autobiographie zu bahnen, sich gleichsam aber aktuell gegen die gravierenden Verschiebungen und Wandlungen televisueller Erinnerungskulturen behaupten müssen. Im Folgenden wird daher näher untersucht, wie sich Museen dem Fernsehen nähern und welchen ganz eigenen Schwierigkeiten sie dabei ausgesetzt sind.

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4.

IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Museumsfernsehen, Fernsehmuseen: Nebulositäten und Pragmatismen einer ungewöhnlichen Medien-Allianz

Das Fernseherbe ist ein geteiltes Erbe: Versprengt liegen die Zeugnisse der Fernsehgeschichte in Unternehmens- und Universitätsarchiven, oder sie befinden sich in privater Hand - in den Schrankwänden, auf den Dachböden oder in den Kellern ehemaliger Fern sehakteure, engagierter Fans, leidenschaftlicher Sammler. Unter den Repositorien des televisuellen Überlieferungsfundus nehmen öffentliche Museen eine signifikante Stellung ein, fungieren sie doch als besondere Schnittstelle zwischen Kulturerbeerschließung und seiner Erhaltung auf der einen und dem Wissens-, Reflexions- und Entdeckungsbedarf der allgemeinen Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Museen belassen es nicht bei der Bestandspflege und der zielgerichteten Versorgung klar abgegrenzter Nutzergruppen, sondern versuchen dem Anspruch gerecht zu werden, mit ihren Angeboten die umfassende Allgemeinheit anzusprechen: Als aktive Vermittlungsagentur arbeiten sie auf, kontextualisieren, arrangieren und inszenieren, wo andere Instanzen der Kulturerbe-Verwaltung sich auf die Sicherung oder die eingeschränkte Zugangskanalisierung konzentrieren und damit eine weitgehend passive Rolle bei der Funktionalisierung von historischen Überlieferungen wahrnehmen. Es sind Fernsehmuseen, in denen voraussetzungsfreier wie ungehinderter Zugang zur Programm- und/oder Technikgeschichte des Mediums gewährt wird und ein von Kuratoren aufbereitetes Angebot erwartet werden kann. Ihrer dahingehenden kulturellen Verantwortung ist es geschuldet, dass Museen sich nicht allein auf die bloße Bereitstellung von Überlieferungen verlassen dürfen. Vielmehr gilt es, über den Sammlungsauftrag hinaus Strategien zu entwickeln, um mittels einer möglichst breiten Palette an Zugangsmodellen, -Instrumenten und -Instruktionen vielschichtige Publika zu adressieren, sie für das Museumsthema zu engagieren und spezifische Bildungsangebote zu entwickeln. Die Vermittlungsleistungen dienen dem Museum als signifikantes Unterscheidungsmerkmal zu den übrigen Gedächtnisorganisationen der Fernseherbe-Verwaltung: Andernfalls ließen sie ihre Besucher allein mit ihren persönlichen Eindrücken und Lesarten der historischen Dokumente - ebenso wie es das Fernsehen selbst zu großen Teilen unreflektiert tagtäglich praktiziert. Seiner Orientierungsleistung entbehrend, bar jeder Leitfunktion in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft der Medienwirklichkeit würde das Museum nicht nur seine kulturgegebene Autorität einbüßen, sondern auch seine Legitimation in Frage stellen. Sofern die „Bildkaskaden der audiovisuellen Medien" (Schmidt 1996: 68) aus sich heraus nur noch mehr und in sich heterogenere Bildflüsse schaffen, ihr Prothesencharakter durch eine fortschreitende audiovisuelle Überfrachtung des Betrachters ergänzt wird und damit ihre Vergessensintensität also potenziell stärker einzustufen ist, als dass sie in ihrem eigenen Sendungskontext Besinnungs- und Erinnerungsleistungen zulassen würden, kommt einer Reflexionsanstalt wie dem Museum umso wichtigere Bedeutung

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

321

zu, um mnestische Zugänge zum Schaffens- und Leistungsspektrum des Fernsehens zu bahnen. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie sich die traditionell der Hochkultur zugewandte Bastion des Museums dem Fernsehen als egalitären und in seinem populären Massenappeal profanen Ausstellungsgegenstand gegenüber öffnen kann, ohne seine eigenen gedächtnisorganisatorisch-kulturellen Prinzipien aufzuweichen, sondern im Gegenteil dem Medium Herr zu werden. In Kapitel IV.4.1. wird zunächst untersucht, inwiefern es sich bei Museum und Fernsehen um kompatible Medienformen handelt, die in ihrem Verhältnis zueinander möglicherweise näher beieinanderliegen, als es die Kulturwissenschaft in ihrer Dichotomisierung des Gedächtnishüters Museums und des gegenwartszentrierten Fernsehens glauben lässt. Im Anschluss wird in Kapitel IV.4.2. übergreifend eruiert, welche Ansatzpunkte sich Fernsehmuseen bieten, inhaltliche und organisatorische Strategien für die konkrete Bildungs- und Erinnerungsarbeit aufzuarbeiten. Der Abschnitt schließt daraufhin in Kapitel IV.4.3. mit der Frage, welche Expertisen die untersuchten Museen jeweils entwickelt haben und welche Konsequenzen ihre Schwerpunktsetzungen auf die Museumsarbeit insgesamt haben. Als Fernsehmuseen werden im Folgenden solche musealen Einrichtungen bezeichnet, die sich überwiegend dem Medium Fernsehen, seinen Mechanismen, Determinanten und Inhalten widmen, wobei es durchaus möglich ist, dass auch andere Medienbereiche wie Film, Radio, Videospiele oder das Internet innerhalb des Museumskontextes eine wichtige Rolle spielen.

4.1.

Antipodische oder synergetische Museen und das Fernsehen

Massenmedien:

Die Beziehung zwischen dem Museum und dem Fernsehen ist kompliziert, nicht erst aufgrund dessen, weil die nach Dauerhaftigkeit strebende Gedächtnisinstitution und das so wandelbare, flüchtige Fernsehen scheinbar in gänzlich entgegengesetzte Richtungen zielen. Schließlich erfüllen sie nicht nur kulturtheoretisch gegensätzliche Funktionen innerhalb der Gesellschaft, sondern sind darüber hinaus auch mit starken Wertungen und Erwartungen besetzt, welche nur schwerlich in Einklang miteinander zu bringen sind: Das Fernsehen als ewig bilderspeiendes Informations- und Ausdrucksmittel unter dem übermächtigen Einfluss präsentistischer Interpretations- und Inszenierungsgrade, das Museum als mächtiger Fels in der Brandung aktueller Profanität (vgl. Kirchberg 2005: 303). Das Fernsehen existiert in der Wahrnehmung seiner Zuschauer primär als Audiovision auf dem Bildschirm, das Museum wird gemeinhin mit objekthaft repräsentierter Geschichte verbunden. Jedoch sind beides Medien, Massenmedien gar, die auf Basis ihrer gesellschaftlichen, sozialen, allgemein kulturellen Funktionen ihren Publika Vermittlungsangebote machen. Im Folgenden wird untersucht, welche Grundlagen im Laufe der Museumsentwicklung gelegt wurden, die als Annäherung an die massenmedialen Logiken und die Inhalte des Fernsehens gedeutet werden können. Was ist unter Museumsfernsehen zu verstehen? Welche Anwendung finden Fernsehüberlieferungen in Mu-

322

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

seen generell? Und welche Signifikanz haben Fernsehmuseen, indem sie sich dezidiert mit den Spezifiken des audiovisuellen Leitmediums auseinandersetzen? Wie zu zeigen sein wird, ist das Potenzial solcher Museen als Orte des Diskurses, der Bildung und der gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit zwar hoch, wird jedoch latent gefährdet durch den Gegensatz zwischen der Privatheit der Fernsehrezeption und dem öffentlichen Charakter der Museumserfahrung. 4.1.1. Popularisierung

der Museumskultur

im massenmedialen

Zeitalter

Die langwierigen öffentlichen Debatten im Vorfeld der Gründung des Deutschen Historischen Museums Ende Oktober 1987 in Berlin (vgl. Stölzl 1988) nahm der Historiker und Wissenschaftsjournalist Eberhard Straub zum Anlass, in der „Stuttgarter Zeitung" einige grundsätzliche Überlegungen zur allgemeinen Entwicklung der deutschen Museumslandschaft anzustellen. Unübersehbar sei eine „Renaissance des Geschichtsbewusstseins", die Folge einer neuen Geschichts- und Erinnerungslust, doch werde mit durchaus hitzigem Gemüt und Intellekt gestritten um die Frage, ob Museen eben all das leisten könnten, was dem Bürger eben jene Erklärungs- und Orientierungshilfen biete, die er in Zeiten einer immer unüberschaubareren Gesellschaftsordnung und unsicher gewordenen nationalen Identitäten benötige, und was gleichsam der Komplexität der Geschichte gerecht werde. Leichte Zweifel meldete Straub bereits in seinem einleitenden Absatz an: „Der deutsche Kulturbetrieb, ein insgesamt sehr robuster Organismus, ist seit Jahren von dem Virus der Altbegier befallen. Dieser führt allerdings nicht, wie Nietzsche einst befürchtete, zur allmählichen Auszehrung. Er bewirkt vielmehr heftige Aufblähungen, geschwulstartige Verfestigungen in Form von Museen für alles und jeden" (Straub 1987: 32). Folgt man Straub, leidet das zeitgenössische Museum an seiner affirmativen Haltung gegenüber dem Massengeschmack und der nur noch illuminierenden und illustrativen Distanz gegenüber dem Kern seines Funktionsspektrums: der Geschichte. Diese werde - umschmeichelt - zum Werbemittel degradiert. Nun enthält Straubs analytischer Kommentar zwei wesentliche Beobachtungen, die in Nordamerika wie auch in Deutschland gleichermaßen die Museumsentwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg geprägt haben: Erstens erlebten die westlichen Industrienationen in dieser Zeit einen beispiellosen Museumsboom, und zweitens zeichnete sich zunächst nur vereinzelt, doch dann mit nachdrücklicher Vehemenz eine Tendenz zur Popularisierung der einstigen hochkulturellen Bastion auf inhaltlicher und präsentatorischer Ebene ab, die zu einer gesteigerten Akzeptanz musealer Angebote auf Seiten des Massenpublikums geführt haben. So wird geschätzt, dass 95 Prozent aller Museen weltweit erst nach 1945 gegründet worden sind (Lowenthal 1998: 3). Es liegt also schon mit Blick auf die quantitativen Aspekte der jüngeren Museumsentwicklung nahe, die Institution Museum als einen bedeutenden Faktor bei der Auseinandersetzung einer Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit einzustufen. Nach einem Rückgang der Besucherzahlen im Laufe der 1990er Jahre ver-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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zeichnen Museen in Deutschland seit einigen Jahren regelmäßig Besucherrekorde: Von etwa 91 Millionen Museumsbesuchen im Jahre 1996 stieg die Zahl im Jahr 2008 auf fast 105 Millionen (Institut für Museumsforschung 2009: 11). Auch in Kanada erfreuen sich die knapp 2.500 Museen mit über 59 Millionen Besuchen ungetrübter Beliebtheit (Canadian Museums Association 2008). Und in den USA wurde im Jahr 2000 sogar erstmals eine Gesamtbesucherzahl von über einer Milliarde gemeldet (McGuigan/Plagens 2001). Dort sind angesichts der eindrucksvollen Akzeptanz musealer Angebote Fragen nach dem Sinn und Zweck sowie den Potenzialen und Risiken des weiter anhaltenden Gründungs- und Erweiterungsbooms im Museumssektor noch ungleich virulenter als in den übrigen Ländern (vgl. George/Sherrell-Leo 2004: xi). Die Proliferation von Museen in Deutschland und Nordamerika betrifft sämtliche kulturelle Lebens- und Schaffensbereiche: Das Museum hat sich als ungemein starkes und beständiges institutionelles Gefäß für die Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit historischen und gegenwärtigen Sinn- und Seinsfragen bewährt, die bald nicht mehr allein einer kulturellen Elite vorbehalten waren. Die Zahl von Museen wuchs durch das selbstbewusste, selbstreflexive und nicht minder offensive Engagement von einer Vielzahl gesellschaftlicher Gruppierungen und individuellen Akteuren, welche ihre Belange und Interessen weder von den etablierten Kulturorganisationen noch von den immer umfangreicheren (Re-) Präsentationsformen der Massenmedien in ausreichender Form behandelt sahen. Mit der nahezu vollständigen Mediatisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens wuchsen zudem die Bereitschaft und der Wille, die vormals exklusiven Zugänge zur Erinnerungs- und Identitätsarbeit zu pluralisieren und sich hier explizit mittels Museumsgründungen für die eigene Sache zu engagieren. Dies fand in vielseitiger Weise Ausdruck in der Umsetzung zahlreicher kleiner Heimat- und Gemeindemuseen mit einem sehr engen lokalgeschichtlichen Bezug, der nur allzu häufig von den großen überregionalen oder nationalen Institutionen nicht berücksichtigt werden konnte, aber auch von Museumprojekten vormals marginalisierter Gesellschaftsgruppen, die sich von der dominierenden Kulturarbeit ausgegrenzt sahen oder nicht zuletzt in der Realisierung von Unternehmensmuseen als Teil der Öffentlichkeitsarbeit und korportativen Imagepflege (vgl. MacDonald 2006: 4-5). Nichtsdestotrotz ist das Museum längst kein exklusiver Ort mehr, an dem museologische Arbeit verrichtet wird: Unabhängige temporäre Großausstellungen präsentieren Relikte vergangener Zeiten, sogenannte Science-Center forschen, kommunizieren und unterrichten, Freizeitparks engagieren ihre Besucher auf unterhaltsam-spektakuläre Art: So wird es in der „Erlebnisgesellschaft" (Murken 2007: 135) und unter dem Eindruck einer „Guggenheimisierung"58 (Vieregg 2006: 23) immer schwieriger, Gemeinnützigkeit von Profitorientierung, Bildung von Unterhaltung und Form von Inhalt zu unterscheiden (Skramstad 2004: 131). Der Volkskundler Christoph Köck stellt angesichts der 58

Das Motto der weltweit operierenden Guggenheim-Museen lautet: „We are in the entertainment business" und gilt unter Museologen als Vorreiter einer Verwässerung der musealen Aufklärungsideale (vgl. Ammann 1998).

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

oftmals verschwimmenden Grenzen die Frage: ,,[K]ann und will der .Kunde' bei aller folkloristischen Formensouveränität unterscheiden, ob er sich in einer wissenschaftlichgeführten Unding-Umwelt bewegt oder in einem historischen Unding-Ambiente [...]?" (Köck 2003: 28). Die Abgrenzung des Museums als eigenständige Institution wird trotz der starken Ausdifferenzierung der einzelnen Häuser außerdem durch funktionale Überlappungen mit der Arbeit von Archiven und Bibliotheken durchkreuzt. Auch diese Gedächtnisorganisationen sehen unter dem Eindruck der Mediatisierung der öffentlichen Wissensverwaltung und Kommunikation ihre Aufgabe darin, nicht nur zu sammeln, zu erschließen und zu bewahren, sondern ihr Material zumindest bisweilen auch kuratorisch zu präsentieren. In diesem sich ausbreitenden Wettbewerbsfeld rechtfertigen Museen ihren Sonderstatus durch die Vielschichtigkeit musealer Konzepte, die sich in der institutionellen Form des Museums materialisieren: „As the temple of the muses, it includes all the spirituality of art and knowledge, as well as its mission as an educative medium by which it penetrates into the life of every new present. On the other hand, the museum is a treasury of selected and collected treasure, which in addition to having a great material value stimulates mans and woman's spiritual needs and enables him or her to have direct contacts with the world of the past and the secrets that this world occludes. Furthermore, the museum is a spatial framework in which all this happens, and the organism composed of the personnel that undertake museum jobs and make certain that it functions" (Maroevic 1998: 104). So sehr indes die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Ausbreitung der Kulturindustrie sah, blieb auch die Museumskultur davon nicht unbehelligt. Dem Museum erwuchs in den breiten Angebotsspektren der Massenmedien ein neuer und durchaus gefährlicher Konkurrent, weil sie mittels ihres Attraktionspotenzials insbesondere bei der Vermittlung historischer Erzählstoffe die Legitimation des Museums innerhalb der kulturellen Infrastruktur in Frage stellten: „Such media as radio, broadcast television and the videocassette recorder may have come to serve at least as effectively as exhibits to disseminate information about certain subjects that once were the exclusive province of museums" (Weil 1994: 86). Museen sehen sich also einem über die Jahre nicht geringer gewordenen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt (vgl. auch MacDonald/Aisford 1991: 308): - Die Multiplikation von Zugangsoptionen zur Vergangenheit mittels massenhaft rezipierter Medieninhalte wie vorrangig audiovisuellen Produktionen durch Fernsehen, Kino und Internet entwertet die vormals führende Schleusen- und Vermittlungsfunktion des Museums für historische Belange. - Zusätzlich zur massenmedial operierenden Kulturindustrie erfolgte eine AufFächerung von Freizeitangeboten in Form von Themen- und Vergnügungsparks, die größtenteils einen unternehmerischen Hintergrund haben und ihr vorrangiges Ziel in der Unterhaltung ihrer Besucher sehen. Bekannte Beispiele hierfür sind die Walt Disney Parks in Florida und Kalifornien, Paris, Hongkong und Tokio oder das Coca-Cola-Museum in Atlanta, Georgia, wo Botschaften sowie eine Sicht auf die Geschichte vermittelt wer-

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den, die zuallererst dem Unternehmensziel dienen und die Besucher auf eine positive Wahrnehmung des Unternehmens fixieren sollen. - Durch die finanzielle Alimentierung des Großteils öffentlicher Museumseinrichtungen aus Fördermitteln staatlicher oder privatwirtschaftlicher Quellen sind Museen gezwungen, ihre institutionelle Identität zu verteidigen, indem Alleinstellungsmerkmale herausgebildet und gestärkt werden, andererseits auf die sich verändernden Erwartungshaltungen und Nutzungspräferenzen zu reagieren, um weiterhin Unterstützung zu erhalten und nicht obsolet zu werden. Den Schwierigkeiten, ihren Platz im Konzert von Unterhaltungs-, Bildungs- und Kulturprogrammen zu finden, sind Museen auf denkbar unterschiedliche Weise begegnet. Wird bisweilen noch der enge Fokus des musealen Selbstverständnisses auf die Sammlung von Pflege historisch wertvoller Objekte kritisiert, was die Stigmatisierung des klassischen Museums als „forbidding institutions, musty storehouses of the relics of a dead past, amenable only to the intellectually or aesthetically elite" (ebd.: 305) begründete,59 konnte dieses Problem nach Auffassung von Museumsberater Barry Lord in vielen Museumssektoren beseitigt werden: „That's quite a dated question. I work in the field now for some 40 years and certainly were people 40 years ago that had a notion that museums were strictly dated places that had very little changing in them and that were mostly for the permanent installation of artifacts. But of course we had 40 years of change. Nowadays there are very little people that think that way, even in third world countries. That's a vanishing quantity that's not a significant issue" (Barry Lord, LCR). Wozu Museen funktional dienen, ist über die grundständigen Aufgaben des Sammeins, Bewahrens, Forschens und Präsentierens nicht pauschal zu bestimmen, es sei denn, es bleibt bei der abstrakten Beschreibung des Dienstes an der Gesellschaft und ihrer Entwicklung (vgl. Walsh 1992: 178). Museen haben in der Ausgestaltung ihrer Angebote erheblichen Spielraum und können sich thematisch und operationell den unterschiedlichsten Themen und Ziele widmen; stets ist ihnen jedoch ihre Vermittlungsfunktion und ihr Sendungsbewusstsein gemein. Heute streben Museen in ihren Publikumsangeboten mindestens ebenso nach Unterhaltung wie nach geistiger Erbauung, sorgen gleichsam für das leibliche Wohl ihrer Besucher wie für intellektuelle Forderung und Entspannung. Als Veranstaltungszentrum verbinden sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit der beruhigenden Sicherheit eines festen Ortes. Damit wird das Museum verlässlich und kann auf einen gesellschaftlichen Konsens bauen, dass es in der Rückbesinnung auf das,

59

Dass Museen langweilig sind oder sogar sein müssen, hat sich als hartnäckiges Vorurteil erwiesen (Schuck-Wersig/Wersig 1986; Münch 2008: 234-235; Paris 2006). Kritisch muss dabei vor allem bewertet werden, dass Langeweile im Museum offenbar bei einer Vielzahl von Besuchern in einer Weise konnotiert ist, welche das Vermittlungspotenzial des Museums mit Blick auf eine breite Adressatenschaft stark einschränkt:,„Boring' implies academic respectability, because it restricts access to the meaning of the works to those who are already knowledgeable" (O'Neill 2002: 34).

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

was war, Orientierungshilfen in der Bewältigung aktueller Lebens- und Identitätsfragen bietet (vgl. Schärer 2003: 97). Dieser Konsens, das Museum als zentrale Gedächtnisinstitution zu verstehen, ist indes nicht unangreifbar und muss durch regelmäßige Rückversicherung durch Museen selbst aufrechterhalten werden. Damit stellt sich dem Museum die Herausforderung, seine vertraute Permanenz zu wahren und sich trotzdem in einen unaufhörlichen Prozess der Re-Organisation zu begeben, um den Anforderungen eines Gedächtnisorts im gesellschaftlichen wie kulturellen Wandel zu genügen. Der Anthropologe und erfahrene Museumspraktiker Peter Welsh hat angesichts der Mannigfaltigkeit musealer Aktivitäten sowie extrinsischer und intrinsischer Spannungsfelder bei der institutionalisierten Erinnerungsarbeit auf die Komplexität des Museumswandels hingewiesen: Welsh erkennt auf allen drei zentralen Domänen des Museums - der Materialität, des Publikumsdialogs und der Darstellung - grundlegende Rekonfigurationen, welche die Funktionen des Museums als gesellschaftliche Vermittlungs- und Erinnerungsagentur nicht einfach nur verändern, sondern erheblich aufwerten (vgl. Welsh 2005). So sieht Welsh das an der Materialität

ausgerichtete Selbstverständnis von

Museen als Besitzer und Repositorien von historischen Überlieferungen zugunsten der Wahrnehmung einer Verwalterrolle im Dienste der Öffentlichkeit schwinden, bei der die Verantwortung des Museums als Mittler zwischen der Bevölkerung und ihrem Kulturerbe deutlicher zur Geltung kommt und auf die Utilisierung der Überlieferungen zur Knüpfung von Beziehungen mit den Besuchern zielt. Günstigenfalls könnte sich daraus nach Welsh ein konzeptioneller Ansatz entwickeln, der die Materialität des Museums und seiner Objekte nicht als gegebenen Selbstzweck versteht, sondern sie dazu nutzt, den gesellschaftlichen Diskurs über und mit dem Museum, das heißt über und mit der Vergangenheit, aber auch über, in und mit der Gegenwart zu fördern, den Dialog von der konkreten Überlieferung zu lösen und damit neue Perspektiven, Einsichten und Aussichten über das Museum und sein Anliegen zu ermöglichen. Außerdem beobachtet Welsh hinsichtlich des Publikumsdialogs,

dass sich Museen

in immer umfangreicherem Maße ihrer autoritären Unterrichtshaltung gegenüber der Allgemeinheit entledigen und sich zu Lernzentren entwickeln, die einer konstruktivistischen Bildungsidee folgen und sich am tatsächlichen Lernerfolg des einzelnen Besuchers messen. Im Idealfall werde das Museum dadurch reflexiv in dem Sinne, dass das Museumspersonal, allen voran die Kuratoren, als Konstrukteure ihrer musealen Inszenierung erkenntlich seien, und die Transparenz der kuratorischen Sinnkonstruktionen den Besucher dazu ermutigt, sich seiner eigenen Perspektive und Lesarten bewusst zu werden. Auf der Ausstellungsebene

haben sich viele Museen nach Welshs Einschätzung noch

immer nicht von einer zelebratorischen Ausrichtung verabschiedet, die den Schein des Schönen, Wertvollen und Beneidenswerten aufrechtzuerhalten suche und zum Staunen anrege, dadurch aber den kritischen Diskurs meide. Dennoch sei auch in dieser Domäne eine stärkere Öffnung der interpretativen Herangehensweisen an die museale (Re-) Präsentation zu bemerken: „Just as museums have begun to relax their control over objects and pedagogy, there are many indications that collaboration in developing messages

IVA. Museumsfernsehen,

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is becoming accepted - and expected - practice" (ebd.: 115). Ein solcher kollaborativer Ansatz, der ausdrücklich auch die Thematisierung autobiographischer Elemente mit einbezieht, die sich deutlich vom Anspruch objektivierter Geschichtsdarstellung distanzieren, könnte sich, so Welsh, zu einer zwar ethisch herausfordernden, aber letztlich unvermeidlichen und positiv konnotierten Komplizenschaft zwischen Museum und Besucher ausformen: Die Engagierung des Besuchers als aktiver Teil der Ausstellung, die erst ihren Sinn erhält, wenn das Individuum sie nutzt, um in ihr eigene Entscheidungen zu treffen, bringt diesem das jeweilige Thema oder die sonst allenfalls abstrakte Problemstellung näher, als es je mit einer Überlieferung allein erreicht werden könnte. Die wegweisenden Adjustierungen innerhalb der Museumsorganisation laufen demnach also in der Person des Besuchers zusammen: Das Museum übernimmt immer mehr Verantwortung inmitten der Gesellschaft und verspricht gemeinschaftlichen Zusammenhalt in einem auseinanderstrebenden Sozialgefüge. Als kulturelles Zentrum ist das Museum nicht Bewahrer und Aussteller allein, sondern wird zum sozialen Treffpunkt, der kollektiven Wissensgewinn verspricht (vgl. u.a. Watson 2007a; Watson 2007b). Susan Crane erkennt darin einen bewussten Akt der Sinnsuche, der nur existieren könne, weil sich das Museum als letzte Bastion der gemeinschaftlichen Identitätspflege erwiesen hat: „Museums are not supposed to lie to us; this act seems a breach of faith. Assuming that our own memories are fallible, we rely on museums as well as on historians to get the past .right' for us" (Crane 1997: 51). Dieser Sinn, der von Mitgliedern einer Gesellschaft im Rahmen ihrer eigenen Selbstfindung gesucht und wieder häufiger in Museen gefunden wird, ist dagegen alles andere als verlässlich, sondern entsteht erst auf der fragilen Basis diskursiver Auseinandersetzungen. Dazu sahen zunächst vornehmlich nordamerikanische Einrichtungen die Notwendigkeit, schon früh ihre Dienste auf nicht-akademische Weise anzubieten (vgl. Gendreau 2009: 45). Zwar verfügt das Museum durch die von Generation zu Generation verfestigte Tradierung seiner Leitfunktion in der öffentlichen Geschichtsvermittlung über einen enormen Vertrauensvorschuss und hat dadurch eine beachtliche Autorität entwickelt. Wie sich verstärkt seit den 1970er Jahren zunächst in Nordamerika, später unter anderem aber auch in Europa abgezeichnet hat, sehen sich Museen allerdings dazu genötigt, sich nicht allein auf ihre traditionelle Stellung innerhalb der kulturellen Infrastruktur zu verlassen. Durch den Wegfall von Bestandsgarantien und einem gewachsenen Konkurrenzdruck innerhalb der gewachsenen Museumsgemeinde bei der Anwerbung von Drittmitteln reicht die Berufung auf den hehren Kulturanspruch oft nicht mehr aus, wenn die Besucherresonanz fehlt. Bei dem Versuch, ihren Status mittels der Adressierung möglichst vieler neuer Publikumsschichten und einer dadurch quantitativ am Besuchererfolg messbaren Steigerung ihrer Relevanz zu untermauern, haben sich viele Museen auf ihre visualisierenden Qualitäten besonnen und sich inhaltlich und ästhetisch zunehmend zeitgenössischer Lebensstile angenähert. Die klassische Veranlagung des Museums, Vergangenes auf Objektebene zu präsentieren, kontraveniert dabei keineswegs mit dem Visual Turn der durch die audiovisuellen Massenmedien geprägten zeitgenössischen Wahrnehmung,

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IV. Status Quo und Perspektiven

der

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sondern komplementiert ihn vielmehr mit einer historischen Dimension: der Visualisierung von Vergangenheit. „The museum effect [...] is a way of seeing" (Alpers 1991), doch das Sehen allein macht nicht die Signifikanz der Museumserfahrung aus. Fast ausschließlich prägen Ausstellungen das öffentliche Bild von Museen und neigen dazu, sämtliche anderen Aspekte musealer Arbeit in den Hintergrund zu rücken (vgl. Lord/Lord 2001: 12; vgl. auch Hooper-Greenhill 2000: 4: 124-150). Nach Ansicht von Barry Lord hat die Theatralität bzw. die Augenscheinlichkeit der Ausstellungskultur die drei ursprünglichen Säulen der Museumsarbeit, also das Sammeln, Bewahren und Forschen, ins Unterbewusste verdrängt (ebd.: 13). Indem Museen ihr visuelles Attraktionspotenzial exploitieren, begeben sie sich in den direkten Wettbewerb mit den Freizeit- und Medienangeboten der Kulturindustrie. Um das Interesse eines Massenpublikums zu wecken, bedienen sich Museen bewährter Strategien der Aufmerksamkeitserregung und -Zentrierung, die auch von der Kulturindustrie und speziell den audiovisuellen Massenmedien eingesetzt werden, um quantitative Erfolge vorweisen zu können und sich zu re-finanzieren, und werden diesen Angeboten immer ähnlicher: „The museums role as site of an elitist conservation, a bastion of tradition and high culture gave way to the museum as mass medium, as a site of spectacular mise-en-scene and operatic exuberance" (Huyssen 1995: 14). Einschlägigen Ausdruck findet eine solche Spektakularisierung von Geschichte und Erinnerung im Museum, die sich kongruent auch in Fernsehen, Kino und der Literatur (einschließlich Comics) feststellen lässt (vgl. Kapitel III.9.2.), in sogenannten Blockbuster-Ausstellungen oder auch „High Visibility'-Veranstaltungen, welche in Kombination mit einer ausgeprägten Öffentlichkeitsarbeit darauf ausgelegt sind, ein hohes Medien- und in der Folge ein umso höheres Publikumsinteresse zu generieren (vgl. Kirchberg 2003: 146). Derlei Ausstellungsprojekte ranken sich in der Regel um sonst nahezu unzugängliche, weil seltene und wertvolle Exponate, welche die Faszination für ein eng umgrenztes Kapitel wie zum Beispiel aus der Menschheits-, Wissenschafts- oder Kunstgeschichte wecken sollen. Die Museumskritik vergleicht derlei Großausstellungen bisweilen mit den Zirkusund Museumsshows des 19. Jahrhunderts, die unter der Federführung des Geschäftsmannes P.T. Barnum berühmt wie berüchtigt waren: Dieser setzte Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem „American Museum" in New York auf das Spektakel, schrak selbst vor Fälschungen nicht zurück, um die Aufmerksamkeit breiter Bevölkerungskreise zu wecken (vgl. Harney 1994: 135). Neu ist der zeitgenössische Hang zum Spektakulären und zur sensationalistischen Aufbereitung historischer Topoi also nicht,60 jedoch in sei-

60

Im Jahre 2007 geriet das Hamburger Völkerkundemuseum in die Kritik, als sich herausstellte, dass die zu jener Zeit ausgestellten chinesischen Terrakotta-Krieger nicht echt waren (vgl. Siemons 2007). Das Museum gab sich als Opfer, doch bezeichnenderweise hielt sich die Empörung der Besucher in Grenzen: Auch in dem Wissen, dass es sich nicht um die ausgewiesenen historischen Originale aus Fernasien handelte, bekundeten viele ihre Freude und ein nachhaltiges Interesse an den Skulpturen, die zumindest „aus Originalmaterial" hergestellt worden waren (Breiholz 2007) - was wiederum die Wirksamkeit eines stimmigen Repräsentationskonzepts unterstreicht.

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nen Dimensionen beispiellos: Seit die erste Blockbuster-Ausstellung „The Treasures of Tutankhamun" im Jahre 1972 die Räumlichkeiten des British Museum füllte und in den Folgejahren durch sieben US-Museen wanderte, um dort über acht Millionen Besucher anzuziehen (Alexander 2005), denken Museumsplaner gern in Superlativen: „exhibitions characterised by their spectacular nature, with aggressive publicity campaigns and massive public attendance" (Alberch 1994:194). Die Ausstellung über den altägyptischen Pharao Tutanchamun bewies erstmals, welche Massenattraktivität museale Attraktionen entfalten können. Das neue Ausstellungskonzept fußt einerseits auf der konzentrierten Zugänglichkeit von einigen ikonischen Überlieferungen an einem spezifischen Ort („concentration effect"), einhergehend mit einer Spektakularisierung des Ausstellungserlebnisses, sowie andererseits auf dem Prinzip der Wanderausstellung, um eine möglichst hohe Reichweite zu erzielen („distribution effect") (vgl. Skinner 2006: 113). Bei der Neuauflage der „King Tut"-Ausstellung im Jahre 2005 sprach der federführende Veranstalter - die weltweit tätige Sport- und Entertainmentagentur AEG - davon, sie sei „very similar to a Rolling Stones tour" (zitiert nach Reynolds 2005). Seither erlebte die internationale Museumslandschaft in jährlicher, wenn nicht gar höherer Frequenz eine BlockbusterAusstellung nach der anderen. Zahlreiche davon setzten jeweils neue Maßstäbe bei der Publikumsorientierung und erzielten Besucherrekorde. Bald zeigte sich jedoch, dass der hohe Kosten- und Organisationsaufwand viele Museen allein schon aus logistischer Sicht überfordert und die institutionelle Identität korrodieren lässt: „Blockbuster exhibitions have certainly demonstrated their ability to bring in crowds and revenue, but in ways much like an addictive substance. The impact is fast and undeniable, but quickly dissolves in the quest for more, and there is never enough. [... ] Many people were only visiting when there was a blockbuster, none of which had anything to do with the museums unique strengths and abilities" (Janes/Conaty 2005: 9). So ist zwar eine übergreifende Tendenz zum Spektakulären „und damit zum Eingang in die Logik dessen, was Horkheimer und Adorno den ,Kulturbetrieb' genannt haben", kaum zu bestreiten, obgleich die ökonomischen und institutionellen Zwänge vielen Einrichtungen klare Grenzen setzen (vgl. Enwezor 2002: 20). Blockbuster-Ausstellungen erwiesen sich für einen Großteil der Museen als schlichtweg zu teuer mit der fragwürdigen Alternative, sich ohne eigene hohe finanzielle Aufwendungen auf die Rolle eines Ausstellungshauses ohne kuratorischen Einfluss auf die extern konzipierten Ausstellungen zurückziehen zu müssen. Für gemeinnützige Museen hat der bahnbrechende Erfolg von Großausstellungen Probleme verursacht, die sie in eine unangenehme Zwickmühle drängen: Auf der einen Seite die Chance, Massenanreize zu schaffen und darauf hoffen zu können, durch öffentlichkeitswirksame Programme nachhaltiges Interesse für die Mission und Inhalte des Museums zu wecken; auf der anderen Seite jedoch die Gefahr, zumindest teilweise seine verantwortungsvolle Rolle als kulturelle Wertinstanz mitsamt ihrer bildungsbürgerlichen Exklusivität und ausgewiesener Forschungsexpertise aufzugeben, je mehr sich das Museum den Logiken von Kultur- und Medienindustrie unterwirft.

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IV. Status Quo und Perspektiven der

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,,[T]here are few museums that can aspire to maintaining the balance between internal research and the development of programs devoted to exhibitions. The mass media museum has entered the era of instant gratification and leisure. Temporary exhibitions follow one another in rapid succession. [...] [T]here is a real risk that less visible but more financially demanding functions will be neglected in favor of those that attract the public and provide greater visibility" (Gendreau 2009:43). Angesichts dieser Entwicklungen hat sich die bereits aus der Fernsehgeschichte bekannte Diskussion um die Balance zwischen Unterhaltungs- und Bildungswert in ähnlicher Schärfe in Bezug auf die angenommene Diskrepanz zwischen Entertainmentfaktor, Bildungstiefe und der wissenschaftlichen Qualität von Museumsoperationen wiederholt (vgl. Heilbrun/Gray 2001: 208). Die Sorge um die Unabhängigkeit und Integrität ist zweifellos berechtigt: So wie das Fernsehen und die übrigen Massenmedien die Wahrnehmung einer überindividuellen Realität prägen (vgl. Kapitel III.6.1.), waren es immer auch Museen, in denen vergangene Realitäten ausgehandelt, erfahrbar gemacht und somit Erinnerungen konstruiert und beeinflusst werden (vgl. Kavanagh 1996: 1). Der kulturkritische Ansatz der Museumsanalyse sieht primär nicht-traditionelle Museen als Anfang vom Ende der Museumskultur, da diese sich weniger auf die Authentizität ihrer Sammlungsgüter verließen, sondern unter dem Druck des ökonomischen Diktats nach „oberflächlicher, temporärer Erlebnisbefriedigung" strebten und weder Bildungstiefe noch Wertevermittlung in ausreichender Weise gewährleisten könnten (vgl. Kirchberg 2005: 304-305). Der Literaturwissenschaftler Andreas Huyssen stellt in seinem Essay „Escape from Amnesia" besonders auf die seit den 1980er Jahren in den westlichen Nationen beobachtbare „relentless museummania" ab, wenn er dem klassischen Museum attestiert, es unterwerfe sein Geschichtsbewusstsein immer stärker der Konsummentalität (Huyssen 1995: 14; vgl. auch Kapitel III.9.1.). Adornos und Horkheimers Kritik an der „Vergnügungsindustrie", die dem vermassten Konsumenten in einer omnipräsenten Konsumkultur alle Fluchtwege verstelle, schließt durchaus auch das nicht-traditionelle Museum als Erlebniswelt mit ein (vgl. Kapitel III.8.1.2.). Die Furcht vor der „Aufhebung der Grenzen zwischen Museum und Vergnügungspark" (Kirchberg 2005:303) macht sich in erster Linie an dem Nebeneinander und der Vermischung von Hoch- und Populärkultur fest. Die Frage, wie weiterhin die kulturelle Autonomie und Setzungsautorität verteidigt werden kann, wenn Museen zu Massenattraktionen und modischen Wegbegleitern der Popkultur werden, ist für die bürgerliche Kritik bereits beantwortet: Das Museum könne dadurch leicht die Rechtfertigung seiner Existenz als Medium eines Wertekanons entledigen (ebd.: 304). Während Huyssen eine Anbiederung an die Konsumkultur zu beobachten glaubt, möchte der Museumswissenschaftler Gaynor Kavanagh keinen allgemeinen Trend zur Profaneisierung erkennen und verweist auf die Abgrenzungsstrategien vieler Museen zu den volatilen Modeströmungen der Gegenwart: Zwar sei in einigen Teilen der Museumsgemeinschaft eine gewisse Unbedarftheit in Bezug auf die Herausforderungen der zeitgenössischen Medienkultur festzustellen, jedoch habe sich der Großteil historischer

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Museen auf ihre wahren Stärken besonnen und - nicht trotz, sondern aufgrund aller Popularisierungstendenzen - in ihre Gemeinde- und Bildungsarbeit investiert, statt auf simple Showeffekte zu setzen (Kavanagh 2000: 5). Eine übergreifend festzustellende „McDonaldisierung" aufgrund von Markt- und Operationserfordernissen hinsichtlich einer besseren Kalkulierbarkeit, einer Standardisierung und Effizienzsteigerung von Museumsangeboten, einer erhöhten Erfolgskontrolle sowie Eventisierung des Museumserlebens durch erlebnissteigernde Virtualität (Kirchberg 2005: 302-304) hat in vielen Museumshäusern jedoch tatsächlich eine Nivellierung des Gegensatzes von Hoch- und Populärkultur zur Folge gehabt, was insbesondere der traditionellen Auffassung des Museums als widerstandsfähige wie elitäre Trutzburg gegen wechselhafte Gegenwartstrends entgegenwirkte - eine Beobachtung, die auch im Expertenkreis von Museumsberater Barry Lord geteilt wird: „That's not unusual for a museum nowadays to include popular culture. The notion that museums should focus exclusively on fine art or high art is a notion that doesn't have much currency nowadays. It's quite accepted and usual nowadays to be mix popular culture with other things" (Barry Lord, LCR). Der allgemeine Popularisierungstrend nimmt museale Einrichtungen umso mehr in die Pflicht, sich ihrer traditionellen kulturellen und gesellschaftlichen Funktion als Werteinstanz treu zu bleiben und gleichzeitig eine soziologisch-diskursive AufFächerung ihrer Aktivitäten voranzutreiben. Das Risiko einer Marginalisierung des Museums zu einer Freizeitattraktion von vielen ist zwar gegeben, aber kein Automatismus, da es gelingen kann, breite Bevölkerungsschichten in den historischen Diskurs einzubinden und für die Gesellschaft als Ganzes interessant und relevant zu bleiben. Dem Druck ausgesetzt, unweigerlich drohende Besucherrückgänge zu kompensieren und die Publikumsakzeptanz auf einem möglichst hohen Niveau zu halten, versuchen Museen, Publika in ihrer je individuellen Erfahrungs- und Lebenswelt abzuholen und verlassen sich dabei auf Alltagsthemen und möglichst noch aktuell relevante Topoi der Popkulturgeschichte. Entscheidend ist, dass sich Museen dabei nicht ihre Eigenständigkeit preisgeben, sich aber auch für sie ungewöhnlichen Themen öffnen, wie es das Brooklyn Museum mit einer Ausstellung über die Filmreihe und den populärkulturellen Topos „Star Wars" praktiziert hat. Weitere Beispiele für Ausstellungen, bei denen Publikumserfolge ebenso erzielt werden konnten wie auch neue Arbeits- und Vermittlungsformate entwickelt wurden, sind unter vielen anderen „Elvis in Deutschland", „Das Boot - Geschichte, Mythos, Film" oder „Skandale in Deutschland nach 1945" im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (vgl. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 2008), die Ausstellung „Unvergessliche Augenblicke: Die Inszenierung von Medienereignissen" im Museum für Kommunikation Frankfurt (DFG-Graduiertenkolleg Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart 2006) oder die Stromgitarren-Ausstellung des Deutschen Technikmuseums Berlin in Zusammenarbeit mit dem Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. Joseph Hoppe (DTM) weist in diesem Zusammenhang auf die Ambivalenz

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

populärkultureller Themen hin, sollten sich ihnen ein Museum in konzertierter Ausschließlichkeit widmen: Die Gefahr, sich den Attributen der Popkultur vollkommen auszuliefern, sei immens und letzten Endes kontraproduktiv, weil das Museum sich damit eines Mehrwerts beraube, der häufig die initiale Motivation begründet, ein Museum zu besuchen: So habe die Ausstellung „Stromgitarren" zwar auch „viel Trash, viel Tragik, viel abgründige[.] Geschichten" geboten, doch seien dies nur die Einlasspunkte gewesen für eine tiefengründige Reise durch die Musikgeschichte der vergangenen 30 Jahre: „Man kann eine solche Ausstellung so machen, dass man einfach Gitarre an Gitarre reiht, man kann eine solche Ausstellung auch so machen, dass man Dokumente zusammenträgt. Das wäre mir aber zu eng. Wir haben also versucht, für die Ausstellung auch eine ästhetische Form zu finden, die eine eigene Qualität hat und auch die wesentlichen Motive der Kulturgeschichte dieser Musik und dieser Gitarren zitiert, und wir haben auch versucht, eine eigene Qualität zu generieren, indem wir sehr viele Veranstaltungen gemacht haben, insgesamt über 150 Begleitveranstaltungen im Verlauf von vier bis fünf Monaten, in denen das Thema der Ausstellung in verschiedenen Aspekten und mit Blick auf verschiedene Zielgruppen durchdekliniert wurde. [...] Das Thema Museum und populäre Kultur kann sich, wenn das Thema gut aufbereitet ist, wunderbar miteinander verstehen" (Joseph Hoppe, DTM). Trotz der anhaltenden Debatte um die Sinnfülle bzw. Sinnleere und Vereinbarkeit von populärgeschichtlichen Einflüssen auf die Museumsarbeit (vgl. u.a. Eberle 1997: 43; Preston 2001: 21-24; John 2008) lässt sich mit dem Museumspraktiker Hoppe feststellen, dass sich Museen gewinnbringend populärkultureller Ästhetiken bedienen können, um sich offener für Einflüsse aus der allgemeinen Bevölkerung zu zeigen und ihre diesbezüglich ausgerichteten Vermittlungsziele zu erreichen, sie sich aber nicht zu eigen machen sollten, um ihre ureigene Expertise bei der Re-Präsentation, Einordnung und Relationierung historischer Überlieferungen und Thematiken zu erhalten. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kam auch der Museologe Stephen E. Weil: „In the emerging museum, responsiveness to the community - not an indiscriminate responsiveness, certainly, but a responsiveness consistent with the museums publicservice obligations and with the professional standards of its field - must be understood not as a surrender but, quite literally, as a fulfillment" (Weil 1999: 254). Die vielseitigen Reaktionen von Museen auf die Imperative der zeitgenössischen Medien- und Erlebniskultur haben einerseits eine wichtige Debatte über Ziele und Aufgaben der zentralen Gedächtnisorganisation Museum im Allgemeinen und speziell über die Authentizität, Verlässlichkeit und Permanenz seiner Angebote ausgelöst, andererseits blieb das bereits häufig als ewig-gestrig, langweilig und deshalb für die breite Masse irrelevant stigmatisierte Museum auf der Höhe der Zeit, begeistert wie nie zuvor breite Publikumsschichten und konnte sich zu einem wichtigen Faktor im Tourismussegment (Falk/Dierking 2000:220) entwickeln, der zur Existenzsicherung einer wichtigen Kulturund Gedächtnisinstanz beiträgt. Die größte inhaltliche Leistung des nicht-traditionellen Museums besteht also in der Überwindung des zentralsten Kritikpunktes, Museen seien

IVA. Museumsfernsehen, Femsehmuseen

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von ihrer Veranlagung her langweilig, mittels einer verstärkten Besucher- und Erlebnisorientierung; schließlich bemerkte schon Walter Benjamin in Bezug auf die Ausstellungsrezeption: „Langeweile verdummt, Kurzweil klärt auf" (Benjamin 1930: 8). Entscheidend ist es und wird es bleiben, nicht nur auf Oberflächen- bzw. die von Eberhard Straub kritisierten „Netzhautreize" (Straub 1987) zu setzen, sondern die Visualisierung zum Zwecke des Erkenntnisziels, der Reflexion, Einsicht und Lernbereitschaft einzusetzen, kurzum: Tiefergehendes Interesse lässt sich nur mit visueller Authentizität wecken, die neue Blickwinkel schafft - aber nicht mit illusionistischen Budenzauber. Auch hier soll nochmals die Ausstellungsanalyse Walter Benjamins bemüht werden: „Verdummend würde jede Anschauung wirken, wenn das Moment der Überraschung fehlt. [... ] Es muss ein Neues, einen Trick der Evidenz mit sich führen, der mit Worten grundsätzlich nicht erzielt wird" (Benjamin 1930: 7). Entsprechend fordert der Direktor des Berliner Museums für Kommunikation Joachim Kallinich offensiv ein noch viel stärkeres Unterhaltungsbewusstsein innerhalb der Museumsgemeinde, ohne dabei den pädagogischen Auftrag vernachlässigen zu müssen. Ein jeder Besuch müsse zum kulturellen Ereignis werden und gleichzeitig Mehrwert bieten: „Ich meine, dass wir uns dieser zunehmenden Erlebnisorientierung und ausufernden Erlebniswelten stellen müssen, nicht, indem wir mit billigem Amüsement darin aufund untergehen, sondern in dem wir daraus lernen und ein eigenständiges Profil und Selbstverständnis, ja Markenzeichen entwickeln, das in der je spezifischen inhaltlichen Substanz und kulturellen Kompetenz der Museen liegt" (Kallinich 2004). Wie im Falle des Fernsehens schließt Unterhaltung und faszinatorisches Erleben einen Wissensgewinn nicht aus, sondern bietet im Gegenteil auf medialer und personaler Erfahrungsebene umso vielversprechendere Möglichkeiten: Populärkulturelle Strömungen versprechen eine hohe Impulskraft und das Potenzial, beim Besucher lebendigere Erinnerungen an die Museumserfahrung zu verursachen. Die Hinwendung zum Besucher als signifikante (Mess- und Ziel-) Größe für die Museumsarbeit ist also nicht nur quantitativ, sondern zunächst und vor allem konstruktiv zu verstehen: zur Förderung des Rezeptionserlebnisses zwecks Animation des Besuchers zur vielgestaltigen emotionalen und intellektuellen Teilnahme und Teilhabe. Die allgemeine Hinwendung zur Lebenswirklichkeit der zeitgenössischen Bevölkerung hat in der übergreifenden Museumsarbeit indes nicht dazu geführt, dass dem Fernsehen als zentralem Leitmedium und Erfahrungssurrogat in der Mediengesellschaft in ähnlicher Weise Interesse entgegengebracht wurde. Obwohl es selbst eine kaum zu überbietende Relevanz in der alltagsweltlichen Wahrnehmung und in der zeitgeschichtlichen Gesellschaftsentwicklung, einschließlich und vor allem der Mentalitätsgeschichte einnimmt, haben sich die mächtige kulturgeschichtliche Institution Museum und das mächtigste gegenwartszentrierte Medium Fernsehen nur rudimentär übereingefunden. So folgt die vorherrschende Museumsklassifikation im internationalen Feld zwar unterschiedlichen, aber noch immer sehr groben Unterteilung, welche eine Explikation der Geschichte und Relevanz der Massenmedien und speziell des Fernsehens für die Welt-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Wahrnehmung vermeidet.61 Wie im folgenden Kapitel untersucht wird, liegt eine gegenseitige Annäherung und Thematisierung zwischen Museen und dem Fernsehen mehr als nahe, sind sich die Gedächtnisorganisation und die Gedächtnismaschine doch nicht nur, wie zu zeigen war, in ihrer Zerrissenheit zwischen Bereicherung und Zerstreuung ihrer Klientel erstaunlich ähnlich, sondern auch bei der Schaffung von Imaginationsräumen, die essentiell sind bei der Erinnerungsbildung. 4.1.2. Fernsehen im Museum: Heterotope

Variationen

An einem späten Sonntagnachmittag, als das Fernsehen noch in den Kinderschuhen steckte, erhielten die Zuschauer des US-Networks CBS einen Eindruck davon, wie bereichernd sich audiovisuelle Medieninhalte und museale Anliegen ergänzen können. Ab dem 10. Mai 1953 wurde eine Sendung ausgestrahlt, die Rezensenten in höchsten Tönen schwärmen ließ. Damals wurde nicht nur eines von vielen neuen Fernsehgenres geboren, namentlich das bis heute erfolgreiche Natur- und Wissenschafts- bzw. Expeditionsfernsehen nach dem Format des Discovery Channel (vgl. Lutkehaus 2008:175): Die Sendung „Adventure" wurde zugleich zu einem Vorgeschmack dessen, welche Synergiepotenziale sich zwischen Fernsehen und Museum entfalten können (vgl. Gould 1953). Der Fernsehkritiker des Magazins „The New Yorker" schwärmte sogar: „Here, it seemed, was one of those ideas people are forever hoping television will develop" (Hamburger 1953: 133). Im Rückblick auf die insgesamt drei Jahre, in denen die Ko-Produktion zwischen CBS und dem American Museum of Natural History (AMNH) in New York auf Sendung war, lässt sich erahnen, wie sehr Museen von audiovisuellen Medientechnologien profitieren können, wie viel aber auch die audiovisuellen Medien Fernsehen und Kino dem Museum verdanken. Das in jenen Tagen noch so junge Medium verhalf der Imagination seiner Zuschauer auf die Sprünge: Schon in der ersten Sendung begaben sich die Wissenschaftler des AMNH im dem Museum angegliederten Hayden Planetarium auf eine Reise durch das Sonnensystem und vermittelten auf unterhaltsam anschauliche Art Fakten über die Nachbarplaneten der Erde. Der Anspruch der Produzenten, Naturgeschichte so lebendig und spannend wie möglich zu präsentieren, wuchs sichtlich mit jeder Sendung: „Since ,Adenture' [...] started roughly a year ago, the scientists and the broadcasters have never stopped experimenting with films and cameras and techniques to make nature come 61

International wird das Museumsfeld nach jeweils unterschiedliche Kategorien unterteilt: In Deutschland werden statistischeErhebungengetrenntnach Volkskunde- und Heimatkundemuseen, Kunstmuseen, Schloss- und Burgmuseen, naturkundliche Museen, naturwissenschaftliche und technische Museen, historische und archäologische Museen, Sammelmuseen mit komplexen Beständen, kulturgeschichtliche Spezialmuseen sowie Museumskomplexen vorgenommen (Institut für Museumsforschung 2009:18). In den USA differenziert man die Museumslandschaft gemeinhin zwischen naturhistorischen Museen, menschheitsgeschichtlichen Museen, Kunstmuseen, Kriegsmuseen, Wissenschaftsmuseen, Science Centern, Kindermuseen und Aquarien bzw. Zoos (Koster 2006).

IV.4. Museumsfemsehen,

Fernsehmuseen

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alive and, above all, to become visual" (Crosby 1954). Bald blieb es nicht mehr bei der Präsentation aktueller Ausstellungen, Artefakten aus den Speichermagazinen sowie des imposanten Museumsbaus an der Upper West Side. Es wurde experimentiert und improvisiert, u m trotz komplexer Wissenschaftsthemen die Spannung für den Zuschauer aufrechtzuerhalten und Imaginationsräume zu öffnen, wie der Leiter der CBS-Nachrichtenabteilung, Sig Mickelson, in der „New York Times" erläuterte: „To add the necessary fillip of showmanship we hit upon a device that should give us a strong element of suspense. We call it our .what's going to happen technique. The provocative question, the unpredicted result - in science as well as fiction - is always more exciting than a review of an experiment or an exploration of the past in which one pictures the result as a fait accompli. By the injection of this factor - televisions priceless ingredient of immediacy - we hoped to capture and hold the imagination of the viewer by making him part of an experience" (Mickelson 1953). In den weit über einhundert Sendungen wurden Zuschauer zu Zeugen, wie ein Rhinozeros den Wagen der Fernsehcrew ramponierte, wie ein junger Gorilla außer Kontrolle geriet, wie der Serienschöpfer Mike Wallace fliegen lernte, der zu zeigen beabsichtigte, dass jedermann dazu imstande sei; sie besuchten die Nachfahren der Meuterer der „Bounty" auf der Insel Pitcairn; begleiteten ein archäologisches Forschungsprojekt in Afghanistan; sie reisten nach Neu-Guinea, Tibet und Alaska; sie erhielten Einblick in das Leben von Seeelefanten und Pinguinen auf der antarktischen Insel Südgeorgien, aber auch in das Dasein von Taranteln, gewöhnlichen Gartenkröten, Grasschlangen, Zwergpferden, Dinosauriern und anderen Fossilien; sie lernten, wie Diamanten entstehen; sie flogen mit einer Militärcrew durch das Auge eines Hurricanes; und sie wurden mit den Traditionen der Hopi-Indianer ebenso vertraut wie mit jenen ecuadorianischer und peruanischer Ureinwohner am Amazonas oder alten überlieferten balinesischen Tänzen (vgl. u.a. Walker 1953; Gaver 1953; Hamburger 1953: 134-135; Remenith 1953a; Remenih 1953b; La Follette 2008: 224). Weder verließen sich die Produzenten auf die illustrativen Schauwerte ihrer Präsentationen, noch pressten sie ihre Themen in wissenschaftlich abstrakte Erklärungsmodelle. Ihre erfrischende Authentizität erlangten die Sendungen durch den Gegensatz zwischen den fachkundigen Wissenschaftlern in ihrer Fernsehunerfahrenheit und Ernsthaftigkeit - „steeped as they are in their subjects" (Crosby 1953) - und den Moderatoren, die mit ihrem Halbwissen, aber auch ihrer Neugier und ihrem wissbegierigen Auftreten den Zuschauern Identifikationsmöglichkeiten boten: „The program has proved that it can come up with actually adventure stories, which incidentally are presented with admirable restraint in the best tradition of newsmen gathering facts, but it also proves, week after week, that adventure can be found in the natural phenomena of the world around us" (zitiert nach Gaige 1953). Der Plan, einer breiten Öffentlichkeit Natur und Geschichte so unmittelbar wie möglich nahe zu bringen und Interesse zu wecken für die oft übersehenen „Abenteuer" des Lebens, ging insofern auf, als genuine Museumsthemen mittels der elektronischen Audiovision in Millionen von Haushalten lebendig wurden. Die Fernseh-

IV. Status Quo und Perspektiven der

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Fernseherbe-Verwaltung

sendung bot all das, was im Museum nicht oder nur unzureichend gewährleistet werden konnte: eine dynamische Visualisierung dessen, was im Museum selbst zwar inhaltsvoll und erkenntnisreich, aber eben nur statisch und - um der klischeebeladenen Terminologie des alltäglichen Sprachgebrauchs zu folgen - „tot" betrachtet werden konnte, und daher Gefahr lief, nur auf Wissenschaftler Faszination auszuüben (vgl. auch Maleuvre 1999: 16). „Adventure" wurde zum Vorbild eines Bildungsprogramms, „which would combine the wizardry of electronics, the miracles of [...] showmanship and the wonders of the universe" (Crosby 1953). Ein ähnliches Aufleben der Museumseuphorie, das bereits 1953 zu einem spürbar gewachsenen Interesse an der Arbeit des A N M H geführt hatte (Cowen 1954), vollbrachte über 50 Jahre später eine erneut in Kooperation mit demselben Museum entstandene Filmproduktion, die weltweit in den Kinos und auf den Fernsehschirmen Zuschauererfolge erzielte. 62 Die Abenteuerkomödie „Nachts im Museum" löste einen Besucheransturm auf das naturhistorische Museum in New York aus, offenbar weil die aufwendigen Animationen und turbulenten Szenerien der Filmhandlung die Phantasie des vornehmlich kindlichen Publikums angeregt und Neugier für das real existierende Museum und seine Exponate hervorgerufen hatte. 63 Was hier filmisch so einfalls- wie effektreich als unterhaltsame Phantasterei inszeniert wird, trifft doch den Kern eines jeden historischen Museums: Die lebendigen Eigenschaften musealer Präsentation lassen den Charakter des Museums als Ort erkennen, wo weitgreifende politische und soziale Konflikte, kulturelle Prozesse und komplexe Vergangenheit in einem raumzeitlichen Mikrokosmos erlebbar, studierbar und verhandelbar werden: „In jedem Museum sind gleichzeitig unterschiedliche Zeiten und Räume vorhanden, wobei auch zwischen Sammlung/Depot und Ausstellung zu unterscheiden ist" (Schärer 2003: 65). Der französische Philosoph Michel Foucault bezeichnete das Museum aufgrund dieser Eigenheit als „Ewigkeitsheterotopie" (Foucault 2005: 17). Der Terminus der Heterotopic diente Foucault zur Beschreibung „lokalisierter Utopien", sogenannter „Gegenräume" (ebd.: 10), die als „Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden 62

63

Auch die zweieinhalb Jahre später folgende Fortsetzung „Nachts im Museum 2", die sich mit dem Smithsonian-Museumskomplex in Washington, D.C. befasste, feierte erneut einen Leinwanderfolg, spielte in den USA über 170 Mio. US-Dollar ein und verzeichnete in Deutschland über zwei Millionen Kinobesucher. Der Kinderfilm erzählt die ungewöhnlichen Erlebnisse des Taugenichts Larry Daley, der eine Anstellung als Nachtwächter im AMNH findet und dort schon in der ersten Nacht staunend miterlebt, wie die Ausstellungsstücke nach Sonnenuntergang durch eine pharaonische Zaubertafel lebendig werden: Miniatur-Cowboys und -Indianer, Urzeitmenschen, Mongolen und der Pharao höchstselbst bekriegen sich, die Wachsfigur des US-Präsidenten Theodore Roosevelt ergießt sich in Lebensweisheiten, ein KapuzineräfFchen erweist sich als Quälgeist, und das imposante Skelett eines Tyrannosaurus Rex im Museumsfoyer verwandelt sich in ein verspieltes Haustier. In nur wenigen Wochen nach dem Kinostart verzeichnete das American Museum of Natural History einen Anstieg der Besucherzahlen um circa 50.000. Insgesamt wurde ein Anstieg um 20 Prozent im Vergleich zur Weihnachtszeit im Vorjahr festgestellt, der konkret auf den Erfolg des Films zurückgeführt wurde (Dominguez 2007).

IVA. Museumsfernsehen,

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können", sowohl wirklich als auch wirksam seien (Foucault 1990: 39). Das Museum sei eine Heterotopic, weil es der Idee folge, „alles zu sammeln und damit gleichsam die Zeit anzuhalten oder sie vielmehr bis ins Unendliche in einem besonderen Raum zu deponieren; [...] einen Raum aller Zeiten zu schaffen, als könnte dieser Raum selbst endgültig außerhalb der Zeit stehen" (Foucault 2005: 16). Dass sich im Museum unterschiedliche Zeiten und Orte zu einem Gefüge mischen, welches die Imaginationskraft des Besuchers herausfordert, verschafft es der Gegenwartsgesellschaft damit zugleich einen Illusionsund einen Kompensationsraum, in denen durch die reflektierte Begegnung mit dem Gewesenen die eigene Lebenswelt, der eigene Lebensraum bzw. „alle anderen Räume" (ebd.: 19) in Frage gestellt werden. Foucault benennt neben dem Museum noch eine ganze Reihe weiterer Heterotopien, unter anderem den Friedhof, Parks, Gefängnisse, das Bordell und das Schiff: Sie allesamt zeichnet aus, dass sie in ihrer Bedeutung als Gegenentwürfe bzw. Anders-Orte nie statisch sind und sich aus der Wechselbeziehung zwischen ihrer objektiven Konstitution als greifbarer, begehbarer Raum und den subjektiven Bedeutungszuschreibungen und Wahrnehmungsmodi der Personen, die sich in und mit ihm beschäftigen, definieren: „Der Raum, in dem die Heterotopien ihren realen und mythischen Ort finden, ist damit für eine Dimension konzeptualisiert, die zwischen dem liegt, was Karlfried Graf Drückheim 1932 (phänomenologisch) als ,gelebten Raum' beschrieben hatte und dem, was sich (poststrukturalistisch) im Machtgefüge der Gesellschaft autopoietisch gleichsam von selbst konfiguriert und schließlich in einem physischen Sinne eine Ordnung der Dinge im mathematischen Raum konstituiert. Foucaults Raumverständnis ist von grundlegender Bedeutung für sein heterotopologisches Denken, sind die Heterotopien doch zu ihrer materiellen Hälfte im geodätischen Raum, zu ihrer mythischen Hälfte aber in einem schillernden imaginären Raum - in einem gefühlten, codierten, verführerischen, dissuasiven und in all dem rauschenden Raum" (Hasse 2007: 75). Heterotopien sind also stets Orte, die ihre Funktion erst dann erfüllen, wenn es ihnen gelingt, eine besondere Vorstellungs-Qualität zu schaffen und es erst dadurch zu ermöglichen, eine Utopie an Ort und Stelle einer Realisierungsoption zuzuführen. Wie signifikant der Willen des Einzelnen - trotz kultureller Setzung von Funktionen und Bedeutungen wie im Falle des Museums - im Hinblick auf die Stabilität und Wirksamkeit einer Heterotopic ist, kommt in einem wenig beachteten Beispiel Foucaults zum Ausdruck, in dem er Gegenräume betrachtet, die nahezu instinktiv von Kindern geschaffen werden, u m in ihrer Phantasie die Welt zu erkunden: „Das ist natürlich der Garten. Das ist der Dachboden oder eher noch das Indianerzelt auf dem Dachboden. Und das ist [...] das Ehebett der Eltern. Auf diesem Bett entdeckt man das Meer, weil man zwischen den Decken schwimmen kann. Aber das Bett ist auch der Himmel, weil man auf den Federn springen kann. Es ist der Wald, weil man unter den Laken zum Geist wird. Und es ist schließlich die Lust, denn wenn die Eltern zurückkommen, wird man bestraft werden" (Foucault 2005:10).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

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Aus dieser Darstellung wird ersichtlich, warum Heterotopien in den seltensten Fällen konstant sind, sondern sich je nach Beschaffen- und Befangenheit der Gesellschaft, in der sie kreiert werden, wandeln oder gar gänzlich verschwinden. Das bedeutet aber auch, dass jeder beliebige Ort innerhalb der Gesellschaft, auch auf der Mikroebene der Familie, zur Heterotopic werden kann. Neben dem Museum, das angesichts seiner Evolution zum Erlebniszentrum immer wieder neue heterotope Variationen ausgebildet hat, können auch das Kino und das Fernsehen als heterotope Sonderformen klassifiziert werden. Foucault selbst sprach vom Kino als „merkwürdiger viereckiger Saal, in dessen Hintergrund man einen zweidimensionalen Schirm einen dreidimensionalen Raum sich projizieren sieht" (Foucault 1 9 9 9 : 4 2 ) . Auch wenn er das Fernsehen unerwähnt ließ, kann dieses doch eine noch ungemein größere heterotope Vielfalt entfalten, wenn es dem Rezipienten in der Privatheit des eigenen Zuhauses mehr als einen Illusions- und Kompensationsraum bietet, weil es den jeweiligen Rezeptionsort in ein Refugium, in einen Zufluchtsort, einen Rückzugsraum transformiert. Während Kino und Museum als fest installierte AndersOrte verlässliche Anlaufpunkte sind, braucht nach Foucault jede Gesellschaft auch mobile Heterotopien wie das Schiff, die als Reservoir der Phantasie fungieren: „Zivilisationen, die keine Schiffe besitzen, sind wie Kinder, deren Eltern kein Ehebett haben, auf dem sie spielen können. Dann versiegen ihre Träume" (Foucault 2005: 22). Das Fernsehen nun als omnipräsentes Massenmedium, das als Imaginations- und Gedächtnismaschine rezipientenabhängig jeden beliebigen Ort verwandeln, zum Träumen und mittels telepräsenter Suggestion zu imaginativen Reisen einladen kann, gleichzeitig die von Foucault apostrophierte Merkwürdigkeit des Kinos aufweist, da sich vor dem Auge des Betrachters eine Vielzahl ansonsten unvereinbarer Räume auffächern und die Nähe der Ferne im räumlichen und temporalen Sinn audiovisualisiert, entspricht dem Ideal einer mobilen Allzweckheterotopie, ihre Leitfunktion speisend aus der Verinnerlichung televisueller Realitätskonstruktion im Alltag nahezu sämtlicher zeitgenössischer Kulturen der Welt. Auch andere Bild- bzw. Bildschirmmedien erfüllen in ihren inhaltlichen Variationen heterotope Funktionen wie u.a. Videospiele, die zum Beispiel von Kindern in der Abgeschiedenheit ihres Kinderzimmers zur alternativen virtuellen Realität werden (McNamee 2000). Mittlerweile haben die medialen Bildkaskaden, darauf verweist der Historiker und Medientheoretiker Hans Belting, eine solche Macht über die Erfahrungswelten des Menschen entwickelt, dass sie als wichtige Heterotopisierungsfaktoren gelten müssen: „TV, Video und die Bilder der virtuellen Welt [...] verändern die Rollenverteilung zwischen Imagination und Fiktion im alten Schauspiel der Bilder. [...] Heute vergrößert sich nicht nur der Raum der Bilder gegenüber dem Raum der Lebenswelt, sondern okkupieren die Bilder auch einen grundsätzlich anderen Raum, eine Heterotopic im Sinne Foucaults. Mit technologischem Pathos versprechen sie die Befreiung von der Referenz auf die reale Welt" (Belting 2001: 81). Während die elektronische Medientechnologie die Rezeption immaterieller audiovisueller Inhalte jederzeit und überall möglich macht, erweist sich das Museum als Ort der Erfahrung physischer Existenz und Alterität von Vergangenheit. Gleichwohl täuschen

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die unterschiedlichen heterotopen Dimensionierungen des Fernsehen und des Museums leicht darüber hinweg, dass sie medial ähnliche Funktionen erfüllen. Das Museum als Medium zu verstehen, ist nicht revolutionär: Auch als gern zur Antipode zu den Massenmedien stilisierte Institution des kulturellen Gedächtnisses erfüllt es die Voraussetzungen eines Massenmediums. Der Kurator erstellt eine Präsentation und richtet diese an eine kaum konkreter als die „allgemeine Öffentlichkeit" definierte Art von Besuchern (vgl. Hooper-Greenhill 2000: 132-133). Das Museum tritt dadurch als Produzent und Vermittler von Inhalten auf, die an ein Massenpublikum kommuniziert werden. Nur werden die Inhalte im Museum nicht allein visuell, sondern auch physisch erfahrbar, der Betrachter erlangt hier sozusagen materielle Gewissheit, und zwar in einem festgelegten raumzeitlichen Kontext. So ist das Museum durch seinen Vermittlungsauftrag das einzige Massenmedium, das eine räumliche Manifestation besitzt (Silverstone 1994: 171). Wenn Museen immer häufiger mit Unterhaltungsangeboten experimentieren, wird das gerne als ein Versuch gedeutet, eine klare Opposition zu den audiovisuellen Massenmedien einzunehmen (vgl. MacDonald/Aisford 1991: 308). Mag dies aus wettbewerblichen Erwägungen sinnvoll erscheinen, um Alleinstellungsmerkmale auszubilden oder zu verteidigen, muss sich eine strikte Ablehnung der Medialität elektronischer Audiovisionen kontraproduktiv auswirken. Auf die Ähnlichkeiten des mnestischen Leitmediums Museum zum präsentistischen Leitmedium Fernsehen, die eine gegenseitige Utilisierung nahelegen, hat bereits Roger Silverstone ausführlich hingewiesen: „They both, in different degrees, embody an historical and a moral and even an aesthetic commitment [...] to inform, educate, entertain. [...] They both rely on technologies, the printed word, moving and still images, sounds, objects, to convey their messages. They both occupy a kind of cultural no-mans land between the otherwise incommensurable and antagonistic discourses of, in the case of science broadcasting and the science museum, science and commonsense. They both rely, to a greater or lesser extent, on the use of mythic narrative forms and content to fix the unacceptable or the indigestible into a secure and familiar framework which reassures the visitor or the viewer by its coherence, its plausibility and its legitimacy. They both rely, finally, on the referential and recursive metaphors of the everyday in their persistent efforts to lock their sense into the familiar sense of the other texts - both formal and informal - which clutter our daily lives" (Silverstone 1988: 232-233). So wie sich das Fernsehen erfolgreich der Museumsidee bedient hat, um daran eigene Formate wie „Adventure" oder Myriaden an Historien-, Expeditions- und Wissenschaftsformate zu entwickeln, steht es auch dem Museum frei, sich Fernsehinhalte zunutze zu machen, um sie als Mittel der Narration oder allgemein der Visualisierung einzusetzen und das Ausstellungserlebnis zu bereichern, wo im Gegenzug Realien und Texte ein nur lückenhaftes Bild von der Vergangenheit bilden. „Although it can be argued that visitors are drawn to museums by the aura of the objects to be found there, very often (and necessarily more and more often) they will find the same perplexing (but entirely taken for granted) mixture of presentation and

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung representation: of the real and the simulated; of the fragmentary and the reproduced. [...] Both involve what Benjamin would identify as a loss of aura. Both identify the museum as being an agent not of innocent and unmediated display, but as an agent of artful and sophisticated creative representation, in which the claims to be presenting the real are simply that: claims, whose success or otherwise depends on the contextualization and .textualization of the exhibition as a whole, and the continuing acceptance of the museum's authority as a purveyor of truth" (Silverstone 1988: 233-234).

Originale Objektüberlieferungen sind aus ihrer materiellen Beschaffenheit heraus rar gesät, gleich ob es sich um Kunstwerke handelt oder um Gebrauchsmaterialien aus früheren Zeiten. Schon Walter Lippmann äußerte sich nach dem Besuch der US-amerikanischen Nationalgalerie in Washington, D.C., wo er wertvolle Gemälde-Leihgaben aus Berlin bewundert hatte, verärgert über das museale Streben nach Originalität. Das Problem zeige sich in seinem Widersinn besonders deutlich, wenn man sich der Literatur zuwende: „Suppose that a lover of literature had to go to London to read Hamlet, to Paris to read Macbeth, to Rome to read The Tempest, to Boston for some of the Sonnets, to Chicago for others; suppose he had to go back to London, or Paris, or Rome, or Boston, every time he wanted to read a work by Shakespeare the enjoyment and the appreciation of literature would be a problem like that of the enjoyment and appreciation of the fine arts" (Lippmann 1948:171). Die Errungenschaften der technischen Reproduktion seien ein wichtiges Instrument, um Museen für die Zukunft zu wappnen. Die Auffassung, dass ein Museum sich nicht allein auf dinghafte Überlieferungen und textliche Informationen verlassen könne, hat es spätestens im Verlauf der Popularisierungsstrategien und der Fortentwicklung kognitiv-lernorientierter Ansätze zu einem Konsens gebracht: „Das Museum wäre überfordert, wenn es die Benennung und Beschreibung und - noch wichtiger - die aufgrund der Fragmentarik nötige Re-Dimensionierung der Objekte nur sprachlich, auf dem Wege der Textinformation, bewältigen wollte" (KorfF/Roth 1990:23). Mit anderen Worten: „With moving images playing such a dominant role in peoples lives, it would appear to be judicious for museums to capitalize on this influential means of communication" (Oliver 1992: 61). Wie die Anwendung des Heterotopie-Theorems auf die elektronischen Bildmedien im Allgemeinen und das Fernsehen im Besonderen gezeigt hat, sind Audiovisionen und der Gedächtnisort mit seinem starken Objektfokus keineswegs inkompatibel. Was augenscheinlich nicht zusammenpasst, erscheint auf den zweiten Blick als sinnvolle Ergänzungen: „Rather like television programmes [...], exhibitions appear to be excellent at generating enthusiasm, challenging long-held opinions, affecting attitudes, arousing interest, raising awareness of specific issues, or generating deep - often long-held - emotional responses" (Grewcock 2001: 52). Auf einer Konferenz der UNESCO im Museum Folkwang im Jahre 1969 kam das Plenum sogar zu dem Schluss, eine Empfehlung auszusprechen, dass selbst Kunstmuseen in den Archiven der Fernsehsender einen reichen Fundus vorzufinden hätten, der gewinnbringend in die Museumsarbeit integriert und für Forschungsanliegen genutzt werden könne (Deutsche UNESCO-Kommission 1970: 108).

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Entsprechend lauten auch Äußerungen aus dem Kreis der befragten Experten: Dietmar Preißler vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland unterstreicht, dass vor allem zeithistorische Museen bei ihrer inhaltlichen Arbeit auf AV-Material angewiesen seien. Hier spiele dokumentarisches Material wie beispielsweise Fernsehberichte über spezifische historische Kapitel wie den Deutschen Herbst und die Taten der Roten Armee Fraktion, aber auch allgemein über die Jugend- und Alltagskultur eine herausragende Rolle. Doch stellt er gleichsam die Frage: ,,[W]ieso sollte ein Museum zur Naturkunde nicht auch entsprechende Filme zu naturkundlichen Themen sammeln? Wieso soll sich ein Museum zur Technikgeschichte nicht auch auf die Sammlung von AV-Medieninhalten zur Technikgeschichte konzentrieren?" Obgleich Museen mittlerweile auch selbst zu Produzenten von eigenen AV-Inhalten werden, erkennt Preißler einen immensen Bedarf an Fremdproduktionen: Die Praxis zeige, dass zu 90 Prozent auf bestehende Produktionen zurückgegriffen werden könne (Preißler 2006: 84). Diesen kämen vier Funktionen zu, die zuvor ohne elektronische Bewegtbildinhalte nicht oder nur unzureichend hätten erfüllt werden können: Erstens vertiefende Informationen im Rahmen von „Szenen" zu liefern, zweitens ein interaktives Auseinandersetzen mit Themen zu ermöglichen, drittens besucherleitende Aufgaben zu übernehmen und viertens als Bild- oder Ton-Ikonen Qualitäten wie originale Museumsobjekte zu entwickeln (ebd.: 83-84). Wie vielseitig insbesondere Fernsehprogramminhalte einsetzbar sind, zeigt schon die Mannigfaltigkeit der Dokumentations- und Gedächtnisfunktion des Mediums an: Stehen die Inhalte und nicht die Spezifität der televisuellen Medialität im Vordergrund, bietet das Fernsehen als primärer Inhaltevermittler Einsichten über und Aussichten auf so gut wie sämtliche Bereiche der Gesellschaftsgeschichte und weit darüber hinaus. Das bedeutet auch, dass Programmüberlieferungen je nach thematischer Zuordnung und Qualität für jedes beliebige Museum von Interesse sein können. Auch Museologin Lynne Teather (UT) stimmt damit überein, dass Exzerpte von Fernsehsendungen aufgrund ihres dokumentarischen und illustrativen Wertes jegliche museale Präsentationen aufwerten könnten, weil sie historischen Kontext lieferten. Dennoch lassen die Befragungsergebnisse ebenfalls darauf schließen, dass abgesehen von den spezialisierten Einrichtungen zur Fernsehgeschichte nur wenige Museen in den untersuchten Staaten von der Möglichkeit Gebrauch machen, sich in Fernseharchiven Bewegtbildmaterial für ihre Ausstellungen oder internen Forschungen zu beschaffen. Fernseh- und Rundfunkinhalte seien im übergreifenden Museumsfeld „kein signifikantes Phänomen", sagt Museumsberater Barry Lord. Bestätigt wird diese Beobachtung von den Senderarchivaren: Zwar gebe es ein wachsendes Interesse für Fernsehprogramm-Material in einigen Museumssektoren, erklärt Kathy Christensen (CNN), doch beschränkt sich dieses nach Aussagen von Joel Kanoff (ABC), Roy Carubia (CBS), Laurie Friedman (Fox) und Glenn Clatworthy (PBS) auf vereinzelte Anfragen vornehmlich kleinerer Institutionen, die keinen allgemeinen Trend zu einem gestiegenen Bedarf in der Ausstellungskonzeption erkennen lassen. John Lynch vom Vanderbilt Television News Archive zählt durchschnittlich nur fünf bis zehn Anfragen von Museen pro Jahr. Anders verhält

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es sich in Kanada, wo die CBC laut Archivleiter Geoffrey Hopkinson mit einer Reihe großer Museen wie dem Museum of Civilization in Ottawa, dem Canadian War Museum und der Art Gallery of Ontario Partnerschaften knüpfte und Fernsei* archivmaterial für Ausstellungen zur Verfügung stellte. Das Interesse resultiere in erster Linie aus dem Anliegen, Besucher stärker zu involvieren, ihre Aufmerksamkeit zu binden und für die Exponate zu interessieren: „We were told that somebody, the average person looks at a piece of art only for three seconds. What they want to do is to engage the patron and that we can have something visual connected to the art work, then they will stay longer. It's a fascinating comment about our time, that visitors look only three seconds at a piece of art and move on. [...] Audiovisual material helps to get attention, but also to put the piece of art in the context of the time, of an era" (Geoffrey Hopkinson, CBC). In Deutschland zeigt sich ein ambivalentes Bild: Hierzulande gebe es seitens der Museumsgemeinde allenfalls ein nur rudimentäres Interesse an Fernsehprogramm-Überlieferungen, sagt Hans-Gerhard Stülb vom Deutschen Rundfunkarchiv. Das von Sammlungsleiter Dietmar Preißler stark multimedial ausgerichtete Haus der Geschichte in Bonn sei da eine seltene Ausnahme. Michael Harms (SWR) berichtet wiederum von zahlreichen Anfragen zumindest lokaler und regionaler Museumshäuser, die sich wie das Freiheitsmuseum in Rastadt oder das militärhistorischen Archiv in Freiburg für die audiovisuelle Anreicherung von historischen Ausstellungsthemen interessieren: „Wir bekommen aber auch Anfragen von Literaturmuseen, wenn es um das Schaffen eines Literaten geht", erklärt Harms. Die übrigen Vertreter von Fernsehnachrichtenarchiven wie unter anderem Axel Bundenthal (ZDF), Hans Hauptstock (WDR), Olaf Moschner (RTL) und Mardiros Tavit (ProSiebenSat. 1) berichten jedoch von nur geringem Interesse seitens klassischer Museen an ihren Beständen. Anders verhalte es sich im Bereich der fiktionalen Produktionen, sagt Susanne Betzel (RTL): Sie erhalte neben Anfragen von medienhistorischen und zeitgeschichtlichen Ausstellungsprojekten zum Teil auch Materialanforderungen von Völkerkundemuseen. Auf Basis der Befragungsergebnisse lässt sich insofern ein nur uneinheitliches Bild von dem tatsächlichen Museumsbedarf an Archivalien aus der Fernsehprogrammgeschichte ermitteln. Werden die Erfahrungen der übrigen Befragten miteinbezogen, lässt sich jedoch der Eindruck erhärten, dass die nachgefragte Menge an Fernsehprogramm-Material dessen hohe Wertigkeit für illustrative und dokumentarische Visualisierungszwecke weit unterschreitet. Mark Quigley vom UCLA Film and Television Archive glaubt, dass die Nachfrage von der unklaren Rechtesituation blockiert wird, die für viele kleinere Einrichtungen unüberwindbare Hürden auftürmt und sie zu alternativen Ausstellungskonzeptionen zwingt (vgl. Kapitel IV.2.5.4.). Ähnlich urteilt John Lynch: ,,[M]useums are always concerned what the legal issues are because they are charging fees for entries." Auch Joseph Hoppe (DTM) sieht in den praktischen Problemen bei der Akquise von Fernsehüberlieferungen, namentlich in dem hohen Arbeits- und Kostenaufwand, den entscheidenden Hinderungsgrund.

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Auch wenn die Abwägung von Aufwand und Nutzen offenbar in vielen Museen die Akquise von Fernsehüberlieferungen stark einschränkt oder gar verhindert, ist die eigentliche Implementierung innerhalb eines Ausstellungskonzeptes, abgesehen von den notwendigen Investitionen in die technische Infrastruktur, nach Erfahrung von Museumsberater Barry Lord (LCR) im Vergleich zu den Schwierigkeiten bei der Präsentation von Objekten ein Leichtes und versprechen einen hohen Attraktionsgewinn. Museumswissenschaftler Bruce Altshuler (NYU) sieht den Gebrauchswert von AV-Medien als zeitgemäße Vermittlungsform daher auch im Vordergrund einer Ausstellungsstrategie, die auch Jugendliche anzusprechen sucht. Der hier bezeichnete instrumentale Charakter macht in der Regel die Anfertigung museumseigener, auf die jeweilige Ausstellung abgestimmter AV-Produktion notwendig, die sich jedoch - auch ausschließlich - Fernsehprogramminhalten bedienen können. Altshuler hält angesichts des sich wandelnden Mediennutzungsverhaltens und der Bedeutung des Konsums elektronischer Medien im Alltag eines Großteils der Bevölkerung den Präsentationsmodus für den wichtigsten Aspekt bei der Ausstellungskonzeption, der noch vor der inhaltlichen Themenfindung Priorität genießen müsse: „So you can add something on the colonial method of construction of housing in New York City, but you can make it a very sexy exhibition, tieing it to real estate, make it interactive or it could be a standard, old-style, boring exhibition. The mode of presentation is important, not the subject matter." Heute gehe es für Museen darum, „ein kluges, intelligentes Zusammenspiel von Medieninhalten, auch den Tiefendimensionen von Medieninhalten, den ergonomischen Seiten von Medienpräsentationen und den anderen Seiten von Ausstellungspräsentationen zu finden", stimmt Joseph Hoppe (DTM) zu: „AV-Medien sind das ideale Kommentarbegleit-, Illustrations- und Interpretationsmedium und -material. Das Problem ist oft genug, dass Objekte, die wir haben, für die Fachleute sehr aussagereiche sind, aber nicht unbedingt für Nicht-Fachleute, die davor stehen. Um Kontexte herzustellen, um Geschichten rund um Objekte zu erzählen, um Zusammenhänge herzustellen, gibt es nichts Besseres als audiovisuelle Medien. Das kann ein Interview sein, das kann ein historisches Tondokument sein, ein Filmausschnitt sein: Es gibt unendlich viele Variationsmöglichkeiten. Die Kunst besteht darin, sowohl die Auswahl so gut zu treffen wie auch die Präsentationsform so gescheit zu finden, dass es ein gutes Miteinander und ein gutes Zusammenspiel von Objekten als Ausstellungskernen und Medien als Ausstellungserzählform gibt" (Joseph Hoppe, DTM). Wenn das Museum jedoch dem Mandat folgt, sich explizit mit der Televisualität auseinanderzusetzen, entstehen gänzlich neue Herausforderungen, ähnlich fundamental wie jene, die sich stellen, wenn das Fernsehen das Museum zu ergänzen sucht. Wie zu Beginn dieses Kapitels beschrieben, liegen die Stärken der Audiovision bei der Aufbereitung musealer Topoi in einer ortsungebundenen, massenattraktiven Inszenierungsweise. Wenn das Fernsehen das Museum ins Auge fasste, dann nicht selten, um den Museen zum „best public relations vehicle that they can possibly utilize" zu dienen, wie die beiden

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

museumsaffinen Fernsehproduzenten Schoener und Wurlitzer schon früh erkannten (Schoener/Wurlitzer 1956: 74). Ziel müsse es sein, „to translate the personality of the museum into television" (ebd.: 73). Dies könne nur funktionieren, wenn die „Natur des Fernsehens" respektiert werde: „Since it is primarily visual, there should be concentration on pure visual effect" (ebd.: 72), obgleich gelte: „ [Τ] he object, not the drama that surrounds it, should be appreciated" (ebd.: 78). Von Museen (ko-)produzierte Sendungen jener Tage fielen nach dem Vorbild der CBS/ANMH-Serie „Adventure" entsprechend durch ihre das eigentliche Museumsangebot weder kopierende noch imitierende Vermittlungsleistung auf, sondern durch ihre auf Komplementarisierung angelegte Translierung des Museumsauftrags und -themas in eine fernsehgerechte Inszenierung. Wenn aber das Museum das Fernsehen zu problematisieren versucht, steht es vor gänzlich anderen Problemen, die vor allem inszenatorischer und rezeptiver Natur sind, wie in den nachfolgenden Kapiteln verdeutlicht wird. Umso stärker gilt, um der Argumentation des New Yorker Historikers Mike Wallace zu folgen, dass sich Fernsehmuseen nicht den Instrumenten und den Techniken des Fernsehens ausliefern, sondern eigene Wege finden, um eben diese zu reflektieren: „Museums need not limit themselves to borrowing tools and techniques from the media world. They can also become places that interpret the media world itself" (Wallace 1995: 111). 4.1.3. Ausstellung des Ausgestrahlten: Kommunikative Vermengung konträrer Vermittlungsansätze In seiner nur zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichten Theorieschrift suggerierte der französische Kunstsammler und spätere französische Minister für kulturelle Angelegenheiten Andre Malraux, dass für die Kunstmuseen der Welt eine neue Epoche begonnen habe; denn „ein imaginäres Museum, wie es noch niemals da war, hat seine Pforten aufgetan" (Malraux 1987: 12). Malraux sah in den Möglichkeiten der fotografischen Reproduktion von Kunstwerken eine neue Entwicklung bei der Beschäftigung, der Betrachtung und „Intellektualisierung" von Überlieferungen, die kein Museum der Welt leisten könne: Die Kunst der Welt, ob wertvolle Gemälde, große und kleine Skulpturen, unverrückbare Architektur, temporäre Performanzen, werde in der Fotografie versammelt und somit direkt miteinander vergleichbar. Das „imaginäre Museum" zwinge den Betrachter auf diese Weise zu „einer Auseinandersetzung mit allen Ausdrucksmöglichkeiten der Welt, die es in sich vereint" (Malraux 1987: 9). Malraux stellte ab auf die Aufhebung von raumzeitlichen Distinktionen durch die mediale Repräsentation, auf die Zusammenführung von Abbildern aus unterschiedlichen Vergangenheitsebenen und aus unterschiedlichen Regionen in der Gegenwart sowie auf ihre ubiquitäre Verbreitung. Die Fotografie galt ihm mit der Metapher des Museums im Geiste als Medium der Dokumentation, Abstraktion, Konformisierung und Vergleichzeitigung sowie Vergegenwärtigung von diversen Kunstrichtungen und -epochen, als Anlass für den Betrachter, den Reichtum der Kunstgeschichte imaginativ zusammenzubringen. Folgt man Malrauxs Gedanken, bringt das Fernsehen in noch viel umfassenderem Maße die Mannigfaltigkeit

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der Welt in einem audiovisuellen Konzentrat zusammen und macht sie in konkreter Gegenwärtigkeit vergleichbar. Die „physische Realität" nach Siegfried Kracauer wird in ihrer Dynamik für den Rezipienten in televisuelle, telepräsente Repräsentationen übersetzt (vgl. Kapitel III.6.1.). Doch wenn das Fernsehen als audiovisueller Ausstellungsarm des mit der fotografischen Reproduktion geschaffenen imaginären Museums der dokumentierbaren Weltengeschicke begriffen werden kann, mag es dann auch als solches seiner selbst dienen? Freilich verfügt jeder Fernsehzuschauer über seinen ganz eigenen Erfahrungsschatz an Fernsehmomenten, doch müssen diese in der Erinnerung ungeordnet, fragmentiert und ungenau bleiben. Fernseherinnerung ist immer gebunden an eine audiovisuelle Auffrischung, für die es offenbar keine besseren Vorkehrungen gibt als heute: Angesichts des hohen Anteils an wiederholten Sendungen im laufenden Programm, einschließlich ausgewiesener Retrospektiven zu bestimmten Themen und Personen, Nostalgie-Shows mit Blicken in die facettenreiche Fernsehgeschichte oder Bildungssendungen zum Thema Fernsehen ließe sich leicht vermuten, es selbst könne als Museum seiner selbst fungieren. Dass dieser Schluss zwar nahe liegt, aber zu kurz reicht, ist im Expertenkreis unbestritten. Zwar weise das Fernsehen bestimmte Züge eines medienimmanenten Museums auf, wie unter anderem Peter Schwirkmann (DK) einräumt, jedoch gewährleisteten Wiederaufführungen oder anderweitige Veröffentlichung historischer Programminhalte zum Beispiel auf Leih- und Kaufmedien oder im Internet immer nur eine eingeschränkte Zuwendung zur Fernsehgeschichte, zumal diese auf einer fragwürdigen Auswahl beruhe, wie Michele Hilmes (WCFTR) im Rekurs auf eine Äußerung des Film- und Fernsehwissenschaftler Tom Schatz von der Universität von Texas anmerkt: ,,[I]f you are talking about average viewers, people who don't study television, but only live with it, it is so interesting how television is it s own historian. Actually [... ] Tom Schatz said something that was a classic epigraph. He said: Television is its own museum, but commerce is the curator. It's so catchy, I loved it. It's a great phrase. So television tells a lot of its own history, and of course its not a very good history, it is rather self-serving and forgetful and certain things rise to prominence" (Michele Hilmes, WCFTR). Die hier anklingende Distinktion zwischen der professionell fernsehwissenschaftlichen Annäherung an das Problem der Selbstdarstellung und Selbstthematisierung des Mediums auf der einen und der gewöhnlichen Wahrnehmung des selbstreferentiellen Fernsehprogrammangebots durch den Durchschnittsnutzer auf der anderen Seite soll verdeutlichen, dass die verbreitete Rezeptionsform des Fernsehens die Reflexion seiner Geschichte nur bruchstückhaft und tendenziös zulässt. Ähnlich sieht es auch Thomas Beutelschmidt (HUB), der zwischen der Erinnerungsveranlassungsfunktion von Wiederholungen und der musealen Kontextualisierung von Programmüberlieferungen differenziert: „Ich würde das mit dem musealen Begriff nicht benennen. Aber die Wiederholung ist natürlich eine historische Aufarbeitung und eine Bewusstwerdung, von wo der Zuschauer herkommt. Das ist für das Fernsehen ein weiterer Beleg seiner eigenen Existenz und seiner langfristigen Geschichte." Die programmstrategische Entscheidung,

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Fernseherbe-Verwaltung

eine historische Sendung zu wiederholen, hänge aber nicht von Bewertungskriterien ab, die im Museum zum Tragen kämen. Das Fernsehen wendet sich zwar immer wieder seiner eigenen Programm- und zu bestimmten Anlässen auch seiner Institutions- und Akteursgeschichte zu, zum Beispiel wenn ein Jubiläum ansteht. Das laufende Programm ist dadurch zwar geeignet, Fernsehgeschichte auszustellen, jedoch hapert es dem Fernsehen und seinen Verantwortlichen an dem Willen, aber auch an der Fähigkeit, die eigenen Mechanismen und Prinzipien, also schlichtweg die Tiefendimensionen der televisuellen Medialität zu hinterfragen. Alexander Kluge hat dem Medium einmal eine inhaltliche Eindimensionalität attestiert: Fernsehen habe mit „fernem Sehen" im Grunde nichts gemein. Die Sender machten „ja eigentlich Vordergrund, sie machen eine Tapete" (Kluge 1 9 9 0 : 3 1 ) . Diese zweifellos streitbare Kritik an der unterstellten Oberflächlichkeit von Programmangeboten trifft zielsicher den Kern eines strukturellen Reflexionsproblems, dass es dem Fernsehen unmöglich macht, ein historisch differenziertes Bewusstsein seiner selbst zu vermitteln: „Wie eine große Bilderflut wälzt sich das vielkanalige Fernsehen mit seinen Programmflüssen, den unüberschaubar gewordenen Folgen von Einzelsendungen durch die Zeit. Weil in diesen Programmen so viel von dem in den Archiven gelagerten historisch gewordenen Materials ständig neu vergegenwärtigt wird, ständig auch in neue Kontexte gestellt wird, immer wieder in neuen filmischen Verbindungen in unterschiedlichen Argumentationsketten eingebaut wird, verliert es seine Besonderheit als Darstellung des Vergangenen" (Hickethier 1993: 20). Handelt es sich bei der zeitbezogenen Gleichmacherei des Programmbetriebs, der Altes und Neues in einen zirkulären Lauf der Wiederverwertung (statt eines Wieder-Holens), der Neukontextualisierung (statt einer historischen Einbettung) und der Selbstbestätigung (statt Selbstvergewisserung) bringt (vgl. auch Kapitel III.9.3.), um eine bedachte wie bewusste Entscheidung auf Basis gegenwartsfixierter Persuasions- und Seduktionsanstrengungen, die den Rezipienten ein unmittelbares, .nahes' Fernseherleben suggerieren soll, damit also Ausdruck des Perspektivitätsmonopols der Sendeverantwortlichen ist, das den Programminhalt als zu konsumierendes Gut deklariert, fehlt dem Fernsehen schon aus seiner medialen Konstitution heraus die Option, sich selbst zu musealisieren. Was der elektronischen Audiovision im Allgemeinen und dem Fernsehbetrieb im Besonderen vorenthalten bleiben muss, ist die inszenatorische Distanz zur eigenen Medialität: Das Fernsehen kann keinen Schritt vor sich selbst zurücktreten, sozusagen in der Zeit innehalten und zurückschauen, um sich selbst und die Televisualität der Weltwahrnehmung in Frage zu stellen, wenn es nur auf seine Übertragungs- und Darstellungsmittel zurückgreifen kann und seinem Programmschema verpflichtet bleibt. PBS-Archivar Glenn Clatworthy urteilt demgemäß: „Television is inherently a presentation medium that means that it is used for purposes like promotion and self-promotion." So weist das Fernsehen zwar eine hohe Selbstreferentialität durch Wiederholungen ganzer Sendungen oder Sendungsteile auf und bezieht sich auch im aktuellen Produktionsbetrieb stets auf sich selbst, indem sich explizit und implizit an früheren Formaten orientiert wird. Doch

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eine die eigenen Logiken und Determinanten überwindende und erst wirksame SelbstReflexion kann im laufenden Programm nicht erfolgen: Um zu einem vielschichtigen Selbst-Bewusstsein zu kommen und dieses selbstausstellend inszenatorisch zu reflektieren, müsste das Fernsehen losgelöst aus dem Programmstrom seine Konstruktionen dekonstruieren, geleitet von einem historischen Erkenntnisinteresse für das eigene Werden. Programmstruktur und Präsentismus lassen indes nicht zu, dass sich das Medium im Kontext seiner eigenen Historizität zu begreifen fähig oder bereit wäre, geschweige denn es den Rezipienten ermöglichen würde, solche Intussuszeptionen im unentwegten Programmgeschehen wahrzunehmen. Kurzum: Das Fernsehen kann nicht aus seiner Haut, und das Museum verspricht, Fernsehwerke aus den imperativen Kontexten des Programmbetriebs zu lösen und erst dadurch ihren historischen Kontext freizulegen. Die an sich an historischen und selbstreferentiellen Motiven reiche Angebotsebene wird also trotz der authentifizierenden Qualitäten der Fernsehwirklichkeit und der konstant hohen Wiederholungsquote vom Programmbetrieb eingeebnet, so dass das Fernsehen selbst nicht jene Verbindlichkeit, Kontinuität und die Erfahrungsqualität hat, die den reflektierenden Direktkontakt mit Überlieferungen aus der Vergangenheit im Museum auszeichnet. Während die Macht des Fernsehens in seiner Ubiquität zulasten der Dauerhaftigkeit seiner Vermittlungsleistungen verankert ist, liegt die Macht des Museums in seiner örtlich fixierten Permanenz. Trotz dieser offensichtlichen Differenzen ließe sich aus der Sicht des Museumsbesuchers feststellen: Eine Ausstellung zu betrachten sei so ähnlich, wie dreidimensional fernzusehen, das heißt: in die Ferne, andere Epochen, Länder und Kulturen zu schauen (vgl. Silverstone 1994: 162). Doch das signifikante Unterscheidungsmerkmal des Museums ist die auratisierende Distanz, die es gegenüber seinen Exponaten einnimmt - und die dem Fernsehen im Verhältnis zu seiner selbst fehlt. Für Andre Malraux wie auch für Walter Benjamin war die durch das Museum verliehene Aura historischer Überlieferung die geeignetste Voraussetzung für die intellektuelle und doch emotionale Erschließung von Zeugnissen aus der Vergangenheit. Benjamin konstatierte, dass die historische und historisierende Authentizität der Museumsausstellung in der intuitiv spürbaren und magisch konnotierten Aura ihrer Exponate verankert sei: „Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgend, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen" (Benjamin 1974: 440). Reflexion braucht Abstand, Einsicht braucht die Drauf- und Übersicht. Aura lässt sich somit auch mit jener mnemischen Energie beschreiben, die bereits Aby Warburg den von ihm identifizierten Pathosformeln in Kunstwerken zugesprochen hatte. Ivan Harris (CBC Museum) spricht wiederum von einer romantischen Aura, die von alten Fernsehrealien ausgehe. Die Aura von Überlieferungen, die den Betrachter trotz physischer Nähe auf Abstand hält und so einen Raum der Reflexion, Analyse und Einsicht schafft, entsteht erst im Museum als kulturell befugte Historisierungsinstanz, wie der Kunsthistoriker Veit Loers schreibt, und kommt und geht je nach ihrem ausstellungsimmanenten, kontextuellen Umfeld: „Diese

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Aura des wieder ins Leben getretenen Dings verblasst, wenn es dem Genius loci entzogen der restauratorischen Konservierung harrt, um erst wieder wie der Phönix aus der Asche unter dem Spotlight der Museumsvitrine zu erstrahlen. [...] Das schmerzliche Wiedergeborenwerden aus dem Grab der Zeit bewahrt den einstigen Dingen des täglichen Lebens für kurze Zeit einen Schimmer, den sie in ihrem ersten Leben nie besaßen" (Loers 1994: 49). Hier liegt der besondere Vorteil des Fernsehmuseums gegenüber dem Fernsehbetrieb: Der dem Museum zu verdankende auratische Schimmer ist im laufenden Programm undenkbar. Es gibt Museumsschätze, nicht nur weil Überlieferungen ihre authentische Anmut in sich selbst bewahren, sondern in erster Linie weil ihnen qua institutioneller Expertise eine besondere kulturelle Bedeutung angediehen wird. Museale Exponate können durch ihre Aura lehren und/oder Nostalgie hervorrufen, selbst für unbekannte Zeiten (vgl. auch Dijck 2007: 36). Die Heterotopic des Museums ist eben deshalb so bedeutend für die Mediengesellschaft, weil sie Vergangenheit als solche erfahrbar macht und narrativ kontextualisiert, wo textbasierte Dokumentation und die Audiovisionen der Massenmedien allein nicht ausreichen, um sich der Vielschichtigkeit von Geschichte und Gedächtnis zu nähern (vgl. auch Phillips 2005: 108). Museen füllen eine Lücke in der der Öffentlichkeit zugewandten Kulturerbe-Verwaltung, indem sie den „gärtnerische [n] Umgang mit Zeit" pflegen und langfristig „die Erzeugung [...] von intensiven, trächtigen, von reichen, erfahrungshaltigen Zeiten [...] inmitten gegenwärtiger Emsigkeit und Ruhelosigkeit" bewirken (Kluge 1990: 38). Weil genuine Fernsehmuseen lange Zeit auf sich warten ließen und erst Mitte der 1970er Jahre mit dem Museum of Broadcasting in New York eine Institution gegründet wurde, die sich der Fernsehprogrammgeschichte annahm, wurden und werden zu großen Teilen noch die individuellen und kollektiven Erinnerungskonfigurationen im Hinblick auf die Fernsehgeschichte einseitig von den seitens der Programmverantwortlichen konstruierten Mustern bestimmt. Auch wenn die Initiativen zur Schaffung musealer Einrichtungen rund um das Fernsehen zunächst noch stark vom Bewusstsein der Macher, also der Regisseure, Autoren und Manager geprägt waren wie im Falle William S. Paleys und Bruce DuMonts in den USA sowie Eberhard Fechners bei der Entwicklung einer „Deutschen Mediathek", haben sämtliche in der vorliegenden Untersuchung berücksichtigen Fernsehmuseen - wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung - erkannt, dass die Annäherung an die Fernsehvergangenheit nicht ohne eine eingehende Beschäftigung mit der Rezipientenperspektive auskommen kann. Allein diese, so unterstreicht auch Jane Johnson (LC), könne durch die Integration aller erfahrungsrelevanten Aspekte dabei helfen, sich und seine Beziehung zum Fernsehen zu verstehen und somit gedächtnisrelevante Erkenntnisse zu fördern. Das Sendungsbewusstsein eines Fernsehmuseums steht jenem des Fernsehbetriebs also zwangsläufig entgegen: Während das Fernsehen die Inhalte seines Angebotsspektrums in den Vordergrund stellt und darüber versucht, Bindungen mit dem Zuschauer einzugehen, ist das Museum als historisierende und daher immer analytisch arbeitende Institution charakterisiert, die sich kontextuell mit dem Wie, dem Warum und den Ef-

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Fernsehmuseen

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fektmodalitäten des Fernsehbetriebs beschäftigt und daher mehr leistet als einen reinen Zugang zu Sendungsinhalten. Wahrend das Fernsehen stets bestrebt ist, seinen audiovisuellen Anschein zu wahren, um einer Dekonstruktion der durch seine Programmangebote vermittelten Erfahrungswelten entgegenzuwirken, ist es die Aufgabe von Museen, hinter diese Fassade zu blicken, ohne sich und seine Besucher jedoch von seinem medialen Betrachtungsgegenstand zu entfremden. Mark Quigley vom UCLA Film and Television Archive beschreibt daher auch die Hauptaufgabe eines Fernsehmuseums „in terms of exhibition and actually actively examining television in a public sense". Aus der hier angesprochenen Begutachtungs-, Prüf- bzw. Überwachungsfunktion im Hinblick auf das Fernsehen sowie seine historische und aktuelle Genese lässt sich ableiten, dass ein Fernsehmuseum das Medium in ein Verhältnis zu setzen hat zu den marktwirtschaftlichen, aber auch inhaltlichen und ästhetischen Entwicklungen anderer Medien (z.B. Radio, Kinofilm, Videospiele, Internet) - eine Aufgabe, die insbesondere in einem konvergierenden Medienumfeld an Bedeutung zunimmt, um Einflüsse, Abhängigkeiten und Prozesse der Medien untereinander aufzuzeigen, die durch die Eindimensionalität der medialen Selbstthematisierung nicht ohne weiteres an ihnen selbst abzulesen sind.64 Hierzu zählt auch, sich gesellschaftsfunktional unterschiedlich herleitende und teils auch zueinander in Opposition stehende Blick- und Herangehensweisen sowie professionelle Bezüge unter anderem von Fernsehmachern, dem allgemeinen Publikum, der Wissenschaft und Journalisten wie beispielsweise der Fernsehkritik zu behandeln zwecks Aufarbeitung der intermedialen Relationierungen des Fernsehens sowie seiner vielfältigen Tiefendimensionen (vgl. Abb. 5).

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Selbstreflexion ist hier als tiefergehende, kontextualisierte Selbstbetrachtung zu verstehen, die im gewöhnlichen Programmbetrieb mittelssuggerierter.BlickehinterdieKulissen'odermitSendungen, in denen amüsante Pannen bei der Produktion oder Sendeabwicklung aneinandergereiht werden, nicht geleistet wird bzw. werden kann.

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

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Fernsehmacher

Videospiele

Kinofilm

Radio

Internet

Allgemeine Zuschauerschaft Abbildung 4: Schaubild links: Die Unfähigkeit des Fernsehens zur Selbstreflexion sowie seine notorische Selbstreferentialität (Eindimensionalität, Schaubild links) begründen die Ziele und Aufgaben eines Fernsehmuseums (Schaubild oben): Diese liegen maßgeblich in der integrativen und multi-perspektivischen Aufarbeitung der Vielschichtigkeit des Fernsehens sowie seiner Relationierung zum medialen Umfeld (eigene Darstellung). Insgesamt lassen sich folgende komplementär angewandte Vermittlungsansätze differenzieren: - Intermedial-relationierender Ansatz: Fernsehmuseen setzen das Medium und seine diversen Hervorbringungen, Mechanismen, Determinanten und Logiken in Bezug zu den übrigen audiovisuellen Medienfeldern, die zunehmend in einen Konvergenzprozess geraten und sich auf unterschiedlichen Ebenen (z.B. Personal, Inhalte, Ästhetik, Distribution, Rezeption) zueinander annähern.

IV.4. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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- Perspektivischer Ansatz: Fernsehmuseen sind als kulturell verankerte Einrichtungen im Dienste der allgemeinen Öffentlichkeit dazu gehalten, möglichst viele unterschiedliche Sichtweisen innerhalb der gesellschaftlichen Bezugsstruktur zum Leitmedium Fernsehen zu thematisieren und dadurch eine multi-perspektivische Auseinandersetzung mit den Angeboten, Strategien und Prinzipien des Fernsehens anzustoßen und seine Funktionen und Dysfunktionen zu analysieren. - Tiefenanalytischer Ansatz: Fernsehmuseen sind in der Lage, das Fernseherleben mittels ihrer institutionellen Distanz zum Medium auf intellektuell-analytischer Ebene zu hinterfragen sowie die Hintergründe von Sendeabwicklung und Programmbetrieb offenzulegen. Die (historischen) Tiefendimensionen des Fernsehens werden erst durch ihre Entschleierung qua Museumserfahrung für ein breites Publikum verständlich. Museen erzählen ebenso Geschichten wie das Fernsehen, die einem spezifischen Thema gewidmet sind, und versuchen den Betrachter davon zu überzeugen, dass das Erzählte wichtig, schön und/oder wahr ist (Silverstone 1994:166). So wie das Fernsehen unablässig Fernsehwirklichkeiten erschafft, folgen auch Museen Inszenierungsstrategien, beispielsweise einer „sinnlich erregenden und herausfordernden Geschichtsvermittlung" (Korff 1990: 319). Schon das räumliche Arrangement von Ausstellungselementen ist eine Form inszenatorischer Darstellung, die eine Deutungsrichtung vorgibt. So sehr sich Museen im Allgemeinen und ebenso Fernsehmuseen durch eine sinnlich-ästhetische Wahrnehmung auszeichnen (vgl. ebd.: 332), desto wichtiger wird die Vermittlung inhaltlicher Aspekte, um den Zielsetzungen der oben genannten Vermittlungsansätze zu entsprechen. Musealisierte Objekte sind in ihrer zwar authentischen, aber unspezifischen Ästhetik grundsätzlich nicht selbsterklärend - auch Fernsehsendungen nicht - sondern bedürfen einer differenzierten Einordnung und können daher auch je nach Ausstellungskontext neue Werte annehmen (vgl. Schärer 2003: 66). Die Notwendigkeit der Interpretation des Sammlungsgutes schließt kein Exponat aus: Dreidimensionale Artefakte haben einen ebensogroßen Erklärungsbedarf wie Bilder und Töne. Auch hier unterscheidet sich das Museum in seinen Instrumentarien nicht sehr vom Fernsehen: Um zu kontextualisieren, bedient es sich der Narration. Ausstellungen nutzen vornehmlich optische Metaphern, da „letztlich nicht physische Dinge, sondern attributierte Werte zeichenmäßig visualisiert" werden (ebd.: 87). Doch das macht umso dringlicher, dass es für den Besucher nicht bei einem visuellen Eindruck bleibt. Fernzusehen wie auch ein Museumsbesuch fordern dem Besucher automatisch eine geistige Auseinandersetzung mit dem Ausstellungarrangement ab. Es gilt, die Darstellungen zu beobachten, zu reflektieren, sich die relevanten Eindrücke zu merken und sie in den persönlichen kontextuellen Erfahrungsrahmen einzuordnen (vgl. Hooper-Greenhill 2000: 105). Eine Museumsausstellung ist - ebenso wie eine Fernsehsendung - wie ein Text, der gelesen werden muss (Silverstone 1994:166; vgl. auch Ernst 1992:11). Es gilt daher, beim Besucher die Bereitschaft zu fördern, sich mit der Ausstellung aktiv auseinanderzusetzen, Bedeutung zu konstruieren und die multi-temporale, multi-mediale und multi-perspektivische Heterotopic des Fernsehmuseums auf sich wirken zu lassen:

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung „The museum as medium should resist the temptation of becoming a media theater in a kind of mimicry of cinema where the MGM fanfare resounds, the lion roars, and the history of the Middle Ages starts to get told. It should always be clear that the museum visitor is in a kind of archive, in a collection of materialities, not to be confused with the narratives symbolically or imaginarily (in the form of accompanying labels or of discourse, respectively) wrapped around them. Museographical dramaturgy is about the art of displaying missing links and about creating a sense of distance; only when space is left can the imagination of the viewer step in, and objects communicate with each other" (Ernst 2000: 33).

So auratisierend-distanziert das Ausstellungserleben inszenatorisch konzipiert wird, um Reflexionsräume zu schaffen, erfordert die Engagierung des Besuchers die Generierung von Erlebnisqualitäten, was dessen Einbindung in die Ausstellungskonstruktion voraussetzt. Dies jedoch wird durch die Komplexität des Wahrnehmungsspektrums innerhalb räumlicher Ausstellungskonfigurationen erschwert, weshalb Strategien der intellektuellen und emotionalen Beteiligung von Besuchern der Gefahr einer nur flüchtigen Beschäftigung mit den einzelnen Ausstellungsmodulen begegnen müssen, um nicht kontraproduktive Ergebnisse zu erzielen: „Die Ausstellung ein Medium der dritten Art. Das Spektrum der ihr zur Verfügung stehenden Zeichen ist breitgefächert. [...] Die Möglichkeiten der Gruppierung der Objekte und der Gestaltung der Räume sind grenzenlos. Ebenso weitläufig sind die möglichen Vermittlungsstrategien, die textuell, auditiv, audio-visuell, personal oder digital funktionieren können. Auch von der Rezipientenseite her ist der dreidimensionale Text einer Ausstellung im Vergleich mit Texten anderer Medien flüchtiger und komplexer. Ein Fernseh- oder Kinotext ist in seiner Erscheinung gebündelt, die Textquelle ist örtlich fixierbar; und selbst bei dieser Bündelung ist ganz unwägbar, was und wann der Rezipient aufnimmt. Wieviel größer sind die Variablen bei einem begehbaren Text, und was heißt das für die kommunikativen Möglichkeiten?" (Wohlfromm 2001: 30). Interaktion im Museum ist also notwendig und braucht ein Medium, das sie zulässt. Angesichts dessen, dass innerhalb des Fernsehprogrammbetriebs die unmittelbare Partizipation des Rezipienten nur in rudimentären Ansätzen umgesetzt werden konnte wie beispielsweise bei der Möglichkeit, sich mit Wortbeiträgen per Telefon oder Internet an Shows oder Diskussionsendungen zu beteiligen, besteht das Risiko, dass auch Fernsehmuseen in ihren Ausstellungskonzepten in dieselbe Richtung zielen und die Implementierung ausgereifter Rückkopplungsmöglichkeiten für den souveränen Zuschauer bzw. Besucher vermissen lassen. Das Museum jedoch ist als räumlicher Anlaufpunkt bereits als offenes Kommunikationssystem konzipiert, als Ort, wo soziale Interaktion zustande kommt. Eine Ausstellung ist immer ein kreativer Akt und dient der Kommunikation innerhalb eines vorgegebenen Informationssystems, durch das Botschaften zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart und zwischen musealer und lebensweltlicher Realität entworfen und kommuniziert werden (Maroevic 1998: 269).

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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Durch Ausstellungen kommuniziert das Museum Inhalte, präsentiert seine Sammlungsstücke und entwirft sich beständig neu, wobei der Besucher aktiv an einem kommunikativen Prozess teilnimmt, der je nach Ziel, Thema und Konzeption der Ausstellung unterschiedliche Strukturen aufweisen kann. Hooper-Greenhill verweist auf zwei gängige Kommunikationsmodelle, die in Museen zur Anwendung kommen (Hooper-Greenhill 1999a: 16-17): Das Übertragungsmodell beschreibt die Kommunikationssituation als lineare Sendung von Informationen. Ausgehend von einem Urheber und übertragen von einem Vermittler, wird die Mitteilung von einem Empfänger rezipiert und verarbeitet. Aktiv ist in diesem Kommunikationsverhältnis nur der Sender, also das Museum. Dieses Modell entspricht dem bereits früh von der Kommunikationswissenschaft verworfenen Sender-Empfänger-Modell, das dem Rezipienten eine passive Rolle bei der Mediennutzung zuschreibt (vgl. Kapitel III.3.1.). Der kulturelle Ansatz dagegen stellt die Museumskommunikation unter das konstruktivistische Paradigma und versteht Kommunikation nicht linear, sondern dynamisch als gemeinschaftliche Partizipation am Deutungsprozess. Realität wird in diesem Modell nicht als Tatsache begriffen, sondern als ein vom Individuum im ständigen Austausch mit seiner kulturellen Umwelt innerhalb gemeinschaftlicher Interpretationsrahmen neu aushandelbarer Kompromiss. Hierbei hat weder das Museum noch der Besucher die Deutungshoheit. Erfolgreiche Kommunikation in Form eines Erkenntnisgewinns auf beiden Seiten ist von den jeweiligen individuellen und kollektiven Interpretationssituationen abhängig. Gleichwohl räumt Hooper-Greenhill ein, dass trotz der Erkenntnisse der kommunikationswissenschaftlichen Forschung die Anwendung der Modelle in der Museumspraxis viele Versäumnisse aufweise und sich noch immer stark an dem linearen Kommunikationsmodell der Übertragung orientiere,65 obgleich etwa die Fernsehnutzungsforschung eine umfangreiche Erkenntnisbasis biete, von der auch Museen lernen könnten (vgl. Hooper-Greenhill 1995: 9). Insbesondere Fernsehmuseen sind hier im Vorteil, weil sie sich beim konkreten Umgang mit ihrem Sammlungs- und Ausstellungsgegenstand an den umfangreichen Ergebnissen der Fernsehforschung orientieren und diese für ihre eigene Vermittlungsarbeit umsetzen können. Der Erfolg bei der Umsetzung von Partizipations- und Feedbackmöglichkeiten in Museen hängt grundsätzlich vom jeweiligen Ausstellungsansatz ab. In ihren Überlegungen zu Strategien kultureller Repräsentation in Museen und ihrer Beeinflussung durch digitale Medien unterscheidet Anja Wohlfromm zwischen drei maßgeblichen Ansätzen, welche die kommunikativen Möglichkeiten innerhalb von Museumsausstellungen prädisponieren (vgl. Wohlfromm 2001: 30-31):

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Unter den befragten Experten äußert sich auch Joseph Hoppe (DTM) in gleichlautender Weise, indem er auf die Bereitschaft von Museen zu sprechen kommt, auf Feedback seitens ihrer Besucher einzugehen: „Das hängt natürlich davon ab, ob überhaupt Feedback erzeugt wird, und ob es eine Auswertung für dieses Feedback gibt. Viele Museen wollen das gar nicht. Ich kann Ihnen jede Menge Kollegen nennen, die ihren Job für getan halten, wenn die Ausstellung fertig ist. Die Leute sollen dann damit halt machen, was sie wollen. Es gibt also zum Teil eine extreme Unterentwicklung von solchen Feedbackmechanismen."

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

- Beim wissenschaftlich orientierten Ansatz wird auf eine wohlgeordnete und klassifikatorisch differenzierte Ausstellungsform gesetzt, die sich durch detailierte Beschreibungen und Exponate von klarer Aussagekraft auszeichnet. Hier wird auf die offensichtliche Authentizität von historischen Überlieferungen vertraut, die - unterstützt von Kontextinformationen - eine eindeutige Lesart der Vergangenheitsrepräsentation vorschreiben. Hier ist eine Debatte über Echtheit, Relevanz und Bedeutung von Ausstellungsstücken hinfällig, da aus Sicht des Museumskuratoriums bereits die historische Wahrheit ausgestellt ist. - Oer pädagogisch orientierte Ansatz folgt einem autoritären Lehrbegriff und ist in erster Linie auf eine allgemeine Verständlichkeit der Ausstellung ausgelegt. Eine nach Möglichkeit lückenlose Präsentation des Ausstellungsthemas soll günstigenfalls keinerlei Fragen offen lassen oder Zweifel an den kommunizierten Inhalten regen, sondern ihre optimale Aneignung gewährleisten, was einen Konsens über die unstrittige Aussagequalität der Exponate zur Bedingung macht. Dies hat zum Nachteil, dass freie Deutungsmöglichkeiten für den Ausstellungsbesucher nahezu ausgeschlossen sind. - Für den assoziativ-narrativ orientierten Ansatz ist kennzeichnend, dass er in seiner Offenheit und fehlenden Spezifität beide vorhergehenden Ansätze negiert. Ein diesem Ansatz folgendes Museum löst sich von den Tendenzen der Überpädagogisierung und Verwissenschaftlichung, um dem Besucher möglichst weite Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten. Dadurch wird der Besucher jedoch auch bis zu einem bestimmten Grad mit der Ausstellung allein gelassen und muss sich die Bedeutung von Exponaten selbst erschließen. Hier steht das Wirkungspotenzial der Ausstellungsdramaturgie im Vordergrund mit der Gefahr, dass insbesondere bei einem Fernsehthema die Suggestionskraft der Programminhalte sowie die daraus resultierende Missdeutungs- und Manipulationsrisiken denselben Effekt hervorrufen wie bei der herkömmlichen Fernsehrezeption und sich dadurch kein Mehrwert im Sinne eines Erkenntniseffekts einstellen könnte. Je stärker sich Museen demzufolge nicht nur dem Medium an sich widmen, sondern sich darüber hinaus auch an den Sendungsprinzipien orientieren, ohne eigene, den musealen Wahrnehmungskontexten folgenden Kommunikationsstrategien zu entwickeln, kann es entweder zu einer Über- oder Unterversorgung des Besuchers mit Informationen kommen, da eine Einbindung des Besuchers bzw. Rezipienten im notwendigen Umfang ausbleibt. Im Anschluss an Andreas Huyssens Kritik an der Immaterialität des Fernsehens, dessen Bildern jede Kompatibilität zur „materiellen Realität" fehle (vgl. Huyssen 1995: 34), hat die britische Fernsehwissenschaftlerin Amy Holdsworth auf die ungewöhnlichen Herausforderungen hingewiesen, mit der Fernsehmuseen konfrontiert werden, wenn sie sich für die Ausstellung von Fernsehprogramminhalten entscheiden: „If we view television as a possible point of collective identification rather than a .vanishing act', then the galleries and collections [...] act as a place to share and affirm experiences and memories of our television autobiographies" (Holdsworth 2008: 142).

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Fernsehmuseen

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Als Ort des Austausches und der Vergewisserung von Fernseherinnerungen und personale, durch das Fernsehen geprägte Identitäten biete das Museum dann „an alternative form of anchoring, allowing us to reclaim, via the television image, a sense of time and memory" (ebd.). Nicht in der Historizität singulärer Exponate besteht demnach die museale Erfahrungsqualität, sondern in der intra- und interpersonalen Auseinandersetzung mit der eigenen Rezeptionsvergangenheit, aus der wiederum ein entscheidender Anteil der Auratisierung einzelner Überlieferungen entspringt. Die Funktion von Fernsehüberlieferungen im Museum dient somit zur Erinnerungsveranlassung und gleichsam zur Animation einer diskursiven Rekapitulation des Ausgestellten. Klarer als andere historische Zeugnisse resultiert die Relevanz von Fernsehprogramminhalten aus ihrer Aneignung durch breite Publikumsschichten und Zuschauergenerationen. Da derart operierende Fernsehmuseen zumindest teilweise nicht der materiellen Typizität eines herkömmlichen Museums entsprechen können, muss das Publikumsmedium vom Publikum diskursiv aufgearbeitet werden. Fernsehmuseen können sich also nicht mit der einseitigen bzw. massenmedialen Übertragung von Kommunikationsinhalten zufriedenstellen, wie es bei traditionellen Ausstellungen der Fall ist, die in ihrer Grundstruktur schwer zu dynamisieren sind, sondern muss sich vielstimmigen Auffassungen öffnen. Fernsehen als Museumsthema im Konzert mit der Nutzung verwandter elektronischer und digitaler Medientechnologien machen es möglich, nicht nur besucherorientierte Ausstellungkonzepte zu entwickeln, sondern den Besucher als souveränen Rezipienten wahrzunehmen und ihn auf seine diesbezüglichen Rolle und Verantwortung aufmerksam zu machen: ,,[T]he whole idea of the visitor becoming part of the exhibit is something that is possible with the new technology" (Sam Kula). Dies nimmt indes auch den Besucher in die Pflicht, über das Grundprinzip, dass „Besucher nicht nur Beschauer und Rezipienten" sein sollen, sondern von ihnen auch „kognitives Lernen, Dialogfähigkeit und persönliche Anstrengungen" gefordert wird (Vieregg 2006: 274), hinaus auch eine tatsächliche Partizipations- und Reflexionsbereitschaft zu zeigen. Generell stehen dem Publikum innerhalb einer Museumsausstellung nur wenige Möglichkeiten zur spontanen Resonanz zur Verfügung, da zwar Exponate und zusätzliche Textinformationen vorhanden sind, durch die Botschaften kommuniziert werden, aber Kuratoren oder gar Historiker bzw. anderweitige Experten zur unmittelbaren Anschlusskommunikation fehlen (vgl. Crane 1997: 48). Dagegen bietet ein Museum mehr als nur Ausstellungen, sondern kann seine kommunikativen Potenziale bei bestimmten Veranstaltungen durch die Anwesenheit von kuratierendem Museumspersonal sowie weiteren geladenen Gästen verwirklichen. Im Museumsalltag wird oftmals allein die Möglichkeit eingeräumt, einen schriftlichen Kommentar im Besucherbuch zu hinterlassen, das zwar in bestimmten zeitlichen Abständen seitens des Kuratoriums ausgewertet wird, aber vollständig den Wert und die Funktion direkter Kommunikation entbehrt. Hooper-Greenhill übt dabei grundsätzliche Kritik an der gemeinhin festzustellenden Reduzierung der kommunikativen Prozesse innerhalb des Museums auf die Ausstellungsarbeit; die Mu-

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IV. Status Quo und Perspektiven

der

Fernseherbe-Verwaltung

seumskommunikation müsse vielmehr ganzheitlich verstanden werden und möglichst viele Aspekte des Museums mit einbeziehen (Hooper-Greenhill 1999b: 40-41; vgl. auch Abb. 6). Angesichts der hohen Bedeutung diskursiver Vergegenwärtigungs- und Kommunikationsprozesse in Fernsehmuseen ist dieser Ansatz zur integrativen Gestaltung der Museumserfahrung ein signifikanter Faktor bei der Operationalisierung von Museumsaktivitäten. Ron Simon vom Paley Center for Media argumentiert ebenfalls in diese Richtung: „Almost everything is part of the museum's work. The core of the museum is our collection. But all the auxiliary events do contribute to how people approach the museum as a brand, how people approach the museum as to what it is. [...] Almost everything is perceived as a museum-function" (Ron Simon, PCM).

Abbildung 6: Museumskommunikation beschränkt sich nicht allein auf die Ausstellungserfahrung, sondern fasst zahlreiche interne und externe Aspekte des musealen Angebots mit ein. Der qualitative Gesamteindruck der von der Museumsöffentlichkeit wahrnehmbaren Aktivitäten und Angebote eines Museums, der mit dem Begriff des „Museums-Image" beschrieben werden kann, unterliegt somit einer Vielzahl von Faktoren und Wertungskritieren, welche das Interesse und die Bereitschaft des Besuchers, sich im und für das Museum zu engagieren, beeinflussen. (Quelle: Hooper-Greenhill 1994: 51 / Eigene Übersetzung).

Φ

Museum-Image

Ulli

Wahrnehmungen - Einstellungen - Besuche

IVA. Museumsfemsehen,

Fernsehmuseen

357

Museen definieren sich daher nicht allein über die Einzigartigkeit ihrer Sammlung(en), sondern im überwiegenden Maß über ihre Beziehung zu den Besuchern und der damit verbundenen Glaubwürdigkeit der Institution (Skramstad 2004: 129-131). Insbesondere Fernsehmuseen können es aus diesem Grunde nicht bei der Sammlung, Pflege und Präsentation von Überlieferungen belassen, sondern tragen Verantwortung für die Funktionalisierung der Fernsehvergangenheit für das und mit dem Publikum. Um die Besucher grundsätzlich stärker für die Belange des Museums zu interessieren und in die Museumsaktivitäten einzubinden, hat Gaynor Kavanagh vorgeschlagen, Museumsbesucher nicht mehr in Form von Kundenbeziehungen zu adressieren, sondern sie als Partner wahrzunehmen (Kavanagh 1995: 125). Die Strategie partnerschaftlicher Einbindung von Besuchern verfolgen bereits einige der untersuchten Einrichtungen. So hat das MZTV Museu m schon im Jahre 1995 ein Projekt gestartet, mit dem Besucher per Videoaufzeichnung ihre Erinnerungen, Sichtweisen und Visionen in Bezug auf das Fernsehen artikulieren: ,,[W]e ask people, what their earliest memory of watching TV is and what they think the future of TV is and other questions. It's an interesting approach because over time we acquire different answers. There is a generational life today that will tell you that the earliest memory of watching TV was in their teens, was in their twenties. [...] There are only a very few people who can remember that. That's an interesting story" (Michael Adams, MZTV Museum). Hier wird der Besucher zum Teil der Ausstellung und trägt damit gleichzeitig zur qualitativen Überlieferungsbildung bei. Durch die lange Laufzeit des Projektes werden gleichzeitig Schwankungen und Wandlungsprozesse bei der Wahrnehmung und Bewertung des Fernsehens am konkreten Rezipienten dokumentierbar. Darüber hinaus werden bei einem solchen Oral History-Projekt Verhaltens- und mentalitätshistorische Entwicklungen festgehalten, die im Nachhinein wichtige Impulse bei der Aufarbeitung der Fernsehgeschichte geben und die Arbeit von Fernsehmuseen auf ein breiteres, die Nutzerinteressen und Zuschauerwahrnehmung umfassende Basis stellen können. Die sich daraus ableitenden Möglichkeiten bei der musealen Erinnerungsarbeit versus einer rein geschichtlich konzentrierten Auseinandersetzung mit dem Fernsehen sind vielfältig: „Given that so many museums are now heavily into oral and video history work, it might be interesting to go a step farther, by pitting memory-as-artifact against media-as-artifact. Imagine [...] exhibits could present mini-assessments of popular movies and TV series, perhaps asking .What did Ken Burns's Civil War leave out?' [...], or exploring John Kennedys assassination by branching off from Oliver Stone's JFK. Again, the point would be to strengthen visitors' historical skill by raising consciousness about how people learn about the past" (Wallace 1995:113). Abgesehen von dem Oral History-Projekt des MZTV Museums gibt es jedoch kaum entsprechende Bemühungen, die Museumserfahrungen der Besucher und ihre davon veranlassten Erinnerungskonstruktionen für die Arbeit von Fernsehmuseen zu funktionalisieren. Dabei werden Erinnerungselaborationen auch aus der allgemeinen Bevölkerung im Vergleich zur Darstellung von verbriefter Geschichte für museale Angebotskontexte

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

immer wichtiger: „Between UNESCO and the ICOM there has been a push to move to be more inclusive as cultural places rather to be just about things and monuments, but actually be about living, memories, oral history, testimony and this opens all those media questions, because that is how these are often recorded" (Lynne Teather, UT). Wenn auch die Einbeziehung von medial aufgezeichneten Erinnerungselaborationen wie beispielsweise aus einschlägigen Oral History-Formaten des Geschichtsfernsehens eine museumsübergreifende Demokratisierungstendenz bei der Vergangenheitsthematisierung darstellt, ist der sehr viel wegweisendere Schritt zu einer strategischen Dokumentation von Besuchererinnerungen in (Fernseh-) Museen noch nicht getan. Dieser stellt die betreffenden Einrichtungen vor ungekannte Herausforderungen: Wie derlei Aufzeichnungen, seien es schriftlich, zeichnerisch, fotografisch oder auch audiovisuell festgehaltene Schilderungen, zu ordnen, zu kategorisieren, zu gewichten und schließlich in Relation zu den Primärüberlieferungen des Fernsehgeschehens zu setzen sind, bleibt unklar, wie auch Museumswissenschaftlerin Teather bemerkt: „Memory is never fixed, so what gives it this complexity and how could you ever museumize it?" Die Möglichkeit einer solch partnerschaftlichen Beteiligung des Publikums an der Museumsarbeit ist ein Aufruf, in gemeinschaftlicher Anstrengung medienrelevante zeitgeschichtliche Zeugnisse zusammenzutragen und daraus Ausstellungen zu bestücken. Die Deutsche Kinemathek hat in ihrem Museum für Film und Fernsehen ein solches Projekt zum 20. Jahrestag des Berliner Mauerfalls im Jahre 2009 unter dem Titel „Wir waren so frei" realisiert. Diese Sammlungs- und Ausstellungsinitiative richtete sich an die breite Bevölkerung mit dem Aufruf, eigene Fotos und Videos gemeinsam mit verschriftlichten Erinnerungen über und rund um die Ereignisse vom 9. November 1989 an das Kuratorium zu senden, um ein eigens geschaffenes Internet-Portal sowie eine Museumsausstellung vor Ort in Berlin zu bestücken. Darüber hinaus sind laut Angaben von Peter Schwirkmann (DK) ähnliche Projekte mit anderen Frage- und Themenstellungen geplant, unter anderem unter dem Titel „Schau'n wir mal", wobei es um persönliche Erlebnisse und Haltungen zur Fernsehnutzung gehen soll: „Das Optimum wäre, dass es eine rege Beteiligung gibt, dass sehr viele und qualitativ gute Fotos eingestellt werden, und dann könnten wir uns vorstellen, damit auch eine Ausstellung zu machen; denn der Zuschauer ist ja in vielerlei Hinsicht ein unbekanntes Wesen" (Peter Schwirkmann, DK). Unsicherheiten bei der Eruierung von Besucherinteressen und ihrer Partizipationsbereitschaft können zum Teil durch Evaluationsbemühungen ausgeräumt werden. Die Besucherforschung verfügt jedoch über keine ausentwickelte Tradition, da Museen längstens auf ihre hervorgehobene Stellung im kulturellen Wertesystem vertrauen konnten und erst in jüngster Zeit unter Legitimationsdruck gerieten, wie Museumswissenschaftler Bruce Altshuler anmerkt: „Museums used to be kind of viewed as valuable in themselves and they didn't need to justify why they exist. Now they have to do the argument that they provide something for the public. And that isn't an entirely bad thing for museums. [...] Museums provide something for an audience versus just looking inward on their objects.

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

359

So it's very much the kind of reorientation of American museums and increasingly of museums around the world to look at what they present to an audience and - not to make everything as simple as possible - but check whether the visitors get the message" (Bruce Altshuler, NYU). Die Auswertung von Besucherfeedback wird auch von den Fernsehmuseen als essentielle Maßnahme angesehen, um mit ihren Angeboten weiterhin relevant zu bleiben und den nötigen Publikumskontakt nicht zu verlieren: „Our collection is held in the public trust, so there is always the need for feedback. [...] The challenge is to find an effect evaluation tool that let you realize what people are using and how and what is actually beneficial" (Daniel Berger, MBC). Dennoch wird auch von eklatanten Versäumnissen berichtet: ,,[W]hen we sell tickets and it's sold out, we only know that it's popular, not that it's necessarily successful, if the audience got what they came for. What is missing in this entire institution, even over there in that program: We need evaluation, we need assessment. There has never been assessment, there has never been evaluation. If there had been we would have known that we are in problem programmatically, not financially, that we weren't keeping up. We would have known that a long time ago, because the shift has been very visible to everybody but perhaps not here. So I think you have to build into every place an assessment tool" (Dale Zaklad, PCM). Größtenteils greifen die untersuchten Einrichtungen noch zu klassischen Besucherbüchern, die am Ausgang der Ausstellungsfläche bereitliegen, damit Lob, Kritik und persönliche Eindrücke an das Museumspersonal kommuniziert werden können. Zwiespältig wird der Ertrag solcher Feedbackmöglichkeiten bewertet. Peter Schwirkmann (DK) zieht aus eigenen Erfahrungen den Wert von Besucherbüchern als wertvolles Kommunikationsinstrument in Zweifel: „Andere Formen von Besucherbeteiligung haben wir auch geplant, wobei wir durch die Besucherbücher nicht unbedingt dazu ermutigt werden: Wenn man sich die Besucher anschaut, ist der Anteil, der wirklich qualifizierten Stellungnahmen - positiv wie negativ - sehr gering. Für viele ist es halt einfach eine Möglichkeit, sich zu verewigen, wobei das Haus dabei auch oft mit netten Worten bedacht wird. Doch es ist nicht wirklich eine inhaltliche Stellungnahme dazu" (Peter Schwirkmann, DK). Um einen qualitativ besseren Nutzen aus der Kommunikation mit dem Besucher zu ziehen, werden Module entwickelt, mit denen es möglich sein soll, konkret auf einzelne Sendungen oder Ausstellungsbestandteile bezogene Kommentare zu hinterlassen. Im Vergleich zu Besucherbüchern, die durch die implizite Aufforderung einer unspezifischen Gesamtbewertung der jeweiligen Ausstellung offenbar in der Museumspraxis häufig nur unzureichende Kommentare anstoßen, verspricht die mittels digitaler Datenbanksysteme konkret auf einzelne Überlieferungen bezogene Kommentarmöglichkeit aus Expertensicht erkenntnisreichere Ergebnisse. Diese sachbezogene Ermutigung und Anleitung des Besuchers zur differenzierten Reflexion über das Fernsehen trägt darüber hinaus auch dazu bei, dass die im musealen Umgang mit Fernsehen unerfahrenen Publika ein nachhaltiges Kontext-Bewusstsein für die rezipierten Inhalte gewinnen.

360

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Die Abgrenzung von der Selbstthematisierung der Fernsehindustrie im laufenden Programm erfolgt im Fernsehmuseum also einerseits durch divergente Kommunikationsstrategien bei der Aufbereitung und Aufarbeitung der Fernsehgeschichte, die das Medium als solches und als Ganzes reflektierbar machen, und andererseits durch den Versuch der umfassenden Einbeziehung des Besuchers als Rezipient in die Ausstellungskonzeption, Ausstellungsbegleitung und Nachbearbeitung. Indem das Museum seine Aufgabe darin sieht, die Hintergründe des Fernsehens kenntlich und problematisierbar zu machen, schafft es die Grundlage für eine rezipientenorientierte und zugleich multiperspektivische Annäherung an das Fernsehen als kultureller Faktor, historisch wertvolles Kulturerbe und individuell bzw. kollektiver Erinnerungsanker. 4.1.4. Das Fernsehmuseum

als rezeptives

Paradoxon

Das zwangsläufige Problem, das sich jeder der Öffentlichkeit zugewandten Einrichtung stellt, die sich losgelöst von den Programm- und Abrufangeboten des Fernsehbetriebs mit der Ausstellung oder anderweitigen Thematisierung des Fernsehens und seiner Geschichte beschäftigt, betrifft den Grad der Publikumsakzeptanz dieser Bemühungen. Fernsehmuseen stehen vor der Herausforderung, Faszination und tiefergehendes Interesse für ein Medium zu generieren, das für das Gros der Zuschauer schon vor Jahrzehnten zu einem Alltagsgegenstand und für viele gar zu einem Erfahrungssurrogat geworden ist. Das ungläubige Staunen ob der ersten Fernseherfahrungen in den 1940er und 50er Jahren ist größtenteils einer abgeklärten Anspruchshaltung gewichen, die das Fernsehen als Dienstleistung und Zeitvertreib begreift. Über die Historizität des Fernsehens entsteht daher nur selten und allenfalls gemächlich ein gesellschaftlicher Diskurs, weil die Diskussionen in den unterschiedlichen öffentlichen Sphären vermehrt um aktuelle und prospektiv relevante Aspekte wie Programmkritik, Qualitätsdebatten und Ähnliches kreisen. Trotz des ansteigenden Interesses für fernsehhistorische Belange wie vorrangig alte Sendungen, die durch Wiederholungen, in Show-Retrospektiven oder auf dem DVDMarkt eine bemerkenswerte Publikumsresonanz erzielen, ist es für eine Institution wie ein Fernsehmuseum äußert schwierig, Publika für den musealen Blick auf ein so omnipräsentes und gleichzeitig eng mit der Privatheit des Zuhauses gekoppeltes Medium wie das Fernsehen an einem festen, zumal öffentlich begehbaren Ort zu interessieren. Maßgeblich lassen sich vier Problemebenen unterscheiden, auf denen das Fernsehmuseum konzeptionelle Kämpfe mit sich und seinem Betrachtungsgegenstand auszutragen hat: - Rezeptionsgeographie: Die örtliche Ungebundenheit des Fernsehkonsums einerseits, die sich aus der Vollversorgung mit Sende- und Empfangstechnologien ergibt, und die weiterhin präferierten Nutzungsgewohnheiten in der privaten Umgebung stellen das Museum als örtlich fixierte Anlaufstelle vor die Frage, auf welche Weise es Unterscheidungs- und Alleinstellungsmerkmale ausbilden kann, um sich gegenüber den frei und überall empfangbaren massenmedialen Angeboten zu profilieren.

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

361

- Rezeptionspsychologie: Noch gibt es kaum Erkenntnisse darüber, wie die Erhebungen der quantitativen und qualitativen Rezipientenforschung auf den Museumskontext übertragen werden können. Der Fernsehzuschauer muss somit als umfassende Zielgruppe für das Museum, wie bereits Peter Schwirkmann (DK) erwähnte (vgl. Kapitel IV.4.1.3.), ein unbekanntes Wesen bleiben. - Rezeptionsdemographie: Gemessen an der historisch gewachsenen und immanenten Vielschichtigkeit sogenannter „Fernsehgenerationen"66 steht ein Fernsehmuseum vor der Herausforderung, die in ähnlicher Weise auch ein Vollprogramm bewältigen muss: Die Ansprache möglichst aller Altersgruppen gestaltet sich als besonders schwierig, weil sie alleine schon aufgrund ihrer Lebensentwicklungen teils eklatante generationale Differenzen aufweisen, die sich in Bezug auf die Fernseherfahrungen noch komplizierter gestalten können, da sich bei der Mediennutzung unterschiedliche altersunabhängige Priorisierungen überlappen mögen, die nicht ohne weiteres an der demographischen Entwicklung abzuleiten sind. - Rezeptionsfragmentarik: Die spätestens seit den 1980er Jahren durch die Proliferation der Programmangebote zu beobachtende Fragmentarisierung des Rezipientenkollektivs - das es natürlich in dieser entitätischen Form niemals gegeben hat, hier jedoch als Sammelbegriff für eine weithin homogene Zuschauerschaft eines eng umgrenzten Programmangebots dienen soll - in eine Vielzahl von zersplitterten Fernsehpublika macht es für ein Fernsehmuseum als nicht nur generationen- sondern auch sozial-, bildungs- und interessensübergreifende Integrationsinstanz nahezu unmöglich, den unterschiedlich Nutzungsintentionen und inhaltlichen Präferenzen von Fernsehrezipienten zu entsprechen. Eine probate Strategie, die auch von anderen Museen praktiziert wird, um die Schwierigkeit der Adressierung eines Massenpublikums zu bewältigen und auch unwissende, im Speziellen zum Beispiel bildungsferne Zielgruppen zu erreichen, setzt, wie bereits in Kapitel IV.4.1.1. erörtert wurde, auf eine populäre, themenzentrierte Gestaltung der Museumsangebote, um Geschichte(n) narrativ und mit dem Einsatz ikonischer Exponate und zeitgemäßer Medientechnologien vermitteln zu können. Der inhaltliche Facettenreichtum des Fernsehens als kommunikative und ausdrucksstarke Leitagentur ist für Fernsehmuseen bei diesem Vorgehen Segen und Fluch zugleich, da sie stets Gefahr laufen, in ihrer Themensetzung beliebig zu sein und einen allzu eingegrenzten thematischen Aspekt zu fokussieren, was sich negativ auf die Besucherentwicklung auswirken kann.

66

Die Existenz einer „Fernsehgeneration" wurde bereits von Wolfram Peiser in einer breit angelegten empirischen Untersuchung über Fernsehnutzung und -bewertung angezweifelt (Peiser 1996). Gleichwohl lässt sich anhand der korrelierenden Entwicklung des Fernsehprogrammbetriebs und der Nutzungstendenzen innerhalb sich demographisch wandelnder Publika konstatieren, dass sich bei der notwendigen Offenheit und Variationsbreite von Zuordnungen grob verschiedene Fernsehgenerationen unterscheiden lassen: Fernsehbiographisch ließen sich beispielsweise entsprechend ikonischer Fernsehereignisse generational zu klammernde Etappen differenzieren.

362

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Andererseits besteht mit Blick auf die Fülle der Programmgeschichte eine vorzügliche Variationsbreite: Fernsehmuseen sind nicht von vornherein auf bestimmte Themen festgelegt, sondern können im Gegenteil eigene Schwerpunkte setzen und theoretisch alles in den Blick nehmen, was, wie und warum es über den Äther gegangen ist - also nicht nur das Medium an sich, sondern auch seine Inhalte, nicht nur seine Geschichte und diejenige, die es begleitet hat, sondern auch gegenwärtige oder zukünftige Entwicklungen, nicht nur nationale Belange, sondern auch grenzübergreifende oder gänzlich fremdländische TV-Phänomene. Die Umsetzung einer solchen Fülle an Möglichkeiten bei zugleich unsicheren Publikumsstrategien fordert Fernsehmuseen eine hohe Flexibilität in ihren Aktivitäten, aber auch in ihrem institutionellen Selbstverständnis ab. Während Dauerausstellungen durch ihre zeitlich unbegrenzte Installationsdauer kanonische Züge tragen (müssen) und einen breiten, übergreifenden und im Hinblick auf die Besuchermotivation eher unspezifischen Themenfokus aufweisen, besteht mit Wechselausstellungen die Möglichkeit, sich dem programmatischen Wechselspiel des Fernsehbetriebs anzunähern und die Ausstellungsfrequenz bis hin zu sogenannten „Instant Exhibits", wie sie im Washingtoner Newseum im wöchentlichen oder sogar täglichen Wechsel eingesetzt werden, zu steigern. Der organisatorische, kuratorische und nicht zuletzt finanzielle Aufwand ist entsprechend immens und zeugt zwar von einem theoretisch hohen Attraktionspotenzial, jedoch bleibt das grundsätzliche Dilemma des Museums als untypischer Fernseh-Ort bestehen. Ob Fernsehmuseen oder solche, die sich einem breiteren Medienspektrum verschreiben: Sie alle müssen sich an der vorgezeichneten Typologie musealer Kulturgutverwaltung ausrichten, ohne aber die Spezifität ihres Auftrags und die womöglich im Vergleich zu anderen Bereichen des Kulturerbes atypischen gesellschaftlichen Bezüge aus dem Auge zu verlieren. „The idea at all times [was] to take an interdisclipinary approach but also to position ourselves very clearly in accepted categories so we can get the support and the awareness that we need, because people do need to fit new ideas into existing categories. The idea is that overtime we knew that ultimately we would create our own category that other would fit into" (Carl Goodman, AMMI). Rührt das unscharfe Profil von Fernseh- und Medienmuseen aus ihrer erst spät eingesetzten Genese, die sich im Spannungsfeld zwischen dem historischem Vermittlungsanspruch des Museums und den präsentistischen Inszenierungsqualitäten der audiovisuellen Massenmedien entfalten musste, ist bis heute unklar geblieben, was Fernsehmuseen ihren Besuchern im Detail bieten sollen oder überhaupt bieten können. Die Multiplikation von Zugangsoptionen zu Fernsehprogramminhalten und dazugehörigen Kontextinformationen macht die Frage umso virulenter, was die allgemeine Rezipientenschaft erwarten darf, wenn sie ein Fernsehmuseum besucht. Wenn im Kreise der befragten Museumsvertreter nur mit Zurückhaltung auf die Höhe von Besucherzahlen eingegangen wird und bei Prognosen eher konservative Schätzungen vorgenommen werden wie im Fall des zum Zeitpunkt der Gespräche noch im Neu-

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

363

bau befindlichen Museum of Broadcast Communications, weist dies auf eine tiefgreifende institutionelle Verunsicherung hin. Dale Zaklad vom Paley Center for Media verweist auf die in Uptown Manhattan vergleichsweise geringen Besucherzahlen des ansonsten als Vorbildinstitution für die öffentliche Fernseherbe-Verwaltung geltenden Museums hin: „There was very little visitation. [...] [And] there is still very little visitation. If you look on our numbers: It's very low." Kann dies als Anzeichen eines nicht ausreichend fruchtenden Konzepts bei der musealen Auseinandersetzung mit und Inszenierung des Fernsehens gewertet werden, sollte hier nochmals grundsätzlich darauf verwiesen werden, dass das Museum als Anbieter von Vermittlungsleistungen gänzlich anderen Regeln und Logiken unterliegt als das Fernsehen; im direkten Vergleich mit dem Fernsehen sind Museen generell ohnehin im Nachteil: „Trotz allen Publikumszuspruchs [...] ist das Museum ein Medium mit niedriger Einschaltquote" (Korff 1990: 334). So sehr sich das Dispositiv Fernsehen im Lauf der Geschichte gewandelt hat und Fernsehen als gemeinsame Beschäftigung im familiären Wohnzimmer vielerorts schon lange der Vergangenheit angehört (vgl. Kapitel III.4.1.3.), sich dafür Segmentierungs- und Separatisierungstendenzen abgezeichnet haben, die zu einer bruchstückhafteren Rezeption des Fernsehens auch als mobiler Zeitvertreib für zwischendurch im öffentlichen Raum geführt haben - Stichwort: Überall-Fernsehen und Public Viewing (vgl. Kapitel III.4.3.3.) - , kann für die Gesamtheit der Fernsehhaushalte weiterhin die Gewissheit gelten, dass sich die klassische Rezeptionshaltung gegenüber televisuellen Inhalten nicht wesentlich geändert hat: Fernsehen war, ist und bleibt ein Zuhausemedium, dem verhältnismäßig viel (Frei-) Zeit geopfert wird, um sich im privaten Ambiente zu informieren oder zu unterhalten. „Der Witz am Fernsehen ist ja gerade, dass es nicht festzuhalten ist, dass es sich unserem erinnerungssüchtigen Griff immer wieder entzieht. Die Sendung von gestern oder vorgestern, die wir aufgezeichnet haben und uns heute oder morgen anschauen, ist dieselbe Sendung nicht mehr. Es fehlt der besondere Programmplatz, die bestimmte Tageszeit, das Warten auf den Beginn, das Jucken in den Fingern, wenn man weiß, dass man jederzeit, etwa in den Werbeblöcken, umschalten kann - all das, was das Fernseherlebnis tatsächlich ausmacht" (Kilb 2006). Wie kaum ein anderes Museum haben Fernsehmuseen daher mit dem Dilemma zu kämpfen, dass sie sich zwar einem der wesentlichsten Weltwahrnehmungsphänomene und Sozialisierungsinstanzen der Neuzeit widmen, die inhaltlichen, ästhetischen, aber auch informationellen Qualitäten des Fernsehens aber nur erfolgreich in die musealen Kontexte übersetzen können, wenn sich die Fernsehpublika davon überzeugen lassen, ihre Rezeptionsgewohnheiten wenn nicht abzulegen, dann doch zu überwinden. In ein Museum zu gehen, um fernzusehen, widerspricht von Grund auf der systemischen Funktion des Leitmediums: daheim das metaphorische Fenster zur Welt zu öffnen mit einem informativen und unterhaltsamen Angebotsreigen, aktuell und in Echtzeit Informationen zu verbreiten und jederzeit verfügbar zu sein. Zudem bleibt das Fernsehen trotz des 24-stündigen Programmbetriebs ein Medium, das die höchste Rezeptionsbe-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

teiligung am Abend verzeichnet: Warum also ins Museum gehen, wenn zudem immer mehr Programmmaterial auf den mehreren hundert fernseheigenen Distributionskanälen, im Sortimentshandel oder auf Abruf im Internet verfügbar ist - zumal wenn dies mit dem zusätzlichen Aufwand einhergeht, das eigene Zuhause zu verlassen und an einem fremden Ort,weiterzuschauen ? Der wesentliche Unterschied zwischen dem Weiterschauen oder weiter zu schauen ist hierbei eine wichtige Erkenntnis, die sich beim Zuschauer erst einstellen muss, damit die Bereitschaft und Lust am Museumsbesuch wachsen kann: Wird im Museum einfach nur ferngesehen wie zu Hause auch, oder wird es dem Besucher ermöglicht, thematisch, inhaltlich, kontextuell, usf. weiter zu schauen, als es das Fernsehen selbst zulässt? „Wir verstehen uns [...] als Fernsehprogrammmuseum, das aber auch in der Gegenwart ankommt mit den Themen, die es verhandelt, die es auch in seinen Veranstaltungen verhandelt. Wenn man sich genau die Räume anschaut, in denen das Museum operiert, wird man schon feststellen, dass es eine Differenz gibt zu dem, was man zu Hause sieht und wie man zu Hause sieht" (Peter Schwirkmann, DK). Entscheidend aber ist, dass beim potenziellen Besucher eine hohe Hemmschwelle überschritten werden muss, da es für den Durchschnittszuschauer mehr als ungewöhnlich ist, seine gewohnte Rezeptionsumgebung zu verlassen, wie Dan Einstein vom UCLA Film & Television Archive anmerkt: „To get somebody to leave their house to watch television is something that is absurd somehow." Das Dilemma eines Fernsehmuseums als absurde Raumkonstellation für die Fernsehrezeption wird noch dadurch verstärkt, dass sich Menschen am besten immer dann an ein Erlebnis erinnern, wenn sie sich in derselben Umgebung aufhalten wie zum Zeitpunkt der Erfahrung (LeDoux 2001: 227): Was Fernseherinnerungen anbelangt, werden diese also wahrscheinlich immer dann besser ausgelöst, wenn das jeweilige Programmelement in einem Kontext rezipiert wird, der sich so gering wie möglich von dem ursprünglichen unterscheidet - hier wird für den Rezipienten vor allem die Art und Weise der Umgebungskonnotation (privat/nicht-privat) ausschlaggebend sein. Für umso frustrierender bewertet es Henry Jenkins (MIT), dass nur so wenige Fernsehmuseen gegründet wurden und weite Bevölkerungskreise eine lange Reise auf sich nehmen müssten, um vor Ort beispielsweise im Paley Center for Media fernzusehen. Dadurch dass sich in den USA von Anfang an New York, Chicago und Los Angeles als Standorte der Fernsehproduktionsindustrie profiliert haben (vgl. Abramson 1998: 20), avancierten diese Metropolen auch zu den vorrangigen Zentren der Vergegenwärtigung der Fernsehprogrammgeschichte. Der von den dortigen Museen auszugehende Reiz, um interessierte Besucher davon zu überzeugen, dass sich der zu leistende Aufwand lohnt, zumal in Städten, die auch viele andere attraktive Freizeitangebote bieten, wird von den befragten Experten dementsprechend stark eingefordert: Fernsehen im Museum müsse neu gedacht werden, meint unter anderem Joseph Hoppe vom Deutschen Technikmuseum: „Das Fernsehen ist an sich kein museumskompatibles Format", ist er angesichts der scheinbar unvereinbaren Rezeptionsmodalitäten zu Hause und in einer öffentlichen

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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Einrichtung überzeugt. Auch Carl Goodman vom American Museum of the Moving Image meint: „Film lends itself very well to screening, television not as much." Es braucht also Einfallsreichtum und Erfahrungswerte, wie die audiovisuelle Produktebene des Fernsehens nicht nur intellektuell, sondern auch inszenatorisch durchdrungen werden kann, um neue Blickwinkel auf den musealen Gegenstand freizugeben. „Wir diskutieren immer noch, wie man Fernsehen museal ausstellen kann. Die Debatte stellt sich jedes Mal neu, zumal wir ja bisher einen eher puristischen Ansatz haben, nämlich dass wir in der Ständigen Ausstellung anders als das Filmmuseum gar nicht in die Welt der Dinge hinein wandern, sondern uns ganz stark auf die Bilderwelten konzentrieren. [... ] Das funktioniert nur, wenn das Angebot etwas Besonderes ist. Und das behaupten wir ja von unserem Angebot, weil es nach speziellen Kriterien zusammengestellt ist und man daher hier nicht nur hingeht, um Fernsehen zu schauen. Das kann man zwar auch in der Programmgalerie, doch schaut man dort nicht die Fernsehsendungen, um Fernsehsendungen zu schauen, sondern weil es ein Interesse für das Medium gibt. Das ist die Grundvoraussetzung eines Museumsbesuchs, dass man dort etwas anderes sucht und es auch findet, als man es im Alltag hat" (Peter Paul Kubitz, DK). Je stärker die Programmgeschichte in den Fokus genommen wird, desto eher ergeben sich außerdem operationale Probleme: Wie kann etwas, dass hauptsächlich in der Zurückgezogenheit des Privatraums rezipiert wird, in einem Raum mit einer Vielzahl von Bildschirmen ausgestellt werden, der noch dazu bestimmt ist, von sich zueinander fremden Menschen durchlaufen zu werden? Hier gibt es offenbar mehr Stör- als Gunstfaktoren, welche die Schwierigkeiten bei der Optimierung der technischen Rahmenbedingungen für die Rezeption der ausgestellten Inhalte betreffen: „One is sound, you are walking through an exhibitions and have three televisions, its hard to understand the sound. You could work with columns but that doesn't work that well" (Bruce Altshuler, NYU). Zum anderen ist die Bereitschaft und Motivation des Besuchers zur rezeptiven Hinwendung zu den televisuellen Ausstellungsinhalten ein schwer kalkulierbarer Faktor, der bisher nur rudimentär untersucht wurde: Das Ausstellungserleben in einem auf die Programmgeschichte konzentrierten Fernsehmuseum hängt essentiell ab von der Verweildauer, die ein Besucher aufbringt, um sich mit den präsentierten Sendungen zu befassen. Hier lässt sich feststellen, dass sich die durchschnittlichen Sehdauern von Fernsehzuschauern im herkömmlichen Rezeptionskontext nicht ohne weiteres auf die Nutzungskontexte im Museum übertragen lassen. Bei ihrer Forschung über den Einsatz von Videos in Museumsausstellungen kam die US-amerikanische Museumsberaterin Beverly Serreil zu dem Ergebnis, dass nur ein geringer Teil von Museumsbesuchern an Videoinstallationen in Ausstellungen Interesse zeigt und im Durchschnitt nur wenige Minuten vor ihnen verweilt: [E]xpecting visitors to stay at even a three minute video is asking a lot" (Serrell 2002: 62). Aus dem befragten Expertenkreis merkt Stephan Schwan (IfW) an, dass das Zeitkontingent eines durchschnittlichen Museumsbesuchers ohnehin nur knapp bemessen sei:

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

„Bei einem riesigen Museum wie dem Deutschen Museum in München hat man eine durchschnittliche Besuchszeit von etwa zwei Stunden. Von den zwei Stunden gehen maximal 50, tendenziell eher 40 Prozent wirklich in den Ausstellungsbesuch, und der Rest verteilt sich auf Cafeteria aufsuchen, aufs Klo gehen, den Museumsshop anschauen. Dann sind wir schon etwa bei einer Stunde für den Ausstellungsbesuch, und innerhalb dieser Stunde wissen wir, dass schon nach 20 bis 25 Minuten die berühmte Museumsmüdigkeit auftritt. Die manifestiert sich darin, dass die Leute nicht mehr sehr systematisch durch die Ausstellung gehen, dass sie immer kürzer bei den einzelnen Exponaten verweilen, dass die Schrittgeschwindigkeit schneller wird und sich der Besucher direkt Richtung Ausgang orientiert. Realistisch für eine Ausstellung auch bei einem größeren Museum würde ich eine Aufenthaltsdauer von maximal einer Schulstunde schätzen. In die Zeit müssen eben alle Exponate irgendwie hineinpassen" (Stephan Schwan, IfW). Zu einem etwas anderen Schluss kommt der Psychologe Jörn Töpper bei seiner Evaluation von Bewegtbildpräsentationen in der medizinhistorischen Ausstellung „Leben mit Ersatzteilen" der Berliner Charite: Zwar zeigte sich nur ein Viertel der Besucher empfänglich für die Ausstellungssegmente, in denen Videos gezeigt wurden, andererseits wandte dieser Teil der Besucher signifikant mehr Zeit für die Ausstellung insgesamt auf, was potenziell auf eine Verstärkung der Bindungseffekte und Erhöhung des Vermittlungserfolges durch Bewegtbildinhalte in Museen schließen lässt (vgl. Töpper 2009: 111-112). Bei diesen empirischen Untersuchungen jedoch wurde durch den ausstellungsspezifischen Fokus freilich nicht eruiert, inwieweit Besucher speziell von Fernsehmuseen sich bereits mit ihrer bewussten Entscheidung, ein solches zu besuchen, auch für die Rezeption von Fernsehprogramminhalten entscheiden und daher gewillt sind, sich länger mit einzelnen Sendungen zu befassen und sich dadurch dem gewohnten Rezeptionskontext anzunähern. Insofern müsste von Anpassungs- und je nach Häufigkeit der musealen Fernsehrezeption von Gewöhnungsprozessen ausgegangen werden, die sich beim Besucher einstellen und dessen Erwartungshaltung konkretisieren und an die bestehenden Museumsleistungen und -angebote anpassen. Fernsehmuseen wären in diesem Fall prädestiniert, Besucher länger als andere Museen an ihre Angebote zu binden und sie auch zugunsten der übrigen Museumslandschaft zu längeren Besuchen zu animieren. Dass dies jedoch (noch) nicht in ausreichendem Maße der Fall ist, glauben einige der befragten Experten. Mit Verweis auf die Anfänge einer televisuellen Museumskultur mit der Gründung des Museum of Broadcasting in New York kritisiert unter anderem Archivberater Sam Kula die stark archivische Konzeption von Fernsehmuseen: ,,[B]asically it was not a museum, but an archive: You go in and can watch shows." Eine ähnliche Kausalität zwischen dem Archivgedanken und unzureichender Publikumsakzeptanz sieht auch Mark Quigley vom U C L A Film & Television Archive: „There is a lot of interest in television study in the critical studies and the mass communication, but it hasn't led to a need for public exhibitions where in a communal setting people are watching television. Television was designed to be viewed in the home and it has been the archive experience anyway for the most part that atten-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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dance has been somewhat limited when they have public exhibited television programs. Museum really don't do a lot of that" (Mark Quigley, UCLA). Gemessen an der übergreifenden Museumsevolution mit ihren starken inszenatorischen Popularisierungstendenzen bei der Adressierung eines Massenpublikums lässt sich aus den Bewertungen innerhalb des Expertenkreises schließen, dass Fernsehmuseen in ihrer Selbstauffassung und ihren Vermittlungsansätzen paradoxerweise rückwärtsgewandter sind, indem sie dem alten Museumsgedanken als Sammlungs- und Forschungseinrichtung folgen, als so manches Altertums- oder Kunstmuseum dieser Tage. Dass in Nordamerika und Deutschland mit dem Paley Center for Media und der Deutschen Kinemathek Museumseinrichtungen zu Vorbildinstitutionen aufgestiegen sind, deren initialen Konzepte in der Sicherung des Fernsehprogrammerbes wurzeln, offenbart nochmals die Dominanz des Archivgedankens innerhalb der musealen Fernseherbe-Verwaltung, der bereits einschneidende Auswirkungen auf die Sammlungspolitiken der einzelnen Häuser hatte (vgl. Kapitel IV.4.3.1.1. und IV.4.3.3.2.). Die hierbei entstandenen Defizite bei der ganzheitlichen Erfassung des zweifellos breiten Überlieferungsfeldes wirkte sich ebenso hinderlich auf die Ausgestaltung der Publikumsangebote aus. Vor allem hapert es an der musealen Zusammenführung der Programm- und der Objekt- und Dokumentengeschichte des Fernsehens. Diese zunächst gattungsspezifische Aufspaltung von Sammlungs- und Ausstellungsaktivitäten hat eine weitgehende Festlegung des Museums auf einige ausgewählte Teilaspekte der Fernsehgeschichte zur Folge und beschränkt die Vermittlungspotenziale erheblich: „It doesn't make sense that it shouldn't be both, because artifacts and programming are interrelated. That's what most people miss: They watch the program and they don't understand how the programming is driven by the technology and then how the technology drives us. [...] It's interesting how technology influences the programming. There was no remote control when I grew up. Television was theater and you sat down in your living room and the television was a piece of furniture. That's an important part of the whole television culture that gets lost when you separate the technology from the programming" (Jane Johnson, LC). Anders als das Paley Center for Media und die Deutsche Kinemathek, welche primär einem strikten Programmfokus folgen, haben sich andere Einrichtungen wie das MZTV Museum oder der Verein Deutsches Fernsehmuseum in Wiesbaden historischen Realien aus der Fernsehgeschichte unter nahezu vollständiger Ausblendung von audiovisuellen Programminhalten verschrieben. Der traditionelle Museumsgedanke folgt der Ausstellung von dinghaften Objekten (vgl. auch Scruton 2005: 171), wohingegen auch audiovisuelle Medieninhalte wie Fernsehprogramm-Material als Objekte definiert werden können, beispielsweise über die Materialität ihrer Trägerformate. Nichtsdestrotz greifen solche definitorischen Zuordnungen im Ausstellungszusammenhang kaum noch, wo aus Rezipientenperspektive unterschieden werden muss zwischen dem über Bildschirme wiedergegebenen Medieninhalten, die selbst keine materiellen Merkmale aufweisen, und der physischen Objektwahrnehmung, die dem Museumsbesucher einen ungewohnten,

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

weil von der eigentlichen Fernseherfahrung divergierenden Blick in die Kontexte und Hintergründe des Fernsehbetriebs bietet. Die fortschreitende Dematerialisierung von Fernsehprogrammsammlungen durch Digitalisierungsmaßnahmen in den Senderarchiven und in den Museen raubt den Audiovisionen nun zusätzlich ihre bewahrungsspezifische Objekthaftigkeit in Form von Videobändern. Dies macht die Relevanz von Realien im weitesten Sinne, seien es wertvolle Artefakte oder gewöhnliche Ephemeriden, als Bedeutungsträger und -vermittler umso deutlicher: „What we call things has emerged into the conceptual field as a problem, a challenge to our vocabulary: their identity has not been determined, but ignoring them is no longer an option. We are half aware of them as features of the general surround, and they awaken the possibility that material objects, which appear to us primarily as anonymous, random, mute, inert, or functional, can possess a kind of individuality, identity, even an ambiguous vivacity" (Harpham 2005:135). Im Falle des Fernsehens können Realien wie zum Beispiel technische Artefakte eine ebensolche Relevanz für die Begegnung mit und das Verstehen von Fernsehgeschichte entfalten wie der Programminhalt. Die komplementäre Vermittlungsfunktion von elektronischen Audiovisionen und materiellen Dingen zeigt sich immer dort nachdrücklich, wo keine Überlieferungen erhalten geblieben sind und historische Lücken gefüllt werden müssen. Darüber hinaus, und darauf weist unter anderem Archivberater Sam Kula hin, ergänzen sich beide Überlieferungsgattungen bei der Aufbietung unterschiedlicher Erfahrungsebenen innerhalb einer Ausstellung, die sich nicht allein entweder der televisuellen Programmebene oder der dinghaften Objektebene zuwendet, sondern sie zueinander in Beziehung setzt: „ A good television museum should have both areas. Moses Znaimer has put together a really interesting collection of early television apparatus which are design features from the home: there are aspects of domestic design and aspects of the technology that brings the pictures into the home. That is really fascinating. That aspect should not be ignored because it is part of the nostalgia element that all museums should play to. [...] With the combination of artifacts and programming you can make an exhibition much more colorful and informative and you can show how the device was actually used rather than just simply have a static display" (Sam Kula). Ganzheitliche Ausstellungskonzepte versprechen also nicht nur mehr Abwechslungsreichtum für das Besuchererleben, sondern auch ein dynamischeres Zusammenspiel von Bekanntem und Unbekanntem, von Wiederentdecken und Neuentdecken und damit von Erinnerungs- und Lernangeboten für Besucherinteressen und -bedürfnisse, die schon angesichts der Breite und Tiefe fernsehhistorischer Aspekte und Topoi eine große Angebotsvielfalt erforderlich machen. Robert Thompson (SU) sieht in erster Linie inszenatorische Schwierigkeiten bei der integrativen Konzeption von Fernsehprogrammproduktionen und dazugehörigem Kontextmaterial wie requisitären Überlieferungen wie Kostümen oder Studioeinrichtungen, Werbeartikeln, technischen Produktionsequipment oder auch Schriftgut, welches die zugrundeliegenden kreativen Prozesse dokumentiert:

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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„Do you exhibit kind of artifacts like the Smithsonian has: Archie Bunkers chair, those kinds of artifacts. But in many kinds these are novelties. Isn't that chair the program itself? An art museum doesn't generally exhibit Jackson Pollock or Pollocks tools. They probably have it in storage, but usually you see paintings in an exhibition. Television museums have to figure out a balance between crowd pleasing artifacts: lunch-boxes, the mask of the lone ranger, something to bring the people into the museum. But at the same time they have to figure out: How do you have a museum that's entire purpose is to illuminate things that essentially take 30 minutes or an hour to consume?" (Robert Thompson, SU). Auch wenn Thompson die im Expertenfeld strittige Auffassung vertritt, dass dinghafte Überlieferungen aus der Fernsehgeschichte allenfalls illustrierenden Charakter innerhalb von Museumsausstellungen haben sollten, bringt er das grundlegende Problem bei der Rezeption von Fernsehprogramminhalten in ungewohnten, nicht-privaten Umgebungen mit der konkreten Problemstellung der Zeitbudgetierung innerhalb musealer Ausstellungen zusammen: Da nach Thompsons Überzeugung ein Fernsehmuseum - und hier stimmt unter anderem auch Horace Newcomb (UG) zu - bei aller Kontextualisierungsleistung stets und zuallererst das Sendeprodukt ins Auge fassen muss, das den Dreh- und Angelpunkt für jegliche Auseinandersetzung mit der Fernsehgeschichte bildet, geht die Rezeptionsdauer einer einzelnen Programmüberlieferung immer zu Lasten anderer Exponate, da sich die Besuchszeit insgesamt aufgrund begrenzter Freizeit gemeinhin nicht verlängern kann. Anders als statische Objektüberlieferungen, welche die Zeitspanne, die der Besucher benötigt, um sie zu betrachten und sich ihre Bedeutung zu erschließen, nicht vorschreiben, ist die Rezeptionsdauer einer Fernsehsendung durch ihre Lauflänge exakt vorgeschrieben. Das Arrangement eines Neben- und Miteinanders aller wesentlichen den Fernsehbetrieb dokumentierenden Überlieferungsbereiche verlangt den Kuratorien als doppelter Filter der medialen und wiederum nach einer spezifischen Agenda museal mediatisierten Weltwahrnehmung insofern eine multi-dimensionale Aufbereitung fernsehhistorischer Zusammenhänge ab, welche die Rezeptionshürden des Zuhausemediums Fernsehen überwindet. „One of the questions that is underlying the whole problem is whether the museum itself as an institution has any future, because of exactly this issue: What makes the people want to go to the museums for?", umreißt Horace Newcomb (UG) die Kernfrage, die sich Fernsehmuseen in der apostrophierten Medien- und Erlebnisgesellschaft mit nachdrücklicher Dringlichkeit stellt. Auf Basis der Expertenbefragung lassen sich zunächst fünf grundsätzliche Voraussetzungen identifizieren, auf deren Basis Lösungsansätze entwickelt werden können: 1. Fernsehmuseen müssen mehr bieten als Sammlung, Bewahrung und Zugang von Überlieferungen. Weder die Programminhalte noch Realien allein bieten nach Ansicht der Fernsehwissenschaftlerinnen Michele Hilmes (WCFTR) und Lynn Spigel (NWU) genug Anreize für einen Museumsbesuch: „Only a researcher would want to access special things, let's face it. [...] There is so much available on the TV- and DVD-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

market", sagt Spigel. Auch nach Ansicht von Joseph Hoppe (DTM) sollte es nicht dem Fernsehen selbst überlassen werden, seine eigene Geschichte auf Dokumentenebene zu erzählen. Vielmehr gelte es, die historischen Zeugnisse kuratierend und narrativ in eine autonome Ausstellungsdramaturgie einzubinden, um Attraktions- ebenso wie Vermittlungserfolge zu erzielen. 2. Die Festlegung von Fernsehmuseen auf ein Entweder/Oder bei der Thematisierung der Programm- und Objektgeschichte des Fernsehens ist eine selbst auferlegte Beschränkung, die zwar im Einzelfall anhand entwicklungsspezifischer Faktoren zu erklären ist, doch mit Rücksicht auf die gesellschaftliche Zentralstellung und kulturelle Wertigkeit des Fernsehens überwunden werden muss. Die Entscheidung eines Museums, sich speziell der Programmgeschichte des Fernsehens, seiner Technikgeschichte, der Designgeschichte von Empfangsgeräten oder der Unternehmensgeschichte beispielsweise eines Senders zu verschreiben, ist zwar legitim, reicht aber zu kurz. Der Kontextualisierungsbedarf eines solch historisch und mnestisch relevanten Massenmediums verlangt nach einer ganzheitlichen Auseinandersetzung mit möglichst sämtlichen relevanten Spezifika, Hervorbringungen und Errungenschaften. 3. Um den allgemeinen Fernsehzuschauer anzusprechen und für ihre Angebote zu interessieren, wenn nicht gar zu begeistern, müssen Fernsehmuseen einen Spagat wagen zwischen massenattraktiver Faszination und Entdeckungslust für den Ausstellungsgegenstand (emotionale Ansprache) und informativem Mehrwert durch die intensive Vermittlung von Hintergrundwissen (intellektuelle Ansprache). Um die erforderliche Publikumsresonanz zu erzielen, müsse, so Robert Thompson (SU), im Vordergrund die schwierige Aufgabe stehen, für ein Massenpublikum als Erlebnisgenerator zu fungieren: „ A museum is expected to give the visitors an experience, and that's bare challenging for television museums." Damit neue lebendige Tätigkeitsfelder erschlossen werden können, muss nach Meinung von Steve Bryant (BFI) auf ein dynamisches Erlebnis- und Bildungskonzept gesetzt werden: „That's not what film and TV is about: things in glass cases". Die Begegnung mit sonst nur schwer zugänglichen Programmüberlieferungen, dinghaften Relikten sowie den Menschen hinter dem Fernsehbild ist hierbei ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu den herkömmlichen Programmangeboten im laufenden Sendebetrieb der Fernsehindustrie. Hier wird ein ausgewogenes Verhältnis zwischen individueller (z.B. Abrufangebote) und kollektiver (z.B. Vorführungen) Adressierung der Besucher für sinnvoll erachtet. 4. Fernsehmuseen müssen für die Summe ihrer Aktivitäten integrierte Modellkonzepte entwickeln, um mit dem offenen Charakter des Fernsehens umgehen zu können. Wie auch bei anderen Museen gilt es, sich nicht ausschließlich auf historische Aspekte des Mediums zu fixieren, sondern auch auf aktuelle und zukünftige Entwicklungen und Phänomene reagieren zu können, um sie - anders als bei der massenmedialen Selbstthematisierung - in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen und mit der museumseigenen Expertise bewerten zu können. Thomas Beutelschmidt (HUB) hält es

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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diesbezüglich gleichwohl für hilfreich, sich auch dezidiert abgeschlossenen Kapiteln der Fernsehgeschichte wie jener des DDR-Fernsehens als Sondertätigkeitsbereich zuzuwenden, um daran in klarer Abgrenzung zu notwendigen offeneren Konzeptionen bei der Betrachtung eines sich ständig verändernden Mediums Themen, Prozesse und Prinzipien aufzeigen zu können, die sich ansonsten aufgrund der Fluidität des Fernsehens an sich nur schwer unabhängig problematisieren ließen. 5. Fernsehmuseen müssen eigenen Regeln folgen. Dennoch besteht im Kreise der wenigen Fernsehmuseen in Nordamerika und Deutschland erheblicher Nachholbedarf bei der Stärkung des Selbstwertgefühls. Die Feststellung von Museumsberater Barry Lord (LCR): „There is nothing particularly different about a museum for television and radio or about film than any other type of museum", kann, bezogen auf die kulturhistorische Wertigkeit von Fernsehmuseen, nicht gelten gelassen werden. Ein Fernsehmuseum, das sich mit ganzheitlicher Perspektive dem Leitmedium des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts widmet, ist und muss mehr sein als ein „International Museum of Hot Air Ballooning", das nach Barry Lords zutreffender Einschätzung ebenfalls einen Teil des kulturellen Erbes bewahrt, jedoch keinesfalls eine ähnlich hohe und systemische Gedächtnisrelevanz aufweisen kann. So lange sich Fernsehmuseen nicht als privilegierte, weil essentielle kulturelle Erinnerungs- und Bildungsagenturen begreifen, die mehr leisten können und müssen als die Pflege von Fernsehüberlieferungen, sondern die vornehme Aufgabe haben, dem Leben in der Mediengesellschaft, die viele Jahrzehnte primär als Fernsehgesellschaft bezeichnet werden konnte, kulturellen Sinn zu geben und die eingreifenden Einflussnahmen und Veränderungen von Autobiographien durch das Fernsehen vorurteilsfrei und übergreifend zu untersuchen und für die Allgemeinheit ersichtlich und verständlich zu machen. Noch wurde der ideale Weg zu einem umfassenden Fernsehmuseum nicht beschritten: „The right way hasn't been found yet. There is not only one right way", zeigt sich Ruta Abolins (WBMA & PAC) überzeugt. Noch immer haben die untersuchten Museen mit der Frage zu kämpfen, was ein Fernsehmuseum auszeichnet, was es bieten muss, um seiner Rolle gerecht zu werden, und welche Relevanz seine Angebote im Konkurrenzfeld anderer kultureller Angebote einnimmt. Zu lange und intensiv seien Einrichtungen wie das Paley Center for Media dazu gezwungen worden, dem Medium, dem sie sich widmen, zu mehr kultureller Akzeptanz zu verhelfen, glaubt Robert Thompson (SU). Auf Basis der oben aufgeführten Erfordernisse lassen sich übergreifend folgende Präsentationskonzepte von Fernsehmuseen differenzieren, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern überlappen und ergänzen können: - Das Archiv-Konzept ist gekennzeichnet durch eine passive Bereitstellungshaltung seitens des Museums, das seine Funktion darin erkennt, Besuchern vorrangig den direkten Zugang zu den Sammlungsbeständen zwecks individueller Sichtung einzelner Überlieferungen zu ermöglichen. Dieses Konzept zeichnet sich vorrangig durch eine hohe Dichte von Primär- und Kontextinformationen aus und hat einen starken Dienst-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

leistungscharakter, der einen aktiv nach bestimmten Überlieferungen oder Informationen suchenden Besucher voraussetzt. Die damit verbundene Dominanz der Zugangsfunktion des Fernsehmuseums kann indes nicht mehr als alleiniges Unterscheidungsmerkmal zum medialen Umfeld dienen. Das Museumsverständnis als Repositorium, das seine Relevanz aus der Einzigartigkeit seiner Sammlung herleitet, ist in seiner Ausschließlichkeit nicht mehr zeitgemäß. - Folgt ein Fernsehmuseum dem Wohnzimmer-Konzept, räumt es der privaten Rezeptionsumgebung des Besuchers einen hohen Stellenwert ein. Hierbei wird zum Beispiel eine typische Wohnzimmereinrichtung aus einem bestimmten Jahrzehnt nachgebildet, um bei einer möglichst breiten Zuschauerschaft Erinnerungen an den Fernsehgenuss früherer Zeiten wie beispielsweise im Kindesalter zu wecken: „Jeder Mensch erinnert sich daran, was er in seiner Kindheit gesehen hat, und man erinnert sich nicht nur daran, dass man es gesehen hat, sondern auch in welchem Zusammenhang, in welchem Kontext man es gesehen hat: Wie der Raum eingerichtet war, mit wem man es gesehen hat, wie es gerochen hat, wie die Farben waren, wie die Mode war" (Gerlinde Waz, DK). Über die leise Ahnung hinaus, wie es früher im eigenen Zuhause gewesen sein mag, wird der hier erfolgende Versuch einer Harmonisierung des ungewohnten Rezeptionserlebnisses im Museum durch die Rekonstruktion von vertrauten Rezeptionskontexten jedoch zwiespältig bewertet. Joseph Hoppe (DTM) hält ein solches Vorgehen für nicht besonders reizvoll, es entspräche vielmehr dem „Ausstellungsalphabet der Grundschule". Gravierender ist die Suggestivwirkung einer solchen Installation, die zu einer Simplifizierung und Generalisierung eines bestimmten Vergangenheitsbildes führen könnte. Nicht außer Acht gelassen werden darf jedoch, dass Fernsehmuseen bestrebt sind, ein privat anmutendes Ambiente zur Sichtung von Programmüberlieferungen zu schaffen: „a suitable environment to watch TV because you are in a small, private space with a screen in front of you" (Steve Bryant, BFI). Inwieweit das Wohnzimmer-Konzept im Detail realisiert wird, ist nebensächlich, solange gewährleistet werden kann, dass der Besucher die Möglichkeit eines ungestörten und unbeobachteten Fernseherlebnisses hat. Die Rezeptionsumgebung bleibt im Museum jedoch stets atypisch und lässt sich allenfalls hybridisieren: halb privat, halb öffentlich. In den untersuchten Einrichtungen sind diese Vorkehrungen nur unzureichend umgesetzt, da die Sichtplätze keine Fremdrezeption ausschließen und zudem Aufsichtspersonal vor Ort ist, um die Sichtung zu begleiten oder auch zu kontrollieren. - Das Achterbahn-Konzept wiederum setzt auf Erlebnissteigerung und Unterhaltung mit eben jener „Rollercoaster-Mentalität, die man in Babelsberg vorfindet, wenn man im Wägelchen durch die Studios gefahren wird" (Thomas Beutelschmidt, HUB). Das gemeinhin von Freizeitparks bekannte Konzept bildete den Leitgedanken eines schlussendlich nicht realisierten Fernsehthemenparks in Hamburg. In der sogenannten „TV-World" sollte es unter anderem möglich sein, in einer interaktiven „TV-Galerie" technische Exponate nicht nur zu betrachten, sondern auch selbst zu bedienen. Ein deutscher „Walk of Fame" mit Handabdrücken prominenter Fernsehakteure sowie

IVA. Museumsfernsehen,

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spezielle Veranstaltungen für junge Parkbesucher wie Discos und die Produktion von Musik-Clips sollten ebenfalls verwirklicht werden. Nach dem Vorbild US-amerikanischer Filmthemenparks wurde eine gesamte Wertschöpfungskette intendiert. Dazu gehörten neben dem Bau zahlreicher Restaurants, Kneipen und Bistros im Stile von historischen Fernsehkneipen auch typische Freizeitparkattraktionen wie beispielsweise Fahrbetriebe, Stuntshows, Comedy-Clubs und Sportveranstaltungen. Die Liste der geplanten Attraktionen umfasste 30 verschiedene Einrichtungen - vom „SesamstraßeSpieleland" bis zu einem „TV-Aussichtsturm" und einem „Blue Tornado Space Shot", einer Science-Fiction-Attraktion, bei der 1.000 Besucher den freien Fall erleben könnten. Joseph Hoppe (DTM) hält das hier vorherrschende Ereignismoment zwar auch im Rahmen von Museumsangeboten für wichtig, aber auf Dauer nicht für ausreichend. Die Attraktionswirkung relativiere sich schnell, wenn die Aufmerksamkeit und das Interesse eines breiten Publikums nicht verstetigt werden könne: „Museen sind sehr viel besser beraten, schon auch den Typus Veranstaltung und ein ausstellungsübergreifendes und -begleitendes Angebot zu pflegen und zu kultivieren, es aber nicht unbedingt in der Form zu machen, dass man immer wieder versucht, den absoluten Hype zu erzeugen, weil der sich relativ schnell abnutzt und das Ergebnis dann absolut kontraproduktiv ist." - Einen anderen Ansatz folgt das Kunst-Konzept, mit dem das Fernsehen mittels künstlerischer (Hyper-) Stilisierung, Ästhetisierung, Überhöhung, aber auch Kritik re-perspektiviert wird. Bereits verstärkt ab den 1960er haben sich Künstler auf unkonventionelle und oftmals provokante Weise um die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen verdient gemacht und es zum wiederkehrenden Thema in der Videokunst werden lassen, um Anlässe zur Reflexion und Kritik zu bieten. Künstler wie Gerry Schum oder der Koreaner Nam June Paik, der sich mal zivilisations- und kulturkritisch, mal humorvoll-verspielt mit dem Fernsehen befasste, begründeten eine nachhaltige Hinwendung der Videokunst zu televisuellen Topoi, die aber einer Massenrezeption vorenthalten blieb (vgl. Haustein 2003: 98-110). Schum andererseits versuchte, seine Arbeiten im Fernsehprogramm des WDR unterzubringen, doch scheiterte er schließlich bei dem Versuch, auf diese Art nicht nur Kunst im Fernsehen, sondern Kunst mit dem Fernsehen zu realisieren. Der .andere' Blick auf das Fernsehen blieb in Kunstmuseen und im Fernsehen nur ein Randphänomen, auch weil mehr Wert auf das Verfremden und Befremden gelegt wurde als auf Authentifizierungs- und Kontextualisierungsstrategien, die sich nicht aus den Installationen und Bildern selbst ergaben. Gleichwohl sind künstlerische Ansätze mit und über das Fernsehen eine vielversprechende Ergänzung eines um die Integration unterschiedlicher Blickwinkel und neuer Ansichten des Mediums bemühten Fernsehmuseums. Schließlich, so Stephan Schwan (IfW), kann es auf Dauer keine Lösung sein, einen „Raum mit Bildschirmen vollzustopfen, auf denen nach bestimmten Kriterien alte Fernsehserien laufen oder chronologisch bestimmte Entwicklungen aufgezeigt werden oder archivierte Filme oder Serien verfügbar gemacht werden."

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

- Das Synergie-Konzept nimmt nicht allein das Leitmedium Fernsehen und seine Derivate in den Blick, sondern versucht es systematisch innerhalb eines weitergefassten medientheoretischen und medienpraktischen Zusammenhang zu verorten. Die bereits angeführte Basiskompetenz eines Fernsehmuseums, das Fernsehen in seinem Verhältnis zu den audiovisuellen Nachbarmedien Film, Radio, Videospiele und Internet zu relationieren, wird bei diesem Konzept zur ausgewiesenen Expertise des Hauses. Einige Einrichtungen haben bereits auf die Konvergenzprozesse innerhalb der audiovisuellen Medienproduktion reagiert, haben sich zwecks Öffnung eines breiteren Medienspektrums umbenannt (Museum of Television & Radio in Paley Center for Media) oder die institutionelle Identität angepasst (Deutsche Kinemathek als „House of Moving Images"). Die verantwortlichen Kuratoren und Abteilungsleister begründen diese Schritte mit der offensichtlichen Notwendigkeit, zum einen die immer häufiger erkennbaren Schnittstellen zwischen den Medien aufzuzeigen, andererseits mit dem Wandel der Mediennutzung mitzuhalten, bei der immer seltener zwischen Fernsehsendung, Kinofilm, Videospiel oder Internet-Video unterschieden wird, sondern Audiovisionen losgelöst von medialen Distributionskanälen oder Vertriebsplattformen begriffen werden. Dennoch besteht bei diesem Konzept das Risiko, neue mediale Entwicklungen nicht aus ihren eigenen Kontexten heraus zu beurteilen, sondern sie mit vorgefassten Begriffen, Deutungsmodellen und Diskurskonventionen aus anderen medienspezifischen Kontexten zu behandeln. So kritisiert Carl Goodman am Beispiel einer Ausstellung im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe über die Zukunft des Kinos, dass hier neue Medienkunstformen in die Schablone der Filmgeschichte gepresst worden seien: „What I saw in that, that this was new media art that should be looked at on its own terms and not justified and explained and ultimately whether it's successful or not in so far that it somehow furthers some kind of discourse about cinema. I found that the discourse was not fair or true to one's ultimate judgement of the work itself, and it would be much stronger if this work did not have to bare the burden of having been explained and intellectualized in cinematic terms." Dass die Gefahr eines ,FilmBlicks' wiederum auf das Fernsehen ebenfalls latent gegeben ist, räumen Rainer Rother, Peter Paul Kubitz und Peter Schwirkmann von der Deutschen Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen zwar ein, verteidigen jedoch die Eigenständigkeit der jeweiligen Domänen und betonen die erkenntnisreiche Aufgabe, mit einem synergetischen Ansatz Überlappungen und Parallelen zwischen Film- und Fernsehschaffen unter anderem auf Gattungs-, Ästhetik-, Wirtschafts- und Personalebene aufzuarbeiten und auszustellen. Wie schwierig es für einzelne Einrichtungen in der Praxis ist, einen Mittelweg zu finden und dem Wunsch nach einer umfassenden wie populären Vergewisserungs- und Vergegenwärtigungsanstalt rund um die Fernsehgeschichte gerecht zu werden, ist unschwer ersichtlich. Dass es aber trotzdem gelingen kann, mittels konzertierter Bemühungen diverser Akteure und Institutionen dem Ziel einen großen Schritt näher zu kommen, belegte die Sonder-Großausstellung „Der Traum vom Sehen", die unabhängig von muse-

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alen Mauern in den Jahren 1997 und 1998 im Gasometer Oberhausen für jeweils einige Wochen zu sehen war, über 530.000 Besucher anzog und begeisterte Resonanz hervorrief (Anonym 1998). Der Besucherandrang machte deutlich, dass eine attraktiv konzipierte Fernsehausstellung mit begleitenden Veranstaltungen und Veröffentlichungen zu einem Anziehungspunkt für breite Publikumsmassen sein kann. Nach der Eröffnung wurde der „Traum vom Sehen" mal als eine „Kathedrale der Technik" (Zöllner 1997), mal als „umfassende und systematische Selbstvergewisserung" (vgl. Kammann 1997) bezeichnet. Auf über 4.700 Quadratmetern, verteilt auf vier Stockwerke, wurden 500 Objekte aus der Fernsehgeschichte bis zurück zu den Pionieren der Fernsehtechnik wie allen voran Paul Nipkow und seine „Nipkow-Scheibe"67 präsentiert. Inszeniert wurde das Fernsehen als „Bildmaschine und Schnittstelle zum Erfahrungsschatz der Moderne" (Otten 1997). Dass neben genuinen Fernsehgeräten, alten Sendungen, Fernsehapparaten, Wohnungseinrichtungen und Devotionalien unter anderem auch Galileo Galileis Fernrohr oder eine 35-Millimeter-Kamera ausgestellt wurde, ist für Peter Paul Kubitz (DK), der das Begleitbuch zu der vom Szenografie- und Kommunikationsexperten Lutz Engelke und dessen renommierter Agentur Triad geplanten Ausstellung verfasst hat, auch heute noch ein gelungenes Beispiel für die Offenheit eines Kontextkonzeptes von Fernsehen, das „auch eine visionäre Seite hatte und eine, die quasi über die Kunst des Sehens selbst ging bis hin zum Wissenschaftsstreit um Galilei und den Weltraum. Oberhausen war nicht nur räumlich, sondern auch gedanklich noch größer angelegt." Visionär war in diesem Sinne der Blick in die Nahe Zukunft, wo bereits die Verschmelzung von Fernsehen und Internet prognostiziert wurde. Eine weitere Attraktion war der sogenannte „TV-Himmel", auf dem in einer „einfach-effektvollen Bizarrerie" (Zöllner 1997: 151) sämtliche in Deutschland empfangbaren Programme gleichzeitig auf einer Vielzahl von Bildschirmen wiedergegeben wurden. Besonders gelobt wurde das „ästhetische Erlebnis" sowie die „gelungene Verbindung zwischen Event und seriöser Dokumentation" (Fuhrig 1997), obgleich der Bereich der Medienkunst allenfalls rudimentär zur Geltung kam und die mit dem Fernsehen zusammenhängenden gesellschaftlichen Aspekte hauptsächlich im Begleitbuch behandelt wurden (Kubitz 1997). Im zweiten Jahr der Ausstellung erschien zusätzlich eine Aufsatz-Sammlung zu den durchgeführten „Media Lectures" über Fernsehen und Gesellschaft (Reichertz/Unterberg 1998). Der Großausstellung wurde nachträglich attestiert, sie habe für ein Umdenken in manchen Sendeanstalten beim Umgang mit dem Realienerbe gesorgt. Nach Auffassung von Dietrich Schwarzkopf, des ehemaligen ARD-Programmdirektors und Vorsitzenden der Historischen Kommission der ARD, hat der „Traum vom Sehen", wenn auch spät, in größerem Umfang deutlich gemacht, dass nicht nur technische Geräte, sondern auch Requisiten aus populären Sendungen der Fernsehgeschichte aufgehoben gehörten. So 67

In den 1880er Jahren erfand der Student Paul Nipkow das sogenannte „Elektrische Teleskop". Mit der darin integrierten Nipkow-Scheibe war das Gerät in der Lage, Bilder in Hell-Dunkel-Signale zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen. Die Nipkow-Scheibe spielte eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Fernsehtechnik.

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habe der NDR den Schreibtisch, an dem der Tagesschausprecher Karl Heinz Kopeke gesessen hat, entsorgt; doch nach der Ausstellung sei zumindest die Stellwand, vor der die Nachrichten verlesen worden waren, aufgehoben worden. Die Ausstellung habe somit ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass ein visuelles Medium wie das Fernsehen visuelle Erinnerungsanlässe über die Wiederholung von Sendungen hinaus brauche, wozu auch Gegenstände sowie technische Ausrüstung gehörten (vgl. Kramp 2005a: 87). Was der „Traum vom Sehen" als in seinem spektakulären Umfang nicht wiederholbares Ausnahmephänomen und singuläres Ereignis gelungen ist, lässt sich nach Auffassung von Peter Paul Kubitz (DK) aber nur schwerlich verstetigen, zumal in einem Museum. Eine Institution kann sich anders als unabhängige Ausstellungsprojekte nur in engen, nicht nur räumlichen Grenzen neu erfinden. Allerdings können leicht ersichtliche Lektionen aus dem Ausstellungserfolg gezogen werden: Fernsehmuseen müssen in ihren Angeboten gleichermaßen exklusiv und innovativ sein, um dauerhaft einem Publikum interessante und wechselvolle Alternativen zur herkömmlichen Mediennutzung und allgemeinverständliche Einblicke in die Hintergründe des Fernsehens bieten zu können. Zugleich wird es schwieriger, mittels eines vormals exklusiven Sammlungsbestandes seine Relevanz zu rechtfertigen: „Technology picked up the idea of the museum to make program accessible. Three years ago [...] it was another world. Three months ago it was a different world. So the priorities have changed how innovative the museum should be. It makes it a little bit harder, to be honest, to make ourselves relevant and to make ourselves important to the public" (Daniel Berger, MBC). Die aussichtsreichste Strategie, sich innerhalb der kulturellen Infrastruktur unentbehrlich zu machen, das immanente Rezeptionsdilemma hinter sich zu lassen und das Paradoxon seiner selbst in das allzu lang gesuchte funktionsträchtige Alleinstellungsmerkmal zu transformieren, ist zugleich die wichtigste Funktion von Museen generell: Die Übernahme von Verantwortung für die integrative Erinnerungs- und Bildungsarbeit einer sich aufsplitternden Gesellschaft als aktiver Verwahrer, Verwalter und Vermittler des Kulturerbes. 4.1.5.

Schlussfolgerungen

Die Auseinandersetzung mit der theoretischen Nähe des Massenmediums Fernsehens und der Institution Museum als eben solches hat ergeben, dass es weniger die grundsätzlichen Eigenschaften und Prinzipien der beiden wirkmächtigen Kommunikationsagenturen des Erinnerns und Vergessens sind, welche einer intensiveren Verschränkung von Museums- und Fernsehkultur entgegenstehen, sondern vielmehr ihre unterschiedlichen Funktionen, die sie in der sozio-kulturellen Ordnung erfüllen und das Fernsehen und seine historische Sonderrolle bisher kaum von der Museumstradition beachtet wurde. Die weithin festzustellende Popularisierung von Museumsinhalten und -Inszenierungen haben nicht notwendigerweise dazu geführt, dass Fernsehüberlieferungen in einen intensiveren Fokus gerückt wurden. Nur langsam entwickelt sich im traditionellen Museumsfeld ein Interesse für die Belange des Fernsehens, das sich in der Regel jedoch auf den dokumentarischen Wert von Fernsehinhalten für die Beschäftigung mit zeitgeschichtlichen

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Fernsehmuseen

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Ereignissen konzentriert. Dies stellt Museen, die sich dem Fernsehen als solches widmen, auch heute noch vor die Herausforderung, die komplizierte Beziehung zwischen der Gewöhnlichkeit der alltäglichen Fernsehwahrnehmungen und der Außergewöhnlichkeit der Museumserfahrung auszuloten und dabei neue kommunikative und inszenatorische Mittel bei der musealisierten Repräsentation von Fernsehgeschichte zu finden. Die variantenreichen Spielarten und Facetten des Fernsehens verlangen Fernsehmuseen konzeptionelle Strategien ab, die Vielschichtigkeit des Mediums, seiner Entstehungskontexte sowie Distributions- und Wirkungszusammenhänge und speziell der Multi-Perspektivität von Rezeptionsmodi in professionellen (z.B. fernsehschaffend, wissenschaftlich, journalistisch) und privaten (z.B. individuell, kollektiv) Kontexten zu behandeln und in der physischen Museumsumgebung erfahrbar zu machen. Eine der größten Schwierigkeiten besteht darin, neue Ansätze zu finden, um musealisierten Fernsehüberlieferungen eine museumstypische auratische Ausstrahlung zu verleihen: Hier wird der Museumszusammenhang allein nicht ausreichen, um die Gewöhnlichkeit televisueller Sammlungsstücke, die aus den Alltagserfahrungen des Besuchers mit den facettenreichen Hervorbringungen des Fernsehens erwächst, zu durchbrechen und Faszination sowie den Eindruck eines äquidistanten Nähe-Ferne-Gefühls aufkommen zu lassen. Hierzu braucht es den Logiken des Mediums folgende, sie aber zugleich entlarvende, das heißt sie ausstellende und hinterfragende und daher den Besucher überraschende inszenatorische und speziell pädagogische Konzepte, um die Gewöhnlichkeit der Fernsehrezeption oder auch die unscheinbaren Artefakte aus den Produktionskontexten der Fernsehgeschichte aufzuwerten. Auf diese Weise lassen sich auch die ungewöhnlichen Umstände und Probleme der Fernsehrezeption im Museum in den Griff bekommen. Wenn sich auch Fernsehmuseen trotz ihres überregionalen, in den meisten Fällen nationalen oder gar globalen Anliegens, das Fernsehen und seine Geschichte in der Gesellschaft die kulturelle Anerkennung zuteil werden zu lassen, die ihm aufgrund seiner organischen Verflechtung mit den Autobiographien beinahe aller Bevölkerungsteile zukommt, trotz aller Fragmentarisierungstendenzen auf ihre Position inmitten der Gesellschaft-als-Gemeinschaft besinnen und sich als Ort der Zusammenkunft „for people who love television" (Bruce DuMont, MBC) verstehen, lösen sich durch die gemeinschaftlichdiskursive Strukturierung der Museumskommunikation viele scheinbar konfligierende Besucherintentionen (z.B. Nähe vs. Distanz, Wiederfinden vs. Entfremden, Individualvs. Kollektiverleben) in Wohlgefallen auf. Wenn ein Fernsehmuseum gezielt darauf setzt, das Zusammensein von Zuschauern und Fernsehverweigerern, Fernsehmachern und Fernsehanalytikern, Künstlern und speziell auch Gästen fremdländischer Fernsehnationen zu kultivieren, als frei ohne Anmeldung zugängliches Zentrum rund um das Medium und das Freud und Leid, die Zelebration und Kritik, Kreation und Dekonstruktion rund um seine Facetten ein Begegnungsort zu sein, der die imaginativen und die tatsächlich greifbaren professionellen Gemeinschaften zusammenführt, kann dieses lebendige Mit- und auch Gegeneinander vom Museum genutzt werden, um sich als eine neue Form von medial fokussiertem Gesellschaftsforum zu profilieren:

378

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

„Its one of the great frustrations of academia: You have a large population of people who are very very smart. And they have mastered the tasks of talking to themselves. And harnessing the intellect and passing it around on one level. I believe that the internet has ushered in an era where those that are below that academic population are thirsting for more information. [... ] The people up here have to share more with the people down here - or the other way round, too. In fact, I would say the thirst to know more is greater down here than up here, because the ones up here may think they know it all" (Bruce DuMont, MBC). Als Forum aktueller Diskurse verstehen sich auch ausdrücklich die Deutsche Kinemathek, das Paley Center for Media und das Newseum. Hier sollen nach Aussage der befragten Vertreter nicht nur historische Belange diskutiert werden, sondern auch aktuelle Problemstellungen auf „neutralem" Boden (Ron Simon, PCM). Paul Sparrow inkludiert für das Newseum gar Stadtratsitzungen und präsidiale Debatten in das Spektrum der Forumsfunktionen. Übergreifender Anspruch bleibt jedoch, die Sammlungsexpertise und den Zugang zu ansonsten unzugänglichen Raritäten mit dem Gedanken eines „subversiven Archivs" (Peter Paul Kubitz, DK) zu verknüpfen, mit dem sich unterschiedliche Zielgruppen ansprechen und aktuelle Debatten speisen lassen, um als Ressource, Moderator, aber auch als Think Tank fernsehhistorische Bezüge zu gestalten und Anschlusspunkte für individuelle und kollektive Erinnerungsprozesse zu bieten. Museumsangebote in Form von Ausstellungen, Veranstaltungen, Publikationen usf. können daher auch als redaktionelles Angebot mit Fernsehen über Fernsehen verstanden werden, die im besten Fall das Medium Fernsehen durchdringen und darüber hinausweisen, um Zusammenhänge herzustellen, neues Wissen zu vermitteln und persönliche Erinnerungen zutage zu fördern. Dadurch wird es dem Rezipienten als Museumsbesucher ermöglicht, über das Fernsehen zu sich selbst und der eigenen Autobiographie und Identitätsbildung zu finden, sich des Wandels des Fernsehens und seiner Wahrnehmung bewusst zu werden, sofern individuelle Bezüge aktiviert werden. Fernsehmuseen obliegt es also, mittels strategischer Bildungsarbeit die Grundlage zu legen für eine das Fernsehen und seine sozialen und kulturellen Auswirkungen reflektierende gesellschaftliche Erinnerungsarbeit.

4.2.

Museale Bildungsstrategien als conditio sine qua non Erinnerungsarbeit in Fernsehmuseen

gesellschaftlicher

Die differenziale Bedeutung des Museums im Vergleich zu den übrigen Orten des öffentlichen Lebens und institutionelle Säulen der Kulturerbe-Verwaltung ist sein zweigeteilter und gleichsam in Übereinkunft miteinander gebrachter Charakter als Institution der kontinuierlichen zeitübergreifenden Wissen- und Erinnerungstradierung und als sozialer Ort der Begegnung, welcher der Gesellschaft als Anlaufstelle dient, um sich unterhaltsam und erkenntnisreich mit den Zeitläuften in Beziehung zu setzen und damit das eigene Dasein im Lauf der Geschichte zu verorten. Museen sind zu Orten geworden, an denen sich viele Bevölkerungsteile gern aufhalten, wo eine „hohe Aufenthalts-, Entspannungs-,

IV.4. Museumsfemsehen, Fernsehmuseen

379

aber auch Erlebnisqualität" erkannt und geschätzt wird, wie Joseph Hoppe (DTM) bemerkt. Durch den zunächst quantitativ messbaren Erfolg musealer Einrichtungen (vgl. auch Kapitel IV.4.1.1.) gehörten „Museen mittlerweile zu den wichtigsten Orten einer physischen Öffentlichtkeit". Dies hat auch weitreichende Konsequenzen für die Stellung von Museen als einflussreiche Prägeinstanzen von gesellschaftlichen Erinnerungsprozessen: Je mehr sich eine auseinanderstrebende, multikulturelle Gesellschaft in Museen auf die Suche nach Antworten auf Sinn- und Seinsfragen begibt, die individuelle Identitätsbildung zu einem gewissen Anteil an den Angeboten von Einrichtungen ausrichtet, die sich der Aufarbeitung und Vermittlung allgemein kultureller, historischer und speziell kulturhistorischer Kontexte verschreiben, desto stärker deutet die Popularität von Museen in die Richtung einer (Re-) Institutionalisierung der individuellen Erinnerungsarbeit, die angesichts von Gegenwartszwängen mehr und mehr auf Orientierungs- und Assistenzleistungen seitens berufener Gedächtnisorganisationen angewiesen ist. „Die Besucherzahlen in Museen steigen jedes Jahr. Das ist schon einmal ein erstaunliches Phänomen, weil man eigentlich bis vor einigen Jahren glaubte, dass Museen ein schwieriges, aussterbendes Genre sind oder sein werden. Woran liegt das? Ich glaube, es hat viel damit zu tun, dass sich für viele Menschen die Lebensbedingungen im Familienbereich und im beruflichen Bereich so rasant und gravierend in den letzten zehn, fünfzehn Jahren geändert haben, dass Museen eine große Bedeutung haben als Orte der Selbstvergewisserung. Museen fungieren somit wie ein Erinnerungsakku. Man begegnet dort den Dingen, von denen man sich selbst schon längst getrennt hat. Es ist sehr oft der Fall, dass der Museumsbesuch gleichzeitig von mehreren Generation gemeinsam gemacht wird, das heißt der Museumsbesuch ist auch ein wichtiger Teil der Tradierung von Wissen und Erinnerung und Geschichten" (Joseph Hoppe, DTM). Wenn Hoppe vom Museum als einem „Erinnerungsakku" spricht, betont er damit nicht nur organisationelle Merkmale wie die institutionelle Verlässlichkeit von Museen, ihre fachliche Expertise sowie ihre dauerhaften Bewahrungsanstrengungen. Die entscheidende Funktion ist, folgt man der Akkumulator-Metapher, die enge Verbindung zwischen Museum und Bevölkerung, einhergehend mit einer stark integrativen Wirkung auf die generationsübergreifende Kommunikation: Museen helfen bei der Verständigung innerhalb Familien, innerhalb und zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsteilen, Verständnis für die Probleme kultureller Minoritäten und die Aufwertung des individuellen Identitätsbildes im gemeinschaftlichen Kontext. Das Museum als historisch arbeitender Integrationsort ist also mehr als die Summe seiner Erinnerungsveranlassungsleistungen, die der Kulturwissenschaftler Gottfried Korff Ausstellungsstücken attestiert (Korff 2007: 143). Zwar konstruiert erst der Museumsbesucher im räumlich-musealen Kontext kulturellen Sinn, erinnert sich an eigene Erfahrung mit dem Ausstellungsgegenstand und setzt sich somit mit der historischen Ferne in der gegenwärtigen Nähe zum überlieferten Zeugnis der Vergangenheit auseinander. Und doch ist das Museum aufgrund seiner Funktion als kulturabbildende, kulturschaffende und kulturell integrative Institution mehr als ein

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Instrument des Besuchers: Qua seiner Scharnierstellung zwischen der Gesellschaft und ihrer Vergangenheit fungiert das Museum als strategisch agierende Leitagentur gesellschaftlichen Erinnerns, die mittels gezielt ausgerichteter Programme ihre Verantwortung als wert(e)voller, aber stets neu und divergierend mit mnestischer Energie aufladbarer kultureller Speicher wahrnimmt. Ihre Ziele, sei es die aufklärende Wissensvermittlung, die Stärkung kultureller Identität, das Verständnis für fremde Kulturen oder die Moderation des Wertewandels, erreichen Museen daher nicht per se durch ihre Existenz als Oase der Besinnung und Reflexion in einer vergessensintensiven Zeit. Als hütender Vermittler des kulturellen Überlieferungsbestandes, aber auch als informelle Bildungseinrichtung (im Gegensatz zur Schule oder zur Universität) gilt es, auf möglichst öffentlichkeitswirksame und Attraktionspotenziale entfaltende Weise die Erinnerungsarbeit mit dem Bildungsanspruch breiter Bevölkerungskreise zu verbinden: „Museum learning is a transformative, affective experience in which we develop new attitudes, interests, appreciation, beliefs, or values in an informal, voluntary context", definiert Museumsberater Barry Lord den musealen Lernprozess (Lord 2007: 17). 68 Bildung wurde zum wichtigsten Aufgabenbereich von Museen (vgl. Hooper-Greenhill 1999a: 3). Das Museum wird damit vom Ort der bloßen Repräsentation zu einem Ort der Reflexion (vgl. Fehr 1995: 19). Damit steht die tatsächliche Aneignung und mentale Verarbeitung von Museumsinhalten im Vordergrund. Lehrpersonal steht daher nach dem Kuratorium auch an zweiter Stelle der maßgeblichen Berufsgruppen innerhalb des Museums (Maroevic 1998: 122). Der Bedeutungszuwachs bildungsstrategischer Maßnahmen hat übergreifend zu einem Wandel nicht nur der Museumsangebote geführt, sondern teils auch die Mandate der öffentlichen Einrichtungen verändert (Hein 1998: 12; Hooper-Greenhill 2000: 1). Dies betrifft ebenso Fernsehmuseen und hat vor allem die Häuser in den USA und Kanada unter Druck gesetzt, ihre schematisierte Thematisierung entweder der Programm- oder der Objektgeschichte des Fernsehens zu überdenken (vgl. u.a. Kapitel IV.4.3.1.1.). Der aufgrund der Juvenilität und begrenzten Mittel zwangsläufig marginale Rang der audiovisuellen Sendesammlung der Deutschen Kinemathek hat dazu geführt, dass gerade die Fernsehabteilung des Berliner Museums inmitten sich verändernder Paradigmen die Komplexitäten und Möglichkeiten sammlungsunabhängiger fernsehmusealer Aktivitäten erkundet, die auf die gemeinsame Formel gebracht werden könnten: Zunehmend steht nicht mehr der einzigartige Wert der Museumssammlung im Vordergrund, sondern die Art und Weise sowie das Ergebnis

68

Gleichwohl merkt er im Expertengespräch an, dass die Bildungsaufgabe in ihrer Dominanz erst spät als ausgewiesenes Ziel der Museumsarbeit auserkoren wurde und die Funktion zur Bewahrung und Pflege des Überlieferungsgutes tendenziell in den Hintergrund rückt: „ A great deal of the literature nowadays especially tends to suggest that museums should see themselves as informal learning institutions. That's all they should be. I don't think that's a good outlook because museums remain focused on preserving the heritage and interpreting it. I think the learning function is good, but it's really a secondary aspect. But many people think of it as a primary task, and it has definitely increased in recent years" (Barry Lord, LCR).

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

381

dessen, was die Museen und die Museumsbesucher daraus konstruieren und funktional für sich und ihre Entwicklung gewinnen. Auch Fernsehmuseen begreifen sich, das hat die Expertenbefragung ergeben (vgl. auch Kapitel IV.4.3.), vermehrt als Gedächtnisorganisationen im Dienste von Teilöffentlichkeiten, die aus ihren kulturellen, Sozialisierungs- und Lebenskontexten heraus über ganz unterschiedliche Beziehungen zum Museumsthema bzw. -gegenständ verfügen. Fernsehrezipienten, Fernsehakteure, Fernsehanalysten: Sie alle stellen keine homogenen Adressaten musealer Öffentlichkeitsarbeit dar, sondern tragen in ihrer Binnendifferenzierung und ihren verschiedenen Zugängen zum Fernsehen zu einer herausfordernden Pluralisierung des im Museum anzustoßenden Diskurses bei. Divergierende Perspektiven und Projektionen auf das Fernsehen sowie damit zusammenhängende Wertungen konkretisieren sich in den individuellen Erfahrungswerten und Erinnerungen der Besucher, seien sie professionelle Vertreter des Fernsehbetriebs, kritische Beobachter oder durchschnittliche Zuschauer. Ihre persönlichen Eindrücke und Haltungen sind in ihrer Vielfalt zunächst durch Unstrukturiertheit, durch Bruchstückhaftigkeit und ihren fehlenden Zusammenhang zueinander gekennzeichnet und daher kaum effizient zu funktionalisieren. Erinnerung im Museum erfordert also über die Einbettung in einen historisch gesicherten Kontext hinaus eine gemeinsame Basis, auf der Verbindungen und Relationen geknüpft werden können, um es dem einzelnen Besucher zu ermöglichen, sich seiner selbst, der medialen Hintergründe, aber auch der anderen Akteure und ihrer Beweggründe auf Rezipienten- oder Produzentenseite gewahr zu werden, um daraufhin wiederum die eigenen Vergangenheitsbezüge mit anderen in einen fruchtbaren Austausch zu bringen und einen Verständigungs- und Lernprozess zu starten. Folgt das Museum einem ganzheitlichen Bildungsverständnis im Sinne einer Reifung des Individuums durch Erfahrungs- und Wissenserwerb setzt dies also kommunikative Anstrengungen voraus - seitens des Museums durch eine Auswahl an Vermittlungsangeboten, seitens des Besuchers durch die Bereitschaft, sich selbst in den musealen Diskursrahmen einzubringen und den Vermittlungsanliegen zu öffnen. Kommunikation wird dadurch zur Grundlage der Bildungsarbeit im Museum und damit auch zu einem Vehikel und wichtigste Klammer für die Erinnerungsarbeit: ,,[T]oday in the modern sense of what communication in the museum is we are weaving education [...] into all kinds of experiences that can be summarized under the terms communication, interpretation. So it isn't just being in a classroom, it is everything about the museum and everything in the museum has an educative function" (Lynne Teather, UT). Museen stehen in direkter Konkurrenz zu einer Vielzahl anderer Bildungsangebote in formellen wie informellen Kontexten. Mit ihren Vermittlungsanstrengungen bewegen sie sich daher stets im Spannungsfeld zwischen einem eher formalisierten Bildungsanliegen und Freizeitvergnügen mit nur potenziellem pädagogischen Mehrwert (Falk/Dierking 2000: 207). Zwar wird dem Menschen in der Informationsgesellschaft vonseiten der Erziehungswissenschaft attestiert, dass er nie aufhöre(n könne) dazuzulernen und nach Er-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

kenntnisgewinn zu streben. Eine exponierte Position als Anlaufstelle für das lebenslange Lernen fällt Museen und speziell Fernsehmuseen deshalb indes nicht automatisch zu: „Free-choice learning - learning that is intrinsically motivated - is not something new; humans have always done it. However, in the new Learning Society, free-choice learning will consume more of our time and be elevated to a higher status and importance. Free-choice learning is reflective of the learning individuals do because they want to rather than because they have to. It includes watching the news on television, reading an arts magazine, surfing the Internet to find out about a health-related concern, touring a historic site while on vacation, and visiting a natural history museum to see a new exhibition on dinosaurs" (Falk/Dierking 2000:213). Wird von einer Vielzahl von Bildungsquellen ausgegangen, die vom Rezipienten in sein e m alltäglichen Handeln, auch und vor allem in seinem Medienhandeln aktiv ausgewählt und genutzt werden, erweist sich das Museum als nur ein Angebot unter vielen im vielstimmigen Konzert der selbstgesteuerten Individualbildung. Dementsprechend weist Hooper-Greenhill auf die grundsätzliche Marginalität des Museums im alltäglichen Leben hin und fordert den Abschied von der museumszentrierten Bewertung der Bildungsfunktion von Museen, um sich einem mehr soziologischen und ethnographischen Modus bei der Einschätzung und Adressierung von Besucherinteressen anzunähern: ,,[0]nce research is conducted from outside the museum, in homes and places of work or recreation, it becomes clear how marginal museums are to most people's daily existence. The only people to whom museums are of central concern are those who work in them. For everyone else, museums must be fitted into their busy schedules, their personal and social identities, their interests and agendas. For everyone except museum workers, museums are at a distance, out there, one of a range of social institutions that can be used or avoided at will. In fact, of all social institutions, museums are one of the easiest to avoid" (Hooper-Greenhill 1999a: 11). Die kulturgeschichtlich begründete Relevanz von Museen als Gedächtnisorganisationen muss daher mit Publikumsakzeptanz im Hinblick auf die Bildungs- und Erinnerungsarbeit untermauert werden. Die Hinwendung zu den tatsächlichen Bildungsbedürfnissen in den Reihen des Publikums ist aus dieser Sicht nur konsequent: Wenn es tatsächlich eine Hypostasierung des Besuchers gibt, wie anhand der Popularisierungstendenzen in der Museumskultur seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist, helfen weder ein autoritärer Bildungsansatz noch standardisierte Lehrpläne weiter. Der informelle Lernkontext in Museen erfordert auf das jeweilige Haus, seine Inhalte, Anliegen und Publika zugeschnittene Bildungskonzepte, die zudem mit dem grundsätzlichen Dilemma zurechtkommen müssen, den tatsächlichen Bildungserfolg in den meisten Fällen nicht überprüfen zu können, da der Einfluss des Museums meist immer dann schwindet, wenn der Besucher das Museumsgebäude verlässt. Außerdem gibt es aufgrund der individuellen Sinnkonstruktionen der Besucher keinerlei Garantie dafür, dass die jeweiligen (Lern-) Inhalte auch tatsächlich in der vom Museumspersonal intendierten Form rezipiert werden (vgl. auch Hooper-Greenhill 2000: 4). Das Museum kann also nur anbie-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

383

ten, nicht abfragen. Jeder Besucher verfügt über seine eigenen Erfahrungen und setzt sie in Bezug zu seinen individuellen Wahrnehmungen im Museum. Das können zum einen vormalige Museumsbesuche sein, zum anderen aber auch soziale Prägungen, Faktenwissen, Launen oder auch Schuldgefühle oder Vorurteile. Mit diesen ihnen eigenen Erinnerungen „möblieren" die Besucher das Museum, gleich welchem Thema es sich widmet (vgl. Crane 1997: 54) und arbeiten damit genauso kuratorisch wie der professionelle Museumsangestellte (vgl. Silverstone 1994: 165). Zwar ist der Besucher in seinen Interpretationsleistungen weiterhin abhängig von den sammlungsspezifischen und inszenatorischen Vorgaben des Museums, doch wie das Angebot wahrgenommen und verarbeitet wird, wird durch das Zustandekommen einer erfolgreichen kommunikativen Beziehung zwischen Museum und Besucher bestimmt. Als „Disziplinierungsmaschine" (Schmidt-Wulffen 1999) taugen Museen, die einem konstruktivistischen Lernansatz folgen, daher kaum noch, da ein allzu autoritäres Kommunikationsverhältnis den Erfolg eines Austausche eher verhindert, als ihn zu befördern. Daher wird eine übermäßige Pädagogisierung größtenteils vermieden (vgl. Hein 1998: 179). Aussichtsreicher auch für Fernsehmuseen ist eine Entwicklung, die der Museumspraktiker Harold Skramstad allgemein bei der öffentlichen Funktionalisierung von Museen innerhalb zeitgenössischer Gesellschaften erkannt hat: Sie werden als Forum gleichberechtigter Diskursteilnehmer zu einem „Schlachtfeld" kultureller und historischer Debatten (vgl. Skramstad 2004: 129), weil die Hegemonie über Deutungen, Erinnerungen und Wissensvermittlung nicht eindeutig der Museumsexpertise zugeschrieben werden kann, sondern unablässig zwischen Kuratorium und Besuchererfahrung schwankt. Duncan Cameron hat in seinem Grundlagenaufsatz zur kulturellen Funktion von Museen auf die Unvereinbarkeit des modernen Konzeptes des Museums als Forum und des klassischen Konzeptes des Museums als Tempel hingewiesen (Cameron 1971), doch hielt er eine Zusammenführung beider Extreme unter bestimmten Voraussetzungen nicht für unmöglich: ,,[T]he forum is where the battles are fought, the temple is where the victors rest. The former is process, the latter is the product" (ebd.: 21). Auf der Suche nach aussichtsreichen und effizienten Formen der Einbindung großer Publika ist es speziell Fernsehmuseen nicht zu verdenken, wenn sie sich ikonischer Überlieferungen oder Figuren der Fernsehgeschichte bedienen, um mittels der Ausstellung auf Produktebene Interesse zu generieren und auf Prozessebene Diskurse und Austausch, auch Streit anzustoßen, um mittels der dualstrategischen Kombination von Zelebration und Dekonstruktion die primäre Funktion des Museums zu erfüllen: den kulturellen Fundus über die Engagierung von Teilöffentlichkeiten zu funktionalisieren, ihn also in der Gegenwart für Gegenwart und Zukunft lebendig und bedeutsam zu erhalten. Durch die Fragmentierung gesellschaftlicher Identitäten und die damit einhergehende Einforderung gruppenspezifischer Geschichtsentwürfe und subkultureller Erinnerungsströmungen, wird es zunehmend schwieriger, im Museum sprichwörtlich auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. In den Folgekapiteln werden auf Basis der durchgeführten Expertenbefragung institutionsübergreifende Strategien zur Bildungs- als Erinnerungsarbeit von Fernsehmuseen

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IV. Status Quo und Perspektiven

der

Fernseherbe-Verwaltung

untersucht. Dadurch dass Museen die Leitlinien und beständigen Symbole von Erinnerungskulturen mit der unsteten Dynamik aktueller kultureller Prozesse verknüpfen, sind sie in besonderer Weise gefordert, das Bildungsgefalle in Bezug auf den jeweiligen Kulturbereich zu verringern. Inwieweit der aufklärerische Impetus aus Sicht der Experten mittels nostalgiefördernder Ansätze erfüllt werden kann, wird in Kapitel IV.4.2.1. näher erörtert. Fernsehmuseen adressieren hierbei stark voneinander abgegrenzte Teilbereiche der Öffentlichkeit, die nur schwer miteinander in einen Austausch versetzt werden können: Zwar wird vorrangig der Durchschnittszuschauer als Vertreter der allgemeinen Öffentlichkeit angesprochen, aber es spielen auch unter anderem verschiedene wissenschaftliche Fachdisziplinen, die gesonderte Expertisen in Bezug auf das Fernsehen herausgebildet haben, sowie professionelle Vertreter der Fernsehwirtschaft eine wichtige Rolle. Konkret notwendig ist daher eine differenzierte Zielgruppenarbeit (Kapitel IV.4.2.2.), die sich nicht allein an Rezipienten richtet, sondern auch an die Macher im Hintergrund, nicht nur an die administrativen Kräfte des Fernsehprogrammbetriebs, sondern auch an die kreativen Akteure aus der Produktion oder das technische Personal. Neben dieser funktionalen Ausrichtung erfordert eine effektive Bildungsarbeit außerdem eine demographische Differenzierung, dass also die Museumsangebote sich nicht nur grob an ein kindliches oder erwachsenes Publikum richten, sondern den jeweiligen, stark untergliederten Entwicklungsstadien von Altersgruppen entsprechen (vgl. Hein 1998: 175). Weiterhin für notwendig erachtet wird eine Aufgliederung nach ethnischen bzw. (sub-) kulturellen Hintergründen, welche die Vielfalt der Erfahrungshorizonte in- und ausländischer Publika mit einbezieht (vgl. Brown 2004). Eine solch breit aufgestellte und in sich differenzierte Bildungs- und Erinnerungsarbeit ist vor allem für die existierenden Fernsehmuseen essentiell, um in den Metropolen Berlin, Chicago, Los Angeles, New York und Toronto einem auch stark touristischen Besucherfeld ansprechende Angebote machen zu können und die Potenziale des interkulturellen Austausche auszuschöpfen. Welche Form der medienbezogenen Bildung für notwendig erachtet wird und welche Instrumentarien dabei am aussichtsreichsten beurteilt werden, wird in Kapitel IV.4.2.3. hinterfragt. Die Freiwilligkeit und der informelle Kontext des musealen Lernprozesses wie auch die Auseinandersetzung mit dem Massenmedium Fernsehen an sich verlangen auf Seiten des Besuchers nach einer Reihe von Kompetenzen, die in den meisten Fällen erst im Museum ergründet, eingefordert und in diesem Zuge auch gestärkt werden können. Die führenden Fernsehmuseen in Nordamerika und Deutschland haben sich mit zwar voneinander abweichenden Vorgehensweisen dem im Ergebnis jedoch ähnlichen Ziel verschrieben, ihre Besucher in die Lage zu versetzen, im doppelten Sinne etwas mit Medien und insbesondere dem Fernsehen anzufangen zu wissen. Die konstruktive Auffassung des Lernprozesses verpflichtet das Museum, sich nicht nur der weiten, uneinheitlichen Gesamtheit von Erinnerungen und Vorprägungen seitens des Publikums zu öffnen, sondern sich damit einhergehend auch der multiplen Intelligenzen seiner Besucher bewusst zu sein, sie herauszufordern und anzuregen, aber auch, falls nötig, zu kompensieren.

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

385

Der Psychologe Howard Gardner hat sieben maßgebliche Intelligenzen des menschlichen Intellekts unterschieden: Neben der sprachlichen, musikalischen, logisch-mathematischen, räumlichen und körperlich-kinästhetischen Intelligenz maß er den personalen Intelligenzen die weitaus größte Bedeutung zu, wenn sie auch vielfach und eng mit den anderen Intelligenzformen verknüpft seien (Gardner 1991: 219-220). Die interpersonale Intelligenz lässt sich auch mit sozialer Intelligenz bezeichnen: Durch sie können Personen das Verhalten, die Handlungen und Äußerungen ihrer Mitmenschen verstehen und dadurch in der Gesellschaft bestehen. Mit intrapersonaler Intelligenz wiederum beschreibt Gardner die basale Fähigkeit, sich selbst, seine Motivationen, Wünsche und Ängste zu verstehen und in den Gesamtzusammenhang der eigenen Autobiographie einordnen zu können. Je besser sich eine Person selbst, ihre Erfahrungen, Gewohnheiten, Präferenzen, Wünsche usf. analysieren und ergründen kann und sich dadurch im Sozialgeflecht der Gesellschaft durchsetzen kann, desto effektiver ist es ihr laut Gardner möglich, ihr Leben zu bewältigen. Die durch das gleichnamige Bestseller-Buch des Psychologen Daniel Goleman postulierte „Emotionale Intelligenz" (Goleman 1996) kann dabei als Überbegriff für die von Gardner differenzierten personalen Intelligenzen dienen und wird im erinnerungsaffinen Fernsehmuseum besonders angesprochen. Grundsätzlich lässt sich indes auf Basis der Theorie der vielfachen Intelligenzen feststellen, dass in Bezug auf die Lern- und Erinnerungsfähigkeit des Individuums ein ganzheitlicher Ansatz im Rahmen der Bildungsarbeit anzustreben ist. So stark oder schwach die geschilderten Intelligenzen beim einzelnen Museumsbesucher ausgeprägt sein mögen, kann ein Museum sie auf vielerlei Arten adressieren. Die Annahme, dass jeder Mensch auf divergierende Weise in den genannten Ausprägungen begabt ist, stellt das Museum vor die schwierige Aufgabe, die auseinanderstrebenden Befähigungen, Ansprüche und Erwartungen des Publikums durch seine Angebote integrativ zusammenzuführen. Innerhalb heutiger Gesellschaften mit multikulturellen Merkmalen sind Museen beliebte Anlaufpunkte für die Vermittlung tradierter Wertesysteme, mit deren Hilfe kulturelle Verständigung und Integration ermöglicht wird. Nicht erst aufgrund begrenzter Ressourcen wird Fernsehmuseen angeraten, ihre thematische Variationsbreite und die Attraktivität ihres Sammlungs- und Ausstellungsgegenstands durch Kooperationen mit Fremdeinrichtungen auf nationaler und internationaler Ebene zu nutzen, um die eigenen Angebote zu komplementieren, neue Bevölkerungsschichten für die eigene Arbeit zu gewinnen und den Bildungserfolg zu erhöhen. Durch die Zusammenarbeit mit Institutionen wie Schulen oder unabhängigen Jugendeinrichtungen, Fan-Organisationen oder anderen Fernsehmuseen lassen sich Bildungsanstrengungen kombinieren und durch den gegenseitigen Wissens- und womöglich auch Materialtransfer effektiver gestalten. Durch seine vermittelnde Tätigkeit bei der Verbreitung und Manifestierung kulturellen Wissens kreiert das Museum wirksame Bezüge zwischen individuellen Gedächtnissen, kollektiven Erinnerungskonjunkturen und kulturell bedeutsamen Topoi und ist damit auch im Bereich der Fernseherbe-Verwaltung die wohl bedeutendste gesellschaftliche Institution, die durch informelle Bildungsarbeit zur Stärkung der kulturellen Identität beiträgt.

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Kooperationen werden meist im Rahmen von Veranstaltungen umgesetzt, die begleitend oder ergänzend zur Ausstellungsarbeit organisiert werden. Neben der Kuratierung von Ausstellungen kommt dem Veranstaltungsmanagement innerhalb der Organisation von Fernsehmuseen aber auch generell eine hervorgehobene Rolle zu, gleich ob es sich um Führungen, Performanzen, Vorträge, Diskussionen, Festivals oder um weitere Arten der publikumsorientierten Vermittlungsanstrengungen handelt (Kapitel IV.4.2.5.). Da das Museum als keineswegs verpflichtendes Bildungsangebot um die selbstständige Lernbereitschaft seiner Besucher werben muss, werden Veranstaltungen als probates Mittel erachtet, um das Interesse des Besuchers zu wecken und ihn für einen angemessenen Zeitraum in die Museumsoperationen einzubeziehen; denn ausreichend Zeit für den Erwerb von Wissen zur Verfügung zu haben, ist ein wichtiger Faktor für die Effektivität des Lernprozesses (Hein 1998: 171). Als ebenso unerlässlich gelten soziale Interaktionen, da Museumsbesuche ohnehin überwiegend Gruppenerlebnisse darstellen (vgl. ebd.: 172). Veranstaltungen dienen also auch dazu, größtenteils monodirektional kommunizierte Ausstellungsthemen für weitere Perspektivierungen zu öffnen, diese in gemeinsamer Anstrengung mit Besuchern und Experten wie beispielsweise Wissenschaftlern, professionellen Akteuren oder bestimmten Zeitzeugen zu diskutieren und den schieren Überlieferungsreichtum diskursiv zu bewältigen. Durch die Angebotsübersättigung im alltäglichen Mediengebrauch können Veranstaltungen in ihrer inhaltlichen und auch zahlenmäßigen Mannigfaltigkeit das Fernsehmuseum als einzig geeigneten Ort der Begegnung von Zuschauern und Sendeverantwortlichen entwerfen, um eine sonst allenfalls imaginative Gemeinschaft zusammenzubringen und miteinander ins Gespräch zu bringen, indem interpersonale Bezüge und Verbindungen geknüpft und eigene Erfahrungen personalisiert und kontextualisiert werden. Daraufhin werden ebenso noch raumsprengende Kommunikationsstrategien diskutiert (Kapitel IV.4.2.6.), welche dazu geeignet sind, die Museumsarbeit über die Museumsmauern hinaus wirksam zu gestalten und ihr eine angemessene Nachhaltigkeit zu verleihen. Hier kommt zur Sprache, dass in den untersuchten Fernsehmuseen zum Teil eine Renaissance klassischer Konzepte der musealen Öffentlichkeitsarbeit zu beobachten ist, die Form der gedruckten Wissensvermittlung an anderen Orten jedoch kategorisch als unzeitgemäß abgelehnt wird. Im Aufschwung ist das Internet als Kommunikationsund Informationsinstrument, wird in seiner Funktionalität aber noch ambivalent bewertet - mit Auswirkungen auf die Effizienz des Ausbaus virtueller Museumsangebote und digitaler Feedbackmechanismen. Aber auch der direkte Kontakt zur Fernsehindustrie wird mancherorts als vielversprechende Strategie begriffen, durch direkt und indirekt an andere Massenmedien und Medientechnologien gekoppelte Inhalte die Museumserfahrung räum- und zeitunabhängig zu distribuieren.

IV.4. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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4.2.1. „Down the Memory Lane": Bildungsarbeit im Fernsehmuseum zwischen Nostalgie und Aufldärung Die Attraktivität des Fernsehens als Instrument und Thema der Bildungs- und Erinnerungsarbeit im Museum wird im Expertenkreis nicht in Frage gestellt. Das Fernsehen erfülle zweifellos an sich bereits eine Bildungsfunktion, lasse sich aber in der Praxis nur schwer formalisieren, meint Steve Bryant (BFI). Verweist Bryant hier auf die Schwierigkeiten bei der Nutzung von Fernsehprogramminhalten innerhalb der Bildungsarbeit in formellen, also vornehmlich schulischen, aber auch informellen Lernumgebungen wie zum Beispiel im Museum, untermauert dies die allgemeine Ansicht der Befragten, dass die medialen Kontexte des Fernsehens nie von der Funktion des audiovisuellen Leitmediums als Distributionskanal von Inhalten getrennt betrachtet werden könne - und anders herum. Beide Faktoren seien stets gemeinsam zu denken und zu problematisieren, meint Thomas Beutelschmidt von der Humboldt-Universität zu Berlin: „Fernsehen als Gegenstand ist museal, also direkt auf das Medium bezogen, nicht relevant. Relevant ist die Transferleistung, dass es als Vehikel und als Speicher des Zeitgeists, der sozialen und politischen Entwicklung und der Kommunikation der Gesellschaft fungiert. Ein Fernsehmuseum ist also immer ein zeitgeschichtliches Museum" (Thomas Beutelschmidt, HUB). Über die rein vehikulare Rolle des Fernsehens als Inhaltevermittler hinaus kann das Fernsehen für die Bildungs- und Erinnerungsarbeit im Museum jedoch auch auf weitere ganz unterschiedliche Weise nützlich sein: als Alltagsmedium, zu dem die Mehrzahl der Besucher einen gewohnheitsmäßigen Bezug hat; als Audiovision, welche die Sinne direkter und effektvoller anspricht als beispielsweise abstrahierende Schrift; als ästhetisches Werk, das aufgrund seiner intrinsischen Qualitäten Reaktionen hervorruft; oder auch als Technologie, um sonst unerreichte Zielgruppen zu erreichen. Ob der Fernsehbetrieb an sich mit einzelnen Programmangeboten, die Eingang in den musealen Sammlungsbestand finden, bereits eine pädagogische Absicht verfolgt oder nicht: Die Freiheit und Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten von Fernsehinhalten im informellen Museumskontext ermöglicht stets eine didaktische Nutzung. Als Vorteil wird dabei bewertet, dass Fernsehmuseen durch ihre zeitgemäße elektronische Medienform und ansprechende audiovisuelle Vermittlungsformen eine besondere Anziehung auf junge und speziell jugendliche Zielgruppen ausüben. Die Konzeptvielfalt von Bildungsanliegen im laufenden Programmbetrieb könne automatisch auch Niederschlag in den Angeboten von Fernsehmuseen finden, meint Robert Thompson (SU). Henry Jenkins (MIT) bewertet die Möglichkeiten ähnlich: „But by and large there are shows that can help to popularize complex ideas and make them accessible to the general public or pulling together rare archival footage and present it in a way that makes people more aware of historical events. Television can be very educational at that level. Additionally television teaches certain kinds of cognitive skills and skills about how to process culture and how to think about our place in society" (Henry Jenkins, MIT).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Die erhöhte Attraktivität von Fernsehthemen, die auch Gerlinde Waz von der Deutschen Kinemathek feststellt, da die Fernsehgeschichte „nicht nur das Bildungsbürgertum" anspreche wie es beispielsweise bei der Filmgeschichte der Fall sei, wird zwar als wichtige, hilfreiche Voraussetzung bei der Schaffung optimaler Rahmenbedingungen bei der Bildungs- und Erinnerungsarbeit in Fernsehmuseen bezeichnet, doch macht Robert Thompson auch darauf aufmerksam, dass es allenfalls ein erster Schritt sei, bestimmte Zielgruppen ins Museum zu holen. Es brauche weiterhin konkrete konzeptionelle Lösungen, um das Fernsehen an sich zu reflektieren. Die Lernerfahrung im Museum muss sich nach Ansicht unter anderem von Archivberater Sam Kula und Museumspädagogin Rebekah Fisk (PCM) deutlich vom herkömmlichen Lehrbetrieb in formellen Bildungseinrichtungen unterscheiden - „not only informative, but also entertaining and educational" (Sam Kula). Allen voran Schüler empfänden die ungezwungene Atmosphäre im Museum als angenehme Lernumgebung, meint Fisk: „They're more comfortable with something that is new to talk and think about in a different way than in school." Zur Steigerung der Akzeptanzwerte und der Teilnahmebereitschaft als Grundlagen von Lernerfolgen setzt das Paley Center for Media bei seinen Bildungsprogrammen auf einen nicht-linearen Ansatz. Es gelte, so Fisk, Jugendliche mittels Medieneinsatz an ein Thema heranzuführen, für das sie unter anderen, auch schulischen Umständen kein Interesse entwickeln würden. Das Museumspersonal halte sich dabei bewusst im Hintergrund, ziehe sich auf eine antiautoritäre Position zurück und vertraue auf die Entdeckungslust des Schülers: „People in non-profit organizations are traditionally more left-wing orientated. Most New York City school teachers are also in that frame of mind. But we are not allowed to teach that. You can only choose your clips and try to make the kid come to a desicision for its own. That's our style of teaching. It has to come from the student first. [...] You can put a clip with George Bush next to a clip with John Stewart and ask them, what they really learn about Bush. You don't have to say anything" (Rebekah Fisk, PCM). Eine gänzliche Beschränkung pädagogischer Vermittlungskonzepte auf die Auswahl von bestimmten Programmexzerpten, ihre aufeinander Bezug nehmende Kompilation und Präsentation würde jedoch eine Passivierung der Akteursrolle des Museums als aktiver Vermittler Vorschub leisten und der sendungsimmanenten Bildungsfunktion des Fernsehprogramms ein Übergewicht einräumen. In der Deutschen Kinemathek hat sich in Bezug auf die Rezeption von Fernsehausstellungen der Eindruck erhärtet, dass eine gewisse Formalisierung der musealen Bildungsanstrengungen und eine intellektuelle Forderung des Besuchers durch das Museum von den Publika zumindest in Maßen gewünscht wird: „Die Leute wollen, und ich sage das etwas überspitzt, auf eine gute Weise im Museum belehrt werden und nicht mit den Dingen allein gelassen werden. Es wurde hier angemahnt: Kontext, Kontext, Kontext., Wieso kann man hier nichts lesen?', wurde häufig bemängelt, weil wir das etwas spartanisch verstanden hatten und keine Päd-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

389

agogen sein wollten. Doch viele Menschen erwarten genau das, wenn sie ins Museum kommen, also auf eine gute Weise belehrt zu werden" (Peter Schwirkmann, DK). Ein Konsens im Kreis der befragten Experten besteht hingegen in der Auffassung, dass die Besucher, anders als in vielen anderen Museen aufgrund der Exotik oder historischen Ferne eines Ausstellungsgegenstandes oder -themas möglich, in ihrer Lebens- und Erfahrungswelt abgeholt werden sollten, damit Bildungsanliegen von Erfolg gekrönt sind und Erinnerungen (wieder-) belebt werden können, was durch die jahrzehntelange, enge Beziehung weiter Bevölkerungsteile mit dem Alltagsmedium Fernsehen möglich wird. Nichtsdestotrotz müsse hier vorsichtig vorgegangen werden, betont Rebekah Fisk, da insbesondere für jüngere Zielgruppen Fernsehen nicht gleich Fernsehen sei, sondern die selbst noch nicht sehr umfänglichen historischen Dimensionen der Programmgeschichte Jugendlichen teilweise bereits eine ähnliche Lebensferne suggerierten wie für ältere Besucher frühere Epochen der Weltgeschichte: „We've always explained that to students that we are a weird place, because we have so much familiar stuff that is current. We started the early days and went up to last season which is great for education because students respond more to the .Simpsons' than to Ed Murrow. You can teach politics with the .Simpsons'" (Rebekah Fisk, PCM). Museumspädagogik ist heute vor allem auch durch die Pionierarbeit von Fernsehmuseen bei der Adressierung medienspezifischer Sichtweisen auf die Zeitgeschichte informeller, lebendiger und bietet mehr Möglichkeiten der mentalen und körperlichen Interaktion (vgl. auch Hooper-Greenhill 2000:6). Bezugspunkt ist dabei stets die Museumssammlung, ob es sich nun um populäre Trickserien mit satirischem und zeitkritischem Einschlag wie die „Simpsons" handelt, um unterhaltsame Samstagabendshows, Fernsehfilme, Nachrichtensendungen oder preisgekrönte Dokumentationen, anhand der die Besucher ihre eigenen interpretativen Anstrengungen unternehmen. Sofern sich der Besucher von den Bildungsangeboten des Museums in seinem persönlichen Lebenskontext abgeholt fühlt, basiert dies auf eine gelungene Generierung von Wiedererkennungswerten, die eine gewisse Art „intellektuellen Komforts" (vgl. Hein 1998:161) schaffen und das Publikum zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Museumsthema verführen, sogar intellektuell herausfordern können (ebd.: 176). Sollte sich die Präsentation aber allzu sehr der Gefälligkeit verschreiben, besteht die Gefahr einer „Gefallsucht", einer unnötigen Vereinfachung, die keinen besonderen Bildungswert hat (vgl. Korff 1990: 334). Fernsehmuseen sind demnach besonders gefährdet, in ein Ungleichgewicht in ihrem Charakter als Orte der historischen Aufklärung einerseits, also der Vermittlung einer gemeinschaftlich vereinbarten Vergangenheitslehre, und andererseits als Orte der persönlichen Verklärung und sentimentalen Auseinandersetzung über Vergangenheit und Gegenwart (Fehr 1988) zu geraten. Die starke Neigung innerhalb von Erinnerungskulturen, sich erinnernd und mit emotionaler Hingabe der Vergangenheit zuzuwenden, ohne jedoch die Erinnerungen zu hinterfragen und wenn möglich und nötig zu falsifizieren und zu korrigieren, wurde bereits von der Museumskritik aufgegriffen und führte zu einer Negativierung

390

IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

des Museumsbegriffs: „Nicht das - zum Kern von Aufklärung gehörende - Bedürfnis nach rationaler Kritik speist gegenwärtig die Hinwendung zur Geschichte, sondern das Verlangen nach Identität. [...] Erinnerung ist gewünscht, Erklärung weniger" (Kocka 1988:91). Die auratische Allmacht, die jede beliebige Überlieferung, auch und durch ihre Verknüpfungen mit einer Vielzahl autobiographischer Bezüge vorzüglich auch Zeugnisse der Fernsehgeschichte, entwickeln kann, birgt aus dieser Sicht die Gefahr, dass die „Historie beginntf,] die Herzen auf Kosten des Verstandes zu erwärmen" (Rüsen 1988: 106). Der bei der Bildungs- und Erinnerungsarbeit zu beschreitende Grat zwischen einer Transformation des Museums zum schillernden Schrein kritikloser Erinnerung oder zur Aufklärungsmaschine und „Erfüllungsgehilfin" der Geschichtswissenschaft (Grütter 1994: 184) ist in Fernsehmuseen besonders schmal. Zumindest die Grenzen sind klar gesteckt: Keine auch noch so gelungene Ausstellung könne ein Buch ersetzen, konstatiert Gerlinde Waz (DK). Was ein Fernsehmuseum aber ebenso nicht vermöge, sei die Rekreierung kollektiver Fernseherlebnisse, sei das Kollektiverleben imaginiert („Straßenverfeger") oder körperlich-konkret („Public Viewing"), zeigen sich Horace Newcomb (UG) und Joseph Hoppe (DTM) überzeugt. Aus dieser Sicht kann weder das eine, noch das andere im Fernsehmuseum zur Perfektion gelangen: Weder das Ideal der Aufklärung im Sinne eines maximalen Wissenstransfers auf das erkenntniswillige Individuum noch die gemeinschaftsstiftenden Rezeptionsmodi und Erinnerungsrituale rund um das laufende Fernsehprogramm. Möglich sind jedoch Abstufungen, alternative und durchaus innovative (Misch-) Formen von Aufklärungs- und Erinnerungspraxis. Die Ansprüche der untersuchten Einrichtungen sind hoch, und ihre Gemeinsamkeit liegt in der primär erinnerungsstimulierenden Funktion zum Zwecke einer größeren Empfänglichkeit für die Vermittlungsanliegen des Museums. Sei es die Geschichte der Fernsehpioniere Europas und Nordamerikas, die Michael Adams im MZTV Museum erzählen möchte, weil noch viel zu viele historische Details im Dunklen lägen und für eine breite Öffentlichkeit aufgearbeitet gehörten; seien es die Hintergründe, Mechanismen und Persuasionsstrategien der Werbewirtschaft, die Rebekah Fisk im Paley Center for Media beleuchtet; sei es die Arbeit der Polizei und ihre Darstellung im Fernsehen, die Gerlinde Waz für eine Kinderausstellung der Deutschen Kinemathek thematisierte; oder sei es Bruce DuMont im Museum of Broadcast Communications in Chicago, der die Welt über die Geschichte der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in Ton und Bild aufklären möchte: In allen Fällen werden eindrucksvolle Beispiele aus der Fernsehgeschichte mit inszenatorischen Kunstgriffen, multi-medialen Aufbereitungen und spielerischen Methoden kombiniert, um Besucher inhäusig oder außerhalb des Museums zu einer Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte und der Rolle des Fernsehens in ihr zu bewegen. Als mit Abstand wichtigste Ingredienz bei der konzeptionellen Umsetzung fernsehmusealer Bildungs- und Erinnerungsarbeit kann jedoch der Nostalgiefaktor bezeichnet werden: „I have a sense that museums deal more with nostalgia nowadays than previously", glaubt Museumsberater Barry Lord (LCR) mit Blick auf das gesamte Museumsfeld

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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zu beobachten. Carl Goodman (AMMI) berichtet aus der fernsehspezifischen Museumspraxis, dass diese oft eine Rolle spiele „in triggering an unconscious memory in the visitor that had long been dormant." Die nostalgische Einfärbung von im Museum rekonstruierten Erinnerungen resultiert nach Ansicht von Michael Adams (MZTV Museum) aus der bittersüßen Bewusstwerdung der eigenen Vergänglichkeit, die dem Wunsch erwachse, die eigene Jugend - für weite Teile der Bevölkerung versinnbildlicht durch alte Fernsehüberlieferungen - noch einmal zu durchleben. Auch Robert Thompson (SU) bestätigt: „Television museums can play the nostalgia card in ways that most other museums cant." Adams jedoch meint, dass die Schaffung nostalgischer Avancen hier nicht vom Museum ausgehen müsse, sondern vielmehr selbstbestimmt vom Besucher durch die Reaktivierung von Teilen seines autobiographischen Gedächtnisses auf die Ausstellungs- und Vermittlungsdienste des Museums projiziert werde: „Theres some nostalgia about television. And that might not be in our museum, but it might be all in their heads. So what is your earliest memory about television, that's our question. You're not gonna see it in our museum, but in their heads. Those memory cells are one of the most important parts of the history of television" (Michael Adams, MZTV Museum). Die Vorprägung des Besuchers durch seine individuellen Erinnerungen sowie An- und Einsichten machen das Fernsehmuseum jedoch keineswegs frei von seiner Aufgabe, Vergangenheit so darzustellen - und sei dies eine unpopuläre Entscheidung - , wie es das Kuratorium für angemessen hält. So flexibel sich das Museum als Spiegel gedächtnisrelevanter Symboliken entwerfen kann (vgl. Crane 1997:63), braucht es dennoch klare Leitlinien für die Erinnerungsarbeit, damit diese ein möglichst viele Besuchertypologien einschließendes Angebot für die aktive, aber auch stets unvorhersehbare und in ihren Nuancen stark divergierende Nachfrage seitens des individuellen Besuchers leistet: „Es muss einerseits kraft der authentischen Aura seiner Objekte und der sinnlichen Qualitäten seiner Darstellung anlocken, die Besucher verführen, andererseits diese Illusion immer wieder zerstören, um neue Sinn- und Deutungsprozesse in Gang zu setzen" (Grütter 1994: 184). Selbiges wird aus dem befragten Expertenkreis bestätigt: Nostalgie, so Newcomb, sei ein geeigneter Appetitanreger, Ziel müssten aber immer die Aufklärung, Denkanstöße, das Erkenntnisinteresse bleiben. Und Ivan Harris (CBC Museum) glaubt: ,,[W]hen the people understand with the help of their nostalgic memories, how broadcasting worked in the past, that's the educational, the history part of it." Bruce Altshuler (NYU) mag daher auch weniger von Nostalgie als singulär verantwortlicher Erinnerungsmodus sprechen, sondern denkt vom konstruktiven Ergebnis her: „It's not only nostalgia, it's contributing to learning about history." So kann trotz der diskutierten Hürden bezüglich der rezeptiven Nachteile von Fernsehmuseen (vgl. Kapitel IV.4.1.4.) auch dort das gelingen, was Hein über Museen im Allgemeinen feststellt: „We know the range of visitor reactions to their museum experience is tremendous; we know that powerful, enriching, even lifechanging moments are possible in museums" (Hein 1998: 179). Wie Horace Newcomb jedoch unterstreicht, darf es nicht dabei bleiben, populäre Erinnerungen zu generieren,

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

um für das Museum kurze Momente der Aufmerksamkeit zu gewinnen. Im Mittelpunkt jeden erinnerungsevozierenden Agierens müsse stehen, aus dem kurzfristig erzeugten Interesse ein bleibendes Bewusstsein für kulturelle Werte zu schaffen: „If you had a museum in a mall in Washington that would be about nothing but artifacts, I think there would be people who would be intrigued by that and they would remember how they got their first remote control. It would be the same way people go into the Louvre and they say: ,Oh, it's the Mona Lisa. I remember seeing here on a t-shirt.' So I think you can make any of the stuff popular, but you have to make it important" (Horace Newcomb, UG).

4.2.2. Zielgruppenansprache

zwischen Erinnerungsgemeinschaften

und

Bildungsträgern

Die Abgrenzung von Bildungsangeboten formaler Lehrinstitutionen erfordert nach Ansicht von Joseph Hoppe (DTM) die Konzeptualisierung von zielgruppengerechten Bildungspaketen, um eine Duplizierung von vorhandenen Diensten zu vermeiden und komplementäre Formate zu entwickeln. Unabhängige Museumseinrichtungen genießen dabei die Freiheit, eine Vielzahl von Teilöffentlichkeiten frei und flexibel gemäß ihrem Mandat zu adressieren. Diese zugleich als Chance und als Auftrag zu verstehende variabel fokussierende Zielgruppenarbeit wird von den etablierten Fernsehmuseen aber nur unzureichend eingelöst: Zwar ist die Auffassung von Horace Newcomb (UG), dass jedes Fernsehformat im Grunde nach einer eigenen spezifischen wie differenzierten Publikumskonzeption innerhalb der Bildungs- und Erinnerungsarbeit des Museums verlange, kaum praktikabel. Allerdings wird der Heterogenität der Rezeptionspräferenzen und der Vielschichtigkeit von Erfahrungswerten und Kompetenzgrade innerhalb der Besucherschaft hinsichtlich des Fernsehens und seiner Geschichte kaum Rechnung getragen. Vorrangig folgen die Institutionen einer breiten wie unspezifischen Publikumsausrichtung, ob nun potenzielle Besucher von 8 bis 80 Jahren angesprochen werden sollen wie laut Paul Sparrow im Newseum oder solche im Alter von zwölf bis 80 Jahren wie nach Aussage von Daniel Berger beim Museum of Broadcast Communications. Die einzige in sämtlichen der untersuchten Fernsehmuseen berücksichtigte Zielgruppe sind Kinder und Jugendliche im Schulalter. Hierbei wird gemeinhin auf die bewährte Infrastruktur des Schulsystems und schematisierte Klassenstrukturen vertraut, die über bereits existierende Kontakte zu Schulleitungen und Lehrerorganisationen effizient anzusprechen sind. Als Argument dient unter anderem der Versuch der strategischen Prägung jugendlicher Mediennutzer durch die museale Expertise: „You're getting them early and you can encourage them to use the museum as a resource", erklärt Doug Gibbons vom Paley Center for Media. Die kulturelle Wertigkeit der Museumsarbeit könne sich durch eine kindgerechte Aufbereitung bereits in den frühen Jahren der Persönlichkeitsentwicklung im Bewusstsein des Nachwuchses manifestieren, glaubt auch Robert Thompson (SU):

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

393

„Every museum that wants to be successful in the 21st century has got to have something that will bring in kids. So much of museum visitorship is going on among families. People who hated museums as kids and never went to a museum again until they were 20 years old take their kids into a museum when they have a family. If you've got some elements that will draw in kids, that is crucial to the success of most museums" (Robert Thompson, SU). Der Erfolg einer jugendorientierten Besucherstrategie hängt demnach selbst bei populären Fernsehthemen weniger von Multiplikatoreffekten unter den Kindern und Jugendlichen selbst ab, sondern ist auch auf die Bereitschaft von Eltern und Lehrpersonal angewiesen, die das Museumserlebnis als wertvolle Erfahrung für ihre Schutzbefohlenen einstufen. So sind Fernsehmuseen gehalten, ihre Jugendprogramme zwar populär zu gestalten, um ihre primäre Zielgruppe zu engagieren und Lernerfolge zu erzielen, doch gleichsam darf sich das Museum nicht allzu weit von einem klassischen, durchaus auch autoritär verstandenen Bildungsanspruch entfernen, um das traditionelle Museumsbild zu wahren und sich gegenüber Freizeiteinrichtungen ohne ausgewiesenen Bildungsanspruch abzugrenzen, damit ihre kulturelle Wertigkeit in den Augen von Erziehungsberechtigten und Pädagogen erhalten bleibt. In den US-amerikanischen Fernsehmuseen werden Kinder und Jugendliche daher überwiegend nach dem sogenannten K-12-Schema kategorisiert, das heißt Kinder im Alter von 5 bis 6 Jahren, die üblicherweise noch den Kindergarten besuchen, bis zum Alter von 17 bis 18 Jahren, in dem größtenteils die zwölfte Klasse besucht wird. Zum Teil wird dieses Altersspektrum noch eingegrenzt mit Konzentration auf die Klassenstufen sechs bis zehn. Die Folge ist eine tendenzielle demographische Formalisierung der musealen Bildungsarbeit. Sämtliche Experten sind der Meinung, dass Kinder und Jugendliche in dem entsprechenden Alter die wichtigste Zielgruppe von Fernsehmuseen darstellen, haben diese doch den mit Abstand größten Anteil an der Besucherschaft: Das American Museum of the Moving Image beispielsweise hat seine Bildungsprogramme wesentlich auf Schulkinder ausgerichtet, da nach Angaben von Kurator Carl Goodman jährlich über 25.000 Schüler die Ausstellungen des Hauses besuchen. Mindestens ebenso bedeutend ist nach Ansicht von Robert Thompson (SU) die Fokussierung von Kindern im Vorschulalter, weil die Fernsehnutzung häufig bereits im Säuglingsalter weit verbreitet ist und sich auf die kindliche Entwicklungen auswirken kann (vgl. auch Kapitel III.3.1.). Hier seien in erster Linie die Eltern gefordert, da die Kinder in diesem Alter in der überwiegenden Zahl der Fälle ausschließlich in häusliche Lebenskontexte eingebunden seien und noch nicht über institutionelle (Bildungs-) Strukturen adressiert werden könnten. Die Familie als soziale Mikro-Gemeinschaft wird daher als zweite wichtige Zielgruppe der Bildungs- und vermehrt auch der Erinnerungsarbeit genannt: „Certainly families are usually a major issue, basically you have visitor tours and school-groups in a mix. Typically school-groups are about up to 20 percent in any reasonably healthy museum. Then the other 80 percent are residents and tourists. That

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

will depend whether or not you are a local museum in a town that doesn't have any real tourist appeal then the most non-school visitors would be residents. But if you are in a tourist center in a major city that has a high visitation of tourist, the visitors are certainly more tourists. In all cases you are looking at a young family market" (Barry Lord, LCR). Anders als im Rahmen eines Klassenausflugs bzw. Field Trips wird der schulisch-verpflichtende Erfahrungskontext bei einem Familienbesuch durch eine ungezwungenere Erlebnisatmosphäre ersetzt, was zu einer potenziellen Steigerung der Aufnahme- und Partizipationsbereitschaft führt. „One of the hardest groups to get into a museum are teens. It's not cool to go into a museum. School kids have to go because we make them to take bus-trips to come in for the educational activity" (Lynne Teather, UT). Wie Peter Paul Kubitz (DK) berichtet, kämen aufgrund des Fernsehens wesentlich mehr Familiengruppen in das Museum für Film und Fernsehen im Vergleich zu den Jahren, als das Filmmuseum Berlin am Potsdamer Platz solitär existierte: ,,[E]s ist evident, dass das Publikum generationsübergreifender ist beim Bereich Fernsehen." Der Vorteil für die Komplementierung der Kenntnisvermittlung bei der musealen Bildungsarbeit durch die Stimulierung des intergenerationalen Erinnerungsaustauschs innerhalb von Familien liegt auf der Hand: Der gemeinsame Museumsbesuch, die gemeinsame Wiederentdeckung der familiären (Fernseh-) Geschichte, das gemeinsame Spiel zwischen Kindern, Eltern und Großeltern können als Beleg dafür dienen, dass im Fernsehmuseum gesamtgesellschaftlich relevante Überlieferungen auf individuell biographischer Ebene mit Leben gefüllt werden und dass die Metapher vom kulturellen Gedächtnis dann kein lebensfremde Theorem (mehr) ist, wenn es zu einer interpersonalen Funktionalisierung kommt: „Das ist natürlich ein Teil der Verfestigung oder des Erzeugens einer Selbstvergewisserung von kulturellen Gedächtnisinhalten, die auf einer individuell biographischen Ebene laufen, die aber unverzichtbarer Teil dafür sind, dass so etwas als soziales Faktum überhaupt existieren kann" (Joseph Hoppe, DTM). Fernsehmuseen bieten die seltene Möglichkeit, kulturell konsensualisierte Vergangenheitserfahrungen mit den autobiographischen Erinnerungen einer Vielzahl von Individuen, Familien und Teilöffentlichkeiten in Beziehung zu setzen, was besonders in Familien für eine Dynamisierung und Bereicherung des kommunikativen Austauschs über die familiäre Identitätsfragen sorgen kann: „There is something interesting about a television museum: So many museums are about preserving cultural memory of old stuff. Many museums you go to, every exhibit is about things, nobody alive was around. Even art museums, the 20th century gallery has exhibits mostly from the first half of the century. The difference with the television museum is, that it is preserving a cultural memory, but at the same time it is a cultural memory that includes stuff that many many people were alive to experience" (Robert Thompson, SU). Als Erfahrungssurrogat und Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen (vgl. Kapitel III.6.1.4.) dienen Fernsehprogramminhalte im Museumskontext bisweilen auch als Vehikel für schwer kommunizierbare Gegebenheiten und damit als Kompensationsinstru-

IVA. Museumsfemsehen,

Fernsehmuseen

395

ment für persönliche Problemfälle mit herausragender Relevanz für die autobiographische Entwicklung. Bruce DuMont vom Museum of Broadcast Communications berichtet von einem Vater, der seinem jungen Sohn anhand einer Fernsehdokumentation über das Thema Scheidung im neutralen Museumskontext die eigene Entscheidung zu erklären versuchte, sich von seiner Ehefrau und der Mutter seines Sohnes scheiden zu lassen: „He told me that he and his wife were going through a divorce and he didn't know how to talk with his son about it. So he showed him a few minutes of the show, paused it and then talked with his son about it." Während Archive wie das UCLA Film and Television Archive von Familienmitgliedern eher dazu genutzt werden, auf eigene Faust etwas über die persönliche Familiengeschichte herauszufinden und zum Beispiel auf eine überlieferte Fernsehsendung zu stoßen, welche das einzige audiovisuelle Zeugnis eines Elternteils sein könnte, verstehen sich die untersuchten Museen eher als Ort der gemeinsamen Vergangenheitserkundung, sei es in Ausstellungen, an Sichtplätzen oder in speziellen Workshops, in denen Familien gemeinsam etwas über das Fernsehen und sich selbst lernen. Der Bedarf der Elterngenerationen an Wissen und Einsichten über das Fernsehen und seine Macht auf die eigene Persönlichkeit wird im Kreis der befragten Experten zwar als außerordentlich hoch bewertet, doch werden gleichsam die fehlenden Maßnahmen im Rahmen der Museumsarbeit kritisiert. Verstehen sich manche Einrichtungen wie das American Museum of the Moving Image in ihrer Vollständigkeit als Bildungsangebot für Erwachsene, sparen sie indes konkrete Kurse oder ähnlich formalisierte Angebote zur Erwachsenenbildung aus: So unspezifisch, thematisch und konzeptionell breit gefächert die in sich hochkomplexe Altersgruppe der Erwachsenen adressiert wird, kann nur von einer randständigen und kaum erfolgsorientierten Bildungs- und Erinnerungsarbeit für erwachsene Zielgruppen gesprochen werden. Dabei bieten Fernsehmuseen vor allem älteren Publika sämtlicher sozialer Bildungsschichten die Möglichkeit, sich anhand von Fernsehüberlieferungen unterhaltsam und erkenntnisreich der eigenen Autobiographie zuzuwenden: „I grew up without television, because it didn't arrive in Canada until 1953. Even every generation that are now in their 50s and 60s did not spend five or six hours a week, not to sayfiveor six hours a day in front of a television set. They are a generation that also needs to be educated about what the images tell us, how they work with us, what they tell us about the world and more importantly how they let us feel about the world. And those age groups need to be more aware of media, too. So a museum also plays an important role in adult education as well" (Sam Kula). Joseph Hoppe (DTM) spricht angesichts der Seltenheit entsprechend ausgerichteter Zielgruppenkonzepte von „Edelweiße [n]: ganz hoch am Berg und schwer zu finden". De facto spiele das keine große Rolle. Die fortschreitende Alterung der Gesellschaft rücke jedoch die Seniorenbildung immer stärker in den Mittelpunkt, da es von dieser Seite einen enormen Bedarf an qualifizierten Angeboten gebe. Dies bestätigt auch Paul Sparrow, der im Newseum festgestellt hat, dass sich vor allem Erwachsene sehr viel stärker für Zeitgeschichte und die eigenen medialen Erfahrungen interessieren, je älter sie würden: „We

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

target them so aggressively because the older you are, the more you can relate to our media content and to our museum." Thomas Beutelschmidt (HUB) verweist entsprechend auf den televisuellen Reichtum der deutsch-deutschen Zeitgeschichte, die so intensiv und (zerr-) spiegelhaft unter gegenseitiger Beobachtung von den Fernsehanstalten in der DDR und der Bundesrepublik begleitet worden ist. Heute sei es besonders schwierig, DDR-Themen gesamtdeutsch bzw. im Westen zu lancieren, meint Beutelschmidt. Ein Fernsehmuseum, das sich dieser Aufgabe verschreibe, sei aufgrund der privaten Bezüge zu den Fernsehbildern prädestiniert, sich den erinnerungspolitisch und ideologisch aufgeladenen Themen zu nähern. Dies wäre auch ein Ansatzpunkt, um ältere Erwachsene wie vorrangig Senioren als Zeitzeugen durch ehrenamtliches Engagement in die Museumsarbeit zu integrieren, wie es sich Peter Schwirkmann für die Deutsche Kinemathek vorstellen könnte. Zwar sei eine solche Ergänzung der Zielgruppenkonzentration zu begrüßen, sagt Howard Besser (NYU), doch habe dies bereits dazu geführt, dass zwischen sehr jungen und sehr alten Zielgruppen eine Schere aufklaffe, welche die breiten Bevölkerungsschichten im Alter zwischen 20 und 60 Jahren ausblende. Gegensätzlich wird unter den Experten dagegen die Annäherung einiger Fernsehmuseen an die wissenschaftliche Klientel beurteilt. Während Museumsberater Barry Lord (LCR) feststellt, dass professionelle Akademiker generell nur einen Bruchteil der Besucherschaft von Museen ausmachen würden, stellt Joseph Hoppe (DTM) mit Blick auf Fernsehmuseen fest: „Wissenschaftler brauchen kein Museum". Hoppe geht hier von einem Primärbedarf des Wissenschaftlers an einem möglichst umfangreichen Überlieferungsfundus aus und insistiert auf die im Vergleich zu den endarchivischen Stellen nur unzureichenden Sammlungsbestände in öffentlichen Einrichtungen. Die Fernsehmuseen selbst bewerten die Zielgruppenqualitäten der Wissenschaft jedoch etwas anders: Manche Einrichtungen wie das MZTV Museum, das Newseum oder der Verein Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden setzen vor allem auf die Einbeziehung des fachinteressierten Nachwuchses, um die berufliche und wissenschaftliche Ausbildung an Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten zu begleiten und Lücken zu füllen. Am Newseum wird zum Beispiel in Zusammenarbeit mit der Radio and Television News Directors Association, der Vereinigung Associated Press Managing Editors und der American Society of News Editors Journalistenausbildung betrieben. Auch Peter Paul Kubitz (DK) zeigt sich überzeugt, dass kein Museum effektiv arbeiten könne, wenn es die Wissenschaft bei seinen Aktivitäten außenvorlasse. Bezieht sich Kubitz zum einen auf die Beratungsleistungen wissenschaftlicher Fachexperten, glaubt er zum anderen daran, dass Fernsehmuseen auch zu einer wertvollen Ressource für die wissenschaftliche Forschung avancieren können, was wiederum konstruktive Rückwirkungen auf die Museumsarbeit haben möge: „Für die Wissenschaft wird künftig von wesentlich stärkerem Interesse sein, dass wir CEuvres haben, Gesamt-CEuvres, die erschlossen werden müssen und über die man sozusagen noch einmal neu forschen kann. [... ] Da hoffe ich vor allem, dass wir von der Wissenschaft profitieren werden. Wir werden kommenden Wissenschaftlern so-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

397

zusagen die Programmgalerie vor die Füße werfen, die wir zusammengestellt haben und sie bitten, aus ihrer Sicht zu beurteilen, was warum dort hineingehört. Ich glaube, dass ein Museum ohne wissenschaftliche Kontextuierung - und zwar ständige - nicht auskommen kann" (Peter Paul Kubitz, DK). Gattungsübergreifende Sammlungsbestände von Fernsehmuseen wie beispielsweise in Form von Nachlässen, in denen sich neben Programmüberlieferungen auch facettenreiche Kontextdokumente und zum Teil auch objekthafte Materialien finden, sind in ihrer Breite und Detailfülle von Einrichtungen wie dem Paley Center for Media und der Deutschen Kinemathek vorrangig für eine wissenschaftliche Nutzung vorgesehen und dienen nur vereinzelt und zu bestimmten Anlässen zur Bestückung von Ausstellungen. Auch die ausstellungsunabhängigen Sammlungen von Sendematerial sind innerhalb der Fernsehmuseen zwar grundsätzlich für alle interessierten Besucher zugänglich, doch werden wissenschaftliche Nutzungsinteressenten teilweise mit besonderer Rücksicht behandelt, um ihnen optimierte Sichtungsbedingungen zu ermöglichen: „We have a special scholar's room and we invite scholars to study. They have full access to our collection whether a week or a month", erklärt Ron Simon vom Paley Center for Media. Eine Privilegierung von Wissenschaftlern im Dienste ihrer Forschungsvorhaben zielt vorrangig auf eine Bindung des Knowhows von Fachexperten an das jeweilige Haus und seinen Dienst an der allgemeinen Öffentlichkeit: Forschungserkenntnisse sollen auch dem Museum und darüber allen anderen Besuchern zur Verfügung gestellt werden, unter anderem durch Sonderveranstaltungen wie Präsentationen, Vorträge oder Diskussionsveranstaltungen (vgl. Kapitel IV.4.2.5.). Kulturelle Unterschiede zwischen den Fernsehmuseen in Nordamerika und Deutschland sind maßgeblich durch eine Annäherung an die Fernsehindustrie festzustellen. Die Offenheit der nordamerikanischen Einrichtungen gegenüber unternehmerischen Einflüssen ist bemerkenswert groß, in Deutschland hingegen herrscht eine eher verhaltene Stimmung vor (vgl. auch Kapitel IV.2.6.2.2.), auch wenn von Gerlinde Waz (DK) eingeräumt wird, dass die Museumsarbeit ohne Sponsoren „heute gar nicht mehr" möglich sei. Wird im Berliner Museum genau darauf geachtet, dass unternehmerische Akteure bei Ausstellungen und Veranstaltungen möglichst nur punktuell mit ins Boot geholt werden, um beispielsweise ein finanzielles Entgegenkommen beim Erwerb von Nutzungsrechten zu erwirken, hat jedoch die Entwicklungsgeschichte der „Deutschen Mediathek" und ebenso der Deutschen Kinemathek und des Vereins Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden gezeigt, dass ein Fernsehmuseum in Deutschland offenbar nicht ohne das Engagement von Sendeunternehmen für die grundständige Finanzierung der öffentlichen Einrichtungen auskommen kann. Die Bemühungen beschränken sich jedoch weitgehend darauf, Förderer für das Museum und seine Aktivitäten zu gewinnen, und haben nicht - wie in den USA - dazu geführt, dass die Suche nach Finanzierungsquellen aus der Fernsehindustrie auch Adjustierungen in der musealen Bildungsarbeit und Forumsfunktion zur Folge hatte.

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

„We are always interested in the industry", konstatiert Ron Simon, der auf die wichtigen Funktionen der Industrie als Geldgeber, aber im engeren Sinne auch als Akteur bei den Aktivitäten des Paley Center for Media hinweist. Ziel sei unter anderem auch, die kreativen Akteure der Fernsehwirtschaft auf ungewöhnliche Weise für die Museumssache zu engagieren und mittels gemeinsamen Veranstaltungen von Fernsehmachern, Fernsehpublika und unabhängigen Experten den interpretativen Rahmen des kulturellen Fundus zu erweitern. Das Risiko eines Kontrollverlustes sieht Simon nicht. Und dennoch besteht bei einer allzu willfährigen Öffnung von Museen für Marketingmaßnahmen zur Imagepflege von Fernsehunternehmen das Risiko, ihren Status als unabhängige Instanzen zu gefährden. Weniger die Selbstpräsentation externer Akteure, sondern vielmehr deren Animation zur Selbstreflexion im musealen Kontext wird daher als notwendige Richtschnur bei der Einbindung von unternehmerischen Vertretern erachtet: Dabei kann auch die Fernsehwirtschaft nach Ansicht einiger Experten viel über sich und ihre Nutzer lernen, indem einerseits wertvolle Erkenntnisse für die aktuelle Geschäftspolitik gewonnen werden, Fernsehunternehmen andererseits auch ihre institutionelle Identität hinterfragen und auf diesem Wege stärken. Nach Meinung von Joseph Hoppe (DTM) diene das Fernsehmuseum den Medienmachern daher im günstigen Fall als „Ort der Selbstbespiegelung", der in Anbetracht der attestierten Reflexionsdefizite im laufenden Programmbetrieb gewinnbringende Erkenntnisse zu Tage fördern könnte. Robert Thompson (SU) glaubt sogar, dass Fernsehmuseen das Potenzial entwickeln könnten, positive Rückwirkungen auf die Qualität des Fernsehprogramms insgesamt zu haben, sofern sie Fernsehverantwortliche dazu animieren könnten, nicht nur mit ihren Rezipienten, sondern auch mit ihren professionellen Kritikern im Museum in einen offenen Diskurs zu treten: „You've got the exhibitors of television which is of course the networks and the cable companies. You've got the makers of them which are the producers and what we call .Hollywood'. And then you've got critics who are either newspaper critics or people like me who write books and talk with scholars about it. There is very little interaction between the Hollywood production- and the network exhibition-end, and then the critic- and the museum-end. If television museums really come of age... I mean: Art museums really influences the world of art. Art critics enormously influence the world of painting and what becomes valued. For the most part I don't think that television museums or critics or television scholars have that much influence in one way or the other on how the industry work. [...] If you want to get the critics and museums into the synergistic relationship that we see in the art world, it would have not to be through the appeal to the viewers, it would have to be through an appeal to the institutions themselves"(Robert Thompson, SU). Fernsehmuseen sollen sich also nach Meinung dieser Experten nicht nur als Ressource verstehen, die von verschiedenen Nutzergruppen beliebig instrumentalisiert wird, sondern sind gehalten, zielgruppenspezifische Vermittlungs-, Kritik- und Reflexionsfunktionen anzubieten und diese effektiv umzusetzen. Das Paley Center for Media hat bereits

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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Schritte unternommen, die Fernsehindustrie als separate Zielgruppe in die Museumsaktivitäten einzubinden: Mit Augenmerk auf die Führungsebene der Fernsehwirtschaft wurde eine Forums- und Weiterbildungsabteilung unter dem Titel „Media Center" gegründet, u m Medienmanagern eine neutrale Plattform mit fachlich und kulturell anerkannter fernsehhistorischer Expertise zum Ideenaustausch und zur Ideenfindung anzubieten: „There is a special annual fee for executives to be a member of this group and with it we have breakfasts throughout the year that bring a high-level executive to talk to this verified group. The members include Michael Grade, head of the BBC, or Susan Line from Time Warner, so it's a way that there can be sort of a neutral forum where business leaders can exchange ideas" (Ron Simon, PCM). Die Angebote des „Media Center" richten sich ausschließlich an leitende Funktionäre der Fernsehindustrie, welche im Rahmen von geschlossenen Veranstaltungen über geschäftlich relevante Themen diskutieren und zu bestimmten Anlässen exklusiven Zugang zu anderen bedeutenden Funktionsträgern aus Politik, Wirtschaft und insbesondere der Zeitgeschichte erhalten. Angesprochen werden sämtliche Bereiche der Fernseh- und Medienindustrie, die hauptsächlich in den Metropolen New York und Los Angeles angesiedelt sind. Das Fernsehmuseum entwirft sich dadurch als Moderator, als Vermittler und als Impulsgeber für die Industrie und zugleich als Scharnierstelle zwischen Medienverantwortlichen und der Nutzerschaft, indem die allgemeine Öffentlichkeit an ausgewählten Diskussionen zwischen Führungspersönlichkeiten aus der Medienwirtschaft durch die Übertragung der Veranstaltung im Internet oder im Fernsehprogramm teilhat: „At one point we were working together with CNBC with some business conversations that are gonna be on television. We had Michael Eisner who made a CNBC business show here to talk to three industry leaders, Ted Turner, Sumner Redstone and Mark Cuban, all recorded here and our Media Center people were invited to attend. So that's kind of an extension of our breakfast" (Ron Simon, PCM). Weiterhin können die übrigen Museumsbesucher von den maßgeschneiderten Industrieprogrammen profitieren, wenn diese im Nachhinein zum Anlass genommen werden, u m zum selbigen Thema in dem Wissen seiner besonderen Bedeutung für die Entscheider der Medienbranche öffentliche Veranstaltungen durchzuführen, welche die Sichtweisen der Medienmanager bereits integrieren. Doch auch die Industrie kann durch das museale Setting etwas über ihre Publika lernen, wie es Paul Sparrow am Beispiel des Newseums beschreibt: „The mission of the museum is to help the public and the news media better understand one another. So it works in both ways. We want the public to understand the role of a free press in a democratic society. We want the press to understand the expectations the public has about their fulfillment of that responsibility. So its more about the role of the press and how it is supposed to function than it is about celebrating journalism per se" (Paul Sparrow, Newseum).

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Fernsehmuseen wie das Paley Center for Media dienen manchem Unternehmen zudem als Rekrutierungsagentur, indem Nachwuchskräfte befristete Beschäftigungsverhältnisse im Museum nutzten, um mit den geladenen Gästen der Fernsehindustrie in Kontakt zu kommen und ihr Berufsziel, beispielsweise Programmplaner, Drehbuchautor oder Regisseur zu werden, zu verwirklichen: „Television museums can also be the first career step into the TV industry. Many of my students went to the MT&R as a first job before going to Los Angeles and then ended up writing and that kind of stuff" (Robert Thompson, SU). Je deutlicher ein Fernsehmuseum der inhaltlichen Vielfalt seines Bewahrungs-, Untersuchungs- und Ausstellungsgegenstands ein ausdifferenziertes Zielgruppenmanagement anheimstellt, das rezeptive genauso wie geschäftsstrategische und kreativ-gestaltende Akteurskonstellationen umfasst, desto vielseitiger sind ihre Einflussmöglichkeiten auf diskursive und kulturelle Prozesse. Dies muss, wie im Fall des Newseum, nicht auf Personal aus dem massenmedialen Betrieb beschränkt sein, sondern kann auch politische Akteure betreffen: „We are there at the nexus of American politics. So of course we want our facility to be impactful on decision makers in this country" (Paul Sparrow, Newseum). 4.2.3. Neue Herausforderungen

der medienspezifischen

Kompetenzförderung

Die Ausrichtung von Bildungsmaßnahmen rund um das Fernsehen und seine gesellschaftskulturellen Umstände und Niederschläge sind in einer Zeit, in welcher die zunehmende Prägung von Gesellschaft und Kultur durch Medienkommunikation auch vormals festgeschrieben geglaubte Rollenverständnisse bei der Organisation, Verwaltung und Vermittlung von Bildungsinhalten ummodelliert hat, unsicher geworden. In Bezug auf den Umgang mit und die Bemächtigung der neuer Medien sind Lehrer zu Schülern geworden und Schüler zu Lehrern (vgl. auch Marotzki 2000): Während es heute wie selbstverständlich zur Sozialisation von Kindern und Jugendlichen gehört, mit dem Fernsehen, Computern und den medialen Angeboten des Internets aufzuwachsen, können Erwachsene von ihren über Jahre und Jahrzehnte entworfenen Vergangenheitsbildern, die sich in Gewohnheiten und gefestigten Erinnerungskonstruktionen ausdrükken, dabei behindert werden, sich schnell und flexibel auf neue mediale Technologien und dadurch wandelnde Kommunikationsformen einzustellen. Das erhöht die Gefahr, dass hauptsächlich Lehrbeauftragte bei ihrer Aufgabe, unkonventionelle Bildungsmedien wie Fernsehinhalte in ihre Unterrichtstätigkeit zu integrieren, nur unzulänglich oder gar kontraproduktiv agieren, indem sie in einer möglichen Abwehrhaltung oder ungeübtem Einsatz die Chancen ebenso wie die Risiken der elektronischen Vielfalt verkennen (vgl. auch Hebecker 1998). Aus dem Missverhältnis im Umgang mit Medientechnologien können indes auch synergetische Lernbeziehungen entstehen: „Eltern geben ihre Erfahrungen der traditionellen Kultur weiter, und Kinder vermitteln die Erfahrungen der neuen Kultur an die Eltern. Der Informationsvorsprung der Eltern ist nicht mehr universal, sondern wird gleichsam regionalisiert, gilt also nur noch für bestimmte Erfahrungsbereiche. Im Bereich neue Technologien müssen

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die Eltern die Kinder als jene anerkennen, die mehr wissen, die mehr können, von denen sie also lernen können, die sie fragen müssen, wenn sie etwas wissen wollen" (Marotzki 1998: 90). Diese „Regionalisierung" von Bildungsschwerpunkten durch entwicklungsbiographisch bedingte Verlagerungen führt deutlich vor Augen, dass nicht allein die Vermittlung von Bildungsinhalten mithilfe des Einsatzes von analogen oder digitalen Medien von besonderer Wichtigkeit ist, sondern auch das Erlernen von Medienkompetenz eine Grundvoraussetzung für effektives Lernen darstellt: Ebenso wie der Erwerb von Lesefähigkeiten im Fokus der gesellschaftlichen Bildungsprogramme steht, gehört auch die Bedienung elektronischer Medien zum notwendigen Rüstzeug für die moderne Mediengesellschaft. Der Erziehungswissenschaftler Bernhard Koring skizziert drei wesentliche Aufgabenfelder der Medienpädagogik unter dem Eindruck des rasanten Medienwandels: Die Erziehung zur selbstbestimmten Mediennutzung, die Technikbeherrschung und die Vermittlung von Kenntnissen über das Lehren und Lernen mit Hilfe neuer Medien (vgl. Koring 2000: 139). Das betrifft keinesfalls Kinder und Jugendliche allein, sondern auch und vor allem ältere Bevölkerungsgruppen, die sich im Laufe ihrer schulischen, beruflichen wie privaten Bildungssozialisation nicht oder nicht ausreichend mit den medialen Formen digitaler Kommunikation auseinandergesetzt haben oder aufgrund ihres Alters und des erst in jüngster Zeit vollzogenen medialen Wandels auseinandersetzen konnten. Aus dem Kreise der Experten werden die Kompetenzdefizite bei bestimmten Altersgruppen als signifikantes Problem auch bei der Mediensozialisation von jungen Nutzern gesehen. Gerlinde Waz (DK) kritisiert, dass viele Eltern nicht wüssten, was ihre Kinder im Fernsehen schauen, welche Identifizierungsfiguren sie sich suchten und welche Imaginationswelten sie sich anhand von fiktionalen Fernsehinszenierungen konstruierten: „Das ist ganz schlimm, finde ich, dass die Eltern meist gar nicht mehr wissen, was ihre Kinder sehen und deren Welt gar nicht mehr kennen lernen. Und dahinter steht natürlich auch, dass sich diese Mädchenfiguren sehr verändert haben um die Jahrtausendwende: Die sind nicht mehr die fröhlichen Mädchen wie ,Heidi', sondern gehen mit grimmigem Gesichtsausdruck, die Mundwinkel nach unten, durch die Welt. Das ist nicht nur bei ,Kim Possible' so, sondern auch bei den .Powerpuff Girls' oder .Totally Spies', das sind alles Mädchen, die brutal durch die Welt gehen, für die Gerechtigkeit kämpfen, dabei aber alles niedermähen. Die Zeit der freundlichen Mädchen scheint also vorbei zu sein" (Gerlinde Waz, DK). Das Fernsehen hat diesen Beobachtungen im Rahmen einer Sonderausstellung der Deutschen Kinemathek über Kinderkrimis im Fernsehen zufolge durch seinen fortschreitenden Wandel, wie vorrangig an jugendlichen Publika orientierten inhaltlichen, ästhetischen, aber auch strukturellen Fortentwicklung ablesbar, die Erfahrungs- und Lebenswerte von Jung und Alt auf drastische Weise in ein Ungleichgewicht gebracht. Gravierender noch als die Disparitäten zwischen Eltern, Großeltern und ihrem Nachwuchs wird der Nachholbedarf des Lehrpersonals in Schulen und selbst Hochschulen beim Umgang mit innovativen Fernsehformen und anderen elektronischen Medien bewertet:

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung „I think I'll apply for a governments grant to study at my nephew's for a couple of months. Earnestly: Teach grandma to play videogames is necessary. [... ] It's moving so quickly now that it's too quick for many people. I'm a professor and teach younger people, but I don't count anymore how often I learn something from them. When I first heard about podcasting for example: a student came in and told me about it. Too many people are totally unaware of the new developments in that field. [... ] You always assume that teachers have that kind of background, but that might only be true for topics like impressionistic art" (Michele Hilmes, WCFTR).

Ob Lehrer an Schulen oder Dozenten an Hochschulen: Auch Rebekah Fisk und Dale Zaklad vom Paley Center for Media erklären, dass Lehrpersonal häufig die angemessene Affinität zu den Bedingungen und Kontexten des Fernsehens fehle. „That's why there is still a need for us, because teachers don't know how to talk about video as well as about literature whatever", sagt Fisk. Die gewandelten Lernstrukturen hin zu einem vielseitigeren Umgang mit Lernmedien erfordern auch ein Umdenken innerhalb der Erziehungswissenschaft von einem Bildungsverständnis als Zumutung zu einem stärker als Angebot zu beschreibenden Begriff (vgl. auch Ehrenspeck/de Haan/Thiel 2008). Hierfür offenbart sich die informelle Lernumgebung des Museums als idealer Vermittlungskontext. Um sich den staatlichen Bildungsinstanzen als geeignete Ergänzung anzubieten, folgen die Fernsehmuseen im Untersuchungs-Sample bei ihren Bildungsaktivitäten überwiegend zwei Leitlinien: Erstens werden Fernsehüberlieferungen als dokumentarische Quelle verstanden, das Medium fungiert im Museum also als Vehikel für die Auseinandersetzung mit sozialen Phänomenen und der Zeitgeschichte, die nicht primär als Fernsehgeschichte verstanden wird. Rebekah Fisk (PCM) hebt hevor: „The easiest way for any country in the whole world for media education to connect with is social studies and history when television and radio was related to the things that happened." Zweitens aber zielt die Bildungsarbeit in Fernsehmuseen auch auf die Steigerung der Medienkompetenz der vornehmlich jugendlichen Zielgruppen. Kategorisch unterschieden werden kann zwischen vier Modalitäten von Medienkompetenz: der Fernsehkunde als Wissensund Kenntnisvermittlung über das Fernsehen, seine Geschichte, Strukturen, Inhalte und technischen Spezifika; der Fernsehreflexion als Förderung der Fähigkeit, seine eigenen als selbstverständlich wahrgenommenen Beziehungen zum Fernsehen, die damit zusammenhängenden Nutzungsgewohnheiten und -intentionen zu hinterfragen; die Fernsehanalyse oder Fernsehkritik als Qualifikation zur Auseinandersetzung mit den sichtbaren und verborgenen Inhalten, Mechanismen und Strategien des Fernsehbetriebs; sowie die Medien- und Fernsehgestaltung bzw. das Medienhandeln, das dazu befähigt, selbst zum Inhalteproduzenten zu werden und sich Medientechnologien dabei zunutze zu machen (vgl. Kübler 2002: 20). Zwar bescheinigt das Gros der befragten Experten der primären Zielgruppe von Fernsehmuseen - den Kindern und Jugendlichen - ein hohes Maß an Medienkompetenz: Kinder und Jugendliche gehören traditionell zu den Nutzungspionieren neuer Medientechnologien und erwerben in Selbstlernprozessen bereits detaillierte Kenntnisse über

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populäre Alltagsmedien, noch bevor diese von institutionalisierten Bildungsangeboten formeller oder informeller Natur aufgegriffen werden. Dies entspricht der These der Entwicklungspsychologin Patricia Greenfield, die in ihrem pauschalen Geltungsanspruch jedoch widerlegt wurde: ,,[C]hildren must be taught to read, but they learn TV literacy on their own by simply watching television" (Greenfield 1984: 17). Eben weil das Fernsehen seine eigenen Mechanismen so wirkungsvoll verschleiert, kann auf einer rein autodidaktischen Basis nicht das nötige Rüstzeug für den „vernünftigen" Umgang (vgl. Koring 2000: 139) mit dem Fernsehen erworben werden, geschweige denn die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, sein eigenes Verhältnis zum und möglicherweise Abhängigkeiten vom Fernsehen zu reflektieren und zu verstehen, meinen auch Horace Newcomb (UG) und Stephan Schwan (IfW), die zu bedenken geben, dass ein autodidaktischer Lernprozess in erster Linie bei einer jugendlichen Bildungselite festzustellen sei, der durch die fehlende Anleitung einerseits sowie zum anderen durch die intuitiven Qualitäten des Kompetenzerwerbs die erforderliche Verlässlichkeit vermissen lasse. Die in gleicher Weise damit angesprochene Wissensklufthypothese (vgl. Tichenor/Donohue/ Olien 1970) in Kombination mit der zweifelhaften Güte einer autodidaktisch entwickelten Medienkompetenz stellt besondere Herausforderungen an eine differenzierte Bildungsarbeit, die nach Ansicht von Horace Newcomb (UG) und Michele Hilmes (WCFTR) von den primären Bildungseinrichtungen nur unzureichend geleistet werde: In Bezug auf das Fernsehen sowie seine Begleit- und Konkurrenzmedien sehen sie zuallererst Fernsehmuseen gefordert, unter anderem auch weil der Medienunterricht in der Schulausbildung allzu unterentwickelt sei und keineswegs ausreiche, um die erforderlichen Kompetenzen zu vermitteln. Vielmehr müsse deutlich früher damit begonnen werden, Kindern die Hintergründe des audiovisuellen Leitmediums beizubringen. Wenn es um tatsächliches Wissen aus der Fernsehgeschichte und die historisch gewachsenen Logiken und Konventionen des Programmbetriebs gehe, so unterstreicht auch Lynn Spigel (NWU), fehlten selbst Jugendlichen die nötigen Kompetenzgrade, um über ein grundlegendes Verständnis des Fernsehens zu verfügen. Der Bereich der Fernsehkunde ist ein ausgesprochen vielseitiges Themenfeld der musealen Bildungsarbeit: Hier lässt sich die facettenreiche Fernsehgeschichte erkunden, historische Programme wie im Fall von Sendungen aus dem DDR-Fernsehen in den zeithistorischen Gesamtzusammenhang stellen, wie Beutelschmidt anregt, oder das Fernsehen als treibende Kraft bei gesellschaftlichen Entwicklungen behandeln: „Basically the communication medium of a time has really an important influence on the debates of that time. If you want to study those debates, you really have to study the media they were conducted through" (Henry Jenkins, MIT). Dazu gehört zweifellos auch die Wissensvermittlung über medienpolitische Rahmenbedingungen, geschäftliche Entwicklungen, administrative Prozesse und nicht zuletzt über die technischen Aspekte des Fernsehbetriebs. Wenngleich Fernsehmuseen, was die technische Spezialbildung betrifft, laut Michael Adams (MZTV Museum), Michele Hilmes (WCFTR) und Horace Newcomb (UG) schnell überfordert sein dürften und sich aufgrund schwer verständlichen Fach-

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Fernseherbe-Verwaltung

Wissens auf unsicheren Grund begeben würden, da dieses woanders besser und effektiver abgerufen und vermittelt werden könne wie zum Beispiel an fachspezifischen Ausbildungsstätten, in Unternehmen oder informeller mittels Büchern und dem Internet, besteht ein Teil der Befragten darauf, dass sich ein Fernsehmuseum auch den technischen Realisierungsbedingungen des Fernsehens nicht verschließen dürfe. Otfried F. Herber vom Verein Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden hält es für einen generell vernachlässigten Aufgabenbereich, Fragen zu stellen wie: Wie funktioniert die Abtastung eines Bildes? Wie setzt man die richtige Beleuchtung? Wie wird die Bildschärfe eingestellt? Was geschieht bei einer Aufzeichnung oder Live-Übertragung im Fernsehstudio? Welches Personal ist an einer Fernsehsendung beteiligt? „Die Schüler bekommen das in der Rundfunkanstalt nicht gezeigt. Dort werden keine Kameras aufgemacht. So wollen wir versuchen, die Aktivitäten in einer Fernsehproduktion darzustellen" (Otfried F. Herber, PDFW). Technisches Hintergrundwissen sei unabdingbar, um die Zusammenhänge, Begleitumstände und Bezugsrahmen der Sendeabwicklung und damit auch die inhaltlichen Auswirkungen der durch die Technik festgelegten Vorgaben zu erfassen, erklärt Herbers Vereinskollege Wolfgang Janning: „Bei den Leuten draußen herrscht ja das Vorurteil vor, dass man eine Kamera davor setzen kann, und dann funktioniert es. Dem ist ja nicht so. Fernsehproduktionen bestehen ja aus vielen kleinen Teilen: Aus der Technik, der Beleuchtung, dem Ton, die ganze Logistik, die dazugehört. Viele wissen gar nicht, warum eine Fernsehproduktion so teuer ist. Das ist etwas, was das Museum leisten kann, also den Leuten zu zeigen, wie zum Beispiel ein Mensch beleuchtet werden muss, damit er ordentlich auf dem Bildschirm zu sehen ist" (Wolfgang Janning, PDFW). Die Produktionskontexte des Fernsehprogramms werden auch nach Auffassung von Henry Jenkins (MIT) für den Rezipienten und Museumsbesucher nur ersichtlich, wenn es nicht allein auf inhaltlicher Ebene analysiert wird, sondern ebenso die technischen, sozialen, ökonomischen, politischen, juristischen und institutionellen Faktoren des Mediums erklärt und hinterfragt werden. Dies jedoch werde in den bestehenden Einrichtungen durch die gattungsspezifischen Ausrichtungen entweder auf das Programm oder die Fernsehtechnik allenfalls behelfsmäßig und keineswegs ausreichend geleistet: „And to understand the technology, you have to understand how the technology led to specific decisions about programming because that's what the public sees through technology. I think whenever you separate the one from the other, you damage the public's ability of what television is. [...] The public has to understand how television gets produced at particular points of time. That is extremely important. And showing them behind the scenes development of certain key shows, key moments of broadcasting history seems also fairly important. That's what the existing television museums are not doing a good job in. At the moment there is so much about the archive content and not that much about providing the full framework in which television was produced" (Henry Jenkins, MIT).

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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Lynn Spigel (NWU) nimmt an, dass die Ursache für die Unterrepräsentation technologisch fokussierter Bildungsanstrengungen darin liege, dass die technischen Umstände des Fernsehens deutlich schwieriger für ein breites Publikum ohne entsprechende Vorbildung aufzubereiten seien. Dies treffe im Übrigen auch auf Designfragen von Ausstattungsgegenständen zu: Es sei zwar durchaus spaßfördernd, Fernsehartefakte auf ungewohnte Weise dreidimensional im Museum, also auf artifizielle Weise zu betrachten. Dadurch dass es sich aber um rein fernsehimmanente Details handele, die keine offensichtlichen Bezüge zur Zeitgeschichte hätten, sei es ungleich schwerer, ihre historische Relevanz zu belegen: „Everyone could say, it is a design issue or it looks cool. But to really proof that it changed the way the people viewed television is very difficult. A museum can do it and it would be great to communicate this in an exhibit that is not about cool objects" (Lynn Spigel, NWU). Dass technische Entwicklungen die Fernseh- und Zeitkultur verändern können und verändert haben, betont Wolfgang Ernst (HUB): „Man sollte aber einen alten Fernseher auch einfach mal laufen lassen, damit die Leute sehen, warum McLuhan schreibt: .Fernsehen ist ein kaltes Medium.' Man denkt doch, dass die Informationsdichte doch ganz massiv ist. Aber nein: Er hat damals Schwarzweiß-Fernsehen gesehen, und wenn man da die Zeilenauflösung sieht, sieht man, weshalb er glaubt, dass man beim Fernsehen im Unterschied zum Kino, wo das Bild wirklich hochaufgelöst ist, immer selbst viel Phantasie hineininvestieren muss, damit das Fernsehbild überhaupt funktioniert. Das würde bei HDTV aber keinem mehr einleuchten. Genau deshalb muss man einmal sehen, was es heißt, auf einem alten Fernsehgerät wie dem Patrioten oder dem Rembrandt, also dem ersten Fernsehgerät der DDR von 1953, zu schauen" (Wolfang Ernst, HUB). Fernsehkunde im Museum, das macht auch Ernst deutlich, dürfe sich also weder solch offenkundigen Wandlungen der Fernsehwahrnehmung verschließen noch ihren abstrakten Einfluss- und Bedingungsfaktoren, da die Bildungsarbeit im Museum ihren Vermittlungsgegenstand ansonsten nur oberflächlich angehen könnte, ohne die tatsächlichen Mechanismen im Hinter- und Vordergrund begreifbar zu machen und darüber die Signifikanz des Fernsehens auch im Vergleich zu anderen Medien wie dem Buch, der Fotografie oder dem Film zu erklären. Zentrale Aspekte der Fernsehreflexion fallen in den Aufgabenbereich der musealen Erinnerungsarbeit. Hier gilt es, den Besucher zu animieren, sein eigenes Fernsehverhalten, selbstverständlich gewordene Nutzungsgewohnheiten sowie Präferenzen und Abneigungen, Wünsche und Bedürfnisse erkennen und reflektieren zu können und infolgedessen zu mehr Nutzungssouveränität gegenüber der Angebotsflut des Fernsehens zu gelangen. Beinhaltet dieser Teil der Bildungsarbeit durch die intrapersonale Perspektive auf die Erfahrungswelt des Rezipienten das sicherlich größte (Selbst-) Erkenntnispotenzial, sind konkrete Maßnahmen vonseiten des Museums in dieser Hinsicht auch am schwierigsten zu konzipieren. Grundvoraussetzung ist die Partizipationsbereitschaft der Besucher, die gewillt sind, mit ihrem Aufenthalt im Fernsehmuseum die eigene Fernsehbiographie zu erkunden:

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

„Der Erinnerungsanlass ist etwas wahnsinnig Wichtiges, weil das Fernsehen vielleicht noch stärker als das Kino einen biographischen Zugang hat. Jeder Mensch erinnert sich daran, was er in seiner Kindheit gesehen hat, und man erinnert sich nicht nur daran, dass man es gesehen hat, sondern auch in welchem Zusammenhang, in welchem Kontext man es gesehen hat: Wie der Raum eingerichtet war, mit wem man es gesehen hat, wie es gerochen hat, wie die Farben waren, wie die Mode war. Diese Begegnung mit der eigenen Geschichte, die ja auch mit den ganzen politischen Geschehnissen zusammenhängt, die man meistens über das Fernsehen kennt - es gibt ja einige Dinge, die einfach zu unserem visuellen Gedächtnis gehören - das ist schon etwas ganz Wichtiges, ähnlich wie ein Fotoalbum. Und die Leute freuen sich und wollen dann noch einmal tiefer damit auseinandersetzen. Das ist die Chance, dass sich die Leute überhaupt damit auseinandersetzen wollen" (Gerlinde Waz, DK). Indem Fernsehmuseen ihre Angebote auf die Nutzungspräferenzen ihrer Besucher hin ausrichten, beispielsweise durch die Konzeptualisierung von Veranstaltungen rund um nachweisliche Erfolgsformate der Fernsehgeschichte, die bei weiten Teilen der Zuschauerschaft Popularität genossen haben oder (immer noch) genießen, lassen sich über den autobiographischen Zugang auch kontextuelle, nicht offensichtliche und anderweitig kaum Interesse erzeugende Wissensinhalte vermitteln, da die größte Hürde: nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die persönliche Betroffenheit des Besuchers auf die Museumsangebote zu lenken, überwunden wird. Ist die Bereitschaft, sich auf die Vermittlungsbemühungen des Museums einzulassen, erst einmal vorhanden, lassen sich mitunter selbst hartnäckige Fehlerinnerungen an eigene Fernseherlebnisse dekonstruieren und die Umstände der Fernsehwahrnehmung entschleiern. Carl Goodman vom American Museum of the Moving Image bezeichnet es daher auch als eines der vorrangigen Ziele, Besucherbindung mittels der Erinnerungsfunktion der musealen Aktivitäten herzustellen, auch wenn sich das Museumspersonal im Detail nie sicher sein kann, welche Art von Erinnerungen tatsächlich ausgelöst werden: ,,[E]ven just about everything we have here is going to be a kind of a prop in some kind of depth between the public and the museum, because in many cases it triggers all sorts of memories and associations that each of our visitors brings to the museum and we cannot know what they are. But we can be pretty sure that there will be that interaction between what we have and their living experience in some way" (Carl Goodman, AMMI). Besteht die mnestische Verbindung zwischen Museum und Besucher, lässt sich das Fernsehprogramm und seine Entwicklung umso effektiver problematisieren. Der Versuch, die emotional begründete Lust des Besuchers daran zu fördern, überrascht zu werden, seine eigene Fernsehvergangenheit unter neuen Vorzeichen zu betrachten, spielt entsprechend in den untersuchten Fernsehmuseen unter dem Bildungsauftrag der Aufklärung eine gewichtige Rolle. Medienkompetenz als Fähigkeit zur subjektunabhängigen wie rationalen Fernsehanalyse und Fernsehkritik kann unter diesen Voraussetzungen als ebenso geeigneter wie nötiger Förderschwerpunkt eingestuft werden, um von der individuellen

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Perspektive auf übergreifende Phänomene und zugrundeliegende Determinanten überstellen zu können. Trotz des selbsterlernten Vorwissens bei der Einordnung des Fernsehgeschehens - „Most people could tell you how television shows are produced" (Michele Hilmes, WCFTR) - bemängeln einige der befragten Experten hohe Defizite innerhalb der Zuschauerschaft, die „Authentizität des Fernsehens" zu lesen (Jane Johnson, LC), die viele Rezipienten erst noch lernen müssten, um kritisch mit den Inszenierungsleistungen des Mediums umgehen zu können. Der von Lynn Spigel (NWU) teilweise eingeräumte metareflexive Charakter des Fernsehens, der dem Zuschauer automatisch beibringe, wie das Medium zu rezipieren sei, wird nur eingeschränkt von den übrigen Experten als kaum für die Medienerziehung gelten gelassen: „Kids have watched a lot of TV by the age of six, observed the world around them and come to the conclusion that the world that is shown on television is a whole different one to the world they live in. I experienced seven year olds who were incredibly cynical about commercials and they understand that it wants to manipulate them to buy something. And they had no education whatsoever. This idea that kids look at the TV and are totally hypnotized by it, makes the assumption that the kid is a lot stupidier than he or she actually is. We are not the robotic hypnotized people that are under the control of television that some people think we are" (Robert Thompson, SU). Medienerziehung sollte demnach keinen künstlich festgelegten Vorannahmen folgen, sondern den tatsächlichen Kompetenzgrad der jeweiligen Zielgruppe erfassen und dort ansetzen, wo Kompetenzmangel festzustellen ist. So hält es Archivberater Sam Kula für angemessen, Kindern schon in sehr jungen Jahren unter Zuhilfenahme auch von Museumsdiensten beim Fernsehgebrauch anzuleiten, um Fehlentwicklungen und autodidaktisches Lernversagen zu vermeiden, damit sie verständen, was hinter dem Medienbetrieb stecke und welche verborgenen Strategien verfolgt würden. Erst auf diese Weise würden Medienlaien in die sichere Lage versetzt, suggestiven und manipulativen Inszenierungen als souveräner Rezipient und Bedeutungskonstrukteur zu begegnen und zu erkennen, mit welchen Mitteln Mediengeschichten erzählt werden und wie Fernsehrealitäten erschaffen werden können. Für die Museumsarbeit bedeute das, so Robert Thompson (SU), dass es überall dort einspringen müsse, wo Autodidaktismus und Schulbildung an Grenzen stoßen und das Fernsehverstehen der Beliebigkeit überantworten: Im Schulunterricht werde der Voraussetzungsfülle des Fernsehens als Bildungsmedium keinerlei Rechnung getragen, obgleich es mindestens ebenso von komplexer semantischer Natur sei wie schriftliche Texte, meint Horace Newcomb (UG): „My opinion is, that there is just too much to read before going to that format in school. But of course there might be certain occasions when you can tie it to a lesson for example about the 1950s when you want to show a television program about that time and the students can laugh about it. [... ] In general public education it will always be a kind of an ancillary tool." So verkämen Fernsehinhalte in der Schule zum bloßen Ersatz für Frontalunterricht und Zeitvertreib, was ihrem Charakter als konstruktives Lerninstrument entgegenstehe, da keine angemessene Einbettung in die Curricula erfolge, beobachten Robert Thompson (SU) und

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Stephan Schwan (IfW). Weil Fernsehen auch aufgrund der starken Standardisierung der Schulbildung kaum die Geltung erfahren könne, die ihm zustehe, glaubt auch Henry Jenkins (MIT), dass es in erster Linie auf informelle Bildungsarbeit ankomme, um die Vermittlungslücken auszufüllen. Ein Sub-Terrain der Medienpädagogik, das durch die Popularität digitaler Medieninstrumente immer wichtiger wird, ist die produktive Mediengestaltung bzw. das Medienhandeln. Was es bedeutet, selbst mit bescheidenen Mitteln zum Kreateur eigener Videoinhalte zu werden und damit einen persönlichen .Fernsehkanal' im Internet auf einer eigenen Homepage oder auf einem großen Portal wie „YouTube" zu betreiben, lässt sich im Fernsehmuseum nach Ansicht von Rebekah Fisk (PCM) vortrefflich erkunden: „All the digital media like Podcasting, Blogging, like videogames, .YouTube': Kids need to be more interactive, you have to be more user-centered, creating content. We try to keep that up in our department." Horace Newcomb (UG) und Lynne Teather (UT) sehen in Anbetracht der Dynamik neuer Trends in Sachen nutzergenerierter Medieninhalte die etablierten Fernsehmuseen in Zugzwang, um nicht den Anschluss an die jungen Zielgruppen zu verlieren: „In addition to look at museums of TV there is the whole world of video. My neighbor s kids in high school are more familiar with video than I will ever be. They actually can do that in their classes: They go out and produce a historical representation of an event on video. Sometimes they are playing with the facts, but they engage with the past. Certainly one of the arguments for being more media literate and supportive in our exhibits is that kids have it, they do it. It's for them" (Lynne Teather, UT). Das bereits in Kapitel IV.4.1.3. in Bezug auf den interpersonalen Austausch angesprochene Problem der Interaktivität von Ausstellungen und sonstigen Aktivitäten in Fernsehmuseen ist mindestens ebenso relevant in der auf die Teilhabe und Teilnahme der Besucher angewiesenen Bildungs- und Erinnerungsarbeit. Der Entwicklungspsychologe Rolf Oerter sieht in der Partizipation einen Schlüsselbegriff der Bildung, um die stets drohende Kluft zwischen den Bildungsinteressen des Individuums und den zu vermittelnden Bildungsinhalten zu überbrücken. Bildung habe unter entwicklungspsychologischer Perspektive zwei fundamentale Aufgaben: die Verwirklichung individueller Potenziale und die Vermittlung wertvoller Kulturgüter, Anteil zu nehmen am „Reichtum der Kultur" (Oerter 2007: 117). Erst durch eine aktive wie auch passive Teilhabe an kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen könne Bildung erfolgreich sein (ebd.: 118). Museen fungieren diesbezüglich als potenzieller Ausgleich von Bildungsungleichgewichten sowie als Ergänzung zu formellen Bildungsangeboten, indem sie kulturellen Sinn vermitteln und damit auf einem auf freiwilliges Engagement abzielenden Weg zu einer Stärkung gesellschaftlicher Identität(en) und einer Orientierung innerhalb der kulturellen Entwicklung beitragen. So kann auch das Fernsehmuseum durch populäre und den Erfahrungswelten seiner Besucher außerordentlich nahe Überlieferungsfunktionalisierung zu einer ,,bewusste[n], intentionale[n] Identifitkation mit mehr und mehr selbstgewählten Bildungszielen" führen (vgl. ebd. 135), auch weil es die Möglichkeit wahrnimmt, die in

IV.4. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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Pädagogik und Philosophie betonte Einbeziehung von Körper, Seele und Geist in die Bildungsarbeit aufzunehmen und somit eine Ganzheitlichkeit des musealen Bildungsprozesses anzustreben. In der fernsehmusealen Praxis findet dieses Diktum Niederschlag in einem Anstieg an Veranstaltungen, einer Mischung aus Museumsführungen und selbstgeleiteten Rundgängen, interaktiven Ausstellungsinstallation und teils sogar Performanzen. Im mittlerweile geschlossenen Museum of the Moving Image des British Film Institute in London (vgl. auch Kapitel IV.4.3.1.3.) führten Studenten durch die Ausstellungen, standen den Besuchern mit Informationen zur Seite und stellten bestimmte Abläufe der Medienproduktion nach: eine Interaktionsstrategie, die Archivberater Sam Kula auch für die übrigen Institutionen für sinnvoll und umsetzbar hält. Auch wenn in den meisten der untersuchten Einrichtungen (mit Ausnahme des Newseum) eingeschränkte finanzielle und personelle Mittel hemmende Auswirkungen auf die Realisierung von lebendigen Besucherleitkonzepten haben - so gilt im CBC Museum das Credo „to make everything as simple as possible" (Faye Blum, CBC Museum) - , wird nichtsdestotrotz der Versuch unternommen, zumindest punktuell den Erlebniswert durch Interaktionsmöglichkeiten zu erhöhen. Wenn Kinder das Museum eigenständig für sich entdecken, darauf weist Henry Jenkins (MIT) hin, müsse das nicht von Nachteil sein. Das Konzept der „Mitmachausstellung" (Peter Schwirkmann, DK) hat sich gleichwohl (noch) nicht überall durchgesetzt. Raphael Samuels Beobachtung in einer Reihe von Museen, welche mittels .Living History ihre Besucher zu engagieren suchen, trifft auf Fernsehmuseen ebenfalls nicht zu: „Instead of being temples for the worship of the past, these museums make a fetish of informality, discarding glass cases in favour of free-standing exhibits which ideally can be handled and touched, encouraging visitors to hob-nob with the demonstrators, and replacing galleries with intimate .rooms'" (Raphael 1994:177). Gerade hieran allerdings zeigen sich die Adaptionsmöglichkeiten für die museale Arbeit mit und über das Fernsehen: Manche Genre wie Reality TV, einschließlich der zeitweise so beliebten .Living History'-Formate ließen sich gemeinsam im Spielmodell erkunden und nacherleben. Zumindest reiche es nicht, das betonen unter anderem Stephan Schwan (IfW) und Wolfang Ernst (HUB), allein das Programmprodukt auszustellen - „als Flachware an der Wand" - , weil in diesem Fall die Erinnerung und Einsicht darüber fehle, „wie material die Medien auch sind, was also die materielle Grundlage dieser Medien ist", sagt Ernst. Der auf praktische Erfahrungen ausgerichtete, ob nun spielerische oder zurückhaltende Umgang mit dem Fernsehen im Museum, gilt sämtlichen Befragten als anzustreben, obgleich die konkrete Umsetzung des,Hands On-Prinzips unterschiedliche Auffassungen zutage fördert. Bewerten Joseph Hoppe (DTM), Horace Newcomb (UG) und die befragten Vertreter des Vereins Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden den Einsatz von Studio-, Green Screen- und Telepromptertechnik ausdrücklich als geeignete Möglichkeit, beispielsweise durch die Eigenerfahrung des Verlesens von Nachrichten oder durch die simulierte Beteiligung am Fahrradturnier Tour de France mittels Bluescreen- bzw. Blue-Box-Technik bei Besuchern jeglichen Alters ein tieferes Verständnis für

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

die Konstruiertheit der Fernsehwirklichkeit und die Mechanismen Fernsehproduktion und Sendeabwicklung zu generieren, hält Carl Goodman (AMMI) solche Interaktionsofferten an die Besucher nicht für zielgerecht, weil „too amusing-park"-ähnlich. Gemäß der Einschätzung Daniel Bergers vom Museum of Broadcast Communications braucht es sowohl unterschiedlichen Altersgruppen als auch divergierenden Interessen entsprechende Teilnahmeangebote, seien es, grob gefasst, Spielereien für Kinder oder Diskussionen mit Publikumsbeteiligung für Erwachsene. Andere Aktivitäten wie das Oral HistoryVideoprojekt des MZTV Museums können demgegenüber Besucher altersunabhängig ansprechen. Technisch interessierte Besucher könnten zudem Einblicke in Gerätschaften wie Fernsehkameras oder Aufzeichnungs- und Abspielapparate erhalten, indem sie, wie es sich Uwe Redlich (FMI) für ein Museum für Fernsehtechnik idealiter vorstellt. Grundsätzlich hat die Methode des intellektuellen und emotionalen Partizipierens und speziell des Ausprobierens, des Learning by Doing, aber im Sinne eines Lernens und einer Bewusstwerdung von Fernsehvergangenheit und -gegenwart eine unersetzliche Funktion innerhalb der Museumsarbeit: ,,[P]laces like museums [...] are the quintessential .appropriate' physical settings for learning and thus have unprecedented opportunities to facilitate long-term, meaningful learning. Immersing learners within a context that enables them literally to see how things are connected, to understand visually, aurally, and even through smell and touch what something looks and feels like, is a tremendous learning tool. To enable a child to actually see what people looked like and how they lived and even to hear how they might have talked in the past is to open up a window to history that no amount of text in a book can ever duplicate" (Falk/Dierking 2000:195-196). Fernsehmuseen können nicht nur wie alle anderen Museen auch Geschichte und Erinnerung repräsentieren, in der Gegenwart mittels inszenatorischer Anstrengungen konstruieren und physisch erfahrbar machen; sie verfügen ergänzend auch über das Material und die dazugehörige Expertise, um ihre interaktiven Programme mit originären audiovisuellen Zeugnissen der Vergangenheit zu beglaubigen und das Vergangenheitserleben zu intensivieren. Trotz einzelner Schritte oder wenigstens Pläne zu mehr Interaktion zwischen Museumspersonal, den kommunizierten Inhalten und den Besuchern beobachtet Howard Besser (NYU) indes noch immer merkliche Abwehrtendenzen in Bezug auf das ,Hands On-Prinzip, da weitgehend unklar sei, welche tatsächlichen Lernerfolge mit welcher Methode zu erreichen seien. Vielfach setzen Einrichtungen wie das Paley Center for Media und die Deutsche Kinemathek auf Einzelveranstaltungen, um Besucher produktiv einzubinden und für die Museumssache zu begeistern. Dass Interaktion die Anschlusskommunikation fördere, streicht Lynne Teather (UT) heraus: Als außerordentlich effektiver Attraktions- und Eingangspunkt seien interaktive Elemente dafür verantwortlich, dass Kinder den Wunsch verspürten, Museen gemeinsam mit ihren Eltern zu besuchen, beispielsweise nachdem sie mit ihrer Schulklasse vor Ort gewesen waren. So entstehen Konversationsanlässe innerhalb von Familien, aber auch innerhalb des Museumskontextes unter Fremden, auch weil die Erlebnisqualität insoweit gesteigert wird, dass der Be-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

411

Sucher den Museumsbesuch selbst mit angenehmen Erinnerungen verbindet. Letztlich dürfe es aber nicht bei einer rein spaßorientierten Engagierung bleiben, warnt Peter Paul Kubitz von der Deutschen Kinemathek: „Ich glaube, dass das ein ganz wichtiges Mittel ist, und dass wir [...] eine intelligente Form, die die Leute nicht für blöde verkauft - also keine Spielchen - sondern Interaktion, die geistige Bewegung erzeugt, einbauen müssen. [...] Es gibt aber viele Interaktionen, die halte ich einfach für albern" (Peter Paul Kubitz, DK). Hinter dem Schlagwort Interaktion verberge sich schließlich auch der Anspruch, dass beide Seiten, also das Museum als sich kontinuierlich weiterentwickelndes Angebot für zukünftige Funktionalisierungen ebenso wie die Besucher als temporäre Gegenwartsakteure im Museumskontext, von dem sich Aufeinander-Einlassen und der gemeinsamen Konstruktion von Erinnerungen und Bedeutungen für sich und ihre Handlungs- bzw. Daseinskontexte einen Mehrwert erzielen. Interaktion versteht Kubitz deshalb auch als Nutzbarmachung der vom Besucher mitgebrachten immateriellen Ressourcen an Wissen und Erfahrungen: So könne in Form einer offenen, kollaborativ zu erweiternden Datenbank, ähnlich der Online-Enzyklopädie „Wikipedia", vonseiten der Museumsgäste eigene Kenntnisse und Erinnerungen in Form von schriftlichen und theoretisch auch audiovisuellen Einträgen den vorhandenen Fernsehüberlieferungen zugeordnet werden und damit ein Ausbau des Museums als Tradierungsagentur für die breite Masse vorangetrieben werden. Diese Möglichkeit einzugreifen könnte schließlich das Fundament für einen auf Nachhaltigkeit angelegten Austausch zwischen dem Museum, dem Fernsehen und seinen Rezipienten bereiten - und führt im besten Fall nicht zu einer Wiedereinspeisung, sondern überhaupt zu einer erstmaligen Einspeisung individueller Fernseherfahrungen aus der Zuschauerperspektive in den Fundus des Fernsehmuseums, der in seiner multi-perspektivischen Mannigfaltigkeit und durchaus auch Widersprüchlichkeit für die gesellschaftliche Erinnerungsarbeit und ergo für die ganzheitliche Bildung nachkommender Generationen eingesetzt werden kann. 4.2.4. Kooperative Ansätze zur Ausweitung von

Bildungsoptionen

Die Einschränkung des Handlungsspielraums von Fernsehmuseen bei der eigenständigen Umsetzung notwendig erachteter Publikumskonzepte durch hauptsächlich finanzielle und rechtliche Grenzen haben Kooperationen mit anderen Institutionen zwecks Verringerung der Belastungen für die einzelne Einrichtung als alternativen Weg bei der Realisierung von Bildungszielen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Für die befragten Experten steht die Zusammenarbeit von Museen untereinander an erster Stelle: Auch wenn einige Museumsvertreter wie Dale Zaklad es als Vorteil bewerten, dass die Zahl an Fernsehmuseen national wie international so gering sei, dass jedes einzelne und speziell das Paley Center for Media „pretty unique" sei und daher aus eigener Kraft seinen Kurs bestimmen könne und aufgrund seiner Einzigartigkeit genügend Handlungs- und Verhandlungsspielraum besitze, fällt die theoretische Vielfalt der Optionen gemessen an

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

der Last, die aus dem Pioniercharakter fernsehmusealer Operationalisierung entsteht, insbesondere für Fernsehmuseen, die sich noch nicht in sicheren institutionellen Fahrwassern bewegen und ihre Relevanz innerhalb ihrer kulturellen Kontexte noch beweisen müssen, in der Praxis deutlich geringer aus: Können Museen üblicherweise auf einen reichen Erfahrungsschatz thematisch und konzeptionell ähnlicher Museumseinrichtungen zurückgreifen wie im Falle von Heimatmuseen oder sich am Beispiel von Organisationsstrukturen und Publikumsprogrammen international bekannter Vorbildinstitutionen wie beispielsweise im Kreis der Kunstmuseen ausrichten, sind Fernsehmuseen derart rar gesät und in ihren jeweiligen Eigenheiten weitestgehend beispiellos, dass sich diese untereinander allenfalls hypothetische Orientierungswerte bieten können. Auch wenn sich das Paley Center for Media zu einer globalen Referenzinstitution für fernsehmuseale Institutionalisierungsanstrengungen entwickelt hat, sind neue Museumsprojekte gezwungen, aufgrund von gesetzlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen den jeweils in ihren nationalen Mediensystemen vorherrschenden Imperativen zu folgen und stehen somit vor nicht oder kaum auf andere Kontexte übertragbare Herausforderungen und Hindernisse, müssen also stets erneut Pionierarbeit leisten. Ein Blick über den nationalen Tellerrand lohnt sich aber trotzdem umso mehr, auch für Einrichtungen, die wie die Deutsche Kinemathek bereits einen mühsamen Institutionalisierungsprozess hinter sich haben und vor der Aufgabe stehen, ihre Dienste dauerhaft in einer sich mehr und mehr globalisierenden Medienwelt zu etablieren. Das Kooperationspotenzial zwischen Fernsehmuseen wird im befragten Expertenkreis als außerordentlich hoch eingestuft, eben weil ein Erfahrungsaustausch unerlässlich sei bei einer zunehmenden Verunsicherung der Verantwortlichen durch die unklare Rechtslage und die angespannte Fördersituation, die in Nordamerika ebenso wie in Deutschland selbst den seit Jahrzehnten etablierten Institutionen keine dauerhafte Existenz zusichert. Die in den einzelnen Häusern diskutierten Kooperationsmöglichkeiten sind vielseitig: Ob über eine gegenseitige Weiterbildung der Museumsmitarbeiter im europäischen oder transatlantischen Personalaustausch mittels Job-Rotation nachgedacht wird oder es mit stärkerem Gewicht auf die Bildungsarbeit für sinnvoll erachtet wird, museale Curricula zu zirkulieren oder gemeinsam Stipendien auszuschreiben für Studenten der Medienwissenschaften oder Nachwuchskünstler, die sich in der digitalen Videokunst üben und in den jeweiligen Partnereinrichtungen Gastaufenthalte absolvieren - viel wird für möglich gehalten, doch bisher gab es nur wenige faktische Kooperationsanstrengungen. Diese waren in erster Linie im Segment der Wanderausstellungen zu verorten, wohingegen sich laut Michael Adams vom MZTV Museum insbesondere hier zeige, dass hohe Versandkosten beim Transport von Exponaten wiederum die Bereitschaft einiger Einrichtungen stark einschränken könnten, sich diesbezüglich zu engagieren. Der Verleih von objekthaften Ausstellungsstücken wie im Fall des MZTV Museums oder des American Museums of the Moving Image ist jedoch etablierter als Ausstellungskooperationen auf Basis von Fernsehprogramminhalten, da hier aufgrund der erforderlichen Rechteklärung empfindliche Zurückhaltung herrscht. Darüber hinaus werden die Anforderungen

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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an Wanderausstellungen zum Fernsehen in Bezug auf ihre konzeptionelle Flexibilität als sehr viel höher eingestuft als zum Beispiel bei allgemein historischen oder künstlerischen Themen, da trotz globalisierter Medienmärkte die Rezeptionskontexte und damit auch die systemische Spezifität des Fernsehens immer noch stark nationalstaatlichen Bedingungen unterliege, woran Joseph Hoppe (DTM) erinnert, was andere Befragte jedoch nicht am Träumen hindert: „To me it would be great, given streaming media and anything that is going on, to be able to have conversations and seminars between both scholars and audience members/fans internationally about issues related to nations. Around the world American popular culture and American television have defined a lot of the images of America. I'd love to be able to screen those shows and have discussions with people around the world to explore something about our culture" (Bruce DuMont, MBC). Ansatzpunkte für erfolgsversprechende Kooperationen sehen die befragten Museumsvertreter daher eher bei zielgerichteten Einzelprojekten, in deren konkreten Bezugsrahmen noch am ehesten Ergebnisse erzielt werden könnten, die für alle Beteiligten in ihren jeweiligen Spannungsfeldern zwischen Rechtefragen, Budgetmängeln und Besucherinteressen den gewünschten Ertrag brächten, wie unter anderem aus dem Paley Center for Media und der Deutschen Kinemathek verlautet wird. Dies wird auch dem Fehlen einer eigenen nationalen, geschweige denn internationalen Verbandsstruktur für Fernsehoder Medienmuseen gerecht. Die einzelnen Einrichtungen sind dadurch angewiesen auf die bestehenden Dachverbände wie den Internationalen Museumsrat ICOM sowie die Archivföderationen AMIA und FIAT, können dort ihren Anliegen aufgrund ihres Nischendaseins aber nur auf bescheidene Weise Gehör verschaffen. Dadurch dass sich die untersuchten Fernsehmuseen größtenteils auf persönlich geknüpfte Kontakte verlassen müssen, fehlt es den vorrangig anlässlich konkreter Veranstaltungspläne zustande kommenden Kooperationen noch an der nötigen Stabilität. Diese werden zudem durch Konkurrenzkonstellationen gefährdet, indem exklusive Medienpartnerschaften zwischen den Museen und einzelnen Medienunternehmen Ausschlussmechanismen zur Folge haben können, wie Joseph Hoppe (DTM) erklärt: „Medienpartner sind sehr wichtig, und wenn zum Beispiel ein Medium, das man gerne haben möchte, sich für ein oder zwei andere Projekte verpflichtet hat für den gleichen Zeitraum, dann ist das schon schlecht." Dieses Manko bei der Vernetzung einzelner Museen mit der Medienindustrie oder weiteren nicht-musealen Institutionen ließe sich durch stärke Anstrengungen in Richtung einer von verschiedenen Museen gemeinsam verfolgten Realisierungen von Partnerschaften beispielsweise mit wichtigen Medienunternehmen entschärfen, zumal vonseiten der Fernsehwirtschaft (hier Axel Bundenthal, ZDF) betont wird, dass eine Unterstützung von Fernsehmuseen immer nur eine schmale sein könne. Die Zusammenfassung von Kooperationsbemühungen durch eine engere Vernetzung fernsehmusealer Einrichtungen wird jedoch weniger auf nationaler, als vielmehr auf transatlantischer Ebene gesehen, da insbesondere in den Nordamerika unter den Leuchtturmorganisationen Paley Center for Media und dem Museum of Broadcast

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Communications einerseits und dem M Z T V Museum sowie dem American Museum of the Moving Image andererseits ein zum Teil harscher Wettbewerb um die Gunst von Sponsoren und Sammlern herrscht, jedoch auf Grundlage der Befragungsergebnisse eine ähnliche Haltung auch im Hinblick auf die Deutsche Kinemathek und den Verein Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden festgestellt werden kann (vgl. auch Kapitel IV.2.6.1. und IV.3.1.1.): „It may very well be that the cooperation internationally maybe easier than the cooperation nationally just because the competitive funding pool may be a little different", meint unter anderem Bruce DuMont (MBC). Der Aufbau eines internationalen Netzwerks könne dabei helfen, die nationalen Verständigungskontexte zu reflektieren und über inhaltliche, organisationeile, technische oder Designfragen zu übergeordneten Problem- und Fragestellungen über nationale Perspektivierungen und erinnerungskulturell tradierte Sichtweisen auf fremde Kulturkreise zu gelangen, die sich am Beispiel des Fernsehens besonders eindrücklich behandeln ließen: Stephan Schwan vom Institut für Wissensmedien schlägt beispielhaft vor, komparative Projekte wie zur Untersuchung der „Global Soap" anzustoßen, um aufzeigen, inwiefern die Standardisierung von Fernsehformaten wie Seifenopern zu einer kulturellen Konformisierung führen kann bis zu einzelnen Verhaltensgewohnheiten wie der verbalen Gestik. Auch ließen sich damit Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Produktions- und Rezeptionskulturen verschiedener Länder aufzeigen oder Wege finden, um eine Form der kulturellen Vererbung von Formattypologien zu identifizieren, also welche Formate im Ausland den eigenen Lieblingssendungen vorausgingen und was jeweils woanders abgekupfert worden ist. Grundlegend ist hierbei die Ansicht, dass der größte Gewinn einer Zusammenarbeit zwischen Fernsehmuseen darin bestehe, die jeweils eigene nationalkulturell geprägte Perspektive zu dekonstruieren und in einen globalen Gesamtzusammenhang zu stellen, was auch Ron Simon ( P C M ) unterstreicht: „We could do the American perspective on any given topic and the international group could do their own. So I think that could be really interesting." Bruce DuMont ( M B C ) hält dabei Fragen der Tradierung und vom Fernsehen beständig vorgenommenen Zirkulation von klischeehaften Kulturbildern für besonders wichtig: „What is the image of America as defined by television that is viewed in Germany? What is the image of Germany as defined by shows about Germany in the United States? That sounds like an intellectual exercise and something that would be interesting." Hervorheben ließen sich auch die von nationalen und globalen Nachrichtenunternehmen und Medienkonzernen kommunizierten Sichtweisen über bestimmte Ereignisse und die damit verbundenen Interessen und kulturellen Hintergründe, wie Daniel Berger (MBC) ergänzt. Als grundlegendes Ziel kann auf Basis dieser Äußerung gelten, die internationale und interkulturelle Verständigung, das gegenseitige Verständnis und nicht zuletzt des Selbstverständnis zu fördern. Diesem Anliegen entspricht auch die Kritik an der weitgehenden Ignoranz fernsehhistorischer Entwicklungen aus fremden Sprachräumen, die Michael Adams ( M Z T V Museum) übt und Fernsehmuseen in der Pflicht sieht, mit diesem diagnostizierten Missstand aufzuräumen:

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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„We don't know the complete history of television in Germany and Germans don't know the complete history of television in North America. And as our broadcast museums develop and become more and more open to sharing that knowledge, interpreting that knowledge and translating that knowledge, the better the understanding of the history of television can be. Right now there is no encyclopedia, no institution you can go to in the world that can tell you accurately all aspects of the history of television" (Michael Adams, MZTV Museum). Die Sprachbarriere identifizieren auch Lynne Teather (UT) und Lynn Spigel ( N W U ) als maßgeblichen Hemmklotz für eine Annäherung unterschiedlicher nationaler Rezeptions-, aber auch Wissenschaftskulturen. Spigel sieht vor allem bei US-amerikanischen Publika erheblichen Nachholbedarf bei der Bereitschaft, sich für Formen und Inhalte des ausländischen Fernsehens zu interessieren. Anders als in europäischen Fernsehnationen, wo Sendungen aus dem US-Fernsehen durch Synchronisation zum festen Programmbestandteil gehören, herrsche in den USA eine eklatante Ignoranz gegenüber fremdsprachigen Fernsehproduktionen, auch weil oft nur eine Untertitelung angeboten werde: „That would be great, because part of the problem is that Americans are so totally lame with foreign languages. We can't speak many languages. The stuff would have to be translated. We should have more relations with foreign videoart-work, because the T V museum has defined itself so much as popular culture and kind of reinstitutes that divide constantly. I would love that my students can watch more international TV, but because it's not dubbed it's very difficult to show it here even if I can get my hands on it. So I end up to show British stuff and the students say: ,It's foreign!' They are not used to see anything else than American TV, and it's so weird because American T V travels everywhere" (Lynn Spigel, NWU). Auch aufgrund dieser strukturellen Versäumnisse bei der Implementierung ausländischer Sendeinhalte sei es zumindest in den USA besonders schwierig, den nationalen Fokus zu durchbrechen, nicht erst auf Seiten der Zuschauerschaft, sondern auch bei der wissenschaftlichen Klientel, sagt Henry Jenkins (MIT): ,,[T]here are very few television studies courses around the world that actually deal well with television as an international medium. By and large we end up teaching about the shows that are produced within our national borders. [... ] So international cooperation that led to screening programs or to exhibitions or to circulation of text for teaching in schools and so forth would be a huge benefit, just to get out of our provincial understanding of what television is. Television delivers very differently in different parts of the world" (Henry Jenkins, MIT). Hier bestehen weitere inhaltliche, aber auch administrative Vorteile von internationalen Kooperationen zwischen Fernsehmuseen, da nationale Einrichtungen jeweils ihre Expertise in Bezug auf die nationale Fernsehgeschichte, einschließlich ihrer Kontakte zur Wissenschaft, und zusätzlich ihre zumeist exklusiven Kontakte zur Fernsehindustrie vor Ort fremdländischen Organisationen zur Verfügung stellen und unter anderem bei der Konzeptualisierung von Bildungsprogrammen oder bei der Akquise von Fernsehüberlie-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

ferungen helfen können. Je mehr das nationenzentrierte Verständnis von Fernsehen im Zuge der Globalisierung der Medienindustrie und ihrer Wertschöpfungsketten kollabiere, meint Robert Thompson (SU), desto mehr würden sich solcherlei Kooperationen anbieten, um die allgemeine Öffentlichkeit dabei an die Hand zu nehmen und den Wandel zu begleiten. Internationale Kooperationen liegen also nicht nur im Interesse der deutschen Einrichtungen, um von den Erfahrungen älterer Fernsehmuseen zu lernen und ihren Zielgruppen international-kontextualisierende Bildungsangebote zu unterbreiten, sondern werden auch für nordamerikanische Fernsehmuseen immer wichtiger. Netzwerkpläne sind zwar noch nicht in einem konkreten Stadium, werden jedoch bereits in Form eines globalen Konsortiums von Medienmuseen imaginiert, unter anderem von Paul Sparrow, der sich das Newseum mit seiner technischen Infrastruktur als „hub for global, international museum programs" vorstellen könnte: ,,[W]e would get for essentially minimal costs a truly global perspective." Weil es in diesem Bereich wenig Erfahrung gibt, weder was die methodischen Herangehensweisen noch was die strukturellen Erfordernisse betrifft, halten sich Chancen und Risiken die Waage: „Das ist absolutes Neuland, da gibt es keine Regeln" (Joseph Hoppe, DTM). Auf Basis des institutionellen Status Quo der bestehenden Einrichtungen in Deutschland und Nordamerika lassen sich drei netzwerkbasierte Kooperationsmodelle konzipieren, deren Umsetzung mit Rücksicht auf die zentralen Hemmnisse bei der Sammlung, Bewahrung und Zugänglichmachung von Fernsehprogramm-Material, welche bereits ausführlich diskutiert wurden (vgl. Kapitel IV.3.) und sich tendenziell negativ auf die Ausgestaltung der musealen Bildungs- und Erinnerungsarbeit auswirken, als aussichtsreich zu beurteilen ist: - Loose Linked Network: Das Modell eines Netzwerks mit nur schwach ausgebildeter Bindungsstruktur zwischen den einzelnen Institutionen ist auf der untersten Kooperationsstufe anzusiedeln. Die Zusammenarbeit beschränkt sich auf vereinzelte Sondierungsgespräche zwischen den Beteiligten mit der Planung vereinzelter gemeinsamer Veranstaltungen auf der Grundlage eines losen Übereinkommens zur partnerschaftlichen Nähe. Auf dieser Ebene beschränkt sich die Kooperation auf gegenseitige Delegationsbesuche und Informationsveranstaltungen, um zu eruieren, wo gemeinsame Ziele und Ansatzpunkte bestehen. - Deep Functionalized Network: Auf einer höheren Stufe können internationale Netzwerke etabliert werden, welche auf eine tiefergehende funktionale Zusammenarbeit abzielen. Dies kann auf inhaltlicher Ebene zur gemeinsamen Kuratierung von Ausstellungen dienen, zur Erweiterung von Sammlungen mit fremdländischen Fernsehüberlieferungen durch Vermittlungsdienste der Partnereinrichtungen im jeweiligen Land, aber auch auf administrativer Ebene durch die Bildung einer Lobbystruktur, um die bereits bestehenden Kontakte einzelner Fernsehmuseen auf Staatenebene zu bündeln und beispielsweise gemeinsame Förderanträge zu stellen, die bei international ausgerichteten Projekten ein höheres Erfolgspotenzial aufweisen können.

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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- High Differentiated Network: Das Modell eines in sich stark differenzierten Netzwerkes zielt auf die komplementäre Funktion der Kooperationspartner. Hier wird vornehmlich darauf geachtet, dass es zu keinen Überschneidungen bei den wettbewerblich relevanten Zielen der einzelnen Institutionen kommt. Partner für Fernsehmuseen sind in diesem Netzwerk vorrangig museale Einrichtungen, die sich mit anderen Mediengattungen beschäftigen oder eine inhaltliche Nähe zu bestimmten Themen der fernsehmusealen Bildungs- und Erinnerungsarbeit aufweisen. Abgesehen vom praktischen Nutzen intermusealer Zusammenarbeit bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Ausschöpfung von Bildungspotenzialen suchen einzelne Fernsehmuseen auch in den Reihen der Zuschauerschaft nach möglichen Kooperationspartnern. Mit Blick auf die sich abzeichnenden Internationalisierungstrends bieten sich Fan-Gemeinschaften an, bei denen mit ihrem Spezialwissen für bestimmte Fernsehtopoi und ihrer einhergehenden Leidenschaft für das Medium und seine Programm- und Begleitprodukte eine hohe Partizipationsbereitschaft vermutet wird: „I think that television museums should embrace fan-communities because they'll be important supporters of their institution. Fan-communities are an important part of the social history of broadcasting. Certainly representative collections of fan-produced material should be part of what's be saved" (Henry Jenkins, MIT). Jenkins spricht gleich mehrere Funktionen an, die Fans mit ihrem Engagement innerhalb der Museumsarbeit erfüllen können: Erstens können sie als Multiplikatoren des Fernsehmuseums und seiner Themen dienen und damit für eine Erhöhung der Reichweite musealer Vermittlungsanstrengungen und einer Verbreitung der Besucherschaft sorgen. Zweitens stellen Fans in ihrer Vergemeinschaftungsform eine distinkte Rezipientengruppe dar, an der sich das Verhältnis zwischen Fernsehnutzern und ihrem Medium besonders eindrücklich untersuchen lässt. Und drittens tragen Fans durch ihre eigene Produktivität wie in Form von Texten, Videos oder komplexen Internet-Datenbanken zur Bereicherung des televisuellen Fundus bei und sind für das Museum demnach eine Quelle bei der Akquise von relevanten Überlieferungen der televisuellen Sozialgeschichte. In einigen der untersuchten Fernsehmuseen, namentlich im American Museum of the Moving Image, im Museum of Broadcast Communications und in der Deutschen Kinemathek, wird der Adressierung von Fans als Partner bei der Ausgestaltung von Museumsaktivitäten zwar eine nur sekundäre Rolle zugemessen, jedoch wurden bereits vereinzelt Wege einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Fan-Gruppierungen und musealen Projekten erkundet. Peter Paul Kubitz (DK) berichtet von grundsätzlich positiven Erfahrungen im Rahmen des 40-jährigen Jubiläums der Fernsehserien „Star Trek" und „Raumpatrouille Orion": Ein Teil der Fans kam kostümiert zu den Veranstaltungen, trug damit zur atmosphärischen Untermalung bei und erwies sich als rege kommunikationsbereit. Dessen ungeachtet müsse noch eingehender eruiert werden, welchen Ertrag solche Kooperationen für die Museumarbeit versprechen: ,,[D]er Ertrag war sehr unterhaltsam, aber nicht inhaltlich schon sehr weit gediehen. Wenn man mit so einem sehr speziellen Publikumssegment als Museum arbeitet, also hier die Fans, da die Wissenschaft, was da

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

entstehen könnte, weiß ich noch nicht." Bruce DuMont (MBC) verspricht sich davon eine synergetische Beziehung, die auch für das Museum von Vorteil sein kann, auch aufgrund des Sammeleifers vieler Fans und ihrer dem Museum ähnlichen kulturschafFenden und -prägenden Funktion : „Many of them have their own stuff going on, so they have their own culture. [...] They operate below a level of academic credibility, because they are just fans. The reality is: They can help us and we can give them a little more credibility by working in a cooperative way." Auch bei der Fernsehindustrie besteht, wie in Kapitel IV.3.3.2. ausgeführt, ein großes Interesse an der Einbindung von Fans in die Programmgestaltung, um besser auf den Bedarf der Intensivnutzer eingehen zu können und ebenfalls die Multiplikatorpotenziale der Empfehlungsstrukturen von Fan-Gemeinschaften zu nutzen. Der Wissensbedarf der Fans wiederum über aktuelle, aber auch historische Hintergrundinformationen ist ebenfalls enorm. Mittels der Zusammenarbeit mit Fernsehmuseen können Sendeunternehmen sich ihren Zielgruppen anders als bei sendereigenen Angeboten oder nutzergenerierten Fansites im Internet auf neutralem Grund nähern, da die museale Plattform in ihrer institutionellen Unabhängigkeit von beiden Seiten als gleichberechtigtes Forum akzeptiert werden kann. Fernsehmuseen können hier also als unparteiische Moderatoren und Kontaktvermittler zwischen den Akteuren dienen. Anschaulich machen lässt sich dieses Kooperationspotenzial unter anderem an Kombi-Führungen, die das MZTV Museum in Zusammenarbeit mit der kanadischen Sendergruppe CityTV anbietet: Besuchern ist es, bevor sie das eigentliche Museum betreten, freigestellt, einen Blick hinter die Kulissen des benachbarten Sendezentrums in Toronto schauen. Dass Fernsehmuseum und Fernsehunternehmen in diesem Fall denselben Gründer haben - Moses Znaimer sieht Michael Adams (MZTV Museum) nicht als Hinderungsgrund für die Kontext-Erfahrung der laufenden Sendeabwicklung und der historisierenden Museumserfahrung: „When people come to our museum it's usually after seeing a media empire. Its quite tangible for them. So they see the inner workings of television, the MZ of MZTV Museum used to be the president and executive producer of City TV, MuchMusic, Bravo! etc. And one of the unique elements of that broadcaster is that it has broken down the walls of media and you can see television made, the people that were hired to run it are the average people, it's not on the twelfth floor of the Empire State Building. Their experience in the process in leading up to our museum is part of the whole process" (Michael Adams, MZTV Museum). Diese Zusammenführung von gegenwärtiger Produktion und historischer Reflexion des Fernsehens lässt sich beliebig ausweiten, ob nun auf andere Beteiligte am Fernsehbetrieb wie das kreativ arbeitende Personal oder auch auf wissenschaftliche Forschungseinrichtungen. Die Kooperation mit der Wissenschaft genießt aufgrund der archivischen Prägung manchen Fernsehmuseums wie des Paley Center for Media wesentliche Priorität. In einem Versuchsballon ermöglichte das New Yorker Museum gemeinsam mit dem National Museum of Australia drei australischen und drei US-amerikanischen Studenten, per Videokonferenz ein Interview mit dem indischen Schriftsteller und damaligen Under-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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Secretary-General for Communications and Public Information der Vereinten Nationen Shashi Tharoor. Hier profilierten sich beide Museen als Schleusenwärter zur administrativen Elite der Weltgemeinschaft und standen Pate für Zugangserleichterungen bei der wissenschaftlichen Forschungstätigkeit. Eine auf organisatorischer und inhaltlicher Ebene stattfindende Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlichen Einrichtungen und Fernsehmuseen nimmt darüber hinaus facettenreiche Züge an: Das Museum of Broadcast Communications gewann zum Beispiel gemeinsam mit dem Fernsehwissenschaftler Horace Newcomb (UG) eine Vielzahl renommierter Gelehrter als Autoren für die Encyclopedia of Television (vgl. Kapitel IV.2.4.8.). Außerdem ist es mittlerweile gang und gäbe, im Zuge von (Sonder-) Ausstellungen Seminare an Hochschulen anzuregen, um die museale Thematisierung von Studenten begleiten zu lassen. So entstehen unter anderem an der Deutschen Kinemathek regelmäßig studentische Abschlussarbeiten, wovon wiederum als wertvoll erachtete Impulse zurück in die Museumsarbeit fließen. Zudem bieten sämtliche untersuchten Museen Wissenschaftlern, die beispielsweise ein Promotionsvorhaben verfolgen, einen privilegierten Zugang zu ihren Sammlungsbeständen an. Auf persönlicher Ebene werden des Weiteren wie im Fall von Kurator Ron Simon (PCM) oder Joseph Hoppe (DTM) Kontakte zu Hochschulen geknüpft, die eine externe Vermittlung der Museumsexpertise zum Ziel haben, indem Simon zwei Lehraufträge an der Columbia University und an der New York University unterhält und Hoppe an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrt. Angesichts der hohen Bedeutung der jugendlichen Zielgruppe bei der Konzeptualisierung der musealen Bildungsarbeit werden in den einzelnen Häusern zweierlei Kooperationsstrategien verfolgt: Einerseits wird aktiv die Zusammenarbeit mit Schulen gesucht, andererseits Kontakte mit Jugendorganisationen hergestellt. Die befragten Museumsvertreter berichten dabei von erheblichen Schwierigkeiten, sich einerseits eng an den stark standardisierten staatlichen Lehrplänen orientieren zu müssen, um alters- und entwicklungsgerechte Programme ausarbeiten zu können, sich andererseits aber auch von den übrigen formellen und informellen Bildungsanbietern unterscheiden zu müssen, um ihre Zielgruppe überhaupt zu erreichen. Die curriculare Enge und der Kampf um die Gunst von Lehrern und Schülern ergeben ein Spannungsfeld, das einige Einrichtungen mit Einfallsreichtum zu begegnen suchen. So konzentriert sich das Newseum neben einer interaktiven Gestaltung seiner Ausstellungen und einem ambitionierten Veranstaltungsspektrum auf die nach Klassenstufen ausgerichtete Produktion eigener Videos, um sich abzuheben von den auch anderswo zugänglichen Fernsehproduktionen: „The Berlin Wall is a good example; our Civil Rights film is a good example. So these are media productions that directly target Standards of Learning skills that were created by state and federal committees. So we then look at all of our content and say: ,You are a sixth grate teacher? Here is stuff that is relevant for you. Go here, here, here and here. If you are a 12th grate journalism teacher, then you want look at this, this and this. And if you have a college curriculum at a American history college, you want this, this and this.'" (Paul Sparrow, Newseum).

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Die von Sparrow angesprochene Unumgänglichkeit, Lehrkräfte davon zu überzeugen, dass ihren Schülern im Museum mehr geboten wird als in einer Videothek oder im laufenden Fernsehprogramm, trotzdem in einer ansprechenden audiovisuellen Form, jedoch themenorientiert und nach verschiedenen Lernniveaus konzipiert, hat dazu geführt, dass sich die einzelnen Museen immer stärker auf bestimmte Themenbereiche spezialisiert haben. Das Streben nach Alleinstellungs- und Unterscheidungsmerkmalen hat dazu geführt, dass beispielsweise das Museum of Broadcast Communications einen ausgiebig regionalen Fokus verfolgt, dass das Paley Center for Media unter anderem seine Sammlung an fremdländischen Fernsehprogramminhalten ausbaut oder dass sich das Newseum der US-amerikanischen Geschichte aus einem journalistischen Blickwinkel nähert: „In America one principle is that every kid comes to Washington when it is in the eighth or ninth grate. They go to the Smithsonian, they visit Mount Vernon, so we know that these people come specifically to Washington to visit museums. So we offer a version of American history that no one else does. So we think that they will come to us" (Paul Sparrow, Newseum). Dale Zaklad (PCM) sieht daher auch eine Notwendigkeit darin, Lehrern die Entscheidung zu erleichtern, ein Fernsehmuseum zu besuchen, indem auf der einen Seite klassische zeithistorische Bildungsthemen wie der Kalte Krieg, Vietnam und die Bürgerrechtsbewegung angeboten werden, zum anderen jedoch auch Themen, die sich nicht in den Lehrplänen finden lassen, aber eine neue Sicht vermitteln. Schließlich gehe es primär nicht um die Vermittlung historischer Fakten, sondern um eine neue Sicht- und Denkweise in Bezug auf die mediale Wahrnehmung von Geschichte: ,,[W]hat they have to understand is: We teach a way of thinking" (Dale Zaklad, PCM). Neben der standardmäßigen Bereitstellung von Informationsmaterial zur Vor- und Nachbereitung der Museumsbesuche bieten die untersuchten Fernsehmuseen Schulen zum Teil unterschiedliche Kooperationsmodelle an: Das Gros der auf Schüler konzentrierten Bildungsarbeit findet im Museum selbst statt, was den möglichen Wirkungskreis des Museums auf die lokale Umgebung begrenzt, da Schulklassen laut Berichten der befragten Museumsvertreter nur selten weite Anreisen auf sich nehmen und im Ausnahmefall andere Attraktionen in der jeweiligen Stadt vorziehen. Ergänzt werden die Aktivitäten vor Ort durch Videokonferenzen, die von registrierten Schulen empfangen werden und für den Unterricht eingesetzt werden können. Teilweise gehen Museumsvertreter auch in die Schulen und bieten dort ihre Bildungsdienste an. Dieses Vorgehen ist zwar auch im Hinblick auf die begrenzten Personalressourcen verhältnismäßig aufwendig, doch lassen sich dadurch in Kombination mit Museumsbesuchen der Schüler und Lehrer, ob allein oder in der Gruppe, nachhaltigere Effekte erzielen. Häufig erhalten Lehrer zum Beispiel im Paley Center for Media Empfehlungen, welche frei auf dem Markt verfügbare Programmüberlieferungen wie zum Beispiel Fernsehdokumentationen am ehesten für den Unterricht geeignet sind. Schüler wiederum können in ihren Ferien als Praktikant im Fernsehmuseum tätig werden, über ihre dortigen Erlebnisse ein Video erstellen und dies im Schulunterricht vorführen und diskutieren, wie vom MZTV Museum angeboten.

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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Dass Fernsehmuseen es nicht bei Schulkooperationen belassen dürfen, sondern auch auf Jugendorganisationen zugehen sollten, zeigt sich an den erfolgreichen Programmen des Paley Center for Media, die es gemeinsam mit Organisationen wie Cool Culture, Downtown Community Television, dem Manhattan Neighborhood Network Youth Channel, dem Global Action Project, usf. ausrichtet. Unter den Experten wird diesbezüglich unter anderem von Henry Jenkins (MIT) angemahnt, dass gerade Fernsehmuseen prädestiniert seien, insbesondere auch bildungsferne Bevölkerungsgruppen zum Beispiel in familiären Kontexten anzusprechen, die nicht über das institutionalisierte Raster von Bildungsorganisationen kontaktiert werden könnten und gemeinhin nicht zu den typischen Museumspublika zählten. Die Gefahr, die Bildungsangebote und Erinnerungsdiskurse mit elitären Konnotationen zu versehen, die vorrangig ein sicheres, weil ohnehin an musealen Aktivitäten interessiertes Bildungsbürgertum ansprechen, ist nach Einschätzung von Thorsten Schilling (BpB) auch bei der Beschäftigung mit der Fernsehgeschichte und speziell mit der vom Fernsehen begleiteten Zeitgeschichte akut. Von Seiten des Paley Center for Media wird der Versuch unternommen, sich auf diese Forderung einzulassen, indem mit einer Vielzahl von New Yorker Jugendprojekten gemeinsame Workshops, Festivals und Museumsführungen durchgeführt werden, um sozial benachteiligte Familien an die Kulturarbeit der Stadt heranzuführen. Die übrigen Einrichtungen nehmen den Anspruch, aktiv Familien aller sozialen Schichten anzusprechen und gemäß ihren Bedürfnissen mit Sinnangeboten zu versorgen, für die eigene Arbeit zwar auch ernst, verfügen jedoch aufgrund institutioneller Schranken nicht über vergleichbare Angebote. 4.2.5.

Veranstaltungskonzepte als Funktionalisierungsinstrumente

dynamisch-prozesshafte

Auch wenn die institutionelle Manifestierung der „Deutschen Mediathek" misslang, lebte sie doch, wenn auch nur für einen kurzen Moment: Im Jahre 1997 wurde die Idee einer Gedächtnisorganisation, die sich dem Fernseherbe in einer Weise widmete, dass die allgemeine Zuschauerschaft es für ihre persönlichen Erfahrungsräume funktionalisieren kann, plötzlich konkret. Auf Initiative von Olaf Irmscher, Mitglied des Gründungsbüros, lud die „Deutsche Mediathek", obwohl ihre Realisierung durch die finanzielle Zurückhaltung der Sender weiterhin unsicher war (vgl. Kapitel IV.2.2.), zu einer Sonderveranstaltung im Rahmen der zweiten Berliner „Langen Nacht der Museen". Unweit des geplanten Zuhauses der Mediathek am Potsdamer Platz wurden in der futuristischen Atmosphäre der Kältezentrale der Bewag, des damaligen hauptstädtischen Elektrizitätsversorgungsunternehmens, sämtliche Episoden der Fernsehserie „Raumpatrouille Orion" am Stück gezeigt (Irmscher 1997). Inmitten von technischen Apparaturen und in Anwesenheit des Serienstars Wolfgang Völz (alias Mario de Monti) verzeichnete das Gründerteam des bis dato in der allgemeinen Öffentlichkeit kaum bekannten Projekts der „Deutschen Mediathek" einen beachtlichen Publikumserfolg (vgl. Niemann 1997). Veranstaltungen können sich bei massenattraktiver Konzeption also als effektives Instrument erweisen, um bei breiten Publikumsschichten Aufmerksamkeit für ein muse-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

al fokussiertes Thema zu generieren. Derlei Angebote sind also immer auch sinnvolle Marketingmaßnahmen für eine geplante oder bestehende Einrichtung, doch dienen sie in erster Linie dazu, bereits bestehende verstetigte Angebote mit Veranstaltungskonzepten zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten, Perspektiven und kurzweiligen Unterhaltungselementen zu komplementieren. Die Anstrengungen des Museums, kulturell gedächtnisrelevante Inhalte zu funktionalisieren, werden bei Veranstaltungen auf dynamische Weise zwischen dem Vermittlungsanliegen der Institution und der Interaktion mit den anwesenden Gästen und ihren auf persönlichen Wissens- und Erfahrungshintergründen basierenden Interpretationen ausgehandelt. Der beidseitige Funktionalisierungserfolg hängt ab von zahlreichen Faktoren, die in einem komplexen Kommunikationsprozess zwischen Veranstaltern, dem Publikum und etwaigen Podiumsgästen zum Tragen kommen. Das Museum als sozialer Ort, als Ort des Gespräches und der Erinnerung ist daher nach Ansicht von Joseph Hoppe (DTM) auf „besondere Veranstaltungen" angewiesen, um seine Vermittlungs- und Integrationsziele zu erreichen. Das Veranstaltungsmanagement der untersuchten Fernsehmuseen befindet sich auf höchst unterschiedlichem Niveau. Die Spanne reicht von mehrjährigen Initiativen mit einem vielteiligen Begleitprogramm aus Veranstaltungen unterschiedlichster Art bis hin zu eher spontanen, konzeptionell offenen Veranstaltungsangeboten. Bemerkenswert ist zudem, dass die organisatorische Bandbreite von klassischen kuratorgeleiteten Konzepten, die dem Bildungsauftrag des Museums folgen, bis hin zu gänzlich ausgelagerten Fremdveranstaltungen reicht, bei denen das Museumsgebäude nur noch als physische Hülle dient, das Mandat der Einrichtung jedoch für die Veranstaltung nicht zwangsläufig eine Relevanz besitzt. Welche gesamtgesellschaftliche Relevanz längerfristige Schwerpunktprogramme durch medienaffine und diskursfördernde Strategien der Themensetzung entfalten können, lässt sich an der Drei-Jahres-Initiative „She Made It" des Paley Centers for Media ablesen. In den Jahren 2005 bis 2007 beleuchtete das Museum die Karrieren von erfolgreichen Fernsehmacherinnen, seien es Autorinnen, Regisseurinnen, Produzentinnen, Journalistinnen oder Managerinnen in den Schaltzentralen des Fernsehens (vgl. Stites 2006), und ehrte alljährlich die wichtigsten Entscheiderinnen und kreativen Impulsgeberinnen der Fernseh- und Radiogeschichte, die von einer Ratskommission aus Wissenschaftlern und Führungskräften der Medienindustrie ermittelt wurden. Das Veranstaltungsprogramm aus Premierenfeiern, Vorführungen historischer Sendungen, Diskussionsrunden, usf. in New York und Los Angeles wurde nicht nur von der Fachpresse aufmerksam verfolgt, sondern erreichte aufgrund dessen, dass im Rahmen der Initiative auch zahlreiche Stars ausgezeichnet wurden (u.a. CBS-Anchorwoman Katie Curie, CNN-Krisenreporterin Christiane Amanpour, Talkmasterin Oprah Winfrey und Schauspielerin Salma Hayek), gleichermaßen eine breitere fachfremde Öffentlichkeit. Diese wiederum wurde durch das erzeugte Interesse an der betreffenden Persönlichkeit mit dem übergeordneten Thema und dadurch auch mit sonst weniger oder kaum bekannten Akteurinnen und ihren Verdiensten für die Fernsehbranche bekannt gemacht.

IVA. Museumsfemsehen,

Fernsehmuseen

423

Einer ähnlichen Strategie, mittels prominenter Vertreter der Mediengeschichte Aufmerksamkeit für die musealen Ziele zu erzeugen, folgt das Konzept der „Hall of Fame", das von unterschiedlichen Einrichtungen in mehreren Variationen zur Anwendung kommt: Neben dem Paley Center for Media plant auch die Deutsche Kinemathek eine solche .Ruhmeshalle' für ausgewählte Sendungen und Akteure der Fernsehgeschichte. Das Museum of Broadcast Communications ist unterdessen bereits Betreiber der „Radio Hall of Fame" und hat sich dadurch als nationales Kompetenzzentrum und Wertungsinstanz etabliert. Eine „Television Hall of Fame" harrt in Nordamerika wie auch in Deutschland noch einer physischen Manifestierung. Gleichwohl veranstaltet die Academy of Television Arts & Sciences eine jährliche Zeremonie, bei der seit 1984 bedeutende Fernsehakteure für ihr Lebenswerk mit Ehrungen bedacht werden. Hier fehlt jedoch das museale Gefäß. Eine „Hall of Fame" sei vor allem deshalb so attraktiv für die Museumsarbeit, weil es auch als „politisches Instrument" begriffen werden könne, sagt Peter-Paul Kubitz von der Deutschen Kinemathek: Es sei ein „legitimes Mittel, dass das Museum mit den Stars für sich wirbt, und das heißt ja im Grunde genommen für das Programm, dass es mit Stars verbunden ist." Ein solches Angebot ließe sich zudem nach Ihemenbereichen sowie nach regionalen und historischen Aspekten aufgliedern, so dass über das biographische Interesse hinaus beim Besucher auch eine „Vergewisserung des Verlorenen, auch des Überwundenen" (Thomas Beutelschmidt, HUB) wie am Beispiel der nicht mehr existierenden DDR erzeugt werden könnte - im Gegensatz zu einem Ansatz, der Geschichte und Erinnerung mit Nostalgie zu glorifizieren sucht. Indem Veranstaltungsreihen im musealen Kontext etabliert werden, wird es erst möglich, langfristige gesellschaftliche und biographische Prozesse, Erinnerungskarrieren und den Wandel von Erinnerungskulturen an Fernsehüberlieferungen und TV-Personae darstellbar und erfahrbar zu machen. Nicht nur, aber besonders der Spezialfall Deutschland birgt hier das Potenzial, rezeptionsgeschichtliche Differenzen durch die Aufladung von Spannungsfeldern zwischen Wiedererkennungs- und Überraschungseffekten vonseiten des Ost- und West-Publikums zutage zu fördern. Demgegenüber setzen andere Einrichtungen wie das American Museum of the Moving Image nicht auf ein kohärent-integriertes, sondern auf ein additives Veranstaltungskonzept. Pro Jahr werden dort etwa 50 Veranstaltungen durchgeführt, zu denen externe Redner geladen werden. Nach Angaben von Carl Goodman (AMMI) handelt es sich dabei um „one shot programs" die in ihrer inhaltlichen Ausrichtung keinem übergeordneten Thema folgen, demnach keinen „multi-visit courses" entsprechen. Dies stehe unter der Maßgabe der Bildungsabsicht einem Vermittlungserfolg jedoch nicht im Wege: ,,[W]hen you experience many of them you have the equivalent of an extend multi-visit course." Goodman verweist demnach auf die Erfahrungsqualitäten im informellen Museumsset ting, in dem jeder Besucher nach den eigenen Interessen und dem persönlichen Wissensstand Veranstaltungsangebote auswählt und mit jeweils individuellen Erwartungen ganz eigene Lernziele verfolgt, deren Erreichung nicht auf ein inhaltlich abgestimmtes Reihen-Angebot angewiesen sind.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Zu den am weitesten Verbreitung gefundenen Veranstaltungsformen in den untersuchten Einrichtungen, einschließlich einiger Archive wie das National Audio-Visual Conservation Center der Library of Congress und dem UCLA Film & Television Archive, gehören Vorführungen von Fernsehprogramm-Überlieferungen. Die Notwendigkeit solcher Screenings wird von vielen der befragten Experten als besonders hoch eingestuft, gerade weil es insgesamt zu wenige Institutionen und Gelegenheiten gebe, öffentlich nicht oder nur schwer zugängliches Programmmaterial aus der Fernsehgeschichte zu rezipieren. Abgesehen von den hier betrachteten Museen werden vielerorts bei öffentlichen Vorführungen Kinofilme bevorzugt. Dabei sei, meint Mike Mashon von der Library of Congress, das Interesse vieler Fernsehzuschauer nicht zu unterschätzen, in Kinoatmosphäre fernzusehen: „There is a lot of TV out there that people would be interested to see in theatrical setting." Die dadurch ermöglichte neue Perspektivierung des Fernseherlebens vor dem persönlichen autobiographischen Erfahrungshintergrund verspricht analog zum Kinobesuch einen hohen Erlebniswert und ein intensives Gemeinschaftsgefühl mit den übrigen anwesenden, jedoch fremden Zuschauern, das nicht in annähernder Weise in privaten Rezeptionsumgebungen hergestellt werden kann. Der Event-Charakter solch kollektiver Fernsehabende wird beispielsweise vom Paley Center for Media zielgerichtet geschürt, indem in Kooperation mit einigen Fernsehveranstaltern Vorpremieren von neuen Produktionen veranstaltet werden, bei denen der Besucher die Pilotfolgen neuer Fernsehserien bereits vor dem eigentlichen Ausstrahlungstermin schauen kann (vgl. Kramp 2006b). Kritik am Vermittlungspotenzial von Fernsehvorführungen kommt aus der Bildungsarbeit: „[I]t's usually pretty linear. [...] However: It's not interpreted. Its only interpreted in what they choose to put in. That is interpretation in some kind. But it's not explained" (Dale Zaklad, PCM). Aufgrund des Ungleichgewichts zwischen Erlebniswert, Interpretationsleistung und Interaktionsmöglichkeiten sind manche Häuser dazu übergegangen, Screenings mit Panel-Veranstaltungen wie zum Beispiel sogenannten Q'n'As (Questions and Answers) zu kombinieren. Hierbei wird meist im Anschluss eines Screenings oder zwischen den Vorführungen einzelner Exzerpte mit Beteiligten der Produktion wie beispielsweise Schauspielern und Produzenten, mit Wissenschaftlern oder mit bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Politikern diskutiert. Die Moderation übernimmt gemeinhin ein Mitglied des Museumskuratoriums. Wichtig ist, dass das anwesende Publikum aktiv mit eingebunden wird, also Fragen stellen kann und direkt Antworten bekommt. Auch hier wird indes im Expertenkreis Kritik am Bildungswert solcher Panels laut, da es sich bei den bisher realisierten größtenteils um Veranstaltungen gehandelt habe, die sich überwiegend an Fan-Gemeinschaften richteten: „We have scholars on the panel, but it kind of becomes a fan-based event", sagt Dale Zaklad (PCM), die damit verkennt, dass die Ausrichtung eines Teils der Veranstaltungen auf Fan-Gruppierungen ebenfalls eine wichtige Funktion bei der Erreichung der Museumziele erfüllt: Die Bewerkstelligung eines Wissenstransfers zwischen der Fernsehindustrie und ihren Akteuren sowie solchen

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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Fernsehzuschauern, die zu den jeweils zutreffenden Aspekten des Fernsehschaffens ein besonders intensives und leidenschaftliches Verhältnis haben. Für die Vermittlungsleistung entscheidend ist, egal ob eine breite oder stark zugeschnittene Besucherschaft angesprochen wird, der inhaltlich-perspektivierte Ansatz der Veranstaltung und die Art und Weise, wie in ihrem Rahmen auf das anwesende Publikum eingegangen wird. Folgt man der Forderung von Dale Zaklad und ihrer Kollegin Rebekah Fisk, sollten sich Fernsehmuseen weniger der um eine zelebratorische Auseinandersetzung mit den ausgewählten Überlieferungen und den Beteiligten verdient machen, sondern bestimmte Aspekte einer Problematisierung zuführen, durch die mit den Gästen auf der Bühne und jenen im Publikum gemeinsam neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Statt sich vornehmlich auf populäre Serienformate wie „Desperate Housewives" zu konzentrieren, sollten Fernsehmuseen nach Meinung der beiden Pädagoginnen besser disparate Ideologien und zeitgeschichtliche Problem-Themen aufgreifen und anhand von Überlieferungen grundsätzliche Fragen wie nach weiterhin relevanten Dichotomien wie „konservativ" und „linksliberal" diskutieren. Auf diese Weise könnten aktuelle Auseinandersetzungen mit historischem Hintergrund aufgearbeitet werden. Ein weiteres geeignetes Format, das in der Veranstaltungsorganisation der untersuchten Fernsehmuseen weitaus seltener vorkommt, sind klassische Vorträge, wobei Robert Thompson (SU) hier besonders deutliche Parallelen zu bestimmten Formaten des Bildungsfernsehens erkennt: Sendungen wie die Dokumentationsreihe „Eyes on the Prize" (vgl. Kapitel III.9.2.4.) machten sich weniger als detaillierte Analyse verdient, sondern lieferten vielmehr einen anschaulichen Überblick über den behandelten Themenkomplex. Folglich braucht auch eine Vorlesung im Museum keinen formalen oder elitären Bildungsansprüchen genügen, wie sie mit akademischen Veranstaltungen verbunden werden. Wird auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Dichte des vermittelten Wissens und seiner Anschaulichkeit qua televisuellen Kontextmaterials geachtet, bergen Vorträge - auch mit Experten fremder Kulturräume - ein hohes Bildungspotenzial. Angesichts des Reichtums der vom Fernsehen begleiteten und geprägten Nachkriegsgeschichte werden Fernsehmuseum im Expertenfeld als prädestiniert erachtet, Zeitzeugen zu Spezialveranstaltungen einzuladen, bei welchen sie vor den Augen und Ohren eines interessierten Publikums einen Beitrag zur Oral History leisten, Bezüge zwischen der Fernseh- und Zeitgeschichte knüpfen, entsprechende Überlappungen identifizieren und über ihre Sicht der wahren Hintergründe des öffentlichen durchs Fernsehen konstruierten Geschichtsbildes aufklären. Dem Museum stehen verschiedene Veranstaltungsmodi zur Verfügung: Im Rahmen von Gesprächen bzw. einer Interviewsituation wird die persönliche Sicht des Zeitzeugen auf die Vergangenheit hervorgehoben, auch wenn sie einer kritischen Befragung unterzogen werden sollte. Weiterhin lassen sich zeithistorische Dokumente präsentieren, Hintergrundinformationen erörtern und aktuelle Theorien aus dem wissenschaftlichen Diskurs behandeln. Fernsehmuseen obliegt es in diesem Zusammenhang indes, die individuellen Erinnerungen des Gastes mit den televisuellen Überlieferungen zu illustrieren oder zu konterkarieren. Das Hinterfragen der Bilder, die

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Frage(n) danach, was wirklich geschah, ist in diesem Zuge ebenso spannend wie riskant und erfordert die Einbeziehung unterschiedlicher zusätzlicher Informationsquellen und Sichtweisen, zum Beispiel aus dem Publikum, um nicht Gefahr zu laufen, ein tendenziöses Vergangenheitsbild zu zeichnen. Gewinnbringend dürfte daher eine Zusammenführung verschiedener Zeitzeugen sein, die sich gemeinsam erinnern, gegenteilige Ansichten äußern oder Übereinstimmungen entdecken. Kuratorin Gerlinde Waz von der Deutschen Kinemathek sieht Fernsehmuseen in der Pflicht, bei solchen Gelegenheiten geäußerte An- und Einsichten als wichtige historische Quellen zu dokumentieren: „Dieses Zusammentreffen von großen Fernsehbildern mit Zeitzeugen, die diese Bilder quasi produziert haben, ist natürlich interessant. Für ergiebig halte ich es aber auch, was wir auch schon teilweise im Filmbereich gemacht haben, dass wir Regisseure, Kameraleute und Autoren, die das Fernsehen von der Pieke auf kennen und jetzt langsam nach und nach sterben, mit Videokamera interviewen. Das sind große Schätze, die einfach weg sind, wenn die sterben. Da müssen wir unseren Teil zur Oral History beitragen. Wir haben das schon oft besprochen, aber eine Frage der Kapazität. Eine Möglichkeit wäre aber, dass wir die Leute, wenn wir sie zu Diskussionsveranstaltungen zu Gast haben, in diesem Zuge interviewen. Zu .Blaulicht' und .Stahlnetz' hatten wir [Regisseur Jürgen] Roland eingeladen und aus der DDR [Manfred] Mosblech, [Hans-Joachim] Hildebrandt und all die Leute, die .Polizeiruf' gemacht haben. Auch die hätten wir eigentlich interviewen müssen" (Gerlinde Waz, DK). Das Fernsehmuseum wird durch die Initiierung und Dokumentierung von Erinnerungselaborationen durch Zeitzeugen, die direkt oder nur lose mit dem Fernsehen in Zusammenhang gebracht werden können, zum federführenden Agenten und Repositorium bei der Konstruktion aktueller und zukünftiger Geschichtsbilder, die sämtliche gesellschaftliche und kulturelle Bereiche betreffen können. Vorrangig wird sich ein Fernsehmuseum der Aufgabe verpflichtet fühlen, eine Oral History des Fernsehens zu erstellen und dies prozessorientiert (also zwecks Generierung von Zeitzeugenerzählungen) oder ergebnisbasiert (auf Basis von Zeitzeugenerzählungen bei früheren Anlässen im Museum) in den Veranstaltungsablauf zu integrieren. Dass sich auch Institutionen auf diese Weise engagieren können, die auf einer organisatorisch niedrigeren Stufe agieren, zeigt das Beispiel des Vereins Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden, der den Wert solcher Aufnahmen erkannt hat und seinen audiovisuellen Fundus bei sich ergebenden Gelegenheiten mit Videoaufnahmen von Interviews oder Gesprächsrundgängen durchs Museum ergänzt, die mit einflussreichen, aber einer breiten Öffentlichkeit nicht zwingend bekannten Akteuren der Fernsehgeschichte geführt werden. So liegen u.a. Gesprächsaufzeichnungen mit dem im April 2007 verstorbenen Gründungsintendanten des ZDF Karl Holzammer oder dem im Mai 2010 verstorbenen Audiopionier Fritz Sennheiser, Gründer des gleichnamigen Mikrophon- und Kopfhörer-Herstellers, vor. Ingenieur Uwe Redlich (FMI) hält es darüber hinaus indes auch für eine wichtige Bereicherung der Museumsarbeit, wenn Zeitzeugen aus der allgemeinen Bevölkerung als ehrenamtliche Mitarbeiter gewonnen werden könnten, um ihre privaten Erfahrungen mit dem Fernsehen weiterzugeben.

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

427

Eine Veranstaltungsform, die in erster Linie ein Fachpublikum anspricht, sind Symposien, die sich einer häufig wissenschaftlichen oder fachlich spezifischen Sichtweise auf ausgewählte Themenkomplexe oder Problemstellungen widmen. Die Fernsehabteilung der Deutschen Kinemathek hat in ihrer jungen Geschichte bereits mehrfach zu solchen Tagungen eingeladen, um Debatten anzustoßen und sich als weithin akzeptiertes Forum für interdisziplinäre Auseinandersetzungen zu profilieren, wie Peter Paul Kubitz erklärt. Unter anderem wurde gemeinsam mit Vertretern der Filmwirtschaft und -Wissenschaft sowie Rechtsgelehrten und Archivaren über die drängenden Fragen der Diskussion zur Liberalisierung oder Verschärfung des Urheberrechts konferiert, anderntags über die Popularität von Kinderkrimis diskutiert, die Freiheit des Fernsehens im Jahre 1968 untersucht und Wissenssendungen für Kinder im deutschen Fernsehen und ihre Vermittlungsstrategien beleuchtet. Fernsehmuseen können diesbezüglich als aktive Veranstalter oder passive Veranstaltungsorte fungieren: In der alltäglichen Praxis werden die Räumlichkeiten der untersuchten Museen mitunter auch an einzelne Unternehmen vermietet, beispielsweise um Pressekonferenzen oder Präsentationen abzuhalten, oder Organisationen zur Verfügung gestellt, die für ihre Veranstaltungen auf externe Räume angewiesen sind, um ein großes Publikum zu erreichen. Dies trifft größtenteils auf Vereine oder anderweitige gemeinnützige Institutionen zu, aber auch auf wissenschaftliche Initiativen, welche die universitäre Umgebung bewusst verlassen, um auf neutralem Grund ein Laienpublikum anzusprechen. Symposien werden von den befragten Experten übergreifend als dankbare Möglichkeit empfunden, auch museumsfremde Thematiken oder solche, die das Museum in seinen Ausstellungen nur streift, zu vertiefen und mit der Expertise des Hauses in Relation zu setzen. Fernsehmuseen wenden sich daher hauptsächlich an Wissenschaftler auch anderer Dispziplinen, um sie mit Fernsehmachern (z.B. Redakteuren, Drehbuchautoren, Regisseuren und Produzenten) und speziell Journalisten zusammenbringen, um Interdisziplinarität zu ermöglichen, wie Stephan Schwan (IfW) es für sinnvoll hält. Fernsehen als Museumsthema fungiert somit als Schmiermittel, das einen gemeinen sozial und kulturell relevanten Bezug zu den Erfahrungswelten in der Mediengesellschaft herstellt, und das Museum als expertischer Think Tank, das verschiedene Forschungsfelder und Denktraditionen miteinander verknüpft und in einen pragmatischen lebensweltlichen Kontext stellt. Daran anschließen können Seminare,

welche das Expertenwissen renommierter Ver-

treter aus Wissenschaft und Praxis für interessierte Publika zugänglich und nutzbar machen. Seminare werden einerseits in Zusammenarbeit mit Hochschulen für den wissenschaftlichen Nachwuchs veranstaltet, dies jedoch meist unter der Federführung von Lehrpersonal der betreffenden Universität, andererseits auch für Beschäftigte aus dem Fernsehbetrieb, die im Rahmen von Weiterbildungsmaßnahmen Einblick erhalten sollen in historische Zusammenhänge des Mediums, für das sie arbeiten. Freilich sind unterschiedlichste Teilnehmerkonfigurationen denkbar, die auch herkömmliche Zuschauer mit vereinzeltem Tiefeninteresse mit einschließen. Nichtsdestotrotz beschränken sich

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

die bestehenden Angebote weitestgehend auf geladene Gäste oder spezielle Kooperationsprogramme. Wie Museologin Lynne Teather betont, sind Museen bei der Konzeption ihrer Seminarveranstaltungen nicht mehr auf einen Ort beschränkt, sondern können die ihnen zur Verfügung stehenden digitalen Medientechnologien auf innovative Weise nutzen, um Experten und Publika zur gleichen Zeit aber an verschiedenen Orten zusammenzubringen: „The London Natural History Museum has a center called the ,Darwin Center'. It is kind of a study collection and they also have a little studio where at two o'clock you can go into casually and you have three experts sitting around. They link up through the web with a naturalist in British Columbia, somebody in Costa Rica and they are discussing turtles and the environment, because turtles are killed when we throw out Pepsi cans or plastic bottles. That was the most exciting thing I have ever seen. They had a large screen that showed the experts in Costa Rica and in Vancouver, and in the studio there were the two curators and the moderator. It was the live nature about it that was about a very current problem, engaging this very engaging popular medium. It was so different than anything I've seen before in museums" (Lynne Teather, UT). Unter den Fernsehmuseen leistete in Bezug darauf das Paley Center for Media, damals noch unter dem Namen Museum of Television & Radio, Pionierarbeit. Mit seinen „Satellite Seminars" bietet das Museum seit Mitte der 1990er Jahre Lehrveranstaltungen an, die von den Sälen der Museumsstandorte in New York und Los Angeles direkt in angeschlossene Seminarräume von registrierten Universitäten übertragen werden. Weil das Konzept eine prinzipiell bidirektionale Kommunikation zulässt, entwickelte es sich zu einer beliebten Ressource in der Hochschulausbildung, wie Robert Thompson (SU) anmerkt: „They have the satellite-seminars for which they get all the producers and writers and actors of a TV show and they meet in the museum and put it on a satellite so university classrooms around the country or the world, I suppose, are able to hook into them with an uplink. So my students at Syracuse can ask a question in a live satellite seminar that's going on in New York City. We participated in many of those. They are very excellent" (Robert Thompson, SU). Seit dem Start des live distribuierten Seminarprogramms im Jahre 1995, als die Lehrveranstaltungen noch in einer Semesterstruktur organisiert wurden und das Angebotsspektrum zum Teil bis zu zwölf Seminare pro Jahr umfasste, hat sich die Zahl mit den Jahren kontinuierlich reduziert und erreichte in 2008 einen Tiefstand von nur zwei Seminaren. Schon regt sich Kritik aus den eigenen Reihen: In Frage gestellt wird, ob das Modell der synchronen Live-Übertragung von Seminarveranstaltungen angesichts der steigenden Nutzerbeliebtheit von asynchron abrufbaren Medienangeboten noch zeitgemäß ist: „It's a program that has tremendous potential, but we know that the people aren't tuning in at real time any more and we still make it a question and answer live-broadcast", sagt Dale Zaklad (PCM). Eine denkbare Ursache für die fallende Akzeptanz bei den jüngeren Zielgruppen mag die fehlende Ortsunabhängigkeit sein. Da die „Satellite Seminars" voraussetzen, dass die Nutzer in freigeschalteten Campus-Räumlichkeiten bestimmter

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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Universitäten teilnehmen können, entspricht das Angebot möglicherweise nicht mehr den Nutzungsgewohnheiten der angesprochenen studentischen Altersgruppen, die es gewohnt sind, von Zuhause oder mobil von überall aus auf digitale Medienangebote und interaktive Services zuzugreifen. Als Vorbild für eine Weiterentwicklung des Konzeptes auch andernorts könnten neue Allianzen zwischen Fernsehsendern wie CNN oder dem ZDF und Sozialen Netzwerken im Internet wie „Facebook" dienen, wo die Zuschauer zu Anlässen wie der Amtseinführung von US-Präsident Barack Obama oder dem Hamburger Triathlon gemeinsam mit dem Fernsehkommentator während der Live-Übertragung diskutieren, Fragen stellen und die Geschehnisse auf dem Bildschirm kommentieren konnten (vgl. Hampp 2009; Triathlon 2009; vgl. auch Kapitel IV.3.3.2.2.). Das Paley Center for Media hat unterdessen eine Kooperation mit dem Online-Datenbankdienstleister ProQuest angestrengt, um die Videomitschnitte seiner Seminarveranstaltungen registrierten Nutzern asynchron zum Abruf anzubieten. Das Angebot richtet sich aber nicht an die Allgemeinheit, sondern spricht vorrangig Studierende medienrelevanter Studiengänge an, deren Hochschulen das mit hohen Kosten verbundene Archivangebot abonnieren müssen, um den Zugang zu gewährleisten. Aufwendiger gestaltet sich noch die Organisation und Durchführung von Festivals, welche in regelmäßigen Abständen (z.B. einmal im Kalenderjahr) Fernsehpraktiker und allgemeines Publikum zusammenführen, um gemeinsam herausragende Werke der Fernsehgeschichte zu feiern und zu örtlich fixiert in der Museumsumgebung diskursiv zu behandeln. Die Ereignishaftigkeit ist bei Festivals im Gegensatz zu den anderen Veranstaltungsoptionen weitaus deutlicher ausgeprägt, steht der zelebratorische Charakter und der Vergemeinschaftungsgedanke doch im Vordergrund, wenn das Fernsehmuseum die Fachwelt und das interessierte Fernsehpublikum einlädt, um zusätzlich zur herkömmlichen Museumsarbeit für einige wenige Tage im Jahr konzentriert und unter einem bestimmten thematischen Gesichtspunkt mit einem Potpourri aus zusammenhängenden und aufeinander abgestimmten Veranstaltungen dem Medium, seinen Macher und seiner Geschichte zu huldigen. Auch hier hat sich das Paley Center for Media schon frühzeitig als Veranstalter hervorgetan: Schon im Jahr 1983 lud es noch unter seinem damaligen Namen Museum of Broadcasting und ohne Dependance an der Westküste nach Los Angeles in das Filmtheater der Directors Guild of America, wo seitdem das jährliche Television Festival des Museums, heute unter dem Namen „PaleyFest" stattfindet. Eine Besonderheit ist die hohe Akzeptanz des Festivals in den Kreisen der Fernsehbranche: Regelmäßig folgen Stars der Fernsehgeschichte sowie ihre Entdecker aus den Reihen der Produzenten oder Programmleiter der Einladung des Museums und feiern auf dem Festival ihr Wiedersehen. Seither wurden spezielle Retrospektiven mit prominenten Gästen zu Serien wie unter anderem „Star Trek: the Next Generation", „Hill Street Blues", „The Mary Tyler Moore Show" oder „Buffy: The Vampire Slayer" veranstaltet. Mit der Zeit nahm das Festival mit verstärktem Gegenwartsbezug auch jeweils aktuelle Fernsehproduktionen in den Blick, um Fans zur Teilnahme an den Veranstaltungen zu

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

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bewegen. Im New Yorker Stammhaus des Museums wiederum wird alljährlich das „Paley DocFest" abgehalten, bei dem regelmäßig Fernsehdokumentationen Premiere feiern und in Anwesenheit der Filmemacher und zum Teil der portraitierten Prominenten wie Fotografin Annie Leibovitz, Schriftsteller Kurt Vonnegut, Schauspieler Paul Newman oder „Hustler"-Verleger Larry Flint besprochen werden. Das Museum selbst propagiert seine Festivals als wichtige Strategie, um über Medienpräsenz und Engagierung zahlreicher Zielgruppen bei möglichst vielen Publika ein Bewusstsein für die Einrichtung selbst und ihre Mission zu schaffen. Doug Gibbons vom Paley Center for Media erklärt: „So we do as much as we can to spread the word, to encourage people to understand why we're here and what's important and to think critically about television and radio." Auf das Museum und seine Angebote aufmerksam zu machen, indem die Kreativen der Fernsehbranche eingebunden werden in das Veranstaltungsmanagement, auch um die Attraktionspotenziale von Stars für sich und die Bildungs- und Erinnerungsarbeit zu nutzen, wird auch im gesamten befragten Expertenfeld als effektive Strategie bewertet, auch weil, so Robert Thompson (SU), mittels Festivals die Bindung bzw. Bodenhaftung des Museums zu seinem Untersuchungsgegenstand gestärkt und eine stete Rückversicherung des Fernsehmuseums zur Fernsehindustrie, aber genauso auch der Fernsehindustrie zum Fernsehmuseum und der von ihm funktionalisierten Fernsehgeschichte ermöglicht wird. Außerdem erweisen sich Festivals wie das „PaleyFest" als geeignetes Umfeld, um mit Entscheidern der Fernsehbranche ins Gespräch zu kommen und sich zu vernetzen. Das Museum kann mittels seiner Veranstaltungen also auch zum Karrieresprungbrett werden, wie Doug Gibbons nochmals unterstreicht: „We have a number of success-stories here at the museum, people who have gone into the motion picture business or people who were catalogers here at the museum and then became writers. I have one person who worked for me many many years ago and has now three or four Emmies for writing. He has written for .Seinfeld' and Chris Rock. This is Steve O'Donnell. So the idea there is: It's wonderful to encourage young people to work at the museum, perhaps just out of college, to give us their services for a while and then they sort of find their ways and might go back to graduate school or have a career in television and radio. This is a great house of intellectual content" (Doug Gibbons, PCM). Die Fernsehfestivals des Museums haben bereits Generationen von jungen Kreativen der Fernsehbranche inspiriert, glaubt man Ron Simon, der für das Paley Center in Anspruch nimmt, Serienschöpfer wie Al Gough und Miles Millar („Smallville") von historischen Abenteuer- und Science-Fiction-Sendungen, die sie in den 1990er Jahren auf dem Festival des Museum of Television & Radio in Los Angeles erlebt haben und daraus ihre Ideen für ein eigenes Format schöpften: „That's a generational thing we want to encourage and build different generations by the things that we do" (Ron Simon, PCM). Nach Meinung von Michele Hilmes (WCFTR) wurden Festivals als signifikanter Veranstaltungstypus für die konzentrierte kommunitäre Beschäftigung mit der Fernsehgeschichte insgesamt vernachlässigt: Angesichts der hohen Zahl und vielgestaltigen Aus-

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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richtungen von Filmfestivals in Nordamerika sei kaum nachvollziehbar, warum es nicht auch Fernsehfestivals in unterschiedlichen Ausführungen und an verschiedenen Orten gebe. Geeignete Veranstalter seien nicht allein die etablierten Fernsehmuseen, sondern auch Fernseharchive und andere vornehmlich lokal operierende Institutionen, die sich dem Fernseherbe verpflichtet fühlen: „So what about a television festival? We have have film festivals all over the country. Why don't we have television festivals like that? Even on a local level: We have a Wisconsin Film Festival where we bring in filmmakers, mostly independent filmmakers from all over the world, and they come and talk about their films. You could do that with television, but it would have to be a special kind of TV. [...] Look at the range: Documentaries, sports, all kinds of interesting programs that could be screened and talked about for a more critical perspective" (Michele Hilmes, WCFTR). Der dynamisch-prozesshafte Charakter von musealen Veranstaltungsangeboten als effektive Funktionalisierungsinstrumente im Dienste der Bildungsarbeit im Allgemeinen und der Erinnerungsarbeit im Besonderen kommt also in facettenreicher Weise zur Geltung: Im Vordergrund steht stets die Einbindung und Engagierung des Fernsehzuschauers als unbekannter Faktor, der jedoch vor Ort oder zugeschaltet per interaktivem digitalen Rückkanal an Konkretion gewinnt und somit dem Museum wichtige Impulse geben kann, die bei der Anordnung und Ausgestaltung der Funktionalisierungsmaßnahmen von gedächtnisrelevanten Inhalten rund um die Fernsehgeschichte helfen können. Die nicht allein als Wissensvermittlung, sondern ganzheitlich zur Reifung und Bewusstwerdung des Identitätsbildes verstandenen Bildungsziele des Museums werden erst erreicht, wenn ein dynamischer Kommunikationsprozess zwischen Fernsehpublika, Fernsehvertretern und dem Fernsehmuseum nicht nur als Moderator und Forum, sondern auch als historisch verankerte Leit- und Orientierungsagentur zustande kommt. Dazu gehört nach vereinzelter Expertenmeinung auch, dass Fernsehmuseen für rein private, nicht-öffentliche Veranstaltungen genutzt werden können: „To have private receptions and parties is sort of now a part of what museum does. I cant imagine anyone that would have any objections. Museum is an environment and there's so many different events, that a museum would go outside the context. Many of the larger museums, Brooklyn, Guggenheim, have special evenings, special Friday events, when they have Jazz bands to come in. And the Museum of Modern Art on a Friday night is very different, it's more a young singles environment and not to appreciate modern art. So it's been recognition in New York that museums have to do more than only the traditional function. And that's one thing we're very conscious of and we want to think about more ways to engage the public" (Ron Simon, PCM). Das Museum als bloße Hülle zu verstehen, die nach Belieben von externen Nutzern mit Leben und Bedeutung gefüllt wird, ohne die inhaltlichen Museumsangebote an sich zu nutzen, verweist bereits auf das unablässige Ringen der finanziell unterversorgten Einrichtungen, sich zusätzliche Einkommensquellen zu erschließen und dies mittels einer Profilierung des Hauses als attraktiver Veranstaltungsort in einer zeitgemäß medial-kon-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

notierten Atmosphäre zu verfolgen. Wie das Paley Center for Media vermietet auch die Deutsche Kinemathek ihren Saal an Unternehmen wie beispielsweise Fernsehsender, die dort eigene Veranstaltungen organisieren. Das Museum of Broadcast Communications hat in seinem Neubau sogar ein eigenes Stockwerk für solche Anlässe eingeplant: Im „Paul and Angel Harvey Center", benannt nach dem prominenten, im Februar 2009 verstorbenen Chicagoer Radiomoderator und seiner Gattin, werden in Ballsaal-Atmosphäre unter anderem Tagungen und Preisverleihungen mit bis zu vierhundert Diner-Gästen stattfinden können. Museen behaupten sich auf diese Weise über ihre Funktion als Erinnerungsagenturen und soziale Treffpunkte mit Erlebnisqualitäten hinaus als flexibel nutzbare, einerseits funktional ausgestattete, andererseits hoch-kulturell konnotierte Veranstaltungsorte. 4.2.6. „Museum without Walls": Raumsprengende

Öffentlichkeitsstrategien

Um seinen Dienst an der Öffentlichkeit im Sinne von Bildungsangeboten, der Förderung des öffentlichen Diskurses sowie der Erinnerungskultur über das Fernsehen auch außerhalb der Museumsmauern erfüllen zu können, verfolgen die untersuchten Einrichtungen ganz unterschiedliche, teils gar gegenläufige Strategien. Wie sämtliche ortsgebundenen Museen sind auch und aufgrund des Rezeptionsdilemmas (vgl. Kapitel IV.4.1.4.) insbesondere Fernsehmuseen darauf angewiesen, orts- und zeitunabhängige Kommunikationsangebote zu adaptieren, um bei ihren Zielgruppen für nachhaltige Effekte zu sorgen. Der Museologe Iva Maroevic hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Museum ein von der Außenwelt abgekoppeltes Kommunikationssystem darstelle, das nur innerhalb des Museumsgebäudes funktioniere: „It has its own time of communication, and after the museum closes, it stops functioning as communication" (Maroevic 1998:278). Der Kommunikationsprozess ende oder werde immer dann unterbrochen, wenn der Besucher das Museum verlasse - „unless it is transferred to some other medium of information or communication" (ebd.: 279). Die museale Fernseherbe-Verwaltung adressiert diese Problematik mit teils klassischen, teils innovativen, aber auch mit profanen Mitteln: „Ich finde es auch ganz wichtig, dass die Besucher etwas als Erinnerung mit nach Hause nehmen dürfen, so wie die ,Detektiv-Assistent'-Ausweise an den RBB-Umhängern, die wir bei der Detektivausstellung ausgeben. Einfach, aber wirkungsvoll", sagt Gerlinde Waz von der Deutschen Kinemathek. Die vom Sender Rundfunk Berlin-Brandenburg zur Verfügung gestellten Anhänger wurden anlässlich einer Sonderausstellung über Detektive und Kinderkrimis im Fernsehen verteilt. Ein solches dem Merchandising verwandten Bindungskonzept ist in den übrigen Museumseinrichtungen ein zwar auch allgemein praktiziertes, aber im Zuge der Vermittlungsanstrengungen inhaltlich nicht als wertvoll erachtetes Mittel. Gegensätzliche Auffassungen gibt es bezüglich der klassischen Publikationsform gedruckter Broschüren und Ausstellungskataloge: Obgleich sämtliche untersuchten Museen zumindest Informationsblätter, Veranstaltungsübersichten und Postkarten drucken, die für die Besucher ausliegen, sehen nur noch wenige von ihnen die Notwendigkeit, Aus-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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stellungskataloge, Broschüren oder sogar Bücher zu veröffentlichen. Das Paley Center for Media, das in den 1980er und 90er Jahren noch zu beinahe jeder Ausstellung oder Veranstaltungsreihe eine Broschüre oder ein Buch veröffentlichte, die im Museum und vereinzelt auch im Buchhandel verkauft wurden,69 distanziert sich mittlerweile von dem klassischen Modell ausstellungsbegleitender Kataloge. Dies habe vor allem Kostengründe, wie Kurator Ron Simon (PCM) erklärt: „Printed publications are not that cost-effective any more." Außerdem würden auf diese Weise nicht mehr genügend junge Leute erreicht. Jedoch verfolgt das Museum weiterhin der Leitlinie, ein „Museum without Walls" zu werden, wie Doug Gibbons (PCM) hervorhebt. Als „Brick-and-mortar"-Institution, also als Museumsbau, der als physischer wie statischer Ort vom Besucher körperlich angesteuert werden muss, bestehe die akute Gefahr, wesentliche Kreise der Bevölkerung mit den Museumsangeboten nicht zu erreichen. Dass hierbei indes keine Druckpublikationen mehr zum Einsatz kommen, wird hausintern von Dale Zaklad aus dem Education Department kritisiert: Es existiere kein „ink-link", keine Bindung qua Druckerschwärze mehr zu den Besuchern. Mitarbeiter würden im Gegensatz zu früheren Zeiten auch nicht mehr ermutigt, publizierend tätig zu werden: „We don't provide to the public any ink-link that we are a scholarly institution I think we need to become." Andernorts werden Druckpublikationen weiterhin als wichtiges Informationsangebot verstanden, das die Ressourcen des Museums auch außerhalb der materiellen Institutionsgrenzen verfügbar macht. Die Deutsche Kinemathek engagiert sich seit der Eröffnung der Fernsehabteilung im Jahr 2006 als Mitherausgeber des vom Adolf Grimme Institut begründeten „Jahrbuchs Fernsehen" und gibt ebenfalls seit jenem Jahr die Zeitschrift „Recherche Film und Fernsehen" als „Intelligenzblatt" (Peter Paul Kubitz, DK) heraus. In unregelmäßigen Abständen erscheinen außerdem aus Anlass bedeutender Retrospektiven oder Ausstellungsprojekte Buchveröffentlichungen, wie unter anderem Egon Netenjakobs Interviewband „Es geht auch anders" (Netenjakob 2006) oder der Ausstellungsband „Loriot: Ach was!" (Kubitz/Watz 2009). Neben dem MZTV Museum setzt auch das Museum of Broadcast Communications auf die Qualitäten gedruckter Veröffentlichungen. Diese seien, insbesondere wenn es sich um Buchpublikationen handele, auch ein wichtiges Verbindungselement zur Forschungsgemeinschaft, wie Bruce DuMont (MBC) anhand der vierbändigen „Encyclopedia of Television" verdeutlicht: „By having an Encyclopedia of Television it really gave us a foundation upon which to build the collection even if we only had one or two copies of each show. It also allowed us to build a relationship with academics from around the world who really

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Der Übersicht halber seien hier neben einigen Publikationen, welche im Buchhandel erschienen sind (O'Neill 1991; Gelbart 1996; Morton 1997), nur eine kleine Auswahl an Ausstellungskatalogen und Begleitpublikationen zu Seminarreihen aufgeführt, die im Eigenverlag veröffentlicht wurden (u.a. The Museum of Broadcasting 1983a; The Museum of Broadcasting 1983b; The Museum of Broadcasting 1984; The Museum of Broadcasting 1985a; The Museum of Broadcasting 1985b; The Museum of Broadcasting 1986; The Museum of Broadcasting 1989; The Museum of Television and Radio 1993; The Museum of Television & Radio 1995).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

knew about specific subjects. From that foundation would come the themes for subsequent exhibitions online as well as public programs. So when you look at things we have done or things we will do in the future, I would say that 95 percent of them come back to some essay about them or some genre in the Encyclopedia of Television. That's the blueprint. [...] It is something magic to have the real .Encyclopedia of Television in your shelf" (Bruce DuMont, MBC). Gleichwohl werden die Zeichen der Zeit nicht verkannt: Die Fernsehenzyklopädie des Museum of Broadcast Communications ist in der ersten Auflage auch online im Volltext abrufbar, die zweite aber vorerst noch ausschließlich in der Druckfassung. Joseph Hoppe (DTM) meint jedoch, dass es unklug wäre, die VeröfFentlichungspolitik von Fernsehmuseen gänzlich auf das Internet zu verlagern. Kataloge würden in erster Linie deshalb gebraucht, um das Museum als wissenschaftlichen Akteur zu verorten: „Diese Kataloge sind halt extrem wichtig dafür, dass man diesen Charakter der wissenschaftsähnlichen Arbeit der Recherche rund um eine Ausstellung in irgendeine Form, in irgendein Produkt münden lässt. Diese Art von Publikation ist also auch für den Dialog mit der wissenschaftlichen Welt, die mit dem Thema in irgendeiner Form zu tun hat ein ganz wichtiges Vehikel." Nichtsdestotrotz nimmt die übergreifende Entwicklung im Museumssektor laut Barry Lord (LCR) einen unzweideutigen Verlauf: Es würden immer weniger Ausstellungskataloge gedruckt, da sie in Anbetracht digitaler Konvergenztrends als nicht mehr zeitgemäß wahrgenommen würden. Das Internet und seine derivativen Technologien seien für beide Seiten, die des Museums, das zur knappen Budgetierung gezwungen ist, und die des Besuchers, der Informationen unkompliziert, kostengünstig und schnell verfügbar haben möchte, am angenehmsten: „If we provide exhibition programs that you can actually tap into and that you can send material from the exhibition back to your e-mail-address, then you can quite possibly avoid having to buy a big heavy catalog that costs a lot of money. So there is a trend to the electronic means of carrying away the information" (Barry Lord, LCR). Auch Carl Goodman sieht die Potenziale des Internets im Vorteil gegenüber jenen von Druckpublikationen. Das wichtigste Kommunikationsinstrument des American Museum of the Moving Image sei zweifellos dessen Website, auch weil sich Informationen und Interaktionen darüber in gleichem Maße dynamisch und in Echtzeit abwickeln ließen. Die Mehrwerte des Internets werden auch von Freunden des Buchdrucks wie Bruce DuMont (MBC) nicht verleugnet, da sich ganz neue Möglichkeiten kontextualisierender Wissensvermittlung anböten, die das Museum als manifester Ort weit hinter sich ließen: „When you think about the bigness of that idea with the internet, with streaming media, we can be providing content that has nothing to do with the history of radio and television, but it has everything to do with the history of divorce or Civil Rights." MBC-Archivar Daniel Berger sieht die Web-Applikationen aber eher als Zusatzangebot für den wissenschaftlichen und Lerngebrauch und weniger als Ersatz für die private Museumserfahrung: „For the virtual museum which is online for which the target audience will be more scholarly focused, where we publish the history of television and radio. People who

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study or teach radio and TV go to the website and hopefully form a community and talk about their topics, and we will be hopefully able to provide the material that these groups are looking for, so they can do their research online" (Daniel Berger, MBC). Auch Joseph Hoppe (DTM) spricht von einem allenfalls für ein Fachpublikum interessanten Dienst, geht aber in seiner Schlussfolgerung noch weiter: Ansonsten sei das Internet für Museen ein „beliebtes Spielzeug", das hohe Budgetsummen verschlinge, aber eben die Rückkopplung, die sich unter anderem Daniel Berger davon verspricht, (noch) nicht ausreichend biete. Die interaktiven Potenziale des Internets erschließen sich den untersuchten Einrichtungen nur schwer, weshalb sie sich größtenteils auf das Angebot von weiterführenden Informationen konzentrieren, die, wie im Fall des Newseums, Besucher mit tiefergehendem Interesse, sogenannte „Taucher" im Gegensatz zu nur oberflächlich interessierten „Sufern" (Paul Sparrow, Newseum) - sei es aus beruflichen, wissenschaftlichen oder privaten Beweggründen - bedienen sollen. Beispielhaft für die Nutzung von digitalen Netztechnologien zum Ausbau der Informationsdienstleistung sind die virtuellen Museumsangebote des Wiesbadener Ingenieurs Uwe Redlich (FMI), die in Kapitel IV.4.3.3.1. näher analysiert werden: Neben einem virtuellen Fernsehmuseum („fernsehmuseum.info") betreibt Redlich noch ein webbasiertes Tonband-, ein Magnetbandtechnik- und ein Hifi-Museum. Dahinter verbirgt sich jeweils ein teils launisch kommentierter, jedoch umfangreicher Informationsfundus, der Spezialwissen aus den betreffenden Bereichen der Technikgeschichte bereithält. Wenn Text und Objekt in digitalisiert reproduzierter und bildschirmgerechter Form vorliegen, sind die institutionellen Grenzen anhand des Sammlungsbestandes nicht mehr erkennbar. Virtuelle Museen, seien es rein digitale Präsentationen ohne realweltliches Pendant oder Internet-Angebote tatsächlicher Museumshäuser, müssen ohne die museumstypische Objekterfahrung auskommen und stehen daher vor der existenziellen Aufgabe, sich von anderen neuartigen wie auch etablierten Informationsangeboten im Netz abzuheben und museale Qualitäten in die virtuelle Kommunikation zu transferieren. Die größte Schwierigkeit besteht in der Wahrung der Authentizität eines Ausstellungsobjekts, dessen Aura es zu bewahren bzw. erst herauszuschälen gilt. So muss sich das Museum als Haltgeber im medialen Sog der Alltagswelt entwerfen, indem es den Tendenzen virtueller Kommunikation zur Beschleunigung und Zerstreuung widersteht (vgl. Korff 1990: 333). Bei den etablierten Fernsehmuseen stehen auch daher partielle Zweifel am tatsächlichen Nutzen von virtuellen Museumsangeboten teils schon euphorischen Plänen gegenüber. Kann die Zurückhaltung hauptsächlich auf mangelnde Erfahrung und fehlende Akzeptanzwerte zurückgeführt werden, verweisen die Optimisten auf die Marketingpotenziale, die dem Museum und seinem Mandat zugute kämen: So sieht sich Bruce DuMont und sein Museum of Broadcast Communications mit der Internet-Domain „Museum.tv" im klaren Vorteil gegenüber anderen Wettbewerbern im Museumsfeld. Bei der virtuellen Adresse handele es sich um eine starke Marke - „easy to remember" und mit einer klaren Bedeutung besetzt, die weltweit zu verstehen sei. Fraglich ist, mit welchen Kommu-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

nikationsstrategien Erfolge bei der Bindung und Neugewinnung von Besuchern erzielt werden können. Durch die rechtlichen Einschränkungen bei der Nutzung speziell von Fernsehprogramm-Überlieferungen außerhalb der Museumsmauern müssen zusätzliche Angebote generiert werden, um dem Internet als „very active medium" (Bruce Altshuler, NYU) gerecht zu werden und Nutzer zu erreichen. Trotz ambitionierter Projekte wie der virtuellen Spiegelung des Newseums in „Second Life", einer softwarebasierten Alternativwelt im Netz, in der man Einblicke in ausgewählte Galerien des Museums erhält (vgl. Garreau 2007), fallen die bisherigen Erfahrungen eher ernüchternd aus: „It's right now like a brochure and its the main way that people find out about the museum", sagt Rebekah Fisk (PCM) und verweist damit auf die pragmatischen Service-Qualitäten des virtuellen Informationsangebotes. Neben dem Paley Center arbeiten auch andere Einrichtungen wie das Newseum, das Museum of Broadcast Communications und die Deutsche Kinemathek an Community-Konzepten, um von den allgemeinen Nutzertrends nicht abgehängt zu werden. Nur durch die Implementierung der zentralen Web-Philosophien des Vernetzens und des Austausches sowie des Protegierens von unabhängigen Kreativen wie zum Beispiel Dokumentarfilmern könnten in Zukunft die Vermittlungsziele außerhalb des Museums erreicht werden, sagt Bruce DuMont: „We are taking the things they [the major companies - Anm. LK] would not be interested in. [... ] They already have their own mechanism for afterlife. A lot of documentarians don't. We become their vehicle to communicate" (Bruce DuMont, MBC). Als geeignete Instrumente zur Kommunikation mit Internet-Nutzern nutzen die größten der untersuchten Museen in Nordamerika, namentlich das Paley Center for Media, das Museum of Broadcast Communications und das Newseum, drei populäre InternetPortale: Alle drei Institutionen haben einen Kanal bei „Twitter", einem Kurzmitteilungsdienst, der es Personen und Organisationen ermöglicht, Nachrichten in einer Länge von bis zu 140 Zeichen an ihre Abonennten, sogenannte Follower zu senden. Die Museen nutzen dies vorwiegend zur Bekanntgabe von Veranstaltungen, aber auch als exklusiver Nachrichtendienst für Meldungen, die dem Museumsthema entsprechen. Alle drei haben einen eigenen Eintrag bei „Facebook", dem führenden Social Network der USA. Und keines der drei Museen verzichtet auf Blogs, die auf der eigenen Website angeboten werden. Während das Museum of Broadcast Communications assoziierte Wissenschaftler wie Robert Thompson (SU) als Blogger über selbstbestimmte Themen schreiben lässt, wenden sich beim Paley Center die Kuratoren selbst etwa einmal pro Woche direkt an die Besucher und schreiben über aktuelle Medienthemen. Das Newseum bietet demgegenüber eigenproduzierte Videoblogs, die zum einen die Angebote des Museums vorstellen, andererseits aktuelle Trends und grundsätzliche Fragestellung rund um die Presse- und Meinungsfreiheit behandeln. Michael Adams vom MZTV Museum glaubt, dass in Zukunft kein modernes Fernsehmuseum mehr ohne interaktive Kommunikationsangebote im Netz auskommen wird: „It's not as good as seen the three-dimensional objects, it's not as good as meeting in a group. But it's amazing how blogs have developed into discussion-rooms and kind of

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created a - not an exact classroom setting - but attractive setting for people to talk about things." Die Internet-Technologien seien vor allem deshalb interessant, um mit den Besuchern in Kontakt zu bleiben und neue Kontakte zu knüpfen: „There are a lot of communities around the world that cant simply get onto a plane or bus or train and travel to us. So the online-presence really complements this educational component." Das Website-Angebot begreift Adams dennoch als komplementär und nicht als den eigentlichen Kern des Museums: Daher sei auch geplant, die Internet-Inhalte perspektivisch als Druckfassung zu veröffentlichen, um entsprechend der üblichen physischen Qualitäten des Museums einen bleibenden Wert zu schaffen: „So we realize that print is a very essential element telling that story, to have a coffee-table book or a brochure or a piece of information whether it's a press-package: that's very important. So print will always play a major part of our storytelling." Der Kern des Problems bei der Suche nach vorteilhaften kommunikativen Reichweitenstrategien betrifft demnach weniger die Frage, auf welchem Träger bzw. in welchem Medium entsprechende Angebote distribuiert werden, sondern ob es dem Museum gelingt, den museumsinternen Diskurs mit der externen (Medien-) Umgebung zu kombinieren und ihn effektiv zu verstetigen, damit das Museum auch abseits des Museumsbesuches im Bewusstsein einer allgemeinen Öffentlichkeit präsent ist und sich mit seinen Inhalten einbringen kann. In der Deutschen Kinemathek wird daher auch darüber nachgedacht, wie die Museumserfahrungen des Publikums im Zusammenhang mit einzelnen Ausstellungen in eine begleitende Publikation integriert werden könnten - ob nun als Broschüre, Buch oder Blog. Eine resümierend-zusammenfassende Veröffentlichung nach einer Ausstellung, einem Festival oder einer Veranstaltungsreihe wäre insofern von Vorteil, weil die ansonsten kaum erfassten oder einbezogenen Rezeptionsmodi und -probleme in Bezug auf Fernseh(re)präsentationen im Museum aus Besuchersicht zur Geltung kämen: „ [I] ch möchte es mal ausprobieren, ein kleines Buch am Ende der Ausstellung herauszubringen, um die Erfahrungen, die diese Ausstellung gebracht hat, einfließen zu lassen. Das finde ich mal sehr spannend. Das würde mich sehr interessieren. Außerdem haben wir einen Kinderkrimiwettbewerb ausgeschrieben, von dem wir dann auch den besten Kinderkrimi aufnehmen würden. Auch müssen wir uns noch genauer die wahnsinnigen Phantombilder anschauen, ob es Sinn macht, diese Phantasien der Kinder zu veröffentlichen. Eine solche Veröffentlichung nach der Ausstellung macht auch deshalb Sinn, weil es nichts gibt zu Kinderkrimis, weder in der Wissenschaft noch sonst etwas" (Gerlinde Waz, DK). In eine ähnliche Richtung zielen die variationsreichen Möglichkeiten audiovisueller Veröffentlichungen: Eigene Veranstaltungen lassen sich mitschneiden, bei geklärter Rechtelage sogar mit Fernsehsendungen und anderen Kontextüberlieferungen kombinieren und daraus lehrreiche und mnestisch stimulierende Dokumentationen produzieren. Thorsten Schilling von der Bundeszentrale für politische Bildung hält es für einen wesentlichen Teil der Verpflichtung von gemeinnützigen Einrichtungen gegenüber der all-

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Fernseherbe-Verwaltung

gemeinen Öffentlichkeit, solche Veranstaltungen langfristig verfügbar zu machen, vor allem weil sie gemeinhin mit hochkarätigen Gästen und Rednern aufwarteten und daher von expertischer Relevanz seien: „Wir produzieren selbst Inhalt zum einen bei Veranstaltungen, von denen die Bundeszentrale im Jahr etwa 300 macht, entweder selbst oder mit Partnern. Und davon ist ein Prozentsatz, schätzungsweise zehn bis 20 Prozent von einer solchen Tragweite, was die Referenten und der diskutierten Themen betrifft, dass abschätzbar ist, dass auch noch in drei Jahren an einem dort diskutierten Beitrag Interesse bestehen könnte. Das ist also ein Content-Reservoir, weil man über die Jahre sehen kann, dass wir eine ganze Reihe interessanter Wissenschaftler und Publizisten und Politiker auch internationaler Güte in den Veranstaltungen der Bundeszentrale hatten. Das ist ein Materialfundus, der bisher nicht systematisch gehoben und aufbewahrt wurde" (Thorsten Schilling, BpB). Auf Museumsseite wurde dieser Weg ebenfalls zuerst vom Paley Center for Media beschritten. Bereits früh wurde der historische Wert von Panel-Diskussionen und der Seminare erkannt, die strategisch aufgezeichnet wurden und Eingang in die Museumssammlung fanden: „Virtually every seminar that the museum has ever held we have a videotape of. So we have that. So you can come here and see Lucille Ball doing a seminar or Dick Wolf or Bob Hope. Those are unique in the world. No one else has those seminars and festivals. They're one of the kind", betont Doug Gibbons (PCM). Im Jahre 2 0 0 7 veröffentlichte das Paley Center noch unter dem Label M T & R drei DVDs mit den Aufnahmen von Diskussionsveranstaltungen zu den populären TV-Serien „Desparate Housewives", „Law and Order" und „Lost" sowie eine Doppel-DVD mit der Aufzeichnung einer vierteiligen Seminarreihe über die 25-jährige Sendergeschichte des öffentlichen Dokumentationskanal C-SPAN. Darüber hinaus wurden einige herkömmliche DVD-Veröffentlichungen, darunter „Freaks & Geeks", „Get Smart - The Complete Series", „Sopranos - The Complete Series" und die „Studio One Anthology", mit Mitschnitten von Veranstaltungen des Museums als Bonusmaterial ausgestattet. Vorstellbar sind außerdem Veröffentlichungen auf DVD oder einem anderen BildTon-Träger, die es sich zum Ziel setzen, weithin unzugängliche Werke aus der Fernsehgeschichte auf den Markt zu bringen. Das entspräche einer Katalysator- oder Verstärkerfunktion, meint Thorsten Schilling (BpB), indem bestimmte Nischenformate für den Bildungsmarkt neu nutzbar gemacht werden und die Einrichtung mit ihrer redaktionellen Auswahl als Gütesiegel fungiere. Nicht trotz, sondern aufgrund der schwierigen Rechtesituation seien renommierte öffentliche Gedächtnisorganisationen prädestiniert dafür, den Überlieferungen mit ihrem guten Ruf und ihrer Expertise jene Geltung in der Öffentlichkeit zu verschaffen, die sie aufgrund von Ignoranz oder fehlender Mittel der Verwertungsberechtigten bisher nicht erhalten haben, meint Steve Bryant vom British Film Institute. Das BFI habe schon häufiger DVD-Veröffentlichungen angestoßen, weil der Markt allein es nicht leisten konnte. Organisationen wie das BFI können es sich nach Aussage von Bryant leisten, aufgrund ihres öffentlichen Kulturauftrags marktwirtschaft-

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liehe Risiken einzugehen und ihre Entscheidungen nicht von den Refinanzierungsaussichten einzelner Veröffentlichungen abhängig zu machen. Zusätzlich beständen gute Chancen, dass Rechteinhaber einer Kooperation mit einer solch angesehenen Institution nicht im Wege stehen würden: „Because the risk is spread, the right holder is not taking a financial risk, because the BFI pays for the copying and selling it. We are an organization that can accept the loss. However, they are just getting a small amount of money. If they take the risk themselves and put more own financial effort into the project they might have more financial income, but they take the risk. We experienced in a lot of cases that the BFI was used to test the market options: If something was a success a company that cooperated with us in the first place tries it for itself the second time" (Steve Bryant, BFI). Die positiven Rückwirkungen auf die ökonomische Situation von privatwirtschaftlichen Kooperationspartnern macht die Zusammenarbeit zwischen Fernsehmuseen und der Fernsehindustrie zur attraktiven Option, u m andernfalls riskante, weil von unternehmerischer Seite als nicht marktreif eingestufte Werke aus der Fernsehgeschichte zu veröffentlichen. Auch die Deutsche Kinemathek verfolgt seit Gründung der Fernsehabteilung die Veröffentlichung eines „gewaltigen Projektes" (Peter Paul Kubitz, DK): einer 35-teiligen DVD-Edition zur Fernsehgeschichte. Der Einfluss auf die Fernsehprogrammwirtschaft, den ein Fernsehmuseum ausüben kann, gar auszuüben hat aufgrund der normativen Verpflichtung, das Geschichtsbewusstsein auch innerhalb der Fernsehbranche zu fördern, bleibt freilich stark begrenzt. Fernsehmuseen befinden sich als öffentliche Einrichtungen ohne unternehmerische Zielsetzung immer in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Sendern und ihren Archiven. Das schließt aber nicht aus, dass sie im Rahmen ihrer raumsprengenden Öffentlichkeitsstrategien auch die laufende Sendeabwicklung ins Auge fassen und zumindest versuchen, sich als Akteur innerhalb des Programmbetriebs zu betätigen. „With the cooperation with actual television program museums are not bound to one place any more. They can leave their walls behind and move to active broadcasting", sagt Archivberater Sam Kula, und Michele Hilmes (WCFTR) argumentiert ähnlich: „Cooperations between museums and the television industry is a publicly growing phenomenon, especially when you think that if the internet develops in the way that people are saying, there is no reason why each museum couldn't have its own channel. So there would be thing available all the time that you could download on your television set and watch. Whether it would be a special cable channel or simply through an internet-connection. But also you would want to have relations to mainstream entertainment media that most people would seek out" (Michele Hilmes, WCFTR). Zwar steht es jedem der betrachteten Fernsehmuseen frei, sich einen eigenen Fernsehkanal im Internet einzurichten, u m die eigenen Veranstaltungen, Produktionen oder rechtefreie Fernsehüberlieferungen zu senden. Doch, wie Michele Hilmes bereits anmerkt, zielen diese vermehrt auf Kooperationen mit etablierten Fernsehveranstaltern.

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IV. Status Quo und Perspektiven

der

Fernseherbe-Verwaltung

Dabei verfolgen sie jeweils unterschiedliche Ansätze: Die Deutsche Kinemathek hat unter anderem mit dem RBB gemeinsame „Gernsehabende" kuratiert und hat im Anschluss eine Partnerschaft mit dem digitalen Info-Kanal der ARD EinsLive geschlossen, um Exzerpte der Programmgalerie des Museums zu präsentieren. Das Paley Center for Media lässt extern alljährlich eine Spezialsendung produzieren, die im jährlichen Wechsel auf einem der führenden Fernsehnetworks ausgestrahlt werden und die Hintergründe des Fernsehbetriebs beleuchten. Das Newseum wiederum produziert selbst und hat einen stark dokumentarischen Fokus: Mehrere solcher Produktionen wurden von US-Sendern ausgestrahlt, darunter eine Dokumentation über den Meinungsjournalisten Carl Rowan („Breaking Barriers", WUSA 9 CBS) und eine über die Holocaust-Berichterstattung der „New York Times" („Holocaust: The Untold Story", History Channel). Außerdem unterhält das Museum eine Kooperation mit C-SPAN, deren Sendung „Close Up" Schüler nach Washington, D.C. begleitet und diese im Newseum unter anderem in Gesprächen mit Journalisten über das politische System und Regierungsfragen unterrichtet werden. Hinzu kommen verschiedene Sendeformate, die in Zusammenarbeit mit anderen Medienhäusern realisiert werden und diverse Aspekte der Mediengesellschaft behandeln. Auch werden die beiden Studios des Newseums an Produktionsgesellschaften vermietet, die vor Ort Talkshows, Nachrichtensondersendungen oder Magazinformate aufnehmen. Henry Jenkins (MIT) sieht in den ausgestrahlten Fernsehproduktionen aus Museumshand eine nicht zu verachtende Ergänzung und Stärkung des programminternen Bildungspotenzials des Mediums, wohingegen die Funktion aus Sicht von Vertretern des Paley Center for Media in erster Linie in der Unterstützung der Museumsarbeit gesehen wird, indem die Bekanntheit der Einrichtung erhöht wird (,,[I]t's a way to get the name out" - Ron Simon, PCM) und außerdem neue Förderquellen erschlossen werden können. Über den tatsächlichen Bildungseffekt und die Relevanz der Sendungen im laufenden Programm gibt es zuwiderlaufende Beurteilungen: Dale Zaklad (PCM) formuliert sogar überspitzt: „No one watches them." Die Bildungsabteilung sei an dieser Form externer Bildungsarbeit weitgehend uninteressiert und auch nicht beteiligt, wie ihre Kollegin Rebekah Fisk erwähnt: ,,[T] hat's not the way we are going. The program is produced by an outside production company. It achieves its goal, we get paid for that, it's a revenue source. The networks decided to be nice to us, and each year one of the five networks broadcasts the special program. It's a clip reel with no educational approach [...]. We even don't know when they are on. We aren't involved at all" (Rebekah Fisk, PCM). Abgesehen davon, dass der Reichweiten- und Vermittlungserfolg solcher vom Museum in Auftrag gegebener Fernsehsendungen selbst von den eigenen Mitarbeitern in Zweifel gezogen wird, gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Fernsehwirtschaft und Fernsehmuseen nicht immer so reibungslos wie im Falle des langjährigen Kooperationsabkommens zwischen dem Paley Center for Media und den geneigten US-Networks. Nicht das fehlende Interesse seitens der Fernsehmuseen stehe einer Zusammenarbeit im

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Wege, sondern die Furcht vieler Redakteure an den Schaltstellen der Programmplanung, ihre Autorität an eine externe Einrichtung abzugeben, deren Deutungshoheit über jeden Zweifel erhaben sei, meint Thomas Beutelschmidt (HUB). Abgewiegelt würden Kooperationsgesuche meist mit dem Argument, ein museal perspektiviertes Thema sei nicht interessant genug für das Publikum des Senders: „Die zwei Probleme sind also Abwertung und Abwehr. Das größte Problem ist aber die Unkenntnis, denn viele Kollegen haben das Material selbst nie gesehen. Das wird immer nur in Papierform beurteilt. Ich halte es daher für notwendig, historische Reihen ins Programm zu nehmen", sagt Beutelschmidt, auch um analog zu Jenkins die Programmqualität in puncto des Bildungswert und der weithin fehlenden Selbstthematisierung des Fernsehens, seiner eigenen Geschichte und seiner Einflussnahme auf die Zeitgeschichte zu verbessern. Der potenzielle Einfluss von Fernsehmuseen auf den Sendebetrieb beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Auswahl, Zusammenstellung und Kommentierung von Fernsehprogramm-Überlieferungen, sondern umfasst auch die Bereitstellung von materiellen Ressourcen: Technisches Equipment und anderweitige Realien, seien es Ausstattungsgegenstände bestimmter Sendungen bis hin zu antiquierten Ü-Wagen aus der Frühzeit der Live-Berichterstattung, hat einen hohen Nutzwert im Rahmen von Geschichtsdokumentationen oder auch von beliebten TV-Event-Movies, die dramatisch fiktional mit Ereignissen der Zeitgeschichte behandeln. Hier können Fernsehmuseen mit entsprechenden Sammlungen die Authentifizierungsstrategien des Fernsehbetriebs mit originalen Objektüberlieferungen unterstützen. Dies wurde bereits von einzelnen Einrichtungen wie dem CBC Museum praktiziert, das laut seinem Leiter Ivan Harris in früheren Zeiten häufig einzelne Überlieferungsstücke an Showproduktionen des Senders verlieh. Doch die Erfahrung zeigte, fügt Kurator Don Adams hinzu, dass die Artefakte durch die unbürokratische Ausleihpraxis gefährdet wurden, weil ihr Wert nicht anerkannt oder bekannt war. Daher habe man sich dazu entschlossen, einzelne Stücke nur noch gegen eine Gebühr zeitweise zu vermieten, um auch die Garantie zu haben, dass sie wieder zurückgegeben würden. Auch aus dem Verein Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden wird diesbezüglich über schlechte Erfahrungen berichtet: So hätte der Vereinsvorstand zwei seltene historische Ü-Wagen an verschiedene Film- und Fernsehproduktionen verliehen (u.a. „Das Wunder von Lengede", Sat.l), doch seien sie am Ende stark beschädigt gewesen, was hohe Reparaturkosten verursacht habe. So lässt sich mit Joseph Hoppe (DTM) feststellen, dass Museen gerade auch in Bezug auf populärwissenschaftliche bzw. speziell populärhistorische Sendungen für Fernsehsender ein hochinteressanter Partner sind, doch ,,[k]omischerweise kommen die beiden Welten dann aber doch nicht zusammen", weil der Pragmatismus und die vielteiligen widerstreitenden Interessen des Produktionsalltags nicht mit den langfristigen Bewahrungs- und Vermittlungsstrategien der Museumskultur übereinkommen mögen.

442 4.2.7.

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung Schlussfolgerungen

Fernsehmuseen haben als exklusive Schnittstelle zwischen allgemeiner Öffentlichkeit, der Wissenschaft und der Fernsehindustrie nach nur wenigen Jahren Einlass in den Zirkel der bedeutendsten und einflussreichsten institutionalisierten Reflexionsagenturen der gesellschaftlichen Erinnerung gefunden. Hauptsächlich lässt sich diese fulminante Aufwertung eines musealen Nischenbereichs durch die hohe sozio-kulturelle Relevanz ihres Fokusbereichs, des unstrittigen Leitmediums des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, erklären. Allerdings müssen Fernsehmuseen trotz ihres privilegierten wie verantwortungsvollen Scharnierstatus zwischen Medienproduktion, Medienrezeption und Medienforschung durch ihre verhältnismäßig junge Organisationsgeschichte und dem erheblichen Nachholbedarf bei der Sammlung von Erfahrungen in musealer Bildungsund Erinnerungsarbeit immer noch um ihre eigene institutionelle Relevanz kämpfen. Wenn einige der befragten Museumspraktiker beklagen, ihre Öffentlichkeitsarbeit bestehe vor allem darin, den Mehrwert ihrer fernsehspezifischen Bildungsprogramme in Konkurrenz zu eher traditionellen Museumseinrichtungen und deren Angeboten gegenüber schulischen Lehrkräften zu rechtfertigen, was immer noch erhebliche Schwierigkeiten bereite und nicht bei allen Adressaten gelinge, lässt dies auf eine tiefe Zerrissenheit von Fernsehmuseen schließen, die sich einerseits verpflichtet sehen, klassischen eher formalisierten Bildungskonzepten zu folgen, andererseits dem Fernsehen und der modernen Medienkultur entsprechende, innovativere Vermittlungswege zu finden, diese alternativen Zielrichtungen aber nur unter starker Zurückhaltung verfolgen können, um nicht dem Verdacht der Unterhaltungsmeierei zu unterliegen. Dies findet Ausdruck in einer fundamentalen Unsicherheit hinsichtlich der Wirkungsweisen und der Vermittlungsdichte der informellen Bildungsangebote und Erinnerungsveranlassungsleistungen, der durch einen zum Teil stark eingeengten Zielgruppenfokus, zum anderen durch eine extraordinäre Vielfalt an Zielrichtungen und Maßnahmen versucht wird beizukommen. Die Mannigfaltigkeit der Projektansätze, die konkret auf Bildungsmaßnahmen abzielen, steht nicht nur für die vielseitig möglichen Funktionalisierungsalternativen, die Fernsehmuseen dank des thematischen Reichtums ihres Sammlungsfeldes zur Verfügung stehen, sondern kaschiert auch eine gravierende Konzeptionslosigkeit: Bisher wurde in den untersuchten Einrichtungen noch kein schlüssiges Modell gefunden, wie das komplexe und doch so flüchtige, das in seinen Voraussetzungen und Wirkungsweisen so rätselhafte und doch scheinbar so leicht zu verstehende und erinnerungsprägende Alltagsmedium Fernsehen mit den Prinzipien musealer Bildungsarbeit in Einklang gebracht werden kann. Einerseits gerieren sich auch Fernsehmuseen als statische verlässliche Anlaufpunkte, andererseits sehen sie sich bemüßigt, ihre Angebote ebenso dynamisch, ereignishaft und flexibel zu gestalten wie es ihnen der Fernsehprogrammbetrieb vormacht. Das Popularisierungsdiktum wird in Fernsehmuseen auf die Spitze getrieben, da sich hier nicht nur die Inhalte der Bildungsangebote als Fernsehüberlieferungen größtenteils per se als populär erweisen und zusätzlich noch nach Gesichtspunkten der (historischen oder gegenwärtigen) Popularität ausgewählt werden, um das Interesse der Adressaten zu

IVA. Museumsfernsehen,

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wecken, sondern auch die Form und Ausgestaltung der Bildungsangebote auf ihre Popularität hin ausgearbeitet werden. Zusammenfassend lassen sich auf Basis der Expertenbefragung folgende Problembereiche bei der Bildungsarbeit in Fernsehmuseen identifizieren: - Fernsehmuseen füllen eine große Lücke im formellen Bildungssystem, in welchem die Medienkompetenzförderung und besonders die Vermittlung von Fernsehkompetenz traditionell zugunsten klassischer Bildungsinhalte vernachlässigt werden. Nichtsdestotrotz sind Fernsehmuseen durch ihre unverbindlichen Bildungsangebote und der innerhalb des Schulsystems festzustellenden Vorbehalte gegenüber ihrer Bildungsrelevanz nur selten in der Lage, die Lücke ausreichend zu schließen. Dadurch dass Fernsehmuseen mit ihrem medienspezifischen Bias als öffentliche Gedächtnisorganisationen allein auf weiter (Bildungs-) Flur agieren, fällt ihnen die Rolle eines Pioniers bei der gegenwartsbezogenen Kontextualisierung von Fernsehgeschichte zu. Durch den informellen Charakter fehlt der musealen Bildungsarbeit jedoch die notwendige Verbindlichkeit und ist angewiesen auf die Qualifizierung, das Engagement und Verantwortungsbewusstsein des Personals: Dadurch dass sich Bildungsangebote mit und über das Fernsehen im Vergleich zu anderen Museumsthemen verhältnismäßig einfach gestalten lassen, weil das Material durch seine Anschaulichkeit selbst viele Anschlussmöglichkeiten bietet (,,[W]e take excerpts from programs and put them together in order to what we want to teach" - Dale Zaklad, PCM), besteht jedoch auch die große Gefahr der Beliebigkeit und ausbleibender Anleitung. Die Kompilation von Überlieferungen oder ihren Exzerpten stellt hohe Anforderungen an das pädagogische Personal, das im Idealfall ebenso wie die Kuratoren eine fernsehwissenschaftliche Ausbildung absolviert hat und über die nötigen personellen und zeitlichen Ressourcen verfügt, um attraktive wie effektive Bildungsprogramme zu entwickeln. Die Befragungsergebnisse lassen jedoch darauf schließen, dass der spezialisierte Bildungsbereich im überschaubaren Feld der Fernsehmuseen unter latenten Mangelerscheinungen zu leiden hat und der hohen Nachfrage von interessierten Nutzern nicht in angemessener Weise nachkommen kann. - Bildung im Sinne der Vermittlung von Wissen und der Selbsterkenntnis als einer Bewusstwerdung des eigenen Verhältnisses zum musealen Gegenstand (eines Objektes im weitesten Sinne, aber auch eines historischen oder gegenwärtigen Phänomens, einer Entwicklung) bildet die Grundvoraussetzung nicht nur für den .vernünftigen Umgang mit dem Fernsehen, sondern dient auch dazu, das Medium und seinen Einfluss auf die Persönlichkeit zu verstehen, Erinnerungen besser einordnen zu können und bisher möglicherweise nur vage emotionale Ahnungen zu reflektieren und in neuen Kontexten zu konkretisieren. Anders als in der klassischen Vermittlungstradition des Museums steht bei Fernsehmuseen nicht allein das Überlieferungsgut als historische Quelle des Wissens und der Weisheit im Mittelpunkt der Bildungsarbeit, dessen intellektuelle und erfahrungsgeschichtliche Essenzen zu vermitteln sind, sondern der Besucher als Rezipient, der von Beginn jedes mediatisierten Fern-Sehens an als aktiver Konstrukteur

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

von Bedeutung mit seinen ganz eigenen Sichtweisen agiert und der Fernsehgeschichte dadurch erst zu ihrer gesellschaftlichen Relevanz verhilft: Das stellt zweifellos immense Anforderungen an die Museumspädagogik, die immer auch die individuellen Erinnerungskontexte berücksichtigen muss und in ihrer Projektgestaltung eine tiefgreifende Offenheit bei der Ausgestaltung zu gewährleisten hat. Die Qualität des Bildungseffektes der Museumserfahrung wird sich schlussendlich nur daran messen lassen, inwieweit es gelungen ist, die lebensweltlichen und rezeptionsspezifischen Hintergründe der Zielgruppen zu integrieren. Demnach kommt Dale Zaklad (PCM) zu dem Schluss: „The benefits of museums are intangible." - Fernsehmuseen weisen immer dann ein hohes Vergemeinschaftungspotenzial auf, wenn sie die Besucher dazu animieren, in kollektiver Manier an bestimmten Veranstaltungen teilzunehmen, die nicht allein zur bloßen Rezeption einladen, sondern stark interaktiv ausgelegt sind. Ob nun in Seminaratmosphäre, bei Führungen oder beim geselligen Public Viewing innerhalb oder außerhalb des Museums: Wo zum Austausch von Erfahrungen animiert wird und Kommunikation zwischen den Besuchern untereinander und mit dem Museumspersonal und prominenten Gästen erwünscht ist, entstehen zwischenmenschliche Beziehungen, die im besten Fall in einem Gemeinschaftsgefühl münden, welches das Museum als sozialen Treffpunkt und angenehme informelle Lernumgebung kennzeichnen. Gleichwohl haben die untersuchten Einrichtungen Schwierigkeiten, bestimmte Zielgruppen effektiv anzusprechen. Anders als bei der Adressierung von Bildungsträgern wie zum Beispiel Schulen oder Universitäten und sozialen Einrichtungen wie Jugendorganisationen sind Familien als wichtigste Zielgruppe bei der gemeinschaftlichen Fernsehrezeption nur schwer zu erreichen. Hier gibt es allenfalls punktuelle Ansätze, um einen Wissenstransfer und eine (Re-) Stimulation des Gemeinschaftserlebens im familiären Kontext innerhalb der musealen Bildungsarbeit zu fördern. Am weitesten gediehen sind Kontakte zu Fan-Gruppierungen, die sich jedoch auch auf vereinzelte Projekte beschränken und dadurch von den betreffenden Museen (z.B. Paley Center for Media) noch nicht im Sinne eines dauerhaften partizipatorischen Wissensnetzwerks als „kollektive Intelligenz" (vgl. Kapitel III.4.2.2.) verstetigt werden konnten. - Die Bildungsarbeit ist für Fernsehmuseen zur wichtigsten Einkommensquelle geworden. Auch wenn sämtliche Museumsaktivitäten im Expertenkreis überwiegend als Dienst an der Bildung verstanden werden, sind es spezielle pädagogisch konzipierte Informationsangebote und Veranstaltungen, die in Fernsehmuseen für einen regelmäßigen Besucherstrom sorgen. Ein Zusammenspiel aus Veröffentlichungen unterschiedlicher Art sowie Informations- und Kommunikationsangeboten über das Internet auf der einen und museumsinternen Maßnahmen auf der anderen Seite soll beständig museumsfremde Publika ansprechen und sie mit den Angeboten des Museums vertraut machen. Üblicherweise sind es in den etablierten Fernsehmuseen nicht als Blockbuster beworbene Sonderausstellungen, welche für hohe Besucherzahlen verantwortlich sind, sondern in verlässlicher Regelmäßigkeit angebotene pädagogische Dienstlei-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

445

stungen des Museums: Nicht die Ausstellungen allein, sondern die Führungen durch die Ausstellungen, nicht die Sammlungsbestände, sondern die Kurse, die mit ihnen veranstaltet werden, nicht die Aufzeichnung einer Veranstaltung, sondern die Art der Veranstaltung selbst ziehen die meisten Besucher an. Wenngleich der selbstmotivierte Individualbesuch des Museums durch den Reichtum und die Exklusivität der jeweiligen Fernsehprogramm- oder Artefaktsammlungen weiterhin Relevanz besitzt, erfolgt der Hauptteil an Ticketverkäufen durch Gruppenveranstaltungen, seien es abendliche Vorführungen oder Diskussionen, Kurse für Schulklassen oder aber auch bestimmte Angebote für die Industrie. Indem die Fernsehbranche von Fernsehmuseen mit Angeboten der Weiterbildung, des strategischen Austausche und der Selbstpräsentation adressiert wird, entstehen neue Einfluss- und Verhandlungspotenziale bei der Akquise von Fördermitteln. Durch den existentiellen Wert der Bildungsarbeit als Refinanzierungsfaktor entstehen jedoch auch neue Probleme, wie Lynne Teather (UT) erklärt. Es sei generell zu befürchten, dass Museen vermehrt nur solche gesellschaftlichen Gruppen ansprächen, von denen auch zu erwarten sei, dass sie sich finanziell für die Einrichtung engagieren: „When the Royal Ontario Museum decided eight years ago that they address their south-asian community, they would only do an exhibit about them if this community would came to the table with one or two million dollars. This is a problematic development. They say that they are not culturally conscious unless a particular community comes and pays." Diese Praxis beschränke sich nicht auf die Metaebene der Planung von Ausstellungen oder längerfristigen Kooperationsprojekten, sondern sei auch bereits im Kleinen zu beobachten, zum Beispiel daran, dass Eltern für den Museumsbesuch ihres Kindes sowie die altersgerecht zugeschnittenen Bildungsangebote „quite some money" bezahlen müssten. Um die Zahlungsbereitschaft zu erhöhen, besteht also die Gefahr, dass Museen vor allem populäre Beispiele des Fernsehschaffens auswählen und weniger massenkompatible Kapitel der Fernsehgeschichte ausblenden. - In ihrem Bildungsanliegen und bei der Ansprache ihrer Zielgruppen vertrauen Fernsehmuseen verhältnismäßig wenig auf ihre eigenen Ressourcen, sondern versuchen, ihre Reichweite gerade auch im Hinblick auf bildungsferne und daher meist museums fremde Bevölkerungsteile durch Kooperationen mit Fremdeinrichtungen zu erhöhen. Dies ist immer dann von Vorteil, wenn auch das Fernsehmuseum von der Zusammenarbeit profitiert und seine Themen, Interpretationen und institutionelle Identität bzw. Marke bei den betreffenden Projekten ausreichend zur Geltung bringen kann. Gleichsam trägt das Museum Verantwortung dafür, in seiner Position zwischen den unterschiedlichen Fernsehsphären der Macher, Analytiker und herkömmlichen Nutzer Schnittpunkte zwischen ihnen zu finden, aber auch erst herzustellen. Hierzu ist eine Einbindung aller drei Teilbereiche der Fernsehöffentlichkeit notwendig und verspricht, per kooperativer Verknüpfung von Branchen-, Wissenschafts- und Zuschauerorganisationen eine bessere Verständigung im ansonsten kommunikativ unterentwickelten Verhältnis zwischen Produzenten und Rezipienten zu ermöglichen. Lange fehlte in der kulturellen Infrastruktur ein institutionelles Vehikel, um die verschiedenen Akteure in

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

einem historisch perspektivierten Forum zusammenzubringen. Der Spagat zwischen Industrie und Publika lässt zugleich die Frage aufkommen, inwieweit das Museum tatsächlich eine neutrale Mittlerposition einnehmen kann oder zum Beispiel aufgrund von Abhängigkeiten oder Verpflichtungen gegenüber Förderern zu einem parteiischen Agent der Fernsehwirtschaft wird. Wie viel Annäherung dem unabhängigen, analytischen wie kritischen Blick auf die Fernsehgeschichte und aktuelle Entwicklungen nicht schadet und wann es gefährlich wird, ist in der Museumspraxis eine latente Problematik. Kooperationsmodelle erweitern das Spektrum der Ansätze, Fernsehbildung auf verschiedene Arten von Zielgruppen und entsprechend unterschiedlicher Mediennutzungspräferenzen, Bildungsgrade und persönlicher Erfahrungen anzubieten. Gleichwohl müssen sich Fernsehmuseen gegen die Gefahr wappnen, im sensiblen Bildungsbereich zum Spielball von Interessen zu werden, vor allem dann, wenn die eigene pädagogischen Mittel nicht ausreichen und externe Partner durch ihre Einbeziehung in den Museumskontext einen wesentlichen Einfluss auf die Ausarbeitung und Durchführung von Projekten und damit auch automatisch auf das öffentliche Bild des Museums ausüben können. Die Vorteile von strategischen wie pragmatischen Partnerschaften auf finanzieller, organisatorischer, personeller oder auch materialbasierter Ebene liegen auf der Hand - jedoch ist Vorsicht geboten, um den gemeinnützigen Kern der institutionellen Identität nicht aufs Spiel zu setzen. Wenn das ganzheitliche Bildungsanliegen musealer Aktivitäten als eine Grundbedingung der gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit verstanden wird, da Fernsehmuseen die exklusive Rolle einer Bewahrungs-, Distributions- und Aufklärungsagentur für das für zeitgenössische Identitäten so wichtige, weil erinnerungs- und persönlichkeitsbildende Fernseherbe wahrnehmen und sich darüber hinaus in ihrer Forumsfunktion als Vermittler zwischen den Welten der kreativen Fernsehentstehung auf industrieller und der nicht minder kreativen Fernsehverarbeitung auf rezeptiver Seite verstehen, betrifft die Bildungsarbeit von Fernsehmuseen sämtliche Wissensbereiche und spricht mit ihren televisuellen Erinnerungsstimulanzien die autobiographischen Erfahrungsmodi des Großteils der Bevölkerung an und dies über demographische Schranken hinweg. Daher sind die Bildungsangebote von Fernsehmuseen als wesentlicher Faktor bei der Rekonstruktion und Verarbeitung von Erinnerungen rund um und an die Sozialisierungsinstanz Fernsehen und entsprechend bei der eigenen Gegenwartshaltung zur gesellschaftlichen Gedächtnisrelevanz jenes Leitmediums zu werten, dessen Zukunft im Unklaren liegt und mittels des musealen Aktivitätsportfolios problematisiert, begleitet und wichtiger noch: aktiv mitgestaltet werden kann.

IVA. Museumsfernsehen,

3.3.

Fernsehmuseen

447

Fallstudien zur institutionsspezifischen Modellierung fernsehbezogener Museumsarbeit

Die in Teil IV dieser Arbeit durchgeführte empirische Untersuchung der allgemeingültigen Determinanten, Imperative und Potenziale der Fernseherbe-Verwaltung mündet in diesem Kapitel nun in eine konkrete Begutachtung ausgewählter Museumseinrichtungen, die trotz eines mitunter weiteren thematischen Spektrums und einer hohen organisatorischen Varianz untereinander allesamt dem Begriff des Fernsehmuseums zugerechnet werden können. Als Fernsehmuseum werden solche Institutionen klassifiziert, die sich zum einen durch eine explizite Zuwendung zum Medium Fernsehen im Allgemeinen und zur Fernsehgeschichte im Besonderen auszeichnen, zum anderen aber auch das Fernsehen und seine historische Entwicklung als zentrales Zeugnis der Zeitgeschichte und Instrument der Engagierung ihrer Besucher benutzen, um ihre Vermittlungsziele zu erreichen. Mit anderen Worten: „Television museums give that attention to television by treating it seriously" (Jane Johnson, LC). So gehören das Paley Center for Media als ehemaliges Rundfunk- bzw. Fernseh- und Radiomuseum und das American Museum of the Moving Image als Bewegtbildmuseum ebenso dazu wie das Newseum mit seinem Fokus auf die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Journalismus, welches das Fernsehen nicht nur als prägendes Leitmedium integriert, sondern es auch als interaktives Lernobjekt für die Besucher und als Schnittstelle zwischen der Medienbranche, der Politik und dem Museum utilisiert. Im Folgenden werden insgesamt acht dieser Einrichtungen in den USA, Kanada und Deutschland abschließend jeweils separat betrachtet, um zu eruieren, wie die theoretisch-normativen und auf Basis der Expertenbefragung skizzierten Aufgaben und Möglichkeiten von Fernsehmuseen im Einzelfall realisiert werden. Der Erfolgsgrad der museumsseitigen Anstrengungen bei der Erreichung der selbstgesetzten Ziele hängt, wie bereits bei der Erörterung der strukturellen Imperative der Fernseherbe-Verwaltung deutlich wurde (vg. Kapitel IV.2.), von ganz praktischen Problemen und Herausforderungen ab, die zahlreiche Faktoren mit einschließen, welche von den einzelnen Häusern nur bedingt kontrolliert werden können. Auf der einen Seite handelt es sich um externe Faktoren, welche die Art und Weise prägen, wie sich Museen aufstellen können, um ihre Zielpublika zu erreichen, und welche häufig auch wettbewerblichen Ursprungs sind und von Museen jeglicher Art und Ausrichtung bewältigt werden müssen (vgl. auch Lord/Markert 2007: 2-3). So prägt der Standort mit einem meist Urbanen Umfeld die institutionelle Identität weitaus stärker und verursacht einschneidendere Limitationen, als es die Museumsvertreter im Kreis der Befragten zum Teil zugeben mochten. Andererseits können Museen durch die Effizienzsteigerung interner Faktoren wie ihrer Organisationsform, der Raumaufteilung, ihres Aktivitätsspektrums im Allgemeinen und der Steigerung der Publikumsattraktivität durch Adaption interaktiver Medientechnologien im Speziellen sowie einer fortschreitenden Professionalisierung ihres Personals ihre Erfolgschancen erhöhen. Jedoch sorgen auch interne Faktoren wie ein wachsender Korpus an administrativem Personal für einen höheren Finanzmittelbedarf

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

und zwingen Museen dazu, sich als Marke im kulturellen Umfeld zu positionieren. Besonders Fernsehmuseen stehen hier vielfältige Innovationsmöglichkeiten frei, weisen sie doch bereits durch ihre Widmung eine hohe Affinität zu elektronischen Medientechnologien, eine enorme Gegenwartsnähe und nicht mindere Anschlussfähigkeit an die stark vom Fernsehen sozialisierte allgemeine Bevölkerung auf. Hier spielen jedoch nicht allein die Signifikanz von Sammlungen, Veranstaltungs- und Bildungsangeboten eine wichtige Rolle, sondern auch ganz basale Organisationsentscheidungen wie die Festlegung oder Veränderung von Öffnungszeiten. Im Zentrum der fallorientierten Beurteilung steht daher das übergeordnete Diktum der Erfüllung des gemeinnützigen Mandats, dem sich der allgemeinen Öffentlichkeit zugewandte Fernsehmuseen fügen müssen, wollen sie sich von kommerziellen Unternehmungen bei der Popularisierung von Fernsehgeschichte unterscheiden. 3.3.1. Drang zur Erneuerung: Museales Television Heritage Management

in den USA

Die US-amerikanischen Fernsehmuseen im Untersuchungs-Sample befinden sich inmitten einer Phase der Re-Juvenalisierung und investieren vereinzelt hohe Millionenbeträge, um ihr Image sowie ihre Angebote tendenziell zu verjüngen bzw. auf die Höhe der Zeit (ergo der sich stetig wandelnden technologiezentrierten Medienkultur) zu bringen und dadurch attraktiv und wettbewerbsfähig zu bleiben. Nirgendwo ist die Vielfalt an fernsehmusealen Organisationen im internationalen Vergleich größer als in den USA, wobei einzuwenden gilt, dass sich selbst hier nicht mehr als eine knappe Handvoll Einrichtungen zu Museumshäusern entwickelt haben, deren fernsehhistorische Expertise nationale oder sogar internationale Anerkennung erfährt. Nichtsdestotrotz ist hier die höchste Aktivität innerhalb der fernsehmusealen Programmentwicklung festzustellen sowie eine hohe Bereitschaft, die eigenen Organisationsstrukturen und Publikumsangebote zu professionalisieren. Unter dem Eindruck, dass sich auch gemeinnützige Institutionen .rechnen müssen, das heißt wirtschaftlich (aber nicht zwingend unternehmerisch!) zu operieren haben, um eine möglichst dauerhafte Bestandssicherheit zu erreichen, setzte zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Entwicklung ein, in der eines der bestehenden Fernsehmuseen nach dem anderen seine Rolle innerhalb der medienkulturellen Ordnung überdachte und seine Beobachtungen der Veränderungen der Medienlandschaft in unterschiedlicher Weise in die Transformation seiner institutionellen Identität und in die Umstrukturierung seiner physischen Präsenz einfließen ließ. Nacheinander haben drei der größten Einrichtungen, beginnend mit dem ehemals in Arlington, Virginia beheimateten Newseum im Jahre 2002, gefolgt vom Museum of Broadcast Communications im Jahre 2003 und dem American Museum of the Moving Image im Jahre 2008, sogar damit begonnen, ihre architektonische Grundstruktur zu überdenken und Neu- bzw. Expansionsbauten zu planen. Das Paley Center for Media wiederum wechselte im Jahre 2007 zum zweiten Mal seinen Namen und stieß ein langfristiges Reorganisationsprojekt an, das ebenso Auswirkungen auf die inhaltliche Orientierung wie auch auf die konzeptionelle Umsetzung haben soll.

IV.4. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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4.3.1.1. Vorreiter mit Anschlussschwierigkeiten: Das Paley Center for Media Wenn Doug Gibbons über seine ersten Jahre im Museum of Broadcasting spricht, dann benutzt er gern das Wort „Magnet", nicht im Sinne eines erfolgreichen Vergnügungsparks oder eine erfolgreichen Kinofilms, wenn üblicherweise von Publikumsmagneten die Rede ist, sondern im Sinne eines Impulsgebers für eine sich damals neu herausbildende Branche: der öffentlichen, nicht profitorientierten Fernseherbe-Verwaltung. So fragil und überschaubar das institutionelle Feld von gemeinnützig ausgerichteten Organisationen, die sich im Dienste der Allgemeinheit mit der Bewahrung und Zugänglichmachung von Fernsehüberlieferungen befassen, auch heute noch ist, haben sich etliche der mittlerweile etablierten audiovisuellen Nationalarchive, Fernseh- bzw. Rundfunkmuseen und Medienzentren am Vorbild des New Yorker Hauses orientiert oder sich wenigstens inspirieren lassen. Schon kurz nach der Eröffnung strahlte der Pioniercharakter des Museums über nationale Grenzen hinweg und weckte die Neugier zahlreicher ausländischer Initiativen, die das Museum of Broadcasting bzw. das spätere Museum of Television & Radio mit ihren Delegationen besuchten und seinen Ruf als weltweite Vorreiterinstitution beim verlässlichen Schutz von Fernseh- und Radioüberlieferungen bei gleichzeitig enger Zusammenarbeit mit der Fernsehindustrie manifestierten. Als Verstärker dieser Anziehungskraft fungierte nicht zuletzt auch der Fernsehunternehmer und Museumsgründer William S. Paley, der von 1928 bis zu seinem Tode im Jahre 1990 dem Sender CBS vorstand und ihn von einem kleinen Radionetwork zu einem der drei größten Fernsehkonglomerate der USA aufgebaut hatte und als letzter Übervater der Fernsehindustrie alter Schule galt (vgl. auch Smith 1979): „Even when we were a very young institution in our first couple of years other organizations, museums and people with ideas who wanted to have a broadcasting museum in their own country or in their state visited us. And obviously the magnet was that we were open to the public, we were doing something very unusual: collecting television and radio and make it available in that very accessible way. Obviously because of Mr. Paley s reputation people would come to our museum and we would give tours and would answer their questions. So when I was doing other things here at the museum, when I was director of administration I would do tours for people from for example the Chicago Museum before they opened. And they would be asking some of the questions that you're asking: What do you collect? What do you think we should do? What's the best way to storage? Should we do it this way? How should we play it back to the public? Should we have different rooms? What kind of theatres should we have? All that kinds of questions. And that is very large scale cooperation. Over our 30 years we had, I can't remember how many tours we've done. But we did tours for people from country from all over the world" (Doug Gibbons, PCM). Bei dem von Gibbons erwähnten Chicagoer Museum handelte es sich um mehrere frühe Besuche des Rundfunkmanns Bruce DuMont Anfang der 1980er Jahre, der wenige Jahre später das Museum of Broadcast Communications aus der Taufe heben sollte. Weitere Gäste kamen unter anderem aus der Dominikanischen Republik, aus der Ukraine, aus

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Palästina - und aus Deutschland. Die Planer der „Deutschen Mediathek" bemühten sich rege um die Erfahrungswerte und den Expertenrat der New Yorker Museumsmacher und machten sich selbst vor Ort ein Bild von der Institution, von der sie sich wichtige Erkenntnisse für die eigene Entwicklungsarbeit versprachen (vgl. u.a. AdK 1986a: 34-45, 69G; AdK 1987d; Kubitz 1993a). Auch heute noch berichtet Gibbons von Besuchsanfragen, unter anderem des Kulturamtes in Wiesbaden, eben jener Stadt, wo die Pläne zur Errichtung eines Museums zur Technikgeschichte des deutschen Fernsehens noch nicht umgesetzt werden konnten (vgl. Kapitel IV.4.3.3.1.). Besonders eindrücklich zeigte sich die Relevanz des Paley Centers an der Gründungsgeschichte der japanischen Broadcasting Library (vgl. auch Kapitel IV.2.3.4.), deren Planer über einen Zeitraum von zwölf Jahren in engem Kontakt zu den US-amerikanischen Kollegen standen und sich neben konzeptionellen Aspekten auch über Organisations- und Verwaltungsfragen im New Yorker Museum informierten und schließlich im Jahre 2000 ihre eigene Institution in Yokohama eröffneten. Folgt man den allgemeinen Ausführungen des britischen Wirtschaftswissenschaftlers John Kay, baut das seit über drei Jahrzehnten existierende Paley Center for Media durch seinen guten internationalen Ruf auf solidem Grund und hätte längst zu einem ökonomischen Erfolgsmodell avancieren können, wenn es denn in einem vitalen Markt operieren würde: „ A reputation is valuable, or worth maintaining, only in a continuing market, and its value disappears with that market" (Kay 1995: 93). Wie im Laufe der vorhergehenden Analyseteile gezeigt wurde, hat sich zwar ein Markt für historisches FernsehprogrammMaterial und objekthafte Ephemeriden aus dem Kontext des Fernsehschaffens entwikkelt, der durchaus profitable Aspekte aufweist und der Bewusstseinsschaffung für die Anliegen der Fernseherbe-Verwaltung tendenziell zuträglich ist (vgl. Kapitel IV.3.3.2.). Doch trotz der Pionierarbeit des Paley Centers, damals noch als Museum of Broadcasting ein zunehmend an Sammlungsumfang, inhaltlicher Vielfalt und vergessen geglaubten Programmschätzen gewinnendes Quartier für das Fernsehen von anno dazumal einzurichten und mit viel Aufwand und Hingabe zu pflegen, ließ sich damit kein tragfähiges Refinanzierungsmodell entwickeln, das den sicheren dauerhaften Fortbestand des Museums gewährleisten würde. Anders als viele öffentliche Museen in Europa decken USamerikanische Museen ihren Finanzbedarf allenfalls zu geringen Teilen aus öffentlichen Geldern und sind hauptsächlich auf Spenden, Mitgliedsbeiträge, Eintrittsgelder und Kooperationsprogramme angewiesen. Das Paley Center erhält keine öffentlichen Gelder, sondern wird allein durch die finanzielle Unterstützung der Industrie, durch private Spender, durch Sponsoren, jeweils wechselnde Kooperationen und durch Mitgliedsbeiträge getragen (vgl. auch Hoppe 1998). Die Museumsleitung sah sich daher mehrmals gezwungen, eine Adjustierung bei der Adressierung von Museumsangeboten und bei der strategischen Weiterentwicklung des Mandats der Einrichtung vorzunehmen. Dies fand zum einen Ausdruck in der identitätsbezogen verhältnismäßig tiefgreifenden Maßnahme der zweimaligen Umbenennung des Hauses in den Jahren 1991 in Museum of Television & Radio und in 2007 in Paley

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

451

Center for Media, zum anderen in unterschiedlich stark ausgereiften konzeptionellen Erweiterungen wie dem Versuch der Einbindung der televisuellen Kreativindustrie in Los Angeles/Hollywood, der auch mit der Eröffnung der dortigen Dependance im Jahre 1996 einherging, oder der intensiveren Annäherungen an die Geschäftsleiterebene der Fernsehbranche. Der Vorbildcharakter der Einrichtung hat sich bis heute erhalten. Mit seiner Sammlung von circa 150.000 Fernseh- und Radiosendungen, davon auch zahlreiche fremdländische Überlieferungen (vgl. Kapitel IV.2.4.7.), gilt das Paley Center auch weiterhin als der primäre Anlaufpunkt für Forscher und Museumsplaner aus aller Welt. Dennoch hat sich der revolutionäre Charakter des Museums mittlerweile verbraucht. „The big revolution for the Museum of Television & Radio, that was the Museum of Broadcasting back then, was the very fact that they were doing it", erinnert sich Robert Thompson (SU) und bezieht sich auf das Alleinstellungsmerkmal des Hauses in den 1970er und 80er Jahren, der allgemeinen Öffentlichkeit eben jenen Zugang zu historischem Fernsehprogramm-Material zu bahnen, den niemand herzustellen bereit oder fähig war. Damals überschlugen sich die Pressestimmen vor Begeisterung: „The museum is beginning to be accepted as the definitive place to check out material from the past" (Smith 1980), doch wurde gleichsam prophezeit: „Someday there may be museums of broadcasting in other cities, and in time, cassette recorders or two-way cable systems could make every home in the country a museum of broadcasting" (Shales 1978), jedenfalls im Sinne eines Zugangs zu den Programmschätzen der Fernsehvergangenheit. Das Archiv als

Herzensangelegenheit

Als erstes Rundfunkmuseum in den USA machte sich das Museum of Broadcasting darum verdient, „to have put together the finest collection of radio and television programs [...] and make them available to the general public and also to interpret our collection with seminars, festivals, trying to understand both the aesthetics and historical importance of television and radio in our lives", fasst Fernsehkurator Ron Simon zusammen, muss aber zugestehen, dass das Museum dieser hehren Aufgabe in den Anfangsjahren nicht gerecht wurde: „That was for the first fifteen years, that we only had a small building and we were building a collection. [...] We were more passive, we waited for people to come and so what they want." Gründer William S. Paley hatte sich stets ein Archiv vorgestellt, welches das Vermächtnis des Rundfunkschaffens hüten sollte. Den Ausführungen der Paley-Biographin Sally Bedell Smith zufolge infiltrierte Paleys langjähriger Gefolgsmann und CBS-Vizepräsident Arthur B. Tourtellot den Networklenker mit dem Gedanken eines Rundfunkarchivs (Smith 1990: 513-514). Der ausgewiesene Historiker und renommierte Autor von opulenten Geschichtsdarstellungen wie „Lexington and Concord" und „Life's Picture History of World War II" ging schon zu Beginn des Jahres 1971 mit der Idee schwanger, ein solches Archiv in gemeinsamer Anstrengung mit Fachleuten wie vorrangig Kuratoren, Historikern und Bibliothekaren zu konzipieren. Als Tourtellot eine kleine zweitätige Konferenz mit entsprechenden geladenen Experten veranstaltet hatte und Paley von dem großen Rückhalt der Fachgemeinde berichtete, die

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IV. Status Quo und Perspektiven

der

Fernseherbe-Verwaltung

er erfahren hatte, mit der einzigen Einschränkung, dass die Experten den Gedanken eines öffentlich zugänglichen Museums dem eines Archivs oder einer Bibliothek vorzogen (ebd.). Paley war nur allzu empfänglich für eine solche Idee, konnte er sich mit dem über eine bloße Protegierung des Projektes hinausgehenden auch finanziellen Engagement für ein Museum zur US-amerikanischen Rundfunkgeschichte doch als der Branchen-Titan profilieren, dessen Status er noch zu Lebzeiten genießen konnte (vgl. ebd.: 515; Span 1990; Ozersky 2003: 5).70 Hier bot sich ihm die einmalige Chance, als Integrationsfigur die rivalisierenden Networks dazu zu bewegen, an einem gemeinsamen Strang zu ziehen und sich in einem bis dato beispiellosen und unvorstellbaren Bündnis die Zeugnisse ihrer ureigenen Geschichte zu bewahren. Paleys Begeisterung für die Idee, mehr noch als dem Radio dem Medium Fernsehen ein Denkmal zu setzen (vgl. Schuler 1992), und seine Fähigkeit, auch die Senderchefs von ABC und NBC zu überzeugen, sich finanziell und materiell im Sinne einer Programmbereitstellung für das Museum zu engagieren, wurde zur Initialzündung für eine überschaubare, aber in ihrer zeitlichen Ballung bemerkenswerte Zahl weiterer Museumsgründungen, die in den 1980er Jahren in Chicago (Museum of Broadcast Communications), in Queens (American Museum of the Moving Image) sowie auch London (Museum of the Moving Image des British Film Institute) ihre Türen öffneten. Doug Gibbons betont, die Einrichtung sei mit dem Museumsbegriff versehen worden, um sich bewusst von dem Anspruch eines Nationalarchivs zu distanzieren und damit ein Alleinstellungsmerkmal auszubilden, denn schließlich gab es bereits Fernseharchive bei den Sendern und das UCLA Film and Television Archive: „The word .museum' was chosen specifically to underline the idea [...] that museums are selective, that no museum can have everything about every artist. [... ] We're pretty much like a library, but you cant take something with you. We're also pretty much like an archive in the sense that we preserve what we have. [...] But many archives are kind of closed, they have restricted access, they are not open to everyone. So we are not an archive, but we are a museum because museums are open to everyone, they are democratic and yet they are selective" (Doug Gibbons, PCM). Dennoch blieb der Sammlungs- und Präservationsgedanke vorrangig und dominiert die Gestalt des Museums bis heute, zu einflussreich seien die „old media people" in den Entscheidungsgremien des Museums, beklagt Dale Zaklad, Leiterin der Bildungsabteilung, und ergänzt: „This was created as an archive and it should have always been called ,The Archive of Television & Radio'." Dabei habe das Paley Center das Potenzial, „to be a cooler place", ergänzt Zaklads Mitarbeiterin Rebekah Fisk, aber nur wenn das Augenmerk auf vermehrt interaktiv ausgerichtete Publikumsangebote gerichtet und es den Besuchern

70

Paleys Status und Selbstverständnis als Lichtgestalt der Fernsehbranche lässt sich auch an einem Wortwechsel während der Pressekonferenz zur Museumseröffnung im November 1976 verdeutlichen: „During the news conference, Mr. Paley was asked if it was a coincidence that the museum was situated near the CBS building, near the Museum of Modern Art (of which he is board chairman) next to Paley Plaza, a mini park, and in a building owned by his own foundation. He answered: ,If you want to change the name of the street, it's all right by me'" (Fraser 1976).

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

453

ermöglicht werde, selbst im Museum aktiv und produktiv zu werden, sind sich die beiden Pädagoginnen einig. Die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb des Hauses, inwiefern sein archivischer Schwerpunktcharakter entweder als überwunden oder als unverändert präsent bewertet wird, sind zwar bemerkenswert, aber neben unterschiedlichen methodischen Priorisierungen in der Abteilungshierarchie auch der generellen Nähe archivischer und musealer Sammlungsstrategien und Sichtungsmöglichkeiten geschuldet. So kommt Archivberater Sam Kula zu dem Schluss: ,,[B]asically it was not a museum, but an archive: You go in and can watch shows. I think television museum have developed well beyond that". Auch heute noch findet dieses Bias Ausdruck in der schneidigen Parole: „Great Content Lasts Forever", einem von der internationalen Werbe- und Mediaagentur Publicis entworfenen Slogan, illustriert in Form einer nicht enden wollenden und die chinesische Mauer imitierenden Schlange aus aufgetürmten Fernsehbildschirmen, auf denen populäre Sendungen aus der TV-Geschichte flimmern. In der Sammlung des Museums finden sich weiterhin fast ausschließlich Programminhalte, kaum Realien und nur wenige Kontextdokumente wie unter anderem ein übersichtlicher Bestand an Büchern, darunter Nachschlagewerke, Biographien und Episodenführer zu Fernsehserien, eine Zusammenstellung von Pressemitteilungen auf Mikrofilm aus den Archiven von NBC und CBS sowie Rezensionen und andere Zeitungssauschnitte. Darüber hinaus hat das Museum etwa 60 Zeitungen, Zeitschriften und Journale abonniert und archiviert diese für die Arbeit des Kuratoriums. Nach den Ergebnissen der Befragung der beiden dienstältesten Mitarbeiter des Museums, Ron Simon und Doug Gibbons, war und ist der programmliche Schwerpunkt eine bewusste Einengung des musealen Betätigungsfeldes. Seit seiner Gründung hat es die Einrichtung bis auf wenige geringfügige Ausnahmen vermieden, auch die übrigen Facetten des Fernsehschaffens wie die Produktionshintergründe, die Rezeptionsseite, Vermarktung oder Fan-Aktivitäten mittels der Sammlung und Ausstellung entsprechender Überlieferungen zu thematisieren. Sämtliche Museumsleiter, angefangen mit Robert Saudek, einem Fernsehproduzenten und Referenten an der Harvard University, der von der Eröffnung 1976 bis 1981 die Geschicke der Einrichtung leitete, zeichneten sich durch eine starke Affinität zur audiovisuellen Produktebene des Fernsehschaffens aus. Mehr noch als sein Vorgänger war es jedoch Robert M. Batscha, ein bei seinem Amtsantritt in 1981 noch junger Politikwissenschaftler von 36 Jahren, der die Identität des Museums prägte: War es Saudek gelungen, die Sammlung von 718 Radio- und Fernsehsendungen bei der Eröffnung (Anonym 1976) auf etwa 5.000 Sendungen zu erweitern, potenzierte Batscha bis zu seinem Krebstod 2003 in seinen 22 Jahren an der Spitze des Hauses die Zahl der archivierten Programmüberlieferungen auf insgesamt 120.000 Einzeltitel (Cooper 2003). Batscha war es indes auch, unter dem das Museum seine einschneidensten Veränderungen erfuhr. Unter Batscha wurden erste Seminarangebote entwickelt, er konzipierte den regen Ausstellungs- und begleitenden Publikationsbetrieb in den 1980er und 90er Jahren, er stieß 1984 das William S. Paley Festival in Los Angeles an, er setzte knapp zehn Jahre später den Bau der

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Westküsten-Dependance durch und öffnete das Sammlungsspektrums weltweit. Das Vakuum nach Batschas Tod konnte von seinem direkten Nachfolger Stuart N. Brotman, einem erfolgreichen Kommunikationsberater mit medienpädagogischer und publizistischer Expertise, nicht gefüllt werden. Nach nur 14 Monaten trat Brotman zurück und hinterließ viele offene Fragen über die Umstände seines abrupten Abgangs. Das Museum war in dieser Zeit angesichts der sich bereits ankündigenden grundlegenden Wandlungstendenzen der Medienkultur vor allem durch Orientierungs- und Konzeptlosigkeit gekennzeichnet und setzte auf die Fortführung der Arbeit mit traditionellen Mitteln. So sehr sich der Traum von der Einzigartigkeit der größten öffentlich zugänglichen Fernsehprogrammsammlung der USA überlebt hat, obwohl sie nach wie vor zutrifft, jedoch durch die marktspezifischen Begleitumstände an Relevanz eingebüßt hat, verbanden sich mit dem Amtsantritt von Pat Mitchell, die ab 2006 im Alter von 63 Jahren den Posten der Museumsleitung übernahm, große Hoffnungen. Als erste Frau hatte sie vor ihrem Wechsel an der Spitze des öffentlichen Senders PBS gestanden. Als Präsidentin und Geschäftsführerin hatte die gelernte Journalistin und Fernsehproduzentin den Grundstein für die digitale Zukunft des schwerfälligen Networks im Schatten der mächtigen kommerziellen Wettbewerber gelegt (Eggerton 2006) und sich damit den Ruf einer erfolgreichen Transformatorin erarbeitet, der auch bei dem Treuhänderausschuss des Museums einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Mit ihr soll das Paley Center in den besonders für gemeinnützige Organisationen wirtschaftlich schwierigen Zeiten des medialen Umbruchs wieder an Fahrt gewinnen und an die rasante Medienentwicklung anschließen, ohne sein eigenes institutionelles Erbe zu verraten. Doch der Nachholbedarf ist groß. Von enttäuschten

Erwartungen

und schwierigen

Standorten

Von vornherein hatte das Museum ein drängendes Platzproblem. Mit den Ansprüchen wuchs der Bedarf an größeren Räumlichkeiten, zunächst für mehr Lagerkapazitäten, später auch für den Ausbau des Publikumsverkehrs. Der Umzug im Jahre 1991 aus dem kompakten Bürogebäude in der 53. Straße in den nur einen Straßenblock entfernten Neubau in der 52. Straße zwischen der fünften und sechsten Avenue in Manhattan unweit des Museum of Modern Art markierte einen wesentlichen Evolutionsschritt im Selbstverständnis der mit viel Rückenwind aus der Fernsehbranche gestarteten Institution: Das William S. Paley Building reckte sich schlank und doch museal angemessen monumental konnotiert mit den benachbarten Wolkenkratzern um die Wette. Paradiesisch muteten dazu die Raumverhältnisse in dem fünf Jahre später eröffneten Museumsbau in Los Angeles an. Zwar hat dieser nur drei im Vergleich zum 16 Stockwerke zählenden Hauptquartier in New York (von dem nur fünf für Besucher zugänglich sind), konnte jedoch angesichts der entspannten Bebauung in Beverly Hills in räumlicher Breite aus dem Vollen schöpfen und einen vergleichsweise kühn wie ausholenden statt gediegenvornehmen Stil an den Tag legen: ein luftiges Foyer, das bis zur Decke reicht und dem Besucher Transparenz und Offenheit vermittelt, weite Ausstellungs- und Studienräume

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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und breite Treppenaufgänge gehen beinahe schon verschwenderisch mit dem zur Verfügung stehenden Platz um. Doch gleich ob die musealen Standorte von ihren Architekten Philip Johnson (New York) und Richard Meyer (Los Angeles) vielsagend in die Horizontale oder in die Vertikale gestreckt wurden, griffen sich doch in ihren Bemühungen, den gewöhnlichen Fernsehzuschauer und die Fernsehprofis gleichermaßen an sich zu binden, daneben. Schon die basalsten aller Probleme sind offenkundig: Die Parkplatzsituation in New York ist desolat, weil es keinerlei Parkmöglichkeiten gibt, während selbst in der Autostadt Los Angeles trotz eigenem Parkhaus nicht ausreichend Parkplätze vorhanden sind. Während der öffentliche Nahverkehr in New York eine reibungslose Anreise ermöglicht, dafür aber das touristische und institutionelle Umfeld an Unterhaltungs- und Lernangeboten denkbar ungünstige Voraussetzungen für das Fernsehmuseum schafft, stellt der nur rudimentäre Anschluss der Westküsten-Dependance an den öffentlichen Nahverkehr in Beverly Hills ein ernsthaftes Problem für die Adressierung beispielsweise von Schulen dar. Für den gewöhnlichen Besucher erwiesen sich beide Standorte nach anfänglicher Neugierde ob der Exzeptionalität der Einrichtung bald als unattraktiv. In New York wie auch in Los Angeles siedelte sich das Museum dort an, wo es seinen innigsten Verbündeten verortete: die Fernsehindustrie. Abgelegen im Reichenwohnviertel Beverly Hills ohne touristische Hotspots, dafür aber in der Nähe der Produktionsstätten aller großer Fernsehnetworks, kopierte das Museum seine Standortwahl in New York, wo sich das Gebäude in unmittelbarer Nähe zu den Hauptquartieren von CBS, NBC und Fox findet, die jeweils nur maximal zwei Straßenblocks entfernt liegen. Die Folgen für den Besucherkontakt liegen nach Meinung von Rebekah Fisk (PCM) auf der Hand: „We are in a good location for the networks, but not for the audience. That's why the .Media Centre' is working. We are in a tourist area. You are going to the Met, but you don't go see the,Brady Bunch'. There is an audience downtown that likes media, that grows up with media, that works with media. We have an archive that is a great resource for young professionals and creatives in media. I grew up here in New York and Midtown is not a good neighborhood. Before I started working here I would've never come up here" (Rebekah Fisk, Paley Center for Media). Hinzu kommt eine inhaltliche Problematik, die sich in einer ungewöhnlichen Ausstellungsarmut ausdrückt und einerseits auf den architektonischen Grundriss des New Yorker Hauses zurückzuführen ist, andererseits aber auch auf eine allgemeine Ratlosigkeit, wie Fernsehprogramm-Überlieferungen in einer fremden Rezeptionsumgebung wie dem Museum innovativ wie auch ansprechend präsentiert werden können: „Still to come is another, more specialized means of displaying the Museums audio and visual materials" (Schwartz 1980: 93) - daran hat sich bis heute trotz des Aufkommens vielseitiger auf digitalen Technologien basierender Einsatz- und Editierungsmöglichkeiten zumindest im Paley Center for Media nichts geändert. Die „Steven Spielberg Gallery", ein kompakter, holzvertäfelter Raum direkt hinter dem Foyer, dient als zentrale Fläche für wechselnde Sonderausstellungen. Mehrmals pro Jahr

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

werden hier traditionell wie konventionell Themen aus dem reichen Fundus der Fernseh-, Radio- oder übergreifenden Mediengeschichte behandelt. Hier bringt das Museum vorrangig Flachware an die Wände, zeigt in Ausnahmefällen Artefakte in Vitrinen, stellt Zusammenhänge mit schriftlichen und graphischen Beschreibungen und Hintergrundinformationen dar und her und speist einige Bildschirme mit Programmmaterial aus seiner Sammlung. Einige Beispiele sind die kulturpolitische Ausstellung „Window to the Middle East" über den Fernsehbetrieb und Fernsehgewohnheit in den Staaten des Nahen Ostens (2007), die zeitgeschichtliche Ausstellung „Apollo 11: Forty Years Later" über die erste Mondlandung im Jahre 1969 (2009) oder die medienkünstlerische Ausstellung „Beyond TV: New Media Art from Studio IMC" (2006). Nur teilweise konnte hier der Anspruch eingelöst werden, die Besucher zum Teil der Ausstellung zu machen, sie in die Thematik und in das Ausstellungsgeschehen einzubinden. Herausgegriffen wurden diese drei Beispiele, da sie jeweils ambitionierte Ansätze in diese Richtung beinhalten: „Window to the Middle East" wurde als permanentes Ausstellungsprojekt mit zahlreichen Begleitveranstaltungen initiiert, dessen Ziel es sein soll, die arabische mit der westlichen Welt über die biographischen Erfahrungswerte mit dem Medium Fernsehen zu verbinden. „Apollo 11" adaptierte das Theorem der Blitzlichterinnerungen und übertrug es auf ein positiv konnotiertes Fernsehereignis, indem die Besucher animiert wurden, ihre persönlichen Erinnerungen an den Moment in eine digitale Kommentarsammlung zu schreiben, als sie zum ersten Mal die Fernsehbilder von der Mondlandung sahen (vgl. Kapitel III.6.3.2.). „Beyond TV" wiederum war eine komplexe experimentelle Anordnung von künstlerisch utilisierter Digitaltechnik, die den Besucher weniger als Fernsehzuschauer und Medienkonsumenten, sondern vielmehr als audiovisuellen Künstler entwarf, indem mittels des eigenen Körpers und mitgeführten Mobiltelefonen auf den Bildschirmen abstrakte visuelle Abbilder von sich selbst erzeugt werden konnten. Trotz solch zaghafter Versuche, auf Ausstellungsebene Fortschritte bei der Begleitung des Medienwandels zu erreichen, bleiben statische Konzepte und eine mitunter fragwürdige Themenwahl des Museums vorherrschend: Oftmals ist kaum noch zu erkennen, ob es sich bei der zelebratorischen Präsentation eines Studios wie in der Ausstellung „The Fantastic World of Hanna Barbera: Inside the Studio" in Los Angeles oder bei der Fotoausstellung zum Serienspecial der Fox-Produktion „24" um ein auf Basis der kuratorischen Agenda unabhängig entwickeltes Format handelt oder um eine Gunstveranstaltung, um Sponsoren zu umwerben. So werden die Ausstellungsflächen des Museums auch dazu genutzt, um Medienunternehmen zur Selbstpräsentation zu dienen wie im Fall des Softwarekonzerns Microsoft, der im Oktober 2006 in der „Spielberg Gallery" seine Produkte anpreisen durfte, oder auch wie im Fall der Werbeagentur Kirshenbaum Bond + Partners, die dort im Folgejahr unter dem Titel „The Next 20" ihr eigenes 20-jähriges Firmenjubiläum feierte. Auch der Industrieevent „Advertising Week" wird regelmäßig von einer Ausstellung des Branchenverbands International Advertising Association im Paley Center begleitet. Es nimmt nicht wunder, dass diese Ausstellungspraxis im Kreis der Befragten auf Kritik stößt. Fernsehhistorikerin Lynn Spigel (NWU) berichtet von

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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ihrem misslungenen Versuch, einen innovativen Beitrag bei der Ausstellungskonzeption zu leisten und beklagt die intransparente und expertisch nicht nachzuvollziehende Planungspolitik des Museums: „I also wanted to cooperate with the Museum of Television and Radio and create an interactive exhibit there. I had a bad experience there. It was a situation where there could have been a lot better cooperation with the president Robert Batscha who is dead now. I spent an unbelievable amount of grant money making it, but then they decided to just make the space available for ,Nick at Night' instead. It was all for nothing. They only said I could continue it and maybe next year. But for me it was over. It's just institutional politics. It would be nice for professors to do an exhibit in those spaces. But for public exhibitions they don't call upon us at all. They tend to call upon industry leaders. We are not on their boards. It's a big problem" (Lynn Spigel, NWU). Auch wenn das Museum diesbezüglich hauptsächlich unter seinen strengen Hierarchien leidet, die unter anderem verhinderten, dass sich in der Außenstelle in Los Angeles eine eigene kuratorische Agenda entwickeln konnte, da sämtliche Verwaltungs- und Programmentscheidungen in New York fallen und Ideen sowie Strategien generalstabsmäßig nach Los Angeles importiert werden, ist es die ursprüngliche Archividee, die weiterhin die Geschicke des Hauses dominiert und sich auch in der Raumaufteilung niederschlägt: Im Herzen des Museums im vierten Stock befindet sich das Auswahlzentrum, auf dem Besucher an Computerterminals Sendungen aus dem Sammlungsbestand recherchieren und zur Ansicht bestellen können. Die Rezeption der historischen Fernsehsendungen erfolgt schließlich im dritten Stockwerk (ein weiterer Sichtungsraum befindet sich im fünften Stock), wo sie an Einzel- und Gruppenkonsolen abgespielt werden. Die Museumserfahrung ist also eine hauptsächlich televisuelle, zum Teil sogar mit kinematographischen Ausmaßen: Im Untergeschoss des New Yorker Gebäudes ist der größte Projektionssaal des Paley Centers untergebracht, in dem bis zu 211 Zuschauer Platz finden. Zwei weitere Säle finden sich neben einer Galerie mit Fotografien zu Fernseh- und Radio-Themen im zweiten Stockwerk - jeweils mit 90 Sitzplätzen und mit 50 Sitzplätzen, sowie ein kleinerer Seminarraum im fünften Stock. Auf gleicher Ebene findet sich noch eine kurze Flurgallerie mit einer Video-Wand, auf der Fernsehclips zu ausgewählten Themen wiedergegeben werden. Obgleich die Außenstelle an der Westküste durchaus mehr Entfaltungsraum hätte, um neue Formen von Publikumsangeboten im eigenen Gebäude auszuprobieren, beschränken sich die Ausstellungen auch dort auf wechselnde statische Installationen im Erdgeschoss. Ansonsten überwiegen Leinwandsäle und Sichtplätze zur individuellen Rezeption von Fernsehinhalten. Zum Markenzeichen beider Standorte gehört eine Dauerleihgabe von Karikaturkunstdrucken des Zeichners Al Hirschfeld der Margo Feiden Galleries. Die Bilder hängen jeweils in den die einzelnen Sichträume verbindenden Gänge und Treppenhäuser. Doch abgesehen davon gilt: Das Paley Center for Media lädt nicht zum Schlendern ein, nicht zum Verweilen oder Entdecken. Für Besucher, die über keine

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Museumsmitgliedschaft verfügen, gibt es eine maximale Aufenthaltsdauer in den Sichträumen, was die Möglichkeiten einer (Erinnerungs-) Reise in die Fernsehvergangenheit merklich einschränkt. Wer außerdem eine klassische Museumserfahrung erwartet, wird enttäuscht. Weder eine ständige Ausstellung noch verspielte Interaktionsmöglichkeiten finden sich an beiden Standorten.71 Vielmehr muss der Besucher wissen, wonach er sucht: Das Fernsehmuseum nicht als Find-, sondern als Sucheinrichtung; es sei denn, es wird auf die Sammlungsauswahl der Kuratoren vertraut, aus der täglich Vorführungen bestückt werden. Die gescheiterte Transformation zum

Vollblutmuseum

Ebenso wie die frühe Festlegung der Sammlungspolitik und der Themenfoki auf die programmliche Produktebene des Rundfunks die Herausbildung eines ganzheitlichen musealen Ansatzes verhinderte, sorgten später der wirtschaftliche Druck durch eine allgemein angespannte Fördersituation und Probleme grundsätzlicher Art wie die verbesserungswürdige Publikumsakzeptanz für eine kritische Entwicklung des Paley Centers. Im Vergleich zu anderen Museen, die sich mit wesentlichen Aspekten der audiovisuellen Mediengeschichte befassen wie das Newseum in Washington, D.C. oder das National Media Museum Großbritanniens, die jeweils über 700.000 zahlende Besucher im Jahr verzeichnen (vgl. Trescott 2009; Lauener 2009), weisen die beiden Standorte des Paley Centers zusammen weitaus geringere Besucherzahlen von etwa 200.000 im Jahr auf (vgl. Frieden 2004: 26). Eine Begleitfolge war die Einschränkung der Öffnungszeiten ab Mai 2009 am Hauptsitz New York: Statt dienstags bis sonntags nur noch fünf Tage die Woche von mittwochs bis sonntags jeweils 12 bis 18 Uhr (mit einem langen Donnerstag bis 20 Uhr). Diese Vorkehrung mag als weiteres Indiz für die tendenzielle Abkehr des Museums von seiner ursprünglichen Zielgruppe verstanden werden: der allgemeinen Öffentlichkeit, dem gewöhnlichen Fernsehzuschauer. Seit dem Millenniumswechsel sah sich die gemeinnützige Einrichtung durch die sich generell verschlechternde Fördersituation in eine sich immer stärker zuspitzende Abhängigkeit von privaten Spendern gedrängt und entwickelte auf dieser Basis neue Refinanzierungsalternativen, die weit über den klassischen Dank an die Förderer in Form einer Gravierung ihrer Namen in Marmor hinausgehen. Mit spitzer Zunge erklärt Kurator Ron Simon das neue Geschäftsmodell des Paley Centers: „We're still waiting for an opportunity to name a theatre. [... ] [I] t could be your theatre at the right price. There is still space left." Die Benennung einzelner Sitze in den Vorführsälen des Museums bis hin zu den Sälen selbst, des Museumsshops, des Foyers, gar der Treppenaufgänge nach engagierten Spendern mag für diese durchaus reizvoll klingen, verspricht sie doch eine Verewigung im musealen Setting. 71

Schon der damalige Museumspräsident Robert M. Batscha kommentierte im Jahre 1993 die Reaktionen der Besucher: „People think they'll see historic radios and television sets, which we don't have here" (zitiert nach Owen 1993).

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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Einer ähnlichen Reputationsstrategie folgt auch die Herrichtung exklusiver Hinterzimmer und Geschäftsräume innerhalb des Museums, um einflussreiche wie honorige Gäste anzuziehen und ihrem Status entsprechend zu empfangen. So wurde ein Raum in der oberen Hälfte des New Yorker Gebäudes in eine möglichst originalgetreue Nachbildung des Büros von William S. Paley umgebaut, einschließlich seiner persönlichen Mikrophonsammlung, Bücher, einer Hundeplastik, Gemälden sowie seiner Emmy-Trophäen und Möbelstücke. Das Zimmer dient nach Auskunft von Kurator Ron Simon als Empfangsraum für Gäste, die dem Museum besonders am Herzen liegen. Im April 2009 wurde zudem eine zuvor als Büroraum genutzte Fläche zum Kissinger Global Conference Room umgebaut: Hier finden bis zu 40 Konferenz- oder 90 Dinner-Gäste Platz. Verstanden wird diese Versammlungsmöglichkeit museumsseitig als Ausdruck des neuen Anspruchs, sich als global versierte Plattform für Klientel aus dem medialen und politischen Sektor zu positionieren (vgl. Paley Center for Media 2009). Erstmalig fand hier im November 2009 die „International Council Conference" zur Frage „How to Survive and Thrive in the Global Media and Entertainment Economy" mit Medienunternehmern aus aller Welt statt. Geleitet wurde die Diskussion von der Führungselite US-amerikanischer Medienkonzerne, darunter Frank Bennack, Jr. (Hearst Corporation), Jeffrey Bewkes (TimeWarner Inc.), Philippe Dauman (Viacom, Inc.), Leslie Moonves (CBS Corporation) und Jeff Zucker (NBC Universal). Seit Anbeginn seiner institutionellen Entwicklung war es die größte Stärke des Museums, berühmte Namen der Medienbranche für seine Dienste einzuspannen (vgl. auch Merschmann 1995). Während der prominente Gründer William S. Paley immer noch posthum durch eine Nennung im Kuratorium geehrt wird, finden sich dort viele namhafte Mitglieder aus der Medienindustrie und Zeitgeschichte: So sind unter vielen anderen auch Robert Iger (The Walt Disney Company), Glenn Britt (TimeWarner), Regisseur, Autor und Schauspieler Alan Alda („M*A*S*H"), Anchorman-Veteran Dan Rather, Eric Schmidt (Google), Produzent Dick Wolf und Henry A. Kissinger (Kissinger Associates, Inc.) Mitglieder im Kuratorium. Sponsoren wie die Filmregisseure Steven Spielberg und Martin Scorsese unterstützten das Paley Center, indem Sie rares audiovisuelles Material ankauften und restaurieren ließen. Es mag daher nur konsequent erscheinen, dass das Museum seit 2006 bei seinem Veranstaltungsmanagement ausgiebiger auf Business-to-Business-Events setzt, um die bestehenden Bande zu festigen und sie auch erlösversiert für sich zu nutzen. Zugenommen haben vor allem Kolloquiumsveranstaltungen, auf denen hochrangige Unternehmensvertreter Vorträge halten und mit geladenen Gästen diskutieren. Schon im Jahre 2002 wurde unter Robert Batscha der Grundstein für dieses „Media Center" gelegt. Mit den sich dahinter verbergenden Veranstaltungsprogrammen für Akteure der Medien- und speziell der Fernsehindustrie wurden ausschließlich Top-Level-Executives angesprochen, die nun im Paley Center ein neutrales Forum für ihren strategischen Austausch fanden. Von Seiten des Museums ist die Interessenslage eindeutig: „Its fundraising, but it's also a place where ideas can be exchanged", erklärt Ron Simon (PCM). Das Ziel nicht nur einer

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Bewusstseinswerdung, sondern vielmehr noch einer Unersetzlichkeit des Museums für die Medienentscheider führt nach dieser Fundraising-Strategie schlussendlich zu einer besseren Positionierung und Verankerung der Einrichtung inmitten des institutionellen Niemandsland zwischen unternehmerischem und gemeinnützigem Mediendiskurs. Jeder hochkarätige Teilnehmer zahlt einen festgelegten jährlichen Betrag, um Zugang zum „Media Council" zu erhalten und solch exklusiven Veranstaltungen beizuwohnen wie einem Interview mit Christiane Amanpour, der legendären Krisenreporterin von CNN, einem Frühstück mit Joel Hyatt, Mitbegründer von Current TV, einem jungen wie erfolgreichen Kabelfernsehnetwork, das durch seinen zweiten Gründer, den ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore, bekannt wurde, oder einem Lunch mit Jeff Jarvis, dem Medienvisionär und gefeierten Autor des Buches „Was würde Google tun?" Mehrmals im Monat bietet sich die Gelegenheit, den Status Quo, Vergangenheit und Zukunft des medialen Geschäftsgebarens mit ausgewiesenen Experten aus erster Hand zu diskutieren - jedoch nur auf Einladung. So sehr sich das Paley Center for Media durch diese museumsinterne Schwerpunktverlagerung als umtriebiger Akteur der internationalen Medienbranche geriert, wird diese Strategie hausintern von der Bildungsabteilung kritisch beobachtet. Dale Zaklad weist während der Befragung darauf hin, dass sie die herkömmlichen an die allgemeine Öffentlichkeit gerichteten Publikumsprogramme in dieser Entwicklung tendenziell im Nachteil sehe, da das Geld mit dem Erfolg wandere, und dieser werde vor allem mit den Veranstaltungsprogrammen für Industrievertreter erzielt, die hohe Geldsummen bezahlten, um die exklusiven Foren als Mitglied besuchen zu dürfen und Impulse für die eigenen Geschäftsentscheidungen zu erhalten. Diese Umorientierung des Museums könnte eine kritische Identitätsverschiebung zur Folge haben, welche die öffentliche Mission gefährden würde: Wenn nicht-öffentliche Sitzungen für hochrangige Führungskräfte als effektive Einkommensquelle zur attraktiven Angebotsalternative werden, könnten sie dem Dienst an der Allgemeinheit bald den Rang ablaufen. Folglich besteht die Gefahr, dass sich das Paley Center hauptsächlich zu einem Ort für ein nur kleines, eng umrissenes und selbst auserlesenes Publikum entwickelt: So wie es auf einem unternehmerischen Level gestartet wurde, nähert es sich diesem nun wieder an. In diesem Zuge wurde auch die zweite Umbenennung des Museums vorgenommen: Nach dreijähriger Tätigkeit als Präsidentin taufte Pat Mitchell das Museum of Television & Radio im Juni 2 0 0 7 in Paley Center for Media um. Schon im Jahre 1992 hatte es nach dem Tode Paleys Diskussionen darüber gegeben, die Einrichtung posthum nach seinem Gründer zu benennen (Smith 1990: 599). Dass nun 15 Jahre später die Entscheidung fiel, den Schritt zu wagen, sich der renommierten und weltweit anerkannten Marke M T & R zu entledigen, dafür mit dem neuen Titel seinen Gründer zu ehren, sich einem breiteren, sogar allumfassenden massenmedialen Spektrum zu öffnen und sich des Museumsbegriffs zu entledigen (obgleich er in der internen Kommunikation weiterhin geläufig bleibt), kam in letzter Konsequenz überraschend. Schließlich habe es eine gewisse Ironie, so Ron Simon, dass sich das Center auf einmal in nie dagewesener Explizität seinem

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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Gründer zuwende, wo es doch so viel Mühe gekostet habe, sich in den Jahrzehnten zuvor von der Überfigur zu distanzieren: ,,[W]e wanted to change our name to media, so we are not only focused exclusively on television and radio any more, but also include film, newspapers - ,media' is the word. And we also left out the word museum, because they want to involve a new generation into the museum: So the word museum seemed antiquated. Other words were .institute' or .center' that allowed for the whole idea of to be a connective source. So center was a good work, but .Center for Media' alone would not work - it's too plain. We needed a name that could personalize it. So actually our naming corporation came up with the idea: Why don't we try Paley? It wasn't like a salute to William S. Paley, but it was a way to connect back to the early days - but also have a name like the Whitney Museum: When people say, they go to the Whitney - or the Guggenheim. So it's not really Paley in a way: It's a name that has historical over-terms, but it also gives a kind of concreteness to the institution" (Ron Simon, PCM). Diesen Ausführungen zufolge handelte es sich bei der zweiten Umbenennung also eher um eine Markenbildungsstrategie,72 gepaart mit neuem Elan, sich sammlungsspezifisch zumindest etwas in Richtung digitaler Medienproduktionen zu öffnen, aber keineswegs auch die übrigen im digitalen Zeitalter noch existenten Massenmedien wie Zeitungen oder Film zu berücksichtigen. Das aufgefrischte Selbstbild des Museums hat demnach primär wirtschaftliche Hintergründe, die einem Medienwandel folgen, bei dem das Internet durch die fortschreitenden Digitalisierungstendenzen und plattformübergreifenden Vermarktungsstrategien die klassischen Medien Fernsehen und Radio in sich aufzusaugen verspricht. Dies entspricht der weithin starren Hauspolitik des Museums, in seinen Evolutionsschritten den maßgeblichen Wandlungstendenzen der Fernsehindustrie zu folgen, nicht aber dem Nutzungswandel. So konnte und kann sich das Paley Center nicht aus dem Dilemma befreien, in einem sich umkehrenden Machtverhältnissen gehorchenden Medienumfeld einem vermeintlichen Impulsgeber zu folgen, der durch seine korporativen Strukturen zwar leicht(er) adressierbar ist, jedoch auch hauptsächlich nur noch auf Nutzertrends und -initiativen reagieren kann. Eine dem Media Council ähnliche Einbindung der Nutzer auf ihren vielgestaltigen Interessens- und Aktivitätsebenen lässt beim Paley Center for Media noch auf sich warten. Die wesentlichen Erweiterungen und Neuerungen im Bereich der Businessprogramme fanden bisher kaum ihre Entsprechung in einer Weiterentwicklung der allgemeinen Publikumsangebote. Vereinzelt wurden zwar Themen des „Media Council" im Nachhinein auch für die Allgemeinheit in Veranstaltungen wie Seminaren oder Workshops behandelt wie der Einfluss von Blogs auf den US-Präsidentschaftswahlkampf. Doch kamen die neuen Kommunikationsinstrumente wie Blogs, Podcasts und Video-on-Demand-Angebote (noch) nicht in einer Weise zur Geltung, die weniger auf das Prinzip der Exklusivität, als vielmehr auf das der Pluralität setzt: Um bildlich zu sprechen, sind es vermehrt noch die 72

Zur essentiellen Bedeutung der Markenbildung als Managementinstrument für Museen vgl. John/ Günter 2008.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Hochseekapitäne bzw. Lenker der Fernsehveranstalter, die in der Leuchtturminstitution ihre Belange und Sicht der Dinge zum Strahlen bringen dürfen, nicht aber ihre Passagiere alias die Mediennutzer. Viel Potenzial wurde in der Vergangenheit verschenkt durch den Sammlungseifer, den das Paley Center an den Tag legt, weil es über gute und bessere Kontakte zu den Produzenten verfügt als andere Institutionen: Wo andere Einrichtungen mit bescheideneren Sammlungsumfängen wie das Museum of Broadcast Communications oder die Deutsche Kinemathek erfolgsversprechende Publikumsprogramme entwickelten bzw. entwikkeln mussten, um sich ihre Relevanz zu erarbeiten und ihre Existenzberechtigung zu erhalten, verharrte das Paley Center weitestgehend in einer passiven Angebotshaltung, auch wenn es bisweilen seine Flexibilität und Reaktionsschnelle unter Beweis stellt wie nach einem prominenten Todesfall (z.B. Michael Jackson) und innerhalb kürzester Zeit eine Retrospektive mit Programmmaterial aus den eigenen Sammlungsbeständen zur Vorführung kompiliert. Die archivische Ausrichtung des Hauses hemmte die Ausbildung einer selbstbewussten Museumsidentität, die nun mit allen Mitteln und vor allem zügig nachgeholt werden soll. Die Kritik aus den eigenen Reihen zielt auf die als unausgegoren bewerteten Interpretationsleistungen des Museums, die sich größtenteils darauf beschränken, kollektive Vorführungen mit anschließender Diskussion und Befragung von Beteiligten anzubieten. Die genuine Aufgabe eines Museums, seinen Besuchern bei der Interpretation seiner Sammlungsinhalte mit möglichst zielgenauen Vermittlungsangeboten zu assistieren, die im besten Fall auf die individuellen Wissens- und Erfahrungshintergründe des Besuchers eingehen, wird auf diese Weise nicht erfüllt. Die Bildungsabteilung beklagt ihre nachgeordnete Stellung in der museumsinternen Hierarchie, die sich unter anderem durch eine Benachteiligung in der Mittelverteilung und der unausgeglichenen Streichung von Personalstellen ausdrücke, sagt Dale Zaklad. Kurz: Das Museum spart nach ihrer Ansicht an den falschen Enden bzw. an seinem eigentlichen Herzstück, auch weil es dadurch eine Unterversorgung jener schulischen und familiären Zielgruppen riskiere, die ein besonderes Lern- und Erinnerungsinteresse daran hätten, die musealen Programmangebote zu nutzen. Was Kurator Ron Simon zur technischen Ausstattung anmerkt, kann daher auch als Urteil über die Leistungen bei der Engagierung der Besucher gelten: „Over the years we were state of the art, now we're pretty much behind the curve". Weder die Akzeptanz bei der akademischen Nutzerschaft noch jene bei festivalaffinen Fans und den Entscheidern in den Fernsehunternehmen ist das Problem des Centers. Vielmehr findet es sich hin und hergerissen zwischen einerseits solch selbstmotivierten Heavy Users und Professionals und andererseits den in ihrer Vielschichtigkeit schwer zu adressierenden Zielgruppen der abstrakten wie breiten Bevölkerung, die allesamt mit gleicher Hingabe berücksichtigt werden wollen, was aber aufgrund ökonomischer Imperative offenbar nicht gelingen mag. Bei der Befragung äußert Ron Simon zahlreiche Ideen der Reorganisation und Erweiterung des kuratorischen, pädagogischen und allgemeinen Erlebnisangebots, doch räumt er zugleich die geringe finanzielle Potenz des Museums

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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ein, die erst erlangt werden müsste, um die Vorhaben tatsächlich umzusetzen. Die meisten der von ihm zum Zeitpunkt der ersten Befragung im Sommer 2006 hoffnungsfroh skizzierten Veränderungen wie eine stärkere Hinwendung zu neuen Ausstellungsmodellen und mehrerer „kreativer Innovationen" architektonischer Natur waren auch drei Jahre später noch nicht realisiert. Dafür setzte das Museum verhältnismäßig schnell wesentliche Akzente auf seinem altbewährten Terrain, indem die Sammlungsbestände online durchsucht und auch einzelne digitalisierte Clips historischer Fernsehsendungen auf der Museumswebsite angeschaut werden können. So steht das Paley Center noch vor einem langwierigen Prozess, dessen Ende und Erfolg ungewiss bleiben. Wie nie zuvor gilt es die institutionelle Identität zu verteidigen, ohne den Anschluss an die Medienentwicklung, die Industrie, aber auch nicht an die Nutzer zu verlieren.

4.3.1.2. Schwach trotz lokaler Stärken: Das Museum of Broadcast

Communications

Wie ähnlich sich die öffentlichen Initiativen rund um die Belange des Fernsehens und die Bewahrung seiner Überlieferungen in den 1970er und 80er Jahren waren, illustriert auch die Genese eines weiteren Museums, das sich in Chicago im Schatten des Museum of Broadcasting, jenes mächtigen New Yorker Branchenzöglings oder auch „Temple of T V " (Kolbert 1993), zur Touristenattraktion mit bis zu 225.000 Besuchern im Jahr 73 mauserte. Auch im mittleren Westen der USA erkannte ein rühriger Fernseh- und Radioproduzent eine dringende Notwendigkeit darin, das sich verflüchtigende Erbe des Rundfunks zu bewahren. Das elf Jahre nach dem New Yorker Vorbild eröffnete Museum of Broadcast Communications zielte stärker darauf, mit bescheideneren Mitteln auf einer lokalen Publikumsbasis Öffentlichkeit herzustellen für historische und erinnerungsrelevante Themen des Fernseh- und Radioschaffens. Die Presse vor Ort honorierte diese engagierte Zielsetzung schon vor der Eröffnung mit reichlichen Vorschusslorbeeren: „It may not be a big institution yet, but it has some first-class ambitions" (Ibata 1987). Dabei unterschieden sich die Beweggründe des Museumsgründers Bruce DuMont nicht sonderlich von jenen William S. Paleys. Der Neffe des bereits zu Lebzeiten als Fernsehpionier und Visionär bzw. „techology guru" verehrten Ingenieurs Allen B. DuMont (Weinstein 2004:3), der das für sein Wettrennen mit dem Rivalen NBC um die Vorreiterschaft beim Ausbau des kommerziellen Fernsehbetriebs in den USA berühmt gewordene DuMont Television Network gegründet hatte, das jedoch bereits 1956 seinen finanziellen Schwierigkeiten erlag und seinen Betrieb einstellte,74 erklärt heute, die Idee, ein solches Museum gerade in Chicago auf die Beine zu stellen, sei dadurch entstanden, dass er es

73

Nach Angaben von Museumsleiter Bruce DuMont wurde dieser Wert im Geschäftsjahr 2003 erreicht. Das Museum gehörte damit zu den 15 meistbesuchten kulturellen Destinationen Chicagos (Zorn 2007).

74

Die Diskussion um die Verantwortung Allen B. DuMonts an dem Fiasko seines Senders zementierte seinen Ruf als leidenschaftlicher Fernsehmann noch, weil er trotz aller wirtschaftlicher Probleme an der Aufrechterhaltung des Sendebetriebs festhielt (vgl. Auter 2004: 767).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

nicht habe fassen können, wie nachlässig ein lokaler Fernsehsender mit seinen eigenen Programmüberlieferungen umgegangen sei. Damals im Jahre 1982 erschien die simple Tatsache, dass eine der Fernsehindustrie gänzlich überantwortete Fernseherbe-Verwaltung auch gleichzeitig bedeutet, dass der öffentliche Zugang zu den Zeugnissen der Fernsehgeschichte von unternehmerischen Strategien und damit einhergehender Pflege des Materials abhängt, dem selbst als Fernsehproduzent arbeitenden DuMont als skandalös. Der als Enthüllungsreporter im Zuge des Watergate-Skandals und als Produzent von lokalen Nachrichten- und Dokumentationssendungen wie „Noonbreak with Lee Phillip" und „Channel 2: The people" bekannt gewordene DuMont präsentierte seine Idee eines Museums für Rundfunkkommunikation der regionalen Dependance der National Academy of Television Arts and Sciences als Mitglied ihres Vorstands und stieß damit auf offene Ohren. Gerade auf lokaler Ebene war das Interesse für die Errichtung eines solchen öffentlichen Instituts für die Bewahrung, Zelebration und allgemein Thematisierung der Rundfunkvergangenheit an konkreten Überlieferungen und Zeitzeugen groß: Bereits in der Frühphase der Entwicklung fanden sich auf korporativer Ebene Unterstützer, die bereitwillig Geld- und Sachmittel spendeten und Räumlichkeiten zur Verfügung stellten, so dass eine bald fünfstellige Summe für die initiale Museumsplanung zusammenkam (vgl. Zorn 1985). Auch viele Medienmacher Chicagos, seien es Radioreporter, Fernsehmoderatoren oder Zeitungsjournalisten, beteiligten sich laut Presseberichten finanziell an der gemeinnützigen Unternehmung (Heard 1992). Die Begeisterung für das Museumsprojekt auf den Seiten lokaler Fernseh- und Radiosender kam nicht von ungefähr: Bruce DuMont, der durch das positive Feedback vonseiten der Rundfunkakteure als einer von ihnen in unermüdlicher Vehemenz für mittel- und sachbezogene Unterstützung warb, gelang es, durch gewandte Öffentlichkeitsarbeit ein Bewusstsein in der öffentlichen Verwaltung und der Rundfunkveranstalter für die Vorteilhaftigkeit eines solchen Museums zu schaffen. DuMonts strategischer Erfolg gründet sich auch auf seine lokale Bekanntheit als politischer Analyst und Kommentator, der durch Gastauftritte bei CNN und in der renommierten Sendung „Washington Journal" auf dem Dokumentationskanal C-SPAN auch ein bundesweites Publikum erreichte, aber mehr noch durch seine eigene Talkshow „Beyond the Beltway", die seit 1980 (damals noch unter dem Namen „Initial Politics") auf Sendung ist und mitllerweile allwöchentlich von über 60 Radiostationen in den USA sowie von einem lokalen öffentlichen Fernsehsender in Chicago ausgestrahlt wird. Das Museum of Broadcast Communications war von vornherein weniger als archivische Einrichtung, sondern vielmehr als thematisch geographisch-regional ausgerichtete Gedächtnisorganisation konzipiert: „Our goal is to be more than a preserver of content", sagt Bruce DuMont. Das Museum solle zu einem führenden Ort für die Erforschung der politischen Kommunikation rund um den Erdball werden, formulierte er seinen Anspruch Mitte der 1990er Jahre (zitiert nach Pridmore 1995). Der zudem sehr viel deutlicher ausgeprägte Radiofokus des Museums im Vergleich zur traditionell eher stiefmütterlichen Behandlung des Funkmediums durch das Paley Center for Media verspricht

IVA. Museumsfemsehen,

Fernsehmuseen

465

eine ganzheitlichere und synergetischere Aufarbeitung der Rundfunkgeschichte, die zweifellos der bimedialen Aktivitäten seines Gründers geschuldet ist. Geographische

Synergien

Kurz nach der Eröffnung des Museums reiste Bruce DuMont nach New York, wo er sich mit dem damals bereits 86-jährigen William S. Paley traf, u m mit ihm unter anderem über eine mögliche inhaltliche Zusammenarbeit zu sprechen. Paley sei begeistert davon gewesen, dass ein weiteres Museum zur Geschichte von Fernsehen und Radio eröffnet worden sei, zumal er selbst ein gebürtiger Chicagoer war. Es brauche Anstrengungen an möglichst vielen unterschiedlichen Orten, u m der Aufgabe gewachsen zu sein, das Rundfunkerbe zu bewahren, habe Paley im Gespräch unterstrichen, erinnert sich DuMont: „So the fact that there would be an institution that was going to be out there that was national in scope, but was looking to focus on midwest personalities and contributions of mid-westeners, he saw that as a plus. And he said: When I foresee the day that there will be museums of broadcasting in many cities around the United States" (Bruce DuMont, MBC). Das Zusammenspiel zwischen der regionalen Perspektive und der Musealisierung des nationalen, später auch globalen Fernseh- und Radiobetriebs fand hauptsächlich Ausdruck in einer thematischen Schwerpunktlegung auf einzelne Genres: Seit Jahresbeginn 1987, also noch vor der eigentlichen Eröffnung des Museums, wurden fortlaufend jeweils täglich u m 22 Uhr die lokalen TV-Abendnachrichten aufgezeichnet, auch heute noch. Wenn DuMont betont, dass mit dieser „ongoing video history of Chicago as determined by the 10'o'clock news" die ausgewiesene Lokalexpertise erschöpft sei, entspricht dies zwar dem gewachsenen Anspruch einer Gedächtnisinstitution von nationalem Rang, doch deutet nicht zuletzt der Sammlungskern auf eine starke lokale Färbung hin: „Early on in the institutions life there were large donations from local stations, local networks as well as individuals, individual collectors", erklärt Museumsarchivar Daniel Berger. Auch wenn die Sammlung spätestens seit den 1990er Jahren verstärkt themenversiert ergänzt wurde und zusätzliche Sonderbereiche wie die Sammlung von Dokumentarfilmen fürs Fernsehen angelegt wurden, die keiner genuin geographischen Stoßrichtung zugeordnet werden können, atmet das Museum noch immer den Geist des Fernseh- und Radioschaffens abseits der großen Produzentenmetropolen Los Angeles und New York, obwohl es dem Museum nach und nach gelang, auch auf nationalem Parkett Achtungserfolge zu erzielen und mit wachsenden Sammlungsbeständen Alleinstellungsmerkmale auszubilden, wie DuMont am Beispiel des Talkshow-Formats beschreibt: „When we started we looked at the Chicago history. What is the most important thing? Obviously shows that were produced here locally. That was the first level of things that we gathered. Then someone offered us, there was a local show that also was actually syndicated, called ,Kup's Show'. It was a high end talk show. We ended up with all the tapes. Couple of weeks later I got a call: NBC wanted to destroy all of the

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Tom Snyder shows, which was the definitive talk show/late night show in America in the 70 s. They were going to throw them away, we saved them. They sent it all up here. Couple of weeks later I got a call about the David Susskind show. So within three months we ended up with three talkshows: large collections. So the talkshow genre became an important genre for us to grow with" (Bruce DuMont, MBC). Die Sammlung des Museum of Broadcast Communications umfasst nach Angaben von Archivar Daniel Berger etwa 90.000 Stunden an Fernseh- und Radiosendungen, darunter auch über 3.700 Dokumentationen, unter anderem sämtliche „Frontline"-Magazinsendungen aus über 20 Jahren von WGBH in Boston. Die ursprünglich sehr starke und sammlungsleitende Hinwendung des Museums zu regionalen Themen ist vor allem auf die Verbundenheit DuMonts mit seiner Heimatstadt Chicago zurückzuführen, in der er sein gesamtes Berufsleben verbracht hat. Außerdem bot sich damit ein vielversprechender Ansatzpunkt, um das zweite Fernsehmuseum der USA von dem Verdacht einer bloßen Imitation des New Yorker Vorbilds zu befreien. Die Strukturierung der musealen Aktivitäten nach einem starken Lokalfokus machte doppelt Sinn: Inhaltlich wurde die Vorreiterleistung des Museum of Broadcasting in New York um eine wichtige regional spezialisierte Expertise ergänzt, und außerdem wurde das Risiko gemindert, dass sich beide Institutionen bei der Anwerbung von Fördermitteln ins Gehege kommen. Der breite Rückhalt für die Chicagoer Museumsinitiative kam daher auch nicht aus den Chefetagen von ABC, CBS und NBC, sondern von Chicagoer Lokalsendern, mit der Stadt und ihrer Mediengeschichte verbundenden Rundfunkpionieren wie dem Journalisten Mike Wallace („60 Minutes") und Fran Allison, Schauspielerin und Sängerin in der populären Puppenshow „The Kukla, Fran and Olli Show", und von assoziierten Branchengrößen wie Arthur C. Nielsen Jr., Chef der A.C. Nielsen Company, des führenden Unternehmens zur Ermittlung von Einschaltquoten in den USA. Hinzu kamen bald die Talk-Größen Oprah Winfrey und Jerry Springer, die ihre Karrieren in Chicago begannen, ihrer Stadt teils über Jahrzehnte treu geblieben sind und sich dankbar zeigten, dass ihre Geschichte mit musealen Weihen erzählt werden sollte. Während die Spende der populären Talkmasterin Oprah Winfrey, die dem Museum über ihre Stiftung 250.000 USDollar zur Verfügung stellte, ihrem generellen philanthropischen Engagement entsprach, überraschte die 200.000 Dollar-Spende des Talkmasters Jerry Springer, der mit seiner Show zum „cultural icon" avancierte (Markham-Smith/Hodgson 1999), diese jedoch als Beispiel des „Trash-TV" bzw. als „carnivalesque form of TV talk" bekannt wurde, die das Unterhaltungsfernsehen „to new levels of grotesquerie" führte (Timberg 2004:2259). Umso schwerer wog diese breite Protegierung des Museums aus sämtlichen kulturell höher oder niedriger bewerteten Sphären des Rundfunkschaffens: In einer Pressemitteilung dankte DuMont vollmundig: „The generous donation from Jerry Springer will help us create entertaining and educational exhibits and will help us build a truly world-class broadcast museum" (Museum of Broadcast Communications 2006). So wie die lokalen Wurzeln innerhalb der Genese der musealen Konzeption stets sichtbar geblieben sind, ist auch die Prägung des Museums durch die persönliche auto-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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biographische Entwicklung seines Gründers offensichtlich: Wuchs die Sammlung einerseits durch pragmatische Konstellationen, indem die begeisterungsfähige lokale Rundfunkwirtschaft und eine Vielzahl honoriger Fernseh- und Radio-Akteure von sich aus an das Museum herantraten, war es andererseits Bruce DuMonts bestimmender Einfluss auf die Museumsentstehung und seinen Fortbestand, der auf einem unerschütterlichen Glauben an Chicagos Bedeutung als „a center, perhaps the center, of early broadcasting in America" (Pridmore 1995) beruhte und erst die existentielle Grundlage sowie eine öffentliche Stimmung dafür generierte, dass die Expansion der Einrichtung vorangetrieben werden konnte. Zwischen Freizeitvergnügen und Seriosität Die Publikumsorientierung des Museum of Broadcast Communications wird bereits an den Schlüssen deutlich, die organisationsintern aus dem öffentlichen Auftrag des Museums gezogen werden: „Our collection is held in the public trust", konstatiert Museumsarchivar Daniel Berger. Weder werden die Sammlungsbestände als eigener Besitz deklariert, noch werden sie als Leihgabe der Fernsehveranstalter und Urheber aufgefasst, sondern zu einem öffentlichen Kulturgut erklärt, das der Allgemeinheit gehört. Diese offensive wie idealistische Verschweigung des rechtlichen Status Quo zugunsten der Idee eines Rundfunks im Dienste und Besitz der allgemeinen Öffentlichkeit reicht zwar nicht soweit, dass das Museum bestehende Rechte verletzen oder anderweitig Tatsachen schaffen würde, die mit der Gesetzeslage konfligieren könnten. Dennoch hat die dahinterstehende Auffassung bereits ein derart deutliches Zeichen gesetzt, dass sich viele Rechteinhaber von der scheinbaren Kompromisslosigkeit der Idee, Rundfunkwerke grundsätzlich als Allgemeingut zu betrachten, anstecken ließen und nur allzu gerne bereit waren und sind, ihre Werke für die Museumszwecke freizugeben, wozu auch in steigendem Maße die Zurverfügungsstellung über das Internet gehört. Im Gegensatz zur Devise des Paley Centers for Media, eine Institution zu sein, die in erster Linie das Vertrauen der Fernsehwirtschaft genießt, weil sie die Interessen der Rechteinhaber schützt, hat sich das Museum of Broadcast Communications eine hohe Reputation als Agent des an der Rundfunkgeschichte und seinen Hervorbringungen interessierten Rezipienten - sei er Forscher oder Laie - erarbeitet. Dem Haus gelang in seiner über zwei Jahrzehnte andauernden Entwicklungsgeschichte, die gleichsam auch die Geschichte einer kontinuierlichen Expansion war, die stetige Verbesserung der Integration der Mediennutzer vor Ort in Chicago sowie von Touristen durch die starke Konzentration auf Chicago als Dreh- und Angelpunkt des Rundfunkschaffens. Die dadurch bereits auf Sammlungsebene herausgebildeten Alleinstellungsmerkmale wurden komplementiert durch eine geschickte Einbindung des Museums in die kulturelle Infrastruktur der Metropole. War der erste Standort des Museums in dem Wohn-, Büro- und Einzelhandelskomplex River City im Chicagoer South Loop nicht mehr als eine Notlösung, weil zu weit vom Stadtzentrum und den attraktiven touristischen Anlaufpunkten

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

entfernt,75 verbesserte sich die Publikumsresonanz mit dem Umzug ins städtische Kulturzentrum Chicagos im Jahre 1992 nach dem ausgelaufenen Mietverhältnis in der River City schlagartig. Äußerten sich ursprünglich vorrangig die Makler positiv über die Ansiedlung des Museums, weil es der tristen und unübersichtlichen River City „a touch of class" verleihen sollte (Ibata 1987), profitierte nun das immer noch recht junge Museum von der Strahlkraft eines der ersten frei öffentlich zugänglichen Urban Cultural Center der USA (vgl. Madigan 2004: 182). In dem 1991 umgewidmeten Gebäude, das 1897 errichtet worden war und zuvor der öffentlichen Zentralbibliothek Chicagos als Heimstätte diente, bezog das Museum Räumlichkeiten im ersten und zweiten Stock zur Miete. Inmitten von Tanzstudios, Theatern, Gallerien und öffentlichen Ausstellungsräumen, die mit kostenlosen Musik-, Tanz-, Film- und Theatervorführungen sowie Vorträgen, künstlerischen Performances und speziellen Veranstaltungen für Familien lockten, entwickelte sich das Museum zum Publikumsmagneten: Obwohl sich die Museumsfläche um etwa 400 auf ca. 900 Quadratmeter reduzierte, stieg die Zahl der Besucher von 75.000 pro Jahr noch am alten Standort auf 185.000 am neuen an (Johnson 1997). Zudem fungierte das Kulturzentrum als erste Anlaufstelle für Touristen und zugleich als Empfangsort für Ehrengäste der Stadt. Als „The Peoples Palace" (Chicago Cultural Center o.J.) trug das Kulturzentrum maßgeblich zur wachsenden Popularität des Museums bei und gab die Stoßrichtung bei der Adressierung potenzieller Besucher vor: Primär sollten Flaneure angesprochen werden, was die Fokussierung auf die Rezipientenerfahrung rund um das Fernsehen und Radio innerhalb der Ausstellung noch weiter verstärkte. Fortan zielten die Ausstellungsstrategien auf die Optimierung der Ansprache des gewöhnlichen Mediennutzers, der sich in den Angeboten des Museums erlebnis- und erinnerungsreich wiederfinden sollte, so auch nach Auszug aus dem Kulturzentrum zum Jahreswechsel 2003/2004, als das Museum damit begann, sein erstes eigenes Gebäude im Zentrum Chicagos an der Kreuzung McKinzie & State Street unweit des Trump Towers zu planen. Der neue Museumsstandort, dessen Fertigstellung aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten erst frühestens für das Jahresende 2011 in Aussicht gestellt wird (Lazare 2010), verströmt aus allen Poren die Anmut eines Erlebniszentrums für jedermann. Konzipiert als lichter Neubau mit einer imposanten Glasfront, die den Blick von der Straße auf das Foyer im Erdgeschoss sowie auf die Ausstellungsflächen im ersten und zweiten Stockwerk freigibt, verfolgt das Museum of Broadcast Communications einen ähnlichen architektonischen Ansatz wie das Newseum (vgl. Kapitel IV.4.3.1.4.): Das Haus möchte nicht mit steinerner Opulenz beeindrucken, sondern gleich seiner medialen Themen durch dynamische, im doppelten Sinne bewegende Schauwerte neugierig machen und propagiert gleichzeitig Transparenz. Die einladende Offenheit des Gebäudes soll nach den Planungen von Bruce DuMont in den inneren Werten, das heißt in den einzelnen räumlich zueinander in Bezug gesetzten Museumsarealen eine Fortsetzung finden. 75

In der bundesweiten Berichterstattung wurde gewarnt: „If the museum has a drawback, it is its location" (Schmidt 1990).

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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Gesetzt wird auf eine enge Anbindung an die Erfahrungswerte der Zuschauer, wobei sich dieses noch nicht in konkreten Interaktionsmodellen niedergeschlagen hat. DuMont stellt die Qualitäten des Museums als Think Tank und Instanz des Wissensaustauschs in den Vordergrund. In der Ausstellungskonzeption bleiben jedoch herkömmliche monodirektionale Kommunikationsangebote vorherrschend. War das Museum in seinen ersten Jahren noch angewiesen auf inhaltliche Unterstützung von außen - „Jazz on Television" hieß im Eröffnungsjahr 1987 eine Gastausstellung des Museum of Broadcasting (Daley 1987) - setzte es später immer mehr eigene Akzente und konzentrierte sich auf die gleichgewichtete Berücksichtigung von Fernseh- und Radiogeschichte. Konzeptionell blieb sich das Museum in den Folgejahren treu: Bis heute gehören die Fernsehübertragungen der historischen Debatten der US-Präsidentschaftswahlkämpfe zur besonderen Expertise des Museums, allen voran das erste Fernsehduell zweier Präsidentschaftsaspiranten von 1960, als sich John F. Kennedy und Richard Nixon eine spannende Auseinandersetzung in Chicago lieferten. Eine der originalen Fernsehkameras, welche bei der Übertragung für die Nahaufnahmen Kennedys eingesetzt wurde, befindet sich im Fundus des Museums und bildet seit Anbeginn der Museumsplanungen den Nukleus der Sammlung. Hinzu kamen bald zwei weitere Spezialexpertisen: Die „Radio Hall of Fame" und die „Advertising Hall of Fame", wohingegen Letztere mittlerweile nicht mehr vom Museum of Broadcast Communications betrieben wird. Die Ruhmeshallen zur Ehre prägender Akteure der Medienindustrie warteten mit Fotografien und Beispielen aus dem Schaffensspektrum des jeweils Geehrten auf. Hinzu kam das sogenannte „Sportscaster Cafe", in dem Radio- und Fernsehüberlieferungen legendärer Vertreter der Live-Reportage abgespielt und an Ereignisse der Baseball-, Football-, Basketball-Geschichte als populärste Beispiele des US-amerikanischen Massensports erinnert wurde. Entsprechend der stark familienlastigen Besucherschaft im Kulturzentrum Chicagos bot das Museum darüber hinaus auch einige kurzweilige Betätigungsangebote wie die Möglichkeit, sich als Nachrichtensprecher zu versuchen. Das neue Zuhause des Museums wird nach Angaben von Bruce DuMont etwa 4.600 Quadratmeter Ausstellungsfläche und ca. 1.900 Quadratmeter Lagerraum bieten. Neues wie altes Herz des Museums ist das sogenannte „Media Cafe" im Erdgeschoss: Hier wird dem Besucher der Zugang zu den audiovisuellen Sammlungsbeständen ermöglicht. Das Flächenverhältnis zwischen Fernseh- und Radiothemen ist noch ausgewogener als zuvor: Dominierte bisweilen das Fernsehen durch seine attraktive wie anschlussfahige und inszenierungsfreudige audiovisuelle Präsenz die Museumserfahrung (vgl. Johnson 1997), soll zukünftig nicht mehr zwischen den Medienformen, sondern vielmehr thematisch nach Genres differenziert werden. Leitend ist hierbei eine ganzheitliche Strategie hinsichtlich der Überlieferungsgattungen: Obwohl weiterhin das Sendeprodukt, also die Programmebene im Vordergrund stehen soll, werden auch Realien und Kontext-Dokumente aus der Rundfunkgeschichte in die Ausstellungen eingebunden. Die mittleren zwei der insgesamt vier Stockwerke des neuen Gebäudes werden Ausstellungen vorbehalten sein: Im ersten Stock werden die Themenbereiche Music & Variety,

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Comedy und Drama behandelt sowie unter dem etwas abstrakten wie vieldeutigen Titel „Transitions" die rasante Verbreitung des Fernsehens in den USA in den 1940er und 50er Jahren. Im Zentrum der Ausstellungsfläche sollen zwei nachgebaute historische Wohnzimmereinrichtungen aus den 1940er und 70er Jahren Erinnerungen an und Faszination für die aus heutiger Sicht fremd gewordene private Medienrezeption früherer Generationen wecken. Diese Idee war bereits ein Bestandteil der Gründungskonzeption: Damals erinnerten die sogenannten „Decade Rooms" an die 1930er bis 1980er Jahre (Popson 1986). Im zweiten Stock wird Einblick gewährt in die Geschichte und Hintergründe von Game Shows, Reality-TV, Sportberichterstattung, Kindersendungen, Talk Shows sowie Nachrichtenprogrammen und speziell der TV-Duelle der Präsidentschaftskandidaten. Hinzu kommt eine kleine Medienstation, die sich mit dem Thema Religion in Radio und Fernsehen befasst. Auch gibt es eine Fläche für Wechselausstellungen und um Raum zur Verfügung zu haben für eine zukünftige thematische Expansion der Dauerausstellung. Unter anderem soll auch die Geschichte des Einzelhandels rund um Rundfunkgeräte und weitere medienspezifische Produkte erzählt werden. Bruce DuMont gibt die Zielrichtung der Ausstellungskonzeption vor: „The museums experience is the tourist experience." Spaß soll auf Ernsthaftigkeit treffen, wie es auch der Fernsehbetrieb selbst vormacht. Das Museum of Broadcast Communications wird nach Aussage seines Leiters seine Aktivitäten in Zukunft nach einem Zwei-Ebenen-Modell strukturieren: Die physische Museumserfahrung vor Ort richtet sich demnach an ein möglichst breites Publikum vom Kindes- bis zum Seniorenalter und ist in erster Linie auf kurzweilige Unterhaltung mit der Option zur Befriedigung eines tiefergehenden Informationsbedarfs ausgelegt. Besucher können sich hier „in a more relaxed atmosphere" (Bruce DuMont, MBC) mit der Rundfunkgeschichte in Beziehung setzen. Hierzu sollen unter anderem auch zwei Studios, eines für die Fernseh-, eines für die Radioproduktion, beitragen, die vielseitigen Einsatzmöglichkeiten für Publikumsprogramme bieten. Die zweite Ebene betrifft den gelehrten Besucher bzw. Nutzer der inhaltlichen Museumsangebote, seien es forschende Akademiker, die Zugriff auf die Sammlung des Museums benötigen oder Lehrkräfte in Schulen, Hochschulen oder weiterführenden Bildungseinrichtungen, die Unterstützung bei der thematisch geleiteten Bestückung ihres Unterrichts mit rundfunkrelevanten Inhalten benötigen. Die Wahl und das Arrangement der Ausstellungsinseln zu den einzelnen populären und grundlegenden Genres der Rundfunkgeschichte erfolgte nicht beliebig, sondern orientierte sich an den in den Jahren 1997 und 2004 veröffentlichten Fernseh- und Radioenzyklopädien des Museums als strukturgebendes Fundament. Ein Großteil der Museumsaktivitäten geht auf die wissenschaftlich ausgewählten und verfassten Beiträge zurück und begründet daraus seine thematische wie bildungsspezifische, historische und ebenso mnestische Relevanz (vgl. Kapitel IV.4.2.6.). Trotz dieser im übrigen Museumsfeld beispiellosen expertischen Fundierung der Ausstellungs- und Veranstaltungsangebote mittels eines internationalen Gelehrten-Netzwerks riskiert das Museum of Broadcast Communications seine dadurch erworbene Unabhängigkeit von der Medienindustrie und

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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sonstigen unternehmerischen Einflüssen durch die inhaltliche Einbindung von Sponsoren aus der Fernsehwirtschaft. Laut Bruce DuMont werden verschiedene Ausstellungssegmente von der Fernsehbranche gefördert: NBC sponsert das Segment „News", der Kabelkanal TV Land das Segment „Comedy". Es engagieren sich aber auch Branchenvertreter wie die Stiftung des ehemaligen Fernsehgeräteherstellers Polk Bros, inhaltlich, in diesem Fall indem ihre Spendengelder dafür verwendet werden, die Geschichte der „TV explosion of the 1950s" zu erzählen, die gleichzeitig eng mit der Geschichte des Unternehmens zusammenhängt (Museum of Broadcast Communications 2005). Auf diese Weise gerät das Museum in Abhängigkeitsverhältnisse, welche die unabhängige kuratorische Themensetzung, die Ausgestaltung von Ausstellungen und die Ausrichtung von Begleitveranstaltungen gefährden kann. Zu Beginn des Jahres 2001 gab das Museum außerdem bekannt, dass die Advertising Hall of Fame nicht länger zur Mission des Museums zähle, maßgeblich weil die Werbeindustrie sich nicht als finanzieller Förderer für das Museum eingesetzt hatte (vgl. Crain 2001).76 Die Entscheidung stieß nicht nur bei Vertretern der Werbebranche auf Kritik, sondern stellte auch einen herben Einschnitt in die institutionelle Identität des Museums dar, hatte es sich doch als Herausgeber der drei historischen Enzyklopädien über das Fernsehen, das Radio und die Werbung profiliert. Der Kurswechsel, die Betreuung der „Advertising Hall of Fame" und darüber hinaus auch die der „Encyclopedia of Advertising" abzugeben, machte eindrücklich die Abhängigkeit des Museums von ökonomischen Erwägungen deutlich sowie die Ausmaße, in welchen die museale Agenda von diesen beeinflusst wird. Im Gegenzug wurde die „Radio Hall of Fame", die 1991 von der Emerson Radio Corporation übernommen wurde (Danilov 1997: 188), weiter ausgebaut und avancierte zum wichtigsten Fundraising-Instrument des Museums, das ihm jährlich mehrere hunderttausend US-Dollar an Erlösen einbringt. Die Pläne rund um das neue Hauptquartier des Museums beinhalten daher auch ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm, für das das oberste Stockwerk beispielsweise auch zur Ehrung von bedeutenden Persönlichkeiten aus der Rundfunkgeschichte oder anderweitige Zelebrationen wie auch organisiert von Fremdnutzern, welche die Räumlichkeiten anmieten können, vorgesehen ist. Benannt nach dem Ehepaar Paul und Angel Harvey, das seit der Gründung des Museums in 1983 mehr als sechs Mio. US-Dollar gespendet hat (Baeb 2008), verfügt diese Ebene über einen eigenen Dinner- bzw. Ballsaal sowie eine eigene Küche: „All museums in the United States have to find revenue-streams and so having a party in the museum is an important part of the revenue-stream. The ballroom in the fourth floor is going to be a high-end presentation area for conference and special events as well as weddings and birthday parties and things of that nature with a sit down dining for 400 and theatre seating for 500 with a beautiful terrace that overlooks the State Street and the new Trump Tower of Chicago a block away" (Bruce DuMont, MBC). 76

Die Advertising Hall of Fame blieb fortan ohne institutionelle Anbindung im Sinne einer begehbaren Rotunde, wird indes virtuell im Internet unter www.advertisinghallofFame.org weiterbetrieben.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Virtuelle Markenbildung als Ausweg aus wirtschaftlicher Not? Das Chicagoer Rundfunkmuseum gehörte von seinen ersten Planungsschritten an zu den kleineren Museumsprojekten. Gestartet mit einer Aufwandspauschale von 500 USDollar, nahm die Einrichtung erst nach fünf Jahren und kleinerer Spenden in dreistelliger Höhe von lokalen Rundfunksendern Gestalt an (vgl. Zorn 1985). Im Vergleich zu den Millionenbeträgen, die bereits nach kurzer Verhandlungszeit vonseiten der großen Sendernetworks in das New Yorker Museum of Broadcasting flössen, nahm sich das Chicagoer Museum auch nach seiner Eröffnung mit Aufwendungen in der Höhe von 300.000 US-Dollar für das kleine Hauptquartier in der River City (Ibata 1987) höchst bescheiden aus. Die Eröffnung der Mietflächen im Chicagoer Kulturzentrum fünf Jahre später kostete bereits eine Mio. US-Dollar (Heard 1992), hielt damit aber den direkten Budget-Vergleich mit dem Museumsprimus von der Ostküste noch immer nicht stand. Der Museumsneubau inmitten des Chicago Loop, der seit 2004 verfolgt wird, beläuft sich dagegen in Anbetracht der vorhergehenden Ausgaben auf rahmensprengende Kosten von 22 Mio. US-Dollar (vgl. Zorn 2007). Der Eindruck, dass sich das Museum mit seinen Expansionsplänen übernommen haben könnte, auch weil es sich allzu sehr auf eine Förderzusage des ehemaligen Gouverneurs des US-Bundesstaates Illinois verlassen hatte, die durch dessen kriminelle Verwicklungen zwischenzeitlich ausgesetzt wurde und erst nach langer Ungewissheit im Jahre 2010 von seiner Nachfolgerin erneuert wurde, liegt nahe (vgl. Kapitel IV.2.6.2.1.). Einerseits hat der Rückhalt der lokalen Rundfunkindustrie und namhaften Akteuren der Branche aus Chicago erst die Realisierung des Museums ermöglicht, doch sind diese finanziellen Möglichkeiten offenbar an ihre Grenzen gestoßen, als die Kosten allein für den Umzug und die bauliche Umsetzung mehr als das Zwanzigfache des vorhergehenden Budgets überschritten. Nichtsdestotrotz hat das Museum Strategien entwickelt, um sprichwörtlich aus der Not eine Tugend zu machen. Der ohnehin bereits geringe Grad der personellen Ausstattung hat dazu geführt, dass die Einrichtung trotz jahrelangen erfolgreichen Betriebs keine administrative Blase erzeugte, welche die Betriebskosten unverhältnismäßig in die Höhe treibt, sondern im Gegenzug ein Netzwerk ausbildete, das ihr zumindest auf inhaltlicher Ebene und virtueller Plattform die Fortexistenz im öffentlichen Bewusstsein gesichert hat. Trotz des Fehlens eines physischen Museumsbaus hat das Museum of Broadcast Communications versucht, seinen Namen und Status weiterhin bei einer breiten Nutzerschaft präsent zu halten: Die Unterstützung, die das Museum durch die akademische Gemeinschaft von Medienwissenschaftlern erhält, sorgt für einen beständigen, wenn auch nicht regelmäßigen Zufluss an Beiträgen für das hauseigene Internet-Angebot (zum Beispiel in Form von Blogs) sowie Beteiligungen an einzelnen Veranstaltungen, welche den Museumsauftrag protegieren und für Unterstützung des Museums werben sollen. Wie auch das Paley Center for Media hat das Museum of Broadcast Communications seine Zielgruppen graduell angepasst bzw. ergänzt: Als vielversprechende Zukunftsstrategie erscheint es Bruce DuMont, alternative Ansätze zur Ansprache der Medienindustrie zu entwickeln, da die klassischen Fernsehnetworks für das Chicagoer Museum nur

IVA. Museumsfernsehen,

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schlecht zu erreichen seien. Mit der Starcom MediaVest Group nennt DuMont beispielhaft ein Unternehmen, das als einflussreiche Agentur für Mediaplanung zu der global operierenden Unternehmensgruppe Publicis gehört, sein Hauptquartier in Chicago hat und mit dem er sich die Realisierung von musealen Veranstaltungen vorstellen könnte: „Historically the industry power rests in New York and Los Angeles. But given the new media and the way the media landscape is changing it always comes back to advertising: The power of new media is not necessarily exclusively in New York and Los Angeles. One of the most important media placement services based in the United States is MediaVest. They are one block away from here. So when you are in the business of television or even in the business of cable, your company is calling someone who makes the decisions one block away. We are their local museum. This is the museum they will pass by every day. So if we become to hold conferences we will more look at the new media and how the new media will interact with the new advertising sources and revenues" (Bruce DuMont, MBC). In diese Strategie fügt sich DuMonts Enthusiasmus für die „virtuelle Museumserfahrung", welche er durch den Ausbau der Website unter der Adresse „Museum.tv" inhaltlich und unter Vergemeinschaftungsgesichtspunkten vorantreiben möchte: „We are very fortunate, because we have a great name: .Museum.tv'. That's easy to remember. We also have authored the Encyclopedia of Television and Radio, television is online, radio will be online someday. So we have the word .encylopedia' which is a good, strong academic word. .Encyclopedia', .Museum, .Television: You bring them all together and that's what we are" (Bruce DuMont, MBC). Während das Museum aufgrund der ungeklärten Raumsituation geschlossen war, sollte die Internet-Präsenz als Ersatz für den nicht möglichen Museumsbesuch vor Ort fungieren. Mit „Museum.tv" wurde eine Marke etabliert, welche die sinnliche Erfahrung des physischen Erinnerungsortes Museum mit den Stärken der virtuellen Kommunikation verbindet und damit eine neue Qualität in die Beschäftigung mit der Geschichte des Fernsehens und des Radios bringt. Hierzu wurden mehrere Online-Ausstellungen konzipiert, die sich acht verschiedenen Themen widmen, sich aber größtenteils auf die ausschnitthafte Wiedergabe von selektierten Fernsehprogramm-Überlieferungen beschränken. So wurden als Ergebnis einer nationalen Umfrage unter Politikwissenschaftlern, Politikern, Kommentatoren und Analysten die ersten zehn der von den befragten Experten genannten „Top 125 Most Memorable Political Moments" zum Abruf bereitgestellt, darunter unter anderem die Verkündung des Mordattentats auf John F. Kennedy, Neil Armstrongs Mondlandung oder die Bilder von den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York vom 11. September 2001. Wie diese bieten auch die übrigen virtuellen Ausstellungen einen Vorgeschmack auf die im Gegensatz zum Online-Pendant interaktiv gestalteten Ausstellungen im Museumsneubau, sollte er einmal eröffnet werden.77

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Die virtuellen Ausstellungen beschäftigen sich unter anderem mit historischen Werbespots, mit den Synergien zwischen der Fernsehstadt Chicago und dem audiovisuellen Leitmedium, mit der

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Obwohl außerdem sämtliche zentralen Aufgabenbereiche des Museums vorgestellt werden, darunter die Historie und aktuelle Situation des Museums an sich sowie seine Sammlungsumfänge, Bildungsangebote, Publikationen und die „Radio Hall of Fame", finden sich keinerlei Interaktionsangebote, die über die Beteiligung an Gewinnspielen oder herkömmliche Hinweise zur Kontaktaufnahme per E-Mail hinausgehen. Die Website des Museums ist hauptsächlich als Wissensressource konzipiert, die vom Nutzer konsultiert werden kann, um auf digitalisierte Daten wie zum Beispiel ungefähr 7.000 Sendungen in voller Länge oder die erste Auflage der „Encyclopedia of Television" bzw. auf Expertenwissen in der Form von vereinzelten Blogs zuzugreifen. Ergänzt wird der Datenfundus durch vier Bildungspakete zu den Themen Bürgerrechtsbewegung, Zweiter Weltkrieg, Vietnamkrieg und Darstellende Künste, die jeweils historische Fernsehausschnitte und dazugehörige Unterrichtspläne beinhalten. Auch verbreitet das Museum über seine eigene Website und zusätzliche mit dem Museumsprofil versehene Kommunikationskanäle und Gemeinschaftsportale wie „Twitter" oder „Facebook" teils in Kooperation mit Mediendiensten, teils auch exklusiv aktuelle Nachrichtenmeldungen aus seinem thematischen Agitationskreis wie zum Beispiel über Todesfälle prominenter Chicagoer Fernsehschaffender. Den Anspruch, über das virtuelle Portal engagierte Nutzergruppen an die Museumsbelange zu binden und die Partizipationsbereitschaft für sich zu nutzen, konnte dadurch bisher nicht eingelöst werden. Mehr als einen sich durch die Menge der per kostenloser Nutzerregistrierung frei verfügbaren historischen Fernsehprogramminhalte durchaus signifikant von anderen Stellen unterscheidenden Anlaufpunkt für das Studium von Fernsehprogramminhalten zu schaffen, wurde nicht erreicht. Museumsarchivar Daniel Berger betont die Bedeutung der Website für die akademische Nutzerschaft, wohingegen sich DuMont in dieser Hinsicht ebenfalls viel von Fan-Gemeinschaften verspricht: „They can help us and we can give them a little more credibility by working in a cooperative way." Ein solch beiderseitiger Nutzen im Sinne eines Material- und Wissenstransfers sowie Multiplikator- bzw. Werbeeffekts durch die Fans auf der einen und im Gegenzug dazu einer kulturellen Aufwertung von Fan-Gruppierungen durch die Kooperation mit einem renommierten Museum auf der anderen Seite setzt eine umfangreiche projektbezogene Einbindung der Fans und ihrer Aktivitäten in die Ausstellungskonzeption und/oder die Veranstaltungsorganisation voraus, was aufgrund der eingeschränkten Handlungsspielräume des Museums bislang aber nicht möglich war. Gleichwohl wurde versäumt, was auch mit geringen Mitteln hätte realisiert werden können: eine eigene CommunityStruktur auf der Website des Museums zu etablieren und dadurch eben die Vernetzung zu erreichen, die der Museumsleiter nicht nur für die Zukunft des Museums, sondern auch für das Fernsehen und die Medienindustrie insgesamt für essentiell hält:

legendären „New Deal"-Rede von US-Präsident Franklyn D. Roosevelt in Chicago im Jahre 1932 und mit den Unruhen rund um den Parteitag der Demokratischen Partei im Jahre 1968, ebenfalls in Chicago.

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„ [I] t [Television - Anm. LK] still doesn't have the respect that it deserves. And I would hope that the MBC with the encyclopedias, with a new building, with ,Museum.tv' and with the internet and streaming-media, and with a new generation of people who are populating the media-institutions of the world, I think we may be going into a greater period of enlightenment and most importantly in sharing information and willingly wanting to participate, that we can just get over this competitive edge that we grab into the same pocket for funding" (Bruce DuMont, MBC).

4.3.1.3. Auf der Suche nach Zusammenhang: Das American Museum of the Moving Image Länger noch als die beiden Rundfunkmuseen in New York und Chicago brauchte Nordamerikas erstes Museum über die Geschichte der Bewegtbildmedien Film, Fernsehen und Videospiele, um seine Tore zu öffnen. Sieben Jahre investierte die Theaterschauspielerin, Kulturaktivistin und selbsternannte „Non-Profit Impresario" Rochelle Slovin (Alleyne 2003) in die Planungen, um schließlich im Herbst des Jahres 1988 ihre Idee von einem Museum der Audiovisionen in Stein und Beton und mit einer Sammlung von 60.000 Artefakten zu realisieren (Winship 1988; vgl. auch Rosenfeld 1988). Auf einem alten Studiokomplex der traditionsreichen Paramount Pictures gelegen, das in das US-amerikanische Nationalregister historischer Stätten aufgenommen wurde, bezog das Museum ein Gebäude, das seit dem Zweiten Weltkrieg, als die Nachrichtentruppe des US-Militärs es als Produktionsort für Filme gebraucht hatte, die längste Zeit ungenutzt gewesen war. Im Januar 1981 Jahre wurde Slovin von der Astoria Motion Picture and Television Foundation beauftragt, mit einem Budget von 90.000 US-Dollar die historischen Astoria Studios im Steinway-Viertel nur wenige Kilometer vom East River entfernt, der Queens von Manhattan trennt, wieder funktionstüchtig zu machen - ein Auftrag, den die Kunstliebhaberin schnell in die Idee eines Museums transformierte. Die Ambitionen stießen auf einige Gegenwehr aus dem Direktorium, da aus Sicht der Filmunternehmer die Wiederbelebung des Produktionsbetriebs im Vordergrund stehen sollte,78 doch gelang schließlich beides. Während in Astoria schon bald wieder Produktionen wie die „Bill Cosby Show" gedreht wurden, brauchte der Museumsgedanke noch Zeit, um in einem konkreten Konzept zu münden. Jahrelang lieferten sich Slovin und ihre Mitarbeiter ein Wettrennen mit dem Projekt eines Film- und Fernsehmuseums in Hollywood (vgl. Winship 1988). Die Planungen eines Entertainment Museums über das Erbe Hollywoods gingen zurück bis in die 1950er Jahre. Bereits 1961 wurde in der Presse beklagt, dass die Planungen sich unnötig in die Länge zögen: „It's rather astonishing that the Movie and TV Museum has been so late in coming. The importance of motion pictures as an art form and the fragility of film,

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Slovin erinnerte im Jahre 2005 eine Unterhaltung mit einem der Vorstände, der ihr gegenüber geäußert haben soll: „The movie business is interested in the bottom line; they're not interested in history. You think you're going to make them interested in history? You think you're going to make a museum? It'll never happen" (zitiert nach Rifkin 2005).

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

particularly the early nitrate film, should certainly have merited historical consideration before this time - particularly in this city that spawned the medium" (Smith 1961). Erst im Jahre 1996 wurde am Hollywood Blvd. das Hollywood Entertainment Museum gegründet, das jedoch nach zehn Jahren Betrieb 2006 wieder seine Pforten schloss. Ross Melnick (AMMI) sieht darin weniger ein Indiz für ein fehlendes Interesse an integrierten Museumskonzepten über die Film- und Fernsehgeschichte, sondern den Auftrag, sich dieser Zielrichtung musealer Arbeit umso intensiver zu widmen: „There are very very few museums like this in the United States that have this kind of a collection and this kind of exhibition, especially with the closing of the Hollywood Entertainment Museum." Das Museum folgt der Leitlinie, seine selbst auferlegte Kernaufgabe der Bildungsarbeit über die filmische und televisuelle Unterhaltungsindustrie mit möglichst einfachen und effektiven technologischen Mitteln zu erfüllen (MacMillan 2007) und dies zusätzlich mit einem Themenfokus, der möglichst kein Berufsfeld des komplexen Geflechts aus Film- und Fernsehschaffenden ausblendet: Aufgeklärt werden sollte über die Arbeit und Leistungen der Produzenten, Regisseure, Schauspieler, Autoren, Kulissendesigner und bauer, Maskenbildner, Spezialeffekttechniker, Beleuchtungsexperten und der Tontechniker. Bis zur Eröffnung hatte das Projekt bereits 45 Mio. US-Dollar verschlungen (Alleyne 2003). Trotz der Zweifel einiger Branchenvertreter fand das Museum Sponsoren in lokalen Förderern wie der Stadt New York, die das Gebäude zur Verfügung stellte und dessen Renovierung finanzierte, oder der Manhattaner Chase Bank sowie in einer langen Reihe von Medienunternehmen, darunter vor allem Filmfirmen, sowie Berufsverbänden und solch illustren kommerziellen Prägeinstanzen populärkultureller Strömungen wie der Coca Cola Company (vgl. Rosenfeld 1988). Dass der hohe Millionenbetrag aus Spendenund Fördermitteln überhaupt zustande kommen konnte, kann auf eben jene breite Berücksichtigung der verschiedenen Berufe zurückgeführt werden, deren Gewerkschaften sich zum Teil rege in die Planungen einbrachten: ,,[M]aybe its engraved in our institutional DNA to really look at really not only the director and actor, but at all of the people and what they need to know for what they do and what they do", überlegt Carl Goodman (AMMI). Eine Säule des Museums ist bis heute die zunächst gedruckte, später dann digitale Datenbank „Who does what in Movies and Television?", die mit detailreichen Informationen und Fotografien über die Entstehung von Film- und Fernsehproduktionen aufwartet (vgl. Draigh 1988). Auch heute noch besteht eine enge Anbindung an die produzierende Film- und Fenrsehindustrie: Ebenfalls sind die Kaufman Astoria Studios auf der gegenüberliegenden Straßenseite aktuell noch Drehort für diverse Fernsehserien wie „Sesamstraße" oder „Nurse Jackie" und große Filmproduktionen wie Oliver Stones „Wall Street 2: Money Never Sleeps" (2010). Zwischen Wissensvermittlung

und

Erinnerungsveranlassung

Die Ungewöhnlichkeit des konzeptionellen Ansatzes des American Museum of the Moving Image bestand und besteht auch größtenteils heute noch in der Konventionalität, mit der sich das Museum seinem Untersuchungsgegenstand nähert. Die Ausstellungs-

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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dramaturgic ist weder innovativ noch entspricht sie den Regeln der Medien, der sie sich zuwendet. Auch wenn sich das Museum mit den Produkten und den zugrundeliegenden Prozessen der Film- und Fernsehgeschichte befasst, blendet es die Ebene der audiovisuellen Werke weitgehend aus. Dies mag zunächst paradox erscheinen für ein Museum, das sich schon im Titel den bewegten Bildern verschrieben hat. Doch die Vermischung von falschen Erwartungen eines Museums der Bildschirme analog zum Paley Center for Media und der so gegensätzlichen, weil beinahe exklusiven Zuwendung zur Dingkultur der audiovisuellen Medien Film, Fernsehen und Videospiele führt zu einem Überraschungseffekt, der durch die der traditionalistischen Objektkultur des Museums folgenden Anordnung von Realien zu einer ungewöhnlichen, weil ungewohnten Materialperspektive auf die zweidimensionalen Leinwand- bzw. Bildschirmmedien verhilft. Hier wird die viel diskutierte Konvergenz der Bewegtbilder nicht als plattformübergreifender Folgetrend der Digitalisierung zum Thema gemacht, sondern es zeigt sich, dass auf der Materialebene schon seit Jahrzehnten eine technische und populärkulturelle Verschmelzung von Kino-, Fernseh- und Videospiel-Kultur stattfindet. Ähnlichkeiten, Überschneidungen, Synchronisationen finden sich nahezu überall, ob es sich um Aufnahme-, Abspiel- oder Empfangsgeräte handelt, um Requisiten oder Begleitprodukte wie Merchandising-Artikel. Hier werden Audiovisionen nach klassischer Museumstradition dinghaft, dreidimensional. „I don't think that there is a difference between how we approach our topic and other museums approach theirs. It's only about different topics", sagt Carl Goodman. Indem das American Museum of the Moving Image der klassischen Museumstradition folgt und sich in seiner Sammlungsstrategie vorrangig auf Realien konzentriert, weil nach Aussage von Rochelle Slovin Fernsehprogramm-Material und Filmüberlieferungen bereits anderswo zur Genüge gesammelt würden (vgl. Holden 1988), hat es eine Nische gefunden, die sich trotz anderweitig existierender Techniksammlungen von Fernsehtechnik wie im Smithsonian oder dem Early Television Museum in Ohio als fruchtbar herausgestellt hat. „Artifacts are clever", kommentiert Robert Thompson (SU), weil das Museum dadurch das medieninhärente Rezeptionsdilemma umgehe und die Museumserfahrung von der audiovisuellen auf die Objektebene hebe und sich damit auf altbewährtes Museumsterrain zurückziehe. Das Kuratorium konnte dadurch aus einem reichen Erfahrungsschatz im Umgang mit Artefakten und ihrer Präsentation schöpfen, der Fernsehmuseen mit Programmschwerpunkt nicht zur Verfügung steht. Die Festlegung auf die Objektebene liegt angesichts der selbstgesteckten Ziele des Museums nicht fern: „We are focusing on the production, the distribution, the marketing, the exhibition and the reception of television, film and digital media. So you're looking at television cameras, at television sets, but also at the material culture generated on television from TV trays and TV salt shakers to lunch-boxes from television shows to costumes used in the,Cosby Show' to special exhibition e.g. on ,Star Trek' that were enormously popular on television, but had also a larger kind of cultural influence although it began as a small television show" (Ross Melnick, AMMI).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Indem Facetten der Film- und Fernsehkultur beleuchtet werden, die sich hinter dem audiovisuellen Endprodukt abspielen, ein Eigenleben entwickeln und damit zu eigener kultureller Signifikanz gelangen, leistet das Museum einen wichtigen Beitrag zu dem von den führenden Fernsehmuseen in New York und Chicago nicht oder nur unzureichend in ihren Mandaten zur Geltung kommenden Materialaspekt des Fernsehens. Mehr als 150.000 Sammlungsstücke wurden bislang angesammelt (vgl. Rifkin 2005), doch verfügt das Museum weder über umfangreiche Film- noch Fernsehprogrammbestände. Wertvolle Sammlungsschätze finden sich mit Ausnahme einiger weniger Gerätschaften wie die wuchtige Farbfernsehkamera des Modells TK-41C von RCA aus dem Jahre 1954 kaum: „We are not that interested in fetish objects like getting the Ruby shoes", sagt Ross Melnick. Essentiell sei vielmehr, ergänzt Carl Goodman, die Geschichte der behandelten Themen auf verständliche und interessante Weise zu erzählen. Die narrative Erschließung der Film- und Fernsehgeschichte erfolgt maßgeblich in der Dauerausstellung „Behind the Scenes: Producing, Promoting and Exhibiting Motion Pictures and Television", die seit der Museumseröffnung im Jahre 1988 gezeigt wird und 1996 auf zwei Stockwerke ausgedehnt wurde. Besonderer Wert wird hierbei gelegt auf die Präsentation und Erklärung von technischen Gerätschaften: „The industrial aspect is very important in our core exhibition to show it non unlike the automobile industry in certain ways. Yes, we also want to worship at the altar the cinematic achievement when appropriate, but even this seemingly mundane process of production and distribution and exhibition that applied to the best and the worst films is interesting among itself. In our core exhibition we try to extract that process and educate the people about the work behind the scenes that goes into the stuff you see on the screen. The general public, especially when we opened, had certain consciousness about some of these people: the director, the actor, but certainly not about the extremely complicated collaborative nature of cinematic and television production" (Carl Goodman, AMMI). Natürlich finden sich auch zelebratorische Elemente wie eine Gallerie zur Portraitfotografie zu Ehren berühmter Filmstars, und auch die übrigen Ausstellungsteile spielen stets mit dem Glanz und Glamour jener Industrie, die Goodman in ihren Produktionsprozessen überspitzt mit der Automobilfertigung vergleicht: Wenn sich die Ausstellung der Haar- und Maskenbildnerei zuwendet, wenn Kostüme gezeigt werden, gelingt dem Museum zweierlei: Es stärkt den schönen Schein und unterfüttert ihn gleichsam mit den handwerklichen Prozessen im Hintergrund, die zur letztendlichen Rezeptionserfahrung führen. Diese Einbindung sonst nur beiläufig behandelter oder gänzlich ignorierter, jedoch grundlegender Aspekte der Entstehung von Film- und Fernsehproduktionen erhellt wesentliche Bereiche der Alltagskultur, wie zum Beispiel die Veränderung des Massengeschmacks in Sachen Mode und Schönheitsideale. Viel Raum wird dem filmischen Produktionshintergrund eingeräumt, wobei das Fernsehen etwas in den Hintergrund rückt: Die Geschichte der non-digitalen Spezialeffekte wie beispielsweise die mittels einer mechanischen Puppe in dem Horrorfilm „Der Exorzist" erfolgte Kopfdrehung der besesse-

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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nen Linda Blair um 360 Grad enthüllt auf verblüffende Weise die simplen Prinzipien der Suggestionsleistung audiovisueller Medienwerke. Doch wird durch den engen Fokus des Museums auf die Unterhaltungsindustrie zum Beispiel nicht entsprechend eingegangen auf die Manipulationsproblematik von Nachrichtenbildern im Fernsehen. Als Ausgangspunkt der Dauerausstellung fungiert die Vor- und Frühzeit der Filmund Fernsehentwicklung: Von Fotoexperimenten und den ersten Schritten des mechanischen Fernsehens von Paul Nipkow im dem 19. Jahrhundert bis hin zu der sogenannten „Magischen Laterne" und den unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Kathodenstrahlröhre erhält der Besucher mittels der materiellen Sammlungstücke, Texttafeln und vereinzelten digitalen Displays einen kompakten Über- und Einblick in die Entwicklung der Fernsehtechnologie. Die Kameratechnik wie in der ersten kommerziell zum Einsatz gekommenen Kameraröhre, der RCA Iconoscope Camera Tube von 1939, bis hin zu den ersten Camcordern werden ebenso erklärt wie ein Eindruck vermittelt von den Designetappen der Fernsehempfangsgeräte und ihres entsprechenden Zubehörs wie der Drehscheibe namens Colordaptor, die als kostengünstige Alternative zu teuren Farbfernsehgeräten Mitte der 1950er Jahre vor einen kleinen Schwarzweißfernseher montiert werden konnte, um in den vollen Genuss der wenigen bereits existierenden Farbprogramme zu kommen. Weiterhin werden die Funktionsweisen des Beleuchtungsequipments unter anderem anhand des Beispiels der Kliegl Bros. Electric Art Lamps von 1918 betrachtet, historische Videorekorder präsentiert und an alte Projektionsgeräte wie das Edison 22mm Home Projecting Kinescope von 1912 für den Einsatz daheim erinnert. Hier wird Hintergrundwissen zur Entstehung von Bewegtbildern von den grundsätzlichen mechanischen und physikalischen Prinzipien bis hin zur Ausstrahlung einer fertigen Fernsehproduktion vermittelt, wobei auch die komplizierten Abläufe bei der Regieführung während einer Live-Übertragungen von Sportereignissen mit einer Vielzahl von laufenden Kameras eine wichtige Rolle spielen, deren Aufnahmen zusammengestellt werden wollen, um für den Zuschauer ein spannendes Fernseherlebnis zu ermöglichen. Leitend sind bei der Inszenierung der unterschiedlichen Gegenstände und des jeweiligen Technikwissens zwei Motive: Einerseits sollen dem Besucher in Form statischer Installationen genügend (Reflexions-) Zeit und Wahlmöglichkeiten eingeräumt werden, um dem chronologisch aufeinander aufbauenden Verlauf innerhalb der Themenfelder folgen zu können, andererseits soll der Besucher angeregt werden, selbst aktiv zu werden: „Essentially with each object there are different ways into it. We display the objects but leave them open: We don't tell people why we are showing it. We describe what it was and what was done with it", erklärt Carl Goodman. Vertraut wird also darauf, dass sich die Relevanz des Ausstellungsgegenstandes als repräsentatives historisches Zeugnis durch seinen Einsatz im Museumskontext selbst erklärt. So auch im Falle von MerchandisingProdukten, die das Museum in einer beeindruckenden Variationsvielfalt zusammengetragen hat. Eine im Vergleich zu den tatsächlichen Sammlungsbeständen nur geringe Zahl dieser meist zierlichen Überlieferungen kann in den Ausstellungsräumen betrachtet werden. Es findet aber ein regelmäßiger Austausch der Ausstellungsstücke statt. Wissen-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

schaftler erhalten auf Antrag zusätzlichen Zugang zu den Magazinen und können über die Materialkultur von Film und Fernsehen forschen. Hier gibt sich das Museum als Flohmarkt hinter Vitrinenglas: an- weil abgegriffene Ausgaben alter Fernsehprogrammzeitschriften, historische Langspielplattencover von Filmsoundtracks, Werbebanner („What Will Wanna Wear Tonight?" zur Sendung „Wheel of Fortune", CBS), Merchandising jedweder Art wie „Star Trek"-Figuren, Frühstücksboxen (z.B. „Bonanza", „Hopalong Cassidy", „The Roy Rogers Show", „Hogan's Heroes"), Marionetten und Handpuppen (z.B. „The Howdie Doody Show", „Captain Kangaroo"), Mickey Mouse-Uhren, Plaketten, Kleidungsstücke, Keksdosen, Musikinstrumente, Salzund Pfefferstreuer, Thermometer, Gläser, Aschenbecher, Feuerzeuge, Dartboards, Brettspiele, Spielzeugautos und -pistolen, Kassettenrekorder, kurz: „Lots of stuff, junk, mementos, souvenirs, tsatskes, toys and other merchandising gimmicks" (Rosenfeld 1988). Museumsgründerin Rochelle Slovin sagte einmal: „If the Smithsonian is Americas attic, we're the basement" (zitiert nach Rickey 1988). Es mag daher nur konsequent erscheinen, Fans und ihre rege Produktionstätigkeit mit in die Museumsarbeit einzubeziehen: Anhand der Science Fiction-Serie „Star Trek" wurde versucht zu zeigen, wie lebendig und vielseitig der Fan-Diskurs über eine Fernsehproduktion sein kann, die zum populärkulturellen Phänomen avancierte und über Jahrzehnte Millionen von Rezipienten mit ihrem narrativen Kosmos fasziniert. Die Ausstellung konzentrierte sich dabei hauptsächlich auf sogenannte Fanzines, also von Fans herausgegebene Druckpublikationen, die sich zu unterschiedlichen Zeiten der Geschichte der Serie in unterschiedlicher Weise mit unterschiedlichen Aspekten des Phänomens „Star Trek" beschäftigen. Henry Jenkins (MIT) lobt zwar den Ansatz der Ausstellung und hält ihn trotz der sammlungspragmatischen Konzentration auf auflagenstarke Fan-Magazine für entwicklungsfähig: „I think that television museums should embrace fan-communities because they'll be important supporters of their institution. Fan-communities are an important part of the social history of broadcasting. Certainly representative collections of fan-produced material should be part of what's be saved. The Museum of the Moving Image is creating a ,Star Trek'-exhibit, and a lot of that is material culture that was created around film and broadcasting. But they mostly collect commercially produced material that circulated in fan-communities. And they have a large collection of fan-made material that were also part of the legacy of television culture. Very few museums collect that and it really is worth collecting. Often people pass away and all the memorabilia are thrown out. We would lose our entire level or trace of what has been in the living rooms. Museums collected diaries and letters and home movies and family photographs, all part of the social history of people's lives. And it's also part of the history of television" (Henry Jenkins, MIT). Das American Museum of the Moving Image hat zweifellos seine Nische gefunden: Kein anderes Museum in Nordamerika verfügt über eine nur annähernd so umfangreiche und facettenreiche Sammlung ephemerer Überlieferungen der televisuellen Populärkultur.

IVA. Museumsfernsehen,

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Weshalb sich Kurator Goodman dennoch vehement gegen die Terminologie der sogenannten „Memorabilia" ausspricht, bleibt unklar. Begründet wird diese Haltung durch das seriöse Selbstverständnis des Museums als „Bewusstmacher" bestimmter Seitenaspekte der Film- und Fernsehproduktion, die einen signifikanten Einfluss auf dominante Strömungen innerhalb der Lebensart der Gesellschaft hatten, wie Kleidungs- oder Sprachmoden, die Einzug hielten in den Massengeschmack. Als Prägeinstitution der öffentlichen Konversation über solche Aspekte, die wider Erwarten einen nachhaltigen Eindruck auf die Massenkultur hinterlassen haben, möchte das Museum, so kann Goodmans Erklärung verstanden werden, weniger ein Ort nostalgischer Erinnerungen sein als vielmehr seine Besucher und ihre jeweiligen sozialen Umfelder zu einem teil-intellektualisierten Diskurs über die Film- und Fernsehvergangenheit anregen, in dem auch starke Emotionen eine Rolle spielen, jedoch mehr erfüllen als einen Selbstzweck. Das derart offensive Streben nach Aktivierung des vermeintlich passiven Medienkonsumenten in der Abgrenzung zur verträumten Betrachtung memorabiliärer Überlieferungen im Sinne nostalgisch-verklärter Artefakte, die den Betrachter mittels ihrer Aura narkotisieren, aber nicht fordern, indem ein tieferer Bezug zu den sozialen Wirklichkeiten früherer Zeiten evoziert wird, kann in der bisherigen Konzeption der Dauerausstellung aber nur zum Teil eingelöst werden; zu sehr hält sich das Museum in der Ausstellung zurück mit der Vermittlung von Kontextwissen und dem Knüpfen von Bezügen zwischen den einzelnen präsentierten Überlieferungsbeständen. Das lässt dem Besucher zwar viel Raum für mögliche eigene (Kindheits-) Erinnerungen, zum Beispiel im Fall von Frühstückboxen oder Spielzeug, bindet sie aber nicht an das Wissensreservoir, welches sich zu den anderen Themen wie bei der Vermittlung von technischem Wissen in Gestalt des Museums anbietet. Hier wird das Potenzial, die gemeinsame Geschichte von Film und Fernsehen vertiefend zu erkunden und den Besucher dabei einzubinden, nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft. Während die Chancen lebhafter erinnerungsgeleiteter Interaktion im Ausstellungssegment „Selling the Product" leichtfertig vertan werden, gerät sie an anderer Stelle unter spielerischen Vorzeichen zur kurzweiligen Lernübung: An einer Sound-Effect-Maschine können die Besucher Film- und Fernsehclips wie zum Beispiel Sportausschnitte oder Werbespots neu vertonen, wobei der Reiz vor allem darin liegt, möglichst unpassende Bild-Ton-Kombinationen zu erstellen. Weiterhin können vorrangig Besucher im Kindesalter einen eigenen sechs Sekunden dauernden Stop-Motion-Kurzfilm produzieren, indem sie auf einem Tisch, über dem eine digitale Videokamera installiert ist, mittels kleinteiliger Papierbilder 90 Mal ihr Arrangement verändern und damit Leben in das fest installierte Hintergrundbild bringen. Kurzweiligen Spaß verspricht auch ein ,Zauberspiegel', mit dem sich der eigene Kopf auf unterschiedlichen Filmkostüme wie z.B. von Indiana Jones oder Scarlett O'Hara montieren lässt. Unterhaltung bietet nicht zuletzt auch der karikatureske „Tut's Fever Movie Palace", in dem zweimal täglich in neo-ägyptischer Atmosphäre Vorführung historischer Film- und Fernsehproduktionen wie zum Beispiel der animierten TV-Serie über den Comic-Helden „Spider Man" stattfinden. Das

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

kleine Filmtheater mutet an wie die kunterbunte Kopie einer Jahrmarktattraktion, soll aber verstanden werden als Parodie auf die davon nicht allzu ferne Ästhetik Hollywoods, dessen prominente Akteure, namentlich Orson Welles, Clark Gable, Elizabeth Taylor und viele andere als Gipsfiguren in das groteske Kinoambiente eingebunden wurden. Natürlich dürfen auch die Marx Brothers nicht fehlen, die schließlich zum institutionellen Gedächtnis gehören, weil sie in den früheren Paramount-Astoria Studios ihren berühmten Debutfilm „The Cocoanuts" von 1929 drehten, der mit dem klassischen Wortspiel „Viaduct / Why a duck?" in die Filmgeschichte einging. Abgerundet wird der unterhaltsame Anteil der Ausstellung mit einer Abspielstation namens „Soundtrack Jukebox", mit der man die CEuvres einflussreicher Filmkomponisten erkunden kann, und einer flippig- farbigen Wohnzimmer-Nachbildung mit dem Titel „TV Lounge" des kalifornischen Künstlers Jim Isermann aus dem Jahre 1988, die jedoch inkonsequenter Weise mit einem Flachbildschirm aufwartet. Fortschrittlich oder

rückwärtsgewandt?

Das Museum wurde mal als „Shrine" (Rickey 1988), mal als „Mecca" (Rosenfeld 1988) für leidenschaftliche Liebhaber der Film- und Fernsehkultur beschrieben. Tatsächlich ist das Museum auch in seiner weiteren Entwicklung diesen Vorschusslorbeeren gerecht geworden, zumindest was die feierliche Konnotation der Begrifflichkeiten anbelangt. Es beschreitet nicht nur traditionell einen eher klassischen Pfad bei der Konzeption seiner Publikumsangebote, wodurch Teile der Ausstellung entgegen der innewohnenden Lebendigkeit der behandelten Medien eher statisch und vermittlungsdidaktisch rückwärtsgewandt wirken; es hat auch in den ersten zwanzig Jahren seines Bestehens nur geringfügige Eingriffe im Ausstellungskonzept vorgenommen. Selbst die interaktiven Attraktionen sind größtenteils dieselben geblieben. Auch wenn sich Kurator Carl Goodman dagegen wehrt, es handele sich um eine statische Ausstellung, da Details regelmäßig verändert würden, betont er die angestrebte Langlebigkeit der Installationen: „We don't want to create something that is out of date very quickly." Wer das American Museum of the Moving Image als Ergänzung zum programmlastigen Paley Center for Media versteht (vgl. u.a. Owen 1993), übersieht, dass es zwischen den beiden Einrichtungen keine strategischen Kooperationen gibt oder gegeben hat, die darauf schließen ließen, dass hier eine bewusste Aufgabenverteilung unter den beiden großen Gedächtnisorganisationen rund um die Geschichte des Fernsehens und seiner Begleitmedien stattgefunden hat. Da sich jede der beiden Einrichtungen auf ihr jeweiliges .Hoheitsgebiet' beschränkt, müssen sich nicht notwendigerweise gewinnbringende Effekte einstellen oder sich gar Synergien ergeben. Dabei bieten sich zahlreiche Ansatzpunkte für mögliche gemeinsame Projekte, gerade weil sich beide Häuser als Agenten der Wissensvermittlung mit und über das Fernsehen und mehr noch als Ort der Erinnerung verstehen. In dem Bestreben, beiden Ansprüchen gerecht zu werden, kommt das Bewegtbildmuseum in Queens erstaunlich weit: Einerseits liefert es ein Füllhorn von technischem Spezialwissen, wo Erkenntnisbedarf besteht, und lässt dort genügend Platz

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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für eigene Erinnerungen, wo der illustrative Schauwert im Vordergrund steht und allzu spezifische Detailbeschreibungen ohnehin keinen Wissensgewinn versprechen würden. Obgleich hierdurch die nur rudimentäre Bereitstellung von Informationen zu den Überlieferungen aus dem kleinteiligen Feld der Memorabilia als stark verbesserungswürdig bewertet werden kann, spricht das nachhaltige Besucherinteresse für sich: Zwar erreicht die Einrichtung keine Rekordwerte und verpasste es auch, andere Museen wie das Paley Center for Media oder das Museum of Broadcast Communications zahlenmäßig an Besuchern zu überflügeln, doch verzeichnet es seit seiner Eröffnung konstant solide Werte von etwa 70.000 bis 80.000 Besuchern pro Jahr (vgl. Hajela 2003), bis zu 32.000 davon Schüler (Snyder 2008). Nichtsdestotrotz hängt über dem Haus das sprichwörtliche Damoklesschwert; denn schon einmal erlahmte das Interesse der Öffentlichkeit an einem einstmals gefeierten Bewegtbildmuseum: Es ist ungeklärt, ob das Londoner Museum of the Moving Image des British Film Institute, kurz: MoMI, seiner Zeit voraus war oder den Anschluss an die Medienentwicklung und an die Interessen des Publikums verpasste. Fast zeitgleich mit dem AMMI im September 1988 gegründet und von Prinz Charles eröffnet, avancierte es bald zu einem der meist frequentierten Museen der britischen Hauptstadt (Norman 2002). Schon in den ersten sechs Jahren kamen mehr als zweieinhalb Millionen Besucher (Hardcastle 1994: 21), im Eröffnungsjahr sogar 520.000 (Thomson 2002), was im Vergleich das quantitativ deutlich niedrigere Niveau des AMMI belegt. Die Attraktivität des Londoner Film- und Fernsehmuseums resultierte unter anderem aus einem multimedialen Ausstellungskonzept (vgl. Hardcastle 1994: 21), das neben technischen Gerätschaften, die von den Anfängen der Film- und Fernsehgeschichte zeugten, verstärkt auf visuelle Effekte setzte: In einem für den Besucher durch Glaswände sichtbaren Kontrollzentrum wurden die zahlreich wiedergegebenen Film- und Fernsehbilder überwacht, eine Idee, die später vom Newseum in Washington, D.C. aufgegriffen werden sollte (vgl. Kapitel IV.4.3.1.4.). Transparenz der Museumsorganisation und pädagogische Vermittlung der Bilderflut waren zwei Hauptmerkmale des MoMI, das sich hauptsächlich auf die Filmgeschichte konzentrierte, sich aber auch in einem ausgedehnten Ausstellungsteil der Entwicklung des Fernsehen zuwandte, jedoch vornehmlich als Konkurrenz zur Filmindustrie (Frey-Vor 1989). Hierzu waren neben den ersten britischen Fernsehzeitschriften Fotos und Ausschnitte zu frühen Fernsehproduktionen der 1950er und 1960er Jahre zu sehen. Die televisuelle Signifikanz von Live-Berichterstattung kam ebenso zur Geltung wie der Blick hinter die Kulissen: In einem Fernsehstudio konnten Besucher die „News at Ten" über einen Teleprompter vorlesen, als wären sie selbst Nachrichtensprecher. Weiterhin konnten Besucher als Superman vor einem Bluescreen über den Dächern von London fliegen, eigene Animationen erstellen oder sich von einem Filmkritiker - virtuell - interviewen lassen (Packer 1998). Ironisch war eine Ausstellungskomponente zu verstehen, welche die Hassliebe der Politiker zum Fernsehen kommentierte, indem ein Fenster der „Downing Street 10" gezeigt wurde, durch das Margaret Thatcher und John Major mit grimmigen Minen zu sehen waren, wie sie die Politikberichterstattung im Fernsehen ver-

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Fernseherbe-Verwaltung

folgen. Die konzeptionellen Ähnlichkeiten zum AMMI lagen also auf der Hand: Das .Hands On-Prinzip kam ebenso zur Geltung wie die Befriedigung des besucherseitigen Wissensdurstes. Bemerkenswert war insbesondere die wissenschaftliche Fundierung der Ausstellungsinhalte: Viel Raum wurde einem Segment gewidmet, das auf einer Studie des BFI basierte, für die 16.000 Zuschauer und 2.500 Personen aus der Medienindustrie im November 1988 ihre Fernsehgewohnheiten dokumentiert hatten (Museum of the Moving Image 1992: 38). Unter dem Titel: „Ein Tag im Fernsehen" wurden die Ergebnisse für den Besucher visualisiert. Obwohl die pädagogischen Dienstleistungen des Museums von den Schulen Londons stark nachgefragt wurden, erwies sich die allein von der Privatwirtschaft und Eintrittserlösen zielende Förderbasis als dauerhaft nicht tragfähig. Im Jahre 1999 wurde das Museum wegen Sanierungsarbeiten und Verlegungsplanungen vom BFI geschlossen. Bis dahin war es auf der Londoner South Bank unter der Waterloo Bridge in direkter Nachbarschaft zum National Film Theater, zum Royal National Theatre, zur Royal Festival Hall, zur Queen Elizabeth Hall und zur Hayward Gallery verortet. Drei Jahre später teilte das BFI mit, das Museum nicht mehr wiederzueröffnen. 79 Das American Museum of the Moving Image wiederum hält seine Besucherzahlen relativ konstant und kann auf eine breite kommunale Förderbasis bauen. Es hat sich anders als das MoMI mit seiner Anbindung an den institutionellen Koloss, den das BFI darstellt, als unabhängige, engagierte und wendige Einrichtung mit einem lebendigen Veranstaltungsprogramm profiliert und vor allem innerhalb der New Yorker Filmgemeinde unentbehrlich gemacht. Durch Reihen wie die „Pinewood Dialogues", bei denen Regisseure und nicht die Studios oder Fernsehnetworks ihre Werke präsentieren und über ihre neuen Projekte erzählen, oder Salut-Galas für Schauspieler wie Al Pacino, Dustin Hoffman, Julia Roberts und Actor/Director Clint Eastwood erarbeitete sich das Museum den guten Ruf, die individuellen Akteure der Unterhaltungsbranche ernst zu nehmen und sie persönlich für die Belange des Museums zu engagieren. Obwohl der Filmfokus dominiert, unterstreicht die themengeleitete Annäherung an medienkulturelle Phänomene die übergeordnete Zielsetzung des Museums, sich den Dingen (auch im buchstäblichen Sinne zu verstehen) zu widmen, die innerhalb der Industrie und bei den Nutzern ihre Zeichen hinterlassen haben. „We do everything from the ground up. If something is interesting, we pursue it. [... ] So we are largely attracted maybe by our flexible mission of embracing or forms of the moving image to the pines of activities that would naturally encourage these media to be considered alongside each other and together [...]. So you look at the actual topic and then - whatever the medium - it falls into and whatever the mission is: That's what we follow. [...] In fact I think curators often want to choose a corner of history or the field and focus on that. We encourage everybody to think in an interdisciplinary manner." (Carl Goodman, AMMI). 79

Die Nachricht, dass das MoMI nicht mehr in derselben Form seine Arbeit aufnehmen werde, löste einen Sturm der Entrüstung in der britischen Presse aus (vgl. Bakewell 2002).

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Des Weiteren betont Goodman, dass die Organisation der Dauerausstellung der Überzeugung folge, dass Film und Fernsehen mehr Ähnlichkeiten hätten als Unterschiede und dass diese Annäherung im Produktionsbetrieb immer stärker zum Tragen komme. Die Inter- und Crossmedialität zwischen Film, Fernsehen und Videospielen kommt in der Ausstellung indes nicht in der beschriebenen Weise zum Tragen. Vielmehr sind es die zusätzlichen Veranstaltungsangebote und Bildungsprogramme, die solche Bezüge herstellen. Die Ausstellungserfahrung ist eine stark nach Medienformen differenzierte, wenn auch thematisch strukturierte, und begünstigt daher einen auf Seiten des Besuchers additiv konstruierten Gesamteindruck von der Verschmelzung und den vielseitigen Abhängigkeiten und Einflüssen der audiovisuellen Mediengattungen. Erklärt wird dies damit, dass eine übermäßige Perspektivierung des einen Mediums durch die Imperative des jeweils anderen vermieden werden solle: So sollen nach Auffassung von Kurator Goodman weder das Fernsehen noch Videospiele in der Ausstellung durch die kulturhistorisch dominante ,Film-Brille' wahrgenommen werden, sondern ihre ureigenen Qualitäten und Eigentümlichkeiten offenbaren (vgl. auch Kapitel IV.4.1.4.): „We are allowed to look at the media that way, how they are influencing each other or whether they are in opposition to each other rather than looking only at the history of cinema for example. [...] So here with video games we try to do the same thing: There is this long standing dorm room discussion about the kind of narrative in video games compared with that in films. What we are trying to do with video games is give it the freedom to be judged and experienced entirely apart from film. What's most important and consequential of video games - and this is the curatorial area I had some involvement with - has very little to do with movies. So if we were to look at movies in relation to video games and vice versa, and we did that before, we be missing out a tremendous amount of achievement and work and design in areas that have very little to do with film" (Carl Goodman, AMMI). Noch stärker als zuvor Zusammenhänge zu knüpfen und gleichsam die Eigenständigkeit des jeweiligen Mediums zu wahren, ist einer der Leitsätze einer tiefgreifenden Museumsexpansion, deren Fertigstellung auf das Jahr 2010 terminiert wurde. Zwei Jahre lang waren die Räumlichkeiten des Museums nur sehr eingeschränkt nutzbar, auch die Dauerausstellung musste während der Umbaumaßnahmen erheblich verkleinert werden. Die Kosten der baulichen Erweiterung von etwa 25 Mio. US-Dollar wurden hauptsächlich von der Stadt New York aufgebracht, vertreten durch mehrere kommunale Stellen wie das Kulturamt von New York City und den Bezirksvorsteher von Queens. Auch wurden Mittel von der Bundesbehörde für Haus- und Stadtentwicklung bereitgestellt. Das Museum verdoppelte seine Größe nahezu auf etwa 9.000 Quadratmeter und ergänzte ein Freilufttheater, einen Garten, weitere Räumen für seine Bildungsprogramme und vergrößerte seine Ausstellungsfläche (vgl. Rifkin 2005). Hinzu kommen ein Filmsaal auf dem neuesten Stand der Technik mit 264 Sitzplätzen ebenso wie ein weiterer 71 Sitzplätze umfassender Vorführraum, der hauptsächlich für die Betreuung von Schulklassen zur Verfügung stehen soll. Speziell für Schüler ist darüber hinaus ein Orientierungs-Amphi-

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theater eingerichtet worden, in welchem sämtliche Führungen beginnen sollen und das an Wochenenden als Vorführraum für Familien genutzt wird. Ein alternativer Weg der Zusammenführung unterschiedlicher Medienpragmatismen und Medienphilosophien wird durch die verstärkte Hinwendung zur Videokunst beschritten. In den neu entworfenen breiten Treppenaufgang des Foyers wurde ein Amphitheater integriert, das mit Stufen aufwartet, die auch als Sitzfläche dienen können, um das Geschehen auf einer großen Projektionsfläche über der Eingangshalle zu verfolgen. Videoprojektionen werden auch im gesamten übrigen Besucherteil des Museums präsent sein, selbst eingebettet in die gläsernen Eingangstüren. Videokünstlerische Arbeiten können, das hat bereits die frühe Aufnahme von Werken des Pioniers Nam June Paik in die Ausstellungsarbeit des Museums gezeigt, die Rezeption des Fernsehens im Museumskontext als „degraded kitsch cultural medium" (Lynn Spigel, NWU) kontrastieren und somit eine Brücke schlagen zwischen hochkulturell konnotierter Filmkunst und der Allerwelts- und Alltagsbeschäftigung des Fernsehens. Paiks imposante Installation „GetAway Car" mit 80 Videomonitoren, auf denen jeweils unterschiedliche Fernsehprogramme zu sehen waren, wurde speziell für das Museum kreiert. Heute bietet es in seinem „Nam June Paik Video Viewing Room" die Möglichkeit einer intensiveren Beschäftigung mit der Schaffensbreite des 2006 verstorbenen Künstlers. Die ambitionierte physische Ausdehnung des musealen Agitationsfeldes findet auch im Internet ihre Entsprechung. Parallel baute das AMMI seine Web-Präsenz weiter aus und entwickelte mehrere digitale Projekte, die auf jeweils unterschiedliche Weise die Ausstellungsidee in das virtuelle Medienumfeld übersetzen: Dies geschieht zum einen dadurch, dass bestimmte Inhalte eins zu eins aus der Ausstellung in das Internet-Angebot übernommen werden wie im Fall der digitalen Animation „Shutters, Sprockets, and Tubes: How Moving Image Machines Work", durch welche unter anderem die Funktionsweisen von Fernsehkameras und Fernsehempfangsgeräten erklärt und die allen Audiovisionen zugrundeliegende Illusion der Bewegung veranschaulicht werden. Zum Anderen bietet das Museum in Anlehnung an sein Ausstellungssegment zur Geschichte der Videospiele kurze inhaltliche Einordnungen der einzelnen Spiele und stellt eine Auswahl auch als Computersoftware zum Herunterladen zur Verfügung. Bemerkenswert sind jedoch zwei andere Web-Projekte, welche die digitale Dependance des Museums von den Angeboten der übrigen Fernsehmuseen abhebt: Die Online-Ausstellung „The Living Room Candidate" wendet sich den Wahlkämpfen um das Amt des US-Präsidenten seit 1952 zu, indem es eine Vielzahl aus jeder sich ihrem Ende zuneigenden Legislaturperiode möglichst viele der im Fernsehen ausgestrahlten und später auch viral im Netz in Umlauf gebrachten Werbespots der beiden großen Volksparteien - der Republikaner und der Demokraten - zeigt. So kann der Nutzer am Video-Dokument selbst nachverfolgen, wie sich mediale Wahlkampfstrategien veränderten oder über Jahrzehnte hinweg ähneln, welche der behandelten Themen sich als Dauerbrenner erwiesen (z.B. Korruption oder Steuerpolitik) und wie mit der Angst der Wähler gespielt wurde oder wie versucht wurde, den Gegenkandidaten öffentlich bloßzustellen. Sämtliche Clips

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sind digitalisiert und können jederzeit abgespielt werden, ob jene des Kriegshelden und Republikaners Dwight Eisenhower von 1952, der in seinen Spots „Eisenhower Answers America" Bürgernähe suggerierte, oder jene seines Kontrahenten Adlai Stevenson, der auf schöne Frauen, Gesang und Trickfilm-Charme setzte („I Love The Gov"/„Lets Not Forget the Farmer"). Finden sich aus Wahlkämpfen jüngeren Datums jeweils bis zu 20 Spots der Demokraten und Republikaner, sind es aus den frühen Wahlkampfjahren immerhin um die zehn. Zusätzlich hat das Museumskuratorium eine Auswahl von vierzehn Werbefilmen zusammengestellt, um an den aussagekräftigen Beispielen zu zeigen, welche Taktiken im audiovisuell ausgefochtenen medialen Wettbewerb um Wählerstimmen verfolgt wurden, um mittels Emotionalisierungsstrategien die Aufmerksamkeit des Fernsehzuschauers zu erregen und hohe Erinnerungswerte für die kommunizierten Inhalte und das positiv konnotierte Charakterbild des jeweilige Kandidaten zu erzielen. Lehrer erhalten außerdem in Form eines achtstündigen Lehrplans Hilfestellungen für ihren Unterricht sowie Hinweise auf weiterführende Wissensressourcen im Internet. Das zweite Projekt, mit dem sich der Internet-Auftritt des Museum im Juli 2008 quasi über Nacht zu einem „must-read for serious film and television buffs" (O'Hehir 2008) entwickelt hat, ist die sogenannte „Moving Image Source", die weder Datenbank noch Blog ist, sondern ein kollaborativ bespieltes digitales Magazin und Handbuch für Filmund Fernsehinteressierte. Redaktionell betreut von dem erfahrenen Filmkritiker Dennis Lim, der zuvor bei der New Yorker Wochenzeitung „Village Voice" arbeitete, versteht sich das Projekt als publizistische Plattform eines internationalen Autorennetzwerks aus Film- und Fernsehexperten, die in Berichten, Essays und Analysen die Geschichte der beiden Medien behandeln und Impulse zur Öffnung des fachlichen Diskurs liefern. Im ersten Jahr des Bestehens erschienen durchschnittlich etwa zehn Beiträge im Monat. Der Ressourcencharakter der Website wird gestärkt durch einen internationalen Veranstaltungskalender, der inhaltliche Details zu Retrospektiven, Festivals und anderweitigen historisch ausgerichteten Terminen auflistet, sowie ein umfassender Katalog von film- und fernsehhistorischen Anlaufstellen aus den Bereichen Kritik und Theorie, Geschichte und Stile, Industrie, Leute sowie Technologie und Handwerk, die für die akademische Forschung relevant sind. So sind neben einer Vielzahl von Zeitschriften- und Literaturdatenbanken auch die meisten der in der vorliegenden Untersuchung behandelten unternehmerischen und gemeinnützigen Institutionen der Fernseherbe-Verwaltung aufgelistet. Die neue Plattform verhilft dem Museum in erster Linie zu einer größeren Reichweite, die weit über die eigentliche Besucherschaft hinausgeht, sondern auch gänzlich neue, museumsfremde Zielgruppen anspricht, die über die Web-Publikation mit den Themen und Angeboten des Museums in Kontakt kommen, auch weil Videomaterial zu bestimmten Veranstaltungsreihen wie die Aufzeichnungen der „Pinewood Dialogues" kostenfrei zum Abruf ins Netz gestellt werden. Das American Museum of the Moving Image scheint mit seinem Engagement im Internet auf dem besten Weg zu sein, ein Forum für den Erkenntnis- und Wissenstransfer zwischen Fachpublikum und allgemein interessierten Film- und Fernsehliebhabern zu

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

schaffen, das den Mediennutzungsgewohnheiten einer immer größeren Rezipientenklientel entspricht. Die Etablierung eines Erinnerungsnetzwerks entsprechend des funktionalen Kerns des Museums als Gedächtnisorganisation, die offensiv ihren manifesten Erinnerungsort ausdehnt, um auch im übertragenen Sinne mehr Platz einzuräumen für die Engagierung der Besucher in einen Diskurs, der autobiographisches Reflektieren im Spannungsfeld mit der überindividuellen historischen Entwicklung der audiovisuellen Medien ermöglichen soll, ist damit jedoch noch nicht geschafft. Wie das Paley Center for Media und das Museum of Broadcast Communications verharrt das AMMI primär in expertischen Perspektivierungen, die es bislang nicht zugelassen haben, dass sich partizipatorische Tendenzen aus den Reihen der allgemeinen Publika zu eigenständigen Projekten oder Strömungen innerhalb der Museumsagenda verdichten und gleichberechtigt zur kuratorisch-redaktionellen Agenda (im Gegensatz zu vom Kuratorium aufgegriffenen Publikumspräferenzen) Einzug in die Museumsarbeit finden. 4.3.1.5.

Selbstverliebte, interaktive Wundertüte: Das

Newseum

Die Reise in die Vergangenheit beginnt wie auf einer Achterbahn: auf einem wackeligen Sitz und mit einer frischen Brise im Gesicht. Das erste Nachrichtenmuseum der USA empfängt seine Besucher mit der Einladung, drei leidenschaftliche historische Charaktere bei ihrer aufopferungsvollen Arbeit zu begleiten, und dies nicht allein mittels einer audiovisuellen Projektion auf großer Leinwand, sondern mit allen Sinnen. Unter dem Titel „I-Witness: A 4-D Time Travel Adventure" begibt sich der Besucher mit einer 3D-Brille auf eine dreizehnminütige Erlebnistour vom US-amerikanischen Schlachtfeld von Lexington im Jahre 1775, wo der „Patriot Printer" Isaiah Thomas (vgl. Shipton 1948) unter Einsatz seines Lebens von der Bürgerkriegsfront berichtete, über eine heruntergekommene Nervenheilanstalt im Jahre 1887, in die sich die junge „Detektivreporterin" Nellie Bly von der „New York World" voll investigativer Inbrunst einschleusen ließ und selbst drohte, ihren Verstand zu verlieren, bis hin zu Edward R. Murrows Radioberichten von den Dächern von London im Jahre 1940, als der Blitzkrieg tobte. Doch der Zuschauer spürt auch die Druckwellen der Kanonenschüsse, wird auf seinem Sitz ob der turbulenten Szenerie hin und her geschaukelt und durch die vorgetäuschte Berührung einer flüchtenden Ratte an der Unterseite seiner Oberschenkel aufgeschreckt: Entsprechend dem Museumsslogan „Where News Comes to Life" soll sich der Besucher also mittendrin im Geschehen fühlen, wenn er die historischen Journalistenvorbilder bei ihrer ehrenvollen Nachrichtenaggregation begleitet. Das Newseum in Washington, D.C., dessen Name eine aus Markengesichtspunkten geschickte Verschmelzung des Nachrichten- und des Museumsbegriffs darstellt, nahm seinen Betrieb bereits im Jahr 1997 auf, damals jedoch noch jenseits des Potomac River im Bezirk Rosslyn der Nachbarstadt Arlington, Virginia. Im April 2008 wurde nach fast achtjähriger Planungs- und viereinhalbjähriger Bauphase der Museumsneubau an der Pennsylvania Ave im Regierungsdistrikt der Bundeshauptstadt eröffnet. Die Vorführung des neuen und aufwendig produzierten Kurzfilms im 535 Sitzplätze umfassenden und

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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nach dem Verlegerehepaar Walter and Leonore Annenberg benannten Zentraltheater des Museums gibt die Schlagrichtung der Ausstellungskonzeption vor: Abgezielt werde auf „You-Are-There"-Erfahrung, die qualitativ hochwertige Museumsinhalte mit der Spannung und Aufregung eines Freizeitparkbesuchs kombiniere, heißt es in einer Pressemitteilung (Newseum 2007). ,,[I]t is designed to be both an immersive and entertaining experience", erklärt der stellvertretende Museumsdirektor und Vize-Leiter der Rundfunkabteilung Paul Sparrow. Es nimmt daher auch nicht wunder, dass derselbe Ton auch in den drei Orientierungstheatern angeschlagen wird: Hier wird der Einführungsfilm „Whats News?" gezeigt, der hochemotionalisiert und mit dramatisch verdichteten Fernsehprogrammausschnitten zu zeitgeschichtlichen Ereignissen das Wirkungsspektrum und die Wirkungsmacht des Nachrichtenwesens vor Augen führt: Da heißt es „War is news" mit Bildern des ersten Atombombenabwurfs und aus den Kriegen in Vietnam und dem Irak, aber auch „Piece is News", „Life is News" und „Death is News". Die Aufzählung setzt sich fort: „Love is News", „Hate is News". Sie wird begleitet von kurzen Clips beliebter Stars des Medienbetriebs, gefeierter Politiker, aber auch vom Bombenanschlag in Oklahoma City von 1995, den Terrorattacken von New York, Madrid und Indonesien zu Beginn des dritten Jahrtausends. Am Ende steht das mahnend feierliche „Sacrifice is News": Hier verweist der achtminütige Film auf das Problem im Dienst getöteter Journalisten hin und erklärt ihr Erbe zum Auftrag zukünftiger Generationen: „Justice is News" und das Zitat Thomas Jeffersons, dass die Freiheit der Presse nicht beschränkt werden dürfe, wenn sie nicht verloren gehen solle. Das Newseum verliere sich in „eitlen Mythen und übersteigertem Heldenpathos" (Ostermann 2008), wurde zur Eröffnung der neuen Ausstellung kritisch angemerkt. Wenigstens blieb sich das Museum mit der zelebratorischen Beschäftigung mit seinem Leibund Magenthema treu: Schon 1997 war für manchen Kritiker offensichtlich, dass es dem Museum im Kern darum gehe, „Media Heroes" zu feiern (Bowman 1997). Das Fernsehen spielt in dieser Konstruktion eine systemisch zwar unverzichtbare Rolle, jedoch steht die Karriere der schreibenden und fotografierenden Zunft als Erfolgsgeschichte der Demokratie im Vordergrund. Der Anspruch, sich „news in all its forms" zu verschreiben (Myers 1997) wird aber erfüllt, wenn auch grundsätzlich mit großen Worten: „Thanks to television, for the first time the young are seeing history being made before it is censored by their elders", wird die Anthropologin Margaret Mead an einem Wanddruck zitiert. An anderer Stelle steht in nicht weniger ausladenden Lettern geschrieben: „TV news can only present the bare bones of a story; it takes a newspaper, with its capability to present vast amounts of information, to render the story truly boring", ein Zitat des Kolumnisten Dave Barry. Ohne die klassischen Massenmedien, das ist die Grundüberzeugung, auf der das Newseum errichtet wurde, hätte die freiheitliche demokratische Verfassung der USA vermutlich nicht lange überlebt. Der Journalismus und seine medial bedingten Artikulationsformen als Rückgrat der Informationsfreiheit werden in einer chronologischen Darstellung ihrer historischen Entwicklung von einem frühen spanischen Nachrichtenbuch

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aus dem Jahre 1541 mit einem Bericht über ein fatales Erdbeben in Guatemala bis zu den Bildkaskaden der Gegenwart. Einzelne Sammlungsstücke reichen aber noch weiter zurück wie der Brief, den Christoph Columbus an Königin Isabella von Spanien über die Entdeckung Amerikas schrieb (vgl. Anonym 1997a) oder drei altägyptische Artefakte, deren Alter auf über 3.000 Jahre geschätzt wird. Image-Pflege oder Selbstkritik?

Gegründet wurde das Newseum von der gemeinnützigen Journalistenorganisation Freedom Forum, die im Jahr 1991 vom Gründer der ersten nationalen US-amerikanischen Tageszeitung „USA Today" ins Leben gerufen wurde. Durch die Anlagewerte der 1991 ebenfalls in Freedom Forum umgetauften Stiftung des 1957 verstorbenen Zeitungsverlegers Frank E. Gannett, dessen prosperierendes Verlagsunternehmen nach seinem Tod weiter wuchs und später auch die „USA Today" herausgab, verfügte das Forum bereits Mitte der 1990er Jahre zeitweise über Mittel von etwa einer Milliarde US-Dollar (Powers 1997; Trescott 2008a).80 Ein Museum über die Geschichte des Journalismus war eine naheliegende Idee, welche sich mit dem zur Verfügung stehenden Kapital leicht realisieren ließ. Der sich bei manchem Kritiker bisweilen einstellende Eindruck, dass sich der Berufsstand mit der Museumsgründung vor allem selbst feiern wollte, wurde auch durch die Äußerung des damaligen Museumsleiters und ehemaligen Chefredakteurs der „USA Today" Peter S. Prichard gestärkt, der zur Eröffnung erklärte: „Many people, sometimes a majority, don't believe us [the journalists - LK], often with good cause. Partly it's because most people outside the profession don't really understand who we are and what we do and how and why we do it. We hope our visitors will come away with a better feel for the business, and a deeper appreciation of the importance of the First Amendment" (zitiert nach Burchard 1997). Der kritisierte Ansatz des Newseum, die Leistungen von Journalisten in den klassischen Massenmedien tendenziell zu glorifizieren, ihre Verfehlungen und die teilweise problematische Rolle der massenmedialen Informationsvermittlung herunterzuspielen, gehört zu einer der wesentlichen Konstanten innerhalb der Museumskonzeption. ,,[W] hat's most striking about the Newseum [...] is not its hands-on function but its philosophical intensity" (Wren 2009: 22), worunter die Rezensentin die bemerkenswerte Intensität versteht, mit der das Freedom Forum die Relevanz des Journalismus in der Informationskultur überhöht und an nur allzu zahlreichen Beispielen zum ausschlaggebenden Faktor im Ablauf der Weltgeschichte macht. Dabei setzt das Newseum in seinen Kommunikationsstrategien zielsicher auf die inszenatorischen Stärken der klassischen Medien, nicht auf ihre Schwächen: ,,[Y]ou're not supposed to be moved but wowed" (Ferguson 1997). 80

Gleichzeitig traf die Zeitungskrise die Gannett Company besonders hart: Der Traditionsverlag musste 2009 kontinuierlich hohe Umsatzrückgänge im Anzeigengeschäft beklagen und sah sich zu einem umfangreichen Personalabbau gezwungen (vgl. u.a. Perez-Pena 2009; Adams 2009a; Adams 2009b).

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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Folgt man den Kritikern, steht nicht Skepsis im Vordergrund, sondern Bewunderung für die lange Geschichte der tagtäglichen und im Museum kondensierten Bereitschaft des journalistischen Berufsstandes, sich für die verfassungsgetreue Meinungsfreiheit einzusetzen. Es soll gestaunt werden, das Newseum möchte Eindruck schinden: Diese tonangebende Devise trägt maßgeblich dazu bei, dass bei aller Kritik an den Fehltritten einzelner Journalisten im Detail die Glorie des Berufsstandes nicht in Frage gestellt wird, so auch bei den thematisierten Fälschungsskandalen der Pressegeschichte: Unter der Frage „Can the Press be Trusted?" werden unsachgemäße Berichterstattung, dreiste Irreführung oder bequeme Erfindungen aus journalistischer Feder erklärt mit Zeitdruck vor dem Redaktionsschluss und Fehlern bei der Einschätzung von Informationen zurückgeführt - oder es handele sich um die jeweils spezielle Sicht des Reporters, die aber, so die implizite Begründung, ebenso ihre Berechtigung habe wie alle übrigen Haltungen. Über allem steht die Rechtfertigung „To Err is Human", einer weiteren fortlaufenden Rubrik in der Ausstellung. Gleichwohl betont Museumsvertreter Paul Sparrow, dass das Newseum einen durchaus kritischen Ansatz bei der Aufarbeitung der Nachrichtengeschichte und der Beobachtung des aktuellen Nachrichtenbetriebs verfolge, was sich auch daran zeige, dass trotz der engen Verflechtung mit Kooperationspartnern aus der Fernsehbranche bisweilen die Herausgabe von Sendematerial verweigert worden sei: „There has been footage that we have not been allowed to use. [...] [W]e criticize the media very aggressively. We are no cheerleaders. If the media does something wrong, we point it out. We have done very harsh treatments on work that was done by the ,New York Times' for example. We did a whole hour long documentary that was awarded with an Emmy about their coverage of the Holocaust. We mention NBC's use of an igniter device on a truck on a stage video they did for the ,Dateline'-magazine. We've criticized Fox News, scenes from ABC News where one of their anchors gets things wrong, so we address the issues of inaccuracy. We have a whole piece called .Getting it right' that looks at mistakes that the media make and why the media make mistakes. We have people who talk about that; we have a piece on bias and on sources. We go after the issues which we believe are crucial for a free press. With that right comes great responsibility, and when they don't live up to that responsibility - and often they don't - then it is our job to point it out" (Paul Sparrow, Newseum). In welche Gewissenskonflikte ein Museum geraten kann, das sich ebenso mit vor- und frühgeschichtlichen Aspekten der Nachrichtenverbreitung wie mit den jüngeren Branchenentwicklungen und Karrieren noch lebender Akteure beschäftigt, zeigt der Fall des Auslandskorrespondenten Jack Kelley, der sich mit seiner langjährigen Berichterstattung aus Krisenregionen bei der „USA Today" zum Star unter den Reportern hochgearbeitet hatte (vgl. u.a. Hilliard/Kovach/Seigenthaler 2004; Rosen 2004), diesen Status jedoch später dazu nutzte, um über zehn Jahre lang Berichte oder Teile davon auf Basis unklarer Quellenlagen zu fabrizieren: „A lot of us were good friends with Kelley. Jack Kelley was a friend of mine, we had programs with him, we did exhibits with him, we had artifacts from him from the

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Iraq war, he was in our War Correspondents Online Exhibit. We were all shocked, really shocked. Some of our people had hired him. The president of the Newseum had hired him at USA Today. We have known him for twenty years. It was horrible when the story broke out. But yet we pulled him from our website, we changed our exhibits; we addressed the fact that he had lied about his stories, and that's what you have to do" (Paul Sparrow, Newseum). Enthüllungen solcher Scham-Momente des Journalismus von Jack Kelley bis zu Jayson Blair von der „New York Times" (vgl. Kapitel III.6.2.3.) haben also immer auch Rückwirkungen auf das im Museum entworfene Geschichtsbild und die Erinnerungskonstruktion von Besuchern und den professionellen Akteuren, die sich im Hintergrund bei der Inszenierung ihrer korporativen Autobiographie bisweilen korrigieren müssen. Nur ein Bruchteil der insgesamt über 4 0 prominenten Skandale rund um Journalisten und ihren vor allem ethisch fragwürdigen Missetaten bei der Erfüllung der hehren Funktion des Berichterstatters im Dienste der Öffentlichkeit kommt im Newseum tatsächlich zur Sprache. 81 Inwiefern dies intentional unter dem Bias einer nur zaghaften Selbstproblematisierung geschieht oder es tatsächlich für die Befeuerung des öffentlichen Diskurses ausreicht, stichprobenartige Beispiele nachzuzeichnen, bleibt eine offene Frage, die indes zeigt, dass insbesondere Museen der Medien, seien sie exklusiv dem Fernsehen oder einem weiten Spektrum unter dem Fokus eines Berufsfeldes wie im Fall des Newseums gewidmet, in außerordentlichem Maße anfällig sind, zum Austragungsort nicht nur von historischen Debatten, sondern in erster Linie sogar für Erinnerungskontroversen zu werden, die nicht nur die Wissenschaft, sondern aufgrund der vielmaschigen Verflechtung der Massenmedien in die Alltagswelt der allgemeinen Bevölkerung jedermann und nicht zuletzt auch Wirtschaft und Politik auf den Plan rufen, um sich mit ihrer jeweiligen Perspektive daran zu beteiligen. Dass das Debattenpotenzial des Newseums nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, belegte auch die Kakophonie an publizistischen Salven, die Kritiker zur ersten und in beinahe identischer Tonalität auch zur zweiten Eröffnung gegen das Museum abfeuerten: Dass sich das Newseum der Aufklärung und Selbstkritik verschrieben haben wollte, wurde in den Reihen vieler journalistischen Beobachter in den USA und Deutschland nicht ernst genommen: Es handele sich um nicht mehr als einen „Eerie Temple" (Fine 2008), eine „News Cathedral" im ironischen Sinne (Malone 2008), ein „Nachrichtenfeuerwerk", das nichts mit einem Museum gemein habe (Mischke 2009), eine „gigantische Ruhmeshalle" (Gerste 2008), um den Versuch der „Ehrenrettung" einer Profession zweifelhaften Rufs (Koear 1997), um ein „Multimediaspektakel" (Mehnert 2008), einen „elektronische[n] Erlebnispark" (Rief 2008), gar um ein „Spielcasino" (Staub 1999) oder „mediale Zuckerwatte" bzw. einen „Jahrmarkt der Eitelkeiten" (Ruß-Mohl 2008). Ob sie nun beiläufig anklingt oder sich in beißender Direktheit in den Überschriften der Kommentatoren und Rezensenten findet: Das ambitionierte und nicht selten als selbstherr81

Eine medienübergreifende Liste mit weiterführender Literatur findet sich in der englischen Ausgabe der Online-Enzyklopädie „Wikipedia" (Wikipedia 2009).

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lieh verstandene Museumsprojekt der Nachrichtenindustrie wurde von Vertretern der eigenen Profession primär mit Häme quittiert. Es sei gar zu verstehen als „testament to the terrifying insecurity that lurks at the heart of American journalism" (Ferguson 1997). Anderswo wurde von einem Mausoleum geschrieben „for an industry purportedly on its death bed" (Balko 2009) „with the marble First Amendment slab serving as its tombstone" (Podhoretz 2008: 38). Die Marmortafel an der Frontseite des Museums, in die in großen Lettern der erste Zusatzartikel zur US-amerikanischen Verfassung gemeißelt wurde, schwebt tatsächlich in ihrer Massivität von 30 Metern Höhe und einem Gewicht von 50 Tonnen mahnend und selbstvergewissernd zugleich am Rande der National Mall von Washington, D.C. Das Newseum scheint sich aus der Sicht des Kommentators John Podhoretz störrisch gegen das Unausweichliche zu stemmen: Den langsamen Untergang der Zeitung und generell der klassischen Nachrichtenorganisationen. Mit medialem Bilderbeschuss ä la „I-Witness" und der materiellen Wucht gigantischer Artefakte sowie der nicht weniger imposanten Museumsarchitektur werde hier versucht, abzulenken von der um sich greifenden Irrelevanz des althergebrachten Nachrichtengeschäfts. Die Glorifizierung versperre aber eben jenen Blick auf den authentischen Journalismus mit all seinen übergangenen Prinzipien, verkommenen Idealen und ausgeprägten Dilemmata, wie er in seiner tiefgreifenden Widersprüchlichkeit Nachrichten als „rough first draft of history" hervorbringe. Podhoretz weist auf eine alternative Lesart des Satzes von Philip Graham, des ehemaligen Chefredakteurs der „Washington Post", hin: ,,[E]very writer knows in his marrow, and every editor knows to his annoyance and grief, the central quality of a rough first draft is that it is full of mistakes" (ebd.: 41). Dem Newseum wird gleichsam implizit abgesprochen, das Potenzial zum Korrektiv all jener Fehler zu haben, die der Journalismus in seiner unreflektierten Geschwindigkeitshörigkeit produziert. Zehn Jahre zuvor bereits glaubte William Powers, Redakteur des Politikmagazins „The New Republic", hinter dem bunten Treiben eine ähnliche Taktik zu erkennen: ,,[K]eep it chaotic to preclude boredom" (Powers 1997: 13-14). Aggressive

Zielgruppenarbeit

Auch Newseum-Vize Paul Sparrow bestätigt aus Museumssicht die angespannte Situation der Nachrichtenwirtschaft und führt diese in ähnlicher Weise wie die zuvor angeführten Kritiker auf den Schlendrian der Nachrichtenmedien selbst als Ursache für eine gewachsene Distanz zu ihren Publika zurück, zieht daraus aber den entgegengesetzten Schluss, dass es nun gelte, diese zum Teil entfremdeten Nutzer mittels engagierter wie engagierender Angebote wieder zu begeistern, auch um das zum Teil verlorene Vertrauen zurückzugewinnen. So habe sich das Freedom Forum mit seinem Museum von dem früheren Fokus auf die journalistische Aus- und Weiterbildung in aller Welt einem verstärkt generalistischen Ansatz zugewendet: „ [ A] s we shifted to a more public focus with the new facility, we said that our primary audience is the general public. They are the ones we have to reach; they are the ones

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

that we have to teach about the importance of a free press. Because lets face it: The support of the free press has steadily eroding for the last forty years. The last ten years it has come up again a little bit, but it was dramatically damaged by the irresponsible use of media by tabloids, television programming, by internet, so the credibility and the authority of the news' voice has been sharply diminished by the proliferation of outlets that don't have journalistic integrity" (Paul Sparrow, Newseum). Sparrow spricht von „aggressiver Zielgruppenarbeit" wenn er die neuen M a ß n a h m e n beschreibt, wie das Museum neue Publikumsfelder zu erreichen sucht. Im Fokus stehe der allgemeine Besucher, der keinerlei professionelle Interessen mit dem Museum oder der Nachrichtenindustrie verbinde: Hier müsse über alle Altersgrenzen hinweg, aber auch ohne sich auf eine bestimmte Altersgrenze wie Kinder und Jugendliche zu konzentrieren, womit Sparrow ausdrücklich die Erwachsenen- und speziell Seniorenbildung als relevantes Betätigungsfeld des Museums hervorhebt, angesetzt werden, um Wissen zu vermitteln und den Besucher anzuregen, sich in Beziehung zu setzen mit den präsentierten Facetten des Nachrichtenwesens und seiner Geschichte, die i m m e r auch Zeitgeschichte war und ist. Zwar seien auch professionelle Akteure aus Politik und (Medien·) Wirtschaft im Museum gern gesehen, dann aber vorzugsweise als Gäste, die mit ihrem praktisch-fachspezifischen Hintergrund zur Wissensvermittlung und Diskussion bestimmter Themen beitragen könnten: , , [ 0 ] f course we want our facility to be impactful on decision makers in this country. However, this is not our target audience. In the same way that the evening news or the ,New York Times' want their reporting read or watched by decision makers, they are not targeting the decision makers with their products. They are targeting the general public with their news, that's their job. I see ourselves in that kind of role: Our target audience is the general public, but at the same point we want the decision makers, we want the news makers to take notes" (Paul Sparrow, Newseum). Obwohl bereits der erste Museumsstandort im Nachbarort Arlington gegenüber dem markanten Verlagsturm der „USA Today" prominent platziert war (vgl. Hellman 2004: 154-155), war es für Laufkundschaft bzw. flanierende Touristen im abgelegenen Rosslyn zu abgelegen. Mit dem Umzug in die Pennsylvania Avenue direkt an der National Mall, unweit des Weißen Hauses und nahe des Nationalarchivs verschaffte sich das Newseum den Rang eines neuen touristischen Hotspots mit einer nahezu „aufdringliche [n] Symbolik" (Rüb 2 0 0 8 ) „at the nexus o f American politics" (Paul Sparrow, Newseum). D e r vom auch aus der Ferne zu entziffernden „First Amendment Tablet" vermittelte Eindruck, das Newseum sei bestrebt, sich vorrangig auch als Mahner einer Sicherung der freiheitlichen Meinungs- und Informationsrechte gegenüber der politischen Kaste zu betätigen, trügt also insofern, als dass das Museum primär Erlebnisreize für den gemeinen Besucher zu vermitteln sucht. Tatsächlich regiert im Newseum vor allem eines: Spaß und Unterhaltung und kurzweiliges Staunen. Das Haus sei derart überdimensioniert und verspielt, dass es ebenso vom Größenwahn einer Branche zeuge wie von ihrer pathologischen „Selbstvergessenheit", meint der Luganer Kommunikationswissenschaftler Stephan Ruß-Mohl.

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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Doch was mit Selbstvergessenheit bezeichnet wird, die bekanntlich einen „einen Zustand [markiert], in dem eine Person [...] sich mental an einen Gedanken oder ein intensives Gefühl .verliert' und für Außenstehende nicht mehr erreichbar scheint" (Clemens 2008: 17), ist wohl treffender mit Selbstzufriedenheit zu beschreiben; denn publikumsaffin ist das Haus allemal. Der Terminus der Selbstvergessenheit wiegt aber dennoch schwer, impliziert Ruß-Mohl damit wohl auch die fehlende Fähigkeit oder Bereitschaft zur Selbstreflexion der Medienbranche, die im Newseum ihre Fortsetzung finde. Dem Publikum indes gefällt der Budenzauber aus auratischen Zeugnissen der Vergangenheit, multimedialen Gimmicks und gekonnt aufeinander abgestimmten ServiceLeistungen bis hin zu einem integrierten Feinschmeckerrestaurant. Paul Sparrow (Newseum) erklärt in diesem Zusammenhang auch den Eindruck, dass Form und Erlebnis vor der Vermittlung von Inhalten stünden: „[A] successful museum involves a lot of pieces. Architecture is important: Does the building inspire them? Visitor services is very important: Can they find the bathroom? Is there a place to eat? Do they have to wait in line for a long time? In some ways this is the most important component of a visitor experience in a museum. Content often ranks third or fourth when visitors rank their experience to a museum. How good was the content is important and it's why they went there, but there are so many influences to their visitor experience. So we want to make the content as good as we can, but we are also committed to visitor services. We have a huge visitor service department. When you walk through our museum, it's not like in the Smithsonian, where the only people you see are guards. We are gonna have people who'll help you, who'll guide you, explain things. We are gonna have gallery tours, so visitor services are incredibly important, and I wouldn't say that the interactivity is the most important thing" (Paul Sparrow, Newseum). Konzipiert wurden die Ausstellungsareale von dem Museumsdesigner Ralph Appelbaum, der bereits für das Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. verantwortlich zeichnete. Das Renommee der Planer trifft ebenfalls auf den Architekten James S. Polshek zu, der zuvor das Hayden Planetarium des American Museum of Natural History in New York entworfen hatte. Das neue Newseum nun geriet zu einem siebenstöckigen Prachtbau, der auf jedem seiner 23.000 Quadratmeter Fläche Publikumsnähe propagiert. Die dem Museum zur Verfügung stehende Fläche wuchs damit im Vergleich zu seinem vorherigen Domizil um mehr als das Dreifache. Auch die Öffnungszeiten wurden erheblich verlängert: von insgesamt 35 Stunden pro Woche am alten Standort (mittwochs bis sonntags geöffnet) auf 56 Stunden am neuen (täglich geöffnet). Kostete der erste Bau noch 50 Mio. US-Dollar - 21 Mio. mehr als ursprünglich vorgesehen (vgl. Anonym 1994) - , schnellten die Kosten für den Neubau auf insgesamt 450 Mio. US-Dollar, einschließlich des Grundstücks, das allein 100 Mio. Dollar kostete (vgl. Baker 2000). Das dem Newseum zugrundeliegende multimediale Popularisierungskonzept, das von Kritikern teils etwas verächtlich auf die Formel „Disneyland meets the Smithsonian" (vgl. Galup 2008) gebracht wurde, funktioniert zumindest auf der Seite des herkömm-

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liehen Besuchers: Kamen in den ersten fünf Jahren in Arlington rund 2,2 Millionen Besucher (Seelye 2007), waren es allein im ersten Jahr in Washington, D.C. schon 714.000. Zwar konnten die teils übertriebenen Erwartungen von mehreren Millionen Besuchern im Jahr (noch) nicht eingelöst werden (vgl. Grotticeiii 2008: 40), doch dass bereits am Eröffnungstag annähernd 11.000 Besucher in das Museum drängten und es schon um 14 Uhr für die noch wartenden Interessenten geschlossen werden musste, weil die Kapazitäten des Gebäudes erreicht waren (Dvorak 2008), wurde als vielversprechender Auftakt gewertet. Der Publikumserfolg des Newseums zeigt sich nicht allein quantitativ. Wie positiv das Museum und seine Inhalte von seinen Besuchern angenommen werden, artikuliert sich in einer Vielzahl an von Besuchern erstellten Videos auf Portalen wie „YouTube", an Fotostrecken über Museumsbesuche in der Foto-Community „Flickr" und unzähligen privaten Blog-Einträgen, in welchen über die persönliche Museumserfahrung und eigenen Entdeckungen von interessanten Gegenständen, Themen und Sichtweisen innerhalb der Ausstellung geschrieben wird. Beinah schon kunstfertig versteht es das Newseum, Gewöhnliches zur Sensation zu stilisieren und ernsten wie abstrakten Themen des öffentlichen Lebens häufig auch mithilfe televisueller Inhalte und Technologien zu einer leichtverständlichen, gar verschmitzten Anschaulichkeit zu verhelfen. An zentralen Scharnierstellen finden sich aufhellende Humorelemente wie zum Beispiel die Präsentation von Ausschnitten aus den Satireshows „The Daily Show with Jon Stewart" und „The Colbert Report" oder aus der Late Night Show von David Letterman („A Lighter Look at the News"), und sei es ein Auftritt des Newseum-Maskottchens, vielsagenderweise ein menschengroßer Spürhund aus Plüsch mit dem wenig einfallsreichen Namen „News Hound", der zur Belustigung vornehmlich jüngerer Besucher vorgesehen ist. Die größte Faszination dürfte aber von den imposanten Ausmaßen des Newseums ausgehen: Ein 30 Meter hohes Atrium („Great Hall of News"), ein etwa zwei Kilometer langer Ausstellungsrundgang, 130 interaktive Medienstationen, 15 Vorführräume, ein Big Screen Theater mit einer 30 Meter langen Videowand, auf der Ausschnitte aus historischen Fernsehnachrichtensendungen und Dokumentationen gezeigt werden, aber auch die Möglichkeit besteht, im Falle eines Nachrichtenereignisses zeitgleich mehrere hundert Kanäle abzubilden, eine 18 Meter große Leinwand mit 3D-Projektor82 und das zur Zeit der Museumseröffnung weltgrößte LCD-Display (zwölf mal sechseinhalb Meter) im Foyer, dessen Inhalte ohne Mühe auch von der Straße aus verfolgt werden können, sorgen bereits durch ihre geballte zusammenhängende Komposition für ein spektakuläres Museumserlebnis. Ereignisfixierte

Themensetzung

Mit Blick auf den gewaltigen Flachbildschirm in der „Great Hall of News" merkt Paul Sparrow an, das Newseum betrachte ihn „as a kind of electronic signage" im konkreten Sinne eines museumsinternen Leit- und Orientierungssystems, aber auch im übertrage82

Zur technischen Ausstattung vgl. u.a. Wisehart 2008; Anonym 2009b.

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nen Sinne als audiovisueller Finger am Puls der Zeit: Jederzeit könne die Bildfläche im Falle eines Medienereignisses, das den Operateuren im elektronischen Kontrollzentrum des Museums wichtig genug erscheint, mit der Live-Berichterstattung von Fernsehsendern aus aller Welt bespielt werden. Wegweisend ist zumal die inhaltliche Marschrichtung des Newseums, das mit seiner Fixierung auf nachrichtliche Ereignisse der Logik der klassischen Massenmedien folgt, anstatt seine museale Hegemonie über die Auswahlprinzipien journalistischer Akteure zu behaupten. Der Vorwurf des Amerikazentrismus jedoch, der zum Teil laut wurde, lässt sich nur zum Teil aufrechterhalten. Zumindest der Schein, die Sammlung fremdländischer Exponate sei „verschämt klein" (Rüb 2008), trügt: Allein Deutschland als Land wichtiger Nachrichtenereignisse und historisch relevanter journalistischer Errungenschaften kommt in elf der 14 Galerien zur Sprache: Neben der eindrucksvollen Präsenz der nach Museumsangaben größten Sammlung von Überlieferungen der Berliner Mauer außerhalb Deutschlands (so finden sich acht Mauerblöcke von insgesamt zehn Meter Länge und ein zwölf Meter hoher Wachturm in der Berlin Wall Gallery) werden regelmäßig die Titelseiten verschiedener deutscher Tageszeitungen ausgestellt (von insgesamt 80 aktuellen Zeitungen aus aller Welt). Ein Schmuckstück der Sammlung ist eine von 48 noch existierenden originalen Gutenberg-Bibeln aus dem Jahr 1455, und selbst der erste Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten wird im Newseum zum Teil auf freiheitliche Impulse aus dem Deutschland des 18. Jahrhundert zurückgeführt. Die „News History Gallery" verweist über 30 Mal auf historische deutsche Bezüge auf die Nachrichtengeschichte. Wenn auch auf ereignis- wie ideengeschichtlicher und auf quellenspezifischer Ebene nicht nur Deutschland, sondern auch andere Länder und Regionen der Welt immer wieder thematisiert werden, wird der ,Blick von außen, das heißt die herausfordernde Fremdsicht auf das Nachrichtengeschehen rund um den Globus nur schlaglichtartig am Rande durch die selbstvermittelte Aussagekraft fremdländischer Fernsehnachrichtensendungen oder Titelseiten fremdsprachiger Zeitungen sichtbar. Die Aufarbeitung der Nachrichtengeschichte und der Entwicklung des journalistischen Berufsstandes bleibt tatsächlich hauptsächlich auf einen stark US-zentrischen Akteursfokus fixiert. Offensiv wird die Ansicht vertreten, dass die USA sich aus ihrer Demokratiegeschichte heraus zum Primaten des globalen Nachrichtenwesens und nicht zuletzt auch Medienschaffens im Allgemeinen entwickelt haben: „From the colonial period on, American media did sort of redefine a lot of what media was, partly because of the First Amendment, because we had a freedom that no other country had. Partly because of the American entrepreneurial spirit we would constantly pushing the boundaries. I think you see much more leveling of that globally as technology changes and you see much more level playing field, particularly after World War II, many of the countries around the world were devastated and we had a head start with television and then we created the internet, so we had a great advantage in that" (Paul Sparrow, Newseum). Diese historisch hergeleitete Selbstgewissheit des Newseums als erstrangig US-amerikanische Gedächtnisorganisation mit dem Anspruch einer federführenden Deutungs- und

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

Vermittlungsinstanz mit internationaler Reichweite ruft zweifellos Kritik hervor, zumal die 14 großen Galerien des Museums jeweils nach führenden US-Nachrichtenunterhemen benannt wurden, welche die Einrichtung mit hohen Millionenbeträgen sponsern und damit bestrebt sind, ihre bereits de facto auf dem internationalen Medienmarkt festzustellende Hegemonialstellung auf den musealen Wirkungsbereich auszudehnen. Die New York Times Company und die Verlegerfamilie Ochs-Sulzberger gaben zum Beispiel zehn Mio. US-Dollar, andere Medienkonzerne wie ABC News/Walt Disney Company, NBC Universal, News Corp. und eine Reihe anderer Unternehmen insgesamt 42 Mio. (Files 2006). Interessierte Namensgeber mussten vor der Eröffnung des Neubaus mindestens fünf Mio. US-Dollar spenden, um eine Galerie auf ihren Namen gewidmet zu bekommen (vgl. Eggerton 2007). Abgesehen von dieser unternehmensgeprägten Überwölbung der behandelten Themen und Aspekte der Mediengeschichte, die bis auf einige Ausnahmen unter einer perspektivischen Engführung leidet, schöpft das Museum zumindest ereignisgeschichtlich aus dem Vollen und ergreift nur allzu bereitwillig die Gelegenheit, dem Fernsehen in der Singularität seiner audiovisuellen Übermittlungs- und Inszenierungsleistung von ,realweltlichen Geschehnissen zu folgen. Der ereignisbezogene Fundus sucht in seiner effektvoll komponierten Aufbereitung seinesgleichen: Die Vielfalt der Artefakte wird komplementiert durch die berufsbiographischen Kontexte einzelner Akteure, welche die Massenmedien bereits zu Identifikations- oder Heldenfiguren stilisierten oder erst im Museum zu einer solchen Anerkennung gelangen. Über 6.200 Artefakte (mit einem Gesamtgewicht von 81.000 Pfund) wurden zusammengetragen, darunter immerhin 99 Fernsehgeräte, aber vorrangig viele persönliche Überlieferungen von Journalisten wie die Splitterschutzweste von ABC-Korrespondent Bob Woodruff, die ihm im Irak das Leben gerettet hatte, oder der Laptop des in Pakistan von Terroristen ermordeten Reporters des „Wall Street Journals" Daniel Pearl. Gebrochen werden diese artefaktgeleiteten Kurzportraits an der zweifelhaften Macht des Fernsehens, Ikonen zu konstruieren und sie auch wieder zu Fall zu bringen: „Icons Tumble" lautet der Titel eines Ausstellungssegments, das sich mit der in ihrem Ausmaß und Konsequenzen zum Teil ad absurdum geführten Funktion des Fernsehens beschäftigt, Symbole zu transportieren oder erst zu erschaffen. Der Museumsslogan „Where News Comes to Life" zielt darauf, die Erfahrungssurrogate journalistisch utilisierter Medienformen durch die Ausstellung originaler dinghafter Überlieferungen zu validieren und den Prozess journalistischer Realitätskonstruktion zu veranschaulichen und damit für Außenstehende zu verlebendigen. Ob es sich nun um einen originalen außer Dienst genommenen Hubschrauber des NBC-Partnersenders KXAS-TV handelt, der an der hohen Decke des Atrium baumelt, oder um die neun Meter hohe und grotesk verformte Rundfunkantenne des bei den New Yorker Terroranschlägen vom 11. September 2001 zerstörten World Trade Centers, ob es nun der erste Nachrichten-Satellitentruck CONUS 1 ist oder eine der Kameras, mit welcher die ersten Abendnachrichten mit Walter Cronkite aufgezeichnet wurden: Je nachdem legen die Artefakte in der Gigantomanie ihrer Präsenz oder in der Flüchtigkeit, Gewöhnlich- und

IVA. Museumsfemsehen,

Fernsehmuseen

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Alltäglichkeit ihrer Beschaffenheit Zeugnis ab über die Medienmacht in der und über die Zeitgeschichte. Zugleich machen sie die ansonsten für den allgemeinen Rezipienten abstrakte und allenfalls intuitiv spürbare Beschleunigung der Nachrichtenkommunikation anschaulich: „We have a replica of a pre-civil war photo developing wagon that was a wagon that was used to bring all the photographic supply to the field to produce images. And right next to it we have a CONUS satellite truck", erklärt Paul Sparrow (Newseum). „The subject of this museum is a business that made a subject of stuff found in other museums", schrieb der Kritiker Henry Allen zur ersten Eröffnung des Newseums in seiner Kolumne in der „Washington Post" (Allen 1997). Nicht weniger kritisch bemerkte der Redakteur des internetbasierten Politik- und Kulturmagazins „Slate" zur zweiten Eröffnung: „The story of journalism is not the story of the surviving relics" (Shafer 2008). Die dargebotenen Artefakte seien nichts mehr als Fetische, triviale Relikte, die künstlich mit Bedeutung aufgeladen worden seien „to invent whole categories of news artifacts to fill this Taj Mahal for journalism" (ebd.). Selbst Paul Sparrow räumt ein: „Artifacts don't tell a story. The media helps tell the story." Das sich hier offenbarende Problem eines Nachrichtenmuseums, eines Medienmuseums und freilich auch eines Fernsehmuseums ist also eines der Relationierung: Wie sind Medienprodukte wie zum Beispiel Fernsehprogramm-Überlieferungen in Bezug zu setzen mit ihren objekthaften Bezügen und Hintergründen? Inwiefern kann und muss das journalistisch, televisuell oder allgemein medial kommunizierte gemessen werden an seinen materiellen Entstehungskontexten? Wie bereits ausführlich dargestellt wurde (vgl. Kapitel IV.4.1.), können speziell Fernsehmuseen von der lebendigen Verzahnung von Programm- und Objektpräsentationen in der Ausstellung und nicht zuletzt in der Bildungs- und Erinnerungsarbeit nur profitieren. Das Newseum wagt diesen Versuch unter anderem in der „Berlin Wall Gallery", wo die stattlichen historischen Zeugnisse aus Stein begleitet werden von einer Videodokumentation mit Zeitzeugeninterviews und einer Auswahl an Fernsehprogramm-Material aus dem November 1989 und den vorhergehenden Ereignisetappen, die zum Fall der Berliner Mauer geführt haben. Im kleineren Maßstab findet sich der Ansatz auch in der „News History Gallery", in der sich teils medienübergreifende, teils aber auch fernsehspezifische Installationen hinter Vitrinenglas finden lassen, die neben der Vorführung von Programmmaterial auch Texttafeln, Fotografien, Senderlogos aus Holz und Kunststoff sowie unterschiedlichste Ephemera beinhalten. Auch hier konzentriert sich das Museum auf die Ereignisgeschichte, bietet aber auch unterhaltsame Einblicke in die Welt der Nachrichten wie bei der Präsentation einiger Ausschnitte aus den populären Humorsendungen „Saturday Night Live", „The Muppet Show", „Laugh In" oder auch „Mad TV". Die historischen Rahmendaten des Fernsehens folgen ebenfalls der Nachrichtengeschichte. Die Ursprünge und einzelnen Entwicklungsschübe der Technologie- und Institutionsgeschichte des Fernsehens werden nur knapp, stichwortartig und überraschend textlastig erzählt. Die „Internet, TV and Radio Gallery" bzw. „Electronic News Gallery" kultiviert vielmehr die Finesse der elektronischen Medien in Ton und Bild anhand von Programmüberlieferungen über bedeutende Medienereignisse, um dem Anspruch

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

gerecht zu werden, „[to be] one of our most dramatic galleries" (vgl. Eggerton 2007). Gezeigt werden Fernsehausschnitte von einem der ersten Auslösern der Bürgerrechtsbewegung, der Aufnahme von neun afro-amerikanischer Schüler an der High School von Little Rock, Arkansas in 1957 und dem Marsch auf Washington sechs Jahre später über das Attentat auf US-Präsident John F. Kennedy, den ersten USA-Besuch der Beatles, das Terrordrama während der Olympischen Spiele 1972 in München, über Muhammad Alis Triumphe im Boxring, die ersten Berichte über das entstehende Internet Mitte der 1970er Jahre, die Explosion des Space Shuttles Challenger, über die Verfolgung von O.J. Simpson und CNNs Liveberichte aus dem Irak-Krieg von 1991 bis hin zum Bosnienkonflikt, dem Sex-Skandal um US-Präsident Bill Clinton und Hurricane Katrina. Mittelpunkt der Galerie ist der „Media Wall", ein 7,50 Meter hoher Turm aus 48 Bildschirmen, die nach den Kriterien des Museums gedächtnisrelevante Bilder der Fernsehnachrichtengeschichte zeigen. Eine multimediale Zeitleiste lässt den Besucher die Entwicklung der elektronischen Nachrichtenverbreitung bis hin zu den neuesten Gadgets aus dem Bereich der digitalen Internet-Kommunikation mit besonderem Augenmerk auf die technologischen Imperative des Medienwandels und Konsequenzen für die Transformation journalistischer Arbeit verfolgen. Im Vordergrund stehen die Anschlussmöglichkeiten der Ausstellungsinhalte für den einzelnen Besucher: Setzen die Ausstellungssegmente, die sich maßgeblich mit der Pressegeschichte auseinandersetzen, auf die Faszination junger Nutzergenerationen für die lange, wechselvolle Historie des Mediums Zeitung, sind es in Bezug auf die Geschichte und Produktionshintergründe der elektronischen Medien vermehrt Interaktionsangebote, die den Besucher dazu einladen, selbst tätig zu werden. Das .Hands On-Prinzip sei insbesondere in Bezug auf das Sendungsbewusstsein des Museums ideal, meint Paul Sparrow: ,,[T]he theory is: When they enjoy what they do, they are much more open to the messages that you are trying to give." Die Engagierung des Besuchers, ob jünger oder älter, ist speziell im Falle des Fernsehens aussichtsreich: Wie auch in anderen Museen wie dem Museum of Broadcast Communications oder dem American Museum of the Moving Image festzustellen, sind es vorrangig solche interaktiven Angebote, die den musealen Charakter einer Agentur der Wissensvermittlung auflockert und den Besucher zur Partizipation wie beispielsweise der Elaboration eigener Fragen, Sichtweisen oder Erinnerungen anregt. Das Newseum rühmt sich sogar, das interaktivste Museum der Welt zu sein (vgl. Hoekstra 2009). Schon 1997 zeigte sich der damalige US-Präsident Bill Clinton in seinem Grußwort zur Eröffnung des alten Newseums von der „technological wizardry" begeistert (Clinton 1997). Zahlreiche Elemente der ursprünglichen Ausstellung aus dem alten Newseum haben Einzug gefunden in die neue Konzeption (vgl. u.a. Luxner 1997; Anonym 1997b), doch insgesamt gibt es mehr, vielseitigere, intensivere und ausgedehntere Möglichkeiten, als Besucher selbst aktiv zu werden. Das Newseum kann durchaus als interaktiver Spielplatz bezeichnet werden, verfügt es doch über eine 650 Meter große Interaktionsfläche, auf der sich vornehmlich Kinder und Jugendliche an diversen Spielen versuchen können, mit

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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denen ihr Wissen über historische und aktuelle Ereignisse getestet wird oder der Termindruck eines Journalisten kurz vor dem Redaktionsschluss simuliert wird. Zusätzlich gibt es acht Kabinen, in denen Besucher selbst zum Reporter werden - wahlweise vor dem Weißen Haus, dem Capitol, einer Wetterkarte, einem Stadion und weiteren Hintergründen. Mit dem „Ethik-Center" werden dezidiert Familien angesprochen, um sich bei einem digitalen Quiz am elektronischen „Ethics Table" unter der Fragestellung „What would you do?" selbst zu messen an Entscheidungen von ethischer und moralischer Tragweite, die der Nachrichtenbetrieb Journalisten tagtäglich abverlangt. Wie nachhaltig die Effekte solcherlei Spielereien sind, ob es bei bloßem „channel-surfing" bleibt (Powers 1997: 12) oder ob sich tatsächlich Erkenntnis einstellt und sich ein mehr als bloß kurzweiliges Interesse und Verständnis für die Arbeitskontexte von Journalisten und den einhergehenden Systemzwängen speziell im Fernsehbetrieb entsteht, ist freilich streitbar. Massenmediales

Sendungsbewusstsein

Um sich und seinen Belangen zu einer möglichst dauerhaften Präsenz im öffentlichen Bewusstsein zu verschaffen und damit auch die Erfolgswahrscheinlichkeit seiner Vermittlungsangebote zu steigern, setzt das Newseum auf eine für Museen in Umfang und Ausrichtung ungewöhnliche Strategie: Es versteht sich selbst als Rundfunkanstalt, als potentes Sendezentrum auf dem neuesten Stand der Technik und mit historisch fundiertem Knowhow, und übt sich selbst als Produzent von Fernsehproduktionen (vgl. Kapitel IV.4.2.6.). Auch der überwiegende Großteil der etwa 45 Videoproduktionen innerhalb des Museums wurde vom Personal des Newseums selbst ausgearbeitet und realisiert. Darunter finden sich auch zahlreiche Dokumentationen zur Fernsehgeschichte wie „Rise of TV News" über die Entwicklung der Fernsehnachrichten von 1947 bis 1969, getrieben von den Ereignissen wie dem Koreakrieg bis hin zur ersten Mondlandung, einschließlich Interviews unter anderem mit Walter Cronkite, einer der Pioniere der frühen Hochzeit des Fernsehjournalismus. In anderen Produktionen wie „The Press and the Civil Rights Movement", in der Martin Luther Kings Medienstrategien untersucht werden, oder „Stories of Our Lives", die in achteinhalb Minuten die laut Museum wichtigsten Ereignisse des Live-Fernsehens seit Etablierung des Rund-um-die-Uhr-Sendebetriebs im Jahre 1980 durch CNN zeigt, wird das Fernsehen als wichtiger Bestandteil der Welterfahrung und der öffentlichen Kommunikation gefeiert. Allein der aufwendige 3-D-Film „I-Witness" und der Orientierungsfilm „What's News?" wurden von externen Produzenten umgesetzt. Im sogenannten „Master Control Room", der bezeichnenderweise als „Nerve Center" des Newseums gilt, werden sämtliche Videoangebote des Museums koordiniert und überwacht sowie Nachrichtenprogramme zahlreicher Fernsehsender aus aller Welt erfasst. Das Newseum verfügt als hauptsächliches Unterscheidungsmerkmal von den übrigen Museen im Untersuchungs-Sample über zwei Fernsehstudios, das eine 260, das zweite 100 Quadratmeter groß, die zum attraktiven Aufzeichnungsort für einige der Sen-

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

derpartner wurden.83 Vor allem das kleinere der beiden Studios lockt mit der effektvollen Kulisse des Kapitols im Hintergrund. Regelmäßig werden im Newseum Sendungen wie „This Week with George Stephanopoulos" (ABC) gedreht und je nach Anlass Diskussionssendungen des öffentlichen Radiosenders National Public Radio (NPR) live ausgestrahlt. Weiterhin gab es zahlreiche Debattenformate wie über die Zukunft des Journalismus in Kooperation mit PBS oder dem 20-jährigen Jubiläum des Berliner Mauerfalls in Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle. Hier wurde das Jubiläum der ältesten Polittalkshow im US-Fernsehen „Meet the Press" gefeiert, hier wurde über die schwierigen Umstände der Berichterstattung über das legendäre „Woodstock"-Musikfestival diskutiert, usf. Mit seinem produktiven Selbstverständnis positionierte sich das Newseum als exklusives Forum für zeitgeschichtlich perspektivierte Debatten rund um Medien, Journalismus und Politik und versucht mit seiner Veranstaltungsreihe „Inside Media" auf der einen Seite, dem allgemeinen Besucher und Zuschauer Einblicke zu verschaffen in die verborgenen Arbeitsprozesse des Medienbetriebs, auf der anderen Seite aber auch professionelle Medienakteure dazu zu animieren, vor laufender Kamera ihre eigene Rolle und die Umstände ihrer Arbeit zu hinterfragen. Eine Ergänzung findet diese Strategie in der prinzipiellen Arbeitsweise des Newseums, die sich im Kern diametral von der klassischen Museumsarbeit unterscheidet: Das Washingtoner Nachrichtenmuseum bekennt sich unverhohlener, offensiver und konsequenter als jedes andere der untersuchten Fernsehmuseen zu seiner Funktion als Massenmedium. Obgleich Paul Sparrow (Newseum) betont, es gebe genug „deep content", der sämtlichen Besuchern zur Verfügung stehe, rückt der urmuseale Charakter als Repositorium und zumindest teil-exklusive Ressource für die wissenschaftliche und journalistische Forschungsklientel in den Hintergrund. Es stehen etwa 27 Stunden audiovisueller Medieninhalte abrufbereit, doch im Vergleich zu den übrigen Fernsehmuseen ist der Umfang eher vernachlässigbar. Das Newseum verfügt zwar in seiner Ständigen Ausstellung über Ausschnitte prägender Marksteine der Fernsehberichterstattung, doch folgt es in der Aufbereitung und Darbietung des Materials weniger museal-kuratorischen als vielmehr journalistischen Kriterien, was sich in erster Linie am unübersehbaren Ereignisfokus erkennen lässt. Dem Besucher wird eine museal-auratisierte Oberflächenbehandlung verordnet, wodurch Reflexion weniger durch den direkten Zugang zu Quellenmaterial in vollem Umfang zustande kommt, sondern angesichts der Clipvielfalt allenfalls in Form einer erinnerungsauslösenden Stimulanz aus Objekt- und ausschnitthafter Programmerfahrung. Am Beispiel der Videoproduktion „Stories of our Lives" erklärt Sparrow: ,,[W]e faced by far the most difficult technical und editorial challenges that we faced in the

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Außerdem spricht das Newseum ähnlich wie die übrigen Fernsehmuseen in New York und Chicago auch gezielt unternehmerische Zielgruppen an, um sich im Machtzentrum der USA als Versammlungsort für geschäftliche Zusammenkünfte, Pressekonferenzen oder Empfänge zu profilieren: So verfügt der Museumsbau über ein zweistöckiges, etwa 2.200 Quadratmeter großes Konferenzzentrum, das im Gegensatz zu den zu besichtigenden Studios nicht Teil des Ausstellungsbereichs ist, sondern an externe Veranstalter vermietet wird.

IV.4. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

503

whole museum." Knapp drei Jahrzehnte an ereignisreicher 24-stündiger-Non-Stop-Berichterstattung in einer solchen Kurzdokumentation von achteinhalb Minuten zu komprimieren sei im Grunde eine unmögliche Aufgabe. Hinzu kamen Kriterien der visuellen Prägnanz, schließlich handele es sich bei der dreißig Meter breiten und sieben Meter hohen Videowand um ein „enormous canvas", das es zu bemalen gelte, so Sparrow: „ [ W] e wanted it to both convey the major news events, and we also wanted it to slow down and look at a single news event in more depth to allow emotional connectivity. We picked a few events that we thought were important in this evolution in 24/7 news. The first was the shooting of President Reagan, because it showed, when the reports first came out, they got it wrong, because they thought, President Reagan had not been shot. Then we look at the Challenger explosion: Space travel had become such a routine that only one channel was on air. CNN was covering it live, and you had this incredible tragedy uncovering live on television. We look at the O.J.-case because that was a transition into sensationalism and media overdrive and hype and just insanity. Then we look at the 2000-election and 9/11 and that whole transition that happened there. And we look at Katrina [...]. Between that there are these very fast paste montages which cover a four/five year period in 30 seconds [...]. So we wanted to make sure that the people have the emotional response because of their memory and people of the younger generation who didn't live through it are still intrigued and engaged because the material we use is visually compelling. And we will change pieces over time, but it will always be eight and a half minutes long" (Paul Sparrow, Newseum). Aufgrund der vielseitigen, auch dramaturgischen Zwänge des Formats eines Fernsehbzw. Videobeitrags werden aber eben diese wenn auch nur im Einzelfall propagierten Hintergründe, die vielen verborgenen Ebenen und Parallelentwicklungen der televisuell eingefangenen Zeitgeschichte nicht behandelt, sondern es wird allein auf die audiovisuelle Wirkungsmacht einzelner ikonischer Fernsehaufnahmen abgestellt. Das Newseum bereitet auf, bereitet zu und setzt vor: Ein in sich gekonnt abgestimmtes Bildrauschen, dem die Tiefenschärfe fehlt, auch wenn die Schmährede „all hype, no substance" (Hardiman 1997) in ihrer Pauschalität nicht zutreffend erscheint, gerade weil sich das Newseum um die Einbindung breiter Publika verdient macht und bemüht ist, sich als Schnittstelle zwischen Publikum und Medienbranche zu beweisen. Die Stoßrichtung des Newseums, sich gleichgewichtet der historischen Entwicklung und der aktuellen Themen und Prozesse des Nachrichtenschaffens zuzuwenden, macht auch ersichtlich, weshalb sich das Haus bezogen auf das Fernsehen von den Ansätzen anderer Museen wie dem Paley Center for Media absetzt, das Paul Sparrow als „deep archive" versteht: „We are not set up as an archive or research institution. We don't have the facilities and the staff to do that. There are other organizations that do that. That's not what we

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung do. Our target is the public. [... ] The tapes are in storage, we don't have screen rooms set up for that. It's not a priority for us" (Paul Sparrow, Newseum).84

Insofern entfremdet sich das Newseum keineswegs vom klassischen Museumsgedanken, sondern verfolgt eine innovative Zielrichtung bei der Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit seinen Auswahl- und Vermittlungsmethoden, die den journalistischen bzw. auch redaktionellen Arbeitsabläufen verblüffend ähneln (vgl. auch Kapitel 3.1.2.4.). Dass erst die technologische Entwicklung, der Einsatz digitaler Medientechnik das Newseum in seiner aktuellen Form möglich gemacht hat, ist eine übertriebene Schlussfolgerung. Jedoch wären ohne diese Hilfsmittel weder die zahlreichen interaktiven Ausstellungselemente noch der vorwärtsdrängende Ansatz eines Museums am sprichwörtlichen Puls der Zeit („be current, even forward looking" - Rosenthal 2008) denkbar gewesen, die das Newseum zu seiner hohen Medienresonanz und seinem Publikumserfolg verholfen haben. Bisweilen werden rohe Nachrichtenbilder von Kameracrews von Sendern wie CNN und der BBC live gesendet, noch bevor sie zum Nachrichtenprodukt umgeschnitten werden. Damit schafft das Newseum neue Medienerfahrungen, betätigt sich konstruktiv wie kreativ statt repititiv und generiert damit für den Besucher einen exklusiven Erlebniswert, der zwar auch nostalgische Erinnerungen an die (eigene) Fernsehvergangenheit zulässt, aber vielmehr eben solche emotional verstärkten Erinnerungen an den Museumsbesuch zu stimulieren imstande ist. Die zugrundeliegende Idee einer zeit- und medienübergreifenden Corporate Identity, die nicht nur auf einer historischen, sondern auch aufgrund der eigenen personellen, inhaltlichen und handwerklichen Sende- und Produktionskompetenz auf einer gegenwartsbezogenen Expertise bei der Bewertung von Themen aus Medien und Journalismus fußt, ist in ihrer öffentlichkeitswirksamen Prägnanz im untersuchten Institutionsspektrum einzigartig. Mit seiner Markenbildungs- und Markenstärkungsstrategie bedient das Newseum ebenso konventionelle wie neue Aktionsfelder. Es verkauft im eigenen Museumsshop (fast) alles, was den (durchaus auch klischeehaft verstandenen) Journalistenalltag ausmacht: vom Kaffeebecher über Briefbeschwerer, Uhren und Schlüsselanhänger bis hin zur feierabendlichen Entscheidung zwischen dem Whiskey- oder dem Weinglas. Es betreibt aber auch eine intensive Besucherevaluation, indem in die einzelnen Ausstellungssegmente interaktive Feedback-Stationen integriert wurden, auf welchen die Besucher ihre Kommentare zu den Ausstellungsinhalten, aber auch über ihre allgemeinen Mediennutzungsgewohnheiten und ihre Meinungen zur Qualität journalistischer Angebote Auskunft abgeben können. 85 Die zahlreichen Artikulationsangebote, die sich den Besuchern im Inneren des Newseums bieten, finden aber bemerkenswerterweise keine Entsprechung auf der Website 84

85

Dennoch werde in seltenen Fällen bei Forschungsinteressen, welche die Geschichte der gedruckten Presse betreffen, deren Überlieferungen keine Abspielgeräte benötigen, eine individuelle Regelung getroffen, versichert Sparrow. Auch gab das Newseum bereits Umfragen mit repräsentativen Ergebnissen in Auftrag, beispielsweise eine nationale Erhebung zur Nutzung und Bedeutung von Nachrichtenmedien (Jones 1997).

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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des Museums. Zwar ist es auf einschlägigen Kommunikationsplattformen wie „Twitter", „Facebook", „Flickr" und „YouTube" vertreten, wo überwiegend kurze Meldungen und Mitschnittexzerpte von Veranstaltungen online gestellt werden. Hier findet auch mit variierender Beteiligung ein ausgelagerter Dialog mit mitteilungsfreudigen Besuchern statt. Der interaktive Rückkanal auf der eigenen Internet-Präsenz beschränkt sich dagegen auf herkömmliche Möglichkeiten der Kontaktaufnahme über das Telefon oder EMail. Weder findet sich ein Diskussionsforum noch eine Möglichkeit, sich mittels einer Registrierung in einem Netzwerk aus interessierten Besuchern zu engagieren. Viel mehr als eine Videoaufnahme seines Auftritts als „TV Reporter" während des persönlichen Museumsbesuchs herunterzuladen, sich mit zwei kurzweiligen Online-Spielen die Zeit zu vertreiben oder sich über die aktuellen Ausstellungen und Veranstaltungen vor Ort zu informieren, wird nicht geboten. Als reizvolle Informationsressource dient jedoch die für das Internet adaptierte Zeitungsgalerie aus dem Museum, die täglich wechselnd über 800 Titelseiten von Zeitungen aus aller Welt präsentiert, welche dem Newseum von den Verlagen digital zugesandt werden. Diese Galerie war auch als Kern einer Dependance der Einrichtung in „Second Life" vorgesehen, einer Online-Plattform für die Gestaltung virtueller Welten, in der sich Nutzer mittels digitaler Figuren, sogenannter Avatare, bewegen (vgl. Rymaszewski u.a. 2007). Die Eröffnung des Museumssimulacrums stieß eine Diskussion an über die Zukunft von Museen insgesamt, auch weil sich das Newseum ohnehin in seiner massenmedialen Ausprägung bereits „at the cutting edge of museum change" befinde, indem es sein Thema rund um die Problembegriffe Wahrheit und Realität behandle und dadurch allen voran auf hochdramatische und emotionsgeladene Wirkungen konzipiert sei (Garreau 2007). Dieser Ägide folgte auch das digitale Newseum: Starke mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete Fotos, die persönliche Schicksale beschrieben, und Titelseiten, die mit großen Lettern von Katastrophen und Massakern berichteten, wurden in den virtuellen Ausstellungshallen präsentiert. Es gab sogar eine „Stories of the Century 1900-2000"Galerie, die mit einigen kurzen Videodokumenten und Presseberichten zu einer Auswahl zeitgeschichtlicher Ereignisse aufwartete. Nach einigen Monaten in der virtuellen Infrastruktur von „Second Life" schlossen sich die Türen jedoch wieder. Paul Sparrow, der für dieses Projekt verantwortlich zeichnete, begründet das Scheitern rückblickend mit fehlenden Kapazitäten bei der Bedienung des hohen kommunikativen Interaktionsbedarfs seitens der Internet-Nutzer: „We created a very effective site in .Second Life', but we quickly realized that SL is not about buildings no matter how interactive they are. It's about social interaction, and we did not have the staff to regularly present live events which is what works in SL. The total number of people we could attract to the site for any given event (60) did not justify the expense to support it" (Paul Sparrow, Newseum). Sparrow unterstreicht damit die trotz aller Kapitalstärke festzustellenden Defizite der ambitionierten Museumseinrichtung in Bezug auf die fortgesetzte Pflege der Besucherbindungen über das Internet. Da im befragten Expertenkreis die verbesserten Kommu-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

nikationswege des weltumspannenden Netzes als dessen signifikanteste Stärke bewertet werden, bleibt unverständlich, weshalb sich das anderweitig so produktive Museum in den virtuellen Interaktionsräumen zurückhält und sich die Gelegenheit nehmen lässt, auch hier nicht nur für kurzzeitige aufsehenerregende Impulse wie im Fall des Achtungserfolgs in „Second Life" zu sorgen, sondern tatsächlich längerfristig Akzente zu setzen und seine Rolle als Spießtreiber einer neuen medial und speziell audiovisuell spiel-, ausdrucke· und interaktionsfreudigen Museumskultur auch im Netz ernst zu nehmen. 4.3.2. Der kanadische Weg: Kleine Schritte, innovative

Museumslösungen

Im September 1983 schrieb der junge Kulturjournalist Salem Alaton in sarkastischem Ton eine kurze Chronik der mehrfach im Sande verlaufenen Planungen eines nationalen kanadischen Fernsehmuseums, die Alaton durch den direkten Vergleich mit dem erfolgreich operierenden Rundfunkmuseum William S. Paleys in New York der Lächerlichkeit preisgab (Alaton 1983): Schon seit 1963 hat es in Kanada Bestrebungen gegeben, ein Museum zu gründen, das Artefakte und Programmvermögen gleichermaßen zusammentragen und ausstellen sollte. Die ursprünglich von der Canadian Association of Broadcasters angestoßene Initiative mündete aber nicht in einer eigenständigen Institution, sondern scheiterte wiederholt an der Angst vor zu hohen Kostenvolumina für Museumsräumlichkeiten, geschweige denn für ein eigenes Gebäude. Bis heute hat sich daran nichts geändert: Ein Fernsehmuseum mit nationalem Fokus und ganzheitlichem Sammelauftrag fehlt weiterhin. In den 1990er Jahren wurden in Kanada jedoch zwei Einrichtungen gegründet, die sich aufgrund ihres Sammlungsprofils und ihrer Zielrichtung Fernsehmuseen nennen können, wenn auch vereinzelt an weiteren Stellen bestimmte Arten von Fernsehüberlieferungen wie beispielsweise Fernsehpuppen im Museum of Civilization in Ottawa gesammelt werden. Das MZTV Museum des Fernsehunternehmers Moses Znaimer und das CBC Sendermuseum haben sich jeweils enge Aktionsfelder gesetzt, ob es sich nun maßgeblich um die Sammlung von Fernsehgeräten handelt wie im Falle Znaimers oder um die positivistische Darstellung der Sendergeschichte wie bei der CBC. Im Jahre 2001 wurde der Gedanke eines übergreifenden Nationalmuseums zur Fernsehgeschichte wiederbelebt (vgl. Adilman 2001); dies konnte aber erneut nicht in eine pragmatische Umsetzung überführt werden. So ist die kanadische Museumslandschaft in Bezug auf das Fernsehen gekennzeichnet von allein zwei Institutionen, die in ihren musealen Ansätzen unterschiedlicher nicht sein könnten. 4.3.2.1.

Erfolg durch die Nische: Das MZTV

Museum

Moses Znaimer gibt einen atypischen Gründer eines Fernsehmuseums ab, jedenfalls im Vergleich mit den bereits erwähnten ehrwürdigen rundfunkhistorischen Schwergewichten oder der verdienten Theaterfrau, die Selbiges in den Medienmetropolen New York und Chicago realisierten. Eher schon entspricht der kanadische Entrepreneur mit

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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tadschikischen Wurzeln dem klassischen Bild eines betuchten Kunstsammlers, der seine in stiller Akribie zusammengetragenen Überlieferungsreichtümer mit der Welt teilen möchte im Stile des Verlegersohns Frieder Burda oder des Bauunternehmers Ignaz Walter (vgl. Fischer 2004; Hoffmans 2008). Doch der 1942 im zentralasiatischen Kulab geborene Fernsehunternehmer sammelt keine Kunst, zumindest nicht im traditionellen Sinne. Znaimer sammelt Fernsehgeräte, seit er Ende der 1960er Jahre im Büro des Ingenieurs Peter Carl Goldmark in der Entwicklungsabteilung von CBS beiläufig den illustren Standfernseher Philco Predicta „Pedestal" von 1958 erblickte. Das mit seinem Unterbau etwa 110 Zentimeter große Gerät wurde Znaimers erstes Sammlungsstück, das sich später auch im Logo des Museums wiederfinden sollte als Markenzeichen seiner „Church of the Holy Receiver".86 Die Atypizität Znaimers als Gründer, Stifter und Patron eines Fernsehmuseums liegt in seiner ambivalenten Rolle als Ikone der Geschichte des kommerziellen Fernsehens in Kanada und seiner damit zusammenhängenden polarisierenden Wirkung auf seine Mitstreiter, Befürworter und Gegner. Der Filmemacher David Cronenberg, der in seiner apokalyptischen Abrechnung mit der Fernsehkultur „Videodrome" bereits den großen Theoretiker Marshall McLuhan persifliert hatte (vgl. Kapitel III.6.1.1.), verhalf auch Znaimer zu zweifelhaftem Ruhm, indem er dessen privaten Lokalsender Citytv als „reallife starting point" für die fiktive Fernsehstation CIVIC-TV wählte, die mit billigen wie ethisch und moralisch verkommenen Programmideen zum Sittenverfall und der psychischen Degeneration seiner Zuschauer (und Macher!) verantwortet (vgl. Pevere/Dymond 1996: 228-233; Marshall 2004: 2629). Tatsächlich verdiente sich Moses Znaimer seinen Ruf als Pionier des kanadischen Privatfernsehens und als Innovator televisueller Programmpolitik und Organisationsstrukturen primär, indem er sich als Enfant Terrible der Rundfunkbranche gerierte: Ab 1972 sendete er auf Kurzwelle auf einem der hinteren Programmplätze eine Programmmischung aus unterschiedlichsten spätabendlichen Softsex-Unterhaltungssendungen und hyperlokalen Nachrichtenformaten, die sich durch die Schnelligkeit und Nähe der Reporterteams zu den Geschehnissen vor Ort und einen informelleren und unbeschwerteren, gar fröhlicheren Ton in der Nachrichtenvermittlung auszeichneten (vgl. Hume 1987). Den kaum als extravagant zu bezeichnenden, sondern aus der (Finanz-) Not geborenen Ansatz einer solchen Mischung aus Tabubruch und journalistischem wie institutionellem Erfindungsreichtum beim Abbau von Bürokratie, wie sie vor allem dem öffentlich-rechtlichen Monolith CBC vorgeworfen wurde (vgl. Sassaman 2006: 53), exportierte Znaimer später in alle Welt und leistete seinen Beitrag zur Transformation des Rundfunksektors. Znaimer gründete in den Folgejahren und -jahrzehnten eine ganze Reihe an weiteren Fernsehsendern in Kanada, den USA, Südamerika Europa und Neuseeland. Als „practicioner with a taste for theory" (Evans 2005) versuchte der virile Produzent, seine Vision von der kulturellen Beispiellosigkeit des Fernsehens und der konjunktierten Kon86

So betitelte der „Toronto Star" seine Kulturbeilage vom 16. November 1995 mit einem Bericht über Znaimers erste große Ausstellung.

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Sequenzen für das Sozial- und Wirtschaftsleben in die Tat umzusetzen: Seine „10 commandments of television" fanden weithin Gehör. Jene „Zehn Gebote" brachten Znaimer nicht nur die Bezeichnung „our very own prophet of TV" (Zerbesias 1995) ein, sondern umrissen auch seine These von der Überlegenheit der elektronischen Audiovision gegenüber dem gedruckten Wort und stellten vorrangig auf die über lange Zeit singulären Eigenschaften des Fernsehens als unmittelbares Übertragungsmedium ab, aber auch auf die Anerkennung seiner kulturellen Signifikanz und Relevanz für die gesellschaftliche Einheit (vgl. Znaimer 1995).87 Botschafter des Erfolgs

Als Vertreter einer neuen Generation von Fernsehmachern, der sich ganz und gar einer positiven Lesart des Mediums und noch deutlicher seiner Spielarten verschrieben hat (das zehnte Gebot lautete: „Television is not a problem to be managed, but an instrument to be played") und sich als Vordenker und Revolutionär innerhalb der Fernsehbranche profilieren konnte, der außerdem nur allzu gern mit Cowboystiefeln, legerem T-Shirt und Pferdeschwanz seine Anzug tragenden Wettbewerber zu brüskieren wusste (vgl. Walker 2002:22), entspricht Moses Znaimer eben nicht einem der üblichen verdächtigen Branchenakteure, die sich bemüßigt sahen, ein Museum zu gründen, um die Errungenschaften des Fernsehens, an denen sie entscheidenden Anteil hatten, zu feiern. Während sich Paley und DuMont dem breiten programmlichen Fernsehschaffen zuwandten, um dem Medium und in gewisser Weise auch sich selbst ein Denkmal zu setzen, und sich Rochelle Slovin mit dem AMMI und das Freedom Forum mit dem Newseum dem Fernsehen in einem medienübergreifenden Genrekontext (Entertainment/Journalismus) widmeten, kümmerte sich Znaimer um einen weithin übersehenen Teil der Fernsehkulturgeschichte: Indem er sich auf die Sammlung von Fernsehempfangsapparaten spezialisierte, nahm er eine beinahe schon als apodiktisch zu bezeichnende Rezipientenperspektive ein. Gleichwohl benannte er den institutionellen Überbau für seine Sammlung nicht von ungefähr nach sich selbst: „Moses Znaimer, the MZ of the MZTV Museum" (Michael Adams, MZTV Museum). Die Verschmelzung von Rollenbildern in der Medienfigur Znaimer begründete eine surreale Museumsidentität, die hin- und hergerissen ist zwischen seinem Gründer als erfolgreicher Unternehmer, Produzent und Kritiker auf der einen und auf der anderen Seite als „child-fan" (Cohen 1996), der seiner Familie im Alter von 13 Jahren von den Geldgeschenken seiner Bar Mitzwa den ersten Fernseher 87

Dabei ging Znaimer von einer latenten Animosität von Vertretern und Verfechtern der Schriftkultur gegenüber dem Fernsehen aus: Ihn leite „the wish to call attention to and counteract the effect of the continuing 50-year barrage in print, from critics, columnists, commentators and academics who have belittled, dismissed, attacked and frequently misinterpreted the technology of the craft, the business and the art in which I have found my vocation. You really have to work in television, love it, and take it seriously in the way I do, both as a public and private broadcaster, as a producer, a performer and as an excecutive to realize how relentless the assault has been" (zitiert nach Fake 2002: 25).

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kaufte (Guy 2006). Das MZTV Museum in Toronto zielt entsprechend im gleichen Maße auf die Intimität des privaten Fernsehalltags daheim, indem sich Znaimer auf derselben Ebene verortet wie der gewöhnliche Fernsehzuschauer, wie auch auf die positivistische und nachdrückliche Unterfütterung seiner Fernsehphilosophie, die natürlich eine Unternehmensstrategie darstellt, was in zwangsläufiger Konsequenz zu einer musealen Affirmation derselben führt. So sehr sich Znaimer ansonsten in der Medienöffentlichkeit als Botschafter seines televisuellen Erfolgsmodells gibt, so sehr sucht der unternehmerische Einzelgänger (vgl. Colbourn 1994) diesen Eindruck in seinem Museum zu zerstreuen. Der Anfang seiner Karriere als lokaler, bald global agierender Fernsehmogul im Jahre 1972 markiert zugleich den Endpunkt seines Sammlungsfokus: „[He] was interested in telling the story of the development of television mostly up to the point where he started", erklärt der langjährige Wegbegleiter Znaimers und Kurator des Museums Michael Adams (vgl. auch MacDonald 2002). Das MZTV Museum bietet eine interessante Alternative zu der vielerorts adoptierten Idee eines Fernsehprogrammmuseums. Der Ansatz, die Geschichte des Fernsehens durch die Empfangsgeräte nachzuzeichnen, ist in seiner exklusiven Umsetzung im internationalen Vergleich einzigartig. Der Fokus liegt auf der Frage, wie sich die rasant wandelnde Fernsehtechnologie in die Wohnzimmer der Nutzer einfügte und wie das Design der mal schmucken, mal altbekannten, mal obskuren und verspielten Ummantelungen der Bildschirme aus Metall, Holz oder Plastik die Fernseherfahrung der Rezipienten prägte. Auf der Meta-Ebene beschäftigt sich das Museum wiederum mit der Frage von Rückund Querbezügen zwischen der Konsumentenelektronik und der Wirtschafts-, Sozialbis hin zur Politikgeschichte: Welche persönlichen Entwickler- und Besitzer-Geschichten verbergen sich hinter einzelnen Geräten? Was kann die Überlieferung über die Branchenthemen einer bestimmten Periode wie beispielsweise über den Streit um die Vergabe von Sendelizenzen erzählen? Und welche Einflüsse lassen sich durch die Verkaufszahlen von Geräten erkennen, die mit bestimmten technologischen Innovationen aufwarteten? Damit regt das Museum zu einer im Vergleich zu den übrigen untersuchten Fernsehmuseen zu einer divergierenden Herangehensweise an die Fernsehgeschichte an: ,,[Y]ou wont come into our museum and find out how exactly television works. Although we're focused on the artifact, we're not totally focused and encompassing the history of the technology. So we tend to talk about the technology in leaps and leaps of development that cross with culture. So I'll give you a good example: The history of the invention of colored television parallels quite strongly with the development of High-Definition television. What do you get out of that? You get to examine how governments are involved, strongly involved in frequencies, how private institutions have learned from the past and that they don't want to develop a standard that then will be obsolete. [... ] We also look at the history of the introduction of colored television and parallel that with the World Wide Web. You know: Struggling technologies, struggling for independence. Corporations try to get a monopoly on a technology and control the programming" (Michael Adams, MZTV Museum).

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Die Ausstellung folgt der Auffassung, die Selbstverständlichkeit technischer Apparaturen abzulegen und hinter den Kratzern, Schrammen oder gar Kerben, hinter ihrer Gewöhnlichkeit wie unter einer Lupe die Nutzungsumstände früherer Generationen, ihre zugrundeliegenden Mentalitäten und Geschmäcker, aber auch den Entwicklungsstand, die Strategien und die politischen Rahmenbedingungen jener Zeiten zu erkennen: „When you look at Marilyn Monroe's TV set: It's got scratches on it, it has dents, and there is a on-marker on it that says .Working'. So one of the archivists in the past looked at it as a piece of junk and simply marked it as .Working"1 (Michael Adams, MZTV Museum). Diesen teils auch sehr emotionalen und individuell-autobiographischen Zugang, vor allem wenn es sich bei den Ausstellungsstücken um Schenkungen aus privater Hand handelt, die vom Museum als relevante Beispiele begriffen werden, nutzt das Museum, u m pädagogische Ziele zu erreichen und über historische und aktuelle Entwicklungen in der Kulturgeschichte des Fernsehens aufzuklären, zu der nach der konzeptionellen Ausrichtung des Museums in erster Linie die Auswirkungen technologischer Neuerungen auf die Mediennutzung zählen bis hin zu gegenwärtigen Markteinführungen wie HD-TV oder Fernsehen auf dem Mobiltelefon oder in der Armbanduhr. Anatomie eines Schatzes Das MZTV Museum beherbergt laut Eigenbeschreibung die größte museale Sammlung an Fernsehgeräten, die komplementiert wird von ungefähr 10.000 weiteren Objekten, darunter vor allem Bücher, Magazine und anderweitige Schriftdokumente sowie vereinzelt auch Spielzeuge. Der umfangreiche Bereich der Produktionstechnik, mit dem sich unter anderem das American Museum of the Moving Image und weitere kleinere Technikmuseen in den USA beschäftigen, wird vollständig ausgeblendet: Es finden sich weder Kameras noch anderweitiges Equipment. Allerdings wurde später auf die in den Anfangsjahren der Museumsarbeit nahezu gänzlich ausgeblendete Programmgeschichte immerhin schlaglichtartig zu Veranschaulichungs- und auch bloßen Illustrationszwecken eingegangen, da die Ausstellungsbesucher dies verlangt hätten, erklärt Kurator Adams: ,,[T]he idea of implementing and inputting program into our exhibits was largely a public reaction. [...] [T]hey learned about the history of television, but wanted to see a bit more of that history. So we learned very quickly that we had to juice up that history by showing some programming in an intellectual way" (Michael Adams, MZTV Museum). Ergänzt wurde unter anderem eine moderate Sammlung an historischen Werbespots und zum Beispiel Berichterstattungsausschnitte über die erste Mondlandung von 1969, gerade weil so manches Fernsehgerät der damaligen Zeit das .Space Race' mit seinem Design reflektierte. Das Programmmaterial erwies sich auch als sinnvolle Ergänzung zu der Geräteausstellung, indem es auf wechselnd in Betrieb genommenen Apparaten gezeigt wurde. Das Museum möchte auf diese Weise beim Besucher erneut jene Faszination

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erzeugen, welche die Bevölkerung dem Fernsehen in den Anfangsjahren seiner Verbreitung entgegenbrachte. Der überwiegende Großteil originaler Artefakte aus der Frühzeit des Fernsehens ist verloren gegangen, und Znaimer hat die desolate Überlieferungslage genutzt, sich und sein Museum mit einer einprägsamen Formulierung bekannt zu machen: „There are fewer pre-war TVs left in the world than Stradivarius violins" (vgl. u.a. Zerbesias 1995; Tillson 2002; Sassaman 2006). Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden nach Schätzungen weltweit 29.000 Fernsehgeräte hergestellt, von denen heute nur noch weniger als zwei Prozent existieren (Kelly 1997: 2); bezogen allein auf die USA ist die Überlieferungsrate ähnlich eklatant: Von 7.000 Geräten aus der Vorkriegszeit sollen nur noch 114 erhalten sein (Everett-Green 1995). Der Sammlerwert einzelner Raritäten oder gar Unikate liegt entsprechend hoch und führte im Laufe der Zeit zu einer Preisexplosion für entsprechende Sammlerstücke, was selbst für große Museen wie das Smithsonian in Washington, D.C. zu einem Problem wurde, weil die finanzielle Potenz des bieterfreudigen kanadischen Fernsehmachers zu einem „embarrassment to the Smithsonian curators" führte (Dick 1996) auswuchs. Das hohe Akquisitionsbudget Znaimers ermöglichte erst die Erstellung einer Sammlung von etwa 300 Geräten, von welchen etwa die Hälfte Duplikate sind, der Rest jedoch seltene Zeugnisse des elektronischen Lagerfeuers aus den ersten Jahrzehnten des Fernsehbetriebs. Die Kernsammlung umfasst Fernseher aus den 1920er Jahren bis zu den 70ern, wurde indes in der Ausstellung noch um Beispiele aus der neuen Ära der Plasma- und LCDFernseher ergänzt, um den Besucher in seinem aktuellen Lebensumfeld abzuholen und Vergleichsmöglichkeiten zu bieten. Obwohl nordamerikanische Fabrikate im Vordergrund des Sammlungsinteresses stehen, finden sich auch einige aus Übersee, wie der Rundfernseher JVC Videosphere (1970) oder der satellitenartigen Panasonic Orbital (1972) aus Japan oder der wie ein 1,70 mal zwei Meter großes und etwa 130 kg schweres Segelboot anmutende Kuba Komet (1957) aus Westdeutschland. Viel Wert wird darauf gelegt, die Geräte nahezu vollständig mit Originalteilen zu betreiben (Sassaman 2006:54). Dies stellt das Museum insbesondere bei den ältesten Sammlungsstücken wie dem mechanischen Fernseher Octagon von General Electric aus dem Jahre 1928, der nie für den Massenmarkt produziert wurde, dem Televisor des britischen Fernsehpioniers John Logie Baird von 1930 oder dem transparenten Phantom Teleceiver des US-amerikanischen Herstellers RCA, der auf der New Yorker Weltausstellung von 1939 das Fernsehzeitalter in den USA offiziell einläutete, vor große Herausforderungen, nicht nur finanzielle. Znaimer, dessen Fernsehunternehmungen ihn zum Multimillionär mit „deep pokkets" (Michael Adams, MZTV Museum) haben avancieren lassen, nennt seine Exponate liebevoll „Milestones" und „Totems" (Znaimer 1995), materielle Schutzgeister, deren stolzer Besitzer sich durch sie inspirieren lassen, durch sie Kraft tanken, aber sich durch sie auch immer seiner Identität vergewissern kann. Die autobiographische Prägung des Museums wird in der Ausstellung selbst nur vage deutlich und kommt nicht direkt zur Sprache. Dennoch ist Znaimers Interesse, das er in einer Erinnerung an seine Kindheit

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beschreibt und das weniger den Inhalten des Fernsehens gilt, sondern dessen Prinzipien, in der Ausstellung allgegenwärtig: „So there I am lying in bed, and I had this real aper^u. Here it is, coming to me. It was in perpetual flow, all you had to do was turn the set on, and click! There it was. And I was particularly struck that it had penetrated in my bedroom. Its a very intimate space. And I thought this was extremely significant" (zitiert nach Tousignant 2006). Es darf als äußerst selten für ein Museum gelten, zumal für ein Fernsehmuseum dieser überschaubaren Zielrichtung und Größe, über zwar nicht unbeschränkte, aber hohe Geldmittel zu verfügen. Obgleich in seiner Anschaffungsordnung festlegt wurde, dass nur ,,[i]n special circumstances" Objekte direkt käuflich erworben werden (MZTV Museum & Archive o.J.), gehörte der Kauf von Sammlungsstücken in der Vergangenheit zur primären Akquisepraxis des Hauses. Große Sammlungsauflösungen wie die der Privatsammler Jack Davis oder Arnold Chase verursachten nach Angaben von Kurator Michael Adams museumsseitig Ausgaben in vereinzelt sechsstelliger Höhe wie im Fall des unikalen GE Octagon von 1928: „We started to put ourselves on the map by showing that we were buying TV sets and that we would pay good sums of money for them. And the collectors started coming to us. In 1994 the largest collector in the United States had to liquidate his collection just simply because he was sick moving it around from one of his parents building to another. He had a vision of a television museum but he didn't know how and he didn't have the staff to do it. So in 1994 he got wind that we were looking for collections. Two collections popped up all a sudden: one in Chicago, one in Hartford, Connecticut. And we bought one of them. There were 300 sets in that collection. We only needed about 25 of them. We really wanted to buy 25 of them, but he said: All or nothing. We paid quite a bit of money for the few items we wanted" (Michael Adams, MZTV Museum). Weitere Geräte wurden einzeln gekauft oder auf Auktionen ersteigert wie Marilyn Monroes Fernseher, das Modell Magnavox von 1957, das Znaimer für 28.000 US-Dollar bei einer Auktion in New York erwarb (Brioux 1999). Mittlerweile wird der Wert der gesamten Sammlung auf bis zu sechs Mio. kanadische Dollar geschätzt (MacDonald 2002). Apparate, die Geschichte(n)

erzählen

Ob es sich im Falle des MZTV Museums nun also, wie das rege finanzielle Egangement Znaimers nahelegt, um ein Liebhabermuseum zur Pflege und Präsentation geliebter Schätze handelt oder um eine Gedächtnisorganisation von allgemeiner gesellschaftskultureller Relevanz, bleibt bewusst im Unklaren. Die persönliche Note, die dem Museum zweifellos auch eine gewisse Notorität verlieh, bleibt jedenfalls vorherrschend und belebt die Ausstellung, die weitgehend klassischen Inszenierungsansätzen folgt. Dass sich hier ein kommerzieller „iconoclast" (Kelly 1997) zum Reiseführer durch die dunklen, weil weithin übersehenen Kapitel der Fernsehgeschichte aufschwingt, wurde schon 1995 kri-

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tisch beäugt, als die CBC eine dreistündige Fernsehdokumentation von Moses Znaimer ausstrahlte, der die Gelegenheit nutzte, neben seinen zehn Geboten des Fernsehens auch sich selbst zu inszenieren. Die Sendung mit dem Titel „TVTV: The Television Revolution" (CBC, 1995) erzielte die niedrigsten Einschaltquoten auf dem sonntagabendlichen Sendeplatz in 15 Jahren (Gruneau 1996), sorgte aber für ein langes Nachbeben in der Wissenschaftsgemeinde.88 Auch wenn die von einem Kritiker als „extended apologia" bezeichnete Produktion, die nach einem latenten mysthischen Potenzial des Fernsehens zu suchen scheine, „but hiding its actually existing face behind a pagan sensual torrent of obfuscation and nonsense" (Gerbner 1996), stärkere Auswirkungen auf den publizistischen Diskurs hatte als auf das Interesse der Zuschauer, lässt sich der darin verfolgte didaktische Ansatz bis zur aktuellen Museumsarbeit verfolgen. In seinem einleitenden Monolog postuliert Znaimer mit Blick auf die Zuschauer: „Information may be why they come, but story is why they stay." Seiner Ansicht nach hat die (kanadische) Gesellschaft noch nicht oder in noch nicht ausreichendem Maße gelernt, ihre historischen Fernsehwurzeln wertzuschätzen. „The MZTV Museum's first public showing [...] is about understanding that television is at once an object and a miracle in relationship, one that has for too long been taken for granted", schrieb er im Jahr der Ausstrahlung (Znaimer 1995) und konkludierte an anderer Stelle vielsagend: „A society starts turning into a culture when it first shows an interest in preserving its past" (zitiert nach Dick 1996). Die provokante Diagnose wurde aber nicht als Vorwurf formuliert, sondern als Aufgabe, derer sich sein Museum zu verschreiben erklärt hat: Es ist daher nur opportun, mittels der musealen Auratisierung thesaurierter Objektüberlieferungen die diagnostizierte Ignoranz gegenüber dem Medium zu durchbrechen und mit Einsichts-, Erkenntnis- und Erinnerungsbereitschaft zu ersetzen. Der Nachholbedarf sei groß, schließlich seien die Fernseher und das Fernsehen so stark in die Tagesabläufe und Lebenswirklichkeiten der Menschen integriert, „that people treated it like a toaster rather than the family silver" (zitiert nach MacDonald 2002). Das Museum verfolgt dabei narrative Strategien, die sich jeweils an den Artefakten orientieren, um den Besucher induktiv vom speziellen Gegenstand zu dessen historischen Kontexten und wiederum auf Bezüge zu übergeordneten Problemen oder Sachverhalten, die auch in der heutigen Auseinandersetzung mit dem Fernsehen eine Rolle spielen, zu leiten. Ein Hauptaugenmerk der Bildungsarbeit liegt auf der Vermittlung von Wissen über die Anfangsjahre der Markteinführung des Fernsehens in Nordamerika, über die nach Ansicht Moses Znaimers im allgemeinen Bewusstsein nur wenig bekannt ist: „People think they know who invented the light bulb and the telephone but don't even think about who invented their television sets" (zitiert nach Kharabian 2005). So wenig es eine einheitliche Entwicklungsgeschichte des Fernsehens gab, so viele Erfinder können 88

Im Folgejahr der Ausstrahlung widmete das „Canadian Journal of Communication" den Hintergründen und Implikationen des Films eine vollständige Ausgabe (Canadian Journal of Communication 1996). Weitere fünf Jahre später wurde darüber hinaus ein wissenschaftliches Kolloquium zum Thema veranstaltet (Hanke 2001).

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sich ihres Anteils an seiner Existenz rühmen: Die längst vergessenen Innovationsstufen des Fernsehens lassen sich im Museum nicht nur an Fernsehgeräten, sondern auch an Bildröhren, Lampen, Kondensatoren und über 1.500 Betriebsanleitungen und hunderten Fotografien nachvollziehen. Welche Haken das Fernsehen schlug, als es noch nach seinem Platz in der Mitte des privaten Refugiums suchte, wie mit exotischen Hölzern wie dem westafrikanischen Wenge-Holz oder Art Deco-Spielereien gearbeitet wurde, bevor in den 1980er Jahren monokonformer Verarbeitungsnihilismus in Plastik Einzug in die Massenfertigung hielt (vgl. auch Zerbesias 1995), wie es sich mal als schrankwandartiges Möbelstück in das Wohnzimmer einfügte, sich mal als auffälliger Kontrapunkt zum Einrichtungsstil seiner Zeit präsentierte oder im Gegenteil zukunftsgewandten Trends hinterherlief oder vorauseilte und damit nicht nur zur Einrichtung von imaginativen Parallelwelten einlud, sondern ganz konkret den Lebensraum des Zuschauers veränderte, wird durch den narrativen Bogen, den die permanente Ausstellung des MZTV Museums spannt, für Besucher jeden Alters erfahrbar: ,,[T]he purpose of our museum is to bring attention to the origins of television in a different way that it has done before. What encouraged us to start the museum was the fact that the story of the invention and the pioneers was never told. And in the process of researching that story we decided that the best way to tell that story was through the actual artifacts and through archives of those pioneers" (Michael Adams, MZTV Museum). Weil einzelne Apparaturen freilich nicht ausreichen, u m den komplizierten Pfad des Fernsehens nachzuzeichnen und vermitteln zu können, zieht das Museum auch vermehrt Kontextüberlieferungen wie Schriftgut hinzu, da es gerade aus der Frühzeit der Fernsehentwicklung ebenso wenige, aber umso aufschlussreichere Dokumente gibt, die von solch einflussreichen Entwicklern wie John Logie Baird (1888-1946) hinterlassen wurde: 89 „We just acquired about 50 pieces of paper that are not a television set, not a book, not a magazine. We didn't know they existed. They are the earliest evidence of television coming to Canada. And it's basically correspondence between a Canadian corporation and John Logie Baird in Britain. And John Logie Baird wanted to come to Canada to start selling and manufacturing television sets. It's not a script, but the objects, whether it's a piece of paper, whether it's a bottle cap, a music-box or a remote control: They all fit into the history of television. And they can tell amazing stories of the medium through just about any piece of history with that medium" (Michael Adams, MZTV Museum). Das Museum schreckt auch nicht davor zurück, zugunsten der narrativen Kohärenz selbst derlei Kontextmaterial für hohe Geldbeträge anzukaufen, wie ein Buch von Charles Francis Jenkins (1867-1934) aus den 1920er Jahren, das nach Auskunft von Kurator Adams originale Aufzeichnungen und persönlich eingeklebte Fotos des Ingenieurs be-

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Zeitweise arbeitete Bairds Enkel Iain als Sammlungskurator für das Museum (Pratley 1997).

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inhaltet und für einen hohen fünfstelligen Betrag aus Sammlerhänden erworben wurde, oder sich Bieterschlachten mit anderen Museen zu liefern, um seine Geschichte erzählen zu können. Kurator Michael Adams zeigt sich überzeugt, dass die stringente Verfolgung dieses Konzepts einer allgemein verständlichen, an Realien konstruierten Erzählung über die Fernsehpioniere, ihre Forschung und ihre Visionen unter anderem dazu geführt hat, dass sich der Sammler Jack Davis überzeugen ließ, sein Einzelstück GE Octagon nach Toronto zu geben und Moses Znaimer darüber hinaus zu erlauben, sich die Rosinen aus den übrigen Sammlungsbeständen herauszusuchen: „He called us, the MZTV Museum, the American Museum of the Moving Image and the American Wireless Association in Rochester, New York. He called us independently. We didn't know that the others were called. He wanted to know what our vision was, what we wanted to do with our collections. And basically we showed him what we wanted to do and what our vision of the future was. And he was quite taken back by the fact that we are telling a unique story in a unique way and that if he was selling his TV set to us we wouldn't stick it in storage. We would immediately put it in display and would immediately tell its story. So we ended up with the GE Octagon, the most important piece in his collection" (Michael Adams, MZTV Museum). Als Erzählinstrumente werden bisweilen auch Spielzeuge oder Requisiten benutzt; denn dort wo prominente Fernsehgesichter wie die allseits beliebte und ebenso gern museal portraitierte Lucille Ball und ihre Show „I Love Lucy" (vgl. Kapitel IV.3.2.1. und IV.4.2.6.) fehlen, braucht es andere prominente Figuren wie den „erste Fernsehstar" Nordamerikas namens Felix the Cat (vgl. Anonym 1971), eine kniehohe Statuette, die vom Fernsehfabrikanten RCA eingesetzt wurde, um 1931 erste experimentelle Sendeversuche vom New Yorker Empire State Building zu unternehmen (vgl. McKay 1995). Die Figur gehört zum festen Bestandteil der Ausstellung, jedoch nur als Kopie; das Original, mit einer Mio. kanadischer Dollar versichert, wird nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt (Landini 2002: 21). Die Ausstellung richtet sich zwar generell an die breite Bevölkerung, die etwas erfahren möchte über die Wurzeln des Fernsehens, stellt aber auch eine interessante Quelle für die wissenschaftliche Forschung dar. In der museumseigenen Präsenzbibliothek können Forscher in beschaulicher Studierstuben-Atmosphäre die Erläuterungen der vielen Erfinder des Fernsehens analysieren, ob es sich um seltene, weil meist nur in geringsten Auflagen oder als Unikate verfasste „first source books" (Michael Adams, M Z T V Museum) wie von Charles Francis Jenkins handelt, die aus erster Hand über die langsame und mühsame Arbeit an der Herausbildung des Fernsehens berichten und nicht auf Spekulationen und Mutmaßungen von Autoren aus zweiter oder dritter Hand bauen müssen, oder um Wörterbücher, mit deren Hilfe sich die unterschiedlichen Definitionen und Auffassungen darüber, was Fernsehen für die Menschen vergangener Tage bedeutete, nachvollziehen lassen. In der eigentlichen Ausstellung werden die einflussreichen Fernsehpioniere Jenkins, Baird, Paul Nipkow (1860-1940), Vladimir Zworykin (1889-1982), David Sarnoff (1891-

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1971), Allen B. DuMont (1901-1985) und Philo T. Farnsworth (1906-1971) vorgestellt, die jeweils unterschiedlichen, aber immer wegweisenden Anteil an der technologischen Entwicklung des Fernsehens hatten, es wird skizziert, welche Rolle das Fernsehen beim Wettlauf von Ost und West bei der Eroberung des Weltraums einnahm, und es gibt eine hohe Wand („The Writing on the Wall") mit erinnerungswürdigen, mal kritischen, mal mahnenden, mal lobenden, aber immer zum Überdenken von Vorurteilen anregenden Zitaten über das Fernsehen. Schließlich ist Marylin Monroes zwiespältigem Verhältnis zum Fernsehen, das sie zeit ihres Lebens zwar nicht berühmt, aber postmortem durch eine Flut an Dokumentationen und fortlaufender Berichterstattung unsterblich gemacht hat, eine eigene kleine Sonderausstellung gewidmet. Auf der Website des Museums finden die jeweiligen Ausstellungsbereiche ihre digitale Entsprechung, was so konsequent umgesetzt wurde, dass selbst eine virtuelle Kuratorin einzelne Schätze aus der Museumssammlung präsentiert und jeweils Hintergründe liefert zum historischen Kontext, zum Design, zur Technologie hinter dem Gehäuse, zum Hersteller und bisweilen zu interessanten Bezüge zur Gegenwart wie im Falle des Standfernsehers Philco Predicta, dessen Design sich in Apple-Computern des Modells iMac aus dem Jahre 2002 wiederfand. Untergliedert ist die Ausstellung vor Ort in drei Teile, die auch online in Form einer Zeitleiste vorkommen: Zunächst wird sich dem Kapitel der mechanischen Fernseher von 1925 bis 1935 zugewandt, dann den Jahren 1946 bis 1960, als sich das Fernsehen zum neuen Massenmedium und elektronischen Feuerstelle aufschwang, und schließlich der Zeit bis 1975, als das Fernsehen zum universalen Medium wurde. So lebt die Ausstellungsdramaturgie vom Gegensatz der Fernsehwahrnehmungen von vorgestern, gestern und heute. Wie enorm die technologischen Entwicklungsschritte wirklich waren, verdeutlichen erst die originalen Gerätschaften, welche die durch hochauflösende und farbbrillante Flachbildschirme geprägten Sehgewohnheiten von Fernsehzuschauern der Gegenwart herausfordern und zu einem anderen Blick zwingen, zu einem Blick in die Fernsehbiographien ihrer Eltern und Großelterngeneration, aber auch zu einem sonst von der Selbstverständlichkeit des Fernsehens verstellten Blick auf die technischen Errungenschaften des Mediums - und seine möglichen Defizite, was die Designgeschichte der Empfangsapparate betrifft. Interessante Einblicke verspricht daher auch die kommunikative Einbindung der Besucher als Fernsehzuschauer bzw. als Fernsehbeobachter in die Ausstellung: Mit dem bereits erwähnten Oral History-Projekt des Museums wird es den Besuchern ermöglicht, ihre Eindrücke von der Ausstellung mit ihren eigenen Erinnerungen zu paaren, Bewertungen über den Zustand des aktuellen FernsehschafFens abzugeben oder einen Ausblick zu wagen, wie welche Zukunft dem Fernsehen und seinen Zuschauern blüht (vgl. Kapitel IV.4.1.3.). Nach dem Vorbild der berühmten Rednerecke im Londoner Hyde Park hatte Moses Znaimer das Konzept des „Speakers Corner" bereits in das Programmangebot seines Senders CityTV übernommen: Im Gebäude der Sendezentrale gab es einen öffentlich zugänglichen Raum, „where anyone by droping a dollar into the slot can speak on any issue and the message will be broadcast" (Marshall 2004: 2630). Auch im Muse-

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um, wo die Videoaufzeichnungen seit 1995 angeboten werden, steht es den Besuchern frei, in welcher Form sie über ihre Fernseherinnerungen sprechen. Kombiniert mit der selektiven Akquise von Fernsehapparaten aus familiären Kontexten, die dem Museum von ihren Besitzern gern als Sachspende angeboten und immer dann erworben werden, wenn dem Kurator Michael Adams eine damit verbundene Anekdote aus der Familiengeschichte besonders wertvoll erscheint, erfolgt somit eine wesentliche Ergänzung der Museumsausstellung durch den erinnerungsgeschichtlich bedeutenden Rezipientenfokus, der in den zuvor analysierten Fernsehmuseen tendenziell zu kurz kommt. Der kurze Weg zum eigenen Museum Von Beginn an war das MZTV Museum für seinen Charakter als Nischeninstitution, die sich für einen eng abgegrenzten Sammelbereich und ein festes narratives Gerüst für ihre Ausstellung entschieden hat, verhältnismäßig erfolgreich: In den ersten zehn Jahren nach seiner Gründung im Jahre 1992 kamen über 100.000 Besucher in die Ausstellungsräume des Museums, das in dieser Zeit noch in drei Räumen im Sendezentrum Znaimers, dem sogenannten CHUM City Building, untergebracht und nur auf individuelle Terminanfrage zugänglich war. Die Besucherzahlen stimmten Znaimers Museumsteam positiv: ,,[W]ith the public reaction to our little exhibit and our intoxication with the history of the pioneers we decided to create a television museum and do it quickly", erinnert sich Michael Adams. Weitere 100.000 Besucher folgten in den fünf darauffolgenden Jahren ab 2002, als das Museum im benachbarten ChumCityStory das etwa 160 Quadratmeter kleine Dachgeschoss bezog, wo nur 35 Geräte Platz fanden und Besucher ebenfalls nur nach Anmeldung Zugang erhielten. Durch die rege Verleihtätigkeit des Museums sahen aber schätzungsweise weitere eine Million Besucher anderer Museen die wertvollsten Sammlungsstücke Znaimers über Wanderausstellungen (vgl. Anonym 2009a). Das MZTV Museum kooperierte in den 1990er Jahren rege mit einer Reihe von etablierten Kunst- und Regionalmuseen wie dem renommierten Royal Ontario Museum in Toronto, dem Canadian Museum of Civilization in Ottawa, dem Whyte Museum of the Canadian Rockies in Banff und der Cinematheque quebecoise in Montreal. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr die Gastausstellung im Royal Ontario Museum, die für eine Dauer von zweieinhalb Monate vorgesehen war, aber aufgrund des anhaltenden Besuchererfolgs auf ein volles Jahr ausgedehnt wurde. „Watching TV: Historie Televisions and Memorabilia from the MZTV Museum" zeigte eine Auswahl von 60 Fernsehgeräten, darunter auch viele frühe mobile Geräte wie den Philco Safari, dem ersten Transistorfernseher mit Batteriebetrieb von 1959, von historischen Ausgaben von Rundfunk- und Fachmagazinen, die sich mit der Ausbreitung und technologischen Weiterentwicklung des Fernsehens beschäftigten, sowie von alten Werbetafeln, Begleitbüchern zu Kinderserien usf., und wartete zusätzlich mit zahlreichen Texttafeln und Schaubildern auf, welche die technischen Grundlagen beispielsweise mechanischer Fernseher erklärten:

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IV. Status Quo und Perspektiven

der

Fernseherbe-Verwaltung

„The title [.Watching TV'] doesn't really do the exhibit complete justice, but in our first exhibit we didn't have any TV sets on. So you didn't really watch much TV, you learned about the history of the television set. So the methods that we tell the story, the true method is through the physical artifact that the people come and their memories are spurred. And their standing in front of a section on the television of history and they can see a timeline of history and an introductory-panel and a website that complements that experience. But our museum is not something that is explored on an individual basis" (Michael Adams, MZTV Museum). Nicht erst den bescheidenen Platzverhältnissen war es geschuldet, dass das MZTV Museum in seinen eigenen Ausstellungsräumen vor allem Gruppenführungen anbietet: 95 Prozent davon laut Kurator Michael Adams für Schulklassen: Die klassische Konzeption der Ausstellung, hauptsächlich mit Objektpräsentationen und Texttafeln zu arbeiten, verlangt nach einer Belebung der Besuchererfahrung durch Interaktion zum Beispiel mit einem Museumsführer, der mehr Kontexte und Hintergründe liefern kann als schriftliche Erläuterungen oder selbst interaktive Computerstationen. Indem der Museumsbesuch auf diese Weise auf eine persönlichere und durch den zwischenmenschlichen informellen Austausch auch emotionalere und verbindlichere Erfahrungsebene gehoben wird, besteht ein größeres Potenzial zur Engagierung der Besucher, auch an den FeedbackMechanismen des Museums zu partizipieren und sich somit stärker einzubringen. Diese Dialogfunktion ist jedoch ein Aspekt, der bei der Internet-Präsenz des Museums gänzlich fehlt. Im Juli 2009 eröffnete Moses Znaimer das neue Zuhause seines Museums, das ungefähr zweieinhalb Kilometer entfernt von dem bisherigen Standort die Queen Street hinab liegt. Hier finden fast sämtliche Einzelstücke und Raritäten der Sammlung einen Platz in der Ausstellung (Bilton 2009; vgl. auch Anonym 2009a). Da die vormals private, wenn auch nicht profitorientierte Einrichtung im Februar 2006 von behördlicher Stelle einen öffentlichen gemeinnützigen Status verliehen bekam, erlebte das MZTV Museum eine einschneidende Transformation, die grundlegende Auswirkungen auf die Sammlungspolitik, die Organisationsstrukturen und die Selbstwahrnehmung der kleinen Gedächtnisorganisation als Institution im Dienste der Öffentlichkeit hatte. Kurator Michael Adams merkt indes auch an, dass es dem Museum in Zukunft schwieriger fallen könnte, gemäß der auch im Fernsehgeschäft umgesetzten Philosophie Znaimers flexibel und zeitnah auf die explizit geäußerten oder auch implizit zu erkennenden Wünsche des Publikums einzugehen, da mit dem rechtlichen Status eines gemeinnützigen Museums eben jene Bürokratie Einzug halte, gegen die Znaimer mit seinem Fernsehschaffen stets angegangen ist: „Our policies have always been informal. We had to formalize our policies, so our acquisition policy our collection management policy, safety, security, disaster plans and all of this - all these things that are necessary to become a public museum. We've had to formalize and we just went through that process and it was quite an interesting process because we learned that - again - there is no standard in that world

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that there's guidelines but there are no real standards. So there are some museums that will have a security policy that are four hundred pages long and some that are two pages long. [...] One of the things I've learned through that process: When you have one person owning the museum with a very good mandate, it's easier to change things, it's easier to acquire things, it's easier to adapt. Now we have a board of directors and a whole policy and a process that we have to follow. So when this collector shows up on our doorstep with that book he wants to have 50,000 dollars for it's a lot of approval we have to go through to acquire that. We're concerned about that. [...] So it's a process that we are learning, and we don't want to become a casualty of. And we've seen other institutions that we've gone too that are slow, just installing an exhibit, slow, unionized, there is a whole level of bureaucracy that we are made fun of in the past that we are possibly experiencing now" (Michael Adams, MZTV Museum). Die Entscheidung, den Schritt von einer privaten zu einer öffentlichen Kultureinrichtung mit einer gemeinnützigen Untermauerung zu machen, resultierte aus „a lot of good will out there that we can tap into", erklärt Adams. Erst mit dem Rang einer gemeinnützigen Institution lasse sich ein Kulturerbe wie die Sammlung Znaimers, die durchaus noch weiter anwachsen soll, mit der nötigen Weitsicht nicht nur langfristig, sondern dauerhaft bewahren. Ein wichtiger Ausschlag mag in diesem Zusammenhang das Vertrauen geben, das vonseiten der allgemeinen Öffentlichkeit einem anerkannten öffentlichen, nicht-kommerziellen Museum entgegengebracht wird. Allerdings spielen in diesem Zusammenhang auch finanzielle Erwägungen eine Rolle, da nun steuerrelevante Spendenquittungen ausgestellt werden können, die Sammler dazu ermutigen, ihre wertvollen Stücke zwar unentgeltlich, aber dennoch mit mildernden Auswirkungen auf die eigene Steuererklärung an das Museum abzutreten. „And there's also a museum community where you can share. When you are registered as a museum you can share... We always did it but we could never receive it because we were private. So we always gave but weren't receiving. Now we can start receiving" (Michael Adams, MZTV Museum). Adams sieht darin durchaus auch eine Perspektive für die verbleibende Unsicherheit über die Zukunft des kanadischen Fernseherbes im Allgemeinen, das durch das weitere Fehlen eines übergeordneten nationalen Fernsehmuseums nicht in annähernder Weise aufgearbeitet werden kann wie im Nachbarland USA: Auf lange Sicht bestehe aber nun mit der neuen institutionellen Form des MZTV Museums die Möglichkeit, sich aktiv an der Wiederbelebung einer solchen Initiative zu beteiligen und gemeinsam mit anderen Partnereinrichtungen den Gedanken einer unabhängigen öffentlichen Gedächtnisorganisation über das Fernsehen voranzutreiben und in einem Rundfunkmuseum münden zu lassen: „Right now we are very focused and very niche-marketed, but we know that the CBC, the national archives in Ottawa and other private institutions have that material, but it should be pulled together into one national broadcast museum in Canada" (Michael Adams, MZTV Museum).

520 4.3.2.2.

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung Beschlagenes Schaufenster: Das CBC

Museum

Seit Ende der 1990er Jahre engagiert sich die CBC nachhaltig für die Sicherung und öffentliche Zugänglichmachung ihres Rundfunkprogrammerbes. Nach der Veröffentlichung des „Fading Away-Report" durch das kanadische Nationalarchiv (National Archives and Department of Canadian Heritage 1995) setzten Bemühungen ein, die komplexen, aber bis dato nachrangig behandelten Archivbestände mit strategischen Maßnahmen zur Langzeitsicherung des Programmmaterials aufzuarbeiten, und dies unter strikter Einbeziehung der Rundfunkbereiche Radio und Fernsehen (vgl. auch McCormick 2008). Kontext- und Begleitüberlieferungen aus dem Produktionsbetrieb wie technische oder requisitäre Gegenstände sollten von einem sendereigenen Museum verwaltet werden. Insofern konnte das 1994 gegründete CBC Museum als integraler Bestandteil der Sicherungsstrategien des Senders verstanden werden. Schon in den 1970er Jahren wurde die Idee eines Sendermuseums innerhalb der CBC formuliert (vgl. auch Adilman 1994). Doch erst im Jahre 1994 erfolgte die offizielle Museumsgründung durch den jahrzehntelang als Rundfunktechniker bei der CBC beschäftigten Ivan Harris, der sich in seinem Ruhestand weiterhin verpflichtet sah, die Produktionsinstrumente seines Senders als Voraussetzung des Programmschaffens zu sichern. Noch Anfang der 1980er Jahre wurde konstatiert: „Right now, there's just a room crammed with uncatalogued items. [.] If CBC services in Toronto ever get consolidated in a big, fancy joint in that parking lot beside Roy Thomson Hall, Harris and friends will probably be in luck" (Alaton 1983). Die Hauptaufgabe eines Fernsehmuseums hatte Harris immer darin gesehen, ,,[t]o store the artifact and conserve it the best possible way." Bereits 20 Jahre früher hatte Harris aktiv mit der Sammlung unter anderem von ausgesonderten Produktionsgeräten von heute selten gewordenen Bandabspielgeräten, das älteste aus dem Jahre 1932, sowie Kameras und Mikrophonen begonnen. Über 4.000 Artefakte finden sich heute in dem bisher einzigen Sendermuseum Nordamerikas, das in der zehnstöckigen englichsprachigen Zentrale der CBC in Toronto untergebracht ist. War das Museum in seinen Anfangsjahren von montags bis freitags für jeweils fünf Stunden am Tag geöffnet, wurden die Öffnungszeiten später auf acht Stunden täglich von 9 bis 17 Uhr verlängert. Gleichwohl merkt Gründer Ivan Harris an, dass diese festgelegten Öffnungszeiten für den durchschnittlichen Besucher aufgrund der freien Zugänglichkeit des Eingangsbereichs des CBC-Hauptquartiers noch nie eine große Rolle gespielt hätten: „The hallways are known as public access areas and actually they are opened all the time." Auf annähernd 1.500 Quadratmeter sind die ausgestellten Gerätschaften und Vitrinen mit Kostümen, Studiokulissen oder Figuren aus Kindersendungen in das Atrium des Sendergebäudes integriert: Neben einem eigenen Ausstellungsareal finden sich die Installationen entlang von Gängen, unter Treppenaufgängen und eingelassen in die Seitenwände. Im Untergeschoss wurde zudem eine Galerie zu Ehren von Ivan Harris eingerichtet, die dem Besucher einen Blick in die Artefakt-Lagerräume ermöglicht. Diese organische Einbindung des Museums in die Innenarchitektur des Senderzentrums suggeriert eine historische Grundierung und Selbstgewissheit sowie eine natürliche Ver-

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bundenheit der Rundfunkanstalt mit ihrer eigenen Geschichte, gestärkt noch durch die bilinguale Gestaltung der Ausstellungssegmente in englischer und französischer Sprache. Auch wenn es Jahrzehnte gedauert hat, länger noch als die Museumsinitiative der privatwirtschaftlichen Konkurrenz in der Person Moses Znaimers und seinem MZTV Museum, erkannte die CBC die identitätsbildende und -stärkende Funktion ihrer Programmgeschichte und ließ der Selbsterkenntnis konsequente Schlüsse folgen, indem es als erster national operierender Fernsehveranstalter Nordamerikas ein eigenes an die allgemeine Öffentlichkeit gerichtetes Firmenmuseum eröffnete. Profilierung durch Besinnung auf nationale

Einheit

Die mit dem neu geweckten Bewusstsein für die historische und erinnerungskulturelle Relevanz ihrer programmlichen Hervorbringungen einhergehende Vorstellung eines erweiterten Grundversorgungsauftrags, der sich auch auf die Verfügbarmachung bereits ausgestrahlter Sendungen bezieht, korrespondierte mit dem funktionalen Selbstbild der CBC, sich als einzigartige Integrationsinstanz in einem Land zu verstehen, das geographisch und demographisch derart zerklüftet und dünn besiedelt ist, dass erst das Raumund Altersgrenzen überwindende Fernsehen den Menschen aus den unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen Kanadas ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu vermitteln imstande war: „We should really emphasize in this country, that the CBC in this widespread country links the people like the railway did back at the turn of the century. As corny as that might sound today, there is this sweeping nostalgia, this feeling that we are Canadian although we are so far apart. That is what we are trying with our museum, to touch upon that nostalgia, the linkage of the people" (Don Adams, CBC Museum). Kanada weist nur etwa ein Neuntel der Einwohnerzahl der Vereinigten Staaten auf, die sich indes auf eine Fläche verteilt, welche die der USA noch übertrifft. Die Pflege und Stärkung einer nationalen kanadischen Identität durch die Anregung einer gesellschaftlichen Rückvergewisserung anhand der immer ein „historical puzzle" (Ivan Harris, CBC Museum) bleibenden Aufarbeitung der Rundfunkgeschichte und Rekonvaleszierung derselben im Bewusstsein des einzelnen Rezipienten und im idealen Fall in jenem der allgemeinen Öffentlichkeit wird vom Museumspersonal als die primäre Aufgabe der Einrichtung bewertet. Der daraus folgende Anspruch, eine möglichst große, wenn nicht sogar die gesamte Bandbreite des kulturellen Lebens in Kanada abzubilden, gemäß auch dem Anspruch und Auftrag der CBC als öffentlicher Programmveranstalter selbst, vermag das Museum nur sehr basal einzulösen, weil sich die Kuratoren in ihrer Themenauswahl stets einem Missverhältnis zwischen der Popularität eines bestimmten Genres oder einer Sendung auf der einen und dem Wunsch, das Publikum für ignorierte oder übersehene Kapitel der Programmgeschichte zu interessieren, auf der anderen Seite ausgesetzt sehen: Die Variationsbreite bewegte sich daher zwischen Sonderausstellungen über Nischenthemen wie die kanadische Ballett-Tradition und über massenkompatible Themen wie den

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

Western-Mythos Nordamerikas, ergänzt u m Vorführungen historischer Sendungen aus sämtlichen Programmbereichen, die nur selten oder noch nie im laufenden Programm wiederholt worden waren: „People often phone in or write to us to ask us to show a special program, we try to show them. So I try to show a cross-section of variety. We don't really concentrate on the heavy culture, although we showed the ballet and everything. But the most popular is children's programming and variety. But we can show theoretically everything that is in the archives. Only if it's a coproduction we have to ask for permission. [...] If it's a show like ,King of Kensington for example which was one of the few of CBC's successful sitcoms, I'd be hesitant to show that, just again because of my bias because it is being shown now on conventional television: Why should I show something in the museum what the people can see at home, in fact the whole series? So I would rather show something what they can t see now, for instance old obscure drama series from the 70's that people have forgotten about, that shows Toronto back in the early seventies. [... ] We don't have any guidelines. It's more about experimentation" (Don Adams, CBC Museum). Mit narrativen Strategien versucht das Museum, Interesse für unterbelichtete Kapitel der Rundfunkgeschichte zu erzeugen u n d greift dafür unter anderem auch einzelne Berufsbiographien wie des Schauspielers L o m e Greens auf, der seine Karriere als Sprecher bei CBC Radio begann, bevor er als Pa Cartwright in der US-amerikanischen Westernserie „Bonanza" Fernsehgeschichte schrieb. Ein solch erzählerischer Überbau sorge auch dafür, dass der Besucher nicht allein gelassen werde bei der Betrachtung der Artefakte, denen das Museum ja schließlich primär gewidmet sei, so Harris: „[I]t becomes more alive when we show the program. So it connects both worlds and makes the display more interesting, because the visitor can relate to the program." So leistet das Museum, wenn auch n u r schlaglichtartig, Hilfestellungen bei erinnernden Transferleistungen des Besuchers, indem es Bezüge herstellt u n d die ausgestellten Realien stets mit den dazugehörigen Fernsehakteur kontextualisiert. Auf Knopfdruck lassen sich jeweils 24 ausgewählte Ausschnitte von populären Kindersendungen, Sportübertragungen u n d der Berichterstattung über historische Nachrichtenereignisse wie den Fall der Berliner Mauer oder dem Irakkrieg von 1991 abspielen, aber auch von leicht vergessenen, weil nur wenige Jahre ausgestrahlten Informationssendungen wie zum Beispiel die Reportage- u n d Diskussionssendung „The Way It Is" (1967-1969), das Politikmagazin „Up Canada" (1973-1975), das dreiteilige Portraitformat „The Champions" (1978) bis hin zum Gesundheitsmagazin „The Medicine Show" (19801982). Die Museumsvertreter machen keinen Hehl daraus, dass die nostalgische Dimension bei der Thematisierung der Fernsehvergangenheit an vorderster Stelle steht. Ivan Harris bezeichnet die mit den Ausstellungsstücken verbundene Romantik als wichtigen Faktor bei der Ansprache der Besucher. Auch Museumswissenschaftlerin Lynne Teather von der städtischen Universität von Toronto hält die nostalgiefördernde Funktion des

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CBC Museums für einen gelungenen Ansatzpunkt, um Zuschauer für die Vergangenheit des Senders zu begeistern und sie autobiographisch perspektiviert zu reflektieren: ,,[T]he CBC Museum and its website is fabulous, but the museum had its problems along the way. I love that museum because it speaks to me between the radio and the TV, it will track your life when you go to that museum. One of the interesting thing in academia is, that we tend to say that museum experiences that have to do with nostalgia are bad, because it s not real history. But if it's an entrypoint to meaning and to a deeper sense to historical elements, it is great. And who are you or me to tell a group of people what they should be thinking in that sense of what their memory is composed of" (Lynne Teather, University of Toronto). Die kuratorische Entscheidung, sich hauptsächlich auf die vier Themen Kinder, Nachrichten, Öffentliche Angelegenheiten und Sport zu konzentrieren, geht einher mit einer Strategie, die aus einer Notsituation eine Tugend machte: Das Museum konnte und kann es sich aufgrund fehlender Personal- und Finanzressourcen ohnehin nicht leisten, populäre Formate aus dem Ausland, die von der CBC angekauft wurden, zu präsentieren, weil die Rechteklärung mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu leisten wäre. So werden in dem museumseigenen Vorführsaal mit knapp über 30 Sitzplätzen vornehmlich Programmüberlieferungen aus den 1950er und 60er Jahren gezeigt, als die CBC den überwiegenden Großteil ihrer Sendungen in Eigenregie realisierte, deren Rechte vollständig beim Sender liegen und entsprechend einen besonders engen Bezug zum im Dienst der Öffentlichkeit stehenden, die Nation verbindenden Programmauftrag der CBC aufweisen. Benannt wurde das kleine Theater demgemäß nach Graham Spry, jenem Mann, durch dessen Engagement im Jahre 1932 die Parlamentsentscheidung zustande kam, welche die Etablierung der Canadian Radio Broadcasting Commission auf den Weg brachte, die vier Jahre später in einem neuen Canadian Broadcast System aufging. Besonderen Erfolg erzielte das Museum nach eigener Aussage mit seinem Ausstellungsschwerpunkt unter dem Titel „Growing Up", bei dem die Popularität von Sendungen für Kinder innerhalb des CBC-Programms und die Sozialisationsfunktion des Fernsehens bei der kindlichen Entwicklung thematisiert wird. Das Interesse an den kleinen Kulissenbauten aus den Sendungen „Mr. Dressup" und „The Friendly Giant" war seit der Eröffnung des Ausstellungsteils als permanente Installation ausnahmslos groß, versichert Gründer Ivan Harris, der von Feedbackzetteln zu berichten weiß, die mit Kommentaren wie „It makes me feel more Canadian" ausgefüllt worden seien. Insofern trägt das Museum als wichtiger Bestandteil der Imagepflege des Senders dazu bei, ein günstiges Klima für die Rechtfertigung der CBC als öffentlich finanzierte Rundfunkanstalt zu schaffen, was laut Aussage von Kurator Don Adams mit Blick auf die starken medialen Konkurrenzangebote aus den USA auch zwingend nötig sei: ,,[T]he reasons are obvious: Everyone hates the CBC because they have to pay taxes. Unlike other public broadcasting operations we are up against the US, and that played an enormous role of shaping the CBC and the people that listen and watch CBC. So there is a lot of criticism. We are up against the best in North America, which is the

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung US. There is rumbling about - even though the costs per person are lower than in Germany or in France. [... ] So the negativism is a strong reason to celebrate instead what we did achieve and what potential we have as Canadians opposed to the US" (Don Adams, CBC Museum).

Das Museum als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit Die CBC hat also nicht zuletzt auch ein wirtschaftliches Interesse daran, eine durch ihr eigenständiges Programmschaffen geprägte nationale kanadische Fernsehidentität gegenüber der TV-Ware aus den benachbarten Vereinigten Staaten zu behaupten. Anders als das MZTV Museum mit seiner inkludierenden nordamerikanischen Zielrichtung besinnt sich die CBC also eher auf eine Abgrenzung zu den starken Networknachbarn, um die eigenen Errungenschaften klar von den historischen Leistungen des US-Fernsehens abzugrenzen: So wurde die Sendung „The Friendly Giant", eine in ihrer Beständigkeit und Wandlungresistenz beinahe schon reaktionäre Kindersendung, mit dem originalen Kostüm des Serienschöpfers und .freundlichen Giganten Bob Homme und seinen Stoffpuppen Rusty, einem Hahn, und Jerome, einer Giraffe, zur wichtigsten Attraktion des Museums, eben weil die Ausstellungsstücke, die über fast drei Jahrzehnte den Bildschirm bevölkerten, ein Gefühl von Heimat und Verbundenheit generierten und zum Anschauungsbeispiel wurden, wie es die CBC vermocht hatte, sich gegen die Rundfunkmacht und kreative Unterhaltungsflut aus dem Anrainerstaat zu erwehren. Umso empfindlicher traf es den Sender und sein Museum, als seine Haltung gegenüber dem eigenen Erbe in Frage gestellt wurde. Eine unerwartete Kontroverse entspann sich, als die CBC anlässlich der Verleihung des kanadischen Fernsehpreises Gemini im Jahre 2007 einen Sketch über depressive, alkohol- und sexsüchtige Fenrsehpuppen produzierte, die nach der Absetzung ihrer Kindersendungen von den Zuschauern vergessen in einem Altenheim ihr Dasein fristeten. Darunter waren auch die Puppen Jerome the Giraffe und Rusty the Rooster. Der Spaß wurde zum Fiasko, auch weil die CBC die eigentlichen Besitzer der Figuren, die als Dauerleihgabe im Museum ausgestellt wurden, nicht um ihr Einverständnis gebeten hatte. Die Kinder des verstorbenen Bob Hommes fühlten sich in ihren Gefühlen verletzt und sahen das Vermächtnis ihres Vaters in Verruf gebracht. Von Vertrauensbruch war die Rede (vgl. MacDonald 2007a; MacDonald 2007b), sogar von einem Skandal, der in der „nationalen Psyche" lodere (Lacey 2007). Die Auseinandersetzung führte dazu, dass die Familie Homme die Exponate zurückforderte und in der Presse ein Streit darüber entbrannte, wo die Puppen Asyl finden sollten.90 Der gute Ruf der CBC als sicherer Hafen für die lieb gewonnenen, jahrzehntelang geringgeschätzten Relikte der

90

Auch einige US-Medien beteiligten sich an der Diskussion, starteten sogar Kampagnen, um die prominenten Figuren „nach Hause" zu holen: Diese Forderung resultierte aus der Biographie Bob Hommes, dessen Idee der Kindersendung mit einer Giraffe und einem Hahn auf seine Studienzeit in Madison, Wisconsin zurückging und „The Friendly Giant" ab 1953 zunächst für fünf Jahre auf unterschiedlichen US-amerikanischen Bildungssendern lief, bevor der Serienerfinder nach Kanada

IV.4. Museumsfernsehen,

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Fernsehvergangenheit war leichtfertig gefährdet worden, weil die historische Signifikanz der Überlieferungen kurzerhand karikiert wurde, um den aktuellen Programmbetrieb zu bedienen. Bezeichnenderweise ist es für Museumsgründer Ivan Harris ein wichtiger Bestandteil des Museumsauftrages, sich mit Sammlungsstücken an der Programmproduktion zu beteiligen und damit sowohl zu einer Authentifizierung der historischen Inszenierung beizutragen, als auch Aufmerksamkeit auf die Arbeit seiner Abteilung zu lenken, indem in den betreffenden Sendungen auf das Museum verwiesen wird. Der Fehltritt des Senders im Falle der verantwortungslosen Rekontextualisierung der mit kindlicher Phantasie aufgeladenen Realien aus „The Friendly Giant" zeigt, auf welch unsicherem Grund sich derartige Verknüpfungen von hausinternem Museums- und Sendebetrieb bewegen und wie dominant der Produktionsgedanke in diesem Zusammenspiel von bzw. dem Kräftemessen zwischen den Ansprüchen der Bewahrung (des Artefakts, aber auch seiner Bedeutungskontexte und Aura) und der Bearbeitung (auch Umdeutung) ist. Die Kurzsichtigkeit der CBC im Umgang mit ihrem Museum artikulierte sich auch zum Unbehagen des Museumspersonals schon mehrmals. Bereits bei der Gründung des Museums hatte es der Sender als verantwortliche Institution versäumt, seine ehemaligen Mitarbeiter darüber zu informieren, dass sie sich nun im sendereigenen Museum wiederfinden würden (vgl. Adilman 1994). Am gravierendsten aber wurde die Entwicklung der Einrichtung durch ihre Zu- bzw. Unterordnung unter die Entscheidungsgewalt der Kommunikationsabteilung gehemmt. Nicht das Archiv der CBC als Hüter und Verwalter des .Firmengedächtnisses' bestimmt den Kurs des Museums, sondern die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Senders, deren maßgebliches Ziel es war und ist, die Corporate Identity der CBC als Rundfunkveranstalter zu stärken, einerseits durch eine Intensivierung der Rezipientenbindung, andererseits durch Mitarbeitermotivation, die bei ihrem allmorgendlichen Arbeitsantritt durch das mittels der verteilten Installationen im Erdgeschoss allgegenwärtig erscheinende Museum an die Historizität ihrer Anstalt erinnert werden. Demzufolge sei das Hauptziel des Museums untrennbar verbunden mit der Aufgabe der PR-Abteilung, bei den Besuchern „a good feeling towards the CBC" zu schaffen, so Ivan Harris, „and take pride in its achievements", ergänzt Kuratorin Faye Blum hinsichtlich der Präsentation der Ausstellungsinhalte. Platz und Gelegenheiten für Kritik an weniger glanzvollen Kapiteln der Sendergeschichte gebe es nicht, räumt Blum ein: „If we chose a hard subject, I don't know what would happen." Weil es sich um das Museum eines Senders handele, sei eine ausgeprochen positive Haltung gegenüber der CBC Pflicht, erklärt Blum, ob es sich nun um technische Vorreiterschaft bei der Entwicklung und den Einsatz von Sound-Effekten handele oder um populäre Programmformate oder einzelne kreative Talente. Vorherrschend ist daher eine kritiklose und zelebratorische Färbung der Technik- und Programmgeschichte des größten kanadischen Rundfunkveranstalters. Damit unterscheidet sich der museale Ansatz der CBC nur marginal von der kommerziellen „brand extension" einzelner US-Sender, die zwar den Museumsbegriff scheuen, auswanderte und die Show bei der CBC zum Dauerbrenner im Kinderprogramm avancierte (vgl. Moe 2007).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

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allerdings Führungen durch ihre Produktionsstätten anbieten, die mit ähnlicher Dramaturgie und historischen Exponaten arbeiten (vgl. Sanger 2004). Von den vier großen Fernsehnetworks ABC, CBS, Fox und NBC bietet nur Letzteres in New York und Los Angeles Besichtigungstouren durch die eigenen Fernsehstudios an, und dies seit 1933. Teilnehmer können den Sendekontrollraum besichtigen und zum Beispiel einen Blick hinter die Kulissen der Abendnachrichten oder von Unterhaltungsshows wie „Saturday Night Live" oder „Late Night with Conan O'Brian" werfen. Kombiniert werden die Studiobegehungen mit der Vorführung speziell produzierter Zusammenschnitte historischer Programminhalte, die der Selbstdarstellung des Senders als signifikanter Akteur der Fernsehgeschichte dienen. Selbst eine kleine Ausstellung zum Gedenken an im Dienst getötete NBC-Journalisten ist Bestandteil der Führung (vgl. Lee/Lee 2000; Sanger 2004). Die Mischung aus der Skizzierung der historischen Genese des Senders gepaart mit Eindrücken des aktuellen Produktionsgeschehens verfolgt auch CNN, das zeitweise eine „Inside CNN"-Tour im New Yorker Time Warner Center am Columbus Circle anbot. Diese wurde aber zum Ende des Jahres 2006 nach einer Laufzeit von nur 28 Monaten wieder eingestellt. Weitaus erfolgreicher erwiesen sich die Studioführungen, die CNN seit 1987 täglich an seinem Hauptsitz in Atlanta anbietet. Hier können interessierte Zuschauer alle zehn Minuten zu einem etwa 50-minütigen Rundgang aufbrechen, der sie von der Vor- und Frühgeschichte menschlicher Kommunikation (Ausgangspunkt sind Höhlenmalereien) über einige Markpunkte der Journalismusgeschichte bis hin zur Rund-umdie-Uhr-Berichterstattung des Weltmarktführers im Fernsehnachrichtengeschäft führt, einschließlich einem Blick in den Newsroom, in die Spezialeffekt-Studios, wo digitale Animationen und Graphiken produziert werden - und auf den ersten Schreibtisch des Sendergründers Ted Turner. Die Neugierde des Zuschauers wird hier befriedigt mit Wissenswertem, Faszinosa und Memorabilia. Die Aktivitäten von CNN und NBC zeigen, wie beliebt die korporative Selbstpräsentation mit historischen und aktuellen Eindrükken über den Fernsehbetrieb sein können: Bis zu 400.000 Besucher verzeichnen die Sender jährlich, ein Andrang, der sogar die Etablierung von sogenannten VIP-Tours nach sich zog, die im Falle von NBC für eine Gruppe von bis zu sechs Personen ungefähr 1.000 US-Dollar kosten und je nachdem einen längeren, tieferen oder auch intimeren Einblick in das Produktionsgetriebe und die Vorbereitungsräume von Stars wie Nachrichtenfrau Katie Couric oder Comedian Conan O'Brian, als er noch bei NBC unter Vertrag stand, erlauben (vgl. O'Brien 2000; Sanger 2004). Einen „Rocky Start" (Kühl 2000: 60) vermeldete demgegenüber auch ein museumsähnliches Bauprojekt in Denver, Colorado, der einstmaligen Welthauptstadt des Kabelfernsehens (vgl. Davis 2006). Unter dem Namen Cable Center schuf sich die US-amerikanische Kabelindustrie ein eigenes Aus- und Weiterbildungszentrum mit musealem Anstrich. Eben dieser sollte indes so wenig wie möglich zur Geltung kommen, weil der Museumsansatz aus Sicht der verantwortlichen Planer allzu sehr mit einer geschönten, gar verherrlichenden Sicht auf die eigenen Errungenschaften behaftet sei. Vielmehr werde eine vorwärtsdenkende wie -drängende, das heißt weniger zelebratorische, sondern

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diskursfördernde Stoßrichtung bei der Schaffung eines „think tank" (ebd.: 64) angestrebt. In Zusammenarbeit mit der University of Denver konzipiert und realisiert, spricht das knapp 7.000 Quadratmeter umfassende Cable Center auch weniger den gewöhnlichen Zuschauer an, der Interesse haben mag, sich über die Geschichte seiner Lieblingskabelsender zu informieren, sondern mehr noch das eigene Personal inklusive der Berufsanwärter der Kabelindustrie (vgl. Lafferty 1999: 80; Waldman 1999). So profilierte es sich bisher primär mit Kursen für Fernsehmanager als Dienstleister im Fachbildungssektor (Neel 2008). Auf den Ausstellungsflächen werden gleichermaßen die Unterhaltungs- und die Informationsqualitäten des Kabelfernsehens herausgestellt und seine Positionierung als Wirtschaftsfaktor, vor allem auch als Vorreiter der Technologieentwicklung thematisiert. Eine Hall of Fame („cablehalloffame.com") feiert bedeutende Persönlichkeiten der Branche, eine Technik-Galerie präsentiert diverse Artefakte aus der Kabelfernsehgeschichte, und ein Turm aus 44 LCD-Bildschirmen mit einer Diagonale von jeweils etwa 1,20 Meter zeigt eine Auswahl aktueller Kabelprogramme. Mit einem regen Veranstaltungsangebot bemüht sich das Cable Center als Brutstätte für Ideen und als Forum der Entscheider, wie zum Beispiel beim First Summit on Intellectual Property and Digital Media um Themen wie Urheberrechtsschutz im Internet (vgl. Brown 2006). Im Zentrum jeglicher Center-Aktivitäten steht die Verpflichtung der Einrichtung gegenüber seinen Gründern und Förderern aus der Kabelfernsehbranche: „The Cable Center needed to ask itself what was important to the cable industry, not what was important to the Cable Center", äußerte sich der Leiter der Einrichtung gegenüber der Presse (zitiert nach Neel 2008). Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich das amibitioniert und mit öffentlichem Auftrag gestartete Cable Center seit der Inbetriebnahme seines stattlichen neuen Bauwerks trotz der Universitätskooperation nicht des kritischen Beigeschmacks eines unglaubwürdigen „Taj Mahal" (Kühl 2000:62) zur Selbstüberhöhung der Kabelfernsehwirtschaft entledigen konnte. In der Museumsgemeinde wurde seine Eröffnung mit unterschwelligem Argwohn begleitet, handele es sich dabei doch um einen Indikator für eine „unternehmerische Fragementarisierung" zum Zwecke der Öffentlichkeitsarbeit für einen Industriezweig, was für öffentliche Gedächtnisorganisationen nicht zielführend sei, kommentiert Carl Goodman vom American Museum of the Moving Image. Einem ähnlichen Dilemma folgend, konnte auch das CBC Museum keine eigenständige und von den affirmativen Kommunikationsstrategien der Pressestelle des Senders unabhängige Deutungshoheit über sein Geschichtsbild entwickeln. Anhand der museal ausgerichteten Senderunternehmungen in Kanada und den USA lässt sich demzufolge eine Überantwortung der sender- bzw. branchenbezogenen Fernsehgeschichte an korporative Prinzipien ablesen, die negative Konsequenzen hat für die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Vergangenheitsdarstellung.

528 Ausgedientes

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung Modell?

Mit Blick auf das von einem Massenpublikum goutierte Modell der Studioführungen bei NBC und CNN sowie den nicht minder bei seiner professionellen Zielgruppe erfolgreichen Bildungsfokus des Cable Centers erweckt das Museumskonzept der kanadischen CBC den sprichwörtlichen Anschein, nichts Halbes und nichts Ganzes zu sein: Lassen zumindest die zwei Tour-Konzepte mit musealen Elementen in den USA keinen Zweifel daran, dass es sich um zielgerichtete, von unternehmerischen Interessen geleitete Öffentlichkeitsarbeit handelt, die teilweise gar zu Millionenumsätzen wie im Fall von NBC beiträgt, hat das CBC Museum sein aufgezwungenes korporatives Bias stets zu verschleiern versucht. Nach ursprünglich ehrgeizigen Museumsplänen Anfang der 1990er Jahre konnte aufgrund von Budgetproblemen nur eine bescheidene Variante realisiert werden, die zunächst nur in Betrieb genommen werden konnte, weil sich ehemalige Mitarbeiter ehrenamtlich engagierten (vgl. Dick 1996). Später wurden einige Halbtagsstellen geschaffen, um das Projekt am Leben zu erhalten. Zeitweise Versuche, das Museum mit Führungen durch die Kontrollräume, das Nachrichten- und Showstudios anzureichern (vgl. Fox 2002) wurden bald wieder eingestellt. Auch verfügt das Museum aufgrund des unreglementierten kostenlosen Zugangs über keine Besucherstatistiken. „We don't have large numbers of people here", sagt Don Adams. Aufgrund der latenten finanziellen Unterversorgung, die Faye Blum und Don Adams beklagen, könnten auch nur zu seltenen Anlässen Führungen durch die Ausstellung angeboten werden. Die Interaktionsarmut erklärt Kuratorin Blum damit, es müsse alles so einfach wie möglich gehalten werden. Das Museumsteam sieht sich dazu genötigt, abseits der permantenen Ausstellungen die Besucher mit flexiblen wie minimalistischen Konzepten anzusprechen: Die Museumsarbeit ziele von einem Tag auf den anderen, sagt Blum, da die Miterabeiter von den zuständigen Stellen innerhalb des Sender weder die finanzielle, noch die institutionelle Sicherheit bekämen, die eine langfristige Planung erfordere: „It's very much day-to-day. Our funding is only six months in advance." Ohne dass eine direkte Kausalität nachgewiesen werden kann, wird seit der Kommunikationspanne rund um die Nutzung der „Friendly Giant"-Puppen im November 2007 über die Zukunft des CBC Museums disktuiert. Es besteht unter anderem darüber Unsicherheit, welche Pläne die Senderleitung für die Eingangsbereiche seines englischsprachigen Zentrums in Toronto hat und in welcher Form Besucher des Gebäudes mit der Sendergeschichte in Kontakt kommen sollen (vgl. MacDonald 2007a). Hinter der Frage, ob es dazu den Begriff und die Organisationsstruktur eines Museums brauche, steht seitdem ein umso größeres Fragezeichen. Seit das Museum ins Leben gerufen wurde, hatte die CBC die finanziellen Aufwendungen dafür gering gehalten, es erschien gar wichtiger, dass das Museum möglichst keine Kosten verursacht (vgl. Adilman 1994). Faye Blum, die im Oktober 2007 ihre Anstellung als Ausstellungskuratorin verlor, weil ihr Job vom Sender als überflüssig bewertet wurde, sieht das Museum und seine Sammlung in akuter Gefahr: „The collection is still at risk. The individuals in charge currently don't have the expertise, sensitivity or love for the collection" (zitiert nach MacDonald 2007a). Auch während des Expertengespräches mit den

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Fernsehmuseen

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Museumsvertretern bestätigte sich dieser Eindruck: Die Initiatoren des Museums fühlen sich von ihrem Sender missverstanden oder nicht in der Weise ernst genommen, wie es ihrer Ansicht nach ihrer Aufgabe angemessen erscheint. Die Bemühungen des Senders, auf eine intensivere Kontaktpflege zu seinen Rezipienten abzuzielen, fand bisher kaum einen Ausdruck in der erforderlichen Mittelausstattung, um die Ausstellung des Museums interaktiver zu gestalten. Interaktive Elemente, die immer wieder auch von den Besuchern des Sendezentrums eingefordert wurden und sich angesichts der zahlreichen historischen Gerätschaften auch anbot, konnten wegen Personalmangels und der Angst, in den öffentlichen Bereichen könnten Exponate abhanden kommen, kaum integriert werden. Außerdem sei die Gefahr zu hoch, dass die alten Gerätschaften ihren Geist aufgäben und nicht wieder funktionstüchtig gemacht werden könnten, meint Gründer Ivan Harris. Auch diese Befürchtung hat indes finanzielle Gründe: In Ausnahmefällen musste sich das Museum bisher mit einem Spezialtechniker behelfen, der für sämtliche Standorte der CBC, einschließlich der weltweit vorzufindenden Korrespondentenbüros, Reparaturdienste an altem Sendeequipment leistet und nur selten Zeit hat: ,,[H]e volunteers some of his free time for us and drops in when he can", so Don Adams. Das grundsätzliche Dilemma des CBC Museums mag also in der paradoxen Haltung der CBC begründet liegen, das Museum einerseits als fester Bestandtteil seiner Öffentlichkeitsarbeit zu verstehen, sich aber in der zwingenden Frage der ausreichenden Budgetierung nicht ausreichend zu ihm zu bekennen. Das Museum scheint daher größtenteils eine Alibifunktion zu erfüllen. Dieser Eindruck wird auch durch die fehlende Einbindung des Museums in die regen Aktivitäten der CBC im Aufgabenbereich der programmbasierten Fernseherbe-Verwaltung bestätigt: So misslangen mehrere Initiativen seitens des Museumspersonals, eine engere Zusammenarbeit mit der Archivabteilung hinsichtlich der Ausarbeitung von Internet-Strategien anzustreben, in die sich das Museum mit seiner Expertise hätte einbringen können. Das Archiv sei im Gegensatz zum Museum bestens mit fachkundigem Personal ausgestattet, operiere aber vollständig separat von den Museumsaktivitäten, sagt Faye Blum. Selbst die ursprüngliche Einrichtung von Sichtplätzen für das allgemeine Publikum in der Museumsumgebung konnte nicht umgesetzt werden (vgl. Adilman 1994). In Kombination der verweigerten Geld- und Personalressourcen und der nicht erkennbaren Strategie des Senders in Bezug auf seine historisch ausgerichtete Selbstpräsentation vor Ort wird das CBC Museum zu einem Technologie- und Requisiten-Schaufenster, das den reflektierten Blick auf seine Ausstellungsware durch die unsichere wie unbeständige Aussagekraft seiner selbst als Museumseinrichtung nur unzulänglich preisgibt. Die Ungewissheit um die tatsächlichen Intentionen des Senders und seine offenbar abwehrende Haltung gegenüber der aktiven Besucherbetreuung, die sich gegenüber dem Museumspersonal in Mittelkürzungen und Personalabbau artikuliert, gefährdet außerdem die fundamentale Funktion des Museums, im Dienste der Gesellschaft zu stehen.

530

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

4.3.3. Im Kampf um das Mögliche: Fernsehmuseale

Projekte in

Deutschland

Museumsgeschichten über das Fernsehen haben in Deutschland einen schweren Stand. Ein beispielloser Ausstellungsevent wie „Der Traum vom Sehen" hat seine Massenwirksamkeit nicht ohne Grund auf solch nachdrückliche Weise in Szene setzen können in einem Land, das seinem beliebtesten Massenmedium bis zu diesem Zeitpunkt eine kulturhistorisch bereitete Plattform vorenthalten hatte. Eine lückenlose oder auch nur in geringem Ausmaße funktionierende Infrastruktur für die öffentliche Fernseherbe-Verwaltung gab es nicht und entwickelte sich allenfalls im Ansatz und zudem auffallend langsam durch die nur schleppend vorankommenden Planungen einer „Deutschen Mediathek". An Hochschulen wurden Mediatheken gegründet und audiovisuelle Mediensammlungen angelegt; doch eine systematische Musealisierung der Fernsehgeschichte wurde einzelnen überschaubaren Sonderausstellungen und Sammlungsabteilungen wie im Deutschen Technikmuseum Berlin überlassen. Dort ist seit 1987 Joseph Hoppe als Leiter der Abteilung Nachrichtentechnik für den fernsehbezogenen Ausbau der Sammlung verantwortlich und trug in diesem Zuge unter anderem auch Nachlässe vom passionierten Rundfunkjournalisten und Fernsehkritiker Kurt Wagenführ („Rundfunk und Fernsehen", „Fernsehen", „Fernseh-Rundschau") und übernommene Firmenarchive wie von der Fernseh-GmbH (Fese) oder von Telefunken zusammen. Mancherorts formten sich aus Privatsammlungen bisweilen auch kleine Liebhabermuseen wie in der 12.000 Einwohner-Stadt Havixbeck im Münsterland, wo der Radio- und Fernsehtechniker Reinhold Holtstiege sein eigenes Rundfunkmuseum eröffnete, in dem auch das Fernsehen eine Rolle spielt, jedoch in einem entsprechend kleinen Maßstab, da sich die Einrichtung gemäß der beruflichen Biographie des Satelliten-Experten auf die Historie der für die Medienentwicklung so bedeutenden technologischen Erdtrabanten konzentriert (vgl. Kreuz 2005; Klein 2009). Wie sich an den zwei nennenswerten Initiativen zur Gründung eines nationalen Museums zur deutschen Fernsehgeschichte nachvollziehen lässt, leiden solche gemeinnützig orientierten Projekte an dem noch immer gravierenden Aufholbedarf hinsichtlich eines günstigen kulturellen Förderklimas für fernsehhistorische Bewahrungs- und Funktionalisierungsanstrengungen. Die starke Stellung und endarchivische Kompetenz der Sender, die in den vergangenen Jahrzehnten selbst keine musealen Pläne auf den Weg gebracht haben, hat, gepaart mit latenten Unsicherheiten ob der rechtlichen Legimitation von Sammlungsaktivitäten öffentlicher Institutionen, zu denkbar ungünstigen Voraussetzungen für Institutionalisierungsvorhaben mit fernsehmusealer Zielrichtung geführt. Selbst ein Freizeit-Themenpark wie die in Hamburg konzipierte „TV World" als kuriose Ausformung der Versuche, der Fernsehgeschichte ein an die allgemeine Öffentlichkeit gerichtetes institutionelles Denkmal zu errichten (vgl. Kapitel IV.2.2.6.), blieb unvollendet. In diesem schwierigen Kontext versuchen das Projekt Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden und die Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen Akzente zu setzen, um die Idee eines nationalen Fernsehmuseums auch in Deutschland im kulturellen Kanon der öffentlichen Gedächtnisorganisationen zu verankern.

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

531

4.3.3.1. Televisuelle Technikgeschichte auf Sparflamme: Das Projekt Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden

Seit 1979 gibt es in Mainz und Wiesbaden Bestrebungen, ein sogenanntes „Deutsches Fernsehmuseum" zu gründen, um den Siegeszug des Fernsehens in Deutschland nachzuzeichnen bzw. um „typische technische und programmliche Entwicklungen in beispielhaften Exemplaren vor der gedankenlosen Vernichtung zu bewahren" (Herber o.J.). Die noch vor der Initiative zur Errichtung einer „Deutschen Mediathek" antizipierte Gedächtnisorganisation sollte die erste ihrer Art in Deutschland werden. Fünf Jahre nach der Gründung des Fördervereins wurde im Jahre 1984 eine Expertenkommission berufen, die unter dem späteren leitenden Direktor des Landesmuseums Koblenz Ulrich Löber bereits ein Jahr später in Zusammenarbeit mit dem ZDF und dem Südwestfunk eine Ausstellung unter dem Titel „Fernsehen: 100 Jahre Technik - 50 Jahre Programm" organisierte (Kultusministerium Rheinland Pfalz 1987) und sich mit der Konzeption eines „Fernsehmuseums in Mainz" beschäftigte (Löber 1987), die sich der parallelen Planungen einer ähnlichen Einrichtung in Berlin durchaus bewusst war, durch die gleichwertige Einbeziehung der Fernsehtechnikgeschichte jedoch andere Akzente setzen wollte. Trotz der grundsätzlichen Untersützung des Museumsprojektes durch den Oberbürgermeister der Stadt Jakob Fuchs blieb die erhoffte Realisierung eines eigenen Museums jedoch aus. Die hauptsächlich von verrenteten Ingenieuren und Redakteuren des ZDF zusammengetragenen Sammlungsbestände fanden zwar einen Lagerplatz im alten Proviantamt der Stadt, doch scheiterte der Förderverein damit, eine tragfähige Finanzierung für die Eröffnung oder den Betrieb einer musealen Einrichtung zu garantieren. Schon in ihren „Vorüberlegungen" zu der geplanten Institution kam die rheinland-pfälzische Arbeitsgruppe zu dem Schluss, ein „Fernsehmuseum zur Geschichte und Technologie des Fernsehens [muss] ein Desiderat sein" (ebd.: 4). Dass eine solche Einrichtung von den Mitgliedern des Arbeitskreises, bestehend unter anderem auch aus Vertretern der ansässigen Sender SWF und ZDF sowie der Stadt Mainz als Wunschgegenstand tituliert wurde, dies aber weder von der einen, also der Sender-, noch von der anderen, der kommunalen Seite die Bereitschaft gab, sich auch langfristig und mit den entsprechend erforderlichen hohen Summen finanziell für die Schaffung eines Fernsehmuseums zu engagieren, ist den Vereinsmitgliedern noch heute ein Dorn im Auge. Die Mitglieder des Vorstands Otfried F. Herber, Günter Bartosch und Wolfgang Janning fühlen sich rückblickend vom über viele Jahre avisierten Standort Mainz im Stich gelassen: Man sei im März 2000 mutmaßlich durch die hohe Verschuldung der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt einfach vor die Tür gesetzt worden „mit einem ganz normalen Kündigungsschreiben", erinnert sich Herber. Angesichts der ausweglos erscheinenden Situation habe sich der Verein gezwungen gesehen, mit der Verschrottung der umfangreichen Techniksammlung zu beginnen. Überraschende Hilfestellung erhielt der Verein jedoch aus dem Kulturdezernat des benachbarten Wiesbaden. In der hessischen Landeshauptstadt stieß die Museumsidee auf offene Ohren, weil die Sammlung als „weiterer Mosaikstein" ver-

532

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

standen wurde, „um Wiesbaden als Medienstadt zu fördern" (zitiert nach dpa/lhe 2000; vgl. auch Klee 2005c). Glücklose Anknüpfung

an lokale

Fernsehgeschichte

Tatsächlich finden sich im Fundus des Vereins eine Vielzahl von Überlieferungen aus der Geschichte Wiesbadens als eine der frühen Fernsehmetropolen Deutschlands. Von hier aus wirkte der „Vater des deutschen Rundfunks" Hans Bredow, nachdem der ehemalige Vorsitzende der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (1926-1933) von der US-amerikanischen Besatzungsmacht 1945 ins Amt des Regierungspräsidenten von Hessen-Nassau berufen worden war (Wagner 2005: 58), aber noch viel wichtiger: Nach seinen frühen provisorischen Gehversuchen im hessischen Eschborn konturierte das ZDF seine Senderidentität in den Wiesbandener Studios der Taunus Film, die es 1964 bezog und erst 20 Jahre später wieder verlassen sollte, als das neue Sendezentrum auf dem Mainzer Lerchenberg seinen vollständigen Betrieb aufnahm. Da das Vereinsengagement traditionell eng mit den Biographien seines Vorstandes verbunden war und ist, der sich hauptsächlich aus ehemaligen Mitarbeitern des ZDF zusammensetzt, besteht das Gros der Bestände aus Überlieferungen der ZDF-Sendergeschichte, die zum Teil von den Mitgliedern selbst in den Verein miteingebracht oder von bekannten ehemaligen Kollegen gespendet wurden. Neben Kuriosa wie der originalen Armbrust aus der Spielshow „Der goldene Schuss" oder Brettspielen zu „Hätten Sie's gewusst?" verwaltet der Verein auch umfangreiche Fotobestände zu Sendungen wie „Das aktuelle Sportstudio", „Musik ist Trumpf", „Erkennen Sie die Melodie" und „Wetten Dass...?" oder zu Programmbestandteilen wie den „Mainzelmännchen", die in Wiesbaden das Laufen lernten und deren erster Filmtricktisch sich ebenfalls in der Obhut der Museumsplaner befindet (vgl. auch Bartosch 2005: 39-42; Venn 2003). Auch ephemere Programmexzerpte des ZDF wie verschiedene Würfelformen, die sich in den ersten Jahren des Farbfernsehens zur Ankündigung einer Sendungsausstrahlung in Farbe auf dem Bildschirm drehten, sind Bestandteile der Sammlung. Zu einzelnen Sendungen wie Wim Thoelkes „Der große Preis" erreichte der Verein bei seiner Sammlungstätigkeit sogar eine nachlassäquivalente Qualität: Neben umfangreichen Dokumenten und requisitären Gegenständen bis hin zu einzelnen Quizkarten mit Frageund Lösungsstruktur sind auch unter anderem Thoelkes persönliche Schreibmaschine und Aktentasche vorhanden. Doch spannt die in über 30 Jahren zusammengetragene Sammlung mittlerweile einen weitaus größeren Bogen, als als sammelsurisches Annex des Zweiten Deutschen Fernsehens zu dienen: In einer alten Lagerhalle im Wiesbadener Stadtteil Amöneburg drängen und türmen sich auf etwa 600 Quadratmetern ausgemusterte Studio- und Handkameras unterschiedlicher Generationen (z.B. die letzte vom Hersteller Bosch gefertigte Fernsehkamera), klobige Maschinen zur Filmabtastung, alte Geräte zur Magnetbandaufzeichnung, Beleuchtungsanlagen, Mischpulte, Fernsehapparate aus früheren Dekaden, eine Sammlung von Goldenen Schallplatten für Shows wie „Melodien für Millionen" oder „Ein Herz für Kinder", auch vereinzelt originale Fernsehprogrammbänder von Sendun-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

533

gen, die von den Vereinsmitgliedern in ihrer aktiven Zeit im Sendebetrieb verantwortet wurden, sowie Drehbücher und Produktionsakten von Unterhaltungssendungen wie „Glücksspirale" oder „Das schöne Lied", historische Ausgaben von Rundfunkzeitschriften wie der „Funkschau" seit 1924, usf. Das Schmuckstück der Sammlung ist ein wahrscheinlich unikaler Übertragungswagen aus Holland aus dem Jahre 1959, mit dem über das Grubenunglück von Lengede im Jahre 1963 berichtet wurde (vgl. auch Wenzel 2003; Weiss 2009). Eine weitere Rarität ist das größte Objektiv der berühmten „Fernseh-Kanone" aus dem Jahre 1936, einer Ikonoskop-Kamera, mit der die Schwimmwettbewerbe der Olympischen Sommerspiele von Berlin übertragen wurden. Die Kamera an sich hat den Zweiten Weltkrieg nicht überstanden, doch neben einem von Studenten angefertigten Nachbau der Kamera findet sich auch das originale circa 43 kg schwere Tele-Objektiv aus der Manufaktur Ernst Leitz Wetzlar, mit 160 Zentimetern Brennweite das größte, das jemals für eine Fernsehkamera hergestellt wurde (vgl. auch Riedel 1999: 2139) im Wiesbadener Vereinsfundus.91 Es ist in erster Linie ein Fundus kornukopischen wie chaotischen Zustands, dessen einzelne Bestände sich vornehmlich dadurch auszeichnen, dass sie größtenteils mit persönlichen Erinnerungen der Vereinsakteure behaftet sind. Die einzelnen Artefakte und Dokumente sind nur rudimentär sortiert, eine katalogische Erfassung fand nicht statt. Dass sich hier Ruheständler zusammengefunden haben, um gemeinsam außerhalb des Sendebetriebs weiterhin ihrer beruflichen Leidenschaft nachgehen zu können, indem sie Zeugnisse der Fernsehgeschichte, die sie zum Großteil als ihre eigene Geschichte wahrnehmen, anhäufen und zu bewahren suchen, macht den besonderen Charme der Museumsinitiative aus, kennzeichnet sie jedoch auch als Liebhaberprojekt, das eine Realisierung der Museumspläne erschwerte. Nach dem Umzug von Mainz nach Wiesbaden erklärte sich das Kulturamt Wiesbaden bereit, zunächst für zwei bis drei Jahre eine provisorische Lagerstätte für die Sammlung anzumieten. So sehr das Projekt in Mainz jahrelang auf der Stelle getreten hatte, sollten nun zügig möglichst konkrete Konzepte für ein Fernsehmuseum entwickelt werden, wobei die Kommune ihre finanzielle Beteiligung gleichzeitig einschränkte und darauf verwies, dass allein die Betriebskosten eines solchen Museums den Stadthaushalt übermäßig belasten würden (vgl. Knapp 2000). Es galt, günstige Rahmenbedingungen für eine möglichst nachhaltige Gewinnung von finanziellen Förderern für die Museumsidee zu schaffen. Für Kosten in der Höhe von 750.000 Euro ließ das Kulturamt von den Fachhochschulen Mainz und Wiesbaden unter der Leitung der Professoren Roland Blum, Dieter Fröbisch und Harald Pulch eine Machbarkeitsstudie erstellen, die sich an beispielhaften institutionellen Vorbildern im Ausland orientierte (u.a. auch am Museum of Television

91

Ein weiteres Objektiv der Kamera mit 100 Zentimeter Brennweite ist in der Ständigen Ausstellung des Museums für Kommunikation in Berlin zu sehen. Beide Objektive stammen aus dem Sammlungsbestand des ZDF.

534

IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

& Radio und dem American Museum of the Moving Image).92 Darin kamen die Autoren unter der Maßgabe einer umfassenden wie ganzheitlichen Erfassung des Mediums Fernsehen und seiner historisch betrachteten Grundlagen-, Produktions- und Rezeptionsaspekte sowie einer thematischen Aufschlüsselung inklusive einer speziellen Betrachtung seiner künstlerischen Hervorbringungen zu dem Schluss, dass die Einrichtung eines „Deutschen Fernsehmuseums", das seinem Anspruch gerecht werden wolle, etwa 32 Mio. Euro netto erfordere zuzüglich laufender Kosten von 3,46 Mio. Euro im Jahr (Blum/Fröbisch/Pulch 2003: 56). Die Kostenaufstellung unterstrich die drohende Aussichtslosigkeit einer Realisierung: Vorgeschlagen wurde ein vierstöckiger Neubau (Grundfläche 40x60 Meter) und eine Personalausstattung mit 25 Vollzeitstellen. Die Machbarkeitsstudie brachte dem Museumsprojekt den Beinahmen eines „Luftschlosses" (vgl. CDU 2003) bzw. eines „Utopia" (Müller 2003) ein. Obwohl die Kalkulation verglichen mit anderen Museumsgründungen im internationalen Feld wie dem Newseum keineswegs den Geist von Hypertrophie atmete, löste der „Rausch der Nostalgie", zu dem sich die Stadt und der Verein laut Kritiker hätten hinreißen lassen, bei den addressierten Sendern eher Unverständnis aus: Die Pläne seien „völlig illusorisch und unbegründet" (vgl. Bähr 2003). Auch wenn sich einzelne Anstalten wie der Hessische Rundfunk „überaus interessiert" an einer inhaltlichen und sachorientierten Kooperation zeigten: Eine finanzielle Unterstützung wurde von vornherein ausgeschlossen (sub 2002). Der entscheidende Makel betraf die pathologische Ideenlosigkeit in der Frage, wer als Geldgeber fungieren solle: Hier blieben die Gutachter ähnlich unentschlossen wie die vormaligen Mediatheksplaner in Berlin. In einem ersten Schritt sollten die Verantwortlichen der Stadt Wiesbaden hessische Landesmittel einwerben und daraufhin den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gewinnen, um Mittel aus dem Bundeshaushalt zu erhalten. Weiterhin sollte auch nicht vergessen werden, Mittel aus europäischen Förderprogrammen zu beantragen. Schließlich stünden (auch) die Sender in der Pflicht, ihre eigene Geschichte und Entwicklung „an einem zentralen Ort" als „gemeinsame kulturelle Aufgabe" aufzuarbeiten und zu präsentieren (Blum/Fröbisch/Pulch 2003: 60). Zuletzt seien auch Medienunternehmen „auf höchster Ebene" (ebd.: 61) anzusprechen, die im Bereich der Elektronikindustrie, aber auch der Kommunikationsbranche angesiedelt sind. Die Autoren verbargen ihre eigene Skepsis nicht, dass ein solches Anliegen schnell und erfolgreich umgesetzt werden könnte; sie selbst schreiben, es handele sich zuallererst um eine „gemeinsame Vision" (ebd.).

92

Speziell thematisiert werden das American Museum of the Moving Image und das Museum of Television & Radio in New York, das National Museum of Photography, Film and Television in Bradford, das Omroepmuseum im niederländischen Hilversum, das Deutsche Filmmuseum und das Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main. Überblicksartig werden folgende Einrichtungen vorgestellt: die Museen für Kommunikation in Frankfurt am Main, Hamburg, Berlin und Nürnberg; das Deutsche Museum in München; das Rundfunk-Museum in Fürth und die nicht realisierten Projekte Deutsche Mediathek in Berlin und ZDF-Medienpark in Mainz.

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

535

Entsprechend breit gefächert und bemerkenswert unspezifisch ist der Katalog an Adressaten geblieben, auch im Vergleich zu der ersten Mainzer Projektskizze aus dem Jahre 1987, in der als Träger das Land Rheinland-Pfalz, die Stadt Mainz, das ZDF, der Südwestfunk und weitere ARD-Anstalten sowie noch nicht benannte Wirtschaftsunternehmen vorgeschlagen wurden. So blieb das vorgeschlagene Szenario sogar noch weit hinter den im Laufe der Berliner Mediatheksplanung diskutierten Förderansätzen zurück. Die Kritik machte sich also erstrangig an der offen gebliebenen Frage nach geeigneten Financiers fest (vgl. auch Schug 2003). Dabei ließ selbst die Machbarkeitsstudie selbst keine Zweifel daran, dass es sich bei dem Museum in der entworfenen Größenordnung um ein Zuschussprojekt handeln werde: Die mit 200.000 Besucher pro Jahr vergleichsweise positivistische Schätzung würde bei einem Eintrittspreis von fünf Euro jedes Jahr einen Rückfluss von nur einer Mio. Euro bedeuten. Insgesamt wurde mit jährlichen Einnahmen von etwas mehr als 1,5 Mio. Euro gerechnet - weniger als die Hälfte der veranschlagten laufenden Kosten. Auf Nachfrage wird vonseiten des Vereinsvorstands bestätigt, dass die Machbarkeitsstudie von 2003 für die Erarbeitung von Strategien zur institutionellen Aufstellung des Museums weiterhin Gültigkeit besitzt. Auch die dem Projekt sehr aufgeschlossen gegenüberstehende Wiesbadener Kulturdezernentin Rita Thies erklärte im Juli 2009 in einem Interview: „Die vor mehreren Jahren in Auftrag gegebene Expertise ist nach wie vor eine zentrale Grundlage für die langfristige Planung hinsichtlich der Konzeption und Struktur eines Fernsehmuseums" (zitiert nach Heide 2009). Eine einheitliche Linie bei der Ausrichtung der Förderanliegen gibt es indes weiterhin ebenso wenig wie einen Kurswechsel in der lokalen Haushaltspolitik hinsichtlich einer erhofften Finanzierungszusage durch die Stadt Wiesbaden: „Wir haben uns immer bemüht, mit den maßgeblichen Leuten ins Gespräch zu kommen. Mit der Kultusministerin in Wiesbaden und Mainz, aber auch mit Herrn Jung, der jetzt Bundesverteidigungsminister ist. Bei Koch war er Staatssekretär. Wir sind in der ganzen Stadtverordnetenversammlung bekannt. Alle Parteien, außer die Republikaner, unterstützen unser Vorhaben, zumindest sagen sie ja dazu. Es fließt kein Geld. Das ist das Problem" (Günter Bartosch, PDFW). Hier schien sich also zu wiederholen, was bereits in Berlin zur Farce geriet: Politik und Wirtschaft stehen nur insofern als Unterstützer der Museumsplanungen ein, indem sie sich als Fürsprecher und gegebenenfalls als Sachmittelspender verstehen. Eine existentiell notwendige finanzielle Verantwortungsübernahme blieb indes aus. Kooperationsmodelle

als Alternative?

In den Jahren nach der Präsentation der Studie wurde es leise um das Projekt, das für kurze Zeit ob seiner Dimensionen bundesweit Aufsehen erregt hatte. Die Vereinsführung hat sich unterdessen damit abgefunden, dass die Eröffnung eines eigenständigen Museumsbaus für sie vorerst in unerreichbare Ferne gerückt ist:

536

IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

„Für uns läuft irgendwann die Uhr ab, und wir wissen nicht, wie es weitergehen soll. Das haben wir auch der Stadt schon klar gemacht. Denn ein tatsächliches Museum können wir selbst auf keinen Fall mehr realisieren. Das wollen wir auch gar nicht. Wir wollen das aber auf den Weg bringen" (Wolfgang Janning, PDFW). Versuche, die Sammlung aus ihrem „Schattendasein" und der „Hinterhof-Atmosphäre" (Wenzel 2 0 0 9 ) an ihrem abgelegenen Standort an der Wiesbadener Landstraße im Stadtteil Amöneburg zu befreien und sie in der Nähe des Stadtzentrums unterzubringen, wo sie weitaus größere Publikumskreise erreichen könnte, scheiterten. Die scheinbar ausweglose Situation, die sich durch eine Mieterhöhung für den Lagerplatz noch zuspitzte und „gravierende Existenzsorgen" verursachte (Heide 2009), hat die Museumsplaner dazu bewegt, verstärkt nach alternativen Realisierungsmodellen für die funktionale Unterbringung ihrer Sammlung zu suchen. Dabei wurden hauptsächlich zwei Strategien verfolgt: Gespräche mit der Elektronikindustrie über die Etablierung eines Sponsorship-Abkommens (z.B. mit dem Telekommunikationskonzern Motorola mit Sitz im nahe gelegenen Taunusstein) ergaben für den Verein keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Dabei hatten die Akteure bereits die Idee lieb gewonnen, ihr Museum als Messestandort äquivalent zur Internationalen FernsehAusstellung in Berlin zu profilieren: ,,[W]enn wir erst einmal einen Museumsbau hätten, könnten wir dort Neuigkeiten schon vorher von der Industrie präsentieren lassen. Da könnte das Museum zum Forum werden", meint Wolfgang Janning. Als nachhaltiger erwiesen sich Überlegungen, das Fernsehmuseum unter dem Dach einer bereits bestehenden Einrichtung aufgehen zu lassen, was dem Vereinsvorstand immer noch als die sinnvollste Lösung erscheint, obwohl ihre dahingehenden Erwartungen schon mehrmals enttäuscht wurden. Vorübergehende Planungen in den 1990er Jahren zielten auf eine Integration des Fernsehmuseums in den projektierten Medienpark auf dem ZDF-Gelände in Mainz. Dies schlug jedoch ebenso fehl wie die Realisierung des Medienparks selbst, da die Planungen am 12. Juni 2 0 0 3 von ZDF-Intendant Markus Schächter „auf Eis gelegt" (Kammann 2003a) und später ganz verworfen wurden. Als Gründe nannte der Intendant die Verschlechterung des gesamtwirtschaftlichen Klimas sowie die nötige Konzentration auf programminhaltliche sowie unternehmensstrukturelle Bereiche (ZDF 2003). Zuvor hatte sich das Projekt gegen erheblichen Widerstand von Anwohnern aus der Umgebung erwehren müssen. 93 Schächters Vorgänger Dieter Stolte habe dem Museumsgedanken nie etwas abgewinnen können, glaubt der Vereinsvorstand heute. „[D]a hat uns das ZDF mit

93

Die Initiative gegen die Errichtung eines Medienparks des Senders formierte sich im Jahre 2001 und sprach sich vornehmlich gegen dessen Charakter als Freizeitpark mit Fahrgeschäften und Simulatoren aus. Eine wichtige Rolle spielte jedoch auch das Argument, dass es sich um eine . Wettbewerbsverzerrung (auf dem Markt vergleichbarer Freizeitaktivitäten) handeln würde, wenn Gebührengelder des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für entsprechende zum Teil des Sendermarketings gehörende Maßnahmen ausgegeben würden. Angenommen wurde also eine tendenzielle Kommerzialisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Vgl. hierzu die beim Internet Archive gespeicherte Internet-Präsenz der Initiaitve (ZDF-Medienpark-Gegner 2001).

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

537

einer gewissen Arroganz auflaufen lassen", sagt Otfried F. Herber. Die Idee der Schaffung eines musealen Abschnitts innerhalb eines senderbetriebenen Themenparks lag aufgrund der engen Kontakte und der Berufsbiographien der führenden Vereinsmitglieder durchaus nahe, erwies sich aber durch den Rückzug des Senders als erfolgloses Unterfangen.94 Auch die Pläne, sich am neu zu errichtenden Deutschen Filmhaus in Wiesbaden zu beteiligen, schlugen fehl. Bei dem von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, dem Land Hessen und der Stadt Wiesbaden verantworteten Objekt, das im März 2009 seine Eröffnung feierte, wurde das Medium Fernsehen - entgegen anderer Vorbilder in Berlin oder New York - gänzlich ausgeklammert, daher auch die Sammlung des Fördervereins (vgl. Wenzel 2006). Weitere Verhandlungspartner waren das Technikmuseum im baden-württembergischen Sinsheim und das Foto- und Filmmuseum in Deidesheim. Vorbildcharakter habe aber das Deutsche Museum in München, so Otfried F. Herber, mit dem auch Kontakt aufgenommen und vereinbart wurde, im Falle einer erfolgreichen Umsetzung der Museumspläne in Wiesbaden oder Umgebung Sammlungsstücke als Leihgabe bereitzustellen. Eine weitere vom Verein als besonders aussichtsreich bewertete Alternative ist die angestoßene Kooperation mit der „Route Industriekultur", einem kulturhistorischen Programm zur Würdigung der industriellen Entwicklung im Ruhrgebiet. Dass sich die Initiative geographisch auf die Region rund um die Ruhr konzentriert, aber vor allem, dass hier bisher fast ausschließlich Industriearchitektur im Mittelpunkt stand, spreche nicht gegen die Berücksichtigung der Fernsehgeschichte am Beispiel bestimmter Elektronikfabrikanten, so der Verein (zitiert nach ebd.). Gleichzeitig wurden die bestehenden Kontakte zu den Fachhochschulen Mainz und Wiesbaden unter der Maßgabe einer inhaltlich-konzeptionellen Zusammenarbeit weiter ausgebaut: Neben der Erstellung von Abschlussarbeiten zum Ausstellungswesen eines Fernsehmuseums in unterschiedlichen Studiengängen und der Ausarbeitung von Exposes,95 die dem Verein und Vertretern der Kommune bereits vor der Machbarkeitsstudie präsentiert wurden, kooperierten die Museumsplaner auch konkret veranstaltungsbezogen mit den Studenten: Nach einer Vorbereitungszeit von einem Jahr wurde im Frühjahr

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Laut Auskunft von ZDF-Archivar Axel Bundenthal ist das Konzept eines Medienparks vom Sender vollständig verworfen wurden: „Der Medienpark ist tot. [...] Ich denke, das ZDF will sich auf seine Kernkompetenz konzentrieren: Gutes Programm - ein gutes Informationsprogramm und auch ein buntes anderes Programmportfolio - dem Zuschauer anzubieten. Ein Medienpark, aber das ist jetzt meine persönliche Meinung, wäre schwer umzusetzen. Man hätte kommerziell sein müssen, weil Gebührengelder dafür nicht eingesetzt werden dürfen. Also hätte man es etwas rummelplatzartig anlegen müssen, dann stände man aber auch im Kreuzfeuer der Kritik. Die Entscheidung, keinen Medienpark aufzubauen, ist kurz nach dem Intendantenwechsel getroffen geworden. Ich persönlich denke, dass es schwierig gewesen wäre, in wirtschaftlich schwieriger Situation und bei mehreren Vergnügungs- oder auch Themenparks in der Region den Medienpark hier im Raum Mainz zu etablieren" (Axel Bundenthal, ZDF).

95

Bereits vor der Ausarbeitung der Machbarkeitsstudie wurde eine 90-seitige Broschüre erstellt, in der das Ausstellungskonzept für ein Fernsehmuseum unter einem dezidierten Erlebnisfokus und dem Namen „Blickfang" entwickelt wurde (vgl. Altbürger 2001; sma 2001).

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

538

2005 eine Ausstellung zur 70-jährigen Geschichte des Fernsehens organisiert, die den Großteil ihrer Exponate aus dem Sammlungsbestand des Fördervereins bestückte (vgl. Klee 2005a). Unter dem Titel „20:15" erarbeiteten 80 Studenten aus den Fachbereichen Kommunikationsdesign, Medien-Design, Innenarchitektur, Medienwirtschaft, Medieninformatik und Fernsehtechnik der beiden Fachhochschulen mit ihren Professoren Harald Pulch und Dieter Fröbisch ein Ausstellungskonzept, für dessen zeitlich begrenzte Umsetzung sich eine breite Sponsorenunterstützung erzielen ließ (Kreikenborn 2005). Vom 12. Februar bis 18. März 2005 wurde in den Räumlichkeiten der Fachhochschule Wiesbaden auf 300 Quadratmetern die Fernsehgeschichte chronologisch von den Anfängen in den 1930er Jahren bis hin zu DVB-T und Spartenfernsehen in der Jetzt-Zeit in Dekaden unterteilt aufbereitet (Regge 2005). Der Zuschauer wandelte über eine Gerüstkonstruktion durch die Historie des Massenmediums (Kreikenborn 2005) mit dem Ziel, einen „Rückblick nicht nur auf die Erfolgsstory einer sagenhaften Erfindung, sondern auf ein bedeutendes Stück deutscher Zeitgeschichte" zu erhalten (Lipok 2005). Die Kosten der Ausstellung wurden zu einem großen Teil von der Stadt Wiesbaden, dem örtlichen Medienzentrum sowie den Fachhochschulen aufgebracht (Klee 2005a; Klee 2004; Kreikenborn 2005). Schülergruppen erhielten auf Wunsch spezielle Führungen. Interaktive Möglichkeiten boten mehrere Terminals, über die sich die Besucher in bestimmte Themengebiete vertiefen konnten. Die positiven Besucherresonanzen zur Ausstellung stärkten zwar die grundsätzlich befürwortende Haltung der Stadt Wiesbaden zu den Museumsplänen (Klee 2005b), unterstrichen aber auch, dass ein kooperativer Ansatz auf Projektbasis möglicherweise ausreichen könnte, um die Sammlungsbestände zielgerichtet der allgemeinen Öffentlichkeit zuzuführen. Eine verbindliche Zusage von Fördermitteln für das Museumsanliegen blieb somit weiterhin aus. Streit um die

Konzeptbasis

Zu praktischen Problemen wie der keineswegs trivialen Herausforderung, die schiere Masse der Gerätschaften aus der großvolumigen Sammlung in ein bereits existerierendes Museum zu überführen, gesellten sich zeit des Vereinsengagements auch konzeptionelle Konflikte: Schon 1987 wies der Arbeitskreis zur Schaffung eines Fernsehmuseums darauf hin, dass es für die Beschaffung wichtiger Exponate „fast zu spät" sei (Löber 1987:3), eine gravierende Feststellung hinsichtlich des als entscheidend klassifizierten Ansatzes, in erster Linie die Technikgeschichte des Fernsehens darstellen zu wollen (ebd.: 6). Auch wenn später unter anderem durch die Popularität der Event-Ausstellung „Der Traum vom Sehen" in den Jahren 1997 und 1998 im Gasometer Oberhausen (vgl. Kapitel IV.4.1.4.) ein ganzheitlicher Ansatz propagiert wurde, um die Museumsziele zu erreichen (vgl. Fehlinger 2002), blieb die Programmgeschichte in Form ausgestellter Sendeinhalte bloße Makulatur; das vereinzelt überlieferte Sendungsmaterial in den Sammlungsbeständen dient allein der Veranschaulichung der televisuellen Produktebene. Die sammlungsspezifische Konzentration auf maschinelle Artefakte sowie schriftliches wie requisitäres Begleitmaterial zum Sendeablauf trug essentiell zur Herausbildung einer produktionsversierten

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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Technikexpertise der Museumsinitiative bei. Der Anspruch, ähnlich der Berliner Pläne eine Mediathek zu etablieren, wurde nie erhoben. Der Besucher wurde in den Vorüberlegungen der 1980er Jahre als „interessierter Laie" typisiert, der über keinerlei Fachwissen verfüge (vgl. Löber 1987: 6). Die didaktische Ausrichtung bei der Funktionalisierung der Sammlung wurde bis heute beibehalten und weiter ausgearbeitet. Dem Projekt Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden sind ohne eine eigene museale Organisationsstruktur enge Grenzen gesetzt. Der Förderverein als institutionelles Gefäß leistet das im Ehrenamt Mögliche: Abhängig vom Einsatz- und Gestaltungswillen der Mitglieder können die Sammlungsbestände nur äußerst eingeschränkt zugänglich gemacht werden und leiden unter der aus der Not geborenen Lagerordnung, die durch ihren Magazincharakter einer musealen Ausstellungsinszenierung fast gänzlich widerspricht. Nur bedingt war es den Vereinsmitgliedern möglich, Platz zu schaffen und beispielsweise ein provisorisches Studio einzurichten, in dem Besucher vorbereitete Nachrichtentexte verlesen und aufzeichnen lassen. Das Vorhaben, mit Gästen historische Fernsehshows komplett nachzustellen (vgl. Rückert 2005), ein signifikantes Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zu den übrigen fernsehmusealen Konzepten im Untersuchungs-Sample, wurde dagegen noch nicht umgesetzt. Zumindest das Material hierfür, zum Beispiel die wichtigsten Requisiten aus dem „Goldenen Schuss", ist vorhanden. Populäre Programminhalte aus der Fernsehgeschichte, die für viele Zuschauer selbst noch erinnerbar sind und sie möglicherweise auf nicht unwesentliche Weise in ihrer persönlichen Entwicklung beeinflusst haben wie im Falle einer im familiären Zirkel rezipierte Samstagabendshow, mit originalen Überlieferungen in Studioatmosphäre möglichst authentisch zu simulieren, ist ein interessanter wie origineller Ansatz, sich erinnerungsrelevanten Aspekten des Fernsehens in actu zu nähern. Die Einnahme der umgekehrten Perspektive als Beteiligter einer Fernsehsendung, an welcher sich der Besucher nur in seiner Funktion als Zuschauer erinnert, kann über ein tieferes Verständnis für die Produktionszusammenhänge des Fernsehbetriebs hinaus auch zu einer Intensivierung, weil zu einer ergänzenden Bereicherung der autobiographischen Erinnerung führen. Das Nacherleben des Fernsehgeschehens als historisch gerahmte, aber höchst gegenwärtige Primärerfahrung birgt auch ein hohes Potenzial, entsprechende Publika zu animieren, sich aktuell in Diskurse über Fernsehprogrammangebote einzubringen. Über ein allgemein gesteigertes Interesse für die geschichtlichen Zusammenhänge des Fernsehens und seine produktiven Entstehungsprozesse im Hintergrund hinaus wird außerdem der Erfahrungsaustausch gefördert zwischen Nachgeborenen und ehemaligen Fernsehakteuren, seien es berufsmäßige Beteiligte am Fernsehbetrieb oder auch Zuschauer, die als Teilnehmer oder im Saalpublikum einer Show zu einer TV-Persona mit einer autobiographischen Verbindung zur Sendeabwicklung des Mediums. Diese wenn auch teils (noch) nicht gänzlich realisierten Vorhaben zeigen, dass die Wiesbadener Fernsehsammlung auch ohne musealen Korpus auf der Grundlage eines engagierten Partizipationskonzepts einen wichtigen Beitrag zur Bildungs- und Erinne-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

rungsarbeit mit und über das Fernsehen leisten kann, gerade weil der ungeordnete Wust an zusammengetragenen Artefakten die pragmatische Zielrichtung der Vereinsarbeit diktiert. In Kombination mit den beruflichen Werdegängen der Verantwortlichen hebt sich das Projekt Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden von den Aktivitäten der übrigen Fernsehmuseen ab, indem die ehemaligen Ingenieure und Redakteure das während ihrer Berufslaufbahn gewonnene Wissen erfahrungsbasiert und nicht intellektualisiert weitergeben. Der Vereinsvorsitzende Otfried F. Herber war Ingenieur bei der Fernseh GmbH, kurz „Fese", bevor er in selbiger Funktion zum ZDF wechselte. Vorstandsmitglied Wolfgang Janning arbeitete beim Mainzer Sender als Fernsehmesstechniker. Günter Bartosch war wiederum über dreißig Jahre als Redakteur, Regisseur, Autor und Produzent beim ZDF tätig (vgl. auch Venn 2003). Die Befähigung der Vereinsakteure als Vermittler von fernsehgeschichtlichem Wissen und Konstrukteure erinnerungsrelevanter Kontexte resultiert also nicht aus ihrer Kompetenz als Museumspraktiker, die sie sich im Übrigen auch selbst absprechen (Janning: „Wir haben keinerlei museologische Erfahrung"), sondern aus ihrer langjährigen Praxiserfahrung und aus ihrer Funktion als Zeitzeugen, die in ihrer zurückliegenen Tätigkeit auch eine große Pionierleistung sehen: „Wir sind schon als Kinder technisch interessiert gewesen und haben natürlich die ganze Technik vom Rundfunk bis zum Fernsehen mit verfolgt und waren auch in unserem Ausbildungszustand Entdecker. Ich habe Betriebselektriker gelernt und habe mich später weitergebildet. Das war aber auch nicht die Nachrichtentechnik, wie man sie heute kennt, sondern ganz normales Ingenieurwesen" (Wolfgang Janning, PDFW). Das Mitteilungsbedürfnis der ehemaligen Fernsehmitarbeiter zielt maßgeblich auf die Weitergabe ihrer Erfahrungen an nachkommende Generationen, bis hin zur Teilnahme an Veranstaltungen wie der „Kinder-Uni", auf der sie mit dem zu jenem Zeitpunkt beinahe 50 Jahre alten, aber voll funktionstüchtigen Ü-Wagen zugegegen waren, um den Schülern Einblick in die Abläufe einer mobilen Übertragungseinheit zu geben (vgl. auch Wenzel 2007). Es handelt sich bei der Funktionalisierung der Fernsehsammlung also weitaus stärker um eine persönliche Erinnerungsaufbereitung der Praktiker als um erinnerungsevozierende Angebote an die Rezipienten. Die pädagogische Dimension einer Vermittlung von Spezialwissen ist auch an den Äußerungen der drei Befragten abzulesen, da sie sich in ihren Bemühungen hauptsächlich auf die Zielgruppe technisch interessierter Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsenener konzentrieren - auch weil es dem vielgliedrigen Berufsstand des Fernsehtechnikers heute an Attraktivität mangele: „Wir haben auch immer die Weitergabe unseres Wissens im Auge behalten und wollen ja auch für die Jugend und für die Interessenten zur Verfügung stehen. Gerade ging durch die Nachrichten, dass Deutschland unter Ingenieursmangel leidet" (Günter Bartosch, PDFW). „Wir wollen zeigen, welches Werkzeug man wie benutzt. Wie gestaltet man das Ganze? Das beginnt beim Ton, betrifft den Bühnenbau, das sind Dinge, die vor der Kamera stattfinden bis hin zur Schnittbearbeitung. [... ] Wir bringen unser berufliches

IV.4. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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Wissen ein und füllen damit die Schränke und Regale. Da wir die ganze Entwicklung kennen, sind wir in der Lage, das auch substanziell darzustellen" (Otfried F. Herber, PDFW). „Man kann auch weitergehen und sagen, dass die ganze Produktionstechnik, die ja letztlich vom Film her gekommen ist, letztendlich durch das Fernsehen weiterentwickelt wurde. Bei den Leuten draußen herrscht ja das Vorurteil vor, dass man eine Kamera davor setzen kann, und dann funktioniert es. Dem ist ja nicht so. Fernsehproduktionen bestehen ja aus vielen kleinen Teilen: Aus der Technik, der Beleuchtung, dem Ton, die ganze Logistik, die dazugehört. Viele wissen gar nicht, warum eine Fernsehproduktion so teuer ist. Das ist etwas, was das Museum leisten kann, also den Leuten zu zeigen, wie zum Beispiel ein Mensch beleuchtet werden muss, damit er ordentlich auf dem Bildschirm zu sehen ist. [... ] Wenn wir Fachleute zu Besuch bekommen, müssen wir mit denen ganz anders kommunizieren, als wenn wir hier eine Frauengruppe haben, die sich eher dafür interessiert, wie sich eine Sängerin verhalten hat. Die freuen sich also, wenn man ihnen solche Geschichten erzählt. [...] [Es] besteht die Gefahr, dass es zu einem Fachmuseum für reine Techniker werden könnte. Als Techniker neigen wir dazu, in eine Richtung zu gehen, wo ein normaler Mensch gar nicht hin möchte" (Wolfgang Janning, PDFW). Den Vorwurf einer eher publikumsabschreckenden Vereinsarbeit erhebt der Wiesbadener Computeringenieur Uwe Redlich, der mit der Vereinsführung eine persönliche Fehde austrägt, indem er seine eigenen Vorstellungen von einem Museum für Fernsehtechnik umzusetzen versucht. Der Verein habe sich zur Außenwelt abgekanzelt; die Sammlung werde vom Vereinsvorstand als „Hobbykeller" betrachtet, der allenfalls in Form von Privatausstellungen genutzt werde. Das von Redlich favorisierte Museumskonzept unterscheidet sich dabei aber kaum vom bereits praktizierten Ansatz des Fördervereins: Er setzt in erster Linie auf Simplifizierung und Partizipation. Ein Fernsehmuseum müsse sich zum Ziel setzen, „handgreiflichen Lehrinhalt" zu bieten, den man nur so verpacken müsse, dass es „nicht wie Schule" wirke: „Beim Fernsehen habe ich ein Thema, bei dem ich die Kinder spielen lassen kann", sagt Redlich und ergänzt beispielhaft: „Wir werden also mit sechs- bis achtjährigen Jungs Videorekorder zerlegen." Jede Altersgruppe von sechs bis 24 Jahren solle gestaffelt nach dem jeweiligen Vorwissen spielerisch erfahren können, wie Fernsehen gemacht werde. Im Vordergrund stehe die „soziale Komponente": In Abgrenzung zur Idee des Museums als Industrieforum, wo „die allerneueste Technik thematisiert werden muss", entwirft er eine Einrichtung, die vor allem auf den sozialen intergenerationalen Austausch setzt und die Erfahrungswerte des Museumspersonals strikt als Instrument der Bildungsarbeit versteht, nicht aber als zelebratorisches Unterscheidungskriterium zwecks Anerkennung zurückliegender beruflicher Leistungen. Während Redlich der Vereinsführung Unfähigkeit, fehlende Motivation und Selbstverliebtheit vorwirft, wird er von Otfried F. Herber als „Geisterreiter" bezeichnet, der den Verein zu unterlaufen versuche. Im Jahre 2007 rief Redlich in Konkurrenz zum bestehenden Förderverein einen Förderkreis ins Leben, um mehr Öffentlichkeit herzustellen für

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

das in seiner Wahrnehmung bundesweit nahezu unbekannte Projekt Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden. Mag die zugrundeliegende Auseinandersetzung auf persönlichen Differenzen beruhen, die mit divergierenden Befindlichkeiten über die Zuständigkeiten und Kontrollhoheiten innerhalb des Fördervereins zusammenhängen, zielen die von den zerstrittenen Akteuren als so gegensätzlich empfundenen Strategien im Grunde in dieselbe Richtung, wobei Redlich stärker noch als der Förderverein sein Augenmerk auf die fachliche Spezialisierung des geplanten Museums richtet, damit jedoch auch den Kern der Sammlungsexpertise trifft: „Unser oberster Spruch heißt: Museum für Profi-Fernseh technik und Fernsehgeschichte - also für die Technik und die Geschichte dieser Technik." So ähnlich die thematischen Foki der beiden Parteien auch sein mögen, bedienen sie sich bei der Umsetzung gänzlich verschiedener Instrumente: Herber, Janning, Bartosch und ihre Vereinskollegen mit ähnlicher Fernseherfahrung vermitteln ihr Wissen primär am konkreten Überlieferungsobjekt, Redlich dagegen hat mit den Websites „fernsehmuseum.info", „magnetbandmuseum.info", „tonbandmuseum.info", „hifimuseum. info" und „gfgf.info" mehrere umfangreiche Online-Datenbanken über fachspezifische Wissensinhalte zur Technikgeschichte des Fernsehens und konjunktierter Elektronikbereiche erarbeitet und besinnt sich dabei darauf, dass die Textinhalte „locker", das heißt allgemeinverständlich geschrieben seien (vgl. Kapitel IV.4.2.6.): „Ich bewerte die Geräte mit meinem heutigen Wissen aus der Perspektive der Zeit, in der sie aktuell waren. Früher war es eine Kapitalanlage für einen Elektrohandel, sich einen Farbfernseher ins Schaufenster zu stellen. Heute stehen bei Media Markt 300 Fernseher am Stück. Da hat sich also viel verändert. Ich brauche einen populären Ansatz, um den Effekt zu haben, dass die Leute Spaß daran haben und einiges dazulernen" (Uwe Redlich, FMI). Redlichs virtuelles Museumskonzept eines zeit- und ortssouveränen sowie stark informationslastigen Modells eines kommentierten Nachschlagewerkes folgt der Blog-Idee (vgl. Kapitel IV.3.3.2.2.): Entworfen als Führer durch die Technikgeschichte des Fernsehens mit der Zusatzfunktion eines persönlichen Logbuchs zum Fortgang der Wiesbadener Museumspläne 96 richtet Redlich auch direkte Appelle an die Leser, die er als „ganz normale Menschen" beschreibt im Gegensatz zu „Film- und Fernseh-Experten, die die Frequenz eines NTSC Signales auf 4 Stellen nach dem Komma genau wissen" (Redlich 2009): Die Angesprochenen sollten nach Möglichkeit nichts mehr wegwerfen, was Zeugnis ablege über fernsehhistorische Aspekte, erscheine es auch noch so trivial und entbehrlich. Die enzyklopädischen Qualitäten von „fernsehmuseum.info" können kein Museum ersetzen, das räumt Redlich selbst ein, indem er vehement seine Pläne eines physisch begehbaren Fernsehmuseums propagiert. Dennoch sieht er die virtuellen Möglichkeiten der Kommunikation von (Spezial-) Wissen als geeignet an, Interessenten 96

Ursprünglich war die Seite „fernsehmuseum.info" als offizielle Online-Repräsentanz des Fördervereins vorgesehen, wurde aber nach dem Zerwürfnis zwischen der Vereinsführung und Website-Betreiber Uwe Redlich zu einem offensiven Gegenentwurf zu den Aktivitäten des Vereins ausgebaut.

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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zu gewinnen und einen Diskurs anzustoßen, der die Idee eines Museums im öffentlichen Bewusstsein verankert. Auch der Förderverein ist im Internet aktiv - unter der leicht zu merkenden Adresse „fernsehgeschichte.de" - , beschränkt sich aber weitestgehend auf eine kurze Selbstvorstellung, indem in einem knapp vierminütigen Video auf die Arbeit des Vereins und die Dringlichkeit breiter Unterstützung eingegangen wird. Gemessen an dem ambitionierten Museumsprofil, dass die Filmwissenschaftlerin Christine Kopf begleitend zur Machbarkeitsstudie aus dem Jahr 2003 verfasste, haben die bisherigen Maßnahmen des Fördervereins, aber auch des Förderkreises allenfalls einen konzeptionellen Grundstein gelegt, um den Anforderungen eines Museums bzw. einer museal arbeitenden Sammlungsverwaltung zu entsprechen, die sich als fester Partner für Schulen und fernsehspezifischen Ausbildungseinrichtungen versteht, um die kritische und differenzierte Darstellung der Geschichte des Fernsehens anzustreben (vgl. Kopf 2003: 39). So sehr Kulturamt und Förderverein darauf verweisen, die Studie habe für das Projekt weiterhin Leitcharakter, bleibt Kopfs Schlussfolgerung, es brauche eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit der Fernsehgeschichte und ihren im positiven wie im negativen Ausmaß bedenkenswerten Folgen, scheinbar ungehört - auch auf Seiten der Vereinsgegner. Dieser Forderung steht bereits die klare Beschränkung des musealen Darstellungs- und Wirkungsbereichs auf fernsehtechnische Aspekte entgegen, was Kopf als kontraproduktiv bewertete, da es sich nun mal beim Fernsehprogramm um das „Herzstück" des Mediums handele (ebd.: 31) und gerade deshalb ein Ansatz gewählt werden müsse, der weder die Technik in den Mittelpunkt stelle noch alleinig auf die Programmgeschichte abziele (ebd.: 27). Dieses Ziel jedoch ist durch die anhaltenden Schwierigkeiten bei den Institutionalisierungsbestrebungen seiner Realisierung ferner denn je und wich einer nachhaltigen Hinwendung zu den technischen Exponaten und ihrer Erhaltung, unter anderem auch unter dem Eindruck, dass in Berlin die Idee eines Fernsehprogrammmuseums eine Konkretisierung erfuhr. 4.3.3.2. Zwischen Notlösung und Impulsgeber: Die Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen

,,[Ü]ber Jahre hinweg plätscherte das ideelle Baby mit dem Namen .Deutsche Mediathek' im Brunnen. Beherzt retten mochte es keiner, aber auch niemand mochte Schuld sein, es endgültig zu ertränken" (Gäbler 2006). Das metaphorische „Baby" ertrank nicht, schlussendlich versank es auch nicht von selbst im tiefen Brunnen des Vergessens, auch nicht als sich der Verein der Freunde der Deutschen Kinemathek im März 2001 auflöste und schließlich im Januar 2004 aus dem Vereinsregister gelöscht wurde (VDFM 2001) und dem Projekt die Kraft ausging. Beherzt wurde es adoptiert und bekam einen anderen, einen treffenderen Namen: Die Stiftung Deutsche Kinemathek, seit 1963 zunächst als Verein, ab 1971 in Stiftungsform in der Bundeshauptstadt als primär archivische Einrichtung in der Filmerbe-Verwaltung aktiv, fühlte sich berufen, das Konzept einer nationalen Gedächtnisorganisation für die öffentliche Verwaltung und Präsentation des deutschen Fernseherbes aufzugreifen und es in die bereits bestehenden Organisationsstrukturen

IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

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im Filmhaus am Potsdamer Platz zu überführen, also an jenem Ort, wo die „Deutsche Mediathek" seit den ersten Planungen einer Neubebauung des vormals brachliegenden Mauerstreifens ohnehin realisiert werden sollte. Von der Mediathek zum

Museum

Unter der Führung des künstlerischen Kinemathek-Direktors Hans Helmut Prinzler und des Journalisten und Ausstellungsorganisators („Der Traum vom Sehen") Peter Paul Kubitz entschied sich die Deutsche Kinemathek, den Titel „Deutsche Mediathek" zu begraben, nicht etwa weil sich dieser mit ihrem filmhistorischen Ansatz hätte beißen können, im Gegenteil: Im Tandem mit der Dachorganisation hätte die Mediathek eine passende televisuell fokussierte Ergänzung zur filmarchivischen Expertise der Kinemathek abgegeben. Vielmehr waren es Erwägungen des neuen Planungsstabes, die hinter dem Titel des in der FachöfFentlichkeit als gescheitert wahrgenommenen Projektes eine allzu negative Mitgift vermuteten: „Der Name war mit Pech begossen, und er ist inflationär durchgebraucht: Jedes Museum hat seine Mediathek". 97 Auch Prinzler begründete die Entscheidung damit, dass das Projekt zu Tode geredet worden sei, als dass sich für den Neuanfang noch eine konstruktive Anschlussmöglichkeit angeboten hätte (vgl. Kramp 2005a: 93). Auf der anderen Seite fiel die Wahl des neuen Titels - „Fernsehmuseum" - den Verantwortlichen nicht leichter, schließlich sei der MuseumsbegrifF auch ein heikler, so Kubitz. Doch überwog die Auffassung, dass nur ein frischer Start helfen würde, u m das gewünschte Ziel zu erreichen, auch wenn dies die Lossagung von der bisherigen aufopferungsvollen Vereinsarbeit bedeutete: „Dieses ganze Projekt .Deutsche Mediathek' war derart negativ konnotiert, dass wenn man es überhaupt realisieren wollte - es noch einmal neu setzen musste in der deutschen Medienlandschaft. Das war eigentlich der wesentlichste Grund. Da es nun diese Setzung der Mediathek, gegen die ich auch sonst vom Namen her nichts gehabt hätte, ohne die Deutsche Kinemathek nicht zu machen war, und da die Deutsche Kinemathek ja bereits über ein Filmmuseum verfügte, war die Frage, wenn man den Namen neu setzte, nicht in den Namen Fernsehmuseum geht. Natürlich verbindet man mit dem Fernsehen und dem Museum nicht unbedingt sofort etwas. Die Krux haben wir gesehen, aber das ist die Vorgeschichte dafür" (Peter Paul Kubitz, DK). Die möglicherweise bildungsbürgerlichen Konnotationen des Museumsbegriffs wurden nicht als Problem angesehen, vielmehr versuchten die Planer, die klischeehaften Vorstellungen von einem klassischen Museum offensiv zu adressieren und ein alternatives, dem Medium Fernsehen angemessenes zeitgemäßes Institutionsverständnis zu entwickeln. „Wie kriegt man bei Leuten, die vielleicht nicht normalerweise ins Museum gehen, so eine Art Neugier verursacht? Das versuchen wir hier auch, das gelingt uns partiell, natürlich gehen hier jede Menge Leute entlang, die von drüben kommen und 97

Persönliches Face-to-Face-Gespräch des Autors mit Peter Paul Kubitz vom 18 Januar 2005 in der Deutschen Kinemathek.

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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ins Sony-Forum gehen und gar nicht merken, dass es hier ein Filmmuseum gibt. Diesen Typ gibt es, auch als Reisegruppe, aber wir spüren auch, dass viele Leute einfach stolpern: „Ah, Filmmuseum", und dann herfinden, und das ist auch ein Teil von Wahrnehmung, und ich denke schon, dass der nächste Schritt, den wir ja auch bei der Ausstellung im Filmmuseum praktiziert haben, die inszenierte Darstellung ist: Also wie bekomme ich Leute dazu, sich dafür zu interessieren. Also muss ich das so präsentieren, damit es mit ihnen zu tun hat, dass ein Stück eigene Sozialisation wieder in den Kopf zurückkommt. Und das geht natürlich am ehesten durch eine eigene Anschauung: Bei uns im Filmmuseum haben wir zum Beispiel einen magischen Raum: Der allererste mit den Spiegeln. Dem erliegen alle Besucher, weil sie das irgendwie nicht erwarten. Auch beim Fernsehmuseum bei der Ausstellung wird es eine Präsentation geben, die das Nüchterne und das Spröde irgendwie aufbricht."98 Behutsam und unter wiederholter Evaluierung der bestehenden fernsehmusealen Einrichtungen im europäischen Ausland und den USA wurde in einem tendenziell klandestinen Entwicklungsprozess an der Konturierung eines Fernsehmuseums unter dem Dach der Deutschen Kinemathek gearbeitet. Es sollte über vier Jahre dauern, bis sich das gespaltene Verhältnis der Projektplaner zur Kernidentität ihrer Einrichtung zu einem selbstgewissen Museum transformierte. Es wurde eine lange wie bedachte und vorsichtige Erprobung der konzeptionellen Umsetzungsmöglichkeiten für notwendig gehalten, um die Planungen in einer richtungsweisenden Entscheidung für die institutionelle Identität der Stiftung Deutsche Kinemathek münden zu lassen, die bereits seit September 2000 ein Filmmuseum am Potsdamer Platz betrieb: seine bestehenden Organisationselemente in einem Museum für Film und Fernsehen zusammenzufassen und gleichsam aufgehen zu lassen (vgl. auch Prinzler 2006). Bereits in 2001 wurden erste Konzeptentwürfe über die „Mediathek in der Kinemathek" (Prinzler 2001) sowie ein sogenannter „Letter of Intent" erstellt, der als Arbeitsgrundlage dienen sollte (Stiftung Deutsche Kinemathek 2001). Darin verpflichteten sich die Unterzeichner zu finanzieller Unterstützung der Einrichtung unter der Bedingung, dass sich auch alle anderen vorgesehenen Beteiligten dazu bereit erklären würden. Nachdem es anfänglich so aussah, als würde das Projekt nun doch unverhofft zügig realisiert werden können, mussten die Planer einen erneuten Rückschlag hinnehmen, der aus der Insolvenz des Kirch-Konzerns resultierte, zu dem zur damaligen Zeit auch die Sendergruppe ProSiebenSat. 1 gehörte, woraufhin diese als Unterzeichner ausfiel. Daraufhin zogen sich auch RTL und die öffentlich-rechtlichen Anstalten vorerst zurück, und die Verhandlungen mussten von Neuem beginnen. Erst durch hartnäckige und beständige Verhandlungen im Hintergrund gelang die Herstellung einer Basisförderung durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Das damalige Vorgehen habe in einem eigenartigen Widerspruch mit dem ,,urdemokratische[n]" Vorhaben gestanden, die Bilder, die in der Gesellschaft gemacht 98

Persönliches Face-to-Face-Expertengespräch des Autors mit Hans Helmut Pinzler vom 18. Januar 2005 in der Deutschen Kinemathek.

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

worden seien, an die Gesellschaft zurückzugeben, erklärt Kubitz (zitiert nach Kramp 2005a: 104). Doch hätten die vergangenen Entwicklungen gezeigt, dass solch ein „kommunales Gut quasi immer in einer Art Brutkasten" gehalten werden müsse, damit „es durchkommt, weil man gemerkt hat: Alle vorzeitigen Geburten sind Totgeburten." (ebd.). Damit verweist er auch auf die vergangene Praxis in der Mediatheksentwicklung, Konzepte und Stellungnahmen nicht nur intern zu diskutieren, sondern sie unter anderem über die Fachpresse öffentlich zu machen und damit Gegendarstellungen zu provozieren, was Prinzler im Nachhinein als das „Allerschlimmste" für den Fortgang der Planungen bezeichnete (ebd.). Auf diese Weise einer geduldigen jeweils bilateralen Verhandlungsführung mit dem Land Berlin, den Landesmedienastalten und den Sendern unter Ausschluss der Öffentlichkeit gelang es, die erforderlichen Fördermittel für den Ausbau der für das Fernsehmuseum vorgesehenen Räumlichkeiten im Filmhaus der Deutschen Kinemathek einzuwerben und eine solide Basisfinanzierung für die Vorbereitungen der baldigen Museumseröffnung zu gewährleisten. In den Jahren 2002 und 2 0 0 3 standen zunächst öffentliche Fernsehvorführungen wie die „Lange Nacht des Fernsehkrimis" oder unter dezidiert künstlerischer Perspektive wie bei einem Filmabend unter dem Titel „TV (on) Screen" auf dem Programm. Auch wurde eine Hommage an den Filmemacher und langjährigen Fernsehredakteur Egon Monk zu dessen 75. Geburtstag veranstaltet (vgl. P r ü m m 2002). Im Herbst/Winter 2 0 0 3 folgte unter anderem eine Sonderausstellung anlässlich des 40jährigen Jubiläums der Sendungsreihe „Das kleine Fernsehspiel" des ZDF (vgl. Möller 2003). In den vier darauffolgenden Jahren konnte das ursprüngliche, ambitionierte Veranstaltungsprogramm zwar nicht vollständig umgesetzt werden (vgl. Kubitz 2003: 8-9); doch im Wesentlichen legte die erfolgreiche Durchführung zweier Sonderausstellungen das Fundament für das spätere Museumskonzept. Die wichtigste Veranstaltung, zugleich der „größte Testlauf" (Peter Paul Kubitz, DK) auf dem Weg zu einem eigenen Fernsehmuseum, war die Sonderausstellung „Fernsehen macht glücklich" im Dezember 2002 bis Mai 2 0 0 3 zum 50-jährigen Jubiläum des regelmäßigen Programmbetriebs in Deutschland, einschließlich einer Kooperation mit dem Sender Freies Berlin bei der Ausgestaltung eines mehrstündigen samstagabendlichen Sendeplatzes in der Reihe „Gernsehabend" (vgl. u.a. Baumgärtel 2002; Kilb 2002). 20 Stunden Programmmaterial aus 50 Jahren Fernsehgeschichte waren zusammengetragen worden um dem Besucher ein sentimentales Erlebnis mit seiner eigenen Biographie zu ermöglichen (vgl. Merschmann 2003). 30.000 Besucher kamen diesem Angebot nach (Kammann 2003b: 5). Die Ausstellung lieferte den Museumsplanern wichtige Rückmeldungen und Erkenntnisse zur Akzeptanz des Fernsehens in einem musealen Setting. Auch konnten Hinweise dazu gewonnen werden, wie fernsehrelevante Thematiken in welchen Präsentationskontexten von den Besuchern aufgenommen wurden. Zur Ausstellungseröffnung kamen neben Sendervertretern auch viele Fernsehgesichter: von Talkmasterin Sandra Maischberger (n-tv, ARD) über die als Mutter Beimer aus der „Lindenstraße" (ARD) bekannt gewordene Schauspielerin Marie-Louise Marjan bis

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

547

hin zum ehemaligen NDR-Programmansager Denes Törzs. Die fast sechs Monate laufende Ausstellung verschaffte der Kinemathek ein zunehmend deutlicheres Fernsehprofil, das auch immer mehr honorige Fernsehakteure in das Filmhaus am Potsdamer Platz lockte. Auch Schauspieler Mario Adorf besuchte die Ständige Ausstellung, und während des von der Kinemathek initiierten Fernsehtreffs auf den 53. Berliner Filmfestspielen im Februar 2003 übergab der damals 88-jährige Drehbuchautor Herbert Reinecker 281 seiner Original-Skripte für die Fernsehserie „Derrick" (ZDF) in die Obhut der Einrichtung (im Mai folgte konsequenterweise eine Hommage an „Derrick"-Kommissar Horst Tappert zu dessen 80. Geburtstag). Die Ausstellung wird rückblickend als sehr gewinnbringend bewertet: „Das hat sehr konkrete Ergebnisse gegeben. Zum Beispiel wussten wir nie, ob Leute sich tatsächlich diesen Ursprungsgedanken der Mediathek, dass man sich hinsetzt und sich Sendungen in Gänze anschaut, an die man sonst nicht so einfach herankommt, annehmen. Es war unklar, ob das Publikum eine solche Verweildauer aufbringen könnte. Das war ein ganz konkretes Ergebnis zu sehen: Ja, das tut es. Und das tut es auch heute in der Programmgalerie. Die Leute nehmen sich also, wenn sie erst einmal da sind, diese Zeit. Das war überraschend, dass das klappt" (Peter Paul Kubitz, DK). Von Oktober 2004 bis März 2005 wurde mit „Die Kommissarinnen" eine zweite halbjährige Sonderausstellung organisiert, die sich mit der Fernsehdarstellung und dem tatsächlichen Alltag von leitenden Ermittlerinnen im Polizeidienst beschäftigte. Dabei beschränkte sich das Ausstellungskonzept nicht auf bloße Darbietung von Fernsehmaterial, sondern beinhaltete auch Installationen, bei denen die Besucher unter anderem einerseits animiert werden sollten, sich durch die Wiedergabe typischer Geräusche aus Fernsehkrimis klischeehafte Bilder vorzustellen (Kramp 2004) und andererseits durch fotografische Großaufnahmen von Schuhen auf bestimmte Stilformen von Fernsehkrimis aufmerksam gemacht wurden (Göres 2004). Den Kern der Ausstellung bildeten jedoch großformatige Fotos der Filmemacherin und Fotografin Herlinde Koelbl, die für die Ausstellung 15 Kommissarinnen des deutschen Fernsehkrimis portraitiert hatte: von der „Tatort"- und „Polizeiruf 110"-Reihe (ARD) bis zu den Krimi-Formaten des ZDF (u.a. „Bella Block", „Das Duo") und der Privatsender (z.B. „Blond: Eva Blond!", Sat.l; „Die Sitte", RTL). Der dadurch gewonnene Einblick in die einzelnen Charaktere sollte beim Besucher einen überraschenden Blick auf die Fernsehinszenierung evozieren. Im Anschluss wurde die Ausstellung später auch vom Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main, vom Goethe-Institut im französischen Lyon und dem Kulturzentrum in Konstanz gezeigt. Im Jahre 2006 schließlich begleitete eine populäre Sonderausstellung zur FußballWeltmeisterschaft im eigenen Lande die letzten Vorbereitungen zur Eröffnung des ersten deutschen Fernsehmuseums: Unter dem Titel „Tor!" hatte das Kuratorium eine FernsehRevue zusammengestellt, die in vor allem auf Eines setzte: die Reibung zwischen historischen Fußballmythen und der Rolle, welche das Fernsehen bei ihrer Erschaffung gespielt

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

hat und auch heute noch spielt. Als am 1. Juni 2006, fast zwanzig Jahre nach der ersten Formulierung der Idee einer nationalen „Deutschen Mediathek", das Fernsehmuseum im Herzen Berlins im dritten und vierten Obergeschoss des Filmhauses seine Türen öffnete, waren die publizierenden Beobachter gespalten, ob sie die schlussendliche Realisierung des Traums Eberhard Fechners von einer zentralen Institution zur Zugänglichmachung historischen Fernsehprogramm-Materials feiern oder verreißen sollten. Skeptisch paraphrasierte der „Tagesspiegel" die Zweifel nicht weniger Bedenkenträger, die bunte Kurzweiligkeit und nostalgische Unterhaltsamkeit der Ausstellung könne das eigentliche Ziel verfehlen, das Fernsehen analytisch zu ergründen, zu hinterfragen es auch herauszufordern (vgl. Nolte 2006). Ernst Elitz, zu jener Zeit noch Intendant des Deutschlandfunks, fällte ein milderes Urteil und erkannte in der musealen Umsetzung den Anspruch erfüllt, „neben dem großen Medienspektakel auch die präzisen Daten der Fernsehgeschichte zu dokumentieren" (Elitz 2006). Dabei fehlte ein wesentlicher Bestandteil des ursprünglichen Mediatheksplans: Die Einbeziehung des Hörfunks in die „Deutsche Mediathek" sollte zwar immer garantiert werden, wurde tatsächlich aber immer nachrangiger behandelt. Dies ist unter anderem auch an den Verhandlungen über die Trägerschaft der Einrichtung zu erkennen, an der allein der Deutschlandfunk und dieser auch nur kurz beteiligt wurde. Der Hörfunk sei schließlich dem „Kampf mit den Sendern" um die Finanzierung der Einrichtung zum Opfer gefallen, sagt Peter Paul Kubitz (zitiert nach Kramp 2005a: 101). Dennoch solle dem Radio, das „in den 50er Jahren als mediale Großmacht das Fernsehen noch marginal neben sich hatte", mit Respekt begegnet werden. In den Vorankündigungen des Fernsehmuseums wurde auf das historische Umfeld mit der Nähe zum „Vox-Haus" verwiesen (Kubitz/Schwirkmann/Waz 2005), wo 1923 die deutsche Rundfunkgeschichte durch die Ausstrahlung des ersten Radioprogramms für Berlin eingeläutet worden war. Peter Schwirkmann erklärt, es sei durchaus noch vorgesehen, eine Audio-Lounge mit „30 historischen Radiohighlights" mit Sicht auf den Potsdamer Platz einzurichten: „Das Problem war einfach, dass es uns beim Bau von der Finanzierung her rausgeflogen ist. Und jetzt müssen wir das so nach und nach einrichten." Die zumindest nachträgliche Ausstattung des Museums mit repräsentativen Hörfunkprogrammen - ob Hörspielen, Kommentaren, Lesungen oder journalistischer Berichterstattung - ist nicht nur im Hinblick auf die enge Verbindung zwischen Hörfunk und Fernsehen eine wesentliche Perspektive, welche dem Ursprungsgedanken der „Deutschen Mediathek" Rechnung trägt.

Chancen und Risiken der Integration

Die Deutsche Kinemathek setzt aber grundsätzlich auf ein divergierendes Modell crossmedialer und crossmusealer Integration: Sie nahm die Implementierung des Mediathekgedankens in ihre internen Organisations- und öffentlichen Angebotsstrukturen zum Anlass, ihre instititutionelle Identität neu auszutarieren. Die Stiftung wandelte sich mit der Eröffnung des Fernsehmuseums zu einem „House of Moving Images" (Peter Paul Ku-

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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bitz, DK), jedoch mit einer ähnlich wie im Fall des Paley Center for Media stark ausbaubedürftigen konzeptionellen Modellierung; denn eine wahrlich intermediale Perspektive auf die audiovisuelle SchafFensbreite, einschließlich Videospielen, Videokunst und Online-Videos, wurde zunächst nicht eingenommen, sondern blieb eine Zukunftsperspektive: ,,[M]it dem Fernsehmuseum hat sich die Kinemathek gewandelt. Das Selbstverständnis ist jetzt eines, das sich ganz offensiv dem gesamten Bewegtbild öffnet. Das hat Konsequenzen für die Zukunftsorientierung. Es bedeutet, dass wir uns auch anderen Quellen und Formen des bewegten Bildes stellen werden. Wir werden uns also in Ausstellungen mit Film-Kunst beschäftigen, also mit dem Kontext bildende Künste und bewegte Bilder. Das kann in die Videokunst gehen, das kann aber auch in die Photographie gehen" (Rainer Rother, DK). Die Planer erkannten im Filmhaus der Kinemathek „lauter natürliche Verbündete" des Fernsehens (vgl. Kubitz 2003: 3) - das Filmmuseum Berlin, die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin, das Internationale Forum des Jungen Films sowie die zwei Programmkinos des Vereins Freunde der Deutschen Kinemathek e.V.:99 ,,[S]eit 2000 betreibt ja die Deutsche Kinemathek ein Filmmuseum oder eine Ständige Ausstellung Film und Wechselausstellungen zum Film, und da ist es schon folgerichtig, die Entwicklung beider Medien vor Augen, sich nun auch dem Fernsehen zu widmen und es nicht auf Dauer auszuklammern, zumal es ja in technischer, aber auch ökonomischer Hinsicht und auch von der Rezeption her doch immer stärker zusammenwächst und die klassische Unterscheidung zwischen dem großen Format auf der Leinwand und dem mediokren Format zuhause auf dem Bildschirm so ja längst nicht mehr zutrifft. Wenn man sich das Kerngeschäft des Kinos anschaut, macht die Auswertung im Kino ja nur ein Drittel der Erlöse der Filmindustrie aus, und der Rest wird über die Auswertung mit DVD und Fernsehausstrahlung erwirtschaftet. Insofern ist die Erweiterung auf das Feld Fernsehen nur konsequent für ein Museum, das sich dem Film widmet" (Peter Schwirkmann, DK). Die Einrichtung selbst, aber auch das Publikum könne davon nur profitieren, schließlich handele es sich weitestgehend u m unerschiedliche Publika, die sich für die Filmgeschichte oder für die Fernsehgeschichte interessierten, ergänzt Peter Paul Kubitz. Für die Kinemathek sei entscheidend gewesen, dass mit dem Aufgabenbereich Fernsehen keine bestehenden Aktivitäten innerhalb der Einrichtung ersetzt, sondern in dieser Hinsicht vielmehr bestehende Ansätze ausgebaut und Lücken gefüllt werden sollten, sagt Rainer Rother, Hans Helmut Prinzlers Nacholger als künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek: ,,[D]ie Sammlung der Stiftung [war], was das Fernsehen betrifft, nicht so stark, obwohl wir auch viele Drehbücher und andere Überlieferungen mit Fernsehbezügen besitzen. Das war aber nie der Schwerpunkt. Also wurde die Entscheidung getroffen,

99

Der Verein wurde im Jahre 2008 umbenannt in Arsenal - Institut für Film und Videokunst e.V.

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IV. Status Quo und Perspektiven

der

Fernseherbe-Verwaltung

die Planungen der ursprünglichen ,Deutschen Mediathek', das heißt eines Ortes, an dem es nichts anderes gibt als Sitzmöglichkeiten und Fernsehschirme, auf denen man sich die gesamte deutsche Fernsehgeschichte anschauen kann, also eines klassischen Archivs der gesendeten Formate, in einem Museum zusammenzuführen, allerdings ohne Objekte" (Rainer Rother, DK). Konsequenterweise entschied sich der Stiftungsrat, das Filmmuseum Berlin und das neu eröffnende Fernsehmuseum unter dem Namen Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen zusammenzuführen, mit der Folge, dass das Filmmuseum und das Fernsehmuseum zu gleichgestellten Abteilungen in der Verwaltungsstruktur des Hauses wurden. Programmdirektor Peter Paul Kubitz sieht entsprechend dieser organisationeilen Subsummierung auch als ein wesentliches Ziel des Museums, Schnittstellen von Film und Fernsehen auszuloten und aufzuzeigen, aber auch Oppositionen des Fernsehens zu seinem historischen Vorläufer Kino zu berücksichtigen. Doch sprachen vornehmlich auch pragmatische Gründe für eine einheitliche Lösung: Die bereits vorhandene technische und ressourcenspezifische Infrastruktur im neunstöckigen Filmhaus wird von den Museumsvertretern als einer der ausschlaggebenden Faktoren für die geglückte Umsetzung der Museumspläne genannt. Auch wurde die Eröffnung der Fernsehabteilung zum Anlass genommen, ein digitales Netzwerk in Betrieb zu nehmen, das serverbasiert in allen Verwaltungs- und Publikumsbereichen zur Anwendung kommt. Die intensivere Hinwendung zum Fernsehen baute also auf bestehende Sammlungsgrundlagen auf und trug auch zu einer Profilschärfung der Deutschen Kinemathek als archivische und museale Gedächtnisorganisation des audiovisuellen Erbes bei. Gleichwohl birgt die Verwurzelung der Sammlungs- und Veranstaltungspolitik des Hauses in der Filmgeschichte auch Risiken, die, verstärkt noch durch die stark filmlastige Prägung des institutionellen Umfeldes am Potsdamer Platz in Berlin durch die Internationalen Filmfestspiele („Berlinale") sowie die ohnehin täglich bespielten Multiplex-Kinos, die eigenständige Entwicklung einer genuinen Fernsehperspektive und deren Emanzipation von filmischen Gesichtspunkten beeinträchtigen könnte. Im Vorfeld der Eröffnung der neuen Ausstellungsfläche wurden unter anderem von ehemaligen Mediatheksplanern Befürchtungen laut, dass die Kinemathek sich primär einer eher filmischen Thematisierung des Fernsehschaffens zuwenden würde, was unter anderem eine nachrangige Berücksichtigung von typischen Fernsehformaten bedeuten könnte (vgl. Kramp 2005a: 106-107). Film und Fernsehen haben sich auf Produktions- wie auf Werk-Ebene sowie mit Blick auf die Biographien der Film- und Fernsehschaffenden immer stärker angenähert (vgl. auch Kapitel III.8.2.3.). Regisseure wie Dominik Graf, Edgar Reitz oder Wolfgang Petersen dreh(t)en Fernsehspiele und Kinofilme gleichermaßen. Andere wie Christian Petzold zeigen mit ihren Arbeiten gar, wie eng beide Felder auch wirtschaftlich verknüpft sind: Sein Film „Wolfsburg" war eine maßgeblich von den Sendern ZDF und Arte finanzierte und ursprünglich auch nur für die Fernsehausstrahlung vorgesehene Produktion. Doch nach positiven Resonanzen und einer Auszeichnung auf der „Berlinale" 2003 startete der Film auch im Kino, wurde dreimal für den Deutschen Filmpreis nominiert und er-

IVA. Museumsfernsehen, Fernsehmuseen

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hielt in 2005 den Adolf-Grimme-Preis mit Gold. Auch deshalb leugnet Rainer Rother das filmspezifische Interesse der Einrichtung am Fernsehen nicht, vielmehr ist dies ein zentraler Grund, weshalb die Kinemathek sich insbesondere Nachlässen bestimmter Film- und Fernsehmacher zuwendet und sie in einer „Hall of Fame" vereinigt (vgl. Kapitel IV.3.1.2.5. und IV.4.2.5.). Rother weist aber auch daraufhin, dass es sich dabei nur um einen von mehreren Schwerpunkten in der Auseinandersetzung mit der Fernsehgeschichte handele: „Klaus Wildenhahn, Peter Nestler, kleines Fernsehspiel - das hat uns schon immer interessiert, und Filme, die im Rahmen der Kooperation Film und Fernsehen entstanden sind, sind ja zum Teil sehr große Filme der deutschen Filmgeschichte, obwohl sie das Gros ihrer Zuschauer im Fernsehen gehabt haben. Insofern gab es breite Anknüpfungspunkte. [...] Da Fernsehen aber anders funktioniert als Film, gibt es zwar eine Möglichkeit des Andockens, aber sie müssen für dieses Medium ihre Schwerpunkte frei und eigenständig setzen. Fernsehen ist 24 Stunden am Tag. Man sieht es zu Hause und muss nicht ins Kino gehen. Es ist etwas völlig anderes als Kino, nämlich Rundfunk rund um die Uhr" (Rainer Rother, DK). Anlaufschwierigkeiten qua

Programmschwerpunkt

Abgesehen von der temporären Rejektion der Hörfunkgeschichte und der infrastruktullen wie auch thematisch-schwerpunktgeleiteten Annäherung an die filmhistorische Expertise der Kinemathek ist der eigentliche Kernansatz der „Deutschen Mediathek" erhalten geblieben: Gekümmert werde sich maßgeblich um die Programmgeschichte, die in wesentlichen Punkten auch archivisch dokumentiert werden solle, sagt Rainer Rother. Der entscheidende Unterschied jedoch sei, dass noch stärker als ursprünglich geplant enge selektive Maßstäbe greifen müssten: „Es geht um das Best of. Es soll der Ort sein, an dem die besten Beispiele deutscher Fernsehproduktion in allen Fernsehformaten für Besucher zu betrachten sind. Das ist der Sinn des Angebotes. Das ist etwas anderes als ein vollständiges Archiv, das ist etwas anderes als eine Mediathek. Das werden die Sender sich in eigener Regie weiter pflegen, aber sie machen es der Öffentlichkeit eben nicht zugänglich. Und wir wählen aus diesem Angebot das aus, von dem wir behaupten, es ist von besonderer Güte" (Rainer Rother, DK). Die Programmgalerie fungiere als „Zentrum", das „der ursprünglichen Idee am nächsten" sei, meint Rother. Die Festlegung auf die Fernsehprogrammgeschichte folgt der durch die Pionierleistungen des Paley Center for Media dominierenden Auffassung, dass sich die historische Relevanz und das größte Vermittlungs-, weil Bildungs- und Erinnerungspotenzial des Fernsehen am deutlichsten an den ausgestrahlten Televisionen zeigt: „Da das Fernsehen wie kein anderes Bildmedium in der Menschheitsgeschichte unaufhörlich die Bilder liefert, die wir uns täglich von uns selbst und von der Welt machen, da ihm dabei nichts ,heilig' ist, keine Idee, kein Ereignis, kein Gegenstand,

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung wie spektakulär oder wie beiläufig und nebensächlich sie auch erscheinen mögen, da also alles Fernsehen, aber Fernsehen nicht alles sein kann, geht es im Fernsehmuseum darum, das gesellschaftliche und das eigene Leben in den hier ausgestellten und vorgeführten Programmen auf eine neue Weise wieder zu sehen und das Verhältnis zwischen authentischer und vermittelter Wirklichkeit erfahrbar zu machen" (Kubitz 2003: 4).

Das Programm in seiner Vielfalt, seinen Kohänrenzen und Inkoährenzen, seiner Flüsse und Widersprüchlichkeiten also soll dazu dienen, im Museum nicht nur anschaulich, sondern ersichtlich zu machen, wozu der gewöhnliche Rezipientenblick nicht ausreicht: Hinter das Programm und darüber hinaus zu schauen, wie sich Produktions- und Wirkzusammenhänge gestalten. Die Voraussetzungen für einen solchen aufklärerischen Impetus waren indes von Anfang an denkbar ungünstig: Das Museum quälte sich mit der Klärung offener Rechtefragen und den Verhandlungen um Nutzungslizenzen für den musealen Einsatz einzelner ikonischer Programmüberlieferungen. Oft war es nicht imstande, die geforderten Entgelte für Sendungen aufzubringen, deren Rechte nicht vollständig bei den deutschen Fernsehveranstaltern lagen, die sich trotz ihrer finanziellen Zurückhaltung bei der Frage einer direkten Förderung des Museums doch zu einer kostenfreien Bereitstellung eigenen Programmmaterials bereit erklärten. Für die Akquise einer Kopie der Live-Übertragung der Krönungszeremonie der britischen Königin Elizabeth II musste für jede Sendeminute der Überlieferung 1.000 Euro aufgebracht werden (Kramp 2007: 50). „Es war klar, dass wir nicht auf die Krönung von Elizabeth II. verzichten, weil es einfach das erste Live-Ereignis war", sagt Kuratorin Gerlinde Waz. Dagegen mussten bei anderen Sendungen weitaus kompliziertere Abwägungen vorgenommen werden. Im Falle der in Deutschland äußert populären Kinderserien „Biene Maja" und „Pan Tau" entschied sich das Museum zunächst gegen eine Aufnahme in ihre Sammlung, weil es sich die Lizenzgebühren nicht leisten konnte bzw. wollte. Wenigstens eine 30-minütige Episode von „Pan Tau" aus der zweiten Staffel der Abenteuer des zaubernden Melonenhutträgers fand später doch noch Einzug in die Sammlung für immerhin 1.500 Euro (vgl. ebd.). Auch der dreiteilige Fernsehfilm „Die Gentlemen bitten zur Kasse" wurde nach anfänglichen Querelen mit einzelnen Anspruchsberechtigen doch noch in das Fernseharchiv aufgenommen; zuvor hatte ein Rechteinhaber strikt auf eine nicht unwesentliche Vergütung gepocht (vgl. Kramp 2006c). Andere Programmbeispiele wie die US-amerikanische Actionserie „Knight Rider", die in Deutschland von RTL ausgestrahlt wurde und bei ihrer jugendlichen Zielgruppe Erfolge feierte, seien nicht bezahlbar gewesen, räumt Waz ein. Das Museum hätte laut Presseangaben umgerechnet 2.400 Euro pro Minute bezahlen müssen (Gäbler 2006). Auch fehlen wichtige Zeugnisse der vom Fernsehen begleiteten Sportgeschichte wie der erste Sieg Michael Schumachers in der Formel 1 oder die großen internationalen Fußballbegegnungen. Peter Paul Kubitz zeigt sich ob der hohen Vergütungsansprüche der Rechteinhaber ratlos: „Eigentlich sind es die großen, internationalen Ereignisse, die in dieses kollektive Gedächtnis hineinfallen: Wimbledon, der Boxkampf, die Champions-League, Olympia, in denen ja auch sehr

IV.4. Museumsfernsehen,

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viel Kulturgeschichtliches aufgehoben ist. Bei den Bundesligaspielen zwischen Borussia Dortmund und Mönchengladbach haben wir keine Probleme. Wie wir das Problem mit den internationalen Sportereignissen lösen, weiß ich aber noch nicht." Die Rede von einem „Bilderkuckucksheim" (Kilb 2006) - sozusagen einem Luftschloss der Audiovisionen - beschreibt daher auch durchaus treffend das Dilemma der Deutschen Kinemathek, mit ihrer neuen Fernsehabteilung Akzente zu setzen, obwohl sie bei der Erfüllung ihres Kernauftrages, das nach Auffassung der Auswahlinstanzen bedeutendste Fernsehprogrammerbe zusammenzutragen, zum Pragmatismus gezwungen wird: „Ein paar schwarze Löcher werden bleiben", sagt Kubitz (zitiert nach Bauer 2006). Aus dieser befürchteten dauerhaften Einschränkung von Sammlungstiefe und -breite durch kommerzielle Verwertungsinteressen wird jedoch nicht der Anspruch eines „Superarchivs" (Kubitz 2003:4) abgeleitet. Die Museumsvertreter wollen mit ihrer Abteilung nicht mehr sein, als sie mit ihren Mitteln leisten könnten. Gestartet wurde mit einem selbstbestückten Fernseharchiv von etwa 500 Sendungen; Ende des Jahres 2009 waren es bereits an die 2.000 Einzelsendungen. Die Sammlungsaktivitäten schreiten langsam, aber kontinuierlich voran. Mit den Verwertungsgesellschaften wurde nach langwierigen Verhandlungen vereinbart, dass das Museum gegen eine Pauschalgebühr eigene Mitschnitte, die bereits seit Beginn der Erweiterungsplanungen in der Kinemathek angefertigt wurden sowie weiterhin selektiv erstellt werden sollen, für die musealen Angebote verwenden dürfen. Entgegen der Mediatheksplanungen gibt es keine festgeschriebene Anzahl von Sendungen mehr, die jährlich ergänzt werden sollen. Gleichwohl arbeitet die Auswahlkommission noch selektiver als ursprünglich geplant: In früheren Überlegungen wurden 10.000 Stunden Fernsehprogramm als Erstausstattung sowie ein jährlicher Zuwachs von 1000 bis 1500 Stunden100 für essentiell gehalten (AdK 1994: 21). Der Gesinnungswandel, sich selbst nicht mehr als umfassende oder wenigstens führende Sammlungseinrichtung historischer Fernsehprogramminhalte zu verstehen und dadurch trotz der institutionellen Tradition geringfügig von einem archivischen Selbstverständnis abzurücken, wurde also in erster Linie durch negative Erfahrungen und aktuelle Hindernisse bei der Akquise von bedeutsamen Programmrelikten begründet. So mager sich die Fernsehprogrammsammlung der Kinemathek auch geben mag, soll sie bis zum Jahr 2012 insoweit ausgebaut worden sein, dass ein Grundbestand an geschichts- und gedächtnisrelevanten vorliegt. Zugrundegelegt wird dabei ein qualitativer statt quantitativer Ansatz: Im Vordergrund stehen die kulturstiftende Wirkung von Programminhalten sowie ihr Einfluss auf die Erinnerungsbildung in individuellen und kollektiven Kontexten (Kubitz 2003: 5). Inhaltliche Schwerpunkte sind unter anderem der deutsche Fernsehkrimi und die unterschiedliche(n) Programmgeschichte(n) in den deutschen Teilstaaten sowie daraus folgenden Programmströmungen im wiedervereinten Deutschland. „Die Programmgalerie hat die Aufgabe, eine Auswahl aus allen Formaten 100 Diskutiert wurde, ob ein jährlicher Zuwachs von 2.000 Programmstunden, jeweils zur Hälfte bestehend aus Hörfunk- und Fernsehprogramm, günstiger sei als eine Anhebung auf 3.000 Programmstunden (vgl. VDFM 1994; VDFM 1996).

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

zu bieten, jedenfalls in der Endfassung, die mit dem Ende des jetzigen Finanzierungsmodells im Jahre 2012 erreicht wird", sagt Rainer Rother. Das Jahr 2012 markiert daher schon jetzt auch eine wichtige Wegmarke in der institutionellen Genese der Einrichtung: Die Arbeit der Fernsehabteilung wird hauptsächlich mit Fördermitteln des Berliner Wasserversorgers Veolia Water in der Höhe von vier Mio. Euro garantiert, dies jedoch nur für den Zeitraum von etwa sieben Jahren, der mit Ablauf des Jahres 2012 endet: „Nach wie vor wird die Finanzierung unterschiedlich gehandhabt. Die Arbeit des Fernsehmuseums wird nicht wie die sonstige Arbeit der Stiftung zu hundert Prozent durch die Förderung des Bundes, also BKM, abgedeckt, sondern für sieben Jahre befristet durch die Veolia-Gelder, also die seinerzeitige Vivendi-Gesellschaft, die einen Teil der Berliner Wasserwerke gekauft hat und sich in dem Vertrag mit dem Berliner Senat zur Förderung der Mediathek verpflichtet hat. Das läuft also noch einige Jahre. Bis dahin müssen wir eine Möglichkeit gefunden haben, für alles, was über die Förderung, die der Bund dem Fernsehmuseum durch die Übernahme der Miete angedeihen lässt, hinausgeht, eine andere Finanzierung zu finden. Die Konstruktion sieht derzeit so aus, dass wir ein integriertes Konzept haben, also das Museum für Film und Fernsehen. Die jeweiligen Abteilungen verwalten auch Veolia-Gelder, und die Verwaltung und die Infrastruktur betrifft natürlich das gesamte Haus. Da werden wir auch weiterhin Integrationsfortschritte machen müssen, weil wir auch ein bestimmtes Ziel vor Augen haben, nämlich das Auslaufen der Gelder von Veolia, unseres Hauptsponsors. Bis dahin müssen wir entweder neue Sponsoren haben oder neue Finanzierungsgelder aufgetrieben haben" (Rainer Rother, DK). Dass es ausgerechnet ein Wasserversorger war, der mit seiner Finanzspritze die Fernsehabteilung erst zum Leben erweckte und sie auch am Leben erhalten musste, und nicht die Fernsehbranche, die sich weiterhin zierte und das Museum, „ihr Museum" (Rainer Rother, DK), allenfalls mit geringer monetärer Unterstützung bedachte, nagt merklich an den Museumsvertretern. Die ungewöhnliche Förderkonstellation kam zustande, als der Vivendi-Konzern im Jahre 1999 mit seiner Tochtergesellschaft Veolia Water die Berliner Wasserwerke übernahm: Der Berliner Senat sah eine günstige Gelegenheit, die unrühmliche Entwicklungsgeschichte der „Deutschen Mediathek" zu einem schnellen und gütlichen Ende zu führen und machte die finanzielle Förderung der Einrichtung durch Veolia zur Bedingung für einen Verkauf. Zunächst wurde ein Junktim zwischen dem Kauf der Berliner Wasserwerke und der Verpflichtung, zu einem erheblichen Teil die „Deutsche Mediathek" zu unterstützen, von Konzernseite bestritten (Anonym 1999d). Doch stellte sich bald heraus, dass Letztere ein „integraler Bestandteil" (Wenk 1999; vgl. Vivendi/Berlin 1999) des Vertrages zwischen dem Berliner Senat und Vivendi war. Die ursprüngliche Hoffnung, dass die Sender sich nach einer erfolgreichen Betriebsaufnahme des Museums wenn nicht automatisch, dann aber unter dem Eindruck der gewinnbringenden Auseinandersetzung mit der Fernsehgeschichte als Programmgeschichte und damit auch Sendergeschichte in einem unabhängigen Institutionskontext der Einrichtung auch finanziell für das Museum engagieren würden, wurden weiterhin enttäuscht. Trotz der intensiven Kontakte der Senders in Fragen der Akquise von Pro-

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grammmaterial bis hin zur inhaltlichen Einbindung von Sendervertretern im Fernsehbeirat des Museums ließen Mittelzusagen weiter auf sich warten. Zwar müssen nach Aussage von Direktor Rainer Rother durch die kostenlosen Programmbereitstellungen der Sender ab dem fraglichen Schlusstermin der Veolia-Förderung nur noch Personalkosten gedeckt werden. Doch ein Engagement der Sender entspreche eben der partnerschaftlichen Auffassung, die bereits auf beiden Seiten errungen wurde, meint Peter Paul Kubitz, der gleichsam betont, dass das Museum dadurch niemals mutieren dürfe zum „Werbeinstrument eines Unternehmens". Schließlich halte das Museum - und hier habe die Ausgangsidee Eberhard Fechners, mehr als einen bloßen Archivzugang in die Tiefen des Fernseherbes anzubieten, weiterhin Geltungskraft - weitaus mehr bereit, als die Sender alleine bieten könnten beziehungsweise bieten wollten: „Wenn es so wäre, dass die Sender ihre eigene Geschichte medien- und kulturpolitisch all über all zugangsfähig machen würden, hätte sich der Fechner-Traum erfüllt. Dann hätte ich auch gar nichts dagegen, dass wir uns eines Tages mit der Arbeit, die wir hier machen, überflüssig machen. Aber der Beweis ist erst noch anzutreten" (Peter Paul Kubitz, DK). Implizit kommt hier erneut die Mediatheksdevise zum Tragen, dass eine solche Einrichtung einem Schatz gleiche, der für die Sender leicht zu heben und billig zu haben sei (vgl. Kammann 1998:4), mit einer kulturellen Wertigkeit und der Reputation einer unabhängigen gemeinnützigen Gedächtnisorganisation, welche den in Selbstreflexion ungeübten Fernsehveranstaltern dabei helfen würde, sich mit ihrer eigenen Geschichtlichkeit ins Benehmen zu setzen. Diese Bereitschaft aber, so ist den Äußerungen der Befragten zu entnehmen, muss erst noch erzeugt werden. Die Konzentration auf die programmlichen Werkdimensionen des Fernsehens und damit auf die Sender als Programmgestalter wird also weiterhin die Achillesverse des Museums bleiben. Ausstellung des Machbaren Die Entfaltungsmöglichkeiten der Fernsehabteilung werden zudem durch die räumliche Situation am Standort Potsdamer Platz eingeschränkt. Die für das Fernsehen zur Verfügung stehende Ausstellungsfläche beträgt nunmehr 1.200 Quadratmeter, im Vergleich zur 1.500 Quadratmeter großen Fläche der Ständigen Ausstellung Film (ehemals Filmmuseum). Nach dem Tode Fechners wurde noch mit einer Gesamtnutzungsfläche von knapp 4.500 Quadratmetern kalkuliert, die in den Planungen des Projektleiters Helmut Drück sogar noch auf 5.000 Quadratmeter erhöht wurde (VDFM 1995b: 8). Welchen Platzbedarf eine Ausstellung zur deutschen Fernsehgeschichte benötigen kann, zeigte auch „Der Traum vom Sehen", die sich auf über 4.700 Quadratmeter erstreckte (Zöllner 1997:149). Die reduzierte Fläche im Filmhaus der Kinemathek warf Schwierigkeiten auf, die keineswegs leicht zu kompensieren waren: Das Ausstellungskonzept musste entsprechend den Kapazitäten des Hauses angepasst werden, was einschneidende Auswirkungen auf Art und Umfang der Ausgestaltung der Ausstellungsfläche hatte.

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Fernseherbe-Verwaltung

Eine Präsentation von Fernsehtechnik, requisitären Artefakten oder anderweitigen Realien aus dem Kontext der Fernsehproduktion und -rezeption ist bei der Kinemathekslösung nur als Ausnahmefall vorgesehen. Die Ständige Ausstellung Fernsehen verfügt über insgesamt drei Räume, in denen nach Angaben von Peter Schwirkmann grundsätzlich kein Platz für dinghafte Objekte irgendeiner Art seien. Hier habe sich das Museum eindeutig für eine Überlieferungsgattung entscheiden müssen, und wählte das Programmerbe:„In diesen Räumen schien es uns rein aus räumlich-konzeptionellen Überlegungen unmöglich, in einer angemessenen Form tatsächlich Rundfunktechnik, Fernsehtechnik zu präsentieren. Wir haben das mehrfach überlegt, und alle Überlegungen und Skizzierungen und Entwürfe zusammen mit dem Architekten hatten den Makel der Halbherzigkeit an sich, so dass Gegenstände immer, weil einfach der Platz fehlt, um sie anständig zu präsentieren, den Makel des Verlegenheitsbelegstücks gehabt hätten", erklärt Schwirkmann. Ohnehin hätte die Präsentation von Realien aus der Technikgeschichte bisweilen auch „ganz schnell etwas Kitschig-Peinliches", glaubt Kuratorin Gerlinde Waz. Gleichwohl wird die Zuhilfenahme von Artefakten bei den Vermittlungszielen des Museums nicht gänzlich ausgeschlossen. Im Fundus der Kinemathek finden sich auch einige Realien aus der Fernsehgeschichte, wenn auch keine technischen: Schauspieler Günter Lamprecht stiftete sein Schlapphut-Outfit, das er regelmäßig als melancholischer „Tatort"-Kommissar Markowitz trug; auch befinden sich unter anderem der originale Drehplan aus Rainer Maria Fassbinders „Berlin Alexanderplatz" in der Obhut des Museums. Solche Überlieferungen könnten jedoch aufgrund der räumlichen Bedingungen allenfalls zitathaften Charakter haben in Form von Sonderausstellungen, um ein bestimmtes Thema mit einer ganzheitlicheren Perspektive und unter einem weiter gefassten Rezeptionsbegriff zu vertiefen, sagt Peter Paul Kubitz, der die unzureichenden Darstellungsmöglichkeiten grundsätzlich bedauert: „Deswegen haben wir gesagt, dass Fernsehgeschichte nicht einfach nur klassisch museal betrachtet wird, man also nostalgisch durch das Wohnzimmer seiner Kindheit in den 50er oder 60er Jahren geht und sich daran erinnert, wie der Tisch, die Lampe und das Fernsehbild ausgesehen haben. Wir leben nun mit dem etwas unbefriedigenden Zustand, dass wir keinen Platz dafür haben. Aber wenn wir ihn hätten, würde ich das machen" (Peter Paul Kubitz, DK). Knapp ein Viertel der Ausstellungsfläche nimmt die Ständige Ausstellung zur Fernsehgeschichte ein. Etwa ein Drittel ist Wechselausstellungen vorbehalten. Etwa gleich groß ist ein Veranstaltungs- und Konferenzraum, der für unterschiedliche Anlässe - von Pressekonferenzen bis hin zu Filmvorführungen - genutzt werden kann. Der eigentliche Kern des ursprünglichen Mediathekplans, die Programmgalerie mit Betrachtungsmöglichkeiten für Einzelpersonen und Gruppen, umfasst etwa ein Achtel der gesamten vom Publikum frequentierten Fläche. Wie stark die Platz-Problematik mit den konzeptionellen Ansätzen des Museums im Spannungsfeld zwischen informationeller Vermittlung und unterhaltsamem Erleben von Fernsehgeschichte korrespondiert, führt der Aufbau der

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Ständigen Ausstellung Fernsehen vor Augen, der einem „Dreiklang" (Gerlinde Waz, DK) folgt: Der sogenannte „Spiegelsaal" huldigt in audiovisuellem Purismus den seriellen Unterhaltungsaspekten des Fernsehens, der darauf folgende „Zeittunnel" erzählt mit allerhand chronologisch sortierten Textbausteinen (die auch auf die technischen Etappen eingehen) und ausgewählten Programmarchivalien von Medienereignissen der Entwicklungsgeschichte und der singulären Übertragungsqualitäten des Fernsehens, und die über allem thronende Programmgalerie verknüpft in einer Datenbankstruktur sämtliche Facetten der Fernsehprogrammgeschichte in einer Auswahl historischer Sendungen, die in kompletter Länge abgerufen werden können. Die Programmgalerie fungiert gleichsam als Passage und Einlasspunkt für eine tiefergehende Beschäftigung des Besuchers mit einzelnen selbst gewählten Aspekten und Zeugnissen der Fernsehvergangenheit; denn neben der Auswahl, die sich dem Besucher an den Sichtplätzen der Programmgalerie bietet, schließt sich eine Sonderausstellungsfläche an, auf der fernsehhistorische Spezialthemen in größerer Breite und Tiefe aufgearbeitet und interaktiv erfahrbar werden. Das Fernsehmuseum als zwei Stockwerke füllende Ausstellungs- und Veranstaltungsfläche innerhalb der Deutschen Kinemathek mag von ihren räumlichen Maßstäben und quantitativen Umfängen eine „Notlösung" geworden sein, wie der ehemalige Leiter des Deutschen Rundfunkarchivs Joachim-Felix Leonhard, der sich auch stark in die Mediatheksdebatte eingebracht hatte, das letztlich verwirklichte Konzept bezeichnete (zitiert nach Kramp 2005a: 101). Doch die Limitationen müssen sich nicht grundsätzlich negativ auswirken, sondern können im Gegenteil vorteilhaft genutzt werden, auch unter dem Eindruck, dass die wachsende institutionelle Komplexität im allgemeinen Museumsfeld immer stärker als Problem für die Zugänglichkeit und Vermittlungsintensität musealer Angebote bewertet wird: „Growth is a universal problem with a Pandoras box of consequences. It appears innocuous but in fact presents a deep conceptual crisis which endangers the museums mission and its position in contemporary society" (Sola 2004). Mit dem Potsdamer Platz wurde zudem ein Standort in der geographischen und kulturellen Mitte Berlins gefunden, der durch das massenattraktive, auch touristisch stark frequentierte Umfeld einen steten Besucherstrom gewährleistet. Der ehemalige Kinematheksdirektor Hans Helmut Prinzler hält den Platzmangel daher auch angesichts der Standortvorteile gegenüber weiter außerhalb des Stadtzentrums gelegenen Alternativen für ein sekundäres Problem: „Dies ist ein Ort, der ein absoluter Glücksfall ist. Er ist ein Glücksfall in der Mitte der Stadt in einem Areal, was kulturell und auch in jeder Hinsicht vibriert, durch die Neugier von Touristen wie von Berlinern lebendig ist. Wenn ich mir vorstelle, es gäbe z.B. in Adlershof diese Einrichtung. Dann wären die Anstrengungen, Menschen nach Adlershof zu bringen, sehr groß. Es gab auch die Überlegungen vor langer Zeit, am Theodor-Heuß-Platz, wo das alte Deutschlandhaus stand, das vom SFB verkauft wurde, wo früher die Film- und Fernsehakademie und die Kinemathek drin waren, das zu einem Film- und Fernsehmuseum zu machen. Vom heutigen Standpunkt aus

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IV. Status Quo und Perspektiven der

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würde ich sagen: Ganz schwieriger Standort, weil die Bereitschaft der Menschen, sich sozusagen zu einem solchen Ziel in größerer Zahl zu bewegen, nicht sehr groß ist. Man profitiert, anders ausgedrückt, von der Positionierung in der Mitte der Stadt und natürlich auch von einem Umfeld zwischen Nationalgalerie, Gropius-Bau, Paris Platz und so weiter. Das ist ja ein Kraftfeld."101 Wichtiger als die gesamt zur Verfügung stehende Aktionsfläche ist die Inszenierungsqualität und Anschlussfähigkeit der tatsächlichen Angebote, und hier setzt die Deutsche Kinemathek unmissverständliche Prioritäten: Die Ausstellungskonzeption setzt auf audiovisuelle Erregung, die das Nüchterne, das Spröde, das Alltägliche der gewöhnlichen Fernseherfahrung aufzubrechen versucht und die persönliche Sozialisation des Besuchers als Fernsehrezipient in den Mittelpunkt stellt. Das Kuratorium wählte hierfür eine Mischung von sich inhaltlich und inszenatorisch unterscheidenden Strategien: Zum einen wird bei dem Versuch, das komplette Programmspektrum selektiv abzubilden, flüchtige Programmmasse in Form serieller Formate mit hohem Unterhaltungswert wie vorrangig Shows jeglicher Couleur einer Chronik der Fernsehgeschichte mit den großen Momenten des Live-Fernsehens gegenübergestellt. Zum Anderen wurden hierbei Präsentationstechniken verwendet, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Während der „Zeittunnel" die historische Entwicklung des Mediums anhand einer linearen und chronologisch geordneten Aneinanderreihung von Textinformationen und ausschnitthaften Programmbeispielen erzählt, wird bei der Remiszenz an das Unterhaltungsfernsehen in Ost und West diese klassische Ordnung der Inszenierung gesprengt, indem eine 32-minütige VideoKompilation mit entsprechenden Programmexzerpten erstellt wurde, welche in einem verdunkelten und vollständig verspiegelten Saal mit innovativer Projektionstechnik die Wahrnehmungsgewohnheiten des Fernsehzuschauers konterkariert. Der „Spiegelsaal" mit seiner Bildwand aus 36 parallel ausspielbaren Videokanälen setzt den Grundton der Fernsehausstellung, die in erster Linie auf optisch reizvolle Inszenierung setzt. Die Video-Installation lasse bewusst solche Fernsehproduktionen aus, denen der Rang von Meisterwerken zugesprochen werde, erklärt Programmdirektor Peter Paul Kubitz. Erkennbar werden solle vielmehr die sich wandelnde Ästhetik des Fernsehens in Serie: Vom ruhigen schwarz-weißen „Kanzelfernsehen" (Peter Schwirkmann, DK) der 1950er und 60er Jahre, das von einer inszenatorischen Armut und technischen Einfachheit gekennzeichnet war, bis hin zum bunten Allerlei der sich ausformenden Programmvielfalt im dualen Rundfunksystem seit der 1980er Jahre. Nach mehrmonatigem Aufenthalt im Schnittstudio gelang es Kuratorin Gerlinde Waz, trotz des modernistischen und künstlerisch verfremdenden Präsentationsrahmens die athmosphärische und technische Authentizität des Programmmaterials zu erhalten bzw. durch digitales Remastering wieder herzustellen. Während es bei der handwerklichen Umsetzung darum gegangen sei, das von den Sendern bereitgestellte Archivmaterial, das zum Teil in einem desolaten Erhaltungszustand gewesen sei, den originalen Bildverhältnissen der Erstausstrahlung ent101 Persönliches Face-to-Face-Expertengespräch des Autors mit Hans Helmut Prinzler vom 18. Januar 2005 in der Deutschen Kinemathek.

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gegenzukommen - man müsse sich die Bearbeitung vorstellen wie eine Waschanlage sei die Maßgabe der inhaltlichen Zusammenstellung darauf ausgerichtet, den Besucher im Gesamtbild der Ausstellungsdramaturgie mit ungewöhnlichen Programmüberlieferungen und ihrer zur herkömmlichen Fernsehrezeption divergierenden Vorführung zu überraschen. Da galoppiert Fury durchs Bild, Zoofachmann Dr. Grzimek präsentiert eine afrikanische Zwergmanguste und Manfred Krug singt im DDR-Farbfernsehen „The more I see you, the more I want you". Günter Gaus spricht mit Rudi Dutschke, und nacheinander und nebeneinander werden historische Bundeskanzler-Interviews projiziert, die allesamt eine Gemeinsamkeit haben: Die Regierungschefs rauchen ungeniert vor der Fernsehkamera. Am Ende potenzieren sich die bunten Bilder von Unterhaltungsshows der 1990er Jahre zu einer audiovisuellen Kakophonie, in der kaum noch die Übersicht gewahrt werden kann. Stets muss der Zuschauer nach dem passenden Bildausschnitt zum vernehmbaren Ton suchen, so dass die sonst so selbstverständliche Einheit von Audio und Video gesprengt und für den Betrachter zur Herausforderung wird. „Mir war dabei sehr wichtig, nicht zwischen Osten und Westen zu differieren, sondern eine Irritation beim Zuschauer zu verursachen und ihre Siegesgewissheit bei der Unterscheidung zwischen Ost und West ins Wanken zu bringen. Natürlich sollen sie aber gleichzeitig auf vertraute Programme stoßen und in der Show, die auch sehr vergnüglich ist, lernen, dass das, was sie zuvor für typisch Ost oder typisch West gehalten haben, vielleicht gar nicht so stimmt. Die Show ist dazu gedacht, den Besuchern das Herz zu öffnen, und sie vergnüglich auf eine Auseinandersetzung einzustimmen. Im zweiten Raum geht es ja dann weiter mit der medienpolitischen Geschichte, mit der Gründung des Fernsehens, und ich glaube, dann hat man auch richtig Lust, sich mit den mehr trockenen Fakten auseinanderzusetzen. Und dann schließlich der selbst gesteuerte Ausflug in die Programmgalerie, die auch gedacht ist, damit die Leute noch mal den Sendungen begegnen, die sie vielleicht aus der Kindheit kennen" (Gerlinde Waz, DK). Im „Zeittunnel" begegnet der Besucher den großen Live-Bildern aus 50 Jahren Fernsehschaffen: von der pompösen Krönung von Königin Elizabeth II im Jahre 1953 über John F. Kennedys Besuch in Berlin 1963, die erste Mondlandung 1967, Boris Beckers Sieg beim Tennisturnier in Wimbledon 1985 bis hin zum Berliner Mauerfall 1989, den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 und den Tod von Papst Johannes Paul II im Jahre 2005. Es bleibt indes nicht bei einer ikonischen Aufbereitung mnestisch aufgeladener Medienereignisse, wobei auch hier wichtige Momente wie das Grubenunglück im niedersächsischen Lengede 1963 der Enge des Raums zum Opfer gefallen und nicht mit Bildzeugnissen vertreten sind: Der Tunnel dient auch zur Vermittlung wesentlicher Entwicklungsschritte in der Chronologie der Fernsehgeschichte mit dem Ziel, dem Besucher einen basalen Überblick über systemische und strukturelle Voraussetzungen zu verschaffen, ihm „das nötige Rüstzeug" mitzugeben, wie Kuratorin Waz proklamiert. So wird auch auf die ersten Experimente mit der noch jungen Fernsehtechnologie eingegangen,

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

es wird auf die Arbeit Paul Nipkows, John Logie Bairds oder auch Karl Ferdinand Brauns eingegangen, Letzterer als Entwickler der berühmten Braunschen Kathodenstrahlröhre („Vom Patent zum Programm"). Auch das Radio findet Erwähnung, als Vorläufermedium und auch institutionelles Reservoir für die personelle Bestückung des frühen Fernsehbetriebs („Der Neubeginn nach 1945"). Weiterhin wird hier der programmspezifische Fokus schlaglichtartig um die Dimension der Institutionengeschichte von ZDF und den kommerziellen Privatsendern erweitert („Das Zweite Deutsche Fernsehen - der erste Konkurrent"; „Das Fernsehen wird zur Ware"). So bleibt es nicht bei der Chronologie von Nachrichtenereignissen, sondern Fernsehgeschichte wird hier auch übergreifend als Ereignisgeschichte mit Informations- und Unterhaltungsqualitäten dargestellt, in der selbst das Karnevalsfernsehen mit dem rheinland-pfälzischen Dauerbrenner „Mainz bleibt Mainz wie es singt und lacht" (ARD, ZDF) zu musealen Ehren kommt. Begleitet wird die inhaltliche Aufteilung der Ausstellung von der architektonischen Ausgestaltung der Räumlichkeiten: So fungiert bereits der „Spiegelsaal" mit seiner Bauart, die dem 4:3-Seitenverhältnis eines klassischen Fernsehgerätes entspricht, als räumliche Metapher: „Man geht ja quasi in den Fernseher hinein", erklärt Waz. Ihre Fortsetzung findet die architektonische Orientierung im „Zeittunnel", der wie eine futuristische Röhre durch die Zeit anmutet, bis hinauf in die Programmgalerie, zu der man auf einer weißen Treppe gelangt, die sich in einem verspiegelten Aufgang in die Höhe windet, entsprechend eines Aufstiegs in den „Himmel, in den Olymp", so Waz, wo nur das Beste des Programmschaffens Einzug finde. Die Seitenwand der Programmgalerie zieren über 260 Sendungstitel: von Α wie „Acht Stunden sind kein Tag" (ARD: 1972) bis Ζ wie „Zwerg Nase" (DFF: 1978). Die leitende Doppelperspektive auf die Fernsehgeschichte beider deutscher Teilstaaten wird auch hier mit besonderer Nachdrücklichkeit verfolgt, indem das Fernseherbe der DDR nicht auf einen Sonderplatz verwiesen wird, obwohl nur etwa ein Zehntel des Sammlungsbestandes aus Überlieferungen des Deutschen Fernseh-Funks besteht, diese jedoch in gleichberechtigter Weise zur Vervollständigung des programmhistorischen Spektralbereichs aus Werbung, Krimi, Sport, Reportage, Kinderprogramm, Fernsehfilm, Show und Dokumentarfilm beitragen. Mit nur sechs Sichtstationen verfügt die Programmgalerie über deutlich weniger Betrachtungsmöglichkeiten als mit den ursprünglich geplanten 40 Einzelplätzen (AdK 1994: 18). Dafür werden die Stärken der digitalen Infrastruktur des Museums ausgespielt: Die technische Ausstattung mit einem Datenbankzugang mittels eines Computerterminals zwecks Recherche von Sendungsinhalten und Kontext-Informationen wie Rahmendaten (Inhalt, Mitwirkende, Auszeichnungen), Kritiken oder Interviews und mit einem zusätzlichen Flachbildfernseher zur Rezeption der individuell ausgewählten Sendungen in voller Länge setzt auch im internationalen Vergleich mit den Fernsehmuseen im Untersuchungs-Sample Maßstäbe. Zwischen Bildung und Erinnerung: Die Hypostasierung

des Zuschauers

Die Publikumsangebote der Fernsehausstellung der Deutschen Kinemathek sind durchzogen von dem Anspruch, Erinnerung zu ermöglichen oder wie es in der Ausstellung selbst

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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heißt: Bilder zu präsentieren, „die man nicht vergisst." Das programmliche Potpourri der Video-Installation im „Spiegelsaal", die audiovisuellen Ereignisetappen der Fernsehchronik im „Zeittunnel" und schließlich die Zusammenstellung der großen, leicht erinnerbaren, und kleinen, aber erinnerungswürdigen Senderelikte in der Programmgalerie: Sämtliche Teile der Ständigen Ausstellung Fernsehen konfrontieren den Besucher mit dem Imperativ, sich zu erinnern. Dabei ist das Museum hin und hergerissen zwischen der für sich selbst sprechenden Ausdruckskraft der Fernsehbilder auf der einen und ihrer notwendigen Einordnung, der didaktischen Vermittlung der zugrundeliegenden Prozesse, der Begleitumstände, kurz: der Hintergründe des televisuellen Oberflächenreizes auf der anderen Seite. Im ersten Jahr seines Bestehens haderte die Kinemathek sehr damit, dass sie die Bildungsarbeit aufgrund personeller Engstände vernachlässigte: Erst im Sommer 2007 wurde eine museumspädagogische Kraft eingestellt, welche ebenso für die Filmwie für die Fernsehausstellung zuständig ist. Dennoch wurde schon zuvor projektbasiert anlässlich der knapp elfmonatigen Sonderausstellung „Auf heißen Spuren ... Meisterdetektive im Museum" von März 2007 bis Januar 2008 eine „Erkundungsphase" (Peter Schwirkmann, DK) durchlaufen, um die Möglichkeiten und den Bedarf seitens der ins Haus kommenden Besuchergruppen an begleitenden musealen Bildungsangeboten zu ermitteln. Die primär auf ein junges Zielpublikum ausgerichtete Ausstellung versammelte televisuelle Fallbeispiele aus einer Reihe alter und aktueller Ermittler des Kinderfernsehens von Emil Tischbein aus „Emil und die Detektive" von 1931/1954 und „Kalle Blomquist" von 1957 bis zu den „Pfefferkörnern" (NDR: 1999) und Disneys Trickfigur „Kim Possible" (Disney Channel: 2006). In einem geheimnisvollen Ambiente wurden die jungen Besucher animiert, ein persönliches Ermittlerprofil am Computer zu erstellen, sich spielerisch mit der Erstellung eines Phantombildes zu befassen und schließlich selbst auf Verbrecherjagd zu gehen und vor einer Scherenschnittkulisse und projizierten Ausschnitten aus Fernsehserien mit Kinderermittlern versteckte Hinweise zu sammeln, die ein fiktiver Krimineller in der Ausstellung hinterlassen hat. Illustriert und grundiert wurde diese interaktive Annäherung an den Ausstellungsgenstand mit zahlreichen physischen Exponaten wie exemplarischer Zuschauerpost, in der junge Fernsehzuschauer in schillernden Farben und einfachen Worten ihre Begeisterung für eine der Detektivserien zum Ausdruck bringen, oder Begleitprodukten wie internationaler Jugendliteratur (z.B. zum schwedischen Jungdetektiv Blomquist) sowie einerseits Brett- und andererseits Computerspiele, die wiederum durch ihre Beschaffenheit den Wandel der Mediennutzung dokumentieren. Kuratorin Gerlinde Waz erklärt das Bildungsanliegen, genauer: die Förderung von Medienkompetenz, zum ausgewiesenen Ziel des Museums. Vor allem, aber nicht nur Kindern und Jugendlichen solle dabei geholfen werden zu verstehen, wie Genres im Fernsehen funktionieren und wie narrative Strategien und sogar Inhalte von Geschichten stets dieselben bleiben, auch wenn sich die Erzähltechniken verändern. Die hohe Bedeutung des Bildungsziels solle sich aber nicht in einer übermäßigen Pädagogisierung der Ausstellungsangebote wiederfinden, sondern eher „hintergründig und beiläufig" verfolgt

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

werden und keinesfalls „belehrend" sein, sagt Waz. Auch Abteilungsleiter Peter Paul Kubitz hält eine flexible Vorgehensweise, die auf neue Nutzungspräferenzen und Gewohnheiten innerhalb der Besucherschaft eingeht, für vielversprechender, was auch bedeute, das neue, das gegenwärtige Fernsehen ernst zu nehmen und in die museale Arbeit mit einzubinden: Man wolle nicht „Beckmessererei [...] im Sinne von Kulturpessimismus .alles war früher besser'" betreiben, sondern „mitspielen", alte Räder nicht neu erfinden, sondern „neu rollen lassen" (zitiert nach Meyer 2006). Diesem explorativen Ansatz ist es geschuldet, dass sich das Museum fast vollständig von seiner Rolle als Deutungsinstanz lossagt und sich auf seine Doppelfunktion als Erinnerungsveranlassungsagentur und als Forum für den erinnerungskonkreten (im Gegensatz zum erinnerungstheoretischen) Dialog besinnt: Diesem Anliegen sind insbesondere bei der Adressierung von Kindern und jugendlichen Publika zweifellos Grenzen gesetzt, da die entsprechenden Altersgruppen teilweise nur schwer eine persönliche Beziehung zum Fernsehen früherer Zeiten aufbauen können. Gleichwohl sorgt der rege Wiederholungsbetrieb im laufenden Programm und die daraus folgende Popularität alter Fernsehformate in der aktuellen Nutzung auch dafür, dass Programminhalte alter Tage Einzug finden in die Fernsehbiographien von Nachgeborenen. Zudem gelingt es, durch latente Gegenwartsverweise in Sonderausstellungen wie die starke Präsenz aktueller Detektivfiguren in „Auf heißen Spuren" bei jungen Besuchern persönliche Bezüge zu den historischen Vorgängern zu schaffen, aber auch bei älteren Besuchern zu gegenwärtigen Genrestars ihrer Kinder und zwischen den Generationen wiederum einen Austausch anzuregen, der das Wiederentdecken mit Entdecken verbindet. Kuratorin Gerlinde Waz betont daher auch, dass es beim Museumsbesuch mitunter gar nicht um die Erkundung der eigenen Fernsehbiographie gehe, sondern wohl eher um die Lust am vertraut erscheinenden Unbekannten, die Neugier darauf, „ob mir eine Sendung heute noch etwas über die jeweilige Zeit sagt". Die übergeordnete Ausstellungsdramaturgie folgt damit hauptsächlich der Zuschauerperspektive. Individuelle Erinnerungsbezüge dienen als roter Faden in einem teils wohl geordneten, teils choreographisch, aber chaotisch vermengten Wust aus Televisionen. Eben weil es für den Besucher um das „Wiedersehen und Erkenntnis" gehe, seien es nicht technische Apparaturen, sondern die Bilder der Programmgeschichte, die das Museum beleben, so der Programmdirektor Kubitz: Er verstehe das Museum als einen Ort, der nicht nur bewegte Bilder wiedergebe, sondern dadurch selbst Bewegung erzeuge, emotional wie auch intellektuell: „ein Ort der persönlichen und kollektiven Erinnerung, ein Ort des kulturellen, des politisches Diskurses; Film- und Fernsehforum, Drehscheibe zwischen Programmgeschichte und Programmgegenwart" (Kubitz 2006). Ihren konkretesten Ausdruck fand diese Zielrichtung in der Sonderausstellung „Wir waren so frei ... Momentaufnahmen 1989/1990", die von Mai bis November im Jubiläumsjahr 2009, 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, zu besichtigen war (vgl. Rother/Schmiegelt 2009). Präsentiert wurden knapp 300 Fotos, die von Bürgern aus Ostund West-Deutschland in den Monaten vor und nach dem Mauerfall und der Grenz-

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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Öffnung bis zur Wiedervereinigung beider deutscher Teilstaaten aufgenommen worden waren. Komplementiert wurde diese Auswahl mit etwa 40 Minuten an Dokumentarfilm von Privatleuten und bekannten Film- und Fernsehregisseuren wie Christian Petzold, der sich als Student der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin in seinem Kurzfilm „Ostwärts Fernverkehrsstrasse 2" mit Eindrücken aus dem ehemaligen Grenzgebiet zwischen Niedersachen und Sachsen-Anhalt Ende des Jahres 1990 beschäftigte. Das Herz der Ausstellung bildeten indes die privaten Zeitdokumente, die in ihrer Multi-Perspektivität ein verblüffend konformes Bild vom historischen Wandel zeichnen und doch in der Individualität ihrer biographischen Hintergründe im musealen Betrachtungskontext nur schwer zu dechiffrieren sind und erst dadurch das Museum zu einer geeigneten Erinnerungsstätte avancieren lassen, in welcher der Diskurs gesucht und Verständigung wie Verständnis gefunden wird: „Es sind private Erinnerungen, die auch als solche codiert werden. Wer über die Bilder nicht die Folie eigener, ähnlicher Erinnerungen legen kann, wird ihre Bedeutung nicht selten nur begreifen, wenn er aus den Begleittexten die Beweggründe erfahrt, warum gerade dieses Bild aufbewahrt wurde. [...] Diese Geschichte von innen und unten wird in vielen Fällen unübersetzbar sein, bleibt Bilderrätsel für den einen und aufwühlende Erinnerung für andere, die zu gleicher Zeit Ähnliches erlebten" (Mönch 2009). Dem Aufruf des Museums folgten etwa 180 Zeitzeugen, die insgesamt über 6000 Fotos und 40 Stunden Film einsandten (vgl. Kuhlbrodt 2009). Sie dokumentieren den wirtschaftlichen Wandel, verschwindende Architektur, die Jugendkultur, Fassaden, Landschaften, Wahlkämpfe, Proteste und die scheinbare Normalität des Alltags vor und während der friedlichen Revolution des Jahres 1989; und sie zeigen die kreative Vielfalt freudiger Begrüßungen der Ost- durch die Westdeutschen genauso wie die Nachdenklichkeit und Trauer beim Gedenken an die getöteten Maueropfer. Mit „Wir waren so frei" richtete das Museum die Frage nach dem visuellen und audiovisuellen Gedächtnis der Deutschen an die Bevölkerung selbst, ohne sie selbst beantworten zu wollen. Hier wurde es dem partizipationsfreudigen Menschen aus der Mitte der Gesellschaft überlassen, seine fotografisch und videografisch festgehaltenen Eindrücke eines historischen Ereignisses aus dem autobiographischen Zusammenhang in einen musealen Kontext zu stellen, um die private Erinnerung mit der öffentlichen, der .offiziellen beziehungsweise dominanten Lesart des betreffenden Ereignisses zu messen, zu reiben und idealerweise in ein konstruktives Diskursverhältnis zu setzen. Die durch das Museum bewerkstelligte Option, sich nach egalitärer Ägide mit eigenen Aufzeichnungen und Erinnerungen an einem zentralen Ort zur Auseinandersetzung mit der deutschen Bewegtbild- und damit Zeitgeschichte an der Schaffung eines differenzierten Vergangenheitsbildes zu beteiligen, traf auch institutionsübergreifend auf regen Zuspruch. Die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit den Initiativen „20 Jahre Mauerfall" des Landes Berlin und „Freiheit, Einheit, Demokratie" des Bundesinnenministeriums als emotionaler und visueller Zugang zum Wende-Jubiläum realisiert (vgl. auch Kel-

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

lerhoff 2009) und gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung, dessen Leiter Thomas Krüger der Ausstellung bei der Eröffnungsveranstaltung am 30. April 2009 die Schubkraft zusprach, eine Diskussion über die deutsch-deutsche Geschichte anzustoßen, die es bisher noch nicht gegeben habe, und auf diese Weise das kollektive Gedächtnis neu zu justieren. Die Belege der Variationsvielfalt bei der Vergangenheitsdeutung in Bild und Ton aus Nutzerhand offenbart gerade im Hinblick auf die televisuelle Dokumentation des Ereignisablaufs hohes Erkenntnis- und Kontextualisierungspotenzial. In einem separaten Raum wurde die Sicht des Fernsehens wiedergegeben, und zwar nicht mit den bekannten Bildern aus dem deutschen Fernsehprogramm, sondern in Form eines .Blicks von außen mittels Ausschnitten der Live-Berichterstattung der ehemaligen Besatzungsmächte: Programmausschnitte aus den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion zeigen teils um Fassung ringende und teils in dem Versuch, ihre gewohnte Abgeklärtheit in Bezug auf das Objekt ihrer Berichterstattung aufrechtzuerhalten, scheiternde Reporterkoryphäen, welche live von der Berliner Mauer berichten und in deren Gesichtern abzulesen ist, dass sie hautnah die historische Dimension des Ereignisses zu erfassen beginnen. In der von dem ehemaligen „Tagesthemen'-Moderator Ulrich Wickert moderierten Video-Installation wurden die Exzerpte der Live-Berichte, die abwechselnd auf fünf geographisch zugeordneten Bildschirmen in einem nur mit einer zentralen spartanischen Sitzbank ausgestatteten abgedunkelten Raum abgespielt wurden, um aktuelle Interviews mit den betreffenden Reportern ergänzt: Tom Brokaw (NBC), Brian Hanrahan (BBC), Philippe Rochot (Antenne 2) und Wjateschlaw Mostowoi (NTW) wurden rückblickend über ihre Erinnerungen an ihren 20 Jahre zurückliegenden Einsatz in Berlin befragt und reflektierten ihre eigene Doppel-Rolle als berichterstattende Beobachter und historische Akteure, indem sie nicht nur Zeitzeugen waren, sondern den stattfindenden epochalen Wandel moderierten und ihn der Welt durch das Fernsehen erklärten. Die angesprochene Prozesshaftigkeit der Aushandlung von überindividuell konsensualen Geschichts- und Erinnerungsbildern mithilfe von nutzergenerierten Medieninhalten darzustellen und durch sie die wirkmächtigen und aufmerksamkeitsdominierenden massenmedialen Programminhalte des Fernsehens zu hinterfragen oder auch nur zu ergänzen, erwies sich als fruchtbares Unterfangen: Aufgezeigt wurde die Ungewissheit, die mit jedem historischen Prozess einhergeht, anstatt in der Gewissheit einer scheinbar festgeschriebenen Historie zu verharren. Eine fortführende Umsetzung erfuhr die Ausstellung in ihrer offenen Konzeption durch ein ergänzendes Internet-Archiv, das über die Laufzeit der Sonderausstellung hinweg als dauerhaftes Angebot eingerichtet blieb. Ziel dieser virtuellen Dokumentationsplattform ist äquivalent zur Präsentation im Museum die redaktionelle Zusammenstellung von Fotos und Videos als Mosaik aus Momentaufnahmen der Wendezeit 1989/90. Die hier veröffentlichten und dauerhaft abrufbaren Dokumente wurden von ihren Urhebern für eine entsprechende Nutzung freigegeben, zum Großteil auch für die unentgeldliche Weiternutzung in Schulen und Hochschulen für Unterrichts- und Forschungszwecke unter einer Creative Commons-Lizenz (vgl. Kapitel IV.3.3.2.3.). Hier fanden sich zum Zeitpunkt des 20. Jahrestags des Mauerfalls

IV.4. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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am 9. November 2009, zugleich der letzte Tag der Sonderausstellung, 4.335 Bilder, aber nur 60 Videos, die entweder Privataufnahmen über Ausflüge ins Grenzgebiet oder nach Ostdeutschland dokumentierten und unter anderem einige filmische Zeitdokumente der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) Konrad Wolf umfassten. Doch auch wenn Fernsehbilder gänzlich fehlten, gelang es dem Museum ansatzweise, einen zeithistorisch ausgerichteten und autobiographisch ausgestalteten Tiefendiskurs über einen internetbasierten Interaktionskanal anzustoßen, der durch die Open Source-Softwarearchitektur der Website offen gehalten wird und zur Kommentierung einzelner Dokumente einlädt. Dabei unterscheidet sich das Projekt von anderen thematisch nicht festgelegten Fotooder Videoportalen wie „Flickr" oder „YouTube" durch seine kuratorische Betreuung vonseiten des Museums sowie durch die Anforderung an die Nutzer, dass bei einer Einreichung von Zeitdokumenten möglichst detaillierte Angaben über sich selbst, den Urheber des historischen Zeugnisses, den Ort und das Datum der Aufzeichnung sowie zusätzliche Angaben über die Inhalte und Umstände der Aufnahme zu machen. Gerade weil das Verstehen und die Interpretation der Darstellung nicht ohne Weiteres möglich ist und den Betrachter möglicherweise sogar ausschließt, weil sich die Zusammenhänge nicht von selbst erschließen, ist die Ermutigung des Besitzers eines solchen Bilddokuments, die konjunktierten Erinnerungen zu artikulieren, eine wichtige und notwendige Maßnahme, um einen konstruktiven Erinnerungsaustausch erst zu ermöglichen. 94 online abrufbaren Foto-Alben im Umfang von einem bis zu 50 Bildern waren zum Ausstellungsfinale verschriftlichte Erinnerungselaborationen beigefügt, in welchen auch zum Ausdruck kam, dass längst nicht alle Geschichten der deutsch-deutschen Wende mit der frohen Fernsehbotschaft von der unbegrenzten Reisefreiheit am Abend des 9. November zusammenhängen wie im Fall einer Schülerclique aus Dresden, die sich gerade auf Klassenfahrt in Ost-Berlin befand und erst am nächsten Morgen unverhofft beim Schlendern über die Straße Unter den Linden durch einen Passanten von der Maueröffnung erfuhr und schnurstracks gen Westen aufbrach, um sich selbst zu vergewissern und sich ein pinkfarbenes Begrüßungsgeld-Kreuz in den Personalausweis stempeln zu lassen (vgl. Eulitz 2009). Von seinem Grundsatz, ausschließlich Dokumente zur Film- und Fernsehgeschichte zu sammeln, rückte das Museum durch sein Wende-Projekt aber nicht ab: Sämtliche Fotos, die keinen direkten Bezug zur Historie der audiovisuellen Massenmedien haben, werden nicht in die Sammlung übernommen. „Wir waren so frei" birgt daher auch das Potenzial, als Pilotprojekt für eine bereits länger geplante Ausstellung über die historischen und aktuellen Fernsehgewohnheiten weltweit zu fungieren, bei der auf ähnliche Weise Fotos und Videos über den konkreten Fernsehvorgang, also die Rezeptionssituationen einzelner Zuschauer zusammengetragen werden sollen einschließlich der (Erinnerungs-) Geschichten dazu: „Das kann dann ein Bild aus Taiwan genauso sein wie ein Bild aus Schleswig-Holstein. Und quer durch die Generationen natürlich", erklärt Programmdirektor Peter Paul Kubitz. So wäre ereignisunabhängig der Sprung geschafft hin zu einer detaillierteren Auseinandersetzung mit Rezeptionsphänomenen und der Frage

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IV. Status Quo und Perspektiven der Fernseherbe-Verwaltung

von Unterschieden und Ähnlichkeiten regionaler, nationaler oder auch globaler, aber demographisch differenzierbarer Fernsehkulturen. Große Pläne trotz ungewisser

Zukunft

Die Deutsche Kinemathek unterhielt bereits vor der Eröffnung der permanenten Fernsehausstellung durch ihre jahrzehntelange Archiv-, Ausbildungs- und Forschungstätigkeit sowie das seit 2000 bestehende Filmmuseum exzellente Kontakte zur audiovisuellen Medienindustrie, hauptsächlich zu den kreativen Film- und Fernsehschaffenden wie Regisseuren, Schauspielern und Produzenten. Mit der Etablierung des Fernsehtreffs auf der „Berlinale" hat das Museum seine Branchenkontakte auch zum Fernsehsektor gestärkt. Das Haus wolle sich in diesem Zuge stärker als zuvor als medienpolitisches Forum profilieren, sagt Peter Paul Kubitz (zitiert nach Kramp 2007: 51). Solange die nötige Unabhängigkeit des Museums sichergestellt sei, halten die Museumsvertreter auch den Ausbau von Kooperationen mit der Fernsehindustrie für ein gewinnbringendes Betätigungsfeld, auch um die Programmveranstalter an das Haus zu binden. Schon in seinen ersten Jahren wurde der Konferenzsaal des Museums von Senderpartnern wie dem RBB als Veranstaltungsort genutzt, um beispielsweise Pressekonferenzen abzuhalten. Den Aufbau exklusiver Business-Programme nach dem Vorbild des Paley Center for Media oder des Newseums stehen jedoch nicht auf dem Plan. Lieber möchte sich die Kinemathek mit ihrer Fernsehabteilung noch stärker als institutioneller Dreh- und Angelpunkt für Fachdiskurse profilieren: Als erster Schritt wurde eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit Hochschulen angestrengt, die, anknüpfend an das schon während der Mediatheksplanungen bekundete Interesse der Berliner Universitäten, von der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit begrüßt wurde: Innerhalb kürzester Zeit mauserte sich das Museum zum beliebten Ort für Symposien und Konferenzen über die Zugänglichkeit von audiovisuellen Archivalien, die Rolle des Fernsehens bei der Studentenrevolte 1968 (vgl. Schwirkmann/Kubitz 2008) oder aber die Funktion des Lachens als speziell televisuelles Kulturphänomen. Ein partnerschaftliches Verhältnis sei essentiell notwendig, um Wissenschaft und Forschung in die Museumsarbeit einzubinden, glaubt Kubitz: „Die Sonderausstellungen selbst sind für Wissenschaftler nur von sehr bedingtem Nutzen, weil sie wahrscheinlich jeweils schon weiter sind als die Sonderausstellungen, die sich ja immer an ein breites Publikum richten. [...] Das Museum ist als Partner wichtig wie zurzeit: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft tagt [...] zur Präsentation und Diskussion ihrer sechsjährigen Arbeit zur Programmgeschichte des DDR-Fernsehens bei uns im Haus. Das ist mehr, als der DFG eine Plattform zur Verfügung zu stellen, das ist eine gemeinsame Veranstaltung" (Peter Paul Kubitz, DK). Unter dem Titel „Aufgewickelt: Deutsches Fernsehen Ost" präsentierten die Teilnehmer des Sonderforschungsprojektes (vgl. Steinmetz/Viehoff 2008) mit Unterstützung des DRAs drei Tage lang unter dem Dach der Kinemathek Analysen, Gespräche und Beispie-

IVA. Museumsfernsehen,

Fernsehmuseen

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le zur Programmgeschichte des DDR-Fernsehens und stellten die Frage, ob und wie das Erbe des DDR-Fernsehens im laufenden Programmbetrieb zur Geltung kommt. Schon während der Planungen zu einer „Deutschen Mediathek" hatte es zahlreiche Interessenbekundungen seitens audiovisueller Medienzentren und medienpädagogischer Fakultäten verschiedener Hochschulen hinsichtlich einer Kooperation gegeben, weil in einer solchen Einrichtung ein „populäres und wirksames Forum für Medienkompetenz" gesehen wurde (Irmscher 1998). Auch die Kinemathek kann das Lehrangebot von Hochschulen, vornehmlich der drei Berliner Universitäten, erweitern. Dies kam beispielsweise zum Teil durch die Veranstaltung von Seminaren in Begleitung von Sonderausstellungen wie „Die Kommissarinnen" oder Vortragsreihen und Diskussionsrunden zum Tragen. Ein besonderes Angebot kann die Einrichtung durch Praxisnähe bereithalten: Durch eine Zusammenarbeit mit den Programmanbietern lassen sich zum Beispiel Workshops veranstalten. Der Ausbau der Bildungsarbeit in die Richtung einer Schnittstelle zwischen Berufsqualifizierung und Industrie war jedoch vorerst nicht vorgesehen, obgleich dies von einigen Wegbereitern der Einrichtung gefordert wird, da die Universitätslehre in Medienbelangen häufig zu praxisfern sei: Mit interdisziplinär angelegten Veranstaltungen könnte die Kinemathek nicht nur als Bindeglied zwischen universitären Fachbereichen fungieren, sondern sich zum innovativen Vorbild für ein Umdenken in der ausdifferenzierten Fächerlandschaft der Hochschulen aufschwingen (vgl. Kramp 2005b: 17). Die Kapazitäten der Fernsehabteilung sind mit nur vier Mitarbeitern indes eng begrenzt, die Personalfrage sei eine „mühselige Geschichte", wie Programmdirektor Kubitz einräumt, was allenfalls einen projektbasierten Ausbau der Museumsangebote wahrscheinlich macht. Auch wenn keine grundlegenden Erweiterungen des konzeptionellen Umfangs vorgesehen sind, werden die Planungen in drei wesentlichen zusätzlichen Angebotsfeldern vorangetrieben: Im Bereich Fernsehen soll die bestehende Publikationsliste an Büchern zu film- und vereinzelt auch fernsehhistorischen Themen um DVDVeröffentlichungen ergänzt werden, unter anderem mit einer 35-teiligen Edition zur Fernsehgeschichte. Des Weiteren soll weiter an Mitteln und Wegen gearbeitet werden, die Reichweite des Museums über das Internet zu erhöhen und auf diese Weise Besucher und Nutzer ohne vorherigen Bezug zum Museum gemeinschaftlich zu engagieren. Schließlich möchte sich die Kinemathek nach Aussage von Projektleiter Peter Schwirkmann als „House of Moving Images" auch stärker der Medienkunst zuwenden und beispielsweise Stipendien ausloben oder die Arbeiten von Videokünstlern ankaufen, um sie in der vorhandenen technischen Infrastruktur zu präsentieren. Auf dieser Ebene sind auch internationale Ausstellungsprojekte denkbar, die in gemeinsamer Anstrengung von Fernsehmuseen dies- und jenseits des Atlantiks realisiert werden könnten. Laut Peter Paul Kubitz besteht vonseiten des Museums schon lange Interesse an einer Zusammenarbeit mit Fernsehmuseen und anderen televisuellen Gedächtnisorganisationen im europäischen Ausland (z.B. Polen und Großbritannien) und Nordamerika. Wie groß das Interesse im Gegenzug auch bei den potenziellen Partnerinstitutionen ist, sich mit der Kinemathek und ihrer neuen Fernsehexpertise zu verbünden, lässt sich am Vorgehen des

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IV. Status Quo und Perspektiven der

Fernseherbe-Verwaltung

französischen Institut National de l'Audiovisuel ablesen, das innerhalb weniger Monate nach der Neuaufstellung der Kinemathek als Museum für Film und Fernsehen den Kontakt nach Berlin suchte, um ein Kooperationsabkommen zu vereinbaren: „Wir hatten eröffnet, und die französische Botschaft kam vermittelnd auf mich zu. Es gab nun für das INA erstmals eine zentrale Adresse in Deutschland zum Thema Fernsehen - zudem in der Hauptstadt. Sozusagen von der äußeren Form nach war mit der Realisierung des Fernsehmuseums für die französische Seite etwas entstanden, was mit ihnen kompatibel zusammensteckbar war" (Peter Paul Kubitz, DK). Nichtsdestotrotz wird die Fernsehgeschichte in der Obhut der Deutschen Kinemathek vermutlich weiterhin einer unsicheren Zukunft harren. Mit ihrem künstlerisch-ambitionierten wie publikumsaffinen Ausstellungsangebot auf kleinem Raum hat das Kuratorium das Stigma einer Minimallösung vorerst widerlegt. Weiterhin offen bleibt, ob sich das Modell einer integrierten Abteilungslösung auf Basis einer externen Sonderfinanzierung als dauerhaft tragfähig erweist. Mit seiner Strategie der kleinen Schritte und der unterschiedlichen Akzentuierung seiner Projekte in Richtung touristischer, demographischer, wissenschaftlicher und branchenspezifischer Zielgruppen wird das Erbe der „Deutschen Mediathek" zwar weiterhin mit Problemen behaftet sein, erscheint aber mit Blick auf die Besucherakzeptanz als durchaus zukunftsfähig: Die Musealisierung des Fernsehens eröffnete der Deutschen Kinemathek die der Einrichtung zuvor weitgehend ferngebliebene Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen. Mehr als 41.000 Besucher, zum Großteil Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren, verzeichnete die Sonderausstellung „Auf heißen Spuren", die sich überwiegend positiv in Bezug auf ihr Ausstellungserleben und die Verständlichkeit äußerten (vgl. Waz 2008). Die Deutsche Kinemathek bewertete die strategische Entscheidung einer Einheitslösung von Film- und Fernsehmuseum als unzweifelhaften Erfolg (Kahlefeld 2008), was die Grundlage für die weitere Ausbildung der transformierten institutionellen Identität bildet und erst aussichtsreiche Voraussetzungen schafft, die Vision eines untrennbaren Organisationskonstrukts zur Film- und Fernsehgeschichte nicht nur inhaltlich umzusetzen, sondern dies auch im Förderplan Niederschlag finden zu lassen. Erst dann, so ließe sich mit dem ehemaligen Mediatheksplaner und Fernsehspielleiter des WDR Martin Wiebel metaphorisieren, kann aus dieser „kleinen Blume" ein „wunderschöner botanischer Garten" werden (zitiert nach Kramp 2005a: 105).

V. Bewertende Zusammenfassung

Der medienkulturwissenschaftliche Ansatz hat sich für die vorliegende Untersuchung als geeigneter theoretischer Rahmen erwiesen, um die unterschiedlichen disziplinären Perspektiven der Gedächtnisforschung auf die kulturellen Dimensionen des Fernsehens zu richten und darüber hinausgehend die diversen Problemebenen der Fernseherbe-Verwaltung als Teilbereich der Kulturerbe-Verwaltung am Beispiel von Fernseharchiven und Fernsehmuseen zu analysieren und zu diskutieren. Das konstruktivistische Verständnis von Erinnerung (und Vergessen) machte eine auf das Fernsehen bezogene Kopplung kognitionspsychologischer Gedächtnisfragen mit gesellschaftlichen wie sozio-kulturellen Einflüssen und Phänomenen möglich und unterstrich die verantwortliche Stellung natürlicher und juristischer Personen bzw. Akteure, die mit ihren je individuellen oder institutionellen Befindlichkeiten, Interessen und ihrer Leistungskraft an der dynamischen Gestaltung gesellschaftlicher Erinnerungsarbeit mitwirken. Eine solche Gedächtnisdynamik kann aber erst entstehen, wenn es eine öffentlich zugängliche Materialbasis sowie Funktionalisierungsstrategien gibt, mit deren Hilfe Anschlüsse an televisuelle Vergangenheitsbilder geknüpft und Diskursräume geöffnet werden, an denen sich wiederum möglichst viele Gesellschaftsgruppen mit ihren jeweiligen professionellen oder privat-motivierten Beweggründen beteiligen können. Dass hierbei auf beiden Seiten des Atlantiks erheblicher Nachholbedarf besteht, ist eine wesentliche Erkenntnis der empirischen Analyse der Fernseherbe-Verwaltung, die dazu berufen ist, die normativen Forderungen nach praktischen Lehren aus der Gedächtnisrelevanz des Fernsehens einzulösen.

1.

Transatlantische Parallelen: Von übergreifenden Trends und Problemherden

Der Medienwandel zeitigt immer gravierendere Umwälzungen: Wahrend in Deutschland wie in Nordamerika bereits gemutmaßt wird, ob das Fernsehen in seiner klassischen Distributions- und Empfangsform eine Zukunft hat oder tatsächlich vom Meta-Medium Internet mit seinen digitalen Abrufprinzipien und Interaktionspotenzialen assimiliert

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V. Bewertende

Zusammenfassung

werden könnte, macht sich das audiovisuelle Leitmedium gerade erst daran, dorthin Einzug zu halten, wo es nach der ungeschriebenen Hauptregel der Kulturerbe-Verwaltung schon seit Anbeginn seines Siegeszugs hätte hingehören müssen: in den Kanon all jener Kulturschätze, die ihre Gedächtnisrelevanz nicht primär durch ihre künstlerische Güte, sondern allem voran durch ihre simple Existenz und Verwurzelung in der gesellschaftskulturellen und sozialsystemischen Grundordnung erhalten. Roger Silverstone sieht das Medium und die Gesellschaft(en), die es sich geschaffen haben, vor einer Weggabelung: In den durchmediatisierten Lebenswelten und Handlungsräumen der Gegenwart - in der „mediapolis [...] both at national and global levels, and where the materiality of the world is constructed through (principally) electronically communicated public speech and action" (Silverstone 2007, 31) - löse sich das Publikum in seinen autonomen Mediennutzungspräferenzen immer mehr aus der Abhängigkeit der vormals allmächtigen televisuellen Leitagentur, ohne aber auf die Inhalte, die nur mittels der institutionellen Leistungskraft der Fernsehveranstalter generiert werden können, weder verzichten zu wollen noch zu können. Silverstones Ausführungen können in der Weise verstanden werden, dass es flankierende Anstrengungen kultureller Ressourcen brauche, um gesamtgesellschaftlich das Rüstzeug zu implementieren, durch welches das Fernsehen als Instrument der gesellschaftlichen Selbstverständigung und des sozialen Friedens für jedermann funktionalisierbar bleibt. Nur durch die Aktivierung von Teilnahmebereitschaft innerhalb der Zivilgesellschaft könne eine mediatisierte Gesellschaft sich in der Summe ihrer individuellen Bezüge zur Vergangenheit als Fernsehvergangenheit ihrer selbst vergewissern und sich auf ein gemeinsam geteiltes (Wunsch-) Bild von der Zukunft verständigen, wobei die (Fernseh-) Bilder der Vergangenheit in ihrer Vielzahl und in ihren vielfältigen Inhalten eben dieser plurivokalen Verständigung auf einen gemeinsamen zukunftstauglichen Konsens für das Zusammenleben ein Fundament bereiten (vgl. Silverstone 2007, 97-98). Laut Silverstone geht es in der „Mediapolis" also um Perspektiven und weniger um die Schaffung verbindlicher Lesarten des Vergangenen. Der hierbei zum Tragen kommende konstruktive Wert der Funktionalisierung des Fernsehfundus bei der Engagierung weiter Publikumskreise und bei der Stimulierung von Zuschauer- bzw. Nutzerbeteiligung unterstreicht die erforderliche Nachhaltigkeit der Versuche öffentlicher Kulturinstitutionen, sich unabhängig von kommerziellen Interessen nicht nur um die Sammlung, Bewahrung und Zugänglichkeit von Fernsehüberlieferungen zu kümmern, sondern auch aktiv die Bildungs- und Erinnerungsarbeit mit dem und über das Fernsehen voranzutreiben und sich einzumischen in die Diskussion um die weitere Fernsehentwicklung sowie ihre konkrete Umsetzung. Die Frage nach der Historisierbarkeit und den Funktionalisierungsoptionen des Fernseherbes ist demnach auch eine hochpolitische: Wer die Verantwortung trägt für seine dauerhafte Sicherung, wessen Aufgabe es ist, Bildungsanliegen mit Überlieferungsmaterial zu unterfüttern, wem es obliegt, die Erinnerung an die Fernsehgeschichte und jene an zeitgeschichtliche Momente, die über das Fernsehen transportiert und geprägt wurden, wachzuhalten und zu perspektivieren, ist auch nach Jahrzehnten teils kontro-

V.l. Von übergreifenden Trends und Problemherden

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versen Ringens zwischen Fernsehveranstaltern und öffentlichen Kultureinrichtungen in Nordamerika und Deutschland nicht eindeutig geklärt. Während die Sender die Hoheit über ihre bzw. die von ihnen verwaltete Überlieferungsbildung verteidigen, fordert die öffentliche Fernseherbe-Verwaltung mehr Freiheit, das heißt größere Handlungsspielräume bei ihren gemeinnützig ausgerichteten Aktivitäten. So bipolar, uneinheitlich und an wichtigen Schnittstellen verunsichert, wie sich die Fernseherbe-Verwaltung trotz des teils jahrzehntelangen Miteinanders, aber teils auch Gegeneinanders von Verwaltungsanstrengungen seitens der Fernsehsender auf der einen und öffentlichen Gedächtnisorganisationen auf der anderen Seite präsentiert, fehlt aus gedächtnistheoretischer Perspektive (noch) eben diese erforderliche Grundlage für eine gemeinsame demokratische Gestaltung der Zukunft in Rückbezug auf das televisuell kommunizierte oder erst televisuell kreierte Erbe an kulturellen Symboliken sowie individuellen und kollektiven Erfahrungsbeständen, dessen sich die Gesellschaftsakteure bis hin zur Ebene des einzelnen Bürgers keineswegs erschöpfend vergewissern können, weil ihnen die konkreten programmlichen und materiellen Bezüge in längst nicht ausreichender Weise zur Verfügung stehen. Daher lässt sich durchaus von einem schwerwiegenden „Gedächtnisausfall" (Stuck 1998) sprechen, wenn die gemeinnützigen Initiativen bisweilen vor Abwehrhaltung oder sogar Gleichmut, Wirtschaftsinteressen und/oder einer unklaren Rechtslage ihre ohnehin stumpfen Waffen im Dienste kultureller Zwecke strecken müssen. Es macht gerade deshalb einen solch wichtigen Unterschied, wer über den Umfang und die Art und Weise der Sammlung, Sicherung und Nutzung von Fernsehüberlieferungen entscheidet, weil dies immanent mit der Entscheidung zusammenhängt, in welchen Kontexten sie wofür eingesetzt werden. Schließlich ist Fernsehen weit mehr als ein Lieferant von Hinweisreizen: Oftmals ist es sogar die einzige Grundlage gesellschaftlicher Erinnerungsarbeit, wenn diese über Stichwortgaben für autobiographische oder speziell nostalgisch verklärte Erinnerungen hinaus als generationenübergreifende identitätskonkrete, veranschaulichende und inhaltsreiche Heranführung an eine Vergangenheit verstanden wird, die mit den Lebenswegen weiter Bevölkerungsteile Schnittstellen aufweist. Im Gegensatz zu den Fernsehveranstaltern, die ihren Erfolg hauptsächlich mit quantitativen Erhebungsmethoden ermitteln, stehen kulturelle Gedächtnisorganisationen mit gemeinnützigem Charakter vor dem Problem, ohne endarchivische Kompetenz in einem ersten Schritt Überlieferungsmaterial zu akquirieren und losgelöst von den Imperativen der Sendeabwicklung Vermittlungs- und Attraktionsalternativen für die Bildungs- und Erinnerungsarbeit zu entwickeln. Sie müssen Vorlieben und Abneigungen, aber auch Vorwissen und Unwissenheit ihrer (potenziellen) Nutzer ermitteln und sie bestmöglich zu befriedigen suchen, ohne sich den auf Massenanreize zu entwickelnden fixierten Logiken des Fernsehens zu bedienen, sondern eigene, Motiven der kulturellen Bildung folgende Strategien finden. Verlässliche Strukturen und Regeln sind für ein solches Vorhaben oder vielmehr für die Erfüllung eines solchen gesellschaftlichen Auftrags unverzichtbar. Dass diese Strukturen erst rudimentär und Regeln nur unzureichend durch die Anstrengun-

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V^ Bewertende

Zusammenfassung

gen der betroffenen Organisationen selbst implementiert werden konnten, spricht nicht gegen die aussichtsreiche Realisierung möglichst dauerhaft gültiger Voraussetzungen für die öffentliche Fernseherbe-Verwaltung. Auch sind genügend Potenziale für eine lebendige und kraftvolle Funktionalisierung des Fernsehens und seiner Hervorbringungen für die kulturelle Erinnerungsarbeit vorhanden, nebst den übrigen hochgeschätzten und rege genutzten Gedächtnismedien wie u.v.a. der Literatur, der Fotografie oder auch dem Film, trotz einer dem Fernsehen ähnlichen Überlieferungsproblematik. Bei der eingehenden Untersuchung der Fernseherbe-Verwaltung konnten einige grundlegende Wandlungstendenzen identifiziert werden, welche gleichermaßen Chancen und Gefahren für die öffentliche Fernseherbe-Verwaltung bergen und die strategische Ausrichtung insbesondere von Fernsehmuseen berühren: - Beinah schon traditionell provoziert der Programmbetrieb der Fernsehveranstalter, dessen inhaltliche Qualität und die zugrundeliegenden Beweggründe der Verantwortlichen immer wieder in Zweifel gezogen wurden, Kritik und Polemiken. Daraus erwuchs eine allgemeine Stimmung des latenten Misstrauens bezüglich der Fähigkeit der Fernsehbranche zur aufrichtigen Selbstkritik im Gegensatz zum opportunistischen Streben nach Quotensteigerung. Im Gegensatz dazu ist es der hartnäckigen Öffentlichkeitsarbeit und des nicht minder willensstarken Durchhaltevermögens der untersuchten Fernsehmuseen geschuldet, dass das Fernsehen langsam als kulturhistorisch nicht nur relevantes, sondern auch wertgeschätztes Medium im öffentlichen Bewusstsein eine Verankerung erfährt. Doch die Einflussbereiche der betreffenden Institutionen sind schon geographisch begrenzt und beschränken sich größtenteils auf Publika aus jenen Medienmetropolen, welche die Museen beherbergen. Nichtsdestotrotz kann an den Gründungen und Gründungsinitiativen seit den 1970er und verstärkt seit den 80er Jahren bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts abgelesen werden, wie stark ganz offensichtlich kulturellen Funktionsträgern, aber auch (ehemals) führenden Fernsehakteuren an der musealen Denkmalsetzung des Fernsehens im Hinblick auf die Errungenschaften einzelner Personen oder des Mediums insgesamt gelegen ist. So wurde die Eröffnung der Fernsehabteilung und Neuformierung der Deutschen Kinemathek als Museum für Film und Fernsehen von einem breiten Presseecho und viel positiver Resonanz seitens ehemaliger Fernsehakteure begleitet, allen voran Vicco von Bülow alias Loriot, der als Festredner die Erweiterung der Kinemathek um das Medium Fernsehen mit spitzer Zunge kommentierte („Das Fernsehen hat es geschafft, die Familien von dem Schrecken der selbstständigen Freizeitgestaltung zu befreien", zitiert nach Schönherr 2006), um knapp zwei Jahre später eine eigene, außerordentlich erfolgreiche Sonderausstellung über sein Fernsehwirken gewidmet zu bekommen. Die wenn auch nur zarte Museumsblüte in Nordamerika und Deutschland wurde und wird flankiert von einem Aufleben eines allgemeinen Archivbewusstseins hinsichtlich der Historizität des Fernsehens: Dieser Blick auf das Fernsehen als kulturell wertvoller Inhaltsproduzent findet unter anderem seinen Ausdruck in den teils hohen Besucherzahlen von Sonderausstellungen über die Fernsehgeschichte, aber auch in den sich nach und nach

V.l. Von übergreifenden Trends und Problemherden

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ausbildenden Selbstversorgungsstrukturen für Inhalte und Informationen aus der und über die Fernsehgeschichte im Internet. - Das gewachsene Interesse für fernsehhistorische Belange hat die Gegensätzlichkeit der Interessen von kommerziellen und gemeinnützig operierenden Akteuren umso deutlicher gemacht. Wird der kulturhistorische und erinnerungskulturelle Wert des Fernsehens und seiner Überlieferungen von öffentlichen Gedächtnisorganisationen als Rechtfertigung für den möglichst kostengünstigen, wenn nicht kostenlosen Einsatz für kulturelle Zwecke wie für die Bildungs- und Erinnerungsarbeit benutzt, hat eben dieser innerhalb der Fernsehindustrie zu gewachsenen Begehrlichkeiten geführt, welche die Archivbestände als Wirtschaftsgut betrachten. Aufgrund der pathologischen Abhängigkeit der öffentlichen Fernseherbe-Verwaltung von der Sendewirtschaft, zumindest was die Versorgung mit älteren Fernsehüberlieferungen aus den Magazinen der Senderarchive anbelangt, besteht die Gefahr einer Rückwärtsbewegung, die zum einen in einer Zuspitzung der Rechtslage Ausdruck finden könnte, was die ohnehin schon tiefgreifende Verunsicherung in öffentlichen Gedächtnisorganisationen verstärken würde, oder zum anderen in Kompensationsstrategien hin zu divergierenden inhaltlichen Schwerpunkten wie zum Beispiel den Neuen Medien münden könnte, die wiederum eine Abkehr vom Fernsehen und seiner Geschichte als Kernthema bedeuten würde. Eine Folge wäre die fortschreitende Konfektionierung des televisuellen Archivwesens nach den Bedürfnissen der Sendeabwicklung. Schon jetzt haben sich die öffentlichen, senderunabhängigen Verwalter des Fernseherbes damit abgefunden, dass ihr Bewahrungsgegenstand in seiner funktionalisierbaren Überlieferungslage bruchstückhaft und durch fehlende (Programm-/Objekt-/Dokumenten-) Kontexte kurzweilig und nur eingeschränkt aussagekräftig bleiben wird. - So sehr die Bewahrungsanstrengungen und Zugangsmöglichkeiten von Marktkriterien bestimmt werden, auch wenn diese durch neue Prinzipien wie der Long Tail-Theorie zu einer verhältnismäßig breiten, aber immer nur temporär begrenzten Distribution von historischem Programmmaterial geführt haben, verteidigten die Fernsehveranstalter ihre Hegemonie über die Selektion und Nutzung des Fernseherbes. Die primären Zugangskanäle der allgemeinen Bevölkerung zur Fernsehgeschichte sind und bleiben die Programmangebote der Sender und deren Wiederholungsanteile sowie kommerzielle Publikationen wie zum Beispiel DVDs oder Abrufangebote im Internet. Senderarchive werden nach den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung auf Dauer keinen breiten Zugang für die breite Allgemeinheit anbieten (können). Zudem wird sich über Bestandspolitiken, Verwaltungsmodi und Nutzungsmöglichkeiten in den Senderunternehmen, mit teilweiser Ausnahme einiger weniger Programmveranstalter, gegenüber der Außenwelt ausgeschwiegen. Die Folge einer solchen Verschlusspolitik und Geheimniskrämerei sind wachsender Defätismus und Resignation in der gemeinnützigen Fernseherbe-Verwaltung. Fernsehmuseen und andere Sammeleinrichtungen können in ihrer Mehrzahl ebenfalls nur sehr eingeschränkt durch rechtliche Restriktionen, ihre örtliche Gebundenheit, uneinheitliche Selektionsschwerpunkte und fehlende

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V. Bewertende

Zusammenfassung

Ressourcen Zugang zu Fernsehüberlieferungen in der gattungsspezifischen Vielfalt bieten. Dennoch werden Forderungen nach einer einflussreicheren Scharnierstellung von öffentlichen Archiv- oder Sammelstellen lauter, die das Mandat einer finalen Selektionsinstanz für von Senderarchiven aussortierte Bestände wahrnehmen könnten. Eine Bereitschaft seitens der Fernsehwirtschaft, sich in gebotener Kontinuität zu einer verstärkten Wahrnehmung oder Unterstützung kultureller Zwecke zu verpflichten, ist nicht erkennbar - auch in Bezug auf eine gemeinsame Übernahme von finanzieller, konzeptioneller oder administrativer Verantwortung für eine unabhängige gemeinnützige Archiv- oder Museumseinrichtung. - In den Reihen der Fernsehmuseen in den USA, Kanada und Deutschland ist ein nachdrücklicher Wille nach Veränderung festzustellen, der am deutlichsten an Reorganisationsbemühungen und inhaltlichen Rekonfigurationen abzulesen ist. Fünf der insgesamt acht untersuchten Museen befinden sich in einem solchen Wandlungsprozess oder haben ihn gerade erst durchlaufen. Das Paley Center for Media in New York, das Museum of Broadcast Communications in Chicago, das American Museum of the Moving Image in Queens, das Newseum in Washington, D.C. und das MZTV Museum in Toronto haben entweder ehrgeizige (Um-) Bauvorhaben auf den Weg gebracht oder/ und die konzeptionelle Aufstellung ihrer Publikumsangebote überdacht. Hinzugerechnet werden muss auch die Stiftung Deutsche Kinemathek, die mit der Integration der Idee einer „Deutschen Mediathek" in das zuvor maßgeblich auf die Filmgeschichte ausgerichtete Institutionsprofil und mit ihrer Umsetzung in Form einer Fernsehabteilung eine Sonderstellung im internationalen Feld der fernsehbezogenen Gedächtnisorganisationen einnimmt. Die Expertenbefragung ergab zwar eine allgemeine Unsicherheit in der Frage, welche Konsequenzen der Medienwandel konkret auf die Museumsarbeit haben werde oder sollte, doch auch eine (größtenteils noch unspezifische) Gewissheit, dass Fernsehmuseen dem Wandel zumindest in seinen grundlegenden Transformationsprozessen folgen müssten. Entsprechend haben die genannten Einrichtungen ihren Themenfokus mal stärker, mal vorsichtiger auf das Internet und digitale Medienformen und Medienphänomene erweitert und tendieren zu einer immer stärker gegenwartsund zukunftsbezogenen Perspektive auf das audiovisuelle Medienschaffen. Diese Anpassung der institutionellen Identität hin zu einer Plattform, auch einem Moderator bei der Vorstellung und Diskussion aktueller Prozesse wie zum Beispiel innovativer Geschäftsmodelle und kreativer Inhaltsformate hat die Forumsfunktion der Fernsehmuseen enorm gestärkt. Dass dieser Aspekt die übrigen musealen Aufgabenbereiche an den Rand drängen und hierdurch die Nähe zur Sendewirtschaft für die Museen wichtiger werden könnte als ihr öffentlicher Auftrag, wurde kritisch problematisiert. Festgestellt werden kann jedenfalls eine große Unruhe im Sinne eines einerseits erheblichen konzeptionellen Innovationsbedarfs, wie er von einzelnen Museumsvertretern vehement wie selbstkritisch eingefordert wird (z.B. Paley Center for Media) und sich unter anderem schon in den pompös auftretenden und vor elektronischen Medieninstallationen nur so strotzenden Neubauten bzw. entsprechenden Plänen (Newse-

V.l. Von übergreifenden Trends und Problemherden

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um, Museum of Broadcast Communications) konkret zeigt, andererseits aber auch in Form akuter Existenzsorgen angesichts finanzieller Nöte, wachsenden wirtschaftlichen Drucks und drohender Einflussnahmen von außen wie beispielsweise der Fernsehindustrie, die Interessen hat, die museale Reputation für Selbstdarstellungsstrategien zu instrumentalisieren. Die Dramatik, die sich aus den diskutierten Problemherden für die Situation der Fernseherbe-Verwaltung ergibt, scheint sich aus Sicht der Betroffenen trotz vielversprechendem Innovationselan also weiter zu verschärfen. Hier sind nicht allein Kreativität und Standhaftigkeit auf Seiten der gemeinnützigen Kulturarbeit gefordert, sondern auch und zuallernächst politische Mandatsträger und entscheidungsbefugte Akteure der Fernsehwirtschaft. In den nachfolgend aufgeführten Punkten werden die in den Kapiteln IV.2. und IV.3. detailliert diskutierten Problembereiche noch einmal zusammengefasst, um die grundsätzlichen Missstände der Fernseherbe-Verwaltung insgesamt zu klären. Verweise zu den ausführlicheren Schlussfolgerungen sind jeweils angefügt: - Medien- und kulturpolitische, wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen, die auf die Anforderungen der öffentlichen Fernseherbe-Verwaltung eingehen und sie auf eine verbindliche wie verlässliche Grundlage stellen, müssen erst noch geschaffen werden. Wenn sich Leuchtturminstitutionen in diesem Feld vor die Entscheidung gestellt sehen, rechtliche und finanzielle Risiken einzugehen, um ihren Auftrag auf angemessene Weise zu erfüllen, zeugt dies von einem erheblichen Korrekturbedarf von legislativen und administrativen Fehlentwicklungen bzw. unzureichender Wahrnehmung des Regulationserfordernisse im Sinne kultureller Zwecke (vgl. Kapitel IV.2.7.). - Die Sammlung von Fernsehüberlieferungen folgte bisher in den seltensten Fällen einer klaren Leitlinie. Die teils Automatismen und teils Zufällen unterliegende Akquisepraxis öffentlicher Sammeleinrichtungen entstand aus einem Mangel an Optionen: Durch die erfolgreich verteidigte endarchivische Kompetenz der Sender waren und sind externe Sammlungsanstrengungen in allen Überlieferungsbereichen auf die Selektionsprioritäten der Senderarchive angewiesen (mit Ausnahme von dem Recht oder separat getroffenen Vereinbarungen, bestimmte Teile des laufenden Programmbetrieb selbsttätig mitzuschneiden und für gemeinnützige Bildungszwecke zu nutzen) - und diese fußen unter den produktiven Imperativen der Fernsehunternehmen in erster Linie auf den Regeln und der Nachfrage der Sendeabwicklung (vgl. Kapitel IV.3.1.5.). - Die Bewahrungsproblematik von Fernsehüberlieferungen hat nur wenig von ihrer Brisanz eingebüßt: Standen früher groß angelegte oder willkürliche Löschungen, die zur Bereinigung der Archivbestände oder zur Bandbeschaffung vorgenommen wurden und von einem fehlenden Bewusstsein für die kulturelle (und geschäftliche) Bedeutung des Fernseherbes zeugten, einer verantwortungsbewussten Verwaltung der Überlieferungslage entgegen, sind es heute eher der pragmatische Umgang mit teils unikalen Archivstücken im Sendezusammenhang und die grassierende Ratlosigkeit auf der Suche nach vermeintlich verlässlichen Alternativen zur kostenintensiven Langzeitsicherung

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V. Bewertende

Zusammenfassung

des historischen Programmmaterials. Besorgniserregend ist zudem die allenfalls nur rudimentäre Bereitschaft, zwischen senderinternen und senderunabhängigen Bewahrungsinstanzen an institutionsübergreifenden Strategien zu arbeiten, um sich über die Schaffung verlässlicher Standards hinaus auch innerhalb der Debatte um die Sicherung des Kulturerbes insgesamt mehr Gehör zu verschaffen (vgl. Kapitel IV.3.2.5.). - Normative Kriterien spielen bei der Verfügbarkeit von Fernsehüberlieferungen nur eine randständige Rolle. Im Vordergrund stehen wirtschaftliche Interessen; kulturelle Zwecke werden günstigenfalls nebenbei bedient. Zugang zum Fernseherbe wird noch immer in erster Linie auf Anfrage gewährt, anstatt als kulturell validierte Selbstverständlichkeit begriffen zu werden. Funktionaler Bedarf wird durch die Produktionsorientierung der Senderarchive und ihre organisationelle Einbindung in ein Fernsehunternehmen anhand einer klaren Hierarchie bewertet, wobei strategische Ziele und operative Zwänge zu einer Vernachlässigung externer Anfragen führen, seien es wissenschaftliche Forschungsgesuche, Interesse privater Natur oder Bedarf seitens öffentlicher Gedächtnisorganisationen. Auf sämtlichen Zugangsebenen von der Auffindbarkeit des Materials über die Sichtung bis hin zur Reproduktion und Vorführung wähnt sich die gemeinnützige Kulturarbeit teils vor unüberwindbaren Barrikaden. Die Visionen von einer breiteren und tieferen, unter Beteiligung einer breiteren Öffentlichkeit auch demokratischeren Indexierung des Fernseherbes mögen reichhaltig sein. Eine tatsächliche Umsetzung solcher Kooperations- und Partizipationsmodelle im Web 2.0 ist in Anbetracht der elementaren Zugangsbeschränkungen jedoch mehr als fraglich. Nichtsdestotrotz können die öffentlichen Einrichtungen hier eventuell Akzente setzen und zumindest das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Funktionalisierung des Fernseherbes erst mit einem ungehinderten Zugang zu den Zeugnissen der Fernsehgeschichte beginnen kann (vgl. Kapitel IV.3.3.3.). Dadurch dass die Historisierbarkeit des Fernsehens allein schon durch die schiere Masse an zu bewältigendem Material (Programminhalte, aber auch Realien und Kontextdokumente) öffentliche Einrichtungen vor die prinzipielle Herausforderung stellt, in größtmöglicher Autonomie Entscheidungen über die Selektion und Funktionalisierung von Teilen des komplexen Fernsehfundus zu treffen, um die von ihr verfolgten kulturellen Zwecke mit der gebührenden Integrität einer orientierungsgebenden Leitagentur zu bedienen, wirken sich die strukturellen Barrieren und interessensgeleiteten Stolpersteine der Fernsehbranche umso nachteiliger aus. Zwar ähneln sich die Problemstränge der Fernseherbe-Verwaltung in Nordamerika und Deutschland in wesentlichen Kernpunkten, doch gibt es auf beiden Seiten insbesondere hinsichtlich der unterschiedlichen Profile und in diesem Zusammenhang gesammelten Erfahrungen der Fernsehmuseen signifikante Lernpotenziale, die eigene Rolle als maßgeblich sammlungsbezogene Einrichtung zu überdenken und sich intensiver um expertisengerecht zugeschnittene Interpretationsleistungen und innovative Vermittlungskonzepte verdient zu machen.

V.2. Handlungsempfehlungen

2.

577

Das Fernsehmuseum der Zukunft: Handlungsempfehlungen für Gedächtnisorganisationen mit unsicheren Perspektiven

Die Formulierung von Handlungsempfehlungen ist ein schwieriges, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen, wenn damit die Intention einhergeht, Organisationen eindeutige Schritte anzuraten, die eine Erfolgsgarantie versprechen, zumal in einem institutionellen Sektor, der von unzureichendem Rückhalt in Politik und Wirtschaft ebenso gekennzeichnet ist wie von konzeptionellen Unsicherheiten bei der konkreten Funktionalisierung von Überlieferungen aus der Fernsehgeschichte, die eine gelungene Adressierung unterschiedlicher Zielgruppen erschweren. Die Variationsbreite fernsehmusealen Engagements hat vor Augen geführt, wie vielseitig die Ansätze sind, die in den untersuchten Einrichtungen zur Anwendung kommen, welche allgemeinen Versäumnisse aber auch bei den meisten Fernsehmuseen festzustellen sind. Die nachfolgenden Anmerkungen zielen daher nicht auf die Präsentation fest umrissener Handlungsschritte, sondern sie sprechen vielmehr Grundsätzliches an, um in Rückbezug auf die analytischen Ergebnisse Verbesserungspotenziale bei der Ausrichtung der Arbeit von Fernsehmuseen aufzuzeigen. Enorme Unterschiede zeigen sich in den Schwerpunktsetzungen der einzelnen Einrichtungen: Jedem Haus gelang es, ein eigenes positiv besetztes Markenzeichen zu entwickeln, das im Museumsalltag jedoch nicht immer mit der nötigen Konsequenz eingehalten werden kann. Die Expertisen der untersuchten Fernsehmuseen reichen von Sammlungsstärken über lokale Bezüge und filmhistorische Erfahrung bis hin zu technologischem Fachwissen und interaktivem Erlebnisreichtum. Einzeln betrachtet lassen sie allesamt aber, wie gezeigt wurde, jeweils wichtige Aspekte fernsehmusealer Arbeit unberücksichtigt. Um nur jeweils einen offenkundigen wunden Punkt zu nennen: Das Paley Center for Media verlor durch seine archivische Zielrichtung den Anschluss an die sich wandelnden Bedürfnisse der Museumsbesucher; das Museum of Broadcast Communications hadert mit finanziellen Schwierigkeiten und ernsten Existenzsorgen und konnte sein Ausstellungskonzept (bisher) nicht wie geplant umsetzen; das American Museum of the Moving Image blendet fast vollständig die audiovisuellen Dimensionen der Fernsehgeschichte aus und vertraut auf ein altmodisches Ausstellungskonzept; das Newseum macht sich des Vorwurfs schuldig, sein Ausstellungsthema zu verherrlichen; das MZTV Museum limitiert sich weitgehend auf die Designgeschichte von Fernsehapparaten; das CBC Museum ist ein verlängerter Arm der Öffentlichkeitsarbeit des Senders; das Projekt Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden kann ohne Aussicht auf die Realisierung der Museumspläne nicht viel mehr als Lagerführungen anbieten; und die Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen bräuchte mehr Platz und Geld, um sich mit ihrer Fernsehabteilung noch stärker von einer pragmatischen Notlösung hin zu einem Impulsgeber zu entwickeln.

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V. Bewertende

Zusammenfassung

- Kaum ein Fernsehmuseum im Sample hat keine finanziellen Schwierigkeiten: Selbst etablierte Institutionen wie das Paley Center for Media oder das Museum of Broadcast Communications klagen über beschränkte Re-Finanzierungsmöglichkeiten und eine angespannte Fördersituation. Die Bewältigung solch administrativer Probleme kann durch eine engere internationale Zusammenarbeit eingeleitet werden, indem auf gemeinsamer Projektbasis die kulturelle Verständigung oder auch der wissenschaftliche Austausch gefördert wird und entsprechende Mittel eingeworben werden können. Fernsehmuseen würden damit ihre Scharnierstellung zwischen Verwaltern und Nutzern des Fernseherbes um die wichtige international-komparative Dimension ergänzen und festigen. Noch sind dergestaltige Kooperationen mehr Wunsch als Wirklichkeit. Vorstellen können es sich fast sämtliche befragte Museumsvertreter, vor allem auch aus Gründen einer inhaltlichen Bereicherung des eigenen Angebots. Je mehr sich die Einrichtungen in Deutschland und Nordamerika mit ihren jeweiligen Kontaktnetzwerken aufeinander zu bewegen, kann daraus weitaus mehr entstehen als Wanderausstellungen und Programmaustausch: Die Idee eines transatlantischen Museumsbündnisses, das freilich nicht auf deutsche und nordamerikanische Einrichtungen beschränkt sein muss, aber mit bilateralen Absprachen seinen Anfang nehmen kann, komplementiert die jeweils regionalen und nationalen Anstrengungen um eine Statusverbesserung von Fernsehmuseen an der kulturellen Peripherie - und diese sind weiterhin notwendig, damit neben der allgemeinen Öffentlichkeit auch Politik und Wirtschaft von der bereichernden Leistungsfähigkeit fernsehmusealer Kulturarbeit überzeugt werden. Eine Zusammenarbeit auch auf nationaler Ebene verspricht mehr als die Summe von Einzelanstrengungen: Da keine Lobby existiert, jedoch das Beispiel des Vanderbilt Television News Archive offenbart hat, dass die Aktivierung politischer Interessen für die Probleme dieses unterberücksichtigten Feldes möglich ist und sogar hilfreich dabei sein kann, wegweisende Gesetze anzustoßen und damit die bisher so unvorteilhaften, weil hinderlichen Rahmenbedingungen den Bedürfnissen gemeinnütziger Gedächtnisorganisationen anzupassen, ist die Verständigung zwischen Fernsehmuseen ein erster wichtiger Schritt, um die Handlungsspielräume der öffentlichen Fernseherbe-Verwaltung insgesamt zu erweitern. - Die inhaltlichen Unterschiede bei der Thematisierung des Fernsehens in den jeweiligen musealen Kontexten sind so drastisch nicht. Dennoch sind die jeweiligen Ansätze zentral für die voneinander abweichenden Museumskonzepte. Zwar konzentrieren sich nur wenige der untersuchten Einrichtungen ausschließlich auf das Fernsehen wie das MZTV Museum oder das Projekt Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden. Doch die übrigen hier ebenfalls als Fernsehmuseen klassifizierte Organisationen haben sich darüber hinaus auch den,Nachbarmedien des Fernsehens zugewandet wie dem Radio (Paley Center for Media, Museum of Broadcast Communications, CBC Museum) oder dem Film und audiovisuellen Medien insgesamt (American Museum of the Moving Image, Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen). Das Newseum ist das einzige Museum im Sample, welches das Fernsehen offensiv berücksichtigt, dies

V.2.

Handlungsempfehlungen

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aber unter streng thematischer Perspektive im Konzert aller professionellen Nachrichtenmedien bis hin zu neuen Formen der nutzerzentrierten Informationsverbreitung im Internet. Welche interessanten Impulse eine thematisch fokussierte Ausstellungsdramaturgie in verschiedenen Medienkontexten gerade für die Engagierung weiter Publika verspricht, zeigen die Besuchererfolge des Newseum. Auch im Hinblick auf die Erinnerungsarbeit sind solche thematisch-narrativierten Formate, die über die reine Fernsehgeschichte hinausgehen, aber sie mit einschließen, vielversprechend, weil sie dem Besucher mehr Möglichkeiten bieten, individuelle Anschlusspunkte zu finden und fernsehhistorisch relevante Hintergründe zu vermitteln, ohne ihn ob der möglichen Abseitigkeit oder Ferne des Aspekts, gemessen am persönlichen Rezeptionserleben, fremdeln zu lassen. Das Rezeptionsdilemma des Fernsehthemas im musealen Setting konnte bisher nur ansatzweise gelöst werden. Präsentationsformen, die eine innovative Erweiterung der klassischen Abrufangebote oder Dauerschleifen-Vorführung darstellen, wurden bei der Museumsanalyse allein im Newseum (v.a. Clip-Projektionen, interaktive Zeitleisten) und in der Deutschen Kinemathek (v.a. 30-minütige Clipkompilation, TV-Installation „Wir waren so frei") registriert. Den Weg einer ganzheitlichen Einbindung sämtlicher Überlieferungsbereiche des Fernsehens wurde ebenfalls nur sehr vereinzelt eingelöst: Die Trennlinie verläuft noch immer zwischen Museen für Fernsehprogramm und Museen für Fernsehtechnik. Ein integratives Konzept für eine Dauerausstellung von Bewegtbild und Realien gibt es allein und hier nur rudimentär im CBC Museum, das in bescheidenem Maße alte Gerätschaften und ausgewähltes Schriftgut neben Exzerpten historischer Fernsehsendungen ausstellt. Die übrigen Häuser haben entweder keinen Platz, kein Interesse und häufig auch keine fachkundige Expertise, um sich für mehrere Überlieferungsgattungen zu entscheiden und proben die Verbindung von Programm- und Objektebene nur selten und zudem anekdotisch oder illustrativ in Form von Sonderausstellungen oder schlaglichtartig mittels einer grundsätzlichen thematischen Engführung wie im Newseum. Hier anzuknüpfen und das Fernsehen nicht mehr nur auf seine Einzelaspekte zu reduzieren, sondern es als Dispositiv ernst zu nehmen und als solches zu musealisieren, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Statusaufwertung der Fernseherbe-Verwaltung im öffentlichen Bewusstsein, die so dringlich gesucht wird und aus eben einer solchen ganzheitlichen Auseinandersetzung und Vermittlung des Fernsehprozesses erwachsen kann. Die Rolle Fernsehens als eines der wichtigsten Vergemeinschaftungsmedien der soziokulturellen Sphäre findet sich nur darstellend innerhalb der Museumskonzepte wieder: dass Fernsehzuschauer schon immer, aber sogar immer mehr und intensiver danach streben, was geläufig als „Community Building" bezeichnet wird (vgl. u.a. Kim 2001; Howley 2005). Dies drückt sich unter anderem dadurch aus, dass sich Fans immer speziellerer Sendungen über das Internet finden und in Gruppierungen zusammenschließen, oder auch in Phänomenen wie Public Viewing, das sich (erneut) als beliebter Rezeptionsmodus nicht nur zu sportlichen Großereignissen durchgesetzt hat. Verge-

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V. Bewertende

Zusammenfassung

meinschaftung ist also ein Bedürfnis, das von Rezipientenseite artikuliert und sogleich selbstständig befriedigt wird. Die originäre Aufgabe von Museen, als essentieller Teil ihres öffentlichen Auftrags Gemeinschaften mit kulturstiftenden Inhalten zu versorgen, sie an einen kulturellen Betrachtungsgegenstand heranzuführen und darüber auch wiederum Gemeinschaft zu stiften, wurde von den untersuchten Fernsehmuseen auf fahrlässige Weise vernachlässigt. Obwohl es einige Häuser wie das Paley Center for Media und das Museum of Broadcast Communications als sinnvoll erachteten, die professionelle Gemeinschaft von Fernsehakteuren an ihren jeweiligen Standorten zur Teilnahme an den Museumsprogrammen zu bewegen, um darüber ein Netzwerk aus Fachleuten aus der Medienwirtschaft und auch der Wissenschaft an sich zu binden. Was indes nicht gelang, war die (Ein-) Bindung von Besuchern als Vertreter der allgemeinen Zuschauerschaft. Die Ansprache von (potenziellen) Besuchern erfolgt sehr konventionell: Deren Eindrücke, Kritik und Wünsche werden über Besucherbücher oder separate Evaluationsbemühungen erfasst, teilweise auch mit Besuchervideos, die ebenfalls den bewährten Feedbackmustern folgen, doch zumindest einen wichtigen Schritt darstellen, um den Rezipienten als Akteur im Fernsehprozess zum schöpferischen Bestandteil der Museumsarbeit zu machen. Auch wurden die Potenziale einer Implementierung von Community-Strukturen auf den Websites der Museen nicht ausreichend erkannt, mit welchen die Einrichtungen thematische oder ereignisbezogene Vergemeinschaftungsprozesse anstoßen können, wie es die Deutsche Kinemathek mit ihrem gesonderten auf Dauerhaftigkeit ausgelegten Webauftritt zur Sonderausstellung „Wir waren so frei" vorgemacht hat. - Vernachlässigt wurde ebenfalls die Bildungsarbeit, wenn sie auch in den meisten der untersuchten Fernsehmuseen zu einer der Hauptaufgaben gehört: Das stark von personellen Ressourcen abhängige Angebot von Führungen und Kursangeboten wich aus finanziellen Zwängen vielerorts selbstgeleiteten Ausstellungsbesuchen und abrufbaren Kurskonzepten für die Adaption im Schulunterricht. Selbst ein durch seine verhältnismäßig lange Institutionsgeschichte im Bildungsbereich stark aufgestelltes Museum wie das Paley Center for Media hat diesbezüglich trotz fortgesetztem Engagement Rationalisierungsmaßnahmen vorgenommen. Übergreifend kommt vor allem die Medienkompetenzförderung zu kurz, welche die Hypermedialität von Fernsehinhalten jeglicher Art vor Augen zu führen vermag, also das Medium hinter der Fernseherfahrung und dadurch auch die Mediatisierung von Erinnerung durch das Fernsehen erkennbar und reflektierbar macht, um dadurch die jeweils medienspezifischen Prinzipien und dynamischen Konjunkturen gesellschaftlicher Erinnerung offenzulegen (vgl. auch Erll/ Rigney 2009, 4-5). Fernsehprogramminhalte kommen in den untersuchten Museen hauptsächlich als zeitgeschichtliches Aufklärungsmittel und nostalgisches Unterhaltungsinstrument zum Einsatz. Der zudem auf Schulklassen fokussierten Bildungsarbeit fehlt ein Anschluss an die Erwachsenenbildung, der eine immer größere Bedeutung bei der Aufklärung über Prozesse und Mechanismen der elektronischen Medien und der Zukunft des Fernsehens zukommt, aber auch deshalb eine aussichtsreiche Option bei

V.2. Handlungsempfehlungen

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der Begeisterung von Besuchern für die Belange des kulturell so kontrovers bewerteten Leitmediums darstellt, weil insbesondere ältere Zuschauer ein großes Geschichts- und Erinnerungsinteresse haben dürften, sich mit dem Fernsehen als Bestandteil ihrer Autobiographie zu beschäftigen, seine Hintergründe zu erkunden und möglicherweise bisher Unbekanntes zu erfahren. Bis zu jenem ganzheitlichen Vollblutmuseum, das die autobiographische Erfahrungsebene zum Herzstück seines Wirkens macht, dabei aber nicht die kollektive Kraft des Fernsehbildes verschweigt, das Sendungen, Requisiten und Kameras, Skripte, Begleitprodukte und Fernsehgeräte, selbst Wohnzimmereinrichtungen und andere Rezeptionsumgebungen zeigt und miteinander in Verbindung setzt, das die Besucher in die Ausstellung integriert, statt sie nur zu bedienen, das Erlebniswerte schafft, ohne zu profanisieren, das das Fernsehen mit anderen Augen sehen lässt und doch immer den Bezug zur reichen Fernsehgeschichte wahrt, das Gemeinschaft stiftet und Brücken baut, das seine vorrangige Aufgabe in der Bildungsarbeit sieht und dafür ausreichende Mittel zur Verfügung stellt - und dies alles, ohne einem illusorischen Anspruch nach Vollständigkeit seiner Sammlungsanstrengungen zu verfolgen, gibt es nicht. Gewiss lassen sich einzelne der genannten Aspekte in den verschiedentlich untersuchten Einrichtungen wiederfinden, doch keine hat den Status eines gestandenen Fernsehmuseums weder im klassischen noch in einem modernistischen oder gar innovativen Begriffsverständnis erreicht; denn so frei die Museen in der konzeptionellen Ausgestaltung ihres Wirkens auch sind, haben sie das Medium in seiner umfassenden Gedächtnisrelevanz nicht erfasst. Jedes Museum kann zum Fernsehmuseum werden, wenn es sich Fernsehüberlieferungen bedient und an ihnen die spezifischen Umstände, Prinzipien und Mechanismen, kurz: die Medialität des Fernsehens transparent macht, um seiner Bedeutung als Translationsinstrument unterschiedlichster kultureller Phänomene und seiner daraus resultierenden Funktion als wesentlicher Faktor gesellschaftlicher Erinnerung Rechnung zu tragen. So bleibt die Anknüpfung an Forschungserkenntnisse der multi-disziplinären Gedächtniswissenschaft unbefriedigend. Fernsehmuseen müssen ihre Bildungsarbeit primär als Erinnerungsarbeit verstehen, damit die psychologischen, sozialen und kulturellen (und durchaus auch philosophischen) Dimensionen und Determinanten des Erinnerns und Vergessens als fundamentales Raster der Vergangenheitserfahrung der Massen im 20. und 21. Jahrhundert ersichtlich werden. Analog zur gedächtnistheoretischen Analyse in Band 1 können hierzu folgende Bereiche als Ausgangspunkte gewählt werden, die nachfolgend stichwortartig genannt werden: - Fragen der Mediatisierung und speziell Televisualisierung der zeitgenössischen Gesellschaften und ihrer sozialen Ordnungen stellen. - Aufklärung über die historische Relevanz des Fernsehens im (inter-) kulturellen Zusammenhang leisten. - Den Besucher dazu bewegen, sich mit seinen Fernseherinnerungen in die Museumsarbeit einzubringen, indem individuelle Anschlüsse zur persönlichen Fernsehvergangen-

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V. Bewertende

Zusammenfassung

heit ermöglicht werden, um sich die eigene Fernsehbiographie und ihre Konsequenzen für den Lebensweg bewusst zu machen. - Gemeinschaft stiften auf den unterschiedlichen Mikro- und Metaebenen, verschiedene Plattformen schaffen, für die jeweils passende Bildungsformate und erinnerungsevozierende Module entwickelt werden. - Die technologischen Imperative, Funktionen und Spielarten des Fernsehens im Hinblick auf ihre Prägung der Fernsehwahrnehmung analysieren und experimentell für den Besucher nachvollziehbar machen. - Stärker die Glaubwürdigkeit des Fernsehens hinterfragen, hervorheben und kritisieren, nicht hauptsächlich die Aufmerksamkeit auf die ikonischen Oberflächenreize von Glanzlichtern der Fernsehgeschichte richten. - Die programmimmanenten Bildungsleistungen des Fernsehens diskutieren und im direkten thematischen und sendungskonkreten Anschluss durch Zusatzangebote komplementieren, um die Eigenschaften des betreffenden Programminhalts herauszustellen. - Sich noch eingehender und differenzierter der Kunst des Fernsehens und der Kunst im Fernsehen widmen, ihre Möglichkeiten erörtern und den kreative Nachwuchs protegieren, um den kulturfördernden Einfluss des Museums auf den Programmbetrieb zu stärken. - Das Vergangenheitsbild in den verschiedenen Ressorts und Formaten des Geschichtsfernsehens hinterfragen, mit anderen historischen Quellen und bei zeitgeschichtlichen Themen insbesondere mit persönlichen Erinnerungen kontextualisieren und eventuell korrigieren. Es ist letztlich unerheblich, welchen Aggregatzustand ein Fernsehmuseum wählt, um derlei Empfehlungen nachzukommen: Virtuelle interaktive Ausstellungskonzepte im Internet, im Netzwerk mit anderen Kultureinrichtungen, durch eine freizeitparkähnliche Stoßrichtung oder in der klassischen Variante von lokal fixierten Dauer- und Sonderausstellungen und Begleitveranstaltungen - es zählt das Zusammenspiel von Engagierungs- und Vermittlungsleistung. Hierzu braucht es immer zwei, wenn nicht drei oder mehr Parteien: Museum und Besucher konstruieren gemeinsam Sinn und Erlebniswerte, hinzu kommen nach Bedarf Fernsehakteure, Wissenschaftler, Zeitzeugen usf. Bei aller notwendigen Öffnung bei der Einbindung von Rezipientenperspektive und Rezipient darf das Fernsehmuseum nicht seine Autorität als normative Instanz aufs Spiel setzen: Es gilt auch weiterhin, mittels kuratorischer Selektionsprozesse, Ausstellungskonzepte und Veranstaltungsvarianten kulturellen Wert zu ermitteln und zu vermitteln. Nicht alles, was Fernsehen war, ist und wird, muss vom Museum bedingungs- und vor allem nicht besinnungslos aufgegriffen und kommentiert werden. Ein Fernsehmuseum ordnet ein, klärt auf, leitet an und schafft Diskursräume, in denen Spezialisten und Laien auf gleicher Augenhöhe mit ihren unterschiedlichen Erfahrungshintergründen und mit aufrichtigem Interesse füreinander zueinander in Bezug treten. Das ist einfacher, als es

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Handlungsempfehlungen

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sich abstrakt darstellt: Der Besucher als Rezipient muss als souveränes Gegenstück eines Dialogs zwischen Sender und Empfänger akzeptiert werden, der mit dem Einschalten des Fernsehgeräts beginnt, aber mit dem Ausschalten nicht aufhört, sondern im Museum eine konstruktive Fortsetzung findet. Das Fernsehmuseum der Zukunft ist ein selbstgewiss auftretendes, diverse Kanäle nutzendes Massenmedium, das die Versäumnisse des Fernsehbetriebs bei der Wahrnehmung des Rezipienten als Qualitätsinstanz nachholt, sich insbesondere als Akteur, Bindeglied und Moderator von Wissen-, Informations- und Erinnerungskulturen entwirft und die Grundfesten der elektronischen Mediengesellschaft durch seine manifeste Erscheinung als traditionsbewusster Vergemeinschaftungsort konterkariert. Der weiteren Forschung bieten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte: Da nicht abzusehen ist, inwieweit die Fernseherbe-Verwaltung von den allgemeinen Marktentwicklungen und der sich weiter wandelnden Nutzungsdynamik profitieren wird oder sich die Rahmenbedingungen für die Arbeit von öffentlichen Archiven, Bibliotheken/Mediatheken und Museen bei der Nutzung von Fernsehüberlieferungen eher noch verschlechtern, können hierauf ausgerichtete juristische und wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen nur zur besseren Erfassung und Erhellung sowie auch zur Lösung der Problemfragen beitragen. Weiterhin werden Anschlussstudien notwendig sein, um unter Berücksichtigung der hier genannten Eckpunkte die Museumsarbeit mit und über das Fernsehen mittels empirischer Besucherevaluation zu analysieren (vgl. u.a. auch Schönfeld-Nastoll 1997; Lenk 2005). Interessante Erkenntnisse könnte unter anderem auch eine soziologische Felduntersuchung von televisuellen Erinnerungsgemeinschaften auf Seiten der Fernsehakteure oder auf Rezipientenseite erbringen, aus denen sich wiederum Schlussfolgerungen für die institutionellen Verwaltungsinstanzen des Fernseherbes ableiten ließen. Diese drei Forschungsperspektiven stehen freilich nicht allein. Insbesondere die weitere Konkretisierung des im Detail unspezifischen und weiten Aufgabenfeldes der Funktionalisierung des Fernseherbes sollte als medienkulturwissenschaftliche Herausforderung verstanden werden. Auch steht eine differenzierte Problematisierung des Hörfunks, der in seiner Geschichte im Vergleich zum Fernsehen ebenso starken, wenn nicht gar sehr viel stärkeren Umwälzungen unterlegen war, im gedächtniswissenschaftlichen Kontext noch aus. Das Potential einer solchen Untersuchung ist immens, weil sich auch hier konstruktive Programmkritik abseits üblicher Stigmatisierungen üben ließe. In diesem Zusammenhang ist eine Untersuchung der Archivsituation, vornehmlich bei privaten Radiosendern, aber auch im öffentlich-rechtlichen Sektor ebenfalls sehr sinnvoll. Analog zur vorliegenden Untersuchung wäre die Analyse von Modellen einer musealen Präsentation von Radioprogramm auf der Basis einer analytischen Betrachtung bestehender Hörfunkmuseen im Ausland oder bereits veranstalteter Radioausstellungen im Inland denkbar. Weiteren Aufschluss über die Signifikanz elektronischer Gedächtnismedien und ihrer Funktionalisierung in der Bildungs- und Erinnerungsarbeit wäre die Ausarbeitung von Kriterien für die Auswahl von Radioprogrammen für eine solche Präsentation auf der Basis me-

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V. Bewertende

Zusammenfassung

dienhistorischer Verläufe oder auf Basis von Auswertungen des aktuellen Programmaufkommens. Dies könnte nicht nur wichtige Erkenntnisse zu den Hintergründen der Programmentwicklungen über Jahrzehnte hinweg liefern, sondern auch darüber, inwiefern eine museale Würdigung des Hörfunks in Zusammenhang möglicherweise auch mit anderen Medien wie dem Fernsehen die Verflechtung oder Wiederannäherung der Medien untereinander fördern könnte; denn letzten Endes verlangt der fortschreitende Medienwandel immer deutlicher nach einem Abschied von etablierten Medienkategorien. Und sollte das Museum irgendwann doch der letzte Ort sein, der die Erinnerung an das Fernsehen wachzuhalten imstande ist, dann wäre es nur angemessen und gerecht, das auch das historisch so eng mit ihm verbundene Rundfunkmedium Radio (weiterhin) mit zu bedenken - ein durchaus appellatives und hoffnungsvolles Ape^u, denn schließlich ist nicht einmal sicher, ob Fernsehmuseen in Zukunft überhaupt noch Fernsehmuseen bleiben werden, können oder wollen oder ob sie sich weniger als historische und mehr als vorausblickende, gestalterische Agenten des Wandels begreifen, dem gleichmacherischen Digitalstrom folgen und sich von alten Begrifflichkeiten lossagen. Grundsteine für diese Entwicklung wurden bereits gelegt. Und tatsächlich geht es doch nicht um Begriffe, sondern um das sozio-kulturelle Phänomen, über das mediatisierte Sehen in die Ferne sich selbst erinnern zu können.

Verzeichnisse

Abkürzungsverzeichnis AMMI:

American Museum of the Moving Image

BFI:

British Film Institute

BpB:

Bundeszentrale für politische Bildung

DK:

Deutsche Kinemathek

DRA:

Deutsches Rundfunkarchiv

DTM:

Deutsches Technikmuseum

FMI:

www.fernsehmuseum.info

HDG:

Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

HUB:

Humboldt-Universität zu Berlin

IfW:

Institut für Wissensmedien

LAB:

Library of American Broadcasting

LC:

Library of Congress

LCR:

Lord Cultural Resources

MBC:

Museum of Broadcast Communications

MIT:

Massachusetts Institute of Technology

MT&R:

Museum of Television & Radio (heute: Paley Center for Media)

NM:

Netzwerk Mediatheken

NWU:

Northwestern University

NYU:

New York University

PCM:

Paley Center for Media

PDFW:

Projekt Deutsches Fernsehmuseum Wiesbaden

SU:

Syracuse University

UG:

University of Georgia

UT:

University of Toronto

WBMA & PAC: Walter J. Brown Media Archives & Peabody Awards Collection WCFTR: Wisconsin Center for Film & Theatre Research

Literatur- und

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