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German Pages 464 Year 2014
Michael Wedel Filmgeschichte als Krisengeschichte
Film
Dem Andenken an meine Mutter Brigitte Wedel (1942-1985)
Michael Wedel (Prof. Dr.) lehrt Mediengeschichte und Filmtheorie an der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg.
Michael Wedel
Filmgeschichte als Krisengeschichte Schnitte und Spuren durch den deutschen Film
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© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Vanina (1922, Arthur von Gerlach), Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen Lektorat & Satz: Michael Wedel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1546-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung | 9
KINO /EREIGNIS 1 | Schiffbruch mit Zuschauer: Der Untergang der Titanic im frühen deutschen Kino | 23
Attraktion und Ereignis: Das Vermächtnis des frühen Kinos | 23 Schiffbruch mit Zuschauer: TITANIC – IN NACHT UND EIS | 28 Zurück in die Zukunft: Der unmögliche Blick | 41 Allegorie und Erzählung: Die Errettung des Publikums | 53
BILD /AFFEKT 2 | Plastische Psychologie: Eine Archäologie des filmischen Expressionismus | 67
Film als »plastische Kunst in Bewegung« | 67 »Totale visuelle Vergegenwärtigung«: Stereoskopische Praxis und binokulares Sehen | 69 »Kontakt auf Entfernung«: Tiefenillusion und Reliefeffekt im frühen Film | 75 Archäologie des filmischen Expressionismus: Haptik im Modus des Sentimentalen | 79 Von Dr. Caligari zu Dr. Schotte: William Wauers plastische Psychologie | 90 3 | Medium, Maske, Metapher: Albert Bassermanns Nachtseite | 105 Der filmische Körper | 106 Latente Doppelwertigkeit | 108 Das Spiel mit der Überlagerung | 113 Masken des Begehrens | 115
4 | Anstoß der Erregung: Asta Nielsens Verwandlung | 119
»Die Tränen der Asta Nielsen«: Eine symptomatische Debatte | 120 Die »schauspielerische Geschehensreihe« | 125 Fantasmatische Intimität: Schauspielerin und Publikum | 128 In der Fluchtlinie der Großaufnahme: Das reflexive Gesicht als »lyrischer Extrakt« | 132 Zeitkapsel des Körpers: Die »Explosion des Individuums« im »genialen Augenblick« | 135 Innere Wandlung, äußere Form: Schlussfiguren zwischen Körperdiskurs und stilisierter Bildlichkeit | 138 Stimme und Körper | 143
TON /KÖRPER 5 | Dokument und Fantasie: Genrefiguren bei Richard Oswald | 147
Neue Produktionsbedingungen nach der Tonfilmumstellung | 150 Achtung vor dem Original: Theaterverfilmungen | 153 Zersplitterte Geschichte: Die »historischen Reportagen« | 163 Unterirdisches im Glanzlicht: Fantastische Filme | 171 6 | Risse im Erlebnissystem: Universal und I M W ESTEN NICHTS N EUES | 179
Die Tonfilmumstellung und das »Universal-Modell« | 181 Universal und Europa: Produktionsstrategien der 1920er Jahre | 185 »Amerikanisches Kapital nach Deutschland«: Sprachsynchronisation in Berlin | 190 Das Problem der kulturellen Akzeptanz von Synchronfassungen | 194 Risse im Erlebnissystem: Die Kontroverse um IM WESTEN NICHTS NEUES | 198 Reaktionen und Konsequenzen | 209 7 | Offene Unterhaltung? Reflexivität und polyphones Erzählen in Willi Forsts F RAUEN SIND KEINE E NGEL | 215
BLICK /SPUR 8 | Vexierspiel mit Thomas Mann: Kurt Hoffmanns F ELIX K RULL | 229 9 | Kino im Katastrophenschatten: D IE 1000 A UGEN D R . M ABUSE und L E MÉPRIS | 249 Das Kino und das historische Imaginäre | 254 Fritz Lang und Frankreich | 256 Kino des Sehenden, seherischer Film | 260 Auge, Kette, Spur | 264 DES
10 | Schutzengel der Geschichte: Curt Bois nach 1950 | 273
Geld und keine Arbeit, Herr Puntila und kein Brecht: Kinofilme der 1950er Jahre | 276 Flüchtlingsgespräche: Fernsehproduktionen 1958-1969 | 282 Geister und Ganoven: Kinofilme der 1960er Jahre | 286 Außenseiter für Insider: TV- und Videoproduktionen 1971-1989 | 291 Zauberer der Erinnerung, Schutzengel der Geschichte: Kinofilme der 1980er Jahre | 298
INNEN /AUSSEN 11 | Zeichen, Trick und Teilung: Animationsfilm-Theorie in Ost und West | 305
Animationsfilm-Theorie in der Bundesrepublik 1950-1975 | 307 Animationsfilm-Theorie in der DDR 1950-1975 | 317 Fazit | 324 12 | Einblicke von außen? Die DEFA, Konrad Wolf und die internationale Filmgeschichte (mit Thomas Elsaesser) | 327 Siegergeschichte | 330 »Normalisierung« und »Internationalisierung« | 333 Warum Konrad Wolf? | 338 Melodrama und Pastiche: LISSY und STERNE | 341 Die innere Unsicherheit: DER GETEILTE HIMMEL | 348
Simulierte Authentizität: ICH WAR NEUNZEHN | 351 Alltag im Rampenlicht: SOLO SUNNY | 356 Wolf und Fassbinder 1982/1992 | 358 13 | Fremde Heimat: Dokumentarische Poetik im Neuen Deutschen Film | 363
Untergründige Geschichte: Genealogie einer Bewegung | 363 Kino der Erfahrung: Die dokumentarische Neigung des Neuen Deutschen Films | 368 Rohstoff zum Erfahrungsaustausch: Syberberg | 372 Prinzip der Vielfalt, Theorie des Zusammenhangs: Kluge und die anderen | 377 Kehrseite des Vergessens: Reitz | 382 Fremde Heimat: Bitomsky | 387
INTERVALL 14 | Bodenlose Resonanz: Tom Tykwer, transnationale Ästhetik und das neue europäische Kino | 393 Vom »Konsens-Kino« zur »transnationalen Ästhetik« | 395 Kino im Übergang, Autor im Umbruch | 400
Affektive Resonanz, sinnliche Evidenz: Zum Beispiel DER KRIEGER UND DIE KAISERIN | 403 Schlüsse | 413 Literaturverzeichnis | 417 Abbildungsverzeichnis | 453 Dank / Drucknachweis | 457
Einleitung
»Nichts Derartiges aber trifft auf die Geschichte zu. Weder hat sie ein Ende, noch kann sie ästhetisch erlöst werden. Die Antinomie im Innersten der Zeit ist unauflösbar.« SIEGFRIED KRACAUER: GESCHICHTE – VOR DEN LETZTEN DINGEN
Filmgeschichte lässt sich auf vielerlei Weise schreiben: Sie ist Teil einer übergreifenden Technik- und Mediengeschichte wie auch der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte, sie kann als Allegorie der politischen Geschichte und Index mentalitätsgeschichtlicher Verschiebungen herangezogen werden, nicht zuletzt lässt sie sich als Geschichte einer Kunstgattung, ihrer Formentwicklungen und Stilbewegungen begreifen.1 Aus der Gegenwartsperspektive des digitalen Zeitalters, das zugleich eine permanente Krise dessen darstellt, was unter »Film« und »Kino« oder auch nur unter dem Begriff des »Filmischen« – ge-
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Vgl. z.B. Hickethier, Knut: »Filmgeschichte zwischen Kunst- und Mediengeschichte. Zur Einleitung«, in: Knut Hickethier (Hg.), Filmgeschichte schreiben. Ansätze, Entwürfe und Methoden. Dokumentation der Tagung der GFF 1988, Berlin: Edition Sigma Bohn 1989, S. 7-22. Douglas Gomery und Robert C. Allen unterscheiden generell zwischen den Ebenen der ästhetischen, technologischen, ökonomischen und sozialen Filmgeschichtsschreibung. Gomery, Douglas/Allen, Robert C.: Film History. Theory and Practice, New York u.a.: McGraw-Hill 1985.
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schweige denn deren Geschichte(n) – noch verstanden werden kann,2 drängt sich mehr und mehr ein historiografischer Ansatz auf, der die Wechselwirkungen zwischen den genannten Bezugs- und Bedeutungsebenen und damit die Funktion des Films als mediale Form, gesellschaftliche Institution, kulturelles Dispositiv und ästhetisches Objekt als immer schon kritische und krisenhafte begreift.3 In der Geschichtsschreibung ist die Hinwendung zur Krisenmetapher als Reaktion auf die Beobachtung gegenwärtiger Veränderungsprozesse ein nur zu bekannter Reflex.4 Er gehört zur Ausgangssituation des Historikers,5 der in der Konfrontation zwischen Vergangenheit und Gegenwart »unendlich viele Bedeutungen entdeckt«.6 Der Auswahl und Organisation des historischen Materials innerhalb dieser zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufgespannten Bedeutungsvielfalt liegt dabei ein paradoxes Manöver zugrunde: Zum einen beruht Geschichtsschreibung auf einem »anfänglichen Unterscheidungsakt«, der die Gegenwart von einer Vergangenheit trennt, ihre jeweilige Andersartigkeit gegenüber der aktuellen Situation hervorhebt. In der Aufspaltung von Chronologie in distinkte »Perioden« wiederholt sich
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Vgl. Elsaesser, Thomas: »Das Digitale und das Kino – Um-Schreibung der Filmgeschichte?«, in: Daniela Kloock (Hg.), Zukunft Kino. The End of the Reel World, Marburg: Schüren 2008, S. 42-59.
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Die Mehrdimensionalität der Bezugsebenen endgültig ins filmhistorische Bewusstsein gehoben zu haben, ist eines der Verdienste der »New Film History«. Zu deren Prämissen vgl. Kusters, Paul: »New Film History. Grundzüge einer neuen Filmgeschichtswissenschaft«, in: Montage/AV 1 (1996), S. 39-60; Elsaesser, Thomas: »Die ›Neue Filmgeschichte‹ und das frühe Kino«, in: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München: Edition text + kritik 2002, S. 20-46.
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Vgl. z.B. Vierhaus, Rudolf: »Zum Problem historischer Krisen«, in: KarlGeorg Faber/Christian Meier (Hg.), Historische Prozesse. Beiträge zur Historik, Bd. 2, München: DTV 1978, S. 313-329, hier S. 313.
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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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de Certeau, Michel: Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt a.M./New York 1991, S. 52. Der immer wieder notwendige Hinweis, dass die Geschichtsschreibung nur scheinbar Tatsachen berichtet, tatsächlich aber Bedeutungen darstellt, findet sich ebd., S. 61.
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dieser grundlegende Unterscheidungsakt überall in der Entscheidung, sie seien »anders« oder »nicht mehr das, […] was bis dahin war«.7 Andererseits sind diese Bestimmungsakte historischer Einschnitte voluntaristisch. Ihre historiografische Motivation impliziert stets eine auf die Gegenwartssituation gerichtete Relevanzprüfung des historischen Materials. Durch sie wird aktualisiert, was aus dieser Warte heraus gerade noch oder wieder besser »verstanden« werden kann, und festgelegt, was »vergessen« werden sollte. Jedoch: »Was auch immer aber dieses neue Verständnis der Vergangenheit für irrelevant hält – ein durch Materialauswahl geschaffener Abfall, von einer Erklärung vernachlässigter Rest –, kehrt trotz allem an den Rändern des Diskurses oder in seinen Brüchen wieder zurück: ›Widerstände‹, ›Überbleibsel‹ oder Verzögerungen stören unauffällig die schöne Ordnung eines ›Fortschritts‹ oder eines Interpretationssystems.«8
Die politische Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert und mit ihr die Geschichte des deutschen Films scheint wie kaum eine andere von Zäsuren und Diskontinuitäten geprägt.9 Nicht unbedingt in jedem Fall lassen sie sich auch als »Fortschritt« auffassen, nicht zuletzt in der Filmgeschichtsschreibung haben sie aber ganz zweifellos zu einem etablierten Epochenverständnis und den dazugehörigen »Interpretationssystemen« geführt. Der historische Verlauf des deutschen Films wird in einschlägigen Überblicksdarstellungen wie in Arbeiten zu einzelnen Teilaspekten zumeist in enger Analogie zur staats- und gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung gefasst und in die entsprechenden »Perioden« unterteilt: in die Zeit des frühen Films der Kaiserzeit (1895-1918), des Weimarer Kinos (1918-1933) und NS-Films (1933-1945); des Nachkriegsfilms in Ost und West bis Mitte der 1960er Jahre (dem Ende der AdenauerÄra 1963 bzw. in der DDR dem kulturpolitischen Umbruch nach dem 11. Plenum des ZK der SED 1965/66); des Neuen Deutschen Films vom Oberhausener Manifest 1962 bis 1982, dem Todesjahr Rainer
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Ebd, S. 14.
8
Ebd.
9
Vgl. zu den historiografischen Konsequenzen zuletzt Jarausch, Konrad H./ Geyer, Michael: Shattered Past. Reconstructing German Histories, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2003, S. 16ff.
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Werner Fassbinders und zugleich Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls; sowie des Gegenwartsfilms im wiedervereinigten Deutschland seit 1990.10 Das Moment politisch-gesellschaftlicher Diskontinuität dient dabei nicht nur als didaktisch sinnvolles und heuristisch notwendiges Ordnungsprinzip, nach dem das historische Material sich darbieten lässt. Es bildet zugleich den Umschlagpunkt zwischen Interpretationssystemen, die dessen jeweils unterschiedlich gelagerte Auslegung definieren. Insofern sowohl im Rückbezug von Filmgeschichte auf Eckdaten der politischen Chronologie als auch im Rekurs auf eine Vorstellung von Diskontinuität eine unhintergehbare Folge von »Brüchen in der Wirklichkeit« postuliert und damit eine »Totalität« zumindest suggeriert wird, erscheint eine stringent nach übergreifenden Epochenbegriffen gegliederte Darstellungsweise letztlich immer problematisch. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie stets droht, auf Kosten der komplexen Ausdrucksformen kleinteiliger Differenzen und Mikrozäsuren zu gehen, wie sie lediglich einer Analyse zugänglich sind, die direkt an den »Grenzphänomenen«11 – also der (griech.) epoché selbst – ansetzt. Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches soll daher nicht das Postulat einer, wenn auch vielfältig gebrochenen, historisch veränderlichen »Totalität« stehen. Seinen Kern bildet vielmehr das Interesse für die »Singularität« und »Partikularität« geschichtlicher Ereignisse und Formationen. Es teilt mit Michel Foucault und Michel de Certeau eine grundlegende »Faszination für Grenzen«,12 die in der Auffassung begründet ist, dass es in der Geschichtsschreibung, verstanden als eine »Arbeit an den Grenzen«,13 in erster Linie um die Analyse von »Situationen«14 und um eine Untersuchung der »Verflechtungen«, »Verzwei-
10 Vgl. die einschlägigen Handbücher von Jacobsen, Wolfgang/Kaes, Anton/ Prinzler, Hans Helmut (Hg.): Geschichte des deutschen Films, Stuttgart/ Weimar: Metzler 22004; Hake, Sabine: Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2004; Bock, Hans-Michael/Jacobsen, Wolfgang (Hg.), Recherche Film. Quellen und Methoden der Filmforschung, München: Edition text + kritik 1997. 11 de Certeau: Das Schreiben der Geschichte, S. 105. 12 Ebd., S. 63. 13 Ebd., S. 59. De Certeau zufolge findet die Geschichtsschreibung in der Grenze gar erst den »ihr eigentümlichen Ort« (ebd., S. 65). 14 Ebd., S. 20.
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gungen« und »Verstreuungen«15 geht, an denen die jeweiligen Grenzverläufe am Grad und Ort ihrer Durchlässigkeit erkennbar und in ihren Bedeutungen erfasst werden können. Jeder einzelne Film bezeichnet einen solchen Grenzbereich des Historischen, in dem Bedeutungen konvergieren, sich durchkreuzen und verstreuen, im Ästhetischen auf prekäre Weise aufgehoben sind. Nicht wie die ästhetische Produktion eines Films (oder einer Gruppe von Filmen) zur Geschichte sich verhält, sondern wie sie in der Geschichte steht und diese eigene Geschichtlichkeit ästhetisch verhandelt, ist die gemeinsame Ausgangsfrage aller Kapitel dieses Buches, das – in Abwandlung einer Formulierung Siegfried Kracauers – »Geschichte« auf diese Weise durch die Filme zu denken versucht, anstatt über sie hinweg.16 Das Erkenntnisinteresse des Buches nimmt in diesem Punkt Überlegungen zur »Geschichtlichkeit des Films« auf, wie sie in jüngerer Zeit von Jacques Rancière angestellt worden sind.17 Fern einer linearen Konzeption von historischer Zeit teilt Rancière grundsätzlich Walter Benjamins »Vision der Geschichte als Gegenwart mehrerer Zeiten in einer einzigen«.18 Gegen das Fortschrittsdenken der disziplinären Geschichtsschreibung und die Unterteilung von Geschichte in eine Abfolge identifizierbarer Epochen (die für Rancière nur Ausdruck historischer wie historiografischer Hegemonie sind) setzt er – im Rahmen der Logik einer »Aufteilung des Sinnlichen« als widersprüchlicher geschichtsbildender Kraft – ein Verständnis von Geschichte als undurchsichtigem Geflecht aus »Linien von Zeitlichkeiten, die sich ineinander
15 Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 239, 251. 16 Kracauer, Siegfried: Werke, Bd. 4: Geschichte – Vor den letzten Dingen, hg. v. Ingrid Belke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 210. Diese Ausrichtung teilt das vorliegende Buch mit den Beiträgen in: Hickethier, Knut/ Müller, Eggo/Rother, Rainer (Hg.): Der Film in der Geschichte. Dokumentation der GFF-Tagung, Berlin: Edition Sigma 1997. 17 Rancière, Jacques: »Die Geschichtlichkeit des Films« [1998], in: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8 2003, S. 230246. 18 Rancière, Jacques: Ist Kunst widerständig? Berlin: Merve 2008, S. 75.
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verschlingen, sich verdecken oder sich trennen«,19 sowie eine Idee der Geschichtsschreibung als Arbeit an der Sichtbarmachung der Entstellungen und der Verschachtelung von Zeitlichkeit innerhalb eines herrschenden Normsystems konventionalisierter Praktiken und gesellschaftlicher Identifikationen.20 So verstanden, meint Geschichtlichkeit den singulären Ort und die singuläre Form der Sichtbarkeit und Präsenz, an dem sich die verschiedenen Zeitmodalitäten ins Verhältnis setzen, sich einander im jeweils gegebenen Film auf dem Feld des Ästhetischen »umgreifen«.21 Filmgeschichte als Krisengeschichte zu schreiben, bedeutet in diesem Sinne, quer oder zumindest in Spannung zu einer etablierten Stilund Epochenbegrifflichkeit nach historischen Ungleichzeitigkeiten und ästhetischen Verwerfungen zu suchen, an denen vor allem eines wieder sichtbar wird: die vergangenen Gegenwarten oder auch die zu bestimmten Punkten dem Film in Deutschland gerade noch oder eben nicht mehr möglichen Zukunftshorizonte. In Anlehnung an eine Denkfigur Reinhart Kosellecks machen die im Folgenden betrachteten filmgeschichtlichen Gegenstände damit immer auch ein Stück »vergangener Zukunft« wieder sichtbar.22 Wie nicht zuletzt bei Koselleck nachzulesen ist, rührt der Begriff der »Krise« vom altgriechischen krino her und umfasst ein ganzes Spektrum aktiver Tätigkeitsworte wie scheiden, auswählen, entscheiden, beurteilen, sich messen, streiten, kämpfen. Der griechische Ursprungsbegriff der »Krisis« zielt damit auf zugespitzte Alternativen und endgültige Entscheidungen, die keine Revision mehr gestatten.23
19 Ebd., S. 77. 20 Ebd. Vgl. a. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books 2006, insbes. S. 56-64. 21 Rancière: »Die Geschichtlichkeit des Films«, S. 230. Zugleich ist damit der je singuläre Ort bezeichnet, an dem sich für Rancière das Politische – Politik hier verstanden als das Offene und Mögliche – mit dem Ästhetischen berührt – Ästhetik hier verstanden als Form, in der dieses Offene und Mögliche sichtbar und sagbar wird. 22 Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. 23 Koselleck, Reinhart: »Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹«, in: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 203-
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Eine zweite Dimension des Begriffs, auf die Koselleck ebenfalls hinweist, nimmt dieser zielgerichteten Vektorisierung auf der diachronen Zeitachse jedoch durch synchrone Aufsplitterung ihre scheinbare Zwangsläufigkeit: Der Begriff der Krise erfasst gleichzeitig immer mehr als nur einen Lebensbereich, die Politik, die Psychologie, die Ökonomie, die Kultur und die Kunst sowie auch das Geschichtsbewusstsein selbst.24 Als Leitbegriff der Filmgeschichtsschreibung kann er also dazu dienen, die eingangs genannten Aspekte, an denen entlang Filmgeschichte geschrieben wird (als Stilgeschichte, Sozialgeschichte, Allegorie politischer Geschichte usw.) in ein kritisches Verhältnis zueinander zu setzen. Der amerikanische Filmhistoriker Rick Altman hat in ganz ähnlichem Sinne dafür plädiert, eine »Krisenhistoriografie« des Films zu entwickeln, die das Medium von seinen Anfängen bis in die digitale Gegenwart als in einer ungelösten Identitätskrise befangen betrachtet, bei der Stabilität auf einer Ebene (etwa der Filmtechnik oder der Filmwirtschaft) von Widersprüchen auf einer oder mehreren anderen Ebenen (etwa der Ästhetik oder der Politik) begleitet und konterkariert wird.25 Altmans Vorschlag entspricht der dreifachen Semantik von »Krise« als »geschichtsphilosophischem Grundbegriff«, wie sie bei Koselleck aufgefächert ist: • Als vielschichtiger Prozessbegriff, der Geschichte als Dauerkrise interpretiert. • Als heuristisches Verfahren zur Beschreibung sich auf verschiedenen Ebenen beschleunigender Vorgänge und Verläufe mit offenem Ausgang, in dem sich viele Konflikte, das System sprengend, zusammenschürzen, um nach der Krise eine neue Lage herbeizuführen.
217, hier S. 203f. Vgl. a. Vierhaus: »Zum Problem historischer Krisen«, S. 314. 24 Ebd, S. 205. 25 Altman, Rick: »Crisis Historiography«, in: Silent Film Sound, New York/ Chichester: Columbia University Press 2004, S. 15-23.
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• Als schlechthin letzte Krise der bisherigen Geschichte26 – ein Bedeutungshorizont, der Geschichte nicht nur einmal mehr auf die Gegenwart hin öffnet, sondern auch bereits den vielfach geäußerten Gedanken suggeriert, die Medien und insbesondere der Film seien in ihrer nachhaltigen und unhintergehbar scheinenden Einwirkung auf das Geschichtsbewusstsein im 20. Jahrhundert an die Stelle der Geschichte selbst, traditionell verstanden als linear-kausale Abfolge »realer« Ereignisse, getreten.27 Eingedenk der von Koselleck aufgedeckten Bedeutungsschichten des Begriffs, muss »Krise« als heuristische Konstruktion bestimmte Bedingungen erfüllen, um als Instrument historischer Analyse sinnvoll Verwendung zu finden: • Historische Prozesse, die als krisenhaft beschrieben werden, müssen zeitlich abgrenzbar sein. • Sie müssen die Gesellschaft oder das Milieu, in der oder dem sie auftreten, substanziell betreffen und nachhaltig verändern, ohne notwendigerweise gleich »revolutionären« Charakters zu sein. • Der mit dem Begriff der Krise belegte geschichtliche Vorgang muss durch diese Bezeichnung in seiner singulären Besonderheit, deren Ursachen, Struktur und Folgen präziser erfasst und hervorgehoben werden können. • Unter den Krisenbegriff müssen sich Wandel und Bruch, aber auch Kontinuität subsumieren und reflektieren lassen, um unterschiedliche, parallel zu beobachtende Verlaufsformen auf verschiedenen historischen Bedeutungsebenen reflektieren zu können.28
26 Koselleck: »Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ›Krise‹«, S. 207ff.
27 Vgl. z.B. Rosenstone, Robert A.: Visions of the Past. The Challenge of Film to Our Idea of History, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press 1995; Elsaesser, Thomas: »Filming Fascism. Is History Just an Old Movie?«, in: Sight & Sound 5 (1992), S. 18-21 und 49-50; Kaes, Anton: Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film, München: Edition text + kritik 1987. 28 Vgl. Vierhaus: »Zum Problem historischer Krisen«, S. 320f.
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Unter den genannten Bedingungen eignet sich der Begriff der Krisengeschichte als methodische Leitmetapher zur Untersuchung filmhistorischer Konstellationen vor allem darin, dass er Mehrdimensionalität, Mehrsträhnigkeit und Komplexität zu konstitutiven Momenten eines Geschichtsverlaufs erhebt, der sich befriedigend weder synchron (in getrennte Bereiche der Sozial-, Wirtschafts-, Technik- oder Stilgeschichte) noch diachron (in distinkte Epochen und ihre spezifischen »Interpretationssysteme«) zerlegen lässt. Mit Blick auf den hierin begründeten Erkenntnisgewinn einer in ihren Zusammenhangsvorstellungen nicht restriktiven »Krisenphänomenologie« hat schon Jacob Burckhardt von geschichtlichen Krisen als »Entwicklungsknoten« gesprochen, deren vielfältig verschlungene Komplexität es nicht zu lösen, sondern ans Licht zu heben gelte.29 Aus diesen geschichtstheoretischen Überlegungen heraus ist das vorliegende Buch nicht als der Versuch anzusehen, die Geschichte des deutschen Films von seiner Frühzeit bis in die unmittelbare Gegenwart zu schreiben. Vielmehr bietet es, auf derselben zeitlichen Strecke, von vielen möglichen eine Geschichte des deutschen Films. Es ist ein historischer Entwurf in Quer- und Längsschnitten, Situationen und Konstellationen, der an konkreten Gegenständen die Geschichte des deutschen Films von den Rändern, Brüchen und Aporien her erkundet; und der, vor allem, die vielfältigen Spuren der Geschichte in den Filmen selbst, den Widersprüchen und Spannungen ihrer ästhetischen Verfasstheit aufsucht. Mit Kracauer lässt sich davon sprechen, dass es nicht um das makro-geschichtlich gefasste »Allgemeine« auf Kosten des mikrogeschichtlich »Besonderen« geht, sondern um die perspektivische Bündelung allgemeiner Geschichtsverläufe in prismatisch geformte Zeiten kleineren Maßstabs.30 Dies bedingt eine Einteilung des Buches, die von herkömmlichen Gliederungen entlang etablierter filmhistorischer Epochen abweicht.
29 Burckhardt, Jacob: »Weltgeschichtliche Betrachtungen«, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1956, S. 138. Für eine grundsätzliche Kritik restriktiver, Komplexität reduzierender Geschichtskonzeptionen vgl. Baumgartner, Hans Michael: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21997, bes. S. 55-87. 30 Vgl. Kracauer: Werke, Bd. 4: Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 117ff.
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Stattdessen nehmen die Überschriften seiner einzelnen Teile – »Kino/Ereignis«, »Bild/Affekt«, »Ton/Körper«, »Bild/Spur«, »Innen/Außen«, »Intervall« – eine Akzentuierung kritischer Konstellationen vor, denen an und auf der Grenze zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, dem Ästhetischen und dem Gesellschaftspolitischen die Aufmerksamkeit der unter ihnen subsumierten Kapitel vor allem gilt. Zugleich sollen mit ihnen zentrale Spannungsfelder umrissen werden, auf denen die jeweils thematisierten filmhistorischen Umbrüche sich in ihrem Vollzug abbilden lassen. Die einzelnen Kapitel selbst lassen sich als kulturhistorische Studien zur Problematik ästhetischen Wandels in der deutschen Filmgeschichte lesen. Kapitel 1 fungiert in dieser Hinsicht als exemplarische Untersuchung des Übergangs vom (nicht-fiktionalen) Kurzfilm zum dramatischen Langspielfilm Anfang der 1910er Jahre. Am Beispiel einer der frühesten Verfilmungen des Titanic-Unglücks von 1912 geht es darüber hinaus um das Ineinandergreifen gesellschaftlicher, technischer und ästhetischer Modernisierungstendenzen, die das frühe deutsche Kino zu dieser Zeit an die Diskurse einer sich abzeichnenden Medienmoderne anschließt. Kapitel 2, 3 und 4 sind chronologisch angesiedelt im Übergang vom Kino der Kaiserzeit zum Weimarer Kino und ziehen die Fluchtlinien dieser Modernisierungstendenzen an verschiedenen Gegenständen weiter. Kapitel 2 verfolgt die Konturen eines sich im deutschen Film herausbildenden Stilmodells, das aus der Überlagerung des technischen Diskurses um das Erbe des stereoskopischen Dispositivs und den ästhetischen Rekurs auf die bildenden Künste, und hier insbesondere die Skulptur, abgeleitet wird. Während es an dieser Stelle, unter Verweis auf die bislang wenig beachtete Filmarbeit des expressionistischen Malers, Bildhauers und Theaterregisseurs William Wauer, in Beziehung gesetzt wird zu einem neu zu perspektivierenden Stilbegriff des expressionistischen Films der frühen 1920er Jahre, geht das folgende Kapitel seiner Fortwirkung im Genre des Melodramas der Weimarer Zeit am Beispiel der Filme des Schauspielers Albert Bassermanns nach. Wie der vor seiner ersten Filmrolle bereits gefeierte Bühnendarsteller Bassermann galt auch die genuine Filmschauspielerin Asta Nielsen im Weimarer Kino als eine Figur, deren anhaltende Leinwandpräsenz den impliziten Rückverweis auf das Kino der Vorkriegszeit enthielt. Kapitel 4 nimmt die 1920 aufflammende Debatte um »die Tränen Asta Nielsens« zum Ausgangspunkt für eine Erkun-
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dung des Ausdrucks- und Wahrnehmungswandels der Schauspielerin bis in die frühe Tonfilmzeit, der sich keineswegs linear und organisch, sondern an der Reibungsfläche auseinanderstrebender filmästhetischer Entwürfe und Erwartungshaltungen vollzogen hat. Die Kapitel des folgenden Teils widmen sich dem veränderten Bedingungsgefüge zwischen der ästhetischen Produktion des Films, seinem kulturellem Stellenwert und seiner gesellschaftlichen Funktion nach dem medialen Umbruch der Tonfilmumstellung um 1930. Kapitel 5 bildet diese Veränderungen im Werkzusammenhang eines der populärsten deutschen Regisseure, Richard Oswald, auf der Folie signifikanter Verschiebungen in der Genrekonstellation seiner frühen Tonfilme ab, die den Spielraum im filmischen Umgang mit Literatur, Geschichte und Fantastik neu vermessen. Dies geschieht schon bei Oswald, der zugleich Produzent seiner Filme war, im Zeichen eines kulturellen und gesellschaftlichen Kalküls, mit dem das Verhältnis zwischen der gefundenen filmischen Form und ihrer industriellen Verwertungsabsicht neu kalibriert wird. Das Konfliktpotenzial, das dieses Kalkül im internationalen Maßstab barg, steht im Mittelpunkt von Kapitel 6. Es untersucht die kulturellen Adaptionsstrategien, mit denen des Hollywood-Studio Universal im Zuge der Tonfilmumstellung in Deutschland operierte. Sie stellen gleich in mehrfacher Hinsicht einen bemerkenswerten »Sonderweg« dar. Dessen vorläufiges Ende kündigt der politische Eklat um die deutsche Fassung von ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT an, für den das Kapitel einen Erklärungsansatz anbietet, der nicht zuletzt in der fehlenden kulturellen Akzeptanz der neuartigen technischen Trennung von Stimme und Körper begründet ist. In mehr als einem Sinn steht dieses Verhältnis auch in der Lektüre zu Debatte, der in Kapitel 7 Willi Forsts Verwechslungskomödie FRAUEN SIND KEINE ENGEL von 1943 unterzogen wird. Deren offene Narration, die reflexive Selbstverweise und polyphone Erzählinstanzen mit einer sorgsam durchstrukturierten musikalischen Wirkungsebene verschränkt, wird hier als Produkt eines in die Krise geratenen Selbstverständnisses des NS-Unterhaltungsfilms gedeutet, der mit Blick auf sein Publikum in Ambivalenz verharrt. Unter veränderten Vorzeichen bleibt auch für Kurt Hoffmann das Genrekino ein Ort, an dem Ambivalenz und Mehrdeutigkeit ihren gesellschaftlichen Platz haben. Kapitel 8 erkennt in Hoffmanns Felix Krull-Verfilmung von 1957 jedoch Zeichen eines neuen Selbstbewusstseins des populären Kinos, das gerade in der Auseinandersetzung
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mit Produkten der Hochkultur seine Modernität unter Beweis stellt. Sie besteht nicht zuletzt darin, im Umgang mit der literarischen Vorlage eine spielerische Ironie in Anschlag zu bringen, die ihr Publikum vordergründig von der jüngeren Vergangenheit Deutschlands zu »erlösen« vermag, es tatsächlich aber immer wieder in sie zurückführt. Deutlicher auszumachen, wenn auch bei weitem nicht weniger komplex sind die Spuren, die die Geschichte in den deutschen Nachkriegsfilmen von Fitz Lang und Curt Bois hinterlassen hat, denen die folgenden beiden Kapitel gewidmet sind. Kapitel 9 geht ihnen in Langs DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE (1960) nach, an dem sich in dieser Hinsicht aufschlussreiche Analogien zu Godards LE MÉPRIS (1963) feststellen lassen. Dass nahezu allen Film- und Fernsehrollen von Curt Bois nach 1950 dessen Biografie als Remigrant wie in einem Palimpsest eingeschrieben ist, sie insofern sämtlich (und nicht erst in Wenders’ DER HIMMEL ÜBER BERLIN) auf vielgestaltige Art über sich hinaus und in die Geschichte zurück weisen, ist die These, die in Kapitel 10 verfolgt wird. Als »Schutzengel der Geschichte«, so der Befund, hatte sich Bois in der Rolle des Außenseiters einzurichten. In den Kapiteln des folgenden Teils wird die Frage von Heimat und Fremde, Einschluss und Ausschluss zum Hauptgegenstand der Betrachtung. Kapitel 11 unternimmt in diesem Zusammenhang den ersten Versuch einer Theoriegeschichte des Animationsfilms im deutschdeutschen Vergleich für den Zeitraum zwischen 1950 und 1975. Neben vorhersehbaren Differenzen in der allgemeinen Funktionsbestimmung der Gattung führen die unterschiedlichen Theorie- und Traditionsbildungsprozesse in Ost und West im Detail zu durchaus unerwarteten Einsichten in Diskursverläufe, die quer oder zumindest erratisch zu ideologischen Prämissen stehen. Kapitel 12 wiederum nimmt ganz dezidiert eine westliche Außenperspektive auf die DEFA und die Filme Konrad Wolfs ein, um letztere nicht nur in eine Konstellation zu historischen und ästhetischen Parallelentwicklungen im bundesrepublikanischen Film zu rücken, sondern grundsätzlich die Frage aufzuwerfen, inwiefern sich die Geschichte des DDR-Staatskonzerns und die Filme eines ihrer renommiertesten Repräsentanten produktiv als Teil der internationalen Filmgeschichte begreifen lassen. Das Gefühl der Fremdheit im eigenen Land mag von staatlicher Teilung befördert werden, es benötigt sie jedoch keineswegs. Dies geht nur zu deutlich aus Dokumentarfilmen von Hans Jürgen Syberberg, Alexander Kluge, Edgar Reitz und Hartmut Bitomsky hervor, die in Kapitel 13 auf die
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ihnen zugrunde liegenden Poetiken hin befragt werden. Deren Ursprünge reichen über 1962, das vermeintliche Geburtsjahr des Jungen Deutschen Films, hinaus, und es erweist sich, dass die Erfahrung der Entfremdung von der (gesellschaftlichen) Realität einen dokumentarischen Impuls grundiert, der gerade aus dem Zwiespalt zwischen künstlerisch-gesellschaftlichem Selbstverständnis und erschwertem Realitätszugang seinen ästhetischen Mehrwert zu schlagen versteht. Kapitel 15 setzt an der historischen Zäsur des Jahres 1990 an, um am Beispiel von Tom Tykwer einige der Hoffnungen und Enttäuschungen zu skizzieren, die in der Öffentlichkeit speziell mit seinem Werk spätestens seit LOLA RENNT (1998) verbunden sind. Im Rückblick hat es den Anschein, als ob die Geister, die sich jedes Mal aufs Neue an seinen Filmen scheiden, Tykwers Protagonisten zumindest darin längst ähneln, dass auch sie zu Figuren eines Stückes mit Endspielcharakter geworden sind. Sie scheinen auf einem selbst schon historisch gewordenen Feld zu agieren, auf dem sich die Idee einer national definierten Filmkultur in einem letzten Rückzugsgefecht mit dem freien Kräftespiel einer transnationalen (Genre-)Ästhetik und der erstarkten Schlagkraft eines vom konservativen Autorenbegriff emanzipierten »neuen europäischen Kinos« zu messen – oder als Chimäre zu erweisen hat. Tykwers Filme und ihre Rezeption sind damit in einem Zeitintervall angesiedelt, das mit »Postmoderne« nur schlecht beschrieben ist. Treffender ist es mit Kracauer als ein von schwer überschaubarer Koexistenz der Zuschreibungen und Bedeutungen gekennzeichneter »Vorraum-Bereich« gefasst, in dem er generell die Reichweite der geschichtlichen wie der fotografisch-filmischen Wirklichkeitsansprüche enden sah.31 Vielleicht nicht zufällig laufen meine Überlegungen zu den Formen von Evidenz, die in Tykwers Filmen noch zu haben sind, auf eine zwischen den Schein-Alternativen der (ästhetischen) Transzendenz und der (medialen) Immanenz verborgenen »Utopie des Dazwischen« hinaus, die schon Kracauer als jene »terra incognita in den Hohlräumen zwischen den Gebieten, die wir kennen«32 beschrieben hat. Am Ende findet auch das Projekt einer Krisengeschichte des deutschen Films in dieser »Utopie des Dazwischen« sein telos. Dass das
31 Vgl. Kracauer: Werke, Bd. 4: Geschichte – Vor den letzten Dingen, S. 209. 32 Ebd., S. 238.
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letzte Kapitel – und mit ihm das gesamte Projekt – vorläufig mit einer Frage endet, ist dabei nur die auffälligste äußere Form, die das Bemühen, (Film-)Geschichte auf die Gegenwart hin zu öffnen, angenommen hat.
1 | Schiffbruch mit Zuschauer Der Untergang der Titanic im frühen deutschen Kino
A TTRAKTION UND E REIGNIS : D AS V ERMÄCHTNIS DES FRÜHEN K INOS Auf die Verwandtschaft zwischen dem frühen »Kino der Attraktionen« und dem post-klassischen Ereigniskino Hollywoods ist wiederholt hingewiesen worden. Schon Tom Gunning hat am Ende seiner begriffsbildenden Arbeit zur Wirkungsweise des Kinos der Attraktionen auf dessen »ambivalentes Vermächtnis« verwiesen, das sich nicht nur in der ästhetischen Praxis der Filmavantgarde zeige, sondern ebenso im »modernen Spektakel-Kino« Hollywoods fortwirke: »einerseits die direkte Attacke auf den Zuschauer [...], andererseits eine lineare narrative Kontinuität. So zeigt sich das ambivalente Vermächtnis des frühen Kinos.«1 In der Spannung zwischen dem direkten, über die visuelle Lust am dargebotenen Spektakel hergestellten Kontakt mit dem Publikum und der Integration von Schauwerten in eine kohärente Erzählstruktur hat im prä- wie im post-klassischen Kino tendenziell die »dramatische Zur-Schau-Stellung« Vorrang vor narrativer Geschlossenheit:
1
Gunning, Tom: »Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde«. In: Meteor 4 (1996), S. 25-34, hier S. 34. Gunnings Aufsatz wurde zuerst veröffentlicht unter dem Titel: »The Cinema of Attractions. Early Film, Its Spectator and the Avantgarde«, in: Wide Angle 3/4 (Herbst 1986), S. 63-70.
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»Das Kino der Attraktionen verwendet nur wenig Energie darauf, Figuren mit psychologischer Motivation oder individueller Persönlichkeit auszustatten. Indem es sich sowohl fiktionaler wie nichtfiktionaler Attraktionen bedient, wendet es seine Energie eher nach außen in Richtung auf einen Zuschauer, der als solcher akzeptiert wird, statt nach innen, auf Situationen, die auf (fiktiven) Figuren basieren und essentiell für das klassische erzählerische Moment wären.«2
Allerdings, räumt Gunning ein, sind die Effekte des zeitgenössischen Hollywoodkinos »sehr gezähmte Attraktionen.«3 Gezähmt vor allem insofern, als sie in erster Linie filmische Attraktionen böten, während das »einmalige Ereignis«, mit dem das frühe Kino »die visuelle Neugier erweckt und vermittels eines aufregenden Spektakels Vergnügen bereitet«, auch dokumentarisch »für sich interessant sein kann«.4 Der historische Attraktionswert eines frühen Films speist sich demnach aus einem im doppelten Sinne über das filmische Ereignis hinausweisenden Bezugsrahmen: In seiner Wirkungsabsicht zielt die Attraktion auf ein physisch im Kino vorhandenes Publikum (nicht auf einen imaginär »vereinzelten« Zuschauer). Dieses als Öffentlichkeit adressierte Publikum wiederum ist durch ein kulturelles »Vorwissen« geprägt, das in der außerfilmischen Referenzialität von Stoffwahl und Aufführungspraxis aktualisiert wird.5 Wie im Anschluss an Gunnings Thesen festgestellt wurde, scheint gerade in einer solchen über formale Analogien hinausgehenden kulturellen Vernetzung das Ereigniskino des frühen mit dem des späten 20. Jahrhunderts zu kommunizieren. Für Miriam Hansen etwa markieren beide Formen nicht so sehr »als eigene Öffentlichkeit, die von den spezifischen Verhältnissen zwischen Repräsentation und Rezeption definiert wird«, sondern vielmehr erst »als Teil eines größeren gesellschaftlichen Horizonts, der von anderen Medien und von sich überschneidenden lokalen, nationalen und globalen, intersubjektiven und deterri-
2
Ebd., S. 30.
3
Ebd., S. 34.
4
Ebd., S. 29.
5
Vgl. Musser, Charles: »Die Nickelodeon-Ära beginnt. Zur Herausbildung der Rahmenbedingungen für den Repräsentationsmodus Hollywoods«, in: KINtop 5 (1996), S. 13-35.
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torialisierten Strukturen des öffentlichen Lebens definiert wird«,6 eine für die Filmgeschichtsschreibung signifikante Konstellation: »Beide Perioden werden von einer tiefgreifenden Umwälzung der Beziehungen zwischen kultureller Repräsentation und Rezeption charakterisiert [...]. Beide Stadien der Medienkultur unterscheiden sich deutlich von der klassischen Norm einer Rezeptionskontrolle durch einen starken diegetischen Effekt, der von spezifischen Textstrategien und einer Unterdrückung des Aufführungskontextes erreicht wird; im Gegensatz dazu gestatten prä- und post-klassische Formen der Zuschauerschaft dem Zuschauer [...] einen größeren Spielraum der Interaktion mit dem Film, ein größeres Bewußtsein von der Aufführung und der kulturellen Intertexte. [...] Frühmoderne und postmoderne Formen des Medienkonsums zueinander in eine Konstellation zu rücken, könnte etwas von der Unvermeidbarkeit nehmen, die sich das klassische Paradigma sowohl in der Eigenwerbung Hollywoods als auch in funktionalistischen Filmgeschichten angeeignet hat.«7
Dass das frühe Kino auch im wilhelminischen Deutschland als »diskursiver Horizont« der Moderne Katalysator und Kristallisationspunkt einer veränderten Form von Öffentlichkeit und öffentlicher Erfahrung war,8 ist häufig in Begriffen einer misslungenen Loslösung von den
6
Hansen, Miriam: »Early Cinema, Late Cinema. Permutations of the Public
7
Ebd., S. 210.
8
Vgl. Hansen, Miriam Bratu: »America, Paris, the Alps. Kracauer (and
Sphere«, in: Screen 3 (Herbst 1993), S. 206.
Benjamin) on Cinema and Modernity«, in: Leo Charney/Vanessa Schwartz (Hg.), Cinema and the Invention of Modern Life, Berkeley/Los Angeles/ London: University of California Press 1995, S. 366f.: »the cinema was not just one among a number of perceptual technologies, nor even the culmination of a particular logic of the gaze; it was above all [...] the single most expansive horizon in which the effects of modernity were reflected, rejected or denied, transmuted or negotiated. It was both part and prominent symptom of a crisis as which modernity was perceived, and at the same time it evolved into a social discourse in which a wide variety of groups sought to come to terms with the traumatic impact of modernization.« Vgl. a. Hansen, Miriam: »Early Silent Cinema – Whose Public Sphere?«, in: New German Critique 29 (Frühjahr/Sommer 1983), S. 147184.
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etablierten Künsten und staatlich-institutionellen Interessenlagen bestritten worden. So wurden die bestimmenden Merkmale der filmästhetischen Entwicklung des deutschen Films vielfach in äußeren Einflussnahmen gesucht und gefunden: die Eingriffe und Auswirkungen von Autorenfilmbewegung und Theaterschauspieler-Transfer,9 Kinoreform und Kino-Debatte,10 Filmkritik11 und Filmzensur,12 Kriegspropaganda und staatlicher Bevormundung13 lieferten einige der Stichworte, anhand derer die Notwendigkeit einer kontextualisierenden und historisierenden Betrachtung der Filme zwar erkannt und – insbesondere für künstlerisch ambitionierte Produktionen des Autorenfilms und des fantastischen Films – umgesetzt, kaum einmal jedoch als neuartiges mediales Potenzial und umwälzende ästhetische Strategie auf dem Feld der öffentlichen Wahrnehmung bewertet und in eine Funktionsanalyse auch populärer Genres überführt wurde.14 Gerade in dieser Hinsicht könnte eine genauere Betrachtung des erst in jüngster Zeit wiederentdeckten Films TITANIC – IN NACHT UND
9
Greve, Ludwig (Hg.): Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm, Stuttgart: Kösel 1976; Heller, Heinz-B.: Literarische Intelligenz und Film. Zur Veränderung der ästhetischen Theorie und Praxis unter dem Eindruck des Films, Tübingen: Niemeyer 1984; Paech, Joachim: Literatur und Film, Stuttgart: Metzler 1988.
10 Kaes, Anton (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929, Tübingen/München: Niemeyer/DTV 1978; Schweinitz, Jörg (Hg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig: Reclam 1992. 11 Diederichs, Helmut H.: Anfänge deutscher Filmkritik. Stuttgart: Wiedleroither 1986. 12 Kilchenstein, Gabriele: Frühe Filmzensur in Deutschland. Eine vergleichende Studie zur Prüfungspraxis in Berlin und München (1906-1914). München: Diskurs Film 1997. 13 Barkhausen, Hans: Filmpropaganda in Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hildesheim: Olms 1982; Oppelt, Ulrike: Film und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Propaganda als Medienrealität im Aktualitäten- und Dokumentarfilm, Stuttgart: Steiner 2002. 14 Eine Ausnahme bildet hier vor allem die feministisch inspirierte Untersuchung von Schlüpmann, Heide: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos. Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1990.
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EIS (1912) wertvolle Hinweise liefern. Denn selten hat sich die oft konstatierte Korrespondenz zwischen den spezifischen Formen der Öffentlichkeit, die das kommerzielle »Attraktions-« bzw. »Ereigniskino« der beiden letzten Jahrhundertwenden schaffte, so konkretisiert wie in diesem Fall, in dem der publizistische Vorlauf zum Deutschlandstart von James Camerons TITANIC (1997) zu einem historischen Verweis auf den – zunächst nur aus zeitgenössischen Berichten der Fachpresse überlieferten – frühen Vorläuferfilm führte. Noch bevor sich über die unterschiedlichen, dem jeweiligen filmtechnischen Entwicklungsstand und den filmästhetischen Konventionen beider Filme geschuldeten Repräsentationsformen des Titanic-Stoffes Differenzen und Entsprechungen herstellen konnten, kommunizierten sie über ihre – jeweils zu spezifizierende, wenn nicht zu revidierende – Gattungsverwandtschaft als populäre Katastrophenfilme hinaus bereits im (Presse-)Spiegel der massenmedialen Vermarktungskanäle, mit denen sie ihre historisch und kulturell spezifische Öffentlichkeit herzustellen versuchten.15
15 Am 3. Januar 1998 nahm Andreas Austilat den Deutschlandstart von James Camerons aktueller Titanic-Verfilmung zum Anlass, um im Berliner Tagesspiegel auf den angeblich verschollenen Film TITANIC – IN NACHT UND
EIS als der vermeintlich ersten Spielfilmadaption des Stoffes auf-
merksam zu machen. Schnell stellte sich heraus, dass der Film keineswegs verloren, sondern in mehreren fragmentarischen Privat- und ArchivKopien überliefert war. Zunächst meldeten sich zwei private Filmsammler, die im Besitz von jeweils einer Super-8-Kopie des Films waren. Nun reagierte auch die Stiftung Deutsche Kinemathek und teilte mit, in ihrem Archiv über eine viragierte 35mm-Exportkopie des Films mit schwedischen Zwischentiteln zu verfügen, die sie 1990 vom Svenska Filminstitut aus Stockholm erhalten hatte. Nachdem für eine Fernsehausstrahlung zunächst nur deutsche Zwischentitel eingefügt wurden, ist das schwedische Material schließlich mit Fragmenten aus dem Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main und dem National Film & Television Archive in London zu einer integralen 35mm-Fassung zusammengeführt worden. Zur Wiederentdeckung des Films vgl. Austilat, Andreas: »Die Titanic ist wieder aufgetaucht«, in: Der Tagesspiegel vom 18.2.1998, S. 9; Austilat, Andreas: »Ein Schiff – zwei Kapitäne«, in: Der Tagesspiegel vom 23.2.1998, S. 9; Wedel, Michael: »Jüngst wiederaufgetaucht – damals untergegangen. Anmerkungen zur Wiederentdeckung des Titanic-Films IN NACHT UND EIS (D
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Für Mime Misu, den Regisseur des Films, gründete sich der Kunstanspruch des Kinos gerade nicht in der Annäherung an das Theater und die Literatur, sondern vielmehr in einem ihnen gegenüber weitaus höheren Grad der Wirklichkeitsabbildung: »Unsere Requisitenkammer ist die prächtige Welt selbst, unsere naturgetreueste Beleuchtung die Sonne und keine Zwischenpause bei dem Fortlauf der Handlung zerreißt die Stimmung.«16 Entscheidend für die künstlerische sei die kulturelle Bedeutung des Kinos, die sich vor allem in seinem einzigartigen Potenzial als Massenmedium zeige: »[D]er Hunger nach Kunst lebt in jedem Menschen, und zwar ohne Ausnahme. Meist unbewußt. Sechzig Millionen Menschen international sitzen täglich laut Statistik im Kinotheater. Noch nicht der fünfte Teil im Schauspieltheater. Würden Millionen von Menschen täglich zu den Stätten einer Unkunst drängen?«17
Die technische Grundlage des Kinos – hinsichtlich seiner foto-realistischen Abbildungs- wie seiner massenmedialen Vervielfältigungsmöglichkeiten – widerspricht in Misus Augen dem Kunstanspruch keineswegs, allerdings sei der »rein technische Kino-Apparat [...] ein Nichts, wenn er nicht durch intellektuelles Denken des Menschen zur Betätigung kommt.«18
S CHIFFBRUCH MIT Z USCHAUER : T ITANIC – I N N ACHT UND E IS Wie diese konzeptionelle Durchdringung des technischen Apparats von Misu regiepraktisch umgesetzt wurde, lässt sich heute an seinem einzigen nahezu vollständig überlieferten Film TITANIC – IN NACHT
1912)«, in: Filmblatt 6 (Winter 1997[/98]), S. 41-45; zur Restaurierung des Films vgl. Demenok, Artem: »Restauriert: IN NACHT UND EIS (D 1912, R: Mime Misu)«, in: Filmblatt 9 (Winter 1998/99), S. 25f. 16 Misu [, Mime]: »Kunst und nochmals Kunst«, in: Die Lichtbild-Bühne 23 (7.6.1913), Sonderbeilage der Luxusausgabe »Der Kino-Regisseur«, S. 122. 17 Ebd. 18 Ebd.
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EIS überprüfen. Aufgrund des ungleich größeren Ereignischarakters und der starken Medienkonkurrenz war die Produktionsstrategie von TITANIC – IN NACHT UND EIS in hohem Maße auf Aktualität ausgerichtet. Keine zwei Wochen, nachdem der Ozeanriese der White Star-Linie in der Nacht zum 15. April 1912 gesunken war, kündigte die Produktionsfirma Continental in der Fachpresse für den Monat Mai eine filmische Dramatisierung des Unglücks an: Unter dem Titel »Der Untergang der Titanic« sollte ein »Seedrama« hergestellt werden, »umfassend die ganze Katastrophe, einschl. des Zusammenstoßes mit dem Eisberge und schwer dramatischer Szenen an Bord«.19 Am 11. Mai wurde das Erscheinungsdatum auf den 22. Juni verschoben und – »[u]m irgend welchen Mißverständnissen vorzubeugen« – bekannt gegeben, dass der Film unter der Regie von UND
»Oberregisseur Misu [...] ein längeres Drama darstellt, welches in Bezug auf dramatischen Wert und technische Ausführung absolut einwandfrei ist. Es handelt sich also weder um willkürlich (teils aus älteren Aufnahmen) aneinandergereihte Szenen, noch um roh wirkende Sensationshascherei.«20
Als solche wurden nicht nur seitens der Continental die Verarbeitungen des Titanic-Unglücks empfunden, die zu diesem Zeitpunkt in die deutschen Kinos kamen. Sie bestanden in der Tat teils darin, existierendes Filmmaterial lediglich in äußeren Bezug zum aktuellen Medienereignis zu setzen. So bot die erste deutsche Wochenschau DER TAG IM FILM für die Woche vom 23.-29. April 1912 unter dem Titel DIE SCHWIMMENDEN EISBERGE ein Sujet an, dessen Aktualitäts- und somit Attraktionswert sich allein aus folgendem Hinweis konstituierte, der wohl als Zwischentitel den Bildern beigegeben war: »Die schwimmenden Eisberge bilden selbst für den Riesendampfer eine Gefahr. Die ›Titanic‹ kollidierte mit einem solchen Eisberg und wurde zum Sinken gebracht, wobei ca. 1.500 Personen ums Leben kamen. Bei der Zeppelinschen Studienreise nach Spitzbergen begegnete man ebenfalls den schwim-
19 Erste Internationale Film-Zeitung 17 (27.4.1912), S. 31. 20 Anon.: »Bekanntmachung«, in: Erste Internationale Film-Zeitung 19 (11. 5.1912), o.S.
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menden Eisbergen. 9/10 ihrer Größe befinden sich meist unter dem Wasser. Im Boot befinden sich Se. Exzellenz von Zeppelin und Geheimrat Dr. Hergesell.«21
An gleicher Stelle inserierte das Filmhaus Th. Scherff aus Leipzig Lindenau am 1. Mai eine Serie von 8 ½ x 8 ½ cm großen Lichtbild-Diapositiven, die unter dem Titel Der Untergang der »Titanic« eine »wahrheitsgetreue Wiedergabe nach Originalzeichnung eines berühmten Marinemalers« darstellten und »sofort lieferbar« seien.22 Es war vermutlich diese Lichtbild-Serie, die am 11. Mai vom Central-Kino in Pirmasens unter dem Versprechen der »größte[n] Zugkraft« und zusammen mit einem »polizeil. erlaubte[n] Separat-Cabaret-Programm sofort billig« auf dem Wege der Zweitverwertung zur Ausleihe oder zum Verkauf angeboten wurde.23 Die größte Verbreitung fand in Deutschland (wie auch international24) jedoch die 130 Meter lange Aktualität KATASTROPHE DER »TITANIC« der Gaumont-Wochenschau, die ab dem 11. Mai in 20 Kopien bereits in der zweiten Woche von der Vertriebsfirma Martin Dentler, später von der deutschen Gaumont-Filiale Elge-Gaumont verliehen wurde. Die aufgrund der Materiallage – es gab kaum Originalaufnahmen der Titanic, bevor sie zu ihrer Jungfernfahrt aufgebrochen war25 – notwendigerweise disparate Szenenfolge wird wie folgt beschrieben: »Kapitän Smith auf seiner Kommando-Brücke – Die Eisberge, die Urheber der Katastrophe – Die kolossale Menschenmenge vor dem Büro der White-StarLinie in New York – Ankunft der ›Carpathia‹ mit den Geretteten an Bord –
21 Der Kinematograph 279 (1.5.1912), o.S. 22 Ebd. 23 Erste Internationale Film-Zeitung 19 (11.5.1912), o.S. 24 Vgl. Bottomore, Stephen: The Titanic and Silent Cinema, East Sussex: The Projection Box 2000, S. 69-105. Das Material wurde von der amerikanischen Gaumont-Wochenschau ANIMATED WEEKLY produziert. Ein deutscher Vertrieb des mit 400 Metern weitaus längeren Wochenschauprogramms der Britischen Globe Company vom Mai 1912 lässt sich heute in keinem Archiv mehr nachweisen. 25 Vgl. ebd., S. 89.
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Einige Überlebende der ›Titanic‹ – Herr Marconi, durch dessen geniale Erfindung über 700 Menschen das Leben gerettet wurde.«26
Weniger der Inhalt, als vielmehr die Aufführungspraxis der GaumontAktualität wurde in der deutschen Fachöffentlichkeit kontrovers aufgenommen. Anfang Juni berichtet die Lichtbild-Bühne unter Bezugnahme auf den Oberschlesischen Kurier von der Vorführung des Gaumont-Films in Kattowitz.27 Diese »aktuelle Aufnahme« hätte zu diesem Zeitpunkt bereits »durch alle erstklassigen Lichtspiel-Theater sämtlicher Großstädte die Runde«28 gemacht: »Ein jedes Ereignis muß ihnen dazu dienen, die Kassen zu füllen; das gräßliche, das furchtbare, das ungeheure sogar. [...] Das Publikum will überall ›dabei gewesen sein‹. Es ist ein ewiger Hans, der das Gruseln nimmer lernt. Es sieht die ›Titanic‹ ausfahren. Es sieht dann einen ›Eisberg‹. Es sieht schließlich die ›Karpathia‹ mit den Geretteten der ›Titanic‹ in den Hafen von Newyork einlaufen.«29
Zur Vorführung von Gaumonts KATASTROPHE DER TITANIC in Kattowitz wurde das Publikum gebeten, den Choral »Näher mein Gott zu Dir« anzustimmen, den – der damals bereits etablierten Titanic-Legende zufolge30 – die Bordkapelle zum Untergang gespielt haben soll: »Jeder Besucher erhält den Text des Liedes gratis.«31 Fred Berger, der
26 Erste Internationale Film-Zeitung 19 (11.5.1912), o.S.; vgl. a. Der Kinematograph 280 (15.5.1912), o.S. 27 Anon.: »Die Rache einer Tageszeitung. Der ›Oberschlesische Kurier‹ und seine gerechte Abfuhr«, in: Die Lichtbild-Bühne 23 (8.6.1912), S. 20 u. 25. 28 Ebd., S. 25. 29 Ebd., S. 20. 30 Zur Rezeption des Unglücks in Deutschland vgl. Driessen, Barbara: Tragödie der Technik, Triumph der Medien. Die Berichterstattung über den Untergang der Titanic in der zeitgenössischen deutschen und britischen Presse, Münster: LIT Verlag 1999. Zur Frage, was die Bordkapelle auf der Titanic tatsächlich zu welchem Zeitpunkt gespielt haben könnte, sowie zur Entwicklung dieser Facette des Titanic-Mythos vgl. Jack, Ian: »Leonardo’s Grave«, in: Granta 67 (Herbst 1999), S. 7-38. 31 Anon.: »Die Rache einer Tageszeitung«, S. 20.
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Inhaber des Kattowitzer Kinos, wies den Vorwurf eines Affekt heischenden Sensationalismus mit den Worten zurück: »Noch stehen wir alle unter dem Eindruck der furchtbaren Titanic-Katastrophe; doch wieviel Niederschmetterndes dies Ereignis auch hat, so erbaut man sich doch, wenn man liest, wie heroisch sich die Mitglieder der Schiffskapelle in das unvermeidliche Schicksal fügten und eine tiefe Ergriffenheit erfaßt denjenigen, der sich im Geiste vorstellt, wie Hunderte auf dem weiten Ozean mit dem Tode rangen, wie das Schiff mehr und mehr sich ins Wasser senkte und angesichts des sicheren Todes die frommen Weisen der Schiffskapelle ›Näher mein Gott zu Dir!‹ über das Meer brausten! – Wie vielen ist diese herrliche Melodie ein Sterbelied geworden.«32
Ähnliche Versuche, das den Wochenschauen zur Verfügung stehende Bildmaterial durch dramatisierende Zwischentitel, begleitende Kommentare und vor allem musikalische Illustration emotional aufzuladen, sind auch aus anderen Ländern überliefert.33 Die in der GaumontWochenschau zwischen einer älteren Aufnahme von Kapitän Smith auf der Kommandobrücke (gefilmt im Jahr zuvor auf der Olympic, dem Schwesterschiff der Titanic) und Bildern von der Menschenmenge vor dem Büro der White Star-Linie in New York nach der Bekanntgabe des Unglücks eingefügte Einstellung mit treibenden Eisbergen sowie ein ans Ende des Films gesetztes pathetisches Bild vom Wellengang auf offener See im Gegenlicht der untergehenden Sonne dienten aber auch dazu, eine Struktur in die Abfolge der einzelnen Szenen zu bringen, die über die dem frühen nichtfiktionalen Film eigene Gegenwart des Zeigens34 hinaus einen kausalen Zusammenhang zwischen den Bildern stiftet. Innerhalb einer prozessualen Logik des Vorher und Nachher evoziert das Bild mit Eisbergen eine raumzeitliche Nähe zum abwesenden Ereignis, während die letzte Einstellung des Films, vom
32 Ebd. 33 Vgl. Bottomore: The Titanic and Silent Cinema, S. 90-104. 34 Vgl. Gunning, Tom: »Vor dem Dokumentarfilm. Frühe non-fiction-Filme und die Ästhetik der ›Ansicht‹«, in: KINtop 4 (1995), S. 111-122; Uricchio, William: »Aktualitäten als Bilder der Zeit«, in: KINtop 6 (1997), S. 43-50.
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Gesang des Publikums begleitet, den imaginären Ort des Ereignisses mit Ort und Zeit der Rezeption verbindet.35 An derartigen Wochenschau-Praktiken ist das Bemühen ablesbar, einerseits gegen das Fehlen authentischer Bilder vom Ereignis selbst diskursiv aufzukommen und andererseits eine narrative Zeitstruktur zu finden, die das Geschehene mit dem im Kino Gesehenen in ein direktes affektives Verhältnis setzt. Beide Tendenzen – die sich auch in der Berichterstattung der illustrierten Presse über das Titanic-Unglück wiederfinden lassen36 – deuten auf den Bedarf einer fiktionalen Behandlung des Ereignisses, die auch die Filmindustrie nicht lange schuldig bleiben sollte. Mit der American-Standard-Produktion SAVED FROM THE TITANIC kam bereits Anfang Juli 1912 die erste vollständig dramatisierte Filmversion des Ereignisses unter dem Verleihtitel WAS DIE TITANIC SIE 37 LEHRTE auf den deutschen Markt. Hauptdarstellerin und Heldin des Films war die Schauspielerin und Titanic-Überlebende Dorothy Gibson, die auch am Drehbuch mitgewirkt habe soll. Von einer Rahmenhandlung eingefasst, die die Sorge der Angehörigen nach der Nachricht vom Unglück und die Heimkehr der Heldin darstellte, schilderte der Film in einer langen Rückblende die Ereignisse, wie sie Dorothy ihren Eltern und ihrem Verlobten erzählt. Innerhalb der Binnenhandlung verwendete der heute verschollene Film schriftlichen Quellen zufolge dokumentarische Originalaufnahmen von der Titanic. In einer anderen Szene der Rückblende wurde auch die Kollision mit dem Eisberg nachgestellt.38 Der ersten filmischen Dramatisierung des Un-
35 Die letzte Einstellung des Films wird von dem Zwischentitel kommentiert: »Oceano Nox – O Wellen! Von welch traurigen Ereignissen könnt ihr erzählen!« Ich beziehe mich hier auf die im Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin überlieferte deutsche Verleihfassung der Gaumont-Wochenschau mit einer Länge von 119,3 Metern. Dank an Jeanpaul Goergen, der mich auf diese Kopie aufmerksam gemacht hat. 36 Vgl. Biel, Steven: Down with the Old Canoe. A Cultural History of the Titanic, New York/London: Norton 1996; Howells, Richard: The Myth of the Titanic, London: Macmillan 1999. 37 Sie wurde am 6. Juli in Berlin zur Zensur eingereicht. Vgl. Birett, Herbert: Verzeichnis in Deutschland gelaufener Filme, München u.a.: K.G. Saur 1980, S. 53. 38 Vgl. Bottomore: The Titanic and Silent Cinema, S. 111.
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glücks verlieh die verschachtelte Erzähltechnik der Rückblende somit eine recht komplexe Narrationsstruktur, in der die diegetische Erzählung der Hauptfigur gegenüber ihren Angehörigen analog zur filmischen Repräsentation des Ereignisses für ein Kinopublikum funktionierte. In der deutlichen Hervorhebung des Erzählaktes signalisierte SAVED FROM THE TITANIC einerseits die Freiheiten einer inszenierten, d.h. auch filmisch erzählten Repräsentation des Ereignisses. Andererseits sollte die Tatsache, dass hier der Erlebnisbericht einer Überlebenden inszeniert wird, der filmischen Darstellung Authentizität und Glaubwürdigkeit verleihen, was wiederum durch den Einsatz dokumentarischen Materials innerhalb der subjektiven Rückblende zum Ausdruck kam. Die Integration von Wochenschau-Aufnahmen schließt zwar direkt an filmische Vorgänger an, dient jedoch vor allem der deutlichen Absetzung von existierenden nicht-fiktionalen Titanic-Filmen, da erst im Erzählfilm die in den Wochenschauen vor die Kamera geholten Augenzeugen und Überlebenden auch – filmisch – zum Sprechen gebracht werden konnten, und das bedeutet: nicht als stumme Zeugen, sondern als Erzählinstanzen vor das Kinopublikum treten. Die Marktpräsenz sowohl nicht-fiktionaler Filmberichterstattung als auch eines ersten dramatischen Films über den Untergang der Titanic verstärkte den Zeitdruck auf Misu und seine Mitarbeiter. Zudem wurden, während in der ersten Juniwoche die Dreharbeiten zu Misus Filmversion noch in vollem Gange waren, in der deutschen Fachpresse bereits Stimmen laut, die vermeldeten, dass die Faszination des Ereignisses bereits im Abklingen, das Interesse des Publikums an der kinematographischen Darstellung des Katastrophe von der Filmindustrie vielfältig ausgereizt sei: »Und da kann es [das Publikum, M.W.] sich am Ende einbilden, ›mit dabei gewesen‹ zu sein, das Furchtbare miterlebt zu haben? Nein, da muß es, wenn es nicht ganz damisch ist, doch merken, daß es geneppt worden ist. Und so sind auch die ›Eisberge‹ von den Films [sic] verschwunden. Es war nicht zum Gruseln daran; es zieht nicht mehr.«39
Vor diesem Hintergrund müssen sich die wiederholten Meldungen der Continental über eine Verschiebung des Erscheinungsdatums von Misus Film für deutsche Kinobesitzer wie Hiobsbotschaften gelesen ha-
39 Anon.: »Die Rache einer Tageszeitung«, S. 20.
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ben. Am 12. Juni wurde bekannt gegeben, dass aufgrund der »außerordentlich großen technischen Schwierigkeiten, welche wir bei dem kunstvollen Ausbau des Films TITANIC zu überwinden hatten« und wegen der »ganz außergewöhnlich hohen Kosten, welche wir an diesen Film wenden«, die Uraufführung vom 22. Juni40 auf den 27. Juli verlegt werden musste.41 Obwohl in der Folgezeit in zahlreichen Annoncen der Continental versichert worden war, der Film würde zu diesem Datum »pünktlich [...] mit ausgezeichnetem Reklamematerial«42 ausgegeben werden, erschien am 27. Juli anstelle des Films lediglich eine neuerliche Ankündigung für den 17. August.
Abb. 1
Die Aufnahmen zu den an Deck spielenden Szenen fanden im Mai 1912 in Hamburg und Cuxhaven statt, »mit einem wirklichen Schiff und der gütigen Mitwirkung des ganz wirklichen Meeres«, wie der
40 »Bekanntmachung«, o.S. Als weiterer Grund für die Verzögerung der Produktion wurde später außerdem angegeben: »Sogar der Verhaftung wegen Spionage und der Beschlagnahme des Materials durch eine SeefestungsKommandantur waren unsere Angestellten ausgesetzt.« Vgl. Erste Internationale Filmzeitung 25 (22.6.1912), o.S.; Die Lichtbild-Bühne 25 (22.6. 1912), S. 2f.; Der Kinematograph 287 (26.6.1912), o.S. 41 Die Lichtbild-Bühne 23 (8.6.1912), o.S.; Der Kinematograph 285 (12.6. 1912), o.S. 42 So z.B. in: Die Lichtbild-Bühne 26 (29.6.1912), S. 2.
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Regisseur interessierten Journalisten mitteilte.43 Gedreht wurde vermutlich auf der Auguste-Viktoria der Hamburg-Amerika-Linie, neben den beiden Schwesternschiffen der White Star-Linie einer der wenigen mit vier Schornsteinen ausgestatteten Ozeankreuzer. Im Gegenzug für die Drehgenehmigung wird die Auguste-Viktoria im Film werbewirksam genannt und – vermeintlich von der Titanic aus gesehen – gezeigt. Die Totalaufnahmen der Kollision mit dem Eisberg und der Untergang der Titanic wurden mit Hilfe eines Modellbaus auf dem Grüpelsee bei Königs-Wusterhausen außerhalb Berlins nachgestellt. ContinentalChef Max Rittberger, im bürgerlichen Beruf Ingenieur, soll das acht Meter lange Schiffsmodell als einseitige Attrappe selbst angefertigt haben (Abb. 1).44 Medienwirksam in Szene gesetzt wurden auch die Dreharbeiten zu anderen Teilen des Films, die in der ersten Juni-Woche in Berlin, auf dem Hinterhof des Sitzes der Continental, Chausseestraße 123, stattfanden. Zahlreiche Journalisten der Tages- und Fachpresse wurden eingeladen45 und berichteten ausführlich:
43 Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 8.6.1912. 44 Vgl. Lamprecht, Gerhard: Interview mit Emil Schünemann, 6. 1. 1956. Ein Tonband-Mittschnitt des Interviews befindet sich im Schriftgutarchiv der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen. Die im Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 8.6.1912 auf Max Rittberger bezogene Anmerkung »Der Direktor war selber Kapitän; er weiß, wie es gewesen ist...« ist allerdings irreführend. Schünemann zufolge war es der Vater des Ingenieurs, Eiskunstläufers und Filmproduzenten, der als Kapitän zur See gefahren sein soll. 45 Vgl. Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 8.6.1912: »›Ob ich mitansehen will, wie die ›Titanic‹ gegen die Eisberge stößt, wie die Flammen aus den Kesseln hervorschlagen, die Wasserfluten in die Heizerräume eindringen und die halbnackten Maschinisten sich zu retten suchen, während der Kapitän verzweifelt? [...] Aber ich müßte mich eilen. In dreiviertel Stunden würde das alles geschehen. Und warten mit dem Ereignis könne man nicht auf mich.‹ – Natürlich, das sehe ich ein. – ›Sehr freundlich. Ich fahre gleich mit dem Auto hin...‹ – ›Danke, also auf Wiedersehen.‹ Nämlich in der Chausseestraße in den Ateliers der Filmgesellschaft, die einen Riesenfilm baut; er soll mit allen Mitteln der Technik, Theaterregie, Realismus, Naturalismus, dramatischer Kraft, Feuerwehr, Schießbaumwolle,
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»Aus den Fenstern der Hinterzimmer sehen, halb neugierig, halb ängstlich, die Mitbewohner auf das seltsame Treiben der Leute da unten. Also ein ›Aufbau‹ wie auf jeder Bühne, nur plein air. Auf die Leinwand ist die Dekoration des Kesselraums gemalt; wirkliche Manometer und wirkliche Luken, durch die dann Dampf oder Feuer kommen wird, beweisen das heiße Bemühen der Kinematographenleute um Meiningensche Bühnenkünste. Mehr noch aber die Akteure. Wirkliche Kohlen werden zugeschaufelt und starke Männer stehen rechts und links von der mit Segeltuch überdeckten Szene, an Riesenfässer gelehnt, aus denen die Sturzwellen fließen werden. Ein paar halbnackte Gesellen, berußt, naß, mit wirrem Haar, warten auf das Zeichen des Regisseurs, um die Verzweiflungs-Botschaften des Kapitäns zu vernehmen, der, mit angeklebtem weißen Spitzbart natürlich, in marineblauem Rock inzwischen noch mit den Kurbelmännern an den kinematographischen Apparaturen berät. Dann geht’s an. Durch eine nicht allzu komplizierte mechanische Vorrichtung wird die ganze Bühne ins Schaukeln gebracht. Rückwärts eskortiert von zwei braven Feuerwehrmännern, die außerhalb des Horizonts der Aufnahmelinien für die Sicherheit der Chausseestraße sorgen, wird die Zündschnur in Aktion gesetzt. Es knallt ganz wirklich, und meterhoch schlagen durch die bemalte Wand gelbe Flammen in die Höhe, die Wasserfässer ergießen sich, eine schmutzige Flut umschwimmt die Kohlen, und die Komödianten haben ihr Spiel begonnen. [...] Ein paar Augenblicke war’s wirklich sehr aufregend. Der Briefträger geht durch den Chausseestraßenhof, über den die Wellen der ›Titanic‹ eben in den Abflußkanal strömen. Ich sehe mir im Schuppen noch die Eisberge an.«46
Ein Vergleich der überlieferten Fotografien Misus mit der erhaltenen Filmkopie lässt zwar nicht unbedingt eine Ähnlichkeit erkennen, jedoch ist aufgrund dieses und anderer Drehberichte davon auszugehen, dass Misu selbst die Rolle des Kapitän Smith spielte.47 Der spätere
Dynamit und vielen Wasserfässern eine Rekonstruktion des Untergangs der ›Titanic‹ geben. Er soll und er wird.« 46 Ebd. 47 Vgl. Anon.: »Besuche in Berliner Kino-Ateliers«, in: Die Lichtbild-Bühne 24 (15.6.1912), S. 18: »In ahnungsloser Naivität betritt der Flaneur den Hof des Grundstücks, und in demselben Moment prallt er entsetzt zurück, denn eine gewaltige Detonation erschüttert die Luft. ›Der Kessel ist explodiert‹, ›Hilfe! Ich sterbe!‹ schallt es markerschütternd über den Hof. Wasser, Dampf, Feuer, Rauch und alles mögliche erfüllt die Luft. Man sieht schrecklich Verunglückte über den Unglücksort hinweg, und während das
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Filmregisseur Otto Rippert lässt sich, obwohl gleichfalls mit einem angeklebten Bart versehen, zweifelsfrei als Darsteller des Millionärs Isador Strauß identifizieren. Weitere Hauptrollen waren mit Anton Ernst Rückert als J.J. Astor sowie mit dem Continental-Regisseur Waldemar Hecker besetzt. Ausstattung und Spezialaufbauten besorgte Siegfried Wroblensky, die Kamera führte in Hamburg und Cuxhaven Willy Hameister, in Berlin und Umgebung, wo teilweise mit zwei Kameras gedreht wurde, fotografierten Emil Schünemann und Viktor Zimmermann.48 Die Pressevorführung des Films fand in der ersten Juliwoche in Berlin statt. Schünemann berichtet, dass der überwiegende Teil der anwesenden Kritiker die Vorstellung enttäuscht vorzeitig verlassen haben soll.49 Der Mitarbeiter der Lichtbild-Bühne allerdings veröffentlichte wenig später seine positiven Eindrücke: »Wir müssen bekennen, daß die ›Continental-Kunstfilm‹ mit anerkennenswerter Delikatesse den für den Film äußerst schwierig zu behandelnden Stoff, der infolge seiner schweren Tragik sehr leicht zur sensationellen Wiedergabe verführen konnte, bearbeitet und durchgeführt hat. Die Titanic-Katastrophe ist in ihrer kinematographischen Wiedergabe nicht die Sensationsmache eines effektheischenden Regisseurs, der mit billigen Mitteln arbeitet, sondern schiffstechnisch sogar ein sehr lehrhaftes Bild. Wir loben insbesondere [...] die stimmungsvolle Wirkung der zarten Viragetönung.«50
Die Continental bereitete die offizielle Premiere des Films, die schließlich unter der Schirmherrschaft der Lichtbild-Bühne am 17. August
stockende Herz lähmenden Schreck verursacht, ruft ein vermeintlich wahnsinnig Gewordener: ›Noch mehr Feuer! Der andere Kessel muß auch explodieren! Laßt die Menschen ersaufen! Mehr Wasser!‹ Im Hintergrund arbeiten zwei Kino-Operateure seelenruhig an der Kurbel, und da ich unter den Schmerzverzerrten im Wasser ringend den tüchtigen und genialen Regisseur Misu trotz fehlender Garderobe [sic] erkenne, sehe ich, daß das Unglück ein gewolltes ist. Man sieht also, daß die heutige Filmfabrikation äußerste Realistik verlangt.« 48 Vgl. Lamprecht: Interview mit Emil Schünemann, o.S. 49 Ebd. 50 Anon.: »Der Untergang der Titanic«, in: Die Lichtbild-Bühne 28 (13.7. 1912), S. 18 u. 23.
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stattfand,51 mit zahlreichen Anzeigen vor. Kinobesitzer wurden in der Fachpresse darauf hingewiesen, »daß dieser Film auch auf Wunsch unter Weglassen des Namens ›Titanic‹ unter dem alleinigen Titel IN NACHT UND EIS geliefert wird.«52 Man versprach »ausverkaufte Häuser«53 und sei im Übrigen davon überzeugt, »daß Sie ohne Ausnahme wissen, worin der Wert dieses, den tragischen Untergang der ›Titanic‹ behandelnden See-Dramas für Sie besteht« – der Film sei »dazu berufen, das Ereignis des kommenden Wochen-Programmes genannt zu werden.«54 Eine letzte Werbeanzeige für TITANIC – IN NACHT UND EIS erscheint am 31. August 1912.55 Der bis dato angeblich »grandiose Erfolg« des Films soll mit dem bestätigenden Schreiben eines Kinobesitzers aus Pirmasens belegt werden, dessen Union-Theater »seit Vorführung des Films DIE WEISSE SKLAVIN keinen so ungeheuren Andrang mehr erlebt hat, wie in diesen letzten Tagen.«56 Die Tatsache, dass TITANIC – IN NACHT UND EIS kaum zwei Wochen nach der Berliner Uraufführung in die Provinz – noch dazu »unter sehr vorteilhaften Bedingungen« – verliehen wurde, deutet jedoch eher auf erhebliche Startschwierigkeiten des Films in Deutschland. Die Erklärung der Continental, man sehe sich »aus Gründen der jetzt noch täglich einlaufenden Aufträge gezwungen, Nachbestellungen unter sehr vorteilhaften Bedingungen auszuführen«, erscheint angesichts des nach wöchentlichen Laufzeiten gestaffelten Preisverfalls im damaligen Monopol-Verleihsystem paradox.57 Erst Mitte Oktober kann die Continental den Verkauf von nun allerdings bemerkenswerten 148 Kopien vor allem ins Ausland vermel-
51 Ebd., S. 23. 52 Erste Internationale Film-Zeitung 25 (22.6.1912), o.S.; Die Lichtbild-Bühne 25 (22.6.1912), S. 2f.; Der Kinematograph 287 (26.6.1912), o.S. 53 Die Lichtbild-Bühne 26 (29.6.1912), S. 2f. 54 Die Lichtbild-Bühne 28 (13.7.1912), S. 1. 55 Die Lichtbild-Bühne 35 (31.8.1912), S. 19. 56 Ebd. 57 Ebd. Zur Preisstaffelung des damaligen Monopolverleihs von einzelnen Filmen vgl. Müller, Corinna: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994, S. 126ff.
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den.58 Ende September war der Film in den Niederlanden gestartet worden, Anfang Oktober in Frankreich. Erst Ende des Monats wurde TITANIC – IN NACHT UND EIS schließlich auch in den USA unter dem Verleihtitel SHIPWRECKED IN ICEBERGS gezeigt.59 Während der Film im Ausland erfolgreich gelaufen zu sein scheint – Schünemann bezeichnet ihn im Rückblick als »das größte Geschäft«, da er »durch die ganze Welt«60 gegangen sei –, war sein Erfolg im Inland wohl eher begrenzt. Schon Anfang November wurde TITANIC – IN NACHT UND EIS auf dem einheimischen Markt von der Verleih-Abteilung »Deutschland« als Teil kompilierter Schlager-Programme von ca. 2.000 Metern Länge »zu den billigsten Preisen verliehen«.61 Auch fällt die geringe Presseresonanz auf, die der Film in Deutschland erhielt. Die einzige ausführliche Würdigung, die sich heute noch belegen lässt, erfuhr Misus Film von Walter Thielemann unter dem Titel »Belehrung in unterhaltender Form? Kritische Bemerkungen über einige neue Schlager«: »Unter den Geschmacklosigkeiten bösester Art fällt der ›Titanic‹-Film. Vom kaufmännischen Standpunkt aus ist die Idee, ein derartiges Elementarereignis [...] auf die Lichtbildbühne zu bringen, jedenfalls glänzend durchdacht. Wenn auch in unserer schnellebigen Zeit langsam die Erinnerung an die furchtbare Katastrophe zu schwinden beginnt, so wird die Gelegenheit, das grausige Unglück, soweit es menschliche Einbildungskraft auf die Leinwand zu fesseln vermag, vor sich zu sehen, die große Menge der Kinobesucher gewaltig packen und damit eine zugkräftige und kassenfüllende Nummer darstellen. Der ›Titanic‹-Film ist aber nur auf den ersten Blick ein kluger Griff, näher betrachtet ist er ein Fehler, wie er größer nicht gemacht werden konnte. Ein derartiger Film ist geeignet, dem Publikum gänzlich falsche Vorstellungen von den Vorgängen auf dem Schiff zu geben und Unruhe in das Volk hineinzutragen. Das Verhalten des Kapitäns und seines Offiziers auf dem Lichtbild ist schlechterdings nicht möglich. [...] Abgesehen von manchen Unwahrscheinlichkeiten ist das Schiff selbst unglaublich roh gezeichnet und der Untergang des Schiffes, bei
58 Die Lichtbild-Bühne 41 (12.10.1912), S. 37; Erste Internationale Film-Zeitung 41 (12.10.1912), S. 74f. 59 Er war dort in der Kategorie »non-fiction« lizensiert worden. Vgl. Bottomore: The Titanic and Silent Cinema, S. 121. 60 Vgl. Lamprecht: Interview mit Emil Schünemann, o.S. 61 Die Lichtbild-Bühne 45 (9.11.1912), S. 50.
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dem eine Geistergestalt im Hintergrund erscheint, hätte anders dargestellt werden müssen. [...] Der Film spekuliert auf das Sensationsgelüst der Menge und es ist bedauerlich, daß eine Firma, der wir sonst gute Films [sic] verdanken, einen derartigen ›Kitsch‹ herausbrachte.« 62
Thielemanns die Rhetorik der Continental vermeintlich dekuvrierendes Verdikt der kommerziellen Verkitschung einer menschlichen Tragödie mag das kulturelle Spannungsfeld umreißen, auf dem sich Misus Projekt bewegte, und einige der Vorbehalte erklären, die die Repräsentanten der deutschen Presseöffentlichkeit ihm gegenüber hegten. Ob ästhetische Bearbeitung und Wirkungsintention des Films damit allerdings treffend gekennzeichnet sind, soll im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.
Z URÜCK IN DIE Z UKUNFT : D ER UNMÖGLICHE B LICK Bereits im Eröffnungstitel deutet sich das kulturelle Konfliktpotenzial an, das die Gesamtanlage des Films kennzeichnet. »In Nacht und Eis. Seedrama. Lebenswahr gestellt nach authentischen Berichten« soll einerseits die Dramatisierung eines aktuellen Ereignisses authentifizieren, signalisiert andererseits aber bereits die mediale Bedingtheit des Ereignisses selbst, dessen zu dramatisierender Hergang lediglich aus der Berichterstattung in Presse und Film zu rekonstruieren ist. Tatsächlich kann das Titanic-Unglück, im Sinne des Historikers Hayden White, als eines der ersten Medienereignisse des 20. Jahrhunderts gelten, bei denen der Gegensatz zwischen Fakt und Fiktion nicht mehr auszumachen, das »historische« Ereignis als Objekt verifizierbaren Wissens verschwunden und mit den ihm zugeschriebenen Bedeutungen identisch geworden ist: Die über ein Geschichtsereignis verbreiteten »Fakten« erscheinen in der Medienberichterstattung als Funktion der ihm verliehenen Bedeutungen und sind nicht mehr das Ausgangsmate-
62 Lichtbild-Theater (Wien) 40 (3.10.1912), S. 8.
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rial, aus dem sich die historische Bedeutung eines Ereignisses – dessen »Mythos«, »Legende« oder »Moral« – ableiten lässt.63 Stephen Kern zufolge verhalf die neuartige Kommunikationstechnologie der drahtlose Telegrafie, mit der die Titanic ihre Seenotmeldungen absetzte, im Verbund mit den modernen Massenmedien zum Eindruck einer »Simultaneität« von Ereignis und mediatisierter Verbreitung und Deutung, wie er für die raumzeitlichen Wahrnehmungsveränderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Rundfunk und Fernsehen charakteristisch werden sollte.64 Kulturhistorische Untersuchungen des Titanic-Unglücks haben dokumentiert und beschrieben, wie das Bedeutungspotenzial der letzten telegrafisch übermittelten Nachricht – »Sinking by the head. Have cleared boats and filled them with women and children« – von der internationalen Sensationsberichterstattung aufgenommen und zu dramatischen Titelgeschichten verarbeitet wurde, noch bevor die ersten Augenzeugen auf der Carpathia in New York eintrafen. »Als die Überlebenden im Hafen anlegten«, urteilt etwa Stephen Biel, »war der Mythos bereits fest verankert, ihre Augenzeugenberichte konnten lediglich noch bestätigen, was Presse und Öffentlichkeit schon wussten.«65 Auf die Begrifflichkeit Hayden Whites zugespitzt, ließe es sich auch so formulieren: die »Fakten« folgten der Fiktion. Es ist dieses mediengeschichtliche Szenario, vor dem Misus filmische Repräsentation des Ereignisses als vielschichtiges Palimpsest lesbar wird. Nicht nur bestand bereits zum Zeitpunkt der Dreharbeiten ein hierarchisch ausgeprägter Diskurs über das Ereignis, der das Schicksal bestimmter Personen innerhalb eines sich abzeichnenden narrativen Musters in den Vordergrund rückte und als wieder erkennbare »Protagonisten« etabliert, zu tragischen Helden stilisiert hatte. Binnen kürzester Zeit hatten sich auch verbindliche ikonografische Repräsentationsmuster gebildet, die jede neuerliche Darstellung des Unglücks wenn nicht zu reproduzieren, so zumindest zu reflektieren hatte.
63 White, Hayden: »The Modernist Event«, in: Vivian Sobchack (Hg.), The Persistence of History. Cinema, Television, and the Modern Event, New York/London: Routledge 1996, S. 17-38. 64 Kern, Stephen: The Culture of Time and Space, 1880-1918, Cambridge: Harvard University Press 2003, S. 65ff. 65 Biel: Down with the Old Canoe, S. 25.
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Abb. 3
Der generellen Logik moderner Medienereignisse folgend, deren ästhetischer Mehrwert auf dem Markt sich nicht primär am repräsentierten Ereignis, sondern an diesbezüglich bereits entwickelten Repräsentationsstrategien messen lässt,66 übernimmt TITANIC – IN NACHT UND EIS zu Beginn des ersten Akts weitgehend die dokumentarische Ästhetik der Wochenschau-Berichterstattung. In Totalansichten und Kameraschwenks wird das Schiff im Hafen von Southampton gezeigt, das
66 Vgl. Dayan, Daniel/Katz, Elihu: Media Events. The Live Broadcasting of History, Cambridge/London: Harvard University Press 1992, S. 17f.
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Aufnehmen von Passagieren und Ladung, das Schließen der Seitenluken, die Ausfahrt aus dem Hafen. Geschickt simuliert Misus Inszenierung der Eröffnungssequenz die Wochenschau-Ästhetik auch, um mit den Ehepaaren Strauß und Astor spätere Protagonisten des Dramas aus der Menge der an Bord gehenden Passagiere hervorzuheben, indem ihr Auftritt (Abb. 2 und 3) unmittelbar vorher von zwei Zwischentiteln angezeigt wird: »Ein mit der Titanic untergegangener Milliardär und Frau begeben sich an Bord. (Im Vordergrund mit Reisemütze bezw. Autoschleier)« und »Ein bekannter anderer Milliardär geht mit seiner jungen Frau an Bord. (Vorn mit Schlapphut.) Die junge Frau wurde gerettet, während ihr Mann ertrank, weil er nur darauf bedacht war, Anderen zu helfen.« Die beiden Zwischentitel übernehmen von der Wochenschau-Berichterstattung den Gestus des Zeigens und der sprachlichen Aufmerksamkeitssteuerung, in ihrer beziehungsreichen Anspielung auf das Vorwissen des Publikums weichen sie jedoch entscheidend von dieser Repräsentationsmatrix ab. Zum einen setzen sie voraus, dass das Publikum in der Lage ist, die dargestellten Figuren aufgrund der Informationen über ihr weiteres Schicksal und der Ähnlichkeit der entsprechend zurechtgemachten Schauspieler zu identifizieren. Andererseits etablieren die voraus weisenden Kommentare der beiden Zwischentitel eine Zeitstruktur der Erzählung, die vom gestischen Zugegensein des Aktualitäten-Genres (»dies ist...«), aber auch vom instantanen Präsens des zeitgenössischen, auf physische Aktion ausgerichteten Sensations- und Abenteuerfilms in die paradoxe Erzählzeit der vergangenen Zukunft wechselt: »Es wird gewesen sein«. Analog zur verschachtelten Erzählperspektive in SAVED FROM THE TITANIC installiert Misus Exposition somit eine wissende Erzähl- und Rezeptionshaltung, in der das Publikum die dargestellten Personen zunächst identifizieren, sich jedoch nicht mit ihnen identifizieren soll. Erst gegen Ende des ersten Akts treten neben die dokumentarisierende Geste, mit der der Film auf die außerfilmische Attraktion verweist, Elemente der narrativen Integration und filmischen Fiktionalisierung. Mit dem Auftritt von Kapitän Smith als der zentralen Figur des Films verschiebt sich die Funktion des Kamerablicks tendenziell zugunsten einer Subjektivierung des filmischen Raums. Die Sequenz wird zunächst mit dem Zwischentitel »Dienst auf der Kommandobrücke« eingeleitet, dem letzten einer Serie exemplarische Handlungsrituale beschreibender Titel wie »Herablassen eines Bootes im Hafen«, »Die Stewards holen die Handkoffer an Bord«, »Die Seitenpforten
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werden wasserdicht verschlossen«. Es folgt eine sich von den vorhergehenden Panoramatotalen deutlich absetzende Halbtotalaufnahme des Ersten Offiziers, der durch sein Fernglas die See beobachtet (Abb. 4). Der Film aktiviert hier erstmals einen unsichtbaren Raum jenseits des Bildes, der im Umschnitt auf das betrachtete Objekt – die vorüber fahrende Auguste-Viktoria – sogleich in den Bildraum zurückgebunden wird (Abb. 5).
Abb. 4
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Die Verwendung einer das optische Gerät simulierenden Maskierung etabliert eine Verbindung zwischen beobachtender Person und beobachtetem Objekt und weist die Einstellung als Repräsentation eines subjektiven Blicks aus. Entscheidend ist allerdings, dass die Subjektivierung des Kamerablicks zunächst innerhalb einer parataktischen, nicht dramatisierten Struktur eingeführt wird, die die bis dahin evozierte dokumentarisierende »Lektüre« in ein widersprüchliches Spannungsverhältnis zur sich eben entfaltenden Erzählung rückt: Die subjektivierende Konstruktion lässt den Zuschauer zwar den Blick der handelnden Person teilen, die fehlende Dramatisierung der Einstellungsfolge lässt den imaginären Blick des Ersten Offiziers durchs Fernglas aber auch als Integration des bis dahin dokumentarisch gelenkten Zuschauerblicks in die filmische Erzählung erscheinen.67 Dies wird umso deutlicher, wenn anschließend Kapitän Smith die Brücke betritt und das Fernglas ergreift: Sein Blick auf zwei andere vorbeifahrende Schiffe verdoppelt ohne jede perspektivische Verschiebung nochmals den zuvor eingeübten frontalen Zuschauerblick auf dokumentarisch präsentierte Ereignisse. Im Unterschied zur narrativen Auflösung von Point-of-view-Mustern im Erzählkino klassischer Prägung68 bleibt hier in dialektischer Schwebe, ob die Kamera die Position der fiktiven Figur einnimmt und somit den Zuschauerblick subjektivierend in der Erzählung verankert; oder umgekehrt die Figur in der Repräsentation ihres subjektiven Blicks den Gestus der dokumentarischen Kamera übernimmt und somit als Agent des zuvor kodierten Zuschauerblicks fungiert.
67 Zum Begriff der »dokumentarisierenden Lektüre«, vgl. Odin, Roger: »Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre«, in: Eva Hohenberger (Hg.), Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 8 1998, S. 286-303. Zu parataktischen bzw. hypotaktischen Verwendungen von so genannten keyhole shots und subjektiven Kamera-Einstellungen im frühen Kino vgl. Dagrada, Elena: »Filmsprache und Filmgeschichte. Das Beispiel EINE FLIEGENJAGD, ODER DIE RACHE DER FRAU SCHULTZE von Max und Eugen Skladanowsky«, in: KINtop 4 (1995), S. 143-162. 68 Vgl. Branigan, Edward: Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film, Berlin/New York/Amsterdam: Mouton Publishers 1984.
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Der auf diese Weise höchst ambivalent aufgeladene, zwischen narrativer Absorption und dokumentarischer Attraktion oszillierende Blick kennzeichnet auch die weitere Erzählanlage des Films, bevor in einer parallel zu dieser ersten konstruierten zweiten Schlüsselsequenz mit der Entdeckung der Eisberge eine deutliche Differenz markiert wird. Wie zu Beginn der vorigen Sequenz sieht man den Ersten Offizier auf der Brücke mit dem Fernglas aus dem Bild hinausspähen. Eine wiederum entsprechend maskierte Einstellung zeigt das Meer ruhig daliegen. Nach Zwischenschnitten in eine Passagierskabine und das Bordcafé springt die Handlung an Deck zurück. Man sieht in diagonaler Untersicht einen ebenfalls durchs Fernglas das Meer beobachtenden Matrosen, der plötzlich zu gestikulieren beginnt (Abb. 6). Die folgende Einstellung mit Eisbergen enthüllt die Ursache seiner Aufregung, sie kann jedoch allein durch die Fernrohr-Maskierung (Abb. 7) und den narrativen Zusammenhang, nicht aber von der Kameraperspektive her dem Matrosen zugeschrieben werden, der anschließend noch einmal gezeigt wird, bevor wir zum Ersten Offizier auf die Brücke zurückkehren (Abb. 8). Er blickt (und horcht) zunächst schräg nach oben zum Matrosen im Mastkorb, anschließend wieder durch das Fernglas nach vorn, wo er – aus der gleichen Perspektive wie zuvor der Matrose – die Eisberge entdeckt (Abb. 9 und 10). Von der maskierten Einstellung schneidet Misu zurück auf den nun ebenfalls gestikulierenden und sich mit einem weiteren Blick durchs Fernglas vergewissernden Ersten Offizier. Ein die Einstellung unterbrechender Zwischentitel erläutert die narrative Bedeutung des Gesehenen, interpretiert gleichzeitig die Reaktion des Ersten Offiziers: »Einige gewaltige Eisberge, welche einem großen Eisfelde vorlagern, sind so nahe, dass ein Zusammenstoß mit dem Schiff unvermeidlich erscheint«. Im zweiten Teil der Einstellung setzt der Erste Offizier das Fernglas ab und wechselt die Blickachse in Richtung des im Bild erscheinenden Kapitän Smith, der, nachdem der Offizier nochmals durchs Fernglas auf die Eisberge geblickt hat, seinerseits durchs Fernglas sieht, die Eisberge entdeckt und den weiteren Handlungsverlauf initiiert, indem er, wie der Zuschauer aus dem die Sequenz abschließenden Zwischentitel erfährt, in den Maschinenraum »Volldampf rückwärts« signalisiert (Abb. 11). Bemerkenswert ist, wie subtil der Film in dieser Sequenz die wirkungsästhetische Struktur abermals modifiziert, indem zunächst die zuvor dokumentarisch geweckte Zuschauererwartung enttäuscht wird:
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Abb. 6
Abb. 7
Abb. 8
Abb. 9
Abb. 10
Abb. 11
Der erste Blick durchs Fernglas geht buchstäblich ins Leere, der von Figuren- und Zuschauerinteresse doppelt besetzte Blickraum wird von allen narrativ irrelevanten Objekten geleert, um anschließend semantisch neu definiert zu werden und seine Funktion als auslösendes Moment einer kausalen Handlungskette übernehmen zu können. Während der Blick auf die Eisberge somit narrativ integriert wird, bleibt die meta-diegetische Qualität doch in seiner paradoxen Stellung innerhalb des filmischen Raums gewahrt. Im ansonsten vom Blick des Ersten Offiziers zum Mastkorb und auf den herannahenden Kapitän kohärent organisierten fiktiven Handlungsraum bildet der perspektivisch identische, »unmögliche« Blick aller drei Protagonisten auf die Eisberge ein erratisches Element. Diese Positionierung innerhalb der Raumstruktur kann als Spur eines nichtfiktionalen Kamerablicks verstanden werden, mit der sich formal ein Teil des für sich stehenden Attraktionspotenzials der Eisberge aus den umstrittenen Wochenschaukompilationen einschreibt.
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Das zentrale Interesse des Repräsentationsprozesses gilt damit keinesfalls primär dem Erzählakt, sondern dem »Akt des Sehens«: Die Entdeckung der Eisberge bildet die Schnittstelle zwischen einem über den Blick der Figuren artikulierten, narrativ situierten und handlungsorientierten Verlangen nach visueller Information und dem über die Erzählung hinausweisenden Verlangen des Publikums »zu sehen, wie es gewesen ist«. In der Synthese beider Blickbegehren kristallisiert sich das zentrale wirkungsästhetische Kalkül des Films, den voraus wissenden Blick des Zuschauers mit dem handlungsorientierten, subjektiv »nach vorne« gerichteten Blick der Figuren so weit zu verschränken, dass aus der zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit gespaltenen Temporalität eine filmisch gestaltete Zeit hervorgehen kann: der Blick in die vergangene Zukunft. Ähnlich paradox verfährt die formale Gestaltung mit einem anderen Element filmischen Erzählens, der alternierenden Montage. Sie bildet über weite Strecken das stilistische Hauptmerkmal des Films, wird zunächst jedoch ebenfalls parataktisch verwendet, um verschiedene Handlungsorte einzuführen, die erst im letzten Teil des Films dramatisiert werden. So dient der ständige Szenenwechsel anfangs lediglich dazu, das Publikum auf einen imaginären Rundgang durch die Titanic zu führen: Die alternierende Montage ist anfangs nicht primär von dramaturgischen Prinzipien diktiert, sondern folgt der seriellen Logik einer »Besichtigung«. Abermals wird ein dokumentarischer Blick konstituiert und mit dem Blick der Figuren, vor allem der Paare Strauß und Astor, parallel geführt, wenn im ersten Akt eine »Besichtigung des Bootsdecks durch die genannten Passagiere« (Zwischentitel) stattfindet, man anschließend den »Zeitvertreib der Passagiere an Bord« zu sehen bekommt, Funkstation und Maschinenräume besucht, Zeuge der Abendtoilette in verschiedenen Luxuskabinen (»Toilette in den Luxusappartements für die Soirée an Bord«) sowie der »Abendunterhaltung in dem vornehmen Café Parisien« wird. Unter diese dramaturgisch offene Form der Szenenfolge wird allerdings ein doppelter Boden gelegt, indem der Film für jede auftretende Figur – mit Ausnahme von Kapitän Smith – in Zwischentiteln das spätere Schicksal annonciert und die Besichtigung an Deck in erster Linie den Rettungsbooten gilt (Abb. 12 und 13).
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Abb. 12
Abb. 13
Abb. 14
Abb. 15
Erst mit der Entdeckung der Eisberge wird die alternierende Montage zum dramaturgischen Mittel der handlungsmotivierten Spannungserzeugung. Im gleichen Moment also, in dem auch die Subjektivierung des filmischen Raums narrativ eingebunden wird. Im Zwischenschnitt zum Café Parisien nach der Entdeckung der Eisberge etabliert der Film ein entscheidendes Wissensgefälle zwischen dem alarmierten Schiffspersonal und den arglosen Passagieren, womit sich nicht nur der Blick, sondern nun auch der Wissensvorsprung des Zuschauers in der Erzählung spiegelt. Erst in diesem Moment der Engführung aller virulenten Repräsentationscodes scheint rückwirkend die narrative Bedeutung der vorherigen Szenensprünge blitzartig auf: Die alternierenden Bilder der Beschäftigungen und Aufenthaltsorte der Millionärspaare Strauß und Astor rücken die Figuren zunächst in eine ikonografische Konstellation, deren verhängnisvolle narrative Bedeutung sich aus der rein visuellen erst herausschält, als sich ihre Wege schließlich im Moment der Katastrophe im Café Parisien erstmals auch im fiktionalen Handlungsraum kreuzen und ihr gemeinsames Schicksal sich vollzieht (Abb. 14 und 15).
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Abb. 16
Abb. 17
Der Zuschauer bleibt aufgrund seines in Zeit und Raum niemals vollständig deckungsgleichen Blicks sowie seines so sorgfältig vorbereiteten doppelten Wissensvorsprungs gegenüber allen Figuren einer direkten emotionalen Teilnahme am Schicksal der Figuren zu diesem Zeitpunkt noch entrückt. Aus dieser identifikatorischen Distanz kann er das folgende Spektakel der Kollision als besondere Repräsentationsleistung filmischer Inszenierung genießen. Bei der Darstellung der Kollision selbst vernachlässigt der Film weitgehend den Anspruch einer authentischen Wiedergabe zugunsten der Herausstellung des hohen Schauwerts, den ein frontaler Zusammenstoß bietet. Die Katastrophe wird zunächst von einem distanzierenden Zwischentitel angekündigt, in dem es heißt: »Zusammenstoß
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mit dem Eisberg und seine Wirkung auf und unter Deck«. Es folgt eine Totalansicht des Schiffsmodells, wie es auf die Nachbildung eines Eisbergs auffährt. Daraufhin wird der Moment der Kollision noch dreimal wiederholt, die Erschütterung im Café Parisien, in der Kabine der Millionärsfamilie Allinson und im Maschinenraum nacheinander gezeigt (Abb. 16-18).
Abb. 18
Gemessen an Maßstäben des klassischen Erzählfilms mag die von Misu gewählte serielle Auflösung der Kollisionsszene überraschen. Das unmittelbar zuvor bewiesene, durchaus subtile Verständnis davon, wie durch alternierende Montage der Eindruck von Gleichzeitigkeit erzeugt werden kann, legt nahe, dass es sich hier nicht um erzähltechnisches Unvermögen handelt, sondern eine ganz anders geartete Repräsentationslogik dominiert, die den spektakulären Höhepunkt des Films als filmische Attraktion möglichst oft präsentieren will. Das mehrmalige Zeigen eines einmaligen Vorgangs ist somit weniger als action overlap – dem an frühen Filmen so oft als wenig elegant kritisierten Handlungsüberhang – zu verstehen, sondern eher im Sinne eines den Ereignischarakter des Vorgangs betonenden action replay, wie es heute noch aus einem späteren nichtfiktionalen Gattungszusammenhang, der Sportübertragung, geläufig ist. Bewusst sprengt das Inszenierungsprinzip der exzessiven Reizanflutung in seiner kumulativen Intensivierung der Schockerfahrung die lineare Zeitstruktur der Erzählung, erschüttert zugleich aber auch jede dokumentarisierende Lektüre: Die Ausbreitung der Schockwirkung im Raum, um die es der Inszenierung
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laut Zwischentitel geht, greift vom fiktiven Handlungsraum auf den Raum der Zuschauerwahrnehmung über, dessen Konstanzprinzip durch das als eine Anhäufung von Reizen präsentierte heftige Ereignis durchbrochen wird.69 Im dreimaligen »Jetzt!« der simultanen Traumatisierung werden erstmals auch die unterschiedlichen Zeitebenen der Narration in eine gemeinsamen Erfahrungslogik integriert – die serielle Läsion des ambivalenten ästhetischen Gewebes vernäht erzählte Zeit und Erzählzeit zu einer Zeitschleife von Erlebnis und Wiederholung, deren Utopie eben jenes »es wird gewesen sein« darstellt, mit dem der virtuelle Zuschauerblick zurück in die Zukunft sich selbst begegnet.70 Am Ende des zweiten Akts schlägt so das wirkungsästhetische Kalkül des Films auf die Gegenwart des Betrachters um, dem jedes – narrative, dokumentarisierende – Verständnisraster entzogen wird. Das eigene traumatische Erlebnis des inkommensurablen Wahrnehmungsmaterials muss nun seinerseits in der ästhetischen Organisation des Films verarbeitet werden. Dies bedeutet, nach der Durchtrennung aller virulenten Bedeutungsgewebe die affektiven Energien erneut zu fixieren, Gegenbesetzungen zu errichten, die Bedingungen des Lustprinzips wiederherzustellen.
A LLEGORIE UND E RZÄHLUNG : D IE E RRETTUNG DES P UBLIKUMS Misu entwickelt hierzu im letzten Akt seines Films eine neue, weitaus klassischere Erzählökonomie, die sich auf die Figuren des Kapitän Smith und des ersten Telegrafisten Jack Phillips konzentriert. Nicht zufällig handelt es sich bei ihnen um zwei Figuren, die zuvor vom Schock der Kollision »verschont« geblieben waren, dessen Visualisierung auf der Brücke und in der Funkstation im Film ausgespart wurde, um im Folgenden beide, von körperlicher Erschütterung unversehrt, als intakte Repräsentanten ihrer jeweiligen Körperschaften – der White
69 Vgl. in diesem Zusammenhang Gunning, Tom: »An Aesthetic of Astonishment. Early Film and the Incredulous Spectator«, in: Art & Text 34 (1989), S. 31-45. 70 Zur Zeitlichkeit traumatischer Erfahrung vgl. Caruth, Cathy: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History, Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1996.
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Star-Reederei und der Marconi-Telegrafengesellschaft – herausstellen zu können. Eine Produktionsmitteilung der Continental unterstreicht diese Konzeption der beiden Handlungsträger im zweiten Teil des Films: »Und im all dem Wirrwarr bewahrt, wie unser Film weiter zeigt, die Mannschaft ihre musterhafte Ruhe und erfüllt ihre Pflicht mit eiserner Energie, als ob nichts Außergewöhnliches passiert wäre. [...] Jetzt schreitet der Kapitän selbst zur Marconistation und erteilt dem ersten Telegraphisten, Mr. Philipps, der inzwischen seinen Dienst wieder aufgenommen hatte, Befehle, die ersten Notsignale abzulassen.«71
In alternierenden Bildern werden die Rettungsbemühungen der beiden Hauptfiguren als Wettlauf mit dem Untergang des Schiffes gezeigt (Zwischentitel: »Das Schiff sinkt tiefer und tiefer«), wodurch eine lineare Zeitstruktur vorgegeben wird, die alle Handlungen nun auch in der Binnenlogik der filmischen Erzählung auf einen Endpunkt hin vektorisiert. Um die Figuren Smith und Philipps herum entwickelt Misu ein Szenario, das weitgehend den melodramatischen Konventionen der tragischen Selbstaufopferung genügt und dem deutschen Publikum als rhetorisches Muster aus der Presse vertraut war. Dort allerdings bestand lediglich über die »treue Pflichterfüllung«72 des Marconi-Funkers Einigkeit, nicht jedoch über die Rolle des Kapitäns. »Kapitän Smith?« fragte etwa Maximilian Harden am 15. Juni 1912 in seiner Zeitschrift Die Zukunft angesichts der widersprüchlichen Berichte, die ihm die Massenblätter zutrugen: »Trunkenbold und Taugenichts. Nein: hehrer Held der Pflicht, wie Erde und Meer keinen je sahen. Beim Schlemmermahl hat er sich in Sinnlosigkeit gesoffen und den Dienst versäumt. In der Sekunde des Zusammenstoßes, nüchtern und wachsam, auf der Kommandobrücke gestanden und mit majestätischer
71 Inhaltsbeschreibung der Continental. In: Der Kinematograph 288 (3.7. 1912), o.S. 72 Vgl. Anon.: »In treuer Pflichterfüllung«, in: Illustrierte Rundschau (Beilage zum Hamburger Fremdenblatt) 95 (24.4.1912), 7. Beilage, S. 29. Wiederabgedruckt in: Werner Köster/Thomas Lischeid (Hg.), Titanic. Ein Medienmythos, Leipzig: Reclam 1999, S. 88f.
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Ruhe danach das Rettungswerk geleitet. Sich auf der Brücke erschossen. Ein hilflos verlassenes Kind gepackt, auf seinem Arm durch die Fluth [sic] in ein Boot getragen und sich lächelnd ertränkt.«73
Dass Misus Film ausgerechnet der hier ironisierten Version vom Heldentod des Kapitäns folgt, positioniert ihn innerhalb eines nicht zuletzt ideologisch determinierten Diskurses über die Mittel und Möglichkeiten der Verarbeitung bzw. Vorbeugung eines gesellschaftlichen Traumas. Die Schärfe von Misus filmischer Intervention in der öffentlichen Debatte über den Kapitän der Titanic erweist sich darin, dass das Schicksal dieser Figur als einziges nicht frühzeitig dem Zuschauer avisiert wird. Die bestehende Ungewissheit über die historische Rolle des Kapitäns wird somit zur Involvierung des Zuschauers als Mittel der Spannungserzeugung genutzt, ein von außen an die Erzählung herangetragenes epistemologisches Interesse im zweiten Teil des Films zum identifkatorischen Moment, in der Untergang von Schiff und Kapitän parallelisierenden Schlussszene schließlich zur emotional aufgeladenen Katharsis der Narration: »Das stolze Schiff sinkt in die Tiefe und mit ihm sein größter Held, sein Kapitän! Ehre ihm!«74 Die bereits in den Printmedien zum Heldenmythos stilisierte Figur des Telegrafisten dagegen setzt der Film in kausale Abhängigkeit zu den Handlungen des Kapitäns, wenn dieser persönlich die Funkstation aufsucht, um zunächst den Befehl zur Aussendung von Notsignalen zu erteilen und später emphatisch den Bund zur Selbstaufopferung zu besiegeln.75 Aktive Handlungsmuster, die in der Presse Philipps zugeschrieben werden, überträgt Misu auf Smith. Angesichts der paradoxen Tatsache, dass sowohl die zu würdigende Leistung des Telegrafisten, als auch das zu kritisierende Verhalten des Kapitäns im Verharren am
73 Harden, Maximilian: »Titanic. Report«, in: Die Zukunft (15.6.1912), S. 340-354. Zitiert nach: Köster/Lischeid (Hg.), Titanic. Ein Medienmythos, S. 53. 74 Inhaltsbeschreibung der Continental, in: Erste Internationale Film-Zeitung 25 (22.6.1912), S. 33. 75 Zwischentitel: »Der erste Telegraphist erhält Befehl[,] Notsignale abzugeben.« – »Da auf Rettung nicht mehr zu hoffen ist, entbindet der Kapitän den ersten Telegraphisten von seiner Pflicht. Beide haben den festen Willen, mit dem Schiff unterzugehen; sie sind nur auf Rettung der Passagiere bedacht.«
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Arbeitsplatz bestehen, lässt sich in Presseberichten die Tendenz beobachten, Philipps’ Handlungen zu dynamisieren und mit Smith’ Passivität zu kontrastieren: »Wildes Durcheinander! Ein Geheul aus tausend Kehlen! Kinder schreien, Mütter kreischen. Männer stürzen nach Rettungsringen [...] Oben auf der Brücke steht der Kapitän. Sein Leben ist verwirkt, der Tod steht neben ihm. Und aus dem Tohuwabohu springt ein Mensch, sich gewaltsam eine Gasse bahnend, durch das Gewühl, erklimmt die Treppen und landet endlich in dem Häuschen ganz oben, wo die Apparate für drahtlose Telegraphie aufgestellt sind.«76
Abb. 19
Verglichen mit Philipp Berges’ »Illustration zur Titanic-Katastrophe«, der die filmische Inszenierung in anderer Hinsicht bis in szenische Details hinein zu folgen scheint,77 kehrt der Film diese dynamisierende
76 Berges, Philipp: »Naturgewalten und Menschenwerk. Eine Illustration zur ›Titanic‹-Katastrophe«, in: Hamburger Fremdenblatt 91 (19.4.1912), S. 1f. Wiederabgedruckt in: Köster/Lischeid (Hg.), Titanic. Ein Medienmythos, S. 66-73, Zitat S. 72. 77 Vgl. ebd.: »Durch das Glasfenster schaut der Telegraphist hinab auf die schreckliche Szene aus Dantes Hölle.« In Misus szenografischer Ausgestaltung dieses Details findet sich jenes Fenster in der rückwärtigen Wand des Funkraums wieder und gibt den Blick auf verzweifelte Passagiere –
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Tendenz um und stattet Kapitän Smith mit jener topografischen Mobilität aus, die ihn als Handlungsträger im klassischen Sinne ausweist und gegenüber Philipps und dessen auf die Funkstation begrenzten Aktionsradius ins Zentrum der Erzählung rückt (Abb. 19). Den Widerspruch, dass Smith seinen vorgeschriebenen Posten auf der Brücke verlassen muss, um dieses narrative Mandat übernehmen zu können, löst Misu, indem er ihn seinen Platz zuletzt nur unfreiwillig räumen lässt. »Der Kapitän«, informiert der letzte Zwischentitel des Films, »welcher von einer Welle über Bord gespült ist, rettet einen Ertrinkenden – er bringt ihn bis zu einem Boot – er selbst verweigert seine Rettung. ›Dort ist mein Schiff, mit ihm gehe ich unter‹«.78 Zeitgenössischen Quellen ist zu entnehmen, dass das Ende des Films als allegorischer Zweikampf des Kapitäns mit dem Tod konzipiert war. Aus den erhaltenen Kopien von TITANIC – IN NACHT UND EIS verschwunden ist die Schlusseinstellung, in der hinter dem Eisberg der leibhaftige Tod sichtbar wird: »Und während die Wogen des Meeres an dem Eisberg brausend und brandend emporschlagen, sehen wir das geisterhafte Antlitz des Todes visionenhaft durch den Eiskoloß grinsen, als sei der unerbittliche Tod mit seiner grausigen Ernte zufrieden.«
79
In der bereits zitierten Inhaltsbeschreibung der Continental, die durchaus als rezeptionssteuernder Paratext im Sinne Genettes80 gelesen wer-
eben jene Kinder, Mütter und Männer auf der Suche nach Rettungsringen – im Bildhintergrund frei. 78 Inhaltsbeschreibung der Continental, in: Der Kinematograph 288 (3.7. 1912), o.S. 79 Inhaltsbeschreibung der Continental, in: Erste Internationale Film-Zeitung 25 (22.6.1912), S. 33. Ähnlich allegorisch arbeiten im Jahr darauf WerbeIllustrationen zu Misus Film EXCENTRIC CLUB: In ihnen erscheint schicksalhaft über dem Schiff die finstere Gestalt des Kapitäns, aus dessen zu gierigen Klauen gekrallten Händen Geldmünzen nieder regnen und die See aufwühlen. Vgl. Die Lichtbild-Bühne 50 (13.12.1913), S. 75. 80 Produktionsmitteilungen wie diese entsprächen Genettes Kategorie des »öffentlichen Peritexts«. Vgl. Genette, Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001.
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den kann, ist diese allegorisierende Lektüre, die dem traumatischen Erlebnis eines kontingenten Ereignisses entgegenwirken soll, früh vorbereitet. Hier wird bereits die Entdeckung des Eisbergs von den Worten begleitet: »Dort hinten zieht es herauf wie ein weißes Gespenst!«81 Zielte das ästhetische Kalkül der ersten beiden Akte auf die dialektische Synthese eines den subjektiven Blick der Figuren und den retrospektiven des Zuschauers in sich aufnehmenden Kamera-Bewusstseins, dessen unheimliche Identität sich im Moment des traumatischen Erlebnisses herstellt, so wird im letzten Akt des Films diese Synthese wieder diskursiv geschieden: Der dokumentarisierende Blick auf ein parataktisch strukturiertes Geschehen geht aus der plötzlichen Erschütterung als allegorisierende Lektüre einer melodramatischen Inszenierung hervor. Auf die schockartige Verdichtung folgt die metonymische Verschiebung der Perspektive, die die Abbildung eines tragischen Einzelschicksals im Illusionsraum des sich vollziehenden Dramas im Sinnbild aufhebt: In ihrer allegorischen Stilisierung funktionieren die Figuren des Kapitäns und Telegrafisten nicht mehr als autonome Handlungsträger einer linearen Erzählung, sondern gerinnen zu Repräsentanten eines über die Erzählung hinausweisenden Bedeutungszusammenhangs, der sich an ihnen inszeniert und ausagiert. In der Maske der narrativen Konkretion erscheint dieser übergeordnete Sinnzusammenhang als Dramatisierung jenes technologischen Wandels, dem sich das Medienereignis Titanic verdankt. Bis in die Bewegungsmuster hinein spiegelt der Wettlauf gegen die Zeit, den Kapitän und Telegrafist über ihre jeweiligen Apparaturen aufnehmen, die im Zuge der Modernisierung abgekoppelten Innovationslogiken von Fortbewegung und Kommunikation, Verkehrs- und Informationstechnik.82 Was sich an den beiden Figuren letztlich im Augenblick seiner größten Erschütterung noch einmal rettend ins Bild setzt, ist der Topos von Einheit und »Komfort der raumüberwindenden Techniken« (Georg Simmel). Im Krisenmoment der einen »mißbrauchten Technik, die daran war, alle umzubringen«, wie es Gustav Landauer formulierte, erweist sich erst der existentielle Kulturwert der anderen:
81 Inhaltsbeschreibung der Continental, in: Der Kinematograph 288 (3.7. 1912), o.S. 82 Vgl. Rohbeck, Johannes: Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 132.
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»Die Rettung vieler Hunderte von Menschen durch die drahtlose Telegraphie sollte den Menschen unserer Zeit ein Zeichen und ein Wink sein, über die Kraft unseres Geistes nachzudenken [...]. Die Menschheit [...] ist von der Technik als Wirklichkeit geschaffen worden.«83
Landauers ebenso radikale wie pathetische Definition dessen, was von der telegrafischen »Botschaft der Titanic« als symbolische sublimierbar wird, beschreibt nolens volens genau jenen Prozess der Ablösung individueller lebensweltlicher Erfahrung durch die gleichgeschaltete Erlebnisökonomie einer neuen Gemeinschaft von Medienkonsumenten, auf den Misu in seinen eigenen Texten Kunstanspruch und kulturelle Bedeutung des Kinos gründete: »Die Stimmung inständiger Ergriffenheit, die uns alle überkam, als wir die erste, falsche Nachricht von der Rettung aller empfangen hatten, soll darum nicht verschwinden, soll ihre Kraft und ihren Segen für uns darum nicht einbüßen, daß die mißbrauchte Technik [...] noch so viele ins Meer gebettet hat. Lautlos flog der Hilfeschrei der ›Titanic‹ in die Welt. In die Welt, man beachte es wohl, um das Bild zu erleben, wie es ist: nicht einem bestimmten Ziel zu, nicht an bestimmte befreundete oder durch Gegenseitigkeit verpflichtete Menschen haben sich die Führer der ›Titanic‹ gewandt, sondern sie sandten ihre Botschaft in den Äther, der rings um den Erdball, der in Lüften und allen Dingen wallt. Überall, wo der stumme Ruf eintraf, fuhr er den Fremden in die Glieder [...]. Als die Nachricht von der Not und dem Notschrei der ›Titanic‹ fast gleichzeitig auf dem ganzen Erdenrund bekannt wurde, las diese nämliche sogenannte Menschheit zugleich die Nachricht von der schroffen Note der Vereinigten Staaten von Nordamerika an Mexiko, las davon, daß der Revolutionsgeneral Orozco die Nordamerikaner, die er zu Gefangenen mache, erschießen lassen wolle, und daß der Befehlshaber der regulären Truppen mit der Drohung geantwortet habe, dann werde er eben desgleichen seine Gefangenen ohne Verzug in den Tod befördern.«84
83 Landauer, Gustav: »Die Botschaft der Titanic«, in: Frankfurter Zeitung vom 21.4.1912; zitiert nach: Köster/Lischeid (Hg.), Titanic. Ein Medienmythos, S. 82 und 86f. 84 Ebd., S. 82f. und 87.
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Erst in der reflexiven Integration des Einzelnen in ein kollektives Bewusstsein kann die psychische Integration der Montage disparater »Sensationen« gelingen, mediale Kontingenz nicht als Terror von Informations- und Reizüberflutung, sondern als Instrument vergesellschafteter Selbsterkenntnis empfunden werden. Das frühe Erzählkino hat die veränderte Qualität chronotopischer Wahrnehmung, die unter dem Eindruck moderner Transport- und Kommunikationstechniken entstand, vielfältig genutzt, um die raumzeitliche Autonomie des eigenen Mediums zu naturalisieren und neue Erzähltechniken wie Kreuzschnitt- und Parallelmontage als Spannung erzeugende Mittel inhaltlich zu motivieren. Filme wie Pathés A NAR85 ROW ESCAPE OR THE PHYSICIAN OF THE CASTLE (1908), Edwin S. Porters HEARD OVER THE PHONE (1908), D.W. Griffith’ THE LONELY VILLA (1909), THE LONEDALE OPERATOR (1911) und THE GIRL AND HER TRUST (1912) oder Kalems THE GRIT OF THE GIRL TELEGRAPHER (1912) inszenieren die ineinander verschobenen Beschleunigungsgrade von Informationsvermittlung und Personentransport nach dem Muster einer aktionszentrierten, melodramatischen Rhetorik von Trennung, Rettung und Wiedervereinigung. Die dramatische Isolation der zu rettenden Figur(en) entspricht hier der imaginären Vereinzelung des involvierten Zuschauersubjekts, dessen virtuelle Mobilität das technologisch strukturierte Zeitgefälle der Erzählung als in der filmischen Repräsentation aufgehobenen »Technik-Terror« erlebbar macht.86 In seiner entscheidenden Veränderung dieses kinematographischen Repräsentationsmusters moderner Technikkultur geht es TITANIC – IN NACHT UND EIS letztlich darum, die individuelle Betroffenheit des Zuschauers durch die allegorisierende Zurichtung der erzählten Geschichte in ein neues Gemeinschaftsbewusstsein kollektiver Rezeption zu überführen. Als Vermittlungsinstanz zwischen sinnlicher Wahrnehmung und kognitiver Verarbeitung fungieren einesteils Zwischentitel, die das Geschehen auf der Leinwand immer wieder auf dessen allegorische Lesbarkeit hin anlegen. Die sich zwischen den Bildern kontinuierlich entfaltende Dynamik wird so mit einem illustrativen Repräsen-
85 Archivtitel, französischer Originaltitel unbekannt. 86 Vgl. Gunning, Tom: »Heard over the Phone. THE LONELY VILLA and the de Lorde Tradition of the Terrors of Technology«, in: Screen 2 (Sommer 1991), S. 184-196; Kirby, Lynn: Parallel Tracks. The Railroad and Silent Cinema, Exeter: University of Exeter Press 1997, S. 100ff.
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tationsmodus verschaltet, der sie auf eine vorweggenommene Bedeutung hin einrasten lässt.
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Kulminationspunkt dieser Spannung zwischen diegetischer und extradiegetischer Sinnstruktur ist das Bild der letzten Begegnung zwischen Kapitän und Telegrafist. Im Zwischentitel wird dessen handlungslogische Funktion entrückt und zur emphatischen Visualisierung eines idealisierten Schulterschlusses zwischen den beiden Technologien, die von den Figuren repräsentiert werden: »Da auf Rettung nicht mehr zu hoffen ist, entbindet der Kapitän den ersten Telegraphisten von seiner Pflicht. Beide haben nun den festen Willen, mit dem Schiff unterzugehen; sie sind nur auf die Rettung der Passagiere bedacht.« Piktoriale Inszenierung und melodramatisch überspielte Ausdrucksgebärde gerinnen zur Arabeske eines allegorischen Tableaus, bevor sie sich als überdeterminierte Handlungsfiguration wieder in den Fluss des Erzählzusammenhangs auflösen (Abb. 20).87 Einmal mehr entpuppen sich die
87 Der Darstellungsstil der Schauspieler weist sich somit nur vordergründig als mit den »realistischen« Anforderungen des Erzählfilms unvereinbar »theatralisch« aus. Tatsächlich erfüllt er in der beschriebenen Wirkungsästhetik des Films eine wichtige Funktion. Zum Schauspielstil im frühen Film vgl. Pearson, Roberta: Eloquent Gestures. The Transformation of Performance Style in the Griffith Biograph Films, Berkeley: California University Press 1992; Brewster, Ben/Jacobs, Lea: Theatre to Cinema. Stage
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Figuren im letzten Akt des Films als Doppelagenten innerhalb und außerhalb des diegetischen Horizonts, deren Bewegungen die figurative Bedeutungsebene der Bilder performativ gegen ihre narrative »ausspielen«. Zu dieser doppelten Semantik des Bildraums tritt eine weitere Dimension, in der sich die Wirkungsabsicht des ästhetischen Konzepts erst vollständig enthüllt. Parallel zum Bildraum entwirft der Film einen imaginären Klangraum, der im letzten Akt seine entscheidende Perspektivierung erfährt. Während des gesamten Films durchzieht dieser Klangraum, motivisch an die Bordkapelle gebunden, die einzelnen Szenen. Beim Ablegen an Deck und während der Szenen im Café Parisien bildet in den ersten beiden Akten die Bordkapelle ein konstantes Motiv im Bildhintergrund, auf das einmalig zu Beginn die besondere Aufmerksamkeit des Publikums gelenkt wird: Der Zwischentitel »Die Steward-Kapelle spielt ›Home sweet home‹ (›Heimat, süße Heimat‹)« ist zugleich als Direktive an Orchester bzw. Musiker im Kino zu verstehen, das repräsentierte Geschehen akustisch mit dem kollektiven Erfahrungsraum des Publikums zur Deckung zu bringen. Am Ende des Films wird dieser imaginäre Klangraum, der sich in der Aufführungspraxis mittels Ton-Bild-Synchronisation als akustischer Wahrnehmungsraum des Publikums realisiert,88 perspektivisch in den Raum der Erzählung eingelassen. Indem in Zwischentiteln eine Einstellung mit Überlebenden des Unglücks mit den Worten »Von den im Wasser schwimmenden mit geretteten Passagieren besetzten Booten aus hört man die Stewards-Kapelle an Bord spielen ›Näher, mein Gott zu Dir!‹« eingeleitet und anschließend die musikalische Übereinstimmung durch Mitteilung von Noten- und Textmaterial der letzten Strophe des Chorals sichergestellt wird, erzielt der Film jenes Identifikationsmoment, das die ambivalente Konstruktion des Bildraums der
Pictorialism and the Early Feature Film, Oxford/New York: Oxford University Press 1997, S. 79-138. 88 Ich schließe hier an James Lastras weit gefasstes, rezeptionsorientiertes Verständnis des Begriffs der Synchronisation an, der für die Zeit des stummen Films »jedes festgelegte oder intentionale Verhältnis zwischen Ton und Bild« als Versuch der Synchonisierung von visuellem und akustischem Wahrnehmungsmaterial betrachtet. Vgl. Lastra, James: Sound Technology and the American Cinema. Perception, Representation, Modernity, New York: Columbia University Press 2000, S. 94.
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visuellen Wahrnehmung des individualisierten Zuschauersubjekts zuvor permanent verwehrt hatte: nicht die perspektivische Identität eines vereinten Blicks von Zuschauer und Figur, sondern die gemeinsame Tonperspektive im akustischen Wahrnehmungsraum lässt das kollektive Publikum sich als Teil der Gemeinschaft von »Überlebenden« begreifen und in den Hymnus einstimmen (Abb. 21 und 22).89 Derart perspektiviert, ist dem zentralen Handlungsmotiv des letzten Akts, der Rettung einzelner Passagiere durch Kapitän und Telegrafist, die »Errettung« des Publikums selbst eingeschrieben. Der Zweikampf zwischen Tod und Technik wird zum Vorgang eines letzten allegorischen Umschlagens, mit dem der Film im fiktiven Raum der Erzählung symbolisch die Bedingungen seiner eigenen Öffentlichkeit herstellt. Wenn zuletzt der seinerseits ertrinkende Kapitän einen Ertrinkenden vor dem Untergang bewahrt, rundet sich die Bedeutung suchende Geste des Films endgültig zur erlösenden reflexiven Figur: Mit derselben Bewegung, mit der Misu – als Kapitän Smith und als Regisseur – den Einzelnen in das Kollektiv der Überlebenden integriert, sinkt mit ihrem letzten Handlungsträger die Erzählung in den öffentlichen Raum ihrer Inszenierung zurück.
Abb. 21
89 Berichte über Aufführungen in den Niederlanden dokumentieren den Stellenwert, der der Ausgestaltung des imaginären Klangraums des Films und der Beteiligung des Publikums dabei zukam. So wurde die Vorführung des Films dort beispielsweise von Filmerklärern und Gesangssolisten begleitet, die das Publikum dazu animierten, am Ende den Choral »Nearer, My God, to Thee« mitzusingen. Vgl. Nieuws van de Dag vom 7./14.10.1912. Den Hinweis auf diese Quellen verdanke ich Ivo Blom.
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Abb. 22
So produziert TITANIC – IN NACHT UND EIS lediglich den Schein von Narrativität, um in der Verschränkung verschiedener filmischer Genres, ikonografischer Muster und semantischer Ebenen einen Entwurf kinematographischer Öffentlichkeit zu gestalten und zu reflektieren. In diesem Punkt, und nicht über eine eindimensionale Gattungsverwandtschaft, trifft sich Misus Titanic-Projekt mit dem James Camerons. Das eine wie das andere zielt in seiner wirkungsästhetischen Intention »auf den Genuß der Illusion, nicht aber auf die Illusion eines realen Geschehens« ab. In beiden Filmen ist »nicht die Chronologie eines vergangenen Ereignisses, sondern die Differenz verschiedener Zeitebenen – die erinnerte und die gegenwärtige Zeit, die erzählte Zeit und die Zeit der filmischen Wahrnehmung – [...] zum Gegenstand einer ästhetischen Bearbeitung geworden.«90 In beiden bildet »nicht der Modus des illusionistischen Präsens der Darstellung des Geschehens, sondern ein kinematographisches Bild, das die unterschiedlichen Zeitebenen immanent in Beziehung zu setzen vermag, [...] das Zentrum der audiovisuellen Konstruktion.«91 Jenseits eines dem frühen deutschen Kino so oft unterstellten Primitivismus der filmischen Ausdrucksformen gibt sich das Ereigniskino Misus in seiner komplexen Reflexion der medialen Vernetzung kultu-
90 Kappelhoff, Hermann: »And the Heart will go on and on. Untergangsphantasie und Wiederholungsstruktur in dem Film TITANIC von James Cameron«, in: Montage AV 1 (1999), S. 89. 91 Ebd.
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reller Repräsentation als frühes Stadium der kinematographischen Auseinandersetzung mit den Umschichtungsprozessen der Moderne zu erkennen. Denn auch für Misus ästhetische Bearbeitung des TitanicUnglücks gilt, was der Philosoph Hans Blumenberg einmal in Begriffen einer prekären Positionierung des Zuschauers gegenüber medialen Inszenierungen katastrophaler Ereignisse als Grundkonstellation moderner Realitätserfahrung beschrieben hat: »Nicht darin besteht freilich die Annehmlichkeit, die dem Anblick zugeschrieben wird, daß ein Anderer Qual erleidet, sondern im Genuß des eigenen unbetroffenen Standorts. [...] Aber auch der Zuschauer ist nicht mehr die Figur einer Ausnahmeexistenz des Weisen am Rand der Wirklichkeit, sondern selbst Exponent einer jener Leidenschaften geworden, die das Leben ebenso bewegen wir gefährden. Zwar ist er nicht in das Abenteuer selbst verstrickt, wohl aber der Anziehung von Untergängen und Sensationen hilflos ausgeliefert. [...] Die Unbetroffenheit des modernen Zuschauers ist nicht eine der Anschauung, sondern der ›brennenden Neugierde‹ [...]. Durch die Verlegung vom Meeresstrand ins Theater ist der Zuschauer [...] der moralischen Dimension entzogen, ›ästhetisch‹ geworden.«92
92 Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 31, 39f. und 45.
2 | Plastische Psychologie Eine Archäologie des filmischen Expressionismus
FILM ALS »PLASTISCHE KUNST IN BEWEGUNG« In frühen Äußerungen zur Stilentwicklung des Films, den künstlerischen Potenzialen des Mediums sowie insbesondere den Möglichkeiten, den kinematographischen Erfahrungsraum über die Grenzen der Leinwand hinaus zu entfalten, brachten Filmemacher, Filmkritiker und Filmtheoretiker mit einiger Regelmäßigkeit die Metapher vom Film als einer »plastischen Kunst in Bewegung« ins Spiel.1 In seinem Essay »Die Geburt einer sechsten Kunst« erkannte zum Beispiel Ricciotto Canudo 1911 im Kino »eine herrliche Versöhnung der Rhythmen des Raums (die plastischen Künste) mit den Rhythmen der Zeit (Musik und Dichtkunst)«.2 Canudo zufolge sollte sich der Film nicht nur in belebte Malerei verwandeln, sondern in eine »in der Zeit sich verändernde Skulptur«.3 In einem ganz ähnlichen Sinne hat Vachel Lindsay 1915 davon gesprochen, dass der Wechsel von langen Tableau-Einstellungen und Nahaufnahmen im Film »tumbe Giganten« und »Körper in skulpturalem Relief« hervorbrächte. 4
1
Canudo, Ricciotto: »The Birth of a Sixth Art« [1911], in: Richard Abel (Hg.), French Film Theory and Criticism. A History/Anthology, 19071939, Bd. 1, Princeton: Princeton University Press 1988, S. 58-66, hier S. 59.
2
Ebd.
3
Ebd.
4
Lindsay, Vachel: The Art of the Moving Picture [1915], New York: Modern Library 2000, S. 68.
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Als Hugo Münsterberg 1916 sowohl auf die bildende Künste als auch auf die Stereoskopie als Modelle für die Erzeugung der Wahrnehmungsillusion von Plastizität und Raumtiefe verwies, um den Unterschied zwischen dem Wissensobjekt des Filmzuschauers und dem Gegenstand seines Sinneseindrucks zu verdeutlichen, konnte er an eine bereits etablierte Richtung anschließen, die das Denken über den kinematographischen Raum als Nahtstelle unterschiedlicher medialer Dispositive und Berührungsfläche verschiedener ästhetischer Erfahrungsweisen genommen hatte. »Das Stereoskop«, so Münsterberg, »illustriert […] klar, daß das Wissen um den flächigen Charakter von Bildern keineswegs die tatsächliche Wahrnehmung von Tiefe ausschließt, und es stellt sich die Frage, ob die bewegten Bilder des Lichtspiels, trotz unseres Wissens um die Flächigkeit der Leinwand, uns im Grunde nicht den Eindruck tatsächlicher Tiefe geben«.5
In der frühen theoretischen Diskussion der Frage nach den technischen und stilistischen Möglichkeiten, mit denen sich aus einer zweidimensionalen Bildfläche ein dreidimensionaler Wahrnehmungsraum erschaffen lässt, spielten der Einfluss der bildenden Künste und die Experimente mit der Technik stereoskopischer Filmaufnahme und -projektion eine Schlüsselrolle. Stilmittel der Filmgestaltung wie etwa kontraststarke Kamera- und Lichtsetzungsverfahren, avancierte Schnitttechniken und die Verwendung von Bildmaskierungen und Irisblenden, die gestaffelte Inszenierung auf mehreren Bildebenen oder in piktografisch anmutenden Bildkompositionen, aber auch der Einbezug von Musik und Toneffekten, der Einsatz effektiver Erzählstrategien und psychologisch vielschichtiger Filmfiguren bildeten ein Ensemble stilistischer Optionen, das nicht nur leidenschaftlich diskutiert, sondern auch vielfach in der Praxis getestet wurde, um die materiale Flächigkeit des Filmbildes zu überwinden. Ziel war die Schaffung eines »virtuellen Erfahrungsraums«, der die emotionale Beteiligung erhöhen und dem Publikum das Gefühl einer vollständig verkörperten Wahrnehmung bieten könnte.
5
Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, hg. v. Jörg Schweinitz, Wien: Synema 1996, S. 42.
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Aus mehr als einem Grund erscheint es daher durchaus lohnend, den Verbindungen zwischen der Herausbildung eines Stilparadigmas des Films und der Herstellung eines virtuell-immersiven Erzählraums in den 1910er Jahren nachzugehen. Obwohl es sich bei diesem Zusammenhang zweifellos um ein internationales Phänomen gehandelt hat, sollen Entwicklungen im deutschen Film dieser Zeit dazu dienen, den Prozess der stilistischen Innovation kinematographischer Wahrnehmungsräume am Schnittpunkt zweier miteinander in Wechselbeziehung stehender diskursiver Felder deutlicher zu konturieren: einmal die Aneignung und Umarbeitung zeitgenössischer Strömungen in den bildenden und Aufführungskünsten, zum anderen die technischen Experimente mit stereoskopischer Fotografie und Projektion. Der in die Analogie vom Film als skulpturalem Zeitmedium gegossene Gedanke eines umfassende Stilmodells, das die Plastizität des bewegten Filmbildes befördern könnte, lässt sich dabei auf die Stereofotografie und das Paradigma stereoskopischen Sehens zurückführen. »Das Stereoskop als Mittel der Repräsentation« ist mit Jonathan Crary zugleich als »inhärent obszön« zu denken, weil es »den szenischen Bezug zwischen Betrachter und Objekt, der für die grundlegend theatralische [d.h. in diesem Zusammenhang: perspektivische, M.W.] Anordnung der Camera obscura noch charakteristisch war«, zerstörte.6
»TOTALE VISUELLE VERGEGENWÄRTIGUNG«: STEREOSKOPISCHE PRAXIS UND BINOKULARES SEHEN Dieses stereoskopische Prinzip wurde bereits seit den 1830er Jahren in ein beliebtes optisches Gerät, das binokulare Stereoskop, implementiert: »Sieht man durch ein binokulares Stereoskop, produzieren zwei mit einer Zwillingslinse aufgenommene Bilder die verblüffende Illusion von Dreidimensionalität, wobei der menschliche Geist die Flächigkeit der Seite an Seite auf ei-
6
Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1996, S. 131.
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nem Stück Pappe angebrachten Bilder in die Wahrnehmung von Tiefe konvertiert.«7
Der Begriff der Stereoskopie oder »Stereografie«, wie das Verfahren im 19. Jahrhundert zuweilen genannt wurde, verweist somit in erster Linie »auf jenen optischen Prozess, mithilfe dessen zweidimensionale Bilder so gestaltet sind, dass sie als dreidimensionale Tiefe aufweisend wahrgenommen werden«.8 Physiologisch basiert stereoskopisches Sehen auf dem Prinzip der binokularen Parallaxe, womit die Winkeldifferenz zwischen den optischen Achsen des rechten und linken Auges gemeint ist. In seiner Abhandlung zur Optik aus dem Jahre 1878 verortet Hermann Helmholtz das stereoskopische Sehen jedoch gerade am Schnittpunkt zwischen physiologischen und mentalen Prozessen: »Indem wir die Welt mit zwei Augen sehen, betrachten wir sie gleichzeitig aus zwei leicht verschiedenen Blickpunkten und erhalten dadurch zwei Bilder aus leicht verschiedenen Perspektiven«9 Stereoskopisches Sehen ist hier auch sprachlich als das Resultat einer unauflöslichen Verflechtung von Körper und Geist formuliert: Im englischen Original verwendet Helmholtz das Verb »to contemplate«, das sowohl »beschauen, betrachten« als auch »bedenken, erwägen« bedeuten kann. Historisch entstand die Stereoskopie als optisches Gerät und Wahrnehmungsmodell etwa zeitgleich zur Fotografie. Konzeptionell wurde sie in Charles Wheatstones Theorie stereoskopischen Sehens von 1838 begründet, technisch-instrumentell verhalf ihr Sir David Brewsters Entwicklung des Linsenstereoskops 1849 zum endgültigen Durchbruch. Dabei lässt sich die stereoskopische Praxis ab Mitte des 19. Jahrhunderts in zwei Dispositive der Betrachtung unterscheiden: Zum einen wurde ein tragbares Gerät eingesetzt, mit dem man stereoskopische Bilder individuell rezipieren konnte – wenn man so will, eine Frühform mobilen Home Entertainments –, zum anderen wurden stereoskopische Bilder mithilfe eines so genannten Stereoptikons, das im
7
Trotter, David: »Stereoscopy. Modernism and the ›Haptic‹«, in: Critical
8
Uricchio, William: »Stereography«, in: Richard Abel (Hg.), Encyclopedia
9
Zitiert nach Dubbini, Renzo: Geography of the Gaze. Urban and Rural Vi-
Quarterly 4 (Dezember 2004), S. 38-58, hier S. 38. of Early Cinema, London/New York: Routledge 2005, S. 610. sion in Early Modern Europe, Chicago/London: University of Chicago Press 2002, S. 204.
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Wesentlichen einer Laterna Magica mit Doppelprojektor entsprach, für ein kollektives Publikums auf Leinwand projiziert.10 In beiden Rezeptionskontexten erscheint, in den Worten des Historikers Richard Kriebel, »die stereoskopische Fotografie, richtig aufgenommen und präsentiert, nicht als Bild, sondern als Neuerschaffung der ursprünglichen Szene. Sie stellt eine totale visuelle Vergegenwärtigung her – you are there«.11 Erstmals erregte das Stereoskop 1851 bei der Great Exhibition in Londons Crystal Palace12 eine größere öffentliche Aufmerksamkeit, um in den Folgejahren zu einem äußerst populären Medium der Massenunterhaltung zu avancieren. Gleichzeitig wurde eine Reihe wissenschaftlicher Anwendungen der Stereoskopie entwickelt und erprobt, vor allem in den Bereichen der Chirurgie und der militärischen Aufklärung, ihre maßgebliche Verwendungsform fand sie jedoch weiterhin auf dem Gebiet der Populärkultur. Am Ende des 19. Jahrhunderts befanden sich Millionen stereoskopischer Fotografien in Zirkulation: überwiegend Landschafts- und Gebäudeansichten, aber auch Darstellungen dramatischer Ereignisse, die sowohl authentisch als auch für die Kamera inszeniert sein konnten. Mit Blick auf jene beliebten inszenierten Sujets, die auch unter der Bezeichnung »French Tissues« bekannt waren, schrieb Brewster in seinem Essay »The Stereoscope: Its History, Theory and Construction« von 1856, mithilfe des stereoskopischen Verfahrens ließen sich »die interessantesten Szenen aus unseren besten Lustspielen und Tragödien mit einer solchen Klarheit und plastischen Wirkung darstellen als stünden Schauspieler auf einer 13 Bühne«. Zu den zentralen Merkmalen stereoskopischen Sehens gehört damals wie heute »das schaurige Paradox der Greifbarkeit, die Il-
10 Uricchio: »Stereography«, S. 610. 11 Zitiert nach Leonhardt, Nic: »›… in die Tiefe des Bildes hineingezogen‹. Die Stereofotografie als visuelles Massenmedium des 19. Jahrhunderts«, in: Christopher Balme/Markus Moninger (Hg.), Crossing Media. Theater, Film, Fotografie, Neue Medien, München: Epodium 2004, S. 99-108, hier S. 102. 12 Der Crystal Palace war an sich schon ein spektakulärer Anblick, panoramatisch und immersiv zugleich. Vgl. hierzu Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S. 46ff. 13 Zitiert nach Leonhard: »… in die Tiefe des Bildes hineingezogen«, S. 103.
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lusion, der Berührung zugänglich zu sein, das Gefühl einer Nähe zwischen Gegenstand und Betrachter«.14 Als eine Technologie des Visuellen, deren »Bilder nicht nur Informationsträger waren, sondern […] eine Form der Erfahrung aufschlossen, die den abgebildeten Dingen unmittelbar anzuhaften scheinen«,15 leistete die immense Popularität der Stereoskopie zweifellos ihren Beitrag zur Herausbildung eines historisch distinkten Erwartungshorizonts für das frühe Kino.16 Wie William Uricchio, neben vielen anderen, ausgeführt hat, übernahmen viele Aktualitätenfilme der Zeit vor 1906 zwar nicht die Technik, wohl aber die bildkompositorischen Konventionen von der Stereofotografie: »Statt auf die Technik der stereografischen Projektion zurückzugreifen, scheinen viele Filmemacher schnell dabei gewesen zu sein, die Tiefenillusion auszubeuten, die dadurch entsteht, dass man die Kamera auf den Fluchtpunkt zu bewegt (phantom train rides) oder es dem Verkehr gestattet, sich zur Kamera hin zu bewegen (der Lumière-Effekt).«17
Zu den hervorstechenden Beispielen für das Bemühen des frühen Kinos um stereoskopische Effekte gehören eine stereoskopische Version von ANKUNFT EINES ZUGES (1895) der Lumière-Brüder, die 1903 im Zweifarben-Format hergestellt wurde, oder die »anaglyphischen Szenen« in Filmen von Enrico Guazzoni der Jahre 1910 bis 1918.18 In diesen Zusammenhang gehört auch Giovanni Pastrones Beteuerung, er habe in CABIRIA (1914) deshalb die Kamerafahrten nicht auf gerade verlaufenden, sondern geschwungen verlegten Schienen ausgeführt, weil er in Annäherung an bekannte stereoskopische Effekte dem Pu-
14 Williams, Linda: »Corporealized Observers. Visual Pornographies and the ›Carnal Density‹ of Vision«, in: Patrice Petro (Hg.), Fugitive Images. From Photography to Video, Bloomington: Indiana University Press 1995, S. 341, hier S. 12f. 15 Earle, Edward W.: The Stereograph in America. A Cultural History, New York: The Visual Studies Workshop Press 1979, S. 11. 16 Vgl. Uricchio: »Stereography«, S. 610. 17 Ebd., S. 611. 18 Vgl. Supplement Nr. 2 (»The Tactile Screen/Lo schermo tattile«) der Zeitschrift »Cinema & Cie« (Frühjahr 2003).
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blikum einen »Relief-Eindruck« vermitteln wollte.19 Filmhistoriker haben zudem auf die Nahaufnahmen von Gegenständen in GRANDMA’S READING GLASS (1900) und THE GAY SHOE CLERK (1906) – dessen Sujet wohl sogar direkt auf Stereofotografien zurückging – sowie in Filmen von D.W. Griffith als weitere Beispiele für die Simulation stereoskopischer Effekte im frühen Kino hingewiesen.20 Als bildliche Darstellungsform kann die Stereoskopie also mit einiger Berechtigung den Anspruch erheben, eine wirkungsmächtige Norm für technisch vermitteltes Sehen etabliert zu haben, deren stilistische Fernwirkungen im frühen Kino und anderen visuellen Künsten der Wende zum 20. Jahrhundert ihren Niederschlag fand.21 Als besondere Art der Weltwahrnehmung hat sie auch in der literarischen Imagination der Moderne ihre Spuren hinterlassen, bei Marcel Proust und Walter Benjamin ebenso wie bei James Joyce, Franz Kafka oder Ernst Jünger.22 Und noch 1937 entwickelte Sergej Eisenstein seine Idee einer »multi-perspektivischen, sequenziellen Montage« auf der Grundlage der Binokularität stereoskopischen Sehens: »Binokularität ist die Existenz von zwei Blickpunkten, die ein Objekt in die Lage versetzen, als Relief gesehen zu werden. Dasselbe Prinzip liegt der multi-
19 Vgl. Trotter: »Stereoscopy«, S. 51. 20 Vgl. ebd. Einen Überblick über frühe Experimente mit stereoskopischem Film bietet Zone, Ray: Stereoscopic Cinema & the Origins of 3-D Film, 1838-1952, Lexington: The University Press of Kentucky 2007. 21 Gombrich, Ernest H.: »Norm und Form«, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 148-178. 22 Vgl. Strathausen, Carsten: »The Return of the Gaze. Stereoscopic Vision in Jünger and Benjamin«, in: New German Critique 80 (Frühjahr/Sommer 2000), S. 125-48; Roloff, Volker: »Proust und die Medien. Zur intermedialen Ästhetik Prousts«, in: Uta Felten/Volker Roloff (Hg.), Proust und die Medien, München: Fink 2005, S. 11-20; Trotter, David: »James Joyce and the Automatism of the Photographic Image«, in: Cinema and Modernism, Malden/Oxford/Vctoria: Blackwell 2007, S. 87-123; Alt, Peter-André: »Kino und Stereoskop. Zu den medialen Bedingungen von Bewegungsästhetik und Wahrnehmungspsychologie im narrativen Verfahren Franz Kafkas«, in: Wolf Gerhard Schmidt/Thorsten Valk (Hg.), Literature – intermedial/Literatur intermedial. Paradigm Formation between 1918 and 1968/ Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968, Berlin/New York: De Gruyter 2009, S. 11-48.
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perspektivischen, sequenziellen Natur der Montage zugrunde, die es einem Objekt oder Ereignis ebenso gestattet, gleichsam ›im Relief‹ wahrgenommen zu werden.«23
Der Einfluss der Stereoskopie auf die kollektive Einbildungskraft, auf visuelle und literarische Darstellungsformen erstreckt sich daher weit über ihre tatsächliche Lebensspanne als Medientechnologie und Massenmedium hinaus, die in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf dramatische Weise ihrem Ende entgegen ging. Ob dieser rapide Verfall als distinkte kulturelle Praxis unmittelbar mit der »Eskalation der Bedingungen visueller Sinnesansprache« durch das neue Medium des Films zusammenhing oder eher mit der rasanten Verbreitung der Amateurfotografie in Verbindung gebracht werden muss, sei einmal dahingestellt.24 Wie man sich in dieser Frage auch entscheiden mag, es lässt sich davon ausgehen, dass die Stereoskopie einen wesentlichen stilistischen Einfluss auf das frühe Kino ausgeübt und insbesondere bei dessen Bestrebungen, die materielle Flächigkeit des kinematographischen Bildes zu überwinden, Pate gestanden hat. Wie im Folgenden ausgeführt werden soll, war das Erbteil der Stereoskopie an den deutschen Film besonders groß: Es bot Filmemachern ein Stilmodell für visuelle Kompositionsweisen, das nicht nur in populären Genres wie dem Melodrama, dem Kriminalfilm und dem fantastischen Film prominent zum
23 Eisenstein, Sergei M.: »Unity of the Image« [1937], in: Selected Works, Bd. 2: Towards a Theory of Montage, hg. v. Michael Glenny/Richard Taylor, London: BFI Publishing 1994, S. 268-280, hier S. 269. Zu Eisensteins späterem Essay »O Stereokino« (1947) vgl. Grau, Oliver: Virtual Art. From Illusion to Immersion, Cambridge, MA/London: The MIT Press 2003, S. 154f.: »The ultimate synthesis of all art genres would culminate the imminent realization Stereokino, stereoscopic cinema, which Eisenstein believed humankind had been moving toward for centuries and represented a further expression of a deeply human urge to create images. Then, the image, experienced as a ›real three-dimensionality‹ […] would ›pour‹ from the screen into the auditorium. […] his reflections revolve around rendering images so powerful, with plasticity and movement, that they can tear the audience psychologically out of their actual surroundings and deliver them into the environment of the stereoscopic film.« 24 Uricchio: »Stereography«, S. 611.
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Vorschein kam, sondern in den frühen 1920er Jahren auch seinen Beitrag zu einer Stilentwicklung geleistet hat, die unter dem Begriff des »expressionistischen Films« Berühmtheit erlangen sollte.
»KONTAKT AUF ENTFERNUNG«: TIEFENILLUSION UND RELIEFEFFEKT IM FRÜHEN FILM In zahlreichen Untersuchungen zur »Übergangsperiode« der 1910er Jahre wird die Herausbildung eines frühen Filmstils nicht selten am Phänomen der Tiefenillusion festgemacht.25 Die international sich in dieser Periode vollziehenden Innovationen und Transformationen sind von Filmhistorikern vor allem in Bezug auf Stilmittel zur Erzeugung eines genuin filmischen Raumeindrucks beschrieben und bewertet worden. Zu diesen Stilmitteln gehören die Handlungsinszenierung auf im Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund des Bildes gestaffelten Ebenen oder die Figureninszenierung entlang diagonaler Bewegungsachsen; die Durchsetzung einer perspektivischen Gesetzen gehorchenden Szenografie und ihrer entsprechenden Ausleuchtung; das gegenseitige »Verstellen« und »Blockieren« im Bild sichtbarer Figuren untereinander und die perspektivische »Überlappung« von Gegenständen; sowie die Anfänge von Szenenauflösung und Schuss-Gegenschuss-Montage. Alle diese Verfahren operieren allerdings im Bereich perspektivischer Wahrnehmung und verbleiben damit innerhalb der Grenzen eines Paradigmas, das Jonathan Crary als das des »monokularen Sehens« bezeichnen würde. Das binokulare Modell stereoskopischen Sehens zum Ausgangspunkt einer Betrachtung des frühen Filmstils zu machen, bedeutet daher einen radikalen Paradigmenwechsel von der »perspektivischen Illusion« hin zur »immersiven Wahrnehmung«. Gleichzeitig bietet sich ein anderer Begriff als Alternative zu dem der »Tiefenillusion« an.
25 Vgl. z.B. Salt, Barry: »Film Form 1900-1906«, in: Thomas Elsaesser (Hg.), Early Cinema. Space, Frame, Narrative, London: BFI Publishing 1990, S. 31-44; Brewster, Ben: »Deep Staging in French Films 19001914«, in: Ebd., S. 45-55; Bordwell, David: On the History of Film Style, Cambridge, MA/London: Harvard University Press 1997; Tsivian, Yuri: »Cutting and Framing in Bauer’s and Kuleshov’s Films«, in: KINtop 1 (1993), S. 103-113.
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Während sich letzterer auf die Produktion eines imaginären Raumvolumens im Bild bezieht, bezeichnet der Begriff des »Reliefeffekts« den tatsächlich entstehenden Eindruck eines aus der Leinwand auf das Publikum hin hervorspringenden Bildes. Er bezieht sich damit auf eine visuelle Geste, die in ihrem Hinausreichen in den Zuschauerraum den Sinnen eines körperlich vorhandenen Publikums buchstäblich »entgegenkommt«, statt den einzelnen Zuschauer, bildlich gesprochen, aus seinem Kinosessel heraus und in die virtuelle Welt des Leinwandgeschehens hineinzuziehen. Ein solches Verständnis stereoskopischer Effekte als Adressierung eines physisch im Raum der Aufführung vorhandenen Publikums, die sich direkt an dessen Sinneswahrnehmung richtet, statt zu einem imaginären Einlassen auf den Realitätsgehalt der filmischen Repräsentation aufzufordern, steht in enger Verwandtschaft zum Konzept des »Kinos der Attraktionen« und seiner prägenden Merkmale unmittelbarer Schockeffekte, frontal auf die Kamera ausgerichteter Figureninszenierungen und der steten direkten Ansprache des Publikums durch Blicke und Gesten.26 Ähnlich den Schockeffekten des frühen Kinos zielt der »Reliefeffekt« mit seinen ganz spezifischen, auf dem Modell stereoskopischer Wahrnehmung gründenden Verfahren auf sinnliche Unmittelbarkeit, um mit seinem Publikum eine Berührung aus der Distanz heraus, einen »Kontakt auf Entfernung« herzustellen. Unter eben diesem Begriff evoziert Maurice Blanchot, wenn auch im etwas anders gelagerten Zusammenhang einer Diskussion modernistischer literarischer Topoi der visuellen Wahrnehmung, sehr präzise die pathische Einwirkung auf das Publikum, um die es hier geht: »Was aber passiert, wenn das, was du siehst, obgleich aus der Distanz, dich durch einen erschütternden Kontakt zu berühren scheint, wenn die Art des Sehens zu einer Form der Berührung wird, das Sehen ein Kontakt auf Entfernung?«27
26 Gunning, Tom: »Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde«, in: Meteor 4 (1996), S. 25-34. 27 Blanchot, Maurice: The Space of Literature, Lincoln/London: University of Nebraska Press 1990, S. 32. Den Zusammenhang zwischen stereoskopischer Wahrnehmung und Blanchots Begriff des literarischen Bildes stellt schon Trotter: »Stereoscopy«, S. 39, her. Zum Bildbegriff bei Blanchot
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Um zu einem besseren Verständnis zu gelangen, wie dieser »Kontakt auf Entfernung« mit filmischen Mitteln zu bewerkstelligen sei, haben Film- und Kulturwissenschaftler in jüngster Zeit verstärkt Alois Riegls Konzept einer »haptischen Bildlichkeit« aufgegriffen, das erstmals 1893 in dessen Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik entwickelt wurde. Riegl hat hier zwei Arten visueller Erfahrung beschrieben und voneinander unterschieden: auf der einen Seite die optische, die »einen Überblick bietet, eine Bestandsaufnahme unterscheidbarer Objekte in einem vertieften Raum«, auf der anderen die haptische, die »sich ihren Weg entlang einer als unendliche variable Oberfläche gedachten Welt erspürt« und stärker auf den Wirkungen von Textur und Oberfläche beruht als auf Linienführung und perspektivischer Illusion.28 Riegl verwendet den Begriff des Haptischen (vom altgriechischen Word hastein: festmachen, befestigen) und nicht den des »Taktilen«, um dem Missverständnis vorzubeugen, er beziehe sich auf das tatsächliche Berühren im eigentlichen Sinn. »So fast in its fastening«, wie David Trotter treffend formuliert, war das Haptische für Riegl »a form of attachment«.29 Eine Form der affektiven Anbindung, so lässt sich ergänzen, die eine enge Verflechtung zwischen haptischer Bildlichkeit und »sentimentalem Blick« auf Seiten des Betrachters impliziert, dessen emotionale Aufladung dadurch ausgelöst wird, dass er mit allen Sinnen einem Feld intensiver visueller Reize ausgesetzt ist. In Bezug auf den frühen Filmstil scheint diese besondere Form der affektiven Kontaktnahme zwischen Filmbild und Zuschauer auf dem Kontrast und Wechselspiel zwischen zwei Regimes stereoskopischen Sehens zu beruhen: der Theatralität des Tableaus, d.h. seiner Inszenierung von Bewegungen, Gesten usw., und der Tangibilität verkörperter Wahrnehmung, womit der visuelle Eindruck von Objekten gemeint ist, die aus der Leinwand hinauszuragen und über das Publikum hereinzubrechen scheinen.30 Ein Filmstil, der stereoskopischen Bildkompositionen nachempfunden ist, hebt, wie erwähnt, Oberflächeneffekte stärker
vgl. Alloa, Emanuel: »Berührung – Entblößung. Von der Pathik der Bilder bei Maurice Blanchot«, in: Katrin Busch/Iris Därmann (Hg.), »Pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld: Transcript 2007, S. 75-91. 28 Zitiert nach Trotter: »Stereoscopy«, S. 39. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 39f.
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hervor als die perspektivische Tiefenillusion, Texturen stärker als umgrenzende Linien. Er operiert mit einer Staffelung mehrerer paralleler Aktionsräume und organisiert das Bild in eine räumliche »Folge zurückweichender Ebenen«.31 Er nutzt den kompositorischen und figurativen Kontrast zwischen Hintergrund und Vordergrund, etwa indem eine luminöse Figur oder ein entsprechender Gegenstand sich, in der Tradition der Fantasmagorie, gegen einen dunklen Hintergrund abzeichnet. Trotter charakterisiert stereoskopische Effekte als extrem variabel und völlig anpassungsfähig an eine konkrete Art der Handlungsinszenierung: »Objekte im mittleren Bildfeld oder in weiter Distanz erscheinen entlang mehrerer Ebenen arrangiert, die voneinander durch einen Abgrund getrennt sind; dabei erreichen Objekte im Vordergrund, zum Greifen nah, eine erstaunliche Fühlbarkeit.«32 Für ihn sind stereoskopische Effekte das »Produkt der Bestimmtheit, mit der die Objekte im Vordergrund den Raum okkupieren« und dadurch das Gefühl hervorrufen, »man könnte die Hand ausstrecken und sie berühren, oder von ihnen berührt werden«.33 Trotter zufolge wird dieser Eindruck durch die Koexistenz der beiden visuellen Regime des Haptischen und des Optischen hergestellt, nicht (wie Crary argumentiert) von der Ablösung des einen durch das andere. Seiner Ansicht nach war von den beiden durch die Stereoskopie hervorgebrachten ästhetischen Modellen des Tableaus und der Tangibilität, »im Jahr 1850, 1900 oder 1910 das erste sicherlich das weniger denkwürdige, weniger verstörende«.34 Er verweist auf die »Gewaltsamkeit«, die dem stereoskopischen Vordergrund inhärent sei, der kraftvoll in den Wahrnehmungsraum des Betrachters eindringt. Trotter demonstriert aber auch auf überzeugende Weise am Beispiel konkreter Stereofotografien, dass Untersicht-Aufnahmen in dieser Hinsicht weitaus effektiver sind als Aufnahmen auf Augenhöhe: »Je tiefer der Winkel der Aufnahme angesetzt ist, desto lebendiger das potenzielle Unbehagen.«35
31 Ebd., S. 41. Vgl. a. Crary: Techniken des Betrachters, S. 120ff. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 42. 35 Ebd., S. 48.
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ARCHÄOLOGIE DES FILMISCHEN EXPRESSIONISMUS: HAPTIK IM MODUS DES SENTIMENTALEN Der Sprung vom Tableau der Totale zur Nahaufnahme, angewinkelte Untersichten anstelle einer ausbalancierten Fluchtpunkt-Perspektive – es ist kein Zufall, dass man bei Trotters Beschreibung stereoskopischer Ästhetik unmittelbar an Noël Burchs Analyse von DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1919/20) erinnert wird, mit ihrer Herausstellung extremer Kamerawinkel, der Verzerrungen des Sichtfelds und der Sprünge von tableauartig inszenierten Totalen zu extremen Nahaufnahmen unter Verzicht auf Zwischenschritte.36 Und tatsächlich hat Burch in seinem mittlerweile klassischen Essay »Primitivism and the Avant-Gardes: A Dialectical Approach« das Thema einer haptischen Raumkonstruktion bereits angesprochen, ohne allerdings das Konzept vollständig zu entfalten und für seine Analyse produktiv zu machen. Wenn Burch an gleicher Stelle die Unbestimmtheit des Verhältnisses zwischen Tiefe und Oberfläche als Ursprung für die »mehrdeutige Bildlichkeit in CALIGARI« ausmacht, so lässt sich diese Beobachtung auch auf den Einfluss eines von der stereoskopischen Ästhetik beeinflussten Stilparadigmas des filmischen Expressionismus beziehen: »Der berühmte grafische Stil des Films präsentiert jede Einstellung als eine stilisierte, flächige Wiedergabe eines ursprünglich tiefen Raums, deren dramatische Schrägheit erklärtermaßen plastisch, derart künstlich ›Tiefe produzierend‹ ist, dass die Bilder intuitiv die Assoziation mit der taktilen Oberfläche einer Gravurplatte hervorrufen, etwa in der Art von Méliès. Gleichzeitig jedoch ist die Bewegung der Schauspieler innerhalb dieser Einstellungen konsequent senkrecht zur Bildebene angelegt.«37
36 Burch, Noël: »Primitivism and the Avant-Gardes. A Dialectical Approach«, in: Philip Rosen (Hg.), Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York: Columbia University Press 1986, S. 483-506, hier S. 496: »Until around 1912 […] the cinema was characterized by a sharp division between two types of pictorial space: 1.) emphasis on linear perspective and the rendering of haptic space in accordance with the model provided by the painting of the Renaissance. 2.) a pictorial approach which on the contrary emphasises the picture plane.« 37 Ebd., S. 497.
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Geht man im Anschluss an Burchs Überlegungen davon aus, dass es einen Zusammenhang zwischen der Tradition stereoskopischen Sehens und der Herausbildung eines »expressionistischen« Filmstils gegeben hat, lassen sich im Rahmen einer Archäologie des filmischen Expressionismus Theorie, Technologie und kulturelle Praxis der Stereoskopie als Teile einer Verknüpfung betrachten, die den Anspruch des expressionistischen Films, das Medium in den frühen 1920er Jahren als visuelle Bewegtkunst zu etablieren, an die 1910er Jahre und ihre metaphorische Rede vom Film als einer »plastischen Kunst in Bewegung« zurück bindet. Im Dreieck von Stereoskopie, plastisch-skulpturaler Kunst und frühem Filmstil als spezifischer kultureller Konfiguration rückt eine ganze Reihe zeitgenössischer Ideen und Experimente in den Blick, die sich in dieser Konstellation neu perspektivieren lassen.38 In seinem Buch Das Problem der Form in der bildenden Kunst von 1893, das einen starken Einfluss auf Riegl ausgeübt hat, führte der Bildhauer Adolf Hildebrand aus, dass das Auge den Raum auf zwei Arten wahrnimmt: auf optische und auf kinästhetische Weise. Die optische ist geeignet (oder, wie Hildebrand es nennt, »augengerecht«) für die Wahrnehmung eines Objekts aus der Entfernung, die kinästhetische für die Nahansicht.39 Der Begriff, den Hildebrand für den kinästhetischen Modus fand, war »stereoskopisches Sehen«. Ein Gemälde, so Hildebrand, könne über seine eigene Flächigkeit durch die Suggestion kinästhetischer Wahrnehmung hinwegtäuschen und somit einen »stereoskopischen Eindruck« erzeugen.40 Konkret fassbar wird die Idee skulpturaler Bildlichkeit am technischen Verfahren der »Photoskulptur«, das von dem Fotografen und Bildhauer W. Selke 1900 patentiert wurde und die »plastische Nachbildung von Körpern mit Hilfe der Photographie« bezweckte.41
38 Für weitere, überwiegend US-amerikanische Beispiele vgl. Waltz, Gwendolyn: »2-D? 3-D? The Technology and Aesthetics of Dimension in Early Cinema and Turn-of-the-Century Stage Perfomance«, in: Cinema & Cie 3 (Herbst 2003), S. 26-38. 39 Hildebrand, Adolf: Das Problem der Form in der bildenden Kunst, Straßburg: Heitz & Mündel 31901. 40 Zitiert nach Trotter: »Stereoscopy«, S. 40. 41 Vgl. Rohwaldt, K.: »Photoskulptur«, in: Die Umschau 6 (1900), S. 5ff.; abgedruckt in: Albert Kümmel/Petra Löffler (Hg.), Medientheorie 1888-
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Abb. 1
Abb. 2
Selkes Verfahren bestand aus einem »Beschattungsapparat«, in dem die zu porträtierende Person leicht erhöht platziert wurde, sowie einer Filmkamera, die, bei gleichmäßiger Beleuchtung, um das Arrangement herum bewegt wurde und nacheinander die einzelnen vom Apparat erzeugten Schlagschatten aus jeweils leicht verschobenen Blickwinkeln aufnahm (Abb. 1 u. 2). Die aus diesem Vorgehen resultierende Serie von 40 bis 50 zweidimensionalen fotografischen Einzelbildern wurde daraufhin »bis auf Lebensgröße vergrößert, in starkem Kartonpapier ausgeschnitten und in der Reihenfolge der entsprechenden Aufnahmen übereinandergeklebt, so dass man ein an den Rändern treppenartig sich abstufendes Relief erhält, welches schon in diesem Zustande eine sprechende Ähnlichkeit mit dem Original aufweist. Zum Ausgleich der […] Unebenheiten wird dieses Kartonrelief aber noch mit Modelliermasse übergangen, gewissermaßen retouchiert, worauf das zur Herstellung der Photoskulptur benötigte Modell fertiggestellt ist. Von diesem Modell nämlich kann nunmehr in der bekannten Weise die Form genommen werden, aus welcher Abgüsse je nach Wunsch in Bronze, Gips, Elfenbeinmasse, Terracotta etc. in beliebiger Anzahl zu gewinnen sind.«42
Aus heutiger Sicht scheint Selkes Verfahren an die Chronofotografie eines Etienne-Jules Marey oder Eadweard Muybridge anzuschließen und holografische Visualisierungen und Motion-Capture-Systeme wie die berühmte »bullet time« aus THE MATRIX (1999) vorwegzunehmen. Konkret bezog sich Selkes Versuchsanordnung jedoch auf ein weitaus älteres französisches Verfahren, mit dem fotografische Bilder in skulpturale Objekte verwandelt werden konnten. Dieses Verfahren wurde
1933. Texte und Kommentare, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 57-61, hier S. 57f. 42 Ebd., S. 60.
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von François Willème bereits in den frühen 1860er Jahren – also ein gutes Jahrzehnt, bevor Marey und Muybridge mit ihren chronofotografischen Experimenten überhaupt begonnen hatten – entwickelt und unter dem Namen der »photosculpture« auch kommerziell ausgewertet (Abb. 3-5).43
Abb. 3-5
Eine andere Medientechnik, mit der sich ungefähr zur selben Zeit der magisch anmutende Transfer in die dritte Dimension bewerkstelligen ließ, war eine fantasmagorische Bühnenpraxis, die unter dem Namen »Pepper’s Ghost« Bekanntheit erlangte (Abb. 6). In den frühen 1910er Jahren wurde eine kinematographische Imitation dieses Bühneneffekts unter der Bezeichnung »Kinoplastikon« als »Pepper’s Ghost auf der Kinoleinwand« vermarktet.44 Zur Verwendung kam hier ein »teilweise reflektierender Glasschirm, mit dem sich der tatsächliche Ort der Leinwand kaschieren und der Eindruck erwecken ließ, dass die projizierten
43 Zu Willèmes Verfahren vgl. Kümmel, Albert: »Körperkopiermaschinen. François Willèmes technomagisches Skulpturentheater (1859-1867)«, in: Gundolf Winter/Jens Schröter/Christian Spies (Hg.), Skulptur – Zwischen Realität und Virtualität, München: Fink 2006, S. 191-211. 44 Zitiert nach Paul, William: Uncanny Theater. The Twin Inheritances of the Movies. In: Paradoxa 3-4 (1997), S. 321-347, hier S. 324.
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Darsteller sich im realen Raum auf der Leinwand bewegten.«45 Parallel dazu entwickelte der einflussreiche Filmproduzent Oskar Messter sein »Alabastra-Theater«, das 1910 in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (Abb. 7). Messter griff dabei auf eine ganz ähnliche apparative Anordnung zurück, um mittels semi-transparenter Spiegel den filmischen Raum in den Bühnen- bzw. Zuschauerraum einzuschreiben und in der Synthese beider Räume den Eindruck von Dreidimensionalität zu erzeugen.46
Abb. 6
Mit Hilfe analoger Bühnentechniken wurden ähnliche Effekte in diesen Jahren von Max Reinhardt auch im Theater erzielt, etwa in dessen Inszenierungen von Hamlet (1912) und Richard III. (1913) am Deutschen Theater in Berlin. Umgekehrt waren diese Bühnenexperimente wiederum für Filmregisseure von hohem Interesse und könnten daher einen geeigneten Ausgangspunkt für eine Neubetrachtung von Reinhardts Einfluss auf die Entwicklung eines spezifisch deutschen Filmstils bilden.47
45 Ebd. Paul zufolge bestanden die beiden Erbteile des Kinos in der Tradition der Laterna-Magica-Vorführung (u.a. der Fantasmagorie) sowie in der Theatertradition Belascos. Vgl. ebd., S. 327. 46 Zu Messters Alabastra-Theater vgl. Vogl-Bienek, Ludwig: »Die historische Projektionskunst. Eine offene geschichtliche Perspektive auf den Film als Aufführungsereignis«, in: KINtop 3 (1994), S. 11-32. 47 Die klassische Studie zu Reinhardts Bedeutung für deutsche Filmregisseure der 1920er Jahre ist Eisner, Lotte H.: Die dämonische Leinwand, Frank-
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Abb. 7
Verfolgt man die Spuren des Einflusses, den derartige Experimente auf zeitgenössische Filmregisseure ausgeübt haben, entdeckt man eine Vielfalt an theoretischen Abhandlungen und Äußerungen von Filmemachern, in denen diese Impulse aufgenommen und in filmästhetische Begriffe übersetzt werden. So reflektierte Max Mack, Regisseur sowohl ambitionierter Autoren- als auch populärer Unterhaltungsfilme, Messters und Reinhardts Experimente 1914 in seinem Essay »Die Eroberung der dritten Dimension«. Zwar erkannte Mack an, dass Filmemacher bereits zu dieser Zeit Reliefeffekte anstrebten, um eine »Fülle der Körperlichkeit« zu erreichen, die dem Film technisch nicht gegeben sei. Erst wenn es jedoch »gelungen sein wird, Filmaufnahmen stereoskopisch herzustellen, wird die Plastik eine viel realere, greifbare sein.«48
furt a.M.: Kommunales Kino 1976. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Einfluss findet sich bei Kasten, Jürgen: Der expressionistische Film. Abgefilmtes Theater oder avantgardistisches Erzählkino? Eine stil-, produktions- und rezeptionsgeschichtliche Untersuchung, Münster: MAkS 1990. 48 Mack, Max: »Die Eroberung der dritten Dimension«, in: B.Z. am Mittag 131 (8.6. 1914), Beilage 1.
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Schon zwei Jahre zuvor war eine umfassende Würdigung der künstlerischen Möglichkeiten des Films von Überlegungen zur »Frage der plastischen körperlichen Ausgestaltung des Filmbildes« ausgegangen.49 Während die Versuche mit dem »Kinoplastikon« am Ende doch nur einen äußerst begrenzten technischen Einfluss auf das Kino hätten ausüben können, so das Argument an dieser Stelle, sollten Filmregisseure dennoch die ihnen zu Verfügung stehenden Mittel der Mise en Scène, Lichtsetzung und expressiven Bildkomposition nutzen, um vergleichbar plastische Wirkungen hervorzurufen.50 Immer wieder wurde in den Debatten über filmästhetische Fragen und individuelle Stilistiken einzelner Regisseure von den frühen 1910er Jahren bis in die Mitte der 1920er Jahre das Problem aufgeworfen, wie der Eindruck dreidimensionaler körperlicher Präsenz im Kino herzustellen sei. Die plausibelsten Antworten fanden sich im regelmäßigen Verweis auf die Kulturtechniken der Stereoskopie und Skulptur. Beiden kam somit einen wichtige diskursive Scharnierfunktionen bei der Definition der Formexperimente und Erwartungshorizonte zu, die an die Herausbildung eines sowohl im Kunst- wie im Unterhaltungssegment identifizierbaren nationalen Filmstils geknüpft wurden. Unter den Stilmitteln, die an der Schaffung eines plastischen Bildeindrucks zu dramatischen oder ästhetischen Zwecken mitwirkten, bildete das Wechselspiel zwischen schauspielerischer Geste, Mise en Scène und Lichtsetzung die zentrale Konstellation. Mit Blick auf die Lichtgestaltung lassen sich in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Anordnungen unterscheiden, die für die fragliche Periode charakteristisch sind: die diffuse Ausleuchtung und die Dreipunkt-Lichtsetzung. Wie Kristin Thompson ausgeführt hat, diente die diffuse Ausleuchtung einer Szene »schlicht dazu, alles, was sich im Bild befindet, sichtbar zu machen. Wände, Darsteller, Einrichtungsgegenstände, Requisiten, alles und jeder erhält ein gleichmäßiges, diffuses Licht, das gewöhnlich von vorne und von oben kommt.« Bei der diffusen Ausleuchtung spielte »die Absicht, Atmosphäre herzustellen, eine Bildtie-
49 Stein, Otto Th.: »Ueber Regiekunst im Lichtbildtheater«, in: Erste Internationale Film-Zeitung 48 (30.11.1912), S. 44-53, hier S. 52. 50 Ebd.
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fe herauszumodellieren […] eine merklich sekundäre Rolle«.51 Im Gegensatz dazu ist das Konzept der Dreipunkt-Lichtsetzung ganz auf die Hauptdarsteller ausgerichtet, wohingegen »das Dekor, das mitunter in seinem Design sehr belebt sein kann und dadurch das Auge von den Akteuren ablenken könnte, eher mit einem matteren […] Fülllicht ausgeleuchtet wird. Ein etwas dunkler gehaltenes Set verschafft das Gefühl einer höheren Reliefwirkung, wenn die hell angestrahlten Akteure sich im Vordergrund aufhalten. Das Fülllicht kann auch von der gegenüberliegende Seite des Führlichts auf die Akteure fallen und auf diese Weise die Schatten weicher zeichnen und der Szene zu einem attraktiven, durchmodellierten Aussehen verhelfen.«52
Das dritte Element dieses Systems war das Gegenlicht-Verfahren, bei dem »die Lampen entweder oberhalb des rückwärtigen Teils des Sets angebracht werden konnten oder ihr Licht durch Fenster oder andere Öffnungen im Dekor auf die Szene fallen ließen; auf diese Weise konnten Glanzpunkte ins Haar der Darsteller projiziert und eine feine Lichtkontur um ihre Körper gezogen werden, was deshalb auch oft als die Setzung eines ›Kantenlichts‹ bezeichnet wurde.«53
Die Verwendung von Gegenlicht, insbesondere aber der Einsatz des »Kantenlichts« stellte eine Möglichkeit dar, mit der »das Licht die Figuren aus ihrer Umgebung hervorheben konnte […], indem es ihre Dreidimensionalität betonte« und mit sorgfältig gesetzten Glanzeffekten auf Haar und Schultern »ihre Konturen gegenüber der Dunkelheit [des sie umgebenden Dekors, M.W.] abhob«.54
51 Thompson, Kristin: Herr Lubitsch Goes to Hollywood. German and American Film After World War I, Amsterdam: Amsterdam University Press 2005, S. 38. 52 Ebd., S. 39. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 41.
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Abb. 8
Abb. 9
Als ausgebildeter Maler mit frühen Ausflügen in das Gebiet der Bildhauerei, leuchtete Fritz Lang seine mehrfach belichteten Einstellungen vorzugsweise in der Tradition der Fantasmagorie aus. Beispiele hierfür finden sich nicht erst in DER MÜDE TOD (1921), sondern bereits in HARAKIRI (1919), DIE SPINNEN (1919/20), DAS WANDERNDE BILD (1920) und KÄMPFENDE HERZEN (1920/21). Schon in einer Szene in Joe Mays HILDE WARREN UND DER TOD (1917), zu dem Lang das Drehbuch geschrieben hat, wurde die herannahende Figur des personifizierten Todes durch eine entsprechend frontale Choreografie und expressive Lichtakzente hervorgehoben (Abb. 8).55 Derartige Bildkompositionen
55 Zur kulturellen Praxis der Fantasmagorie im 18. Jahrhundert und ihrer Bedeutung für zeitgenössische Definitionen menschlicher Fantasietätigkeit
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evozierten ganz bewusst Effekte, wie sie Schausteller in der Art Etienne-Gaspard Robertsons seit dem späten 18. Jahrhundert durch den Einsatz von Projektoren herstellten, die sich von hinten auf die Leinwand zu bewegen ließen und dadurch die Illusion erzeugten, eine Geistererscheinung komme aus der Leinwand hervor und direkt auf das Publikum zu (Abb. 9).
Abb. 10
Abb. 11
und mentaler Einbildungskraft vgl. Castle, Terry: Phantasmagoria. Spectral Technology and the Metaphorics of Modern Reverie, in: Critical Inquiry 1 (Herbst 1988), S. 26-61.
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Dem ästhetischen Wirkungskalkül hinter dieser Art von mehrfach belichteten Bildkompositionen, wie man sie auch bereits in den betont symmetrischen Arrangements etwa von Franz Hofers WEIHNACHTSGLOCKEN (1914) findet, geht es dabei weniger um die Schaffung eines räumlichen Tiefeneindrucks als vielmehr um die Nebeneinanderstellung von zwei oder mehr unabhängig übereinander geschichteten Bildebenen, die sichtbar durch einen leeren Zwischenraum getrennt sind. In einer zentralen Einstellung von WEIHNACHTSGLOCKEN sind die Figuren im extremen Vordergrund auf eben solche Weise ausgeleuchtet und in ihren Posen (insbesondere der Gestik ihrer Hände) arrangiert, um den höchstmöglichen Grad an Plastizität zu erzielen (Abb. 10). In dieser konkreten Bildkomposition findet das Motiv des Bogens oder der Brücke, das von den Händen der beiden Figuren im Vordergrund geformt wird, sein visuelles Echo in der analogen Choreografie der Paare im Hintergrund, womit ein Verdoppelungseffekt sich einstellt, der zeitgenössischen Stereofotografien nicht unähnlich ist.56 In einer Einstellung aus Richard Oswalds UNHEIMLICHE GESCHICHTEN (1919) findet sich ein verwandtes Figurenarrangement und Lichtsetzungsmuster, hier allerdings, entsprechend der näheren Kameraposition, auf den abermals von einem dunklen Hintergrund abgesetzten Vordergrund beschränkt (Abb. 11). Conrad Veidts starrender Blick, mehr noch seine Hände scheinen aus dem Bild in einen virtuellen Raum hinaus zu greifen und unmittelbar auf den Zuschauer gerichtet. Dieser plastische Exzess der Einstellung wird zusätzlich durch den pointierten Kontrast zu Blick und Pose der Frau betont, die beide dezidiert »im Bild« verankert bleiben.57
56 Zur Vorliebe Hofers für symmetrische Bildkompositionen vgl. Tsivian, Yuri: »Stilisten der 10er Jahre. Franz Hofer und Jewgenij Bauer«, in: Thomas Elsaesser/Michael Wedel (Hg.), Kino der Kaiserzeit. Zwischen Tradition und Moderne, München: edition text + kritik 2002, S. 379-400; Dagrada, Elena: »The Voyeur at Wilhelm’s Court«, in: Thomas Elsaesser/Michael Wedel (Hg.): A Second Life. German Cinema’s First Decades, Amsterdam: Amsterdam University Press 1996, S. 277-284. 57 Zur plastischen Wirkungsweise der Inszenierung von Conrad Veidts Schauspiel im Film vgl. Kreimeier, Klaus: »Notorisch anders – Conradt Veidt. Zur schauspielerischen Repräsentation der Devianz«, in: Christiane Rüffert u.a. (Hg.), Unheimlich anders. Doppelgänger, Monster, Schattenwesen im Kino, Berlin: Bertz + Fischer 2005, S. 69-76.
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VON DR. CALIGARI ZU DR. SCHOTTE: WILLIAM WAUERS PLASTISCHE PSYCHOLOGIE Ein Regisseur von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang William Wauer, der parallel zu seiner Filmarbeit der Jahre 1912 bis 1921 als expressionistischer Theaterregisseur, Maler und Bildhauer im Umkreis der »Sturm«-Gruppe tätig war.58 In zahlreichen Texten setzte er sich auch theoretisch intensiv mit der Frage des Zusammenspiels von Licht, Körper und Raumwahrnehmung im Theater auseinander59 und vertrat den Standpunkt, der Film sei ein aus den Gesetzen des Optischen gewonnenes technisches Medium, das nur unter Rückgriff auf ästhetische Verfahren der bildenden Künste zur künstlerischen Ausdrucksform erhoben werden könne. In einem Essay, der zuerst 1916 erschienen ist und den Wauer parallel zu den Dreharbeiten an DR. SCHOTTE im September 1918 erneut veröffentlichen lässt, formuliert er seine Position noch einmal grundsätzlich: »Der Film ist ein Kind moderner Technik. Als Erfindung ein Verfahren, Bewegtes auf dem lichtempfindlichen Filmband festzuhalten und als Bewegung wiederzugeben – scheinbar wenigstens. Das ›spielende Licht‹ – der ›tanzende Lichtstrahl‹ bietet sich heute als neuartiges Mittel dem gestaltenden Künstlerwillen dar, wie die knetbare Masse dem Former oder die Farbe dem Maler. Bei diesem Vergleiche fällt sofort eines auf: Der ungeheure Reiz, aber auch die unendliche Schwierigkeit der Behandlung des neuen Materials. Abgesehen davon, daß ›Lichtwirkungen‹ nur durch ein maschinell-technisches Verfahren
58 Zur Biografie vgl. Hammer, Klaus: »William Wauer – ein Propagandist europäischer Avantgarde«, in: Bildende Kunst 3 (1990), S. 56-59. Zu Wauers Filmkarriere vgl. den Eintrag von Jerzy Masnicki in: Hans-Michael Bock (Hg.), CineGraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film, München: Edition text + kritik 1984ff., Lg. 28 (Oktober 1996), S. B1-6. 59 Vgl. Wauer, William: Der Kunst eine Gasse! Kritische Beiträge zur Theaterreform, Berlin: Seemann 1906, S. 36ff. Vgl. a. Wauer, William: Die Kunst im Theater. Bemerkungen und Gedanken, Berlin: Priber & Lammers 1909; »Theatertechnisches«, in: Der Sturm 57 (April 1911), S. 558f.; »Der Regisseur«, in: Der Sturm 68 (Juli 1911), S. 542f.; »Der Schauspieler«, in: Der Sturm 72 (August 1911), S. 574f.; »Die Theaterkunst«, in: Der Sturm 76 (September 1911), S. 605; Theater als Kunstwerk, Berlin: Verlag der Sturm 1919.
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aufzunehmen und durch einen ›chemischen Prozeß‹ festzuhalten sind, hat das neue Material ein völlig eigenes und bedeutungsvolles Sein schon ohne seine künstlerische Inanspruchnahme; denn alles, was wir um uns sehen, ist Leben, Bewegung im Licht, und jede Lichtbewegung von einer gewissen Intensität kann gefilmt werden. Dieses selbstständige Leben durch ›Formung‹ umzuwerten, ihm einen bestimmten Sinn zu geben, seine Selbständigkeit zu vernichten und seine lebendige Kraft künstlerischer Gestaltung und Absicht zu unterwerfen, das ist die Aufgabe des Künstlers, der sich des neuen Materials als seines Ausdrucksmittels bedienen will. Gelingt ihm das, so haben wir auch eine neue Kunst: die Filmkunst. Und gelingt es, seine Gestaltung festzuhalten, zu photographieren, so haben wir auch: das Filmkunstwerk. […] Das Filmkunstwerk ist also ein optisch-logisches Werk. Films [sic] können nur Filmbildner schaffen, die Maler und Dichter zugleich, und zwar in völliger Verschmelzung und gegenseitiger Durchdringung, also eine neue Spezies ›Künstler‹ sind, bei denen auch der Architekt noch Pate gestanden haben muß. Diese Art Künstler erst [wird] uns die ersehnte Filmkunst bringen. Ihnen wird nicht nur die wirkungsvolle Formung des äußeren optischen Vorgangs, ihnen wird auch die organisch richtige Gestaltung der inneren logischen Zusammenhänge und ihr wirkungsvoller Aufbau eine künstlerische Gewissenssache, die Gewissenssache sein.«60
Bereits 1915 hatte Wauer gegenüber den damals im Zuge der Autorenfilmbewegung verstärkt laut werdenden Rufen nach genuinen »Filmdichtern« den kreativen »Filmbildner« gefordert.61 Mehrfach beschreibt er in diesen Jahren den Film als abstrakt-optische Lichtkunst mit dramatischem Potenzial, die als solche durchaus kunstfähig sei. Man sollte meinen, dass sich in seinen überwiegend dem populären Genrefilm angehörigen Regiearbeiten derartige Auffassungen nur sehr bedingt verwirklichen ließen. Doch findet sich gerade in den erhaltenen, zumeist melodramatisch angelegten Filmen Wauers neben der in seinem filmtheoretischen Entwurf unangetasteten Vorgabe einer dramatischen, kausallogisch entwickelten Handlung fast durchgehend eine distinkte formal-ästhetische Dimension, in der die psychologischen
60 Vgl. Wauer, William: »Filmkunst. Kunst oder Nicht-Kunst?«, in: Illustrierte Filmwoche 38 (21.9.1918), S. 271; erstmals noch ohne den Untertitel erschienen in: Der Film 11 (8.4.1916). S. 9f. Vgl. a. ders.: »Die Wirklichkeit im Film«, in: Illustrierte Filmwoche 27 (6.7.1918), S. 184f. 61 Vgl. Wauer, William: »Die künstlerischen Grundlagen des Films«, in: Erste Internationale Filmzeitung 21 (1915), S. 15-21.
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Dispositionen seiner Figuren plastisch zur Anschauung gelangen. Darin wird eine stilistische Kontinuität im Werk Wauers sichtbar, die sich nicht nur durch seine Filmarbeiten zieht, sondern eine enge Verbindung zu seiner Arbeit als Theaterregisseur, Maler und Bildhauer aufweist. Sie macht sich in seinen Filmen vor allem in einer expressiven Lichtgebung bemerkbar, die stellenweise bereits in der von Wauer geschriebenen und gemeinsam mit Carl Froelich inszenierten Filmbiografie Richard Wagners aus dem Jahre 1913 Verwendung findet, spätestens aber mit PETER LUMP (1916) zum Markenzeichen seiner Filmregie wurde. Bei diesem Film waren die nächtlichen Straßenszenen absichtlich unscharf gehalten, um die Wirkung der Laternen als natürliche Lichtquellen zu betonen, wobei Häuser nur durch entsprechend geformte Blenden markiert waren. Die zeitgenössische Kritik hat diese besondere visuelle Qualität an Wauers Filmen wiederholt hervorgehoben. So rühmte sie PETER LUMP und IM BEWUSSTSEIN DER SCHULD (1916) als »Schöpfungen einer neuen Lichtkunst«, deren »charakteristische Schönheit« in einer plastisch anmutenden Fotografie liege, die einen besonderen »Zauber des HellDunkels« auslöse.62 Wauer, heißt es ähnlich in einem porträtierenden Essay, »bringt in seinen Bildern den echten Rembrandt-Ton zum Ausdruck, jenes undefinierbare Hell-Dunkel, das eine Stimmung von unbeschreiblichem Reize hervorzaubert.«63 Präzisiert wird hier aber auch die ästhetische Funktion, der dieser visuelle Stimmungsreiz dient:
62 »Im Bewusstsein der Schuld«, in: Der Kinematograph 500 (28.7.1916). An anderer Stelle heißt es etwas kritischer: »Das Bild! Wauers stärkste und zugleich schwächste Seite. Dem Kunstbild opfert er. Das Bild soll die Vorgänge in natürlichster Weise wiedergeben, und da kommt es eben nicht selten vor, dass neben bestechendsten Bildern solche stehen, deren Wesen erst klar wird, wenn man die künstlerischen Prinzipien Wauer eingehend kennen gelernt hat. Der vorliegende Film, ich möchte ausdrücklich betonen, ein riesiger Publikumsreißer, ist bezüglich der Photographie ein offensichtliches Beispiel für Wauers Art. Der Gesamteindruck des Films ist ein außerordentlich starker«. Argus: Neuheiten auf dem Berliner Filmmarkte, in: Der Kinematograph 498 (12.7.1916). 63 Urgiß, Julius: »William Wauer«, in: Illustrierte Kino-Woche 32/33 (25.8. 1916), S. 210.
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»Das Wesen der Flmkunst empfindet William Wauer nicht allein in der bloßen Wiedergabe der Geschehnisse, sondern noch mehr in der bildlichen Ausschöpfung des Menschenantlitzes. Nur der tiefe Beobachter ist fähig, die Seelenvorgänge, die sich auch bei größter Beherrschung in des Menschen Gesicht einzeichnen, abzulesen. Diese Erkenntnis bringt uns dem unlösbar scheinenden Problem der Darstellung des Psychologischen im Film bedeutsam näher. Für die Lösung gerade dieses Problems aber bedeutet William Wauers künstlerisches Bestreben den ersten großen Schritt. Wie nun sucht William Wauer sein Ziel zu erreichen? Durch die vollkommene Ausnutzung aller photographischen Möglichkeiten. […] William Wauers Stücke zeigen komplizierte seelische Vorgänge[,] und sie klar zu legen, scheint ihm wichtiger und wertvoller als eine künstliche Erregung der Menge durch scharfe dramatische Akzente. Dabei fehlen diese keineswegs seinen Filmschöpfungen. Und seine so geschaffenen, interessant-komplizierten Figuren stellt er in eine Umgebung, die wiederum von dem Hergebrachten abweicht. Nicht so sehr in der äußeren Ausgestaltung, […] sondern in der Lichtbehandlung.«64
Für diese besondere Verwendung von Lichtwirkungen verantwortlich sei, wie es an anderer Stelle heißt, nicht zuletzt »eine künstlerisch und technisch neue Anwendung und Anordnung der Lichtquellen, die es ermöglicht, alle Seelenvorgänge eines Menschen im Antlitz mit der Bildkraft lebendigster Wirklichkeit widerzuspiegeln und auf jedem Gesicht auch die intimsten Feinheiten des mimischen Ausdrucks, auch die feinsten Nuancen des Licht- und Schattenspieles herauszuholen.«65
An dieser »sublimen lebensvollen Porträtkunst«66 war zweifellos auch der Kameramann Helmar Lerski entscheidend beteiligt, dessen PorträtAufnahmeatelier im März 1916 in das Studio von Wauers neu gegründeter W.-W.-Filmgesellschaft eingegliedert wurde.67 Jedoch schon vor
64 Ebd. 65 Der Kinematograph 499 (19.7.1916). 66 Ebd. 67 Der Film 9 (25.3.1916), S. 25. Lerski ist heute vor allem noch für seine Porträtaufnahmen von Arbeitern aus den 1920er und frühen 1930er Jahren bekannt. Zu Lerskis Filmarbeit vgl. Horak, Jan-Christopher: Making Images Move. Photographers and Avant-Garde Cinema, Washington/London: Smithsonian University Press 1997, S. 55-78.
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1916 finden sich in Wauers Filmen deutliche Spuren einer spezifischen Bildauffassung und Wirkungsästhetik. In einer Schlüsselszene aus RICHARD WAGNER finden sich zum Beispiel Bildarrangements auf mehreren deutlich voneinander geschiedenen Ebenen, kontrastreiche Szenenbilder, symmetrische Figurenkompositionen und eine expressive Lichtgestaltung. Einer Wagnerianischen Inszenierungspraxis nachempfunden, der an sich bereits eine enge Verwandtschaft zum zeitgenössischen Wahrnehmungsdispositiv der Stereoskopie nachgesagt wird,68 markieren in einer Szene des Films die von der Lichtgebung plastisch hervorgehobenen Ritter im rechten Vordergrund der Einstellung eine Raumachse, die vom Flug der nicht minder hell strahlenden Taube auf ihrem Weg rechts an der Kamera vorbei ins Off nachgezogen wird (Abb. 12).
Abb. 12
Der mit dieser Bewegung erzeugte Eindruck einer räumlichen Bildexpansion wird von den beiden die Komposition rahmenden Säulen noch verstärkt. Hier macht sich die Inszenierung zunutze, was Ernest Gombrich in seinem Essay über die Mehrdeutigkeit der Raumillusion als »Säulenparadox« beschrieben hat, das hervorgerufen wird von der »Schwierigkeit des Betrachters, die Projektion einer Form zu interpretieren, die sich in die Tiefe hin ausdehnt, dabei aber keinen Hinweis auf ihre räumliche Orientierung gibt«, da »Säulen oder Kugeln aus je-
68 Vgl. Koepnick, Lutz: »Richard Wagner and the Framing of Modern Empathy«, in: Framing Attention. Windows on Modern German Culture, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 2007, S. 62-94.
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der Perspektive gleich aussehen« und daher »eine besondere Art von Mehrdeutigkeit« herstellen.69 Ähnliche Bildkompositionen finden sich auch an anderen Stellen von RICHARD WAGNER, so z.B. in einer Einstellung, in der die Lichtsetzung zur Simulation eines stereoskopischen Reliefeffekts die Blätter eines Busches auf beiden Seiten des Vordergrunds hervorhebt (Abb. 13).
Abb. 13
Für das Melodrama SO RÄCHT DIE SONNE (1915) arbeitete Wauer mit Axel Graatkjær zusammen, dem Kameramann vieler Asta-Nielsen-Filme dieser Jahre sowie später dem Umkreis des filmischen Expressionismus zuzuzählender Werke wie ALGOL (1920, Regie: Hans Werckmeister) und PHANTOM (1922, Regie: F.W. Murnau). Zur Vorbereitung des narrativen Höhepunkts dieses Films etablieren Wauer und Graatkjær Lichtsetzungsmuster, durch die der Erzählraum sich zunehmend in unterschiedliche Bildebenen auffächert, auf denen die einzelnen Figuren agieren. Ziel dieser an stereoskopische Kompositionen erinnernden Raumanordnung ist die Ausmodellierung eines »unmöglichen« Vordergrunds, der in den Zuschauerraum hineinzuragen scheint. Evident wird diese Strategie zunächst in einer Einstellung, in der der Tisch, an dem der Protagonist sinnend Platz genommen hat, durch einen Lichtakzent betont und vom Hintergrund durch einen entleerten
69 Gombrich, Ernest H.: »Ambiguities of the Third Dimension«. In: Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation, London: Phaidon Press 1994, S. 204-244, hier S. 216.
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Mittelgrund, der von keiner diagonalen Figurenbewegung durchquert wird, getrennt ist (Abb. 14).
Abb. 14
Abb. 15
Dieses Kompositionsmuster, das sich ähnlich, jedoch ohne die akzentuierende Lichtsetzung, zu Beginn von Stellan Ryes DER STUDENT VON PRAG (1913) findet,70 wird in SO RÄCHT DIE SONNE wieder aufgenom-
70 Zur Entwicklung und semantischen Codierung dieser Raumstruktur in diesem Film vgl. Elsaesser, Thomas: »Social Mobility and the Fantastic. German Silent Cinema«, in: James Donald (Hg.), Fantasy and the Cinema, London: BFI Publishing 1989, S. 23-38, hier S. 27f.; Hunt, Leon: »THE
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men und intensiviert, wenn während der zentralen Auseinandersetzung zwischen den beiden männlichen Rivalen das Kantenlicht nicht nur auf die Figur zur Linken gerichtet ist, sondern noch die geschwungene Armlehne des Stuhls im rechten Vordergrund erfasst und auf diese Weise einen komplex strukturierten, plastischen Bildraum artikuliert (Abb. 15). Wenig später wird in einer anderen Einstellung das pointierte Kantenlicht wiederum auf einen Gegenstand gerichtet, in diesem Fall eine in der Hand gehaltene Lampe (Abb. 16). Wie zuvor modelliert das Kantenlicht aus der Bildkomposition im Vordergrund einen weiteren »unmöglichen« Vordergrund heraus, mit dem die Lampe aus der Leinwand hervorzubrechen scheint.
Abb. 16
Als der Film schließlich an seinen gewalttätigen Höhepunkt gelangt, ist die Axt, mit der gleich darauf ein Mord begangen wird, lediglich als Schatten sichtbar und bleibt damit als greifbarer Gegenstand ebenso verborgen wie die Tat selbst den Blicken des Publikums entzogen ist. Hier wird eine Raumlogik zu ihrem Ende geführt, die die Illusion eines perspektivischen Tiefenraums zunehmend zugunsten einer »virtuellen«, auf den Zuschauer ausgreifenden Raumkonstruktion aufgegeben hat: Die hell-dunkel schattierte »haptische« Oberfläche des Stoffes an der Wand trägt das ganze Gewicht des emotionalen Aufruhrs und der physischen Gewalt (Fig. 17), der Blick Zuschauerblick wird dabei zugleich abgelenkt, ausgeschlossen und auf sich selbst zurückgeworfen.
STUDENT OF PRAGUE. Division and Codification of Space«, in: Elsaesser (Hg.), Early Cinema, S. 389-401.
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Abb. 17
Als ein Kulminationspunkt der Korrelation von skulptural anmutender Plastizität der visuellen Inszenierung, konsequenter Psychologisierung der Figuren und der Intensivierung der emotionalen Zuschauererfahrung kann das bereits angesprochene Melodrama DR. SCHOTTE gelten. Gedreht als zweiter von vier Filmen der Albert-Bassermann-Serie 1918/19, bei denen Wauer Regie geführt hat, ist es heute neben DIE BRÜDER VON ZAARDEN (1918) die chronologisch späteste erhaltene Filmregiearbeit des Regisseurs.71 DR. SCHOTTE erzählt die Geschichte des gleichnamigen Assistenzarztes (Albert Bassermann), der sich der jungen Charlotte Heyl (Käte Wittenberg) annimmt, die von seinem vorgesetzten Chefarzt Otto Torsleff (Joseph Klein) geschwängert und anschließend für ihr Schweigen bezahlt wurde, womit der verheiratete Torsleff die Sache als erledigt betrachtet. Als Schottes Karriere durch mehrere erfolgreiche Behandlungen der lokalen Adelsfamilie einen steilen Aufschwung erfährt und er die Leitung der Universitätsklinik zugesprochen bekommt, nimmt er die junge Mutter als Kinderschwester in seine Klinik auf und wenig später zur Frau. Als Bedingung fordert er von Charlotte das Versprechen, dass es sich bei dem »Fehltritt« mit seinem ehemaligen Vorgesetzten um den einzigen gehandelt hat.
71 Die anderen beiden Beiträge Wauers zu dieser Reihe sind VATER UND SOHN (1918) und LORENZO BURGHARDT (1918). Zur Fortsetzung der Bassermann-Serie in der Saison 1920/21 vgl. das folgende Kapitel. Die Filme Wauers der Jahre 1919 bis 1921 müssen sämtlich als verschollen gelten.
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Abb. 18
Auf der einen Seite aus emotionaler, auf der anderen aus beruflicher Eifersucht heraus betreiben seine ehemalige Oberschwester Johanna (Else Bassermann) und sein ehemaliger Chefarzt den Ruin der Ehe. Bei einem Empfang Torsleffs zur Einweihung eines mit Bedacht bei einem bestimmten Maler bestellten Ölporträts kommt durch den eigens angereisten Künstler das bewegte Vorleben Charlottes ans Licht. Daraufhin verstößt Schotte Frau und Kind. In der Folge leidet er allerdings so beträchtlich unter seiner Entscheidung, dass er verschiedene medizinische Kunstfehler begeht, von denen einer zum Tode eines ihm anvertrauten Patienten führt. In schlaflosen Nächten irrt Schotte durch sein Haus, auf dem Dachboden Rat suchend in der Bibel, in HamletPose über einen Totenschädel gebeugt (Abb. 18), ein anderes Mal über einem konservierten Mädchenherzen kontemplierend, wie viel Falschheit und Lüge wohl darin verborgen gewesen sein mögen. Ob seiner zunehmend gewagten Herzoperationen skeptisch geworden, bittet ihn die zuständige Kommission der ansässigen Ärztekammer um eine öffentliche Demonstration am toten Objekt. Schotte willigt ein und sieht sich am folgenden Tag – diesmal offenbar von keiner Seite geplant – am Operationstisch der leblosen Hülle Charlottes gegenüber, die sich aus Verzweiflung das Leben genommen hat. Mit den
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Worten: »Nur am lebendigen Körper vermag ich eine so schwierige Operation vor einem so kritischen Publikum auszuführen. Und da kein anderes Objekt zu Hand ist…« – wendet er das Skalpell gegen sich selbst und folgt Charlotte in den Tod. »An mehreren Stellen«, heißt es in einem Uraufführungsbericht, »zeigte sich beim andächtigen Publikum infolge der dramatischen Steigerung der Handlung eine atemlose, an die Nerven gehende, fast schauerliche Spannung«.72 Aufschluss über die Wirkungsabsicht des anschaulich herausgearbeiteten psychologischen Profils gibt auch die parallel zu den Dreharbeiten von Wauer hergestellte Porträtbüste Bassermanns (Abb. 19). Als Gegenstück zu seiner berühmteren Büste Herwarth Waldens von 1917 zählt sie zu den bedeutendsten Skulpturen des deutschen Expressionismus. Ihre kunstwissenschaftliche Beschreibung ist zugeich eine präzise Beschreibung der in zahlreichen Nahaufnahmen betriebenen ästhetischen Ausmodellierung der von Bassermann im Film verkörperten Figur des Dr. Schotte: »Die Diagonale des Halses wölbt sich von rechts nach oben, der Halbkreis des heruntergezogenen Mundes setzt sich über die Wangen und die Stirn fort, die Augen sind schreckvoll aufgerissen – tiefste Erschütterung in sublimer geistiger Durchdringung und damit die unausschöpfliche Skala künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten dieses großen Mimen signalisierend.«73
Die im Film bevorzugte kontrastreiche und effektvolle Ausleuchtung von Bassermanns Körper und Gesicht scheint der expressionistischen Form, welche die emotionale Aufladung der Bassermann-Büste gefunden hat, Modell gestanden zu haben.74
72 Die Lichtbild-Bühne 34 (23.8.1918), S. 102. 73 Hammer: »William Wauer – ein Propagandist europäischer Avantgarde«, S. 58. 74 Die persönliche, form- und medienübergreifende Signatur Wauers lässt sich aber noch an einer weiteren Querverbindung ablesen, die er zwischen seine filmische und bildkünstlerische Arbeit gelegt hat: Wie ein Vergleich mit ähnlich gearbeiteten Werken dieser Jahre nahe legt, stammt das Ölgemälde Torsleffs, mit dem sich DR. SCHOTTE ins Verhängnisvolle wendet, von der Hand des Regisseurs.
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Abb. 19
Umgekehrt lässt sich die Beschreibung ihres spezifischen Ausdrucksgehalts in Konjunktion lesen mit dem von Rudolf Kurtz zum Bestimmungsmerkmal des expressionistischen Films erhobenen Kriterium einer besonderen Lichtbehandlung, deren Merkmale sich schon in vielen Filmen der 1910er Jahre, nicht zuletzt in DR. SCHOTTE artikuliert finden: »Es ist die Differenzierbarkeit der Lichtquellen, die ihre gestaltende Kraft in der Kinematographie ausmacht. Beleuchtungsmittel wie Grad und aktinische Wirkung der Lichtquelle sind stilisierende Faktoren erster Ordnung. Wird die Lichtquelle sozusagen unterhalb des Bildraums gelegt, erhalten bestimmte Teile des Bildes grelle Akzente und scharfe Schatten, ein Lichtwert, der die Teile plastisch macht und andere zurücktreten läßt, die Linien auseinandersprengt und andere verkürzt. Nach ihrer Richtung macht die Beleuchtung Objekte körperlich greifbar, während andere aus dem Bildraum gedrängt scheinen und im Hintergrund verschwinden. Das diffuse Licht der Quecksilberlampen macht die Gegenstände weich und schattenlos, die ungeteilten Lichtkegel der großen Scheinwerfer legen Härten und knallige Lichter hin, ›Effekte‹, die mit kantiger Plastik den Raum gliedern. Wer ein Bild aus expressionistischen Filmen betrachtet, erkennt, wie sehr das Modelé der Formen durch Licht bewirkt ist. […]
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Das Licht legt seine plastische Kraft auf Flächen, unterstreicht das Zackige und Energische der Linien, es betont oder schwächt die Formen, verleiht ihnen starke innere Beweglichkeit. Anpassungsfähiger als die Architektur setzt es die Akzente auf, die klar und fast handgreiflich die Ordnung des Raums nach der Absicht des Künstlers herausstellen. Das Licht hat den expressionistischen Filmen die Seele eingehaucht.«75
Am 10. September 1920 hat im Berliner Motivhaus ein Film Premiere, der wie DR. SCHOTTE von Wauer nach einem Drehbuch von Else Bassermann (unter dem Pseudonym »Hans Hennings«) inszeniert wurde und Albert Bassermann in der Hauptrolle zeigt: Der in drei Episoden unterteilte Film MASKEN mit Szenenbildern von Robert Herlth sowie den CALIGARI-Ausstattern Walter Röhrig und Hermann Warm (als Assistent) galt zeitgenössischen Kritikern als Paradebeispiel für die damals aktuelle Welle des »expressionistischen Films«.76 Der Film muss heute als verschollen gelten. Es ist jedoch zumindest anzunehmen, dass er ebenso stark wie auf DAS CABINET DES DR. CALIGARI auf ästhetische Verfahren Bezug nahm, die in DR. SCHOTTE erprobt wurden. Wenn dem so war, träte an ihm das verlorene Verbindungsglied zwischen einem aus dem deutschen (und europäischen) Film der 1910er Jahre hervorgehenden Stilmodell filmischer Expressivität, das bei Wauer zu einer filmischen Variante des bildkünstlerischen Expressionismus umgeprägt wird, und der Stilbewegung des expressionistischen Films hervor.77
75 Kurtz, Rudolf: Expressionismus und Film, Berlin: Verlag der Lichtbildbühne 1926, S. 59f. 76 Vgl. »Masken«, in: Der Film 40 (1920), S. 48; »Masken«, in: Film-Kurier 204 (13.9.1920). 77 Zum Begriff filmischer Expressivität im deutschen und europäischen Kino der 1910er Jahre vgl. Thompson, Kristin: »The International Exploration of Cinematic Expressivity«, in: Karel Dibbets/Bert Hogenkamp (Hg.), Film and the First World War, Amsterdam: Amsterdam University Press 1994, S. 65-85; Thompson, Kristin: »›Im Anfang war…‹ Über einige Verbindungen zwischen deutschen fantastischen Filmen der 1910er und 1920er Jahre«, in: Elsaesser/Wedel (Hg.), Kino der Kaiserzeit, S. 134-154. Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen »filmischem Expressionismus« und »expressionistischem Film« vgl. Kasten: Der expressionistische Film, S. 8ff.; Scheunemann, Dietrich: »Activating the Differences. Expres-
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In Anlehnung an Walter Benjamins oft zitierte Kennzeichnung des Bildraums als desjenigen, worin visuelle Komposition, piktoriales Gedächtnis und subjektive Wahrnehmung sich einander dialektisch Vergegenwärtigen, ist damit im historischen Phänomen des expressionistischen Films der frühen 1920er Jahre ein ästhetischer Ort zu erkennen, an »dem das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.«78
sionist Film and Early Weimar Cinema«, in: Dietrich Scheunemann (Hg.), Expressionist Film. New Perspectives, Rochester/Woodbridge: Camden House 2003, S. 1-31. 78 Benjamin, Walter: »Das Passagen-Werk«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 576.
3 | Medium, Maske, Metapher Albert Bassermanns Nachtseite
William Wauers DR. SCHOTTE ist nur ein Beispiel: An leidenden Männern herrscht im deutschen Stummfilm wahrlich kein Mangel. Kaum ein Klassiker der 1920er Jahre kommt ohne sie aus: Conrad Veidt in DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1919/20) oder DER STUDENT VON PRAG (1926), Alfred Abel in PHANTOM (1922), Emil Jannings in DER LETZTE MANN (1924) und VARIETÉ (1925), Fritz Kortner in DIE BÜCHSE DER PANDORA (1929) taumeln auf einem Höhenkamm, dessen motivische Ausläufer sich unabsehbar in die Breite der deutschen Filmproduktion jener Jahre zu verästeln scheinen. Die Fallhöhe ist hier noch lange nicht ausgelotet, das poröse Pathos und die verschreckten Visionen der Helden des deutschen Kinos aber sind in den 1920er Jahren die filmischen Signale eines unter dem Druck der Moderne in die Krise geratenen männlichen (Selbst-)Bewusstseins.1 An Albert Bassermann denkt man in diesem Zusammenhang nicht unbedingt, assoziiert man ihn doch eher mit dem Autorenfilm der 1910er Jahre. Gerade seine Filmrollen und -figuren von DER ANDERE (1912/13) bis DIE NÄCHTE DES CORNELIUS BROUWER (1920/21) legen jedoch nahe, die viel beschworene Krise der männlichen Identität im frühen deutschen Kino einmal als Kontinuität unter den Vorzeichen des Melodramatischen zu betrachten. Ein solcher Wechsel der interpretatorischen Folie könnte etwa an einen Ansatz von Patrice Petro anschließen, die in ihrer Studie zur melodramatischen Repräsentation in Fotografie und Film der Weimarer Zeit den Versuch unternommen hat,
1
Vgl. Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Bd. 2: Männerkörper – Zur Psychoanalyse des weißen Terrors, München: DTV 1995.
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Pathos, Stilisierung und erzählkausale Instabilität nicht primär expressionistischen, fantastischen und romantischen Einflüssen zuzuschreiben, sondern ihnen vielmehr melodramatische Konventionen zugrunde zu legen und so das Melodramatische als eine dominante Grundstruktur des Weimarer Kinos heraus zu präparieren.2 Bei ihren Hinweisen auf melodramatische Elemente in expressionistischen Filmen wie DAS CABINET DES DR. CALIGARI, vor allem aber im Kammerspielfilm und im Straßenfilm konzentriert sich Petro auf weibliche Subjektivität und ein weibliches Publikum. Zu fragen wäre am Beispiel Bassermanns, ob nicht mit einiger Berechtigung auch von einem männlichen Melodrama der Weimarer und vor-weimarer Zeit gesprochen werden kann. Wobei am Beispiel eines Films wie DIE NÄCHTE DES CORNELIUS BROUWER, der hier in den Fokus der Betrachtung gerückt werden soll, auch zu fragen wäre, ob eine solche Aufteilung für das Melodrama überhaupt sinnvoll ist, geht es doch gerade um die Auflösung hergebrachter Geschlechtszuschreibungen in der Verschränkung von sinnlichen Erfahrungsräumen.
D ER
FILMISCHE
K ÖRPER
»In der Hysterie – besonders in jener Form, die Freud als ›Konversionshysterie‹ benannt hat – wird die Energie, die mit einer Idee verknüpft ist, die verdrängt wurde, in ein körperliches Symptom umgewandelt. Die ›Wiederkehr des Verdrängten‹ ereignet sich nicht im bewußten Diskurs, sondern wird auf den Körper des Patienten verschoben. Im Melodram, wo es immer Material gibt, das nicht im Diskurs oder in den Handlungen der Figuren, die die Konstruktion der Handlung fördern, ausgedrückt werden kann, kann eine Konversion in den Körper des Texts stattfinden.«3
2
Vgl. Petro, Patrice: Joyless Streets. Women and the Melodramatic in Weimar Germany, Princeton: Princeton University Press 1989. Zur instabilen Narration und »schwachen« Handlungsmotivation im Melodrama vgl. Neale, Steve: »Melodrama and Tears«, in: Screen 6 (November/Dezember 1986), S. 6f.
3
Nowell-Smith, Geoffrey: »Minelli and Melodrama«, in: Christine Gledhill (Hg.), Home is Where the Heart Is. Studies in Melodrama and the Woman’s Film, London: BFI Publishing 1987, S. 73f.
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Im Melodrama konstituieren sich diese Erfahrungsräume, artikulieren sich die emotionalen Aggregatzustände der Figuren bekanntlich nicht durch Worte, sondern durch gestische, visuelle (und musikalische) Exzesse an der Schnittstelle zwischen innen und außen, subjektiver Vorstellungswelt und »fiktiver« Realität. Das heißt im Medium Film aber nicht nur durch die Leinwandpräsenz, die Mimik und Gestik der Schauspieler, sondern auch im Dekor, der Lichtgebung und der Mise en Scène. Wenn es daher um die Konstituierung und Inszenierung eines Figur und Zuschauer gemeinsamen Erfahrungsraums, die Strategien der Veräußerung emotionaler Energien geht, so lassen sich Mimik und Gestik des Schauspielerkörpers nicht isoliert betrachten, sondern eingebettet in das Gewebe an filmischen Ausdrucksmitteln, die in ihrer sinnlich-anschaulichen Gesamtheit so etwas wie den die Figur umgebenden filmischen Körper bilden. Ein Ausdrucksmittel, das im Kontext des fantastischen und expressionistischen Films von der Filmgeschichtsschreibung bereits ausführlich gewürdigt wurde und dem Weimarer Kino den Ruf eines »metaphorischen Kinos«4 eingebracht hat, findet auch – und übrigens weitaus früher – im frühen Filmmelodrama seine regelmäßige Anwendung.5 Zur Materialisierung von Emotionen und inneren Zuständen auf der Leinwand, dem Austausch zwischen Darsteller- und filmischem Körper, Figur und Figuration setzen die Filmmelodramen der 1910er Jahre bevorzugt Doppel- und Mehrfachbelichtungen ein, die die direkte Visualisierung subjektiver Bewusstseinszustände im fiktiven Raum der Erzählung erlauben, ohne dass die Filme dadurch automatisch von der Alltagswelt ins Fantastische abheben würden. Ein Freudsches »Konversionssymptom« an der fotografischen Oberfläche, mit dem die gegenseitige Infektion zwischen »realer« Außen- und emotionaler In-
4
Vgl. Michael, Henry: Le cinéma expressioniste allemand. Un langage métaphorique, Paris: Editions du signe 1971.
5
Zur Verwendung von Mehrfachbelichtungen zur Subjektivierung des Handlungsraums in frühen deutschen Filmmelodramen der 1910er Jahre vgl. Wedel, Michael: »Melodrama and Narrative Space. Franz Hofer’s HEIDENRÖSLEIN (1916)«, in: Thomas Elsaesser/Michael Wedel (Hg.), A Second Life. German Cinema’s First Decades, Amsterdam: Amsterdam University Press 1996, S. 123-131; Wedel, Michael: »Autorenfilm, Künstlerdrama, Starkino. Dreieckskonstellationen in und um DIE SCHWARZE LOO (1917)«, in: Filmblatt 41 (Winter 2009/10), S. 51-64.
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nenwelt konkret ins Bild gesetzt wird. Diese Tricktechnik bildet auch in DIE NÄCHTE DES CORNELIUS BROUWER den formalen Schnittpunkt, an dem das Drama des Helden zur Metapher seines inneren »Melos« wird – und umgekehrt.
L ATENTE D OPPELWERTIGKEIT »Länger und ausdauernder hat sich Bassermann immerhin auf jenem neu erschlossenen Gebiet bewegt, wo die Stimme stumm und die Bewegung des Gesichts und des Körpers alles ist: im Film. [...] Bassermann selbst ließ bei diesen nicht sehr ernst genommenen Unternehmungen seinen Spieltrieb laufen: die simpelste Freude an tollen Maskenscherzen und starken Effekten.«6
Der Film DIE NÄCHTE DES CORNELIUS BROUWER entstand im Frühjahr 1921 im Rahmen der zweiten Albert Bassermann-Serie der Greenbaum-Film Gesellschaft. Bassermann, einer der renommiertesten Charakterdarsteller der deutschen Bühne, hatte seit seinem spektakulären Filmdebüt in DER ANDERE mit einiger Regelmäßigkeit vor der Kamera gestanden und gehörte zu den »Stars« des deutschen Kinos. Weil der Beginn seiner Filmarbeit Ende 1912 mit den filmindustriellen Nobilitierungsbemühungen der Autorenfilmbewegung in Zusammenhang stand, ja von ihnen bedingt wurde, hat man Bassermanns Erfolg als Filmdarsteller stets vor diesem Hintergrund beurteilt. Folgt man Heide Schlüpmann, so waren seine frühen Autorenfilme sogar ausschlaggebend für die generelle Verdrängung einer weiblichen Erzählperspektive im deutschen Kino, die über den Autorenfilm der 1910er Jahre zum fantastischen Film, dem Kammerspielfilm und dem Straßenfilm der 1920er Jahre geführt hat: Hatte das Melodrama in seiner konventionalisierten »Opferung der Frau« die weibliche Erzählperspektive des sozialen Dramas zunächst domestiziert, so wurde sie durch das auf eine männliche Hauptfigur konzentrierte psychologische Drama des Autorenfilms endgültig an den Rand gedrängt:
6
Bab, Julius: Albert Bassermann. Weg und Werk eines deutschen Schauspielers um die Wende des 20. Jahrhunderts, Leipzig: Weibezahl 1929, S. 174ff.
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»Nicht nur die weibliche Schaulust wird in dieser Art männlicher Selbstdarstellung ihrer Autonomie beraubt, funktionalisiert, sondern die Schaulust überhaupt. Der Autorenfilm setzt dem Kino der Attraktionen ein Ende, weil er es nicht einfach negiert, sondern für seine Zwecke absorbiert.« 7
Für Schlüpmann kristallisiert sich im Übergang vom Wilhelminischen zum Weimarer Kino an der Figur Bassermanns also nicht zuletzt auch eine ganz bestimmte Genreentwicklung, in der die subversiven Energien des sozialen Dramas vom Melodrama absorbiert werden, die exzessiven Restbestände des Melodramas wiederum vom Autorenfilm gebändigt. Speziell im Falle Bassermanns funktionierte die Wechselwirkung zwischen Hoch- und Populärkultur auch umgekehrt. Während es sich bei seinen Filmen nämlich nur anfangs um als solche ausgewiesene, d.h. als solche beworbene und vom Publikum wahrgenommene Autorenfilme handelte, können die Bassermann-Filme der 1910er und frühen 1920er Jahre, ob nun von einem literarischen Autor verfasst oder nicht, nahezu uneingeschränkt als Melodramen gelten.8 Hier nur ein
7
Schlüpmann, Heide: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos, Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1990, S. 112.
8
Wobei in Bezug auf die Frage nach männlicher bzw. weiblicher Erzählperspektive hier nochmals darauf hingewiesen sei, dass Bassermanns Frau, die Schauspielerin Else Schiff-Bassermann, zu einer ganzen Reihe der Bassermann-Filme unter dem männlichen Pseudonym »Hans Hennings« die Drehbücher verfasst hat. Die Frage, wessen Stimme sich mit wessen Körper Ausdruck verschafft, angesichts derartiger Strategien der Camouflage und Geschlechtermaskerade sollte also immer erst im Einzelfall geklärt werden. Soweit heute noch nachvollziehbar, verstanden gerade die aus Drehbüchern Schiff-Bassermanns entstandenen Filme DER EISERNE WILLE (1917), DU SOLLST KEINE ANDEREN GÖTTER HABEN (1917), HERR UND
DIENER (1917), VATER UND SOHN (1918), DR. SCHOTTE (1918), DIE
BRÜDER VON ZAARDEN (1918), LORENZO BURGHARDT (1918), DER LETZTE
ZEUGE (1919), DIE DUPLIZITÄT DER EREIGNISSE (1919), EINE
SCHWACHE
STUNDE (1919) und MASKEN (1920) mit besonderer Finesse
auf der Klaviatur des Melodramatischen zu spielen. Vgl. hierzu auch die entsprechenden Ausführungen am Ende des vorhergehenden Kapitels. Das Pseudonym findet sich aufgelöst bei Bab: Albert Bassermann, S. 176.
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Beispiel: In DER KÖNIG (1913) spielt Bassermann einen Provinzschauspieler, dem nach dem Tode seiner Frau als einziges Glück seine Tochter geblieben ist. Sein Kind jedoch leidet an derselben – nicht näher definierten – verhängnisvollen Krankheit, an der bereits seine Mutter gestorben ist: »Er sieht es dahinwelken, zittert täglich vor dem nächsten Morgen und hofft doch immer, daß ihm diese Erinnerung an sein verlorenes Glück bleiben wird. Doch auch diese Hoffnung schwindet ihm. Die Kleine, die so viel von ihrem großen Vater gehört, die so oft mit der Krone gespielt hat, die er im Theater als König trägt, will ihn diesmal spielen sehen und bittet ihn darum. Der Vater aber, der um die Gesundheit seines Kindes besorgt ist, verweigert ihm die Freude. Da schleicht es sich denn eines Abends heimlich ins Theater, findet auf der Bühne Eingang und steht plötzlich inmitten der kostümierten Damen auf der Bühne seinem Vater gegenüber. Und nun staunt es, wie prächtig er anzusehen ist, wie schön er spricht, und als alle in die Knie sinken, ist es so ergriffen, daß es ihn wie gebannt ansieht und allein stehen bleibt. Da erblickt der Vater die Kleine, unterbricht sein Spiel, der Vorhang muß fallen und er stürzt auf sein Kind zu, das selig lächelnd für das Glück, seinen Vater als König gesehen zu haben, mit dem Leben zahlt. Ein gebrochener Mann, muß der Vater mit dem toten Kind in sein einsames Haus zurückkehren.«9
Schon die zeitgenössische Inhaltsbeschreibung lässt erahnen, dass diese Filme ihr historisches Publikum im emotional aufgeladenen Modus des Melodramas ansprachen. In diesem Rahmen kann Bassermanns besondere psychologische Differenzierungskunst in der Darstellung seiner Figuren als intensitätssteigernder »Mehrwert« (durchaus auch im kommerziellen Sinne) zu Geltung kommen, ohne ihn zu sprengen. Insbesondere wenn, wie in diesem Beispiel, sie zusätzlich dadurch reflexiv abgefedert und ironisch gebrochen wird, dass er einen Provinzschauspieler spielt. In anderen Filmen dieser Zeit (DAS URTEIL DES ARZTES, 1914; DR. SCHOTTE, 1918; DER FRAUENARZT, 1920) verkörpert Bassermann mehrfach Ärzte – ein seit jeher zur Erzielung melodramatischer Effekte besonders prädestinierter Berufsstand –, fast immer aber bürgerliche Helden, die am Schicksal ihrer Angehörigen und Geliebten zerbre-
9
Die Filmwoche (Wien) 28 (21.9.1913), S. 13.
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chen, vor denen sich im Zwiespalt zwischen bürgerlicher Moral und individuellem Begehren seelische Abgründe auftun, die bis zur kompletten Bewusstseinsspaltung reichen. Bassermanns frühes Filmengagement war also ein Medienwechsel mit Folgen: Die für ihre außerordentliche Subtilität gefeierte Modellierung komplexer Charaktere auf der Bühne wird im Film als emotional aufgeladene Körperoberfläche festgehalten, in die entsprechenden Stoffe gehüllt und im populären Genreformat des Filmmelodramas ausgewertet. Fast scheint es, als führe der vormals kamerascheue Bassermann mit seinem Übertritt zum Film die Doppelexistenz vieler seiner Filmfiguren fort: als »Kinodarsteller und Bühnenkünstler«, wie er selbst diese Spaltung treffend fasste,10 lässt die Chemie des Films das Antlitz des kultivierten Dr. Jekyll mit der triebhaft verdunkelten Grimasse Mr. Hydes oszillieren. Der mediale Riss durch die Bühnenidentität führt zur Selbstablösung und zu der Erkenntnis, dass im Kino das Schauspieler-Ich immer schon ein anderes ist. Auch bei Bassermann: »Wenn ich mich einmal von der Bühne ganz zurückgezogen haben werde, wird es mir gewiß Vergnügen bereiten, mich im Kino spielen zu sehen.«11 In der Wahrnehmung Bassermanns wird dieser mediale Riss zur Spiegelachse ambivalenter kultureller Identitäten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an Kracauers Einwand, DER ANDERE würde – im Unterschied zu Paul Wegeners STUDENT VON PRAG (1913) – nicht den Schritt ins Fantastische vollziehen, sondern in der bürgerlichen Alltagswelt des »nur« Melodramatischen verbleiben.12 Oder daran, dass die Werbefotos zu DER ANDERE, die in den Schaukästen eines Prager Kinos aushingen, Franz Kafka vom Besuch des Films zunächst abhielten, weil ihm die hohe mimische Expressionskunst Bassermanns hier zur »verbrecherischen menschlichen Grimasse«, mit anderen Worten: zur Maske des melodramatischen Charaktertypen verkommen
10 Bassermann, Albert: Kinodarsteller und Bühnenkünstler, in: Prager Tageblatt vom 13.1.1913. 11 Die Lichtbild-Bühne 25 (21.6.1913), o.S. 12 Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 41.
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schien.13 Am treffendsten illustriert aber vielleicht noch eine andere Quelle diese latente Doppelwertigkeit von Bassermanns Gabe, in Mimik und Gestik das Innere einer Figur nach außen zu kehren, die im Theater zum Inbegriff hoher Schauspielkunst, technisch still gestellt jedoch zum Material der melodramatischen Gefühlstypisierung werden kann: Jene fotografisch festgehaltenen »Physiognomischen Studien« von Hans Böhm, in denen Bassermanns mimisches Vokabular der facettierten Gefühlsäußerung von einer Serie stereotyp gezeichneter Gesichter zwischen den Extremen »heiter« und »traurig« binär aufgeschlüsselt wird (Abb. 1).14
Abb. 1
13 Kafka, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. v. E. Heller/J. Born, Frankfurt a.M.: Fischer 1983, S. 325f., u. 338. 14 Abgedruckt bei Bab: Bassermann, S. 108-111.
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Ü BERLAGERUNG
»Für die melodramatische Imagination bedeutsame Dinge und Gesten [sind] ihrem Wesen nach metaphorisch, da sie immer auf etwas anderes verweisen und von etwas anderem sprechen müssen. Alles scheint den Stempel der Bedeutung zu tragen, die ausgedrückt, aus-gedrückt werden kann.«15
DIE NÄCHTE DES CORNELIUS BROUWER greift auf diese Doppelgesichtigkeit Bassermanns zurück, ja er macht sie zu seinem eigentlichen Thema: Der soeben beschriebene mediale/kulturelle Riss in der Wahrnehmung Bassermanns ist Ausgangs- und Mittelpunkt des Films. Bassermann ist hier in der Rolle des Baumeisters Cornelius Brouwer zu sehen, der von der verantwortlichen Kommission der Stadt den Auftrag erhält, ein Pantheon zu Ehren der großen Persönlichkeiten der Vergangenheit zu errichten – sich damit gewissermaßen selbst das größte Denkmal zu setzen. Brouwers Bescheidenheit lässt ihn dieses Ansinnen zunächst ablehnen: Er will den Auftrag an die nächste Generation, an seinen skrupellos ehrgeizigen und sexuell leichtlebigen Assistenten und Schüler Joost Heermans (Rudolf Klein-Rogge) weitergeben. Dies gelingt ihm nicht. Die Kommission besteht auf seiner Person, was von Heermans nicht ohne weiteres hingenommen wird. Um sich doch noch gegen seinen Meister durchzusetzen, nutzt er die nächstbeste Gelegenheit, ihn aus dem Weg zu räumen. Er verübt ein Attentat, indem er einen Steg des Baugerüsts ansägt. Brouwer verunglückt, jedoch nicht tödlich, sondern mit ähnlichen Folgen, wie sie neun Jahre zuvor in DER ANDERE schon Dr. Hallers Sturz vom Pferd gezeitigt hatte: Nach kurzfristigem Gedächtnisverlust bleibt eine Bewusstseinsspaltung zurück, die in Brouwer jeden Abend zum Zeitpunkt des Unglücks ein unstillbares Verlangen nach Marion auslöst, die trotz ihrer Verlobung mit dem Arbeiter Dirk die Geliebte von Heermans ist. Beide, Marion und Dirk, hatte er zum Zeitpunkt seines Unglücks als letzte Wahrnehmung vor dem Gedächtnisverlust erblickt. Entscheidend ist, wie immer im Melodrama, die konkrete filmische Umsetzung. Das mentale Bild des eigenen Blicks erscheint mit Hilfe
15 Brooks, Peter: »Die melodramatische Imagination«, in: Christian Cargnelli/Michael Palm (Hg.), Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum Melodramatischen im Film, Wien: PVS Verleger 1994, S. 45.
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einer Doppelbelichtung auf der Stirn Brouwers als Stigma, d.h. einer dem Körper eingeschriebenen Spiegelung nach innen: Die im Blick erfasste Struktur des Begehrens zwischen Marion und Dirk wird verinnerlicht. Zugleich vollzieht sich aber auch eine Spiegelung nach außen: Die innere, subjektive Wirklichkeit tritt buchstäblich in den Raum der »fiktiven« Realität, der von ihr kontaminiert wird. Marion und ihr Verlobter erscheinen zunächst als Bild über seiner Stirn, in der Folge werden sie jedoch in einer Reihe von Doppelbelichtungen den die Hauptfigur umgebenden Handlungsraum bevölkern. Diese metaphorisch verdichtende Überlagerung von subjektiver Vorstellungswelt und »fiktiver« Wirklichkeit wird beispielhaft in jener Szene ins Bild gesetzt, in der Brouwer aus seinem Koma erwacht. Im Bett liegend sieht er zunächst sich selbst im Spiegel, aus dem Spiegel hervor treten dann aber Marion und Dirk, in ihren Bewegungen die Annäherung an den Unglücksort wiederholend. Als Dirk ans Bett tritt, geht sein Bild in das Brouwers über, der Dirks Arbeiterkleidung trägt; zugleich tritt von der anderen Seite Brouwers Frau Margit hinzu und verwandelt sich in Marion. In der Folge wird der Film das Spiel mit der Überlagerung von imaginierter und »realer« Welt noch weiter treiben: Bei der ersten tatsächlichen Begegnung Brouwers mit Marion erscheint sie durch eine Fensterfront nur schemenhaft sichtbar hinter ihm. Die Inszenierung lässt sie so für den Zuschauer einen Moment lang in der Schwebe zwischen realer Anwesenheit und einem durch Doppelbelichtung bewerkstelligtem Traumbild oszillieren. Diese für das Melodrama so typische doppelte Verschränkung des Begehrens spiegelt sich auch auf der Handlungsebene: Brouwer tritt zwar subjektiv an die Stelle von Dirk und übernimmt dessen sexuelle und soziale Identität. Entsprechend des erzählkausalen Trugschlusses über den Urheber seines Unfalls – zunächst wird Dirk verdächtigt, er hätte ein Attentat auf seinen Nebenbuhler Joost Heermans verüben wollen, dem schließlich Brouwer zum Opfer gefallen ist – findet die psychologische Verschiebung jedoch auch zwischen Brouwer und Heermanns statt. Indem Brouwer mit Heermans in Konkurrenz um Marion tritt, nimmt er auch Rache für die Avancen, die Heermans zu Beginn des Films ohne Brouwers Wissen seiner Frau Margit gemacht hatte. Der von Heermans durch sein Attentat im gesellschaftlichen Raum angestrebte Positionswechsel (vom Assistenten zum »Meister«) tritt damit auf dem Feld des sexuellen Begehrens ein. Auf dieser Ebene ist Brouwer der Schüler seines Assistenten Heermans, der Dirk zuvor
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ohne große Anstrengung und ohne großes Aufsehen dadurch aus dem Feld schlagen konnte, dass er Marion mit Konfekt verwöhnt und ihr ein Engagement als Tänzerin im Nachtlokal »Zur Matrosenfreude« vermittelt hat. Dort kann Brouwer seinen neu hinzukommenden Mitkonkurrenten, den Tanzpartner Marions, nur um den Preis der eigenen Lächerlichmachung und öffentlichen Entblößung verdrängen, indem er seinen Platz auf der Bühne an der Seite Marions einnimmt. Wobei Bassermanns groteske, zwischen emotionaler Not und masochistischer Lust changierende Tanzeinlage ein lange übersehenes Pendant zu Emil Jannings’ krähendem Auftritt in DER BLAUE ENGEL (1930) darstellt.
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»Der melodramatische Modus ist im großen und ganzen dazu da, das Moralisch-Okkulte zu orten und zu artikulieren.«16
Soweit würde der Film in der Einbindung der Figur Brouwers in die Struktur männlicher Ödipalität Kracauers These vom sozio-psychologischen Grundkonflikt des gescheiterten ödipalen Dramas als dem »entscheidenden Dilemma« des Weimarer Kinos durchaus bestätigen. Nicht nur der Titel des Films legt eine solche, auf die männliche Hauptfigur konzentrierte Lesart nahe, auch die Narration des Films scheint vollständig auf Brouwer zentriert, indem etwa nur seine subjektive Gefühlswelt sich im filmischen Raum materialisiert und die weitaus höchste Anzahl an Großaufnahmen ihm gewidmet ist. Zudem ist der erste Auftritt Brouwers – er tritt zwischen den sitzenden Figuren Margits und Heermans durch einen Vorhang aus der Mitte des Hintergrunds hervor – derart pointiert, dass das Interesse unmittelbar auf diese Figur gelenkt wird. Und natürlich auch auf ihren Darsteller. Dessen Wechsel zum Film wird in diesem sorgsam choreografierten Auftritt noch einmal inszeniert: Der ersten Szene der fiktiven Handlung vorgeschaltet ist – gemäß einer 1921 bereits recht veralteten Konvention – eine emblematische Einstellung, die Bassermann außerhalb seiner Rolle zeigt. Wenn Bassermann auf diese Weise lächelnd das Folgende als Fiktion und Rollenspiel zu erkennen gibt, zieht er
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zwischen die Identifikation des Publikums mit der Figur des Cornelius Brouwer jene ironisch distanzierende Ebene, die es für ihn in seiner Darstellung der Figur zu durchbrechen gilt. Die Hemmschwelle zur absorbierenden Identifikation wird gleichsam künstlich noch um einige Zentimeter höher gelegt. Es dabei zu belassen, hieße jedoch, auf einen Trick hereinzufallen, der zugleich auch ein Ablenkungsmanöver ist. Ein Manöver zur Ablenkung von der Bedeutung der Frauenfiguren, die entscheidend dafür ist, dass wir es hier eben nicht nur mit der linearen Erzählung eines psychologischen Dramas männlicher Ödipalität zu tun haben, sondern mit einem melodramatischen Gewebe, das sich weitaus verschlungener ineinander faltet. Zum einen laufen in diesem Film die Stränge männlicher und weiblicher Ödipalität parallel: Das männliche ödipale Drama spielt sich auf der Folie der gegeben Sozialstruktur ab, wobei die nächtliche Arbeiter-Existenz »Nullpunkt« des sozialen Falls Brouwers und »Maske« für die Freisetzung gesellschaftlich nicht sanktionierten sexuellen Begehrens ist. Hier entschuldigt die klinische Bewusstseinsspaltung der Hauptfigur die Metamorphose, während das Zusammenfallen von uneingeschränktem sexuellen Begehren und gesellschaftlicher Aspiration bei Heermans als verhängnisvoll dargestellt wird: Sie verhindert seinen sozialen Aufstieg und führt in die Kriminalität. Das weibliche ödipale Drama zwischen Marion und ihrer Mutter funktioniert hierzu spiegelverkehrt: Der soziale Aufstieg scheint hier geradezu abhängig von Promiskuität und außerehelichen Beziehungen, abhängig von der Öffentlichmachung ihrer Person als durch und durch sexualisiertem Wesen. Die Alternativen zu dieser Koppelung sexuellen und sozialen Begehrens heißen hier wie so oft im Melodrama: Heirat im eigenen Milieu und Verbleib in Armut oder finanzielle Anerkennung und Opferung der gesellschaftlichen Achtung. Höhepunkt dieses weiblichen ödipalen Dramas ist die letzte Begegnung Marions mit ihrer todkranken Mutter. Ans Sterbebett gerufen, bittet die Mutter Marion, zur ihr nach Hause (und damit auch zu Dirk) zurückzukehren. Marion ist nahe daran, einzuwilligen. Als sie sich aber zu ihrer Mutter niederbeugt, um sie zu umarmen, verrutscht ihr Mantel und legt ein aufreizendes Tanzkostüm bloß. Ihre Mutter, vor der Marions Tätigkeit in der »Matrosenfreude« verborgen gehalten wurde, stirbt am Schock über die vermeintliche Schande ihrer Tochter, für die es nun kein Heim mehr gibt, in das sie noch zurückkehren könnte.
M EDIUM , M ASKE , M ETAPHER
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Wichtiger jedoch als die parallele ödipale Handlungsstruktur erscheint die Analogie, in die der Film die Figur von Brouwers Frau Margit mit der ihres Mannes rückt, und die den Film wie ein Vexierbild aus ihrer Perspektive auf ganz andere Weise lesbar werden lässt: als Familienmelodrama. Margit (Margarete Neff) gehört der erste Szenenauftritt innerhalb der Fiktion, platziert exakt zwischen der emblematischen Einstellung mit Bassermann zu Beginn und dessen erstem Auftritt in der Rolle Brouwers. Auch sie wird zu ihrer kranken Mutter gerufen, und ihre Abwesenheit aus der Stadt ermöglicht erst, dass das Drama sich vollziehen kann, Brouwers allabendliche Transformationen und nächtlichen Begegnungen mit Marion in der »Matrosenfreude« nicht schon früher bemerkt werden. Vor allem ist nicht zu vergessen, dass sich in der oben erwähnten zentralen Szene des Films nach Brouwers Erwachen aus dem Koma nicht nur Brouwer in Dirk und anschließend in den eigenen Doppelgänger verwandelt, sondern auch sie sich in Marion, und zurück in Margit. Die metaphorische Logik legt also plastisch nahe, dass nicht nur Brouwer seine geheimsten Begehren und Wünsche an Stelle des »kastrierten« Dirk ausagiert. Auch Marion stellt das Wunschbild einer von Margit insgeheim »erträumten« alternativen Existenzform dar. Kulminationspunkt ist auch in dieser Hinsicht die Schlussszene, das Gravitationszentrum im melodramatischen Energiefeld. Margit, brieflich von Heermans auf das Doppelleben ihres Mannes – dessen gesellschaftlich-moralische Diskreditierung er ja betreibt – aufmerksam gemacht, kehrt unverzüglich von ihrer Mutter in die Stadt zurück. Dort schlägt ihr Heermans – als Stammgast des Hafenlokals über Brouwers anstehenden Tanzauftritt informiert – vor, sich als Matrose zu verkleiden, um sich so von der zweiten Existenz ihres Mannes zu überzeugen. Als sie in ihrer Verkleidung dem Auftritt ihres Mannes beiwohnt und sogar mit Marion flirtet, sich also ebenfalls maskiert und ihre entsprechende Rolle auf dem Feld heterosexuellen Begehrens einnimmt, wird sie beinahe von Brouwer aus Eifersucht erstochen: Erst der durch ihren Schrei markierte Moment des gegenseitigen Erkennens hält ihn von dieser Tat ab. Es ist der Moment, in dem sich beide – nicht unter, sondern an ihren Masken – im Begehren des jeweils anderen erkennen, und Brouwer seine Bewusstseinsspaltung überwindet. Für Brouwers Heilung verantwortlich ist dementsprechend nicht – wie ein Zwischentitel suggerieren mag – »Das Wiederauftauchen der reellen Welt inmitten der Phantasiewelt«, sondern die melodramati-
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sche Überblendung beider Welten: Brouwers »Therapie« bestünde demnach darin, dass Margit ihm ein Stück weit auf seinem Weg in die Triebwelt und hinter den Vorhang der moralischen »Normalität« gefolgt bzw. entgegengekommen ist. Dass hier – und nicht im Drama der männlichen Ödipalität – der zentrale Konflikt des Films ausgetragen wurde, verdeutlicht auch die Lakonie, mit der der Film sich der anderen Figuren entledigt: In einem Gerangel mit Dirk, der Heermans und Marion von der Flucht ins Ausland abhalten will, stirbt Marion durch einen Sturz auf der Treppe vor der »Matrosenfreude«. Über das weitere Schicksal Joost Heermans oder Dirks erfährt man nichts. Es scheint, als ob sich in einer letzten Umkehrung von Fantasie und Wirklichkeit mit der Auflösung des zentralen Konflikts im Imaginären (des Missverstehens zwischen Margit und Brouwer auf dem Feld des sexuellen Begehrens) nun auch deren Stellvertreter in der »normalen« (d.h. gesellschaftlich determinierten, ödipal regulierten) Realität – die eigentlichen Doppelgänger des Melodramas – in nichts auflösen müssten.
4 | Anstoß der Erregung Asta Nielsens Verwandlung
»Stärker als jedes andere mimische Ausdrucksbild ergreifen uns Lachen und Weinen der Mitmenschen und machen uns zu Partnern ihrer Erregung, ohne daß wir wissen warum. Dieser mitreißenden Kraft entspricht auf der Seite des Lachenden und Weinenden jene Hingerissenheit, jenes Überwältigtsein vom eigenen Ausdruck, das seiner distanzierten Verwendung im Sinne einer Gebärdensprache ebenso entgegen ist wie seiner beliebigen Erzeugung. Lachen läßt sich dabei immer noch leichter hervorrufen als Weinen. Selbst großen Schauspielern gelingen nicht immer echte Tränen.« HELMUTH PLESSNER: LACHEN UND WEINEN. EINE UNTERSUCHUNG DER GRENZEN MENSCHLICHEN VERHALTENS
»›Sehen Sie, das verstehe ich unter Filmdarstellung‹ sagte Asta Nielsen zu ihrem Besucher, während sie ihn mit Augen ansah, welche sich beim Anblick der Partnerin, wie die kommende Szene es vorschrieb, mit Tränen gefüllt hatten, ohne daß eine Miene in ihrem Gesicht sich verzogen hätte.« WALTER BENJAMIN: DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT (ERSTE FASSUNG)
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»D IE T RÄNEN DER A STA N IELSEN «: E INE SYMPTOMATISCHE D EBATTE Am 15. Oktober 1920 richtet sich Ernst Lubitsch in einem offenen Brief an Asta Nielsen.1 Anlass des Briefes war ein nur wenige Tage zuvor publiziertes Interview, in dem die Schauspielerin eine »Hervordrängung des Technischen« kritisiert hatte, welche die »Ausbreitung des Künstlerischen« im deutschen Film zunehmend einschränke.2 Besonders schmerzlich habe sie diese Tendenz 1919 im Zusammenhang mit der Strindberg-Verfilmung RAUSCH am eigenen Leibe zu spüren bekommen; jenem Film, in dem sie unter Lubitschs Regie die Schlüsselrolle der Henriette spielte.3 Bei Strindberg, so wird Asta Nielsen in besagtem Interview zitiert, stünden der »Sinn und der seelische Gehalt […] nicht neben der Handlung«, sondern seien »ganz direkt in ihr, in den Ereignissen und Sensa-
1
»Asta Nielsen und Ernst Lubitsch. Ein offener Brief an Asta Nielsen«, in: Die Lichtbild-Bühne 42 (16.10.1920), S. 31f.
2
Steinthal, Walter: »Bei Asta Nielsen«, in: Die Lichtbild-Bühne 41 (9.10.
3
Strindbergs Rausch war, neben Die Kameraden, das meistgespielte seiner
1920), S. 42. Stücke auf deutschen Bühnen vor 1933. Die Interpretation der Henriette – die zwar mit Zügen einer femme fatale ausgestattet ist, das Familienglück ihres Geliebten jedoch keinesfalls aus kalter Berechnung zerstört – wurde bis zu dem Zeitpunkt, als Asta Nielsen sie sich für den Film aneignete, vor allem von Gertrud Eysoldt und, seit 1915/16, von Maria Orska geprägt. Mit Blick auf die deutsche Erstinszenierung empfahl Strindberg selbst die Interpretation der Figur wie folgt: »Frau Eysoldt muß psychisch verführerisch wirken; der Vampir, der Seelen trinkt; und braucht keinen Körper zu haben. (Aspasia ist körperlos!) Ohne Bewußtsein von Gut und Böse: ›alles ist erlaubt‹. Aber da sie nicht berechnet, daß Taten Folgen haben, ist sie zuerst erstaunt und rasend, dann entdeckt sie, daß nicht alles erlaubt ist – macht die Entdeckung aber mit einer schicken Resignation, ohne Reue, aber mit einer gewissen Wehmut!« August Strindberg an Emil Schering, 10.9.1902, zitiert nach: Strindberg, August: Werke in zeitlicher Folge, Frankfurter Ausgabe, Bd. 8: 1898-1900, hg. v. Wolfgang Pasche, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1992, S. 1140. Lubitschs Filmversion gilt als verschollen.
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tionen.«4 Eine dieser besonderen literarischen Qualität der Vorlage angemessene Interpretation sei also nur dann gegeben, so lässt sich der Hinweis deuten, wenn dramatische »äußere« Handlung und innerer »seelischer« Gehalt des Geschehens im gelingenden Darstellungsakt der Schauspielerin sich zu einer Form verbinden, die dem Publikum in dieser besonderen Amalgamierung über die unmittelbar sinnliche Wahrnehmung zur Anschauung kommt. Diese Konfiguration von dramatischem Geschehen und dem ihm innewohnenden Gehalt, von schauspielerischem Gestaltungs- und ästhetischem Wahrnehmungsvermögen des Publikums scheint Asta Nielsen hier noch einmal als jene Aufgabe vorzuschweben, vor die sie sich in RAUSCH gestellt sah. Eine Aufgabe, wie sie betont, die zur hinreichenden Ausgestaltung ihre ganz eigene Dimension in Zeit und Raum beanspruche. Das aktuelle Publikum jedoch, so äußert sie in diesem Gespräch weiter, wolle »immer nur Handlung, gedrängte Sensation«: »Zu schauspielerischer Vollentwicklung wird dem Künstler keine Zeit gelassen. Oder, wird sie ihm bei der Aufnahme gelassen, so nimmt die Schere des Regisseurs hinterher das beste weg: als ›überflüssig‹.«5 Ganz konkret spielt Asta Nielsen hier auf eine Szene an, in der sie eines der prägnantesten Stilmittel ihrer Schauspielkunst zur Geltung bringt: das Weinen als Ausdruck kommunizierter Innerlichkeit, als physisch beglaubigter Akt affektiver Mitteilungskraft. Lubitsch versteht die Anspielung auf die gemeinte Szene sofort. Dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil er selbst es gewesen sein dürfte, der Nielsens Tränen (mit dem für ihn so charakteristischen Doppelsinn) als »über-flüssig« bezeichnet hat. Lubitsch versucht (auch dies für ihn nicht weniger typisch), die Situation dadurch zu entschärfen, dass er seine Kürzung der Szene zum versteckten Kompliment umdeutet: »Sie können es mir immer noch nicht verzeihen, daß ich Sie bei einer Großaufnahme, statt 5 nur 2 Meter habe weinen lassen. Aber glauben Sie mir, Ihre Tränen kullerten so echt aus den Augen über die Backen auf die Bluse, daß das Publikum nach 2 Metern vollauf ergriffen war.« 6
4
Steinthal: »Bei Asta Nielsen«, S. 42.
5
Ebd.
6
»Asta Nielsen und Ernst Lubitsch«, S. 31.
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Berufen konnte sich Lubitsch auf ein Presseecho, dass seine Regie des Films als »Meisterwerk«7 gefeiert und dies vor allem am innovativen Einsatz der Montage und Großaufnahmen festgemacht hatte: »Die Technik ist hier ganz eigenartig, die Form des Einschneidens originell und neu. Oft jagen sich die verschiedensten Bilder blitzartig hintereinander, fast expressionistisch durch ihre Aufeinanderfolge in der Gesamtheit einen kaleidoskopartigen Eindruck erweckend. Gegensätze in Bildern werden frappierend aufeinandergestellt und dadurch eine ganz eigenartige Denkweise dem Zuschauer aufoktroyiert […]. Die Großaufnahme ist hier oft nicht Prinzip des Opernglases. Wir werden oft absichtlich woanders hingewiesen […]. Aber es wird dadurch ein eigener Eindruck erzielt. Oft werden längere Handlungen, die gleichzeitig laufen, nicht eingeschnitten, sondern nacheinander gebracht, in größeren Teilen. Nur bei größerem Tempo geht es Zug um Zug. Diese Art des Einschneidens ist äußerst originell.«8
In zügigem Tempo von einer Einstellung zur nächsten ging es demnach auch um jene Großaufnahme herum zu, auf die Nielsen und Lubitsch abheben. Allerdings gehörte sie wohl zu jenen Momenten des Films, bei deren Umgang sich derselbe Kritiker zuweilen etwas mehr inszenatorische Geduld gewünscht hätte, wenn er schreibt: »Aber vielleicht könnten trotz des Grundsatzes, ein Bild schon abzuschneiden, wenn es noch im höchsten Maße fesselt, einige Bilder ein wenig länger sein, wohlgemerkt, nur da, und nur ganz wenig«.9
7
Lüthge, Bobby E.: »RAUSCH« in: Film-Kurier, 3.8.1919; zitiert nach Prinzler, Hans Helmut/Patalas, Enno (Hg.), Lubitsch, München/Luzern: Bucher 1987, S. 132.
8
Ebd.
9
Ebd. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Lüthge die ästhetische Präsenz von Nielsens Spiel in RAUSCH insofern als autonom kennzeichnet als er es in Begriffe einer akustischen Wirkungsdimension fasst, die von der Inszenierung des Visuellen niemals vollständig eingeholt werden kann: »Asta Nielsen. Diese Frau ist der Film. Sie ist nicht eine von unseren größten Filmschauspielerinnen, sondern sie steht ganz außerhalb von diesen. Wer sagt, daß der Film stumm ist? Daß sich tote Lippen bewegen, daß man nichts hört? Asta Nielsen lebt vor uns. Sie schmettert Worte von der Leinwand, die die Musik übertönen. Es lodert, wenn ein Schreck sie durchzuckt. Man hört sie keuchen, wenn sie ringt. Man hört ihren Atem,
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Was in der unmittelbaren kritischen Rezeption von RAUSCH als latentes Spannungsverhältnis zwischen schauspielerischer und filmischer Gestaltung wahrgenommen worden war, polarisierte sich im Anschluss an Lubitschs offenen Brief in zwei grundsätzliche Positionen. Ihm folgte eine öffentliche Debatte darüber, inwiefern – dies die eine Position – die Tränen der Asta Nielsen als künstlich erzeugte zum Filmhandwerk zu zählen und damit anderen Stilmitteln wie eben der Montage frei verfügbar und gegebenenfalls unterzuordnen sind; beziehungsweise – und dies die andere – als Momente einer genuin künstlerischen, ihrem eigenen Rhythmus folgenden Ausdrucksgeste, in der die schauspielerische Darstellung zur Durchdringung der Konstellation von Figur, Handlungssituation und subjektiver Empfindungsqualität geführt werden kann und deren Bedeutungskern der Wahrnehmung erschließen. Die erste Position, die das Weinen der Filmschauspielerin als angewandte Ausdruckstechnik auffasst, wurde im Rahmen der Debatte von der Einsendung eines ungenannt bleibenden Darstellerkollegen formuliert: »Die großen dicken Tränen gehören zum Handwerk, sind ein Requisit des Filmdarstellers oder der hierin besonders bewanderten Darstellerin. Die großen dicken Tränen, die den Augen voller Traurigkeit entquellen, sind – Glycerintropfen, die vor der Aufnahme im Augenwinkel untergebracht, und im psycho10
logisch wirkungsvollen Momente – rinnen gelassen werden.«
wenn sie [Alfred] Abel anfährt, und ihre Sohlen klirren auf dem Pflaster, wenn sie aus dem Gefängnistor wankt. Sie spricht. Man braucht gar keine Worte, gar keine Titel. Man versteht sie, denn ihr ganzes Wesen schreit. […] Ihre Bewegungen sind Reflexe innerer Vorgänge […] Sie springt aus der Leinwand heraus. Ihr Gesicht lodert, zuckt, schmerzt, brüllt, lacht. Wenn sie weint, so weint ihr ganzes Ich.« (Ebd., S. 131f.) Zu dieser imaginären akustischen Dimension vgl. a. Sykora, Katharina: »Knall-Effekte. Hörwelt und Plötzlichkeit in Asta Nielsens Schauspiel«, in: Heide Schlüpmann u.a. (Hg.), Unmögliche Liebe. Asta Nielsen, ihr Kino, Wien: Filmarchiv Austria 2009, S. 149-152. 10 »Die Tränen der Asta Nielsen«, in: Die Lichtbild-Bühne 49 (4.12.1920), S. 49.
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Als reines Oberflächenphänomen betrachtet, wie es dem Film zukomme, und im Zusammenklang mit seinen anderen Verfahren des künstlichen Scheins, so der angebliche Insider weiter, sei die affektive Wirkungsmacht synthetischer Tränen dem sichtbaren Effekt körperlich hervorgebrachter ohnehin überlegen: »Langsam nur bewegt sich das Glycerin über die Schminke des Kummer bezeugten Antlitzes und hat die Eigentümlichkeit, auf gefühlvolle Seelen eine ganz besondere Macht der Erregung auszuüben und das Publikum mehr zu ›packen‹, wie das natürliche Augensalzwasser gewöhnliche Sterbliche, denn die Glycerin-Tränen hinterlassen auf der Schminke Spuren ihres Weges nach unten, die im Lichte der Atelierlampen wie Silberfäden glänzen, so daß auch die Gesamtwirkung dieser Szene nicht so leicht aus dem Empfinden und Gedächtnis schwindet.«11
Ansichten, die wie die hier geäußerte die filmisch-technische »Macht des Falschen«12 über die subjektiv grundierte und körperlich verankerte Ausdrucksgebärde der Schauspielerin erhoben, trat Paul Wegener, zu diesem Zeitpunkt Partner Asta Nielsens in STEUERMANN HOLK (1920, Regie: Ludwig Wolff), mit dem Hinweis entgegen, die Tränen, die er Asta Nielsen bei den Dreharbeiten von den Wangen zu küssen gehabt hätte, seien stets »wässrig und salzig« gewesen, Glyzerin dagegen schmecke »bekanntlich fettig und süß.«13 An den Interventionen der beiden Schauspielerkollegen in den konkreten Disput zwischen Asta Nielsen und Ernst Lubitsch lassen sich auf fast schon symptomatische Weise zwei historisch divergierende Rezeptionshaltungen und Wahrnehmungsdispositionen gegenüber der Schauspielerin (wie dem Kino insgesamt) festmachen.14 Auf der einen Seite wird ein angeblich objektives Wissen hervorgekehrt, das »enthüllt« und über das die Öffentlichkeit »aufgeklärt« werden muss:
11 Ebd. 12 Die Idee einer »Macht des Falschen«, die die »Form des Wahren« substituiert und verdrängt, stammt von Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 174. 13 »Paul Wegener und Asta Nielsen«, in: Die Lichtbild-Bühne 3 (15.1.1921), S. 48. 14 Vgl. Schlüpmann, Heide: »›Die Erziehung des Publikums‹ – auch eine Vorgeschichte des Weimarer Kinos«, in: KINtop 5 (1996), S. 133-146.
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das vermeintliche Wissen nämlich um die prinzipiell synthetisch-prothetische Natur des filmischen Herstellungsprozesses allgemein, für die der Hinweis auf das Glyzerin einzustehen hat. Wegener stellt diesem »anonymen«, »objektivierten« Wissen den Geschmack eines Kusses, d.h. eine völlig andere Form des verkörperten, subjektiv empfundenen Wissens entgegen und erhebt seine unmittelbare sinnliche Erfahrung zum objektiv ebenso wenig hintergehbaren wie allgemeingültig beweisbaren Indiz für die »Echtheit« der Tränen Asta Nielsens.
D IE » SCHAUSPIELERISCHE G ESCHEHENSREIHE « Die – nicht zufällig an Asta Nielsen unbeirrt wiederkehrende – Behauptung eines prinzipiellen Unterscheidungsvermögens zwischen »echten« und »falschen« Filmtränen korrespondiert hier mit dem von der Schauspielerin selbst (mit Blick auf die literarische Provenienz des Strindberg’schen Stoffes) ins Spiel gebrachte Gegensatzpaar von »Kunst« und »Technik«.15 An Nielsens Reaktion auf die Schnittfassung von RAUSCH und ihrer Gegenüberstellung von primär künstlerisch und primär technisch definierter Filmpraxis lässt sich unter Rückgriff auf Georg Simmels Schauspielmaxime eines »subjektiven Realismus«16 vielleicht etwas genauer nachvollziehen, worum es ihr mit dem Begriffspaar im besonderen Fall der Adaption eines ihrer literarischen Lieblingsautoren gegangen sein mag.17
15 Nielsen rekurriert auch später noch auf diese Unterscheidung, problematisiert sie aber auch, wenn sie von ihrem Spiel nicht als Anwendung erlernter Schauspieltechnik, sondern als »eine[r] Art Autosuggestion« spricht; und davon, dass es gerade diese »verinnerlichte Spielweise« gewesen sei, die sie für den Film von Anfang an so geeignet gemacht hätte. Nielsen, Asta: Die schweigende Muse. Lebenserinnerungen, Berlin: Henschel 1977, S. 111, 164. 16 Simmel, Georg: »Zur Philosophie des Schauspielers« [1908], in: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. II (Gesamtausgabe, Bd. 8), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 426. 17 1921 spielt sie die Titelrolle in FRÄULEIN JULIE (Regie: Felix Basch), einer weiteren Strindberg-Verfilmung, die von ihrer im Jahr zuvor gegründeten Produktionsfirma »Art-Film« hergestellt wurde. Der Name ihres Unternehmens wie auch der Umstand, dass sie in ihren Filmen der Nachkriegsjahre
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Gegenüber einer »falschen Objektivität« auf der einen Seite, »die den Schauspieler zur Marionette seiner Rolle macht«, und der »falschen Subjektivität« auf der anderen, »nach der der Schauspieler nur sich selbst […] zu spielen hätte, und die Rolle nur das zufällige Gewand wäre, in dem seine Individualität sich darbietet«, scheint Nielsen, gelesen mit Simmel, an den Film von 1919 (wie der Philosoph 1908 an das Theater) die Ideal-Forderung der Suche nach jenem »besonderen Gesetz« heranzutragen, »das dieser schauspielerischen Persönlichkeit aus dieser Rolle kommt« und das sich aus der Forderung ableitet, »die diese Rolle an diesen Schauspieler und vielleicht an keinen andern stellt.«18 Womöglich war es diese besondere Gesetzmäßigkeit der Hervorbringung eines autonomen »schauspielerischen Bildes« bzw. einer aus sich selbst wirkenden »schauspielerischen Aktion«, die Asta Nielsen vom Eingriff der Montage Lubitschs in ihre individuelle Ausgestaltung der Strindberg’schen Figur empfindlich gestört sah.19 Potenziell verloren oder zumindest tendenziell gefährdet schien ihr hier eine in ihrer bisherigen Filmarbeit stets zugestandene und daher vertraute Gestaltungs- und Interpretationsfreiheit. Was von Asta Nielsen als künstlerischer Gestaltungsfreiraum ins Gespräch gebracht wird, ist zugleich als ein ganz bestimmter ästhetischer Wirkungsmodus ihres Filmschauspiels zu denken, dessen Bedin-
bevorzugt Filmrollen spielte, die auf anspruchsvollen literarischen Werken – von Ibsen, Strindberg und Wedekind bis hin zu Shakespeare, Stendhal und Dostojewskij – basierten, deutet darauf, dass sie in diesen Jahren in der Literatur einen Bezugspunkt erkannte, der die Integrität ihres Spiels unter dem Siegel des künstlerischen Anspruchs vor der unbeschränkten »technischen« Zurichtung auf aktuelle Publikumsbedürfnisse zumindest teilweise bewahren konnte. 18 Simmel: »Zur Philosophie des Schauspielers«, S. 425. 19 Schon bei Simmel ist diese auch hier als »künstlerische« bezeichnete Forderung »immer von der Frage bestimmt, wie die Individualität des bestimmten Schauspielers sich angesichts der bestimmten Rolle zu verhalten, zu stilisieren, darzubieten habe, um das schauspielerische Bild so vollkommen wie möglich zu gestalten; denn nicht das geschriebene Drama steht auf der Bühne und bildet jetzt das fragliche Problem, sondern die von ganz neuen und eigenen Kunstgesichtspunkten aus geformte schauspielerische Aktion« (ebd., S. 426).
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gungen sich nach dem Ersten Weltkrieg ebenso schlagartig wie nachhaltig gewandelt hatten. Genau im Rahmen dieser gegenläufigen oder ungleichzeitigen Transformationsbewegung und Verschiebung zwischen schauspielerischem und filmischem Gestaltungsprozess, Publikumsdisposition und ästhetischer Norm scheint die von Nielsen initiierte Debatte einen neuralgischen Punkt zu berühren. Einen Punkt, von dem aus sich auch bereits eine Linie hin zu ihrem sukzessiven Rückzug aus dem Filmgeschäft ab Mitte der 1920er Jahre ziehen lässt. Ein Hinweis, worin dieses besondere, nach 1918 zunehmend gefährdete Wahrnehmungsverhältnis der Schauspielerin zu ihrem Publikum bestanden haben könnte, findet sich in der Rede und Vorstellung von einem »seelischen Gehalt«, der sich nicht so sehr durch das Schauspiel hindurch, verstanden im Sinne eines reinen Mediums, den Menschen mitzuteilen habe, sondern der in diesem Spiel selbst sich sinnlich erfahrbar als solcher einstelle.20 Spricht Asta Nielsen in besagtem Interview davon, dass bei Strindberg der »Sinn und der seelische Gehalt […] nicht neben der Handlung,« sondern »ganz direkt in ihr, in den Ereignissen und Sensationen« zu finden sei, so findet man diese Figur der Identitätsbildung von äußerer Handlung, sinnlicher Anschauung und seelischem Gehalt schon bei Simmel immer auch auf die Leistung des Schauspielers selbst bezogen: »Das ideelle, zeitlose Geschehen des Dramas mit seinen nur dichterisch fantasiemäßigen, von keiner realen Person abhängigen Verknüpfungen ist eine ganz autonome Reihe und Gestaltung, und daß es nun mit jener anderen schauspielerischen Geschehensreihe, die ihrem scheinbaren Wesen und ihrer Anschaulichkeit nach gleichfalls autonom und eine seelisch zulängliche Entwicklung ist, im Inhalt übereinkommt – das ist die Harmonie zweier, ihrer Wesenheit nach gegeneinander selbständiger Prinzipien, das läßt auch hier das beglückte
20 Wiederum ist man an Simmels Philosophie des Schauspielers erinnert, in der eine ganz ähnliche Auffassung wie folgt ausformuliert ist: »Der Schauspieler aber agiert für den Zuschauer rein aus sich heraus, der Inhalt, den er darbietet, stammt für die Erscheinung nicht aus einem Buch oder aus dem Bewußtsein und der Produktivität eines anderen, sondern unmittelbar aus seiner Seele, er bietet sich dar, das Tun und das Leiden, das man an ihm sieht, ist das seiner Person, die sich, scheinbar wie in der Realität des Lebens, damit entfaltet« (ebd., S. 431).
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Gefühl eines nicht durch einen natürlichen Verlauf, sondern nur durch Kunst möglichen Zusammenfallens heterogener Seins- und Kraftreihen erwachsen.«21
F ANTASMATISCHE I NTIMITÄT : S CHAUSPIELERIN UND P UBLIKUM Nielsen selbst mochte sich durch den Eingriff Lubitschs unschön an jene früheren Eingriffe der Filmzensur erinnert gefühlt haben, über die sie später in ihren Memoiren berichtet. Schon zu Beginn ihrer Filmarbeit seien »alle Szenen, in denen ich weinte, mit der Begründung verboten [worden], daß echte Tränen auf nervöse Menschen einen zu starken Eindruck ausüben könnten«.22 Die bei Asta Nielsen in reicher Variation anzutreffenden Ausdrucksgesten des Weinens und der Trauer lassen sich somit als Formen einer Publikumsansprache betrachten, in denen die Grenzen der Rührung im Kino ausgelotet werden: Die in der Debatte zutage tretenden technischen Rationalisierungs- und filmischen Sublimierungstendenzen ebenso wie die Zensurproblematik, die authentisch anmutendes Weinen im frühen Kino anscheinend darstellte, lassen sich in diesem Zusammenhang als Kontrollmechanismen und Begrenzungsversuche eines nicht nur, aber wohl doch vor allem an ein weibliches Publikum gerichteten Körperdiskurses der unmittelbaren Affizierung verstehen. An den Facetten dieser Körperlichkeit zeigte sich zu Beginn der 1910er Jahre die besondere Signatur der Filmschauspielerin Asta Nielsen. Der öffentliche Umgang mit ihren Tränen macht aber auch das Wasserzeichen eines filmhistorischen wie -ästhetischen Epochenwandels sichtbar, dem eben diese Signatur zunehmend problematisch wird und der sie ab 1918 einer neuen Ordnung des filmischen Diskurses einzuschreiben versucht. Insofern scheint in der Debatte nicht die Echtheit der sichtbaren Gefühlsregung im filmischen Produktionsprozess die zentrale Frage zu sein, sondern die Wahrnehmungsdimension
21 Ebd. Indem das Schauspiel – als »Kunstleistung« und damit »ganz und gar selbständige Schöpfung« – das Drama als Inhalt in die Formen dieser selbständigen Kunst aufnimmt, »scheint die Darbietung des Schauspielers gänzlich aus seiner Produktivität und Individualität hervorzugehen« (ebd., S. 432). 22 Nielsen: Die schweigende Muse, S. 133.
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einer affektiv empfundenen Nähe, die sie zwischen Asta Nielsen und ihrem Publikum im Kino zu stiften vermochte. In einem ganz anderen Zusammenhang hat Slavoj Žižek die »Furcht vor echten Tränen« im Kino als die Furcht vor dem Eintritt in einen »Bereich phantasmatischer Intimität« bezeichnet, »dem man sich nur auf fiktivem Wege nähern darf«, wolle man »pornographische Obszönität vermeiden«.23 Diesen Übertritt in den Zwischenbereich entsublimierter Wahrnehmungsfähigkeit und ungezügelter Empathie, von Žižek als fundamentale Verletzung der symbolischen Ordnung gekennzeichnet, hat Heide Schlüpmann jenseits, ja im Gegensatz zur psychoanalytischen Theoriebildung – und ungleich näher an unserem Gegenstand – als besondere Wahrnehmungskultur des frühen Kinos aufgefasst. In ihr biete »das Kino ein Gehäuse, in dem der Zuschauer, die Zuschauerin ihre Panzer ablegen, ihre bürgerliche Person vergessen können, in denen ihre Leiber sich ausdehnen können, ohne verletzt zu werden«.24 Spuren einer solchen »fantasmatisch-individuellen«, im Kino öffentlich werdenden Intimität finden sich – nicht negativ als »Furcht«, sondern positiv als besondere Ausdrucks- und Wahrnehmungsqualität besetzt – in der frühen Asta-Nielsen-Rezeption zahlreich. Schon Emilie Altenloh stellte im Zuge ihrer Publikumsbefragung 1913 fest, es wären vor allem die Filme Asta Nielsens, die dem Publikum nicht nur »am besten gefallen«, sondern es auch stärker als andere »mitempfinden lassen«: »Empfinden ist hier aber alles, denn die Filmdarstellung wirkt hier ganz unmittelbar, in dem sie den Zuschauer mit fortreißt und die Schicksale des Helden miterleben läßt.«25 Insbesondere bei jungen Frauen – »Gehilfinnen im Kaufmannsstand« – errege Asta Nielsen »große Bewunderung«: »Das leidenschaftliche Temperament der Heldin und Schuld und Schicksal, in die sie dadurch verstrickt wird, entsprechen dem Bild, das sie sich vom Leben machen, und sie vermögen sich deshalb voll und ganz hineinzuversetzen.«26
23 Žižek, Slavoj: Die Furcht vor echten Tränen. Krysztof Kieslowski und die »Nahtstelle«, Berlin: Volk & Welt 1999, S. 66f. 24 Schlüpmann, Heide: Abendröthe der Subjektphilosophie. Eine Ästhetik des Kinos, Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1998, S. 61. 25 Altenloh, Emilie: Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena: Diederichs 1914, S. 58. 26 Ebd., S. 89.
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Überall dort, wo ihre Filme zur Vorführung gelangen, finden sich auch international zahlreiche Belege für das Weinen als zentrales Moment einer emotionalen Affizierung, die vom Spiel Asta Nielsens auf das Publikum ausgeübt wurde. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang ihre Schauspielkunst im Bereich des Tragischen hervorgehoben (und ihre beachtliche Leistung im Komplementärmodus der Komik an den Rand gedrängt). Aus dem Jahr 1918 ist ein Gedicht überliefert, in dem eine Filmliebhaberin aus Berlin ihre Faszination wie folgt zum Ausdruck gebracht hat: »häufig bringt ja auch zum Weinen / asta uns in Trauersachen, / gar zu schön kann sie das machen.«27 Literarisch anspruchsvoller (oder vielleicht auch nur bemühter in der schriftlichen Fixierung seiner Gefühle), formuliert es 1914 der Expressionist Hans Schiebelhut in einem Widmungsgedicht an Asta Nielsen so: »Deine Augen sind Monde, das macht, daß ich traurig bin / Und Posen und Possen an deine Hände vergaß. Deine Haare sind Wälder, darin ich irrging im Schlaf. / Dein Gang ist von dir in mein Blut geströmt unsäglich, / Daß mich dein Dasein drängt und treibt durch die Wegheimat. // Ich kann nicht mehr denken, immer umstellst Du mich. / Meine Lieder sind längst deinen vielen Lippen verschenkt. / So süß ist es mir, mein Selbst um dich zu versäumen, / Immer und immer muß ich im Kino hocken, / Stieräugig reiße ich dich aus jedem Film. / Ratlos bin ich nur noch der Teil meines Lebens, / Der dunkelleise vor der Leinwand nach dir weint.«28
27 »Unsere Preisrundfrage: Wer ist die beliebteste Filmkünstlerin?«, in: Illustrierte Filmwoche, Nr. 17, 1918, S. 141. Vgl. Haller, Andrea: »›Nur meine Asta! Und damit basta!‹ Ein Blick in die Frauen- und Fanzeitschriften der 1910er Jahre«, in: Schlüpmann u.a. (Hg.), Unmögliche Liebe, S. 325-336. 28 Schiebelhut, Hans: »Asta Nielsen«, zitiert nach: Raabe, Paul/Greve, Ludwig (Hg.), Expressionismus. Literatur und Kunst 1910-1923, München: Kösel 1960, S. 225. Hier in der Fassung, die 1921 in Schiebelhuths Sammlung Wegstern veröffentlicht wurde. Das Gedicht erschien erstmals in abweichender Form in A.R. Meyer (Hg.), Der neuen Frauen Lob, BerlinWilmersdorf: Verlag A.R. Meyer o.J. [1918], S. 20. Laut Vorwort datiert diese Ursprungsfassung von Ende Juli 1914. Den Hinweis auf diese Quelle und die aus ihr hervorgehende Datierung verdanke ich Jeanpaul Goergen.
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Die zitierten Stimmen scheinen in ihrem Grundtenor zu bestätigen, worin für Rudolf Kurtz ästhetischer Kern und historische Bedeutung jenes Phänomens bestanden, das Asta Nielsen in den 1910er Jahren für ihr Publikum darstellte. Der Zeitzeuge Kurtz schreibt aus der Distanz des Jahres 1934: »Vielleicht ist Asta Nielsen die Persönlichkeit, mit deren Erscheinen eine Filmkunst sichtbar wird. Wenn es bisher gelungen war, mit dem Film das Publikum zu spannen oder zu erheitern – mit ihren Filmen gelang es, das Publikum zu erschüttern. Wer heut die Zeitungen auf Stimmen über Asta Nielsen durchblättert, wird überrascht sein, mit welcher Bewunderung von ihr gesprochen wird, obschon zu dieser Zeit etwas wie ›Filmkritik‹ eine absurde Vorstellung war.«29
Mit dem Entstehen einer professionellen, institutionalisierten Filmkritik zu Beginn der 1920er Jahre haben sich, dies legt der letzte Satz von Kurtz nahe, die Formen dieser Bewunderung gewandelt. Und mit den Formen, so muss man ergänzen, auch die ästhetischen Parameter, an denen sie festgemacht wurde. An zwei filmkritischen Entwürfen lässt sich diese Verschiebung verdeutlichen. Das eine Beschreibungsmodell – wohlgemerkt nicht Asta Nielsens als Schauspielerin, sondern des eigenen Wahrnehmungsverhältnisses zu ihr – ist weithin bekannt und zu Recht berühmt: Es ist den filmkritischen Schriften von Bela Balázs entnommen, die ein bestimmtes Bild der Schauspielerin bis heute geprägt haben. Dieses Bild ist natürlich an sich keineswegs unzutreffend, die ihm zugrunde liegenden Prämissen verwischen aber, so zumindest meine Lektüre, den historischen Bruch und filmästhetischen Wandel, um den es hier geht. Der zweite, zeitlich in etwa parallel zum ersten entstandene Entwurf einer Beschreibung der ästhetischen Faszination Asta Nielsens ist demgegenüber vielleicht weniger bekannt, obwohl er in sich nicht weniger konsistent ist und von seinem Autor, Willy Haas, kaum weniger prägnant formuliert. Im Unterschied zu Balázs aber entwickelt Haas sein ästhetisches Verhältnis zu Asta Nielsen nicht aus einer retrospektiven Homogenisierung ihrer historischen Erscheinung heraus, sondern gerade entlang der Aporien und Ungleichzeitigkeiten, die ihren Rollen
29 Kurtz, Rudolf: »Die Geschichte des Filmmanuskripts. Die seelische Vertiefung«, in: Der Kinematograph 71 (6.4.1934).
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und Filmen der 1920er Jahre eingeschrieben sind. Leitfäden der Lektüre von Balázs und Haas sollen die beiden filmischen Techniken sein, denen in der Auseinandersetzung zwischen Nielsen und Lubitsch 1920 Schlüsselfunktionen zukamen: Die räumliche Dimensionierung der Großaufnahme (bei Balázs) und die zeitliche der Montage (bei Haas).
I N DER F LUCHTLINIE DER G ROSSAUFNAHME : D AS REFLEXIVE G ESICHT ALS » LYRISCHER E XTRAKT « Balázs sah mit dem Film, den er als Rückkehr des physiognomischen Denkens emphatisch begrüßte, bekanntlich den »Geist unmittelbar zum Körper« geworden, »wortelos, sichtbar«.30 Obwohl er 1923 den Erzählfilm als internationalen Standard des Mediums längst zu akzeptieren hatte, erkannte er die »klassische Form der Filmkunst« dort, wo, wie er schreibt, »keine ›Handlung‹ mit äußeren Zwecken die Gebärden hervorruft, sondern jede Gebärde nur Gründe hat und darum nach innen deutet«.31 Balázs’ frühe Schriften verstehen den Film nicht primär als mimetisches Medium zur Abbildung äußerer Realität, sondern als Ausdrucksmedium innerer Zustände, als Agent einer rein sinnlich erfassbaren und daher nicht entfremdeten, einer unmittelbaren Ausdruckssprache: als medial bewerkstelligte Veräußerlichung »ursprünglicher Gefühle«. Im Zentrum der Illusion des lebendigen Ausdrucks, der unmittelbaren Wahrnehmbarkeit der Gefühlsbewegung selbst, steht für Balázs das »stumme Verständnis«, das der Zuschauer im Kino dem Gesicht in Großaufnahme entgegenbringt.32 Inbegriff dieser Begeg-
30 Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films [1924], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 16. 31 Balázs, Béla: »Die Erotik der Asta Nielsen« [1923], in: Schriften zum Film 1: Der sichtbare Mensch/Kritiken und Aufsätze zum Film 1922-1926, hg. v. Helmut H. Diederichs u.a., Berlin: Henschel 1982, S. 185. 32 Kappelhoff, Hermann: »Unerreichbar, unberührbar, zu spät. Das Gesicht als kinematographische Form der Erfahrung«, in: Montage AV 2 (2004), S. 29-53.
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nung ist bei Balázs das äußerst reduzierte mimische Vokabular Asta Nielsens: »Der besondere künstlerische Wert der Asta Nielsenschen Erotik besteht aber darin, dass er durchwegs vergeistigt ist. Die Augen sind es hier vor allem, nicht das Fleisch. Sie hat ja gar kein Fleisch. Ihre abstrakte Magerkeit ist ein einziger zuckender Nerv mit einem verzerrten Mund und zwei brennenden Augen. […] Sie kann obszöne Entblößung schauen, und sie kann lächeln, dass es von der Polizei als Pornographie beschlagnahmt werden müsste.«33
Das Geheimnis dieser Wirkung besteht für Balázs eben gerade in der kühlen Reduktion des mimischen Ausdrucksrepertoires und der daraus hervorgehenden reflexiven Qualität: »Denn in der Großaufnahme wird jedes Fältchen des Gesichtes zum entscheidenden Charakterzug, und jedes flüchtige Zucken eines Muskels hat ein frappantes Pathos, das große innere Ereignisse anzeigt. Die Großaufnahme eines Gesichtes […] muß ein lyrischer Extrakt des ganzen Dramas sein.«34
Was sich unter dem Begriff des »lyrischen Extrakts« andeutet, kann als Umschlagpunkt vom »intensiven« zum »reflexiven« Gesicht verstanden werden,35 in dem über die an die dargestellte Figur gebundene narrative Mitteilungsfunktion hinaus – und unterstützt durch die Auflösung der räumlichen Bezüge, die jede Großaufnahme kennzeichnet – das Bild des isolierten Gesichts an der Wende zum subjektiv Monologischen steht.36 Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Zum einen, dass Balázs die Körperlichkeit des Schauspiels Asta Nielsens letztlich verleugnet, indem er sie gewissermaßen zur Chiffre reiner
33 Balázs, Béla: »Die Erotik der Asta Nielsen«, S. 185f. (Hervorhebung im Original). 34 Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, S. 48f. 35 Folgt man Deleuzes Kategorisierung der beiden Modi des »Affektbildes«; vgl. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 123-127. 36 Vgl. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8 2004, bes. S. 144ff.
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Geistigkeit sublimiert. Damit löst er jene Identität von subjektiv verkörperter Ausdrucksbewegung und sinnlicher Erschließung eines geistigen oder auch »seelischen« Gehalts auf, die Nielsens Äußerungen im Rahmen der Debatte um RAUSCH noch unverzichtbar war. Zugleich wird deutlich, dass Balázs seine Beschreibung an den zeitgenössischen Filmen Asta Nielsens formuliert, sie keinen Bezug hat zur Ästhetik der Filme vor 1920.37 Dies wird auch daraus ersichtlich, dass Balázs ästhetische Entwicklung und affektives Potenzial des Mediums seit seinen Anfängen in die Fluchtlinie der Großaufnahme stellt, in der beides – historische Evolution und fortschreitend intensivierte Ausdrucksfähigkeit – kulminiert. Damit unterstellt er dem Filmschauspiel Asta Nielsens insgesamt eine organische Entwicklung und phänomenologische Einheit, die den filmhistorischen Wandel, dem es vielfältig unterworfen war, nicht mehr reflektiert und es so seiner eigentlichen Geschichtlichkeit zu entledigen droht.
37 Balázs’ Wahrnehmung von Asta Nielsen scheint sich maßgeblich an DER ABSTURZ (1922, Regie: Ludwig Wolff) ausgebildet zu haben, dem Anfang 1923 seine zeitlich früheste Äußerung zu dieser Schauspielerin gilt. Sie ist hier direkt an die Großaufnahme gebunden, in der das Gesicht Nielsens »zu einer dramatischen Bühne« werde, »die aus den Fugen geht vor den auf ihr tobenden Leidenschaften […]. Und jetzt kommen über hundert Meter Großaufnahmen von Asta Nielsens Gesicht! Ein bebendes Hoffen, tödlicher Schreck, Augen, die um Hilfe schreien, daß es einem in den Ohren gellt, dann stürzen die Tränen – sichtbar, wirklich – über die mageren Wangen, die jetzt plötzlich, vor unseren Augen, ganz verwelken und wir sehen eine Seele sterben – premierplan, auf dem Gesicht Asta Nielsens. Wir sehen das nah und deutlich, wie der Operateur, der das zuckende Herz in der Hand hält und die letzten Schläge zählt.« Balázs, Béla: »Asta Nielsen« [1923], in: Schriften zum Film 1: Der sichtbare Mensch/Kritiken und Aufsätze zum Film 1922-1926, hg. v. Helmut H. Diederichs u.a., Berlin: Henschel 1982, S. 159ff.
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Z EITKAPSEL DES K ÖRPERS : D IE »E XPLOSION I NDIVIDUUMS « IM » GENIALEN A UGENBLICK «
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DES
Auch Willy Haas hat Asta Nielsens Gesicht einmal das »schöpferische Zentrum«38 ihrer Ausdruckskraft genannt, ohne es jedoch automatisch an die Großaufnahme als Möglichkeitsbedingung seiner vollständigen ästhetischen Entfaltung anzuschließen. Ganz im Gegenteil konturiert Haas die besonderen Eigenschaften von Nielsens Spiel in Opposition – oder zumindest in einem fundamentalen Reibungsverhältnis – zu den neuen filmtechnischen Standards der Szenenauflösung, wie eben der gefühlsintensivierenden Großaufnahme oder der analytischen Montage unter dem Primat des Narrativen. Seine Wahrnehmung der Schauspielerin erhält sich damit die Idee einer sich unmittelbar mitteilenden Körperlichkeit wie sie die frühen Filme Asta Nielsens kennzeichnet und wie sie nun, in ihren Filmen der 1920er Jahre, einem anderen filmästhetischen Bezugssystem ausgesetzt ist. Innerhalb dieses neuen Bedingungsgefüges vermag das Moment einer unmittelbar aus dem Spiel hervorgehenden körperlichen Affizierung lediglich noch in »genialen Augenblicken«, wie Haas sie nennt, aufzuscheinen. Einen solchen »genialen Augenblick« Asta Nielsens macht Haas 1920 in STEUERMANN HOLK aus – eben jenem Film also, in dem Paul Wegener ihr die Tränen von den Wangen zu küssen hatte und auf den Wegener sich dann in seiner Replik im Rahmen der Debatte bezog. »Doch was vermag der Körper selbst gegen sich selbst?«, fragt Haas in seiner Besprechung des Films. Seine Antwort: Wie auch den Graphologen eine künstlich verstellte Schrift nicht täusche, so »täuscht auch den sehenden Menschen nicht die verstellte Geste über den wahren Rhythmus eines Körpers oder Gesichts hinweg.«39 Für Haas wird Nielsen in ihren »genialen Augenblicken« zum Inbegriff des Filmschauspiels, da für ihn »der wahre Höhepunkt der Filmdarstellung […] nicht der Widerspruch mit sich selbst, der ›tragische Konflikt‹« ist, sondern »die ›Explosion des Individuums‹, jener Moment höchster Steigerung des Ich-selbst, in welchem der Mensch
38 Haas, Willy: »HAMLET« [1921], in: Der Kritiker als Mitproduzent. Texte zum Film 1920-1933, hg. v. Wolfgang Jacobsen/Karl Prümm/Benno Wenz, Berlin: Edition Hentrich 1991, S. 49. 39 Haas, Willy: »Genialität in der Filmdarstellung« [1920], in: Der Kritiker als Mitproduzent, S. 45.
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eine Naturkraft oder – die Animalität streift.«40 Das wesentliche Merkmal der Genialität Nielsens ist für Haas »dort gegeben […], wo gegen jede Logik und Folgerichtigkeit eine erhebliche Variation, etwas Paradoxes, ein Widerspruch in einem Menschencharakter ohne Symbolik […] herausgebracht wird.«41 Daher auch sei die »innere Beziehung des Kinopublikums zu den Filmstars […] eine unvergleichlich intimere als die zu ihren Theaterlieblingen. Sie ist […] furchtloser; sie hat nichts vom Schauer des Rampenlichts an sich.« 42 Nielsens »dämonische Vielseelenhaftigkeit« und ihre einzigartige Gabe zu einer »vollkommenen inneren Formwandlung«, ist für Haas »kein Kunstphänomen mehr, sondern ein psycho-physiologisches Phänomen«.43 Die Gabe zur nahezu unbegrenzten, ihrem eigenen, oft überraschenden Rhythmus folgenden »inneren Formwandlung«, durch die sich der emotionale Dialog mit der Wahrnehmung des Publikums entfalten kann, sieht Haas Anfang der 1920er Jahre von den formalen und narrativen Imperativen der neuen filmästhetischen Normen nicht – wie Balázs – befördert, sondern unnötig überformt. Über HAMLET schreibt er 1920: »Man bedauert, das bei aller Nervosität Perpetuierliche, Wellenhafte dieser allerfeinsten Schwankungen [Asta Nielsens, M.W.] nicht feststellen zu können – weil, leider, Filme in Szenen zerschnitten sind. Ihr höchstes Ausdrucksmittel wäre das konstant und gleichmäßig und nur für sie laufende Filmband – in der nur sie, sie allein, monologisch und proteisch, eine und alle Rollen hat. Also das verkörperte Prinzip der Filmkunst… Der künstlich zerschnittene und geklebte Szenenfilm von heute läßt sie fast als Verwandlungskünstlerin erschei-
40 Ebd. 41 Ebd., S. 46. 42 Haas, Willy: »Gibt es eine Schauspielermaske im Film? Filmdramaturgische Notizen« [1924], in: Der Kritiker als Mitproduzent, S. 46. 43 Ebd. Vielleicht nicht ganz zufällig ähnelt damit die Faszination, die Nielsen auf Haas ausübte und die er auf die Formel eines psycho-physiologischen Phänomens bringt, jenem Interesse, das das Lachen und das Weinen als Prozesse im Schnittpunkt von Psychologie und Physiologie im Rahmen einer allgemeinen »Anthropologie der Sinne« auf Helmuth Plessner ausgeübt haben.
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nen – mit einem Beigeschmack von etwas Trickhaftem, das nicht ihr Trickhaftes ist, sondern das Trickhafte der Filmtechnik von heute.«44
Wichtig ist dabei festzuhalten, dass Haas die besonderen Ausdrucksmittel Asta Nielsens nicht als unfilmische oder theatrale den medienspezifischen Errungenschaften der filmsprachlichen Artikulation wie der Montage oder der Großaufnahme gegenüberstellt. Vielmehr fasst er beide als genuine, nur eben unterschiedliche und schwer in Einklang zu bringende filmische Stilausprägungen auf. Spätestens 1924 sieht Haas gegenüber dem von Nielsen verkörperten ein neues Modell des Filmschauspiels sich durchsetzen. Er bezeichnet dieses neue Modell, das er etwa in den Filmen Fritz Langs erkennt, als »wohlgelungene Versuche einer komplizierten Maskenschauspielerei«.45 Die auf den ersten Blick überraschende Wende, die Haas nun unternimmt, besteht darin, dass er letztere aus rein pragmatischen Gründen als zukunftsträchtiger erachtet (was seiner innigen Bewunderung für Asta Nielsen allerdings keinen Abbruch tut): »Die private seelische Intimität des Publikums zur Filmschauspielerei zeigt für die werdende Kunst keine Zukunftsperspektiven. Was Kunst werden will, muß sich Distanz schaffen, […] es muß sich sozusagen einen dialektischen Raum schaffen, in dem das Kunstwerk als Form gegen den Zuschauer als Privatperson den Kampf aufnehmen und ihn besiegen kann. […] wir fühlen förmlich, daß der Film dadurch an innerer Einheit gewinnt, was er an unmittelbar aggressiver Detailwirkung verloren hat.«46
Wie in einer Zeitkapsel zwischen den Eingriffen der Montage aufgehoben sieht Haas 1927 in DIRNENTRAGÖDIE (Regie: Bruno Rahn) Nielsens besonderes Vermögen ein letztes Mal zum Vorschein kommen. Er bemängelt an diesem Film vor allem die – teils dramaturgisch bedingte, teils auf rein erotische Schaulust abzielende – Montage des Regisseurs, die keine Rücksicht nehme auf eine solche Schauspielerin. Man dürfe Nielsen »doch in ihren großen Spielszenen um Himmelswillen nicht unterbrechen«, sondern müsse sie »weiterspielen, weiter-
44 Haas: »HAMLET«, S. 49. 45 Haas: »Gibt es eine Schauspielermaske im Film? Filmdramaturgische Notizen«, S. 46. 46 Ebd., S. 46f.
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musizieren, weiterschwingen lassen […] – meinetwegen stundenlang.«47 Hätte er »die Möglichkeit, die Zeit, Lust und praktische Kenntnisse« – über alle vier Dinge verfüge er leider nicht – »ich schnitte diesen Film um, ganz auf lange, ungebrochene, kontinuierende Spielszenen«; es wäre »eine ganz neue, überraschende Sache.«48 Denn, so Haas weiter: »Das können andere ebensogut und besser als sie: eine ›Szene‹ spielen. […] Ihre Spielszene ist ein Anlaß; ihr Antlitz aber ist ein Hohlspiegel, der alles Gewirr von Qual und Seligkeit und totem Nichts und strahlendem All, durcheinander, den wir Menschenleben nennen, in sich auffangen und spiegeln kann. […] In ihrem Spiel dehnt sich die Minute zur riesigen Zeitspanne, in der Menschen geboren werden, hoffen, leiden und sterben. Ein mimischer Monolog der Asta Nielsen ist der tiefste künstlerische Genuß, den die gesamte Filmkunst zu bieten hat.«49
I NNERE W ANDLUNG , ÄUSSERE F ORM : S CHLUSSFIGUREN ZWISCHEN K ÖRPERDISKURS UND STILISIERTER B ILDLICHKEIT Ein letztes Mal stellt sich für Haas dieser Genuss an der Wahrnehmung einer »inneren Formwandlung« im Spiel Asta Nielsens gegen Ende von DIRNENTRAGÖDIE ein, bevor er sie auch hier von der äußeren Formgebung durch die Montage letztlich zerstört sieht. Wenn Nielsen als »alte Dirne heulend vor einer verschlossenen Tür liegt, und dahinter vergnügt sich ein dummes Bürschchen, in das sie sich vergafft hat, mit einer anderen jüngeren Dirne; und die beiden tun so, als wären sie nicht da, aber die Alte fühlt es, was nebenan geschieht«, dann sei das »schon eine gut ausgedachte Szene.«50 Sie werde allerdings ihrer voll-
47 Haas, Willy: »DIRNENTRAGÖDIE« [1927], in: Der Kritiker als Mitproduzent, S. 203. 48 Ebd. Haas war wenige Jahre zuvor Autor des Drehbuchs zu G.W. Pabsts DIE FREUDLOSE GASSE (1925) mit Asta Nielsen in der Rolle der Maria Lechner. 49 Ebd., S. 204. 50 Ebd.
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ständigen Wirkung dadurch beraubt, dass hier einmal mehr »die Technik nicht in den Fingerspitzen sitzt«.51
Abb. 1
Abb. 2
Tatsächlich greift diese Szene aus DIRNENTRAGÖDIE insofern auf ein zentrales Element des Spiels Asta Nielsens zurück als das aus einer Mischung von Trauer und Verzweiflung, Liebe und Hingabe erfolgende Zusammenbrechen und Niedersinken eine der prominentesten Schlussfiguren ihrer tragisch-melodramatisch angelegten Filme darstellt (Abb. 1 und 2). Es sind dies Momente, in denen sie gewissermaßen mit dem ganzen Körper weint. Sie markieren eine komplementäre filmische Modulation performativer Expressivität und emotionaler Af-
51 Ebd.
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fizierung, die sich von der Großaufnahme ihres Gesichts und der Reduzierung des Affekts auf die Sichtbarkeit von Tränen grundsätzlich unterscheidet. An zwei Szenen soll abschließend die Differenz kenntlich gemacht werden, die sich nach 1918 noch in jenen Szenen mitteilt, die rein filmformal auf eine frühere Ästhetik des Filmschauspiels zurückzugehen scheinen, also an entscheidenden Punkten auf Zwischenschnitte verzichten und die Integrität der Ausdrucksgeste im stabilen Bildraum der Totale wahren.
Abb. 3
Abb. 4
In der vorletzten Einstellung ihres Filmdebüts AFGRUNDEN (ABGRÜNDE, 1910, Regie: Urban Gad) stürzt Nielsen weinend über dem Körper des soeben von ihr getöteten Mannes nieder (Abb. 3). Impulsiv, von keinem Zwischenschnitt annonciert, von keiner Großaufnahme betont,
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artikuliert sich im Raum der Totale eine Sprache der Körper, die vom filmischen Diskurs noch nicht eingeholt und überformt ist. In der Wahrnehmung des Publikums ist es ein Moment des Schocks, zugleich aber auch zentraler Augenblick der Erkenntnis und der Einsicht, sozusagen in den »seelischen Gehalt« der Figur, wird man doch erst an dieser Geste gewahr, wie tief das Gefühl der Liebe, Verfallenheit und sexuellen Hörigkeit hier reicht; und wie wenig der aus dem Affekt erfolgte Totschlag des schurkischen Geliebten einen Akt der Befreiung darstellt, sondern die Klimax einer mit, zwischen und an Körpern vollzogenen Leidenschaft. Klimax also weniger im Sinne eines narrativen Höhe- und Schlusspunkts ist, sondern als performative Vollendung im Realen der Fiktion, was von den Körpern zuvor in der berühmten »Gauchotanz«-Szene begonnen wurde (Abb. 4). Eine verwandte, nur eben nicht mehr vergleichbare Schlusswendung der »tragischen Explosion«52 findet sich zwölf Jahre später in VANINA. Am Ende von Arthur von Gerlachs historischem Kammerspielfilm nach Stendhal bricht die von Asta Nielsen gespielte Titelfigur an der schweren Tür zusammen, hinter der der gerade noch gerettet geglaubte, nun aber ihr abermals entrissene und dem Tod anheim gegebene Geliebte auf dem Weg zum Schafott verschwunden ist. Mit ihrer Geste der Verzweiflung – das langsame Hinabgleiten an der harten Fläche der Tür, die Arme langsam dem Körper folgend – zeichnet sie die Linien des historisch ausstilisierten Dekors nach (Abb. 5 und 6). Entsprechend der Ästhetik des Kammerspielfilms, innere Emotion als sichtbare Spur topografisch in den Raum zu veräußern, wird ihr gestisches Spiel zur verlebendigten Artikulation eines architektonischen Gefüges, der es sich in der Gesamtheit der Bildkomposition gleichnishaft anverwandelt.53
52 So der Begriff, den Willy Haas für Asta Nielsens Rolle in VANINA gefunden hat: »ihre Rolle besteht fast nur aus tragischen Explosionen, verbunden durch statuarisch-unbewegliche, gewissermaßen marmorne Übergänge. Wie fast immer, spielt sie, durch die zufällige Bearbeitung hindurch, das Original: Stendhal. […] Die Regie Gerlachs leblos, ohne sfumato, ohne Übergänge, ohne innere Melodie, ohne Luft, ein bißchen so, wie man Puppen korrekt auf Drähten bewegt.« Haas, Willy: »Oktober-Filme«, in: Das Blaue Heft 2 (1.11.1922), S. 86f. 53 In diesem Sinne lässt sich mit Hermann Kappelhoff davon sprechen, dass im ästhetischen Kern des Kammerspielfilms an die Stelle der Handlung
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Abb. 5
Abb. 6
Auch hier unterbricht keine Montage, keine Großaufnahme den Vollzug der schauspielerischen Darstellung. Auch hier stellt sich über die Wahrnehmung so etwas wie ein »seelischer Gehalt« ein, indem an der Ausdrucksbewegung selbst deutlich wird, woran die von Nielsen gespielte Figur im Grunde zerbricht: an den Konventionen und Machtkämpfen, die ihre familiäre und soziale Position, welche Bewegung sie
»die Zeit der Verwandlung des Bilds von der Darstellung einer äußeren Welt in die eines ›inneren‹ Zustands« tritt. Kappelhoff, Hermann: »Literarische Recherchen am kinematografischen Bild. Carl Mayer und die Poetik des Weimarer Kinos«, in: Michael Omasta/Brigitte Mayr/Christian Cargnelli (Hg.), Carl Mayer. Scenar[t]ist. Ein Script von ihm war schon ein Film, Wien: Synema 2003, S. 177.
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auch immer unternimmt, auf gleiche Weise umgeben, begrenzen und vorstrukturieren wie Architektur und Ornamente den Raum, aus dem sie schließlich nicht mehr hinausfindet. Nur geht die aus der Reibung von Raum und Bewegung entstehende affektive Spannung ein in ein Bild, das, umso straffer gefügt, keine darstellerische Explosion mehr aufsprengt; das, wenn man so will, von der »Implosion des Individuums« erst in seine eigentliche Form gebracht wird.
S TIMME
UND
K ÖRPER
Auf diese Weise tritt uns Asta Nielsen im Weimarer Kino der 1920er Jahre als ein Element der Unruhe entgegen, dessen Geschichtlichkeit vielleicht eben darin besteht, in einer Reihe von »kleinen Ereignissen« die Wahrnehmungsverhältnisse im Kino in einer kritischen Spannung zu halten. Letztlich ist die Schauspielerin damit eine »unzeitgemäße« in jenem Sinne, den Nietzsches dem Wort gegeben hat: Eine Figur, deren ästhetisches Potenzial »gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit«54 wirkt, die weder lediglich »historisch« – als einem unbeirrbaren Geschichtsverlauf unterworfen – noch »ewig« im Sinn einer starren Ikone ist.55 Dass Asta Nielsen keine »starre Ikone« des Stummfilms ist, mag schon ihr lange zu Unrecht verkannter Tonfilm UNMÖGLICHE LIEBE (1932, Regie: Erich Waschneck) verdeutlichen. Zumindest für Siegfried Kracauer stellt die mittlerweile 50-jährige Schauspielerin in ihm
54 Nietzsche, Friedrich: »Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/Berlin/New York: DTV/Walter de Gruyter 21988, S. 247. 55 Die filmhistorischen Bedingungen dieser Position Asta Nielsens hat Siegfried Kracauer seinerzeit auf die »allgemeine[n] Verhältnisse« im deutschen Film der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zurückgeführt und an ihnen kritisiert, »daß die Filmbranche es fertig gebracht hat, eine Darstellerin vom Range Asta Nielsens beiseite zu schaffen«. Er hielt dies nicht für ein »trauriges Einzelereignis«, sondern für »ein Zeichen des allgemeinen Niedergangs«. Kracauer, Siegfried: »Asta Nielsen und die Filmbranche« [1931], in: Werke, Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film 1928-1931, hg. v. Inka Mülder-Bach, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 482f.
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auf eindrucksvolle Weise unter Beweis, wie sich die »schmiegsame Herbheit« ihrer Stimme zur gewohnten Subtilität der Körpersprache fügt: »So groß ist ihre Kunst, daß sie sich in einer veränderten Zeit ungemindert behauptet. […] Gerade das Ineinander von Sprache und Mimik ist Frau Nielsen wunderbar gelungen. Sie läßt den stummen Auftritten viel Raum; so daß die Aussage nicht eigentlich unterstützt wird, sondern dieser jeweils das Wort entspringt.«56
Dementsprechend ist Asta Nielsens erster Tonfilm, der zugleich ihr letzter war, kein Film der großen Gesten. UNMÖGLICHE LIEBE ist, gemessen an den äußeren Ansprüchen, die ein solches Genrestück einer kleinen Produktionsfirma stellen kann,57 ganz im Gegenteil eine überraschend präzise Charakterstudie, die an »kleinen Ereignissen« seelische Erschütterungen seismografisch sichtbar werden lässt. Asta Nielsen spielt die Figur der Vera Holgk, Bildhauerin und Mutter zweier erwachsener Töchter, die sich das Recht auf Liebe, auch die körperliche, nicht nehmen lassen will, am Ende aber, in ihrem Begehren sowohl von den Töchtern als auch vom geliebten Mann allein gelassen, einem ungewissen Schicksal entgegensieht. Der Motivkomplex, an dem das tragische Drama sich Zug um Zug vollzieht, transponiert den Konflikt weit über seine melodramatische Familienkonstellation hinaus. Die von Vera Holgk im Verlauf des Films modellierte weibliche Statue wird dabei zu jenem symbolischen Ort, an dem der Konflikt zwischen dem Anspruch auf ungebundene Empfindungsfähigkeit und dem Recht auf Sexualität und Körperlichkeit auf der einen, Vergeistigung und Stilisierung der (künstlerischen wie gesellschaftlichen) Form auf der anderen Seite unmissverständlich zur Anschauung gelangt. An ihren sukzessiven Entwicklungsstadien über die Rohfassung (bei der das weibliche Geschlechtsteil noch sichtbar ist) bis hin zur vollständigen Anverwandlung an das antike Ideal einer harmonisch ästhetisierten und damit gesellschaftlich sublimierten
56 Kracauer, Siegfried: »Zwei große Filmpremieren« [1932], in: Werke, Bd. 6.3: Kleine Schriften zum Film 1932-1961, hg. v. Inka Mülder-Bach, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 122f. 57 Der Film wurde von der Märkischen Film GmbH mit Sitz in Leipzig produziert.
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weiblichen Form (wie sie dann auch von einer vermutlich rein männlich besetzten Jury mit einem Preis ausgezeichnet wird) tritt der Verzicht auf den eigenen Körper in dessen allegorischer Verdoppelung plastisch hervor. Damit handelt der Film zugleich – in einer weiteren perspektivischen Brechung – von Asta Nielsen selbst, thematisiert Drama und Tragik ihrer Rolle (und ihrer Rollen) im Weimarer Kino.58 Es ist diese besondere Dimension des Selbstporträts einer Schauspielerin als alternder Frau, die UNMÖGLICHE LIEBE zu einem so vielschichtigen Kommentar auf die Filmkarriere Asta Nielsens werden lässt, deren Abschluss er nicht etwa deshalb darstellt, weil die Schauspielerin am Übergang zum Tonfilm gescheitert wäre.
58 Darin ist auch ein Grund zu vermuten, weshalb Asta Nielsen dieses Filmprojekt angenommen hat, nachdem sie in den Jahren zuvor zahlreiche andere abgelehnt hatte. Vgl. Kracauer: »Asta Nielsen und die Filmbranche«, S. 485f.
5 | Dokument und Fantasie Genrefiguren bei Richard Oswald
Im Leben wie im Schaffen Richard Oswalds war 1930 zweifellos ein besonderes Jahr. Im April hatte er nach fast hundert Stummfilmen mit der »100% Sprech- und Gesangsposse« 1 WIEN, DU STADT DER LIEDER seinen ersten Tonfilm fertig gestellt und erfolgreich in die Kinos gebracht. Bis zu seinem 50. Geburtstag am 5. November waren dem Tonfilmdebüt mit DREYFUS und DIE ZÄRTLICHEN VERWANDTEN zwei weitere abendfüllende Tonfilme in die Kinos gefolgt, ein anderer – ALRAUNE – war soeben abgedreht und befand sich in der Endfertigung. Den Geburtstag selbst verbrachte der Jubilar im Studio mit der Arbeit an 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND, jenem Film, den er selbst, im hohen Alter auf seine Karriere zurückblickend, als seinen besten empfunden hat.2 Die Würdigungen, die im November 1930 zu Ehren Oswalds in der Presse erschienen, erkannten in der Filmbesessenheit des »unermüdlichen Arbeiters, der an seinem fünften Tonfilm innerhalb Jahresfrist arbeitet, und der schon wieder ein Dutzend weiterer Projekte in
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Vermarktungssignalement, hier zitiert nach: Bock, Hans-Michael: »Filmographie«, in: Helga Belach/Wolfgang Jacobsen (Hg.), Richard Oswald. Regisseur und Produzent, München: Edition text kritik 1990, S. 170.
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Vgl. Oswald, Richard: »My Rights/Meine Rechte«, unveröffentlichtes Typoskript, Mai 1961, Schriftgutarchiv der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Mappe Richard Oswald: »1914: The movie I consider my best.« Vgl. a. Oswald, Richard: »Reprise oder Remake?«, in: Filmblätter (5.8. 1961), S. 706.
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der Tasche hat«,3 das Geheimnis einer Produktivität, der auch die vielfältigen Veränderungen, die die Tonfilmumstellung im Studioalltag mit sich gebracht hatte, anscheinend nichts anhaben konnten. Eigenen Aussagen zufolge war es für Oswald selbstverständlich, sich den neuen Aufgaben der Tonfilmregie ohne jede Spur nostalgischen Zögerns zu stellen. »Der stumme Film? Er ist tot. Ton und Sprache sind aus der Fabrikation nicht mehr wegzudenken«, ließ er im Februar 1930 die Presse wissen.4 Für die wenig später an ihn gerichtete Frage, ob er heute noch einen Stummfilm drehen würde, brachte er dementsprechend weitaus weniger Verständnis auf als etwa sein Regiekollege und früherer Weggefährte Max Mack und antwortete deutlich entschiedener als jener: »Man kann doch eine Entwicklung nicht aufhalten wollen!«5 An Oswalds fulminantem Start in die Tonfilmzeit ist aber nicht nur die Entschlossenheit, mit der er persönlich der neuen Herausforderung begegnete, bemerkenswert und auch nicht allein die jährliche Produktionsrate, die trotz des finanziell wie technisch ungleich höheren Aufwands der seiner späten Stummfilmjahre entsprach. Überblickt man die Werkentwicklung bis zu Oswalds Weggang aus Deutschland nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, so imponiert vor allem, dass er die aus der Stummfilmzeit gewohnte Bandbreite seines Genrespektrums ohne größere Abstriche beibehalten konnte. Der Mischung aus operettenhaftem Musikfilm (WIEN, DU STADT DER LIEDER), Lustspiel (DIE ZÄRTLICHEN VERWANDTEN), fantastischen (ALRAUNE) und historischen (DREYFUS) Sujets des ersten Tonfilmsjahres standen die beiden folgenden in nichts nach. Seiner inszenierten Filmreportage über die unmittelbare Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs schlossen sich 1931 die Musikfilme SCHUBERTS FRÜHLINGSTRAUM und VIKTORIA UND IHR HUSAR an, gefolgt von zwei auf den ersten Blick so ungleichen Bühnenverfilmungen wie ARM WIE EINE KIRCHENMAUS und DER HAUPTMANN VON KÖPENICK. Den Auftakt der Saison 1932/33 bildeten
3
-g. [Herzberg, Georg]: »Jubiläum während der Filmarbeit. Richard Os-
4
Richard Oswald, zitiert nach: »Oswalds Sprechfilm der sechs Komiker«,
5
Richard Oswald, zitiert nach: »›Film-Kurier‹ fragt Produzenten und Künst-
wald, der Fünfzigjährige«, in: Film-Kurier 264 (7.11.1930). in: Film-Kurier 38 (12.2.1930). ler. Würden Sie noch einen Stummfilm drehen?«, in: Film-Kurier 160 (9.7. 1930).
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abermals ein fantastischer Stoff (UNHEIMLICHE GESCHICHTEN) und wiederum eine Operettenverfilmung (GRÄFIN MARIZA), ihren Abschluss die Gaunerkomödie GANOVENEHRE sowie die Musikfilme DIE BLUME 6 VON HAWAI und EIN LIED GEHT UM DIE WELT. Erst nachdem Oswald in Deutschland seiner Lebens- und Produktionsgrundlage beraubt worden war, reduzierten sich der Ausstoß und das Genrespektrum der in Österreich, Holland, England und Frankreich bis zu seiner Übersiedelung in die USA im November 1938 entstandenen Filme merklich. Oswalds Regiearbeiten der ersten Tonfilmjahre ist damit ein Prinzip der Abwechslung von Genreformaten abzulesen, das auf einem instinktsicheren Gespür für Publikumsbedürfnisse und materialgerechte Pointen sowie der sicheren Arbeitsbasis einer eigenen Produktionsfirma beruhte und als ökonomisches Kalkül der gestreuten Marktbefriedigung verstanden werden kann. Was in der Retrospektive als vagabundierendes Pendeln und manchmal zweifelhafter Kompromiss zwischen Anbiederung an den Publikumsgeschmack und eigenem filmkünstlerischen Anspruch bzw. gesellschaftlicher Wirkungsintention erscheinen mag, setzte – neben der intimen Kenntnis und routinierten Beherrschung verschiedenster Idiome des Genrevokabulars – nicht nur einen außergewöhnlichen Spürsinn für das genreübergreifend Wirksame und dem Zeitgeist gemäße Themen voraus. Es erforderte im konkreten Arbeitszusammenhang auch eine extreme kreative Flexibilität, die Anfang der 1930er Jahre längst zum Markenzeichen seines Schaffens geworden war.7 Unterstellt man der Tonfilmproduktion Os-
6
Zu Oswalds Musikfilmen der frühen Tonfilmzeit vgl. Wedel, Michael: »Achtung vor dem Original: Richard Oswalds musikalische Tonfilmproduktion«, in: Der deutsche Musikfilm. Archäologie eines Genres 19141945, München: Edition text + kritik 2007, S. 303-328.
7
Vgl. z.B. Haf.: »Gestern in Tempelhof. Oswald disponiert bis Februar«, in: Film-Kurier 194 (20.8.1931): »›Sehen Sie, die Freitreppe da rechts hinten?‹ erläutert Oswald, ›von da kommt Petrowitsch herunter. Dann wird er Viktoria vorgestellt, deren Geliebter er ist, und die beiden müssen miteinander tanzen. Es wird eine ganz hochdramatische Szene.‹ Schon im nächsten Augenblick ist Oswald bei seinem nächsten Film. Gerade bringt man ihm einen Brief, per ›Einschreiben‹ natürlich: Felix Salten schickt den soeben fertig gewordenen Teil des Drehbuchs von ARM WIE EINE KIRCHENMAUS.
Und Oswald übergibt dem Produktionsleiter dieses Films, Emil Ju-
stiz, das Manuskript-Heiligtum zwecks Einteilung. ›Wissen Sie auch, was
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walds eine nur scheinbar sprunghafte, tatsächlich jedoch gezielt mehrgleisig angelegte und systematisch alternierende Arbeitsweise, so lässt sich die chronologische Werkentwicklung Anfang der 1930er Jahre am aussagekräftigsten wohl entlang der jeweiligen Genreformate verfolgen, die Stilhorizont und kommerzielle Kontur der einzelnen Filme historisch abstecken.
N EUE P RODUKTIONSBEDINGUNGEN NACH DER T ONFILMUMSTELLUNG Die ungebrochene Werkkontinuität über die Schwelle vom Stummzum Tonfilm hinweg sollte dabei nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass die technischen und ökonomischen Umstellungen der frühen Tonfilmzeit sich sowohl auf den Produktionsprozess im Ganzen wie auch auf die individuelle Regiepraxis Oswalds nachhaltig auswirkten. Waren Oswalds letzte Stummfilme seit 1926 nur in wenigen Ausnahmefällen nicht im Efa-Atelier Berlin-Halensee entstanden, so war er für seine Tonfilmproduktion zunächst gezwungen, in andere, bereits mit entsprechenden Aufnahme-Anlagen ausgerüstete Studios umzuziehen. Für WIEN, DU STADT DER LIEDER mietete Oswalds Produktionsgesellschaft vier Wochen das Ufa-Atelier in Neubabelsberg, DREYFUS wurde im Juni 1930 in den Tempelhofer Ufa-Studios gedreht, DIE ZÄRTLICHEN VERWANDTEN, ALRAUNE und 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND entstanden dann im zweiten Halbjahr 1930 wiederum in Neubabelsberg. Für die Aufnahmen zu SCHUBERTS FRÜHLINGSTRAUM ging Oswald Anfang 1931 noch einmal zurück ins EfaAtelier, drehte anschließend ARM WIE EINE KIRCHENMAUS in den D.L.S.-Ateliers in Staaken und VIKTORIA UND IHR HUSAR abermals bei der Ufa in Tempelhof, bevor er Ende des Jahres DER HAUPTMANN VON KÖPENICK in den Jofa-Ateliers in Berlin-Johannisthal realisierte. Erst nach einer halbjährigen Drehpause Oswalds wurden die Tempelhofer Ufa-Studios zwischen Juni 1932 und Januar 1933 zum kontinuierlichen Drehort seiner Produktionen, der lediglich im März 1933 den
ich hier in der Hand habe‹, fragt er weiter. ›Zuckmayers Hauptmann von Köpenick-Film. Fabelhaft hat er das gemacht. Ihr habt schon recht mit eurer Forderung: Dichter an die Front.‹ Na, und dann hört man so nebenbei, dass ein weiterer Oswald-Film im Februar entsteht.«
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Aufnahmearbeiten an EIN LIED GEHT UM DIE WELT nicht mehr zur Verfügung stand, weshalb ein letztes Mal innerhalb Deutschlands in die Jofa-Ateliers umgezogen wurde. Der häufige Wechsel der Studio-Umgebung in den ersten Tonfilmjahren brachte eine Reihe neuartiger logistischer Anforderungen und arbeitspraktischer Schwierigkeiten mit sich. Mit Blick auf Oswalds Inszenierungspraxis wog dabei wohl am schwersten, dass mit den Ateliers oft auch die zur Verfügung stehenden Tonaufnahme-Systeme wechselten. Die Ufa-Ateliers in Neubabelsberg, in denen 1930 vier Oswald-Filme entstanden, waren mit fest installierten Klangfilm-Aufnahmegeräten ausgestattet, alle anderen von Oswald frequentierten Studios jedoch mit mobilen Tobis-Anlagen, was je unterschiedliche Rücksichtnahmen im Drehprozess erforderte.8 Zu diesen Rücksichtnahmen gehörte auch die Integration neuer Mitarbeiter in den Herstellungsablauf. Obwohl Oswald für die Studioarbeit seiner Tonfilmproduktion bald über einen engen Mitarbeiterkreis verfügte, der sich zum Teil bereits in der Stummfilmzeit herausgebildet hatte und zu dem Friedl Behn-Grund, später Reimar Kuntze, Heinrich Gärtner und Ewald Daub als Kameraleute, vor allem aber der Szenograf Franz Schroedter gehörten, galt es, sich von Film zu Film und von Atelier zu Atelier auf neue Verantwortliche für die Tonaufnahmen einzustellen. An Oswalds neun Filmen der Zeit von Januar 1930 bis Dezember 1931 waren nicht weniger als sieben Tonmeister beteiligt, die der Produktion zusammen mit der Aufnahmetechnik von den Ateliers zur Verfügung gestellt wurden. Hinzu kamen noch einmal die tontechnischen Leiter und Ton-Produktionsleiter der Gerätehersteller Tobis und Klangfilm, die den für die praktischen Aufnahmearbeiten zuständigen Tonmeistern übergeordnet waren. Erst bei Oswalds fünf letzten deutschen Produktionen vor seiner Emigration kehrte in dieser Hinsicht mit Fritz Seeger, der die Tonaufnahmen für UNHEIMLI-
8
Im Gegensatz zur mobilen Tobis-Tonkamera, die im Atelier nah an eine aufzunehmende Szene heran zu bewegen war, hatte der an der stationären »Zwei-Kabinen-Apparatur« der Klangfilm arbeitende Tonmeister im Neubabelsberger Atelier keinen direkten Einblick in das Geschehen vor der Bildkamera. Vgl. Wedel, Michael: »Klärungsprozesse. Tobis, Klangfilm und die Tonfilmumstellung 1928-1932«, in: Jan Distelmeyer (Hg.), Tonfilmfrieden/Tonfilmkrieg. Die Geschichte der Tobis vom Technik-Syndikat zum Staatskonzern, München: Edition text + kritik 2003, S. 34-43.
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CHE GESCHICHTEN, GRÄFIN MARIZA und GANOVENEHRE besorgte, sowie Eugen Hrich, der für den Ton von DIE BLUME VON HAWAI und EIN LIED GEHT UM DIE WELT verantwortlich war, eine gewisse Stetigkeit ein. Mit den neuen Mitarbeitern war in den hergebrachten Produktionsprozess nicht nur ein völlig neuer Zuständigkeitsbereich gleichberechtigter ästhetischer Dimension zu integrieren. Der für die Gesamtgestaltung eines Films verantwortliche Regisseur hatte sich im Studiobetrieb nun auch in einem für ihn ungewohnten Hierarchiegefüge neu zu orientieren, das einzelne Verantwortungsbereiche seiner unmittelbaren Einsicht zumindest tendenziell entzog.9 Für einen bis dahin im umfassendsten Sinne auf autonom entwickelte Gestaltungs- und Herstellungskonzepte gestellten Regisseur wie Oswald, der zugleich sein eigener Produzent war, muss diese Veränderung anfangs ein umso stärkeres Irritations- und Adaptionsmoment dargestellt haben. Es wird noch dort spürbar, wo Oswald sich während der Aufnahmen seines ersten Tonfilms dazu aufgerufen fühlt, eigens öffentlich hervorzuheben, wie »harmonisch« sich die Zusammenarbeit zwischen den Tontechnikern Guido Bagier und Joseph Massolle auf der einen und Regisseur und bewährtem Mitarbeiterstab auf der anderen Seite gestaltet hätte.10 In der zeitgenössischen Fachdiskussion der »Regieprobleme des Tonfilms« findet sich dieses Konfliktpotenzial im Laufe des ersten Tonfilmjahres 1930 immer wieder reflektiert. »Solange die Apparatur noch nicht ideal ist«, heißt es beispielsweise im Februar 1930 im FilmKurier, »werden sich immer Diskrepanzen zwischen Technik und Kunstwille ergeben, im allgemeinen sollte sich jedoch der Regisseur vor dem Technischen nicht so fürchten und lieber kleinere technische Mängel in Kauf nehmen, als grobe Verstöße gegen die Tonfilmdramaturgie zu begehen.«11
9
Für das klassische Hollywood der Studio-Ära ist das in der frühen Tonfilmzeit tendenziell gespannte Verhältnis zwischen Regisseuren und tontechnischem Personal aufgearbeitet bei Lastra, James: Sound Technology and the American Cinema. Perception, Representation, Modernity, New York: Columbia University Press 2000, S. 167ff.
10 Richard Oswald, zitiert nach: »Oswalds Sprechfilm der sechs Komiker«. 11 Conrad-Alberti, Victor: »Regieprobleme des Tonfilms«, in: Film-Kurier 41, 15.2.1930, 3. Beiblatt.
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Arbeitspraktisch wirkten sich die neuen Aufnahmebedingungen im Studio auf den Inszenierungsstil vor allem insofern aus, als die einzelnen Szenen weitaus sorgfältiger im Vorhinein geplant, Kamerapositionen und die Schauspielerbewegungen in weitaus höherem Maße festgelegt und mit den für die Platzierung der Mikrofone bzw. »Tonkameras« zuständigen Mitarbeiten abgesprochen sein mussten. Für Oswald bedeutete dies eine grundsätzliche Umstellung seiner Regiearbeit, deren kreativen Kern er selbst frühzeitig als »Improvisation, Schaffen aus dem Augenblick heraus« für sich definiert hatte: »Nur das Technische muß vorbereitet sein, das Wesentliche der Szene muß im Augenblick empfunden sein.«12 Noch Ende 1927 konnte er aus der eigenen Stummfilmpraxis heraus kategorisch fordern, Filmregie müsse »etwas von Suggestion haben« und der Filmregisseur »in gewisser Beziehung Improvisator sein«.13 Bei der Vorbereitung seines ersten Tonfilms sah er sich dann aber gezwungen dazu überzugehen, ein Regiebuch zur Grundlage der Dreharbeiten zu machen, in dem alle Parameter jeder einzelnen Einstellung möglichst exakt vorgegeben waren, die Blaupause des Films somit bereits vorgezeichnet war. Der Presse teilte er mit: »Ja, sehen Sie, das ist bei Richard Oswald nun wirklich etwas Neues, er ist nicht mehr der Manschetten-Regisseur mit den improvisierten Einfällen, er geht ins Tonfilm-Atelier mit dem vollkommen fertigen Textbuch und den durchprobierten Schauspielern.«14
A CHTUNG VOR DEM O RIGINAL : T HEATERVERFILMUNGEN Die Entscheidung für vollständige Adaptionen bekannter Operetten als bevorzugte Genrespielart des Musikfilms der Oswald-Produktion in der Zeit von Sommer 1931 bis Anfang 1933 deckt sich mit der im gleichen Zeitraum erfolgenden Spezialisierung auf die Verfilmung von
12 Oswald, Richard: »Filmregie« [1920], in: Walter Kaul/Robert G. Scheuer (Red.), Richard Oswald, Berlin: Deutsche Kinemathek 1970, S. 22f. 13 Oswald, Richard: »Spielleitung im Film«, in: Film-Kurier 304 (24.12. 1927). 14 Richard Oswald, zitiert nach: »Oswalds Sprechfilm der sechs Komiker«.
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Stücken aus dem aktuellen Bühnenrepertoire des Sprechtheaters. Trotz der beträchtlichen Spanne zwischen populärer Unterhaltungsware auf der einen und kritischem Zeitstück auf der anderen Seite bilden die Theaterverfilmungen ARM WIE EINE KIRCHENMAUS (1931), DER HAUPTMANN VON KÖPENICK (1931) und GANOVENEHRE (1932) eine eigene Produktions- und Genrekategorie im Schaffen Oswalds dieser Jahre. Dabei variieren die beiden boulevardesken Komödien Inszenierungsroutinen – zielgenaue Dialogpointen, die effektvolle musikalische Untermalung von Handlungskollisionen, das Ineinandergreifen von Intrigendramaturgie und Parallelmontage –, wie sie in anderer Form auch die parallel entstehenden Musik- und Operettenfilme Oswalds kennzeichnen, während die Zuckmayer-Adaption zweifellos von einem Formvokabular der psychologischen Nuancierung profitiert, das zuvor an DREYFUS und 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND entwickelt worden war. Trotz gelegentlicher Gesangseinlagen können allerdings weder ARM WIE EINE KIRCHENMAUS und GANOVENEHRE als echte Musikfilme angesprochen werden, noch lässt sich DER HAUPTMANN VON KÖPENICK mit den beiden anderen Historienfilmen tatsächlich zu einem »Triptychon« fügen, ohne gravierende stilistische und thematische Unterschiede zu nivellieren.15 Ungeachtet des nicht nur mit Blick auf die literarische Qualität der einzelnen Vorlagen, sondern auch in der filmischen Umsetzung zwischen ihnen bestehenden ästhetischen Gefälles lässt sich vielmehr bei den drei Bühnenadaptionen eine Reihe inhaltlicher Korrespondenzen ausmachen, die sie nicht nur produktionskategorisch, sondern auch thematisch als ein und demselben Strang der Werkentwicklung zugehörig erscheinen lassen. Als eigenständige Produktionskategorie verweisen sie auf ein kommerzielles Kalkül, das, wie auch bei den Operettenverfilmungen, den Bekanntheitsgrad aktueller Theatererfolge zum Maßstab des filmischen Marktwerts erhebt. Ladislaus Fodors Lustspiel A templom egere,
15 Wolfgang Mühl-Benninghaus spricht DREYFUS, 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM
WELTBRAND und DER HAUPTMANN VON KÖPENICK als »Tripty-
chon« an, stellt jedoch sogleich einschränkend fest: »Eine thematische Verknüpfung allerdings ist zwischen den drei Filmen nicht erkennbar.« Mühl-Benninghaus, Wolfgang: »1914. DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND (1930)«, in: Belach/Jacobsen (Hg.), Richard Oswald, S. 107112, hier S. 107.
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das seit 1928 unter dem Titel Arm wie eine Kirchenmaus auf deutschsprachigen Bühnen gespielt wurde, und Charles Rudolphs Berliner Farce, einer der größten Berliner Boulevarderfolge der späten 1920er und frühen 1930er Jahre, erfüllten diese Adaptionsvoraussetzung ebenso wie Zuckmayers unverzüglich zum Klassiker der Gattung avancierendes Volksstück, das im März 1931 im Deutschen Theater uraufgeführt worden war und an gleicher Stelle noch gegeben wurde, als Oswalds Film in die Kinos kam.16 Inhaltlich verbindet die drei Filme die Tatsache, dass es sich bei ihnen – mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt – um Sozialstudien handelt, die Protagonisten aus dem verarmten Kleinbürgertum, Arbeitslosen- bzw. Kleinkriminellen-Milieu in den Mittelpunkt des Geschehens rücken. Der allein stehenden und beschäftigungslosen Susi Sachs in ARM WIE EINE KIRCHENMAUS, von Grete Mosheim mit backfischartiger Verve gespielt, ist noch unter dem Zuckerüberzug des ebenso unverhofften wie genrebedingt unvermeidlichen gesellschaftlichen Aufstiegs durch die Heirat mit dem Direktor der Wiener »Universal Bank« die Rück-Fallhöhe in jene soziale Notlage der Arbeitsund Existenzlosigkeit, aus der sie kam, nicht minder auf Schritt und Tritt anzumerken wie dem von Max Adalbert so unvergleichlich präziser und eindringlicher gegebenen Wilhelm Voigt in DER HAUPTMANN VON KÖPENICK. Der wiederum kann es mit »Artisten-Orje« (Fritz Kampers) aus GANOVENEHRE nicht nur in der Länge des Vorstrafenregisters aufnehmen, sondern ebenso in der Tiefe der psychischen Deformationen und der Zahl der sozialen Diskriminierungen, die die mehrjährigen Gefängnisaufenthalte bei beiden Figuren zur Folge haben. Die Analogien in Figurenkonzeption und Milieuwahl der drei Filme verbleiben freilich an der Oberfläche und mögen noch zu gleichen Teilen einer persönlichen Stoffvorliebe Oswalds wie der zeitspezifischen Disposition eines Theater- und Filmpublikums zugeschrieben werden, das seine eigenen Existenzängste und wirtschaftlichen Beschränkungen kulturell zumindest thematisiert und symbolisch sublimiert, wenn auch nicht immer gesellschaftlich reflektiert sehen wollte.
16 Das Stück brachte es in der Erstinszenierung Heinz Hilperts am Deutschen Theater auf insgesamt 126 Aufführungen, in Inszenierungen anderer deutscher Bühnen wurde das Stück bis Januar 1933 ununterbrochen im Programm gehalten. Vgl. Zuckmayer, Carl: Als wär’s ein Stück von mir/Horen der Freundschaft, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S. 375ff.
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Doch sind die drei genannten Filme auch ganz konkret durch einen gemeinsamen inszenatorischen Ansatz an die Problematik der filmischen Adaption von Theaterstücken verbunden, den Oswald Ende 1931 im Vorfeld der Uraufführung von ARM WIE EINE KIRCHENMAUS formuliert hat. In diesem Text plädiert er unter der programmatischen Überschrift »Ich verfilme Bühnenwerke« für die »Achtung vor dem Original« als grundsätzlicher Maxime der filmischen Bearbeitung: »Wenn ein Produzent nach vielen Kämpfen und Verhandlungen mit Verlag, Autor, Zwischenhändlern endlich ein erfolgreiches Bühnenwerk zur Verfilmung erworben hat, beginnen neue Kämpfe mit den Drehbuchautoren. Das Bühnenwerk muß ›für den Tonfilm bearbeitet‹ werden. Oft ergibt sich dann die merkwürdige Beobachtung, daß die bewährten Szenen, Dialoge und Situationen, die auf hundert Bühnen bei hundert mal hundert Aufführungen mit mathematischer Genauigkeit einschlugen, von ›Filmbearbeitern‹ als unfilmisch abgelehnt oder zumindest als zweifelhaft in ihrer Wirkung beurteilt werden. Gerade das Gegenteil erscheint mir richtig. Eine Pointe auf der Bühne wird ebenso unbedingt zur Pointe im Tonfilm, wenn sie filmisch, also optisch und akustisch unter Wahrung der filmischen Gesetze, gebracht wird. Damit soll nicht dem sinn- und einfallslosen Dialog-Abphotographieren das Wort geredet werden: verfilmtes photographiertes Theater bleibt undiskutabler Tonfilm. Aber es will mir grotesk erscheinen, daß für vieles Geld ein Verfilmungsrecht gekauft wird, und dann aus Rücksicht auf falsch verstandene Forderungen der filmischen Gestaltung, die viel erprobten Erfolgs-Szenen des Stückes aus der Tonfilmbearbeitung eliminiert werden. Daher erscheint mir als erstes Gebot für die Bearbeitung des Bühnenwerks die Achtung vor dem Original [...]: Keine Bearbeitung ist besser als eine, die alle Wirkungen des Originals verwässert. [...] Warum soll das durch Mikrophon und Lautsprecher übermittelte Wort in seiner Wirkung gegenüber dem auf der Bühne gesprochenen zurückbleiben? [...] Die filmische Bearbeitung hat dort einzusetzen, wo die bewegliche Kamera, die kontinuierliche Bildfolge des Films die Raumgrenzen der Bühne sprengt.«17
Oswald liefert hier eine Poetik der Theaterverfilmung, wie sie treffender auch für seine Adaption des HAUPTMANN VON KÖPENICK nicht gegeben werden kann. Neben dem künstlerischen Gehalt der Vorlage
17 Oswald, Richard: »Ich verfilme Bühnenwerke«, in: Film-Kurier 260 (5.11. 1931).
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selbst und der Beteiligung Zuckmayers am Drehbuch18 ist es genau genommen also lediglich die in besonderer Weise auf die Umsetzung dieses kulturellen Prestigeprojekts verwandte Sorgfalt, die es von den ihm konzeptuell und produktionsästhetisch durchaus verwandten Genrevehikeln absetzt. Die Abweichungen, die der Film gegenüber der Bühnenfassung des Stückes aufweist, dienen in erster Linie der von Oswald angesprochenen Erweiterung der Raumgrenzen, der Verdichtung des Materials auf eine höhere Erzählkontinuität und Handlungskausalität hin sowie der Visualisierung in der literarischen Vorlage lediglich vorausgesetzter Ereignisse (etwa die Rekrutierung der Mannschaft zur Besetzung des Rathauses und die Fahrt dorthin). Als solche im Film eliminiert sind Szenen, die zusätzliche Nebenfiguren erforderlich machen oder neue, im weiteren Verlauf der Filmhandlung nicht wieder benötigte Schauplätze einführen; so die Szenen I/6 (Herberge zur Heimat im Berliner Norden), II/11 (Gang vor dem Polizeibüro in Rixdorf), II/12 (Stube mit Bett, Voigts Gespräch mit dem kleinen Mädchen) und II/13 (Festsouper bei Dressel) sowie III/16 (Allee im Park von Sanssouci).19 Einzelne Elemente – Dialogpassagen und wichtige Entwicklungsmomente der Hauptfigur – finden sich im Film allerdings in anderen szenischen Zusammenhängen wieder, sodass insgesamt von einem Festhalten der filmischen Aktualisierung an der inhaltlichen Intention und dramatisch-epischen Anlage des Stückes gesprochen werden kann.20
18 Für eine zeitgenössische Äußerung Zuckmayers zur Frage der Literaturadaption vgl. Zuckmayer, Carl: »Nicht Verfilmung, sondern ›Filmdichtung‹«, in: Der Querschnitt 1 (1931), S. 403. 19 Für einen detaillierten Abgleich zwischen Bühnen- und Filmfassung vgl. Kanzog, Klaus: »Aktualisierung – Realisierung. Carl Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick in den Verfilmungen von Richard Oswald (1931/1941) und Helmut Käutner (1956)«, in: Gunther Nickel (Hg.), Carl Zuckmayer und die Medien. Beiträge zu einem internationalen Symposium, Bd. 1, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2001, S. 249-308. Dort finden sich auch die Verschiebungen innerhalb einzelner Szenen exemplarisch analysiert. 20 Der episierenden Kompositionsweise des Stückes wurde von der Literaturgeschichtsschreibung gelegentlich eine »wesensmäßige Beziehung zum Medium des Filmes« unterstellt. Vgl. Jacobius, John: Motive und Dramaturgie im Schauspiel Carl Zuckmayers, Wiesbaden: Steiner 1971, S. 111.
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In ARM WIE EINE KIRCHENMAUS und GANOVENEHRE mutet Oswalds Adaptionskonzept der Werktreue und des »Zwangs zur Natürlichkeit«21 zuweilen als übermäßige filmformale Zurückhaltung vor verlässlichen Dialog- und Dramaturgiepointen an, im HAUPTMANN VON KÖPENICK ist es zu einem noch heute überzeugenden ästhetischen Entwurf von beeindruckender atmosphärischer Konsistenz und psychologischer Prägnanz entwickelt. Wohl für kaum einen anderen seiner Filme lässt sich Oswalds Selbstdeutung, seine Filme wären »Photogravüren der Menschennatur«, mit ähnlicher Berechtigung geltend machen.22 Die Kritik stellte denn auch leicht erstaunt fest, der Film bedeute in »der nicht immer gleichmäßig verlaufenden Kurve Richard Oswaldscher Tonfilmproduktion [...] ein erfreuliches Ansteigen nach oben«, und beeilte sich, diesen künstlerischen Aufschwung dem Autor der Vorlage und Max Adalbert als Darsteller des Wilhelm Voigt zuzuschreiben.23 So sehr sich Oswald auf die dramatische Wirkung des Stückes und die Schauspielleistung seines Ensembles, das mehrheitlich mit der Darstellung der Figuren schon von der Inszenierung Heinz Hilperts am Deutschen Theater her vertraut war, verlassen konnte, so wenig kann bei der filmischen Ausgestaltung der einzelnen Szenen von einer Orientierung an dieser Bühneninszenierung die Rede sein. Nach eigenem Bekunden hatte Oswald sich die Hilpert-Inszenierung sogar »extra [...] nicht angeschaut«, um sich »nicht beeinflussen zu lassen.«24
21 Oswald, Richard: »Der Zwang zur Natürlichkeit«, in: Die Lichtbild-Bühne 262 (2.11.1931): »Von allen Vorzügen des Tonfilms erscheint mir der fruchtbarste der Zwang zur Natürlichkeit. Das nicht lügende Mikrophon duldet keine Verfälschung, keine betrügerische Korrektur eines natürlichen Mangels. Es enthüllt die kleinste Manieriertheit, es fordert den Einsatz der ganzen schöpferischen Künstlerpersönlichkeit. [...] Deshalb muß der echte Tonfilm der Film der guten Schauspieler sein. Stoff und Ensemble sind es, die über Wert oder Unwert, Erfolg oder Niederlage des Tonfilms entscheiden.« 22 Oswald, Richard: »Reprise oder Remake?«. 23 H. W-g. [d.i. Wollenberg, Hans]: »DER HAUPTMANN VON KÖPENICK«, in: Die Lichtbild-Bühne 306 (23.12.1931). 24 Richard Oswald, zitiert nach: -lo-: »Kriegsrat bei Oswald: ›Wie machen wir No 49?‹«, in: Film-Kurier 266 (12.11.1931).
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Abb. 1
Tatsächlich entwickelt Oswald eine ganze Reihe von schlüssigen Regieeinfällen, die den Gehalt des Stoffes nicht künstlich überformen, sondern seine psychologischen Nuancen subtil hervor treiben und seinen satirischen Grundgestus anschaulich verdeutlichen. Dazu gehören die Integration von Animationselementen, wenn etwa die Positionsskizze eines Infanterieregiments im Lehrbuch zu marschieren beginnt, die assoziative Montage der internationalen Presse-Schlagzeilen ebenso wie Zeit raffende Ton-Bild-Kombinationen. Oder auch die stilsicher eingesetzten Kamerasprünge aus der Distanz in extreme Großaufnahmen von schimpfenden Prokuristen und lachenden Zeitungslesern, in denen die in beiden Akten des sozialen Miteinanders latent enthaltene Aggressivität als Wahrnehmungsschock vorgeführt ist. Vor allem aber auf den Ebenen der Kadrierung und Bildkomposition gelingt es Oswalds Regie, zentralen (sozial-)psychologischen Motiven des Drehbuchs mit Mitteln der filmischen Inszenierung visuelle Prägnanz zu verleihen. Einer der wichtigsten Motivkomplexe wird auf diese Weise gleich zu Beginn des Films eingeführt: Wenn Voigt bei der Haftentlassung seine Sachen in Empfang nimmt und dem zuständigen Beamten ins Gesicht blickt, platziert Oswald in der ersten subjektiven Einstellung des Films zu beiden Seiten des Vollzugsbeamten je ein Paar Stiefel, das von oben in den Bildausschnitt hineinragt (Abb. 1). Das subjektive Grundmotiv des Films ist hier sinnbildlich verdichtet: Voigts Gefühl, heimatlos zu sein, sprichwörtlich den Boden unter den Füßen verloren zu haben und symbolisch für die Gesellschaft nicht weniger tot zu sein, als wenn er für seine Betrugsdelikte und Urkundenfälschungen am Galgen geendet hätte. Oswald eröffnet auf diese
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Weise eine bildsemantische Bezugsebene, die erst im weiteren Verlauf inhaltlich manifest wird, wenn Voigt nach der abermaligen Ablehnung seines Gesuchs um Aufenthaltserlaubnis davon spricht, er könne doch nicht »mit de Beene in de Luft baumeln wie’n Erhenkter.«25
Abb. 2
Es spricht für die filmische Intelligenz des Regisseurs, dass er es nicht bei dieser eindimensionalen Form-Inhalt-Korrespondenz belässt, sondern das visuelle Motiv des Schwebezustands konsequent weiterführt und als fortlaufenden Kommentar zum dramatischen Handlungsgeschehen variiert. Als Voigt beim Trödler die Uniform erwirbt und damit den ersten Schritt zu jener Verwandlung unternimmt, die seiner Nichtexistenz im Schwebezustand schließlich ein Ende setzt, nimmt Oswald das Motiv wieder auf, indem er im Vordergrund der Einstellung, in der wir Voigt das Geschäft verlassen sehen, seine Hauptfigur von zwei Puppen einrahmt, die ihr bewundernd hinterher zu blicken scheinen. Dass die öffentliche Maskerade die Entwicklung zwar beschleunigen, den Schwebezustand an sich jedoch nicht beenden kann, deutet Oswald darin an, dass er die korrespondierende Bildmetapher für diesen Zustand erneut aufgreift und diesmal am oberen Rand der
25 In Zuckmayers Bühnenfassung kommt dieser Satz sehr viel früher, nämlich schon in der 2. Szene des 1. Akts, und in leicht veränderter Form vor: »Ick kann ja nu mit de Füße nich in de Luft baumeln, det kann ja nur’n Erhenkter.« Zuckmayer, Carl: Der Hauptmann von Köpenick. Ein deutsches Märchen in drei Akten, Frankfurt a.M.: Fischer 672000, S. 18.
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Komposition einen in der Luft hängenden Fahrradreifen im Anschnitt zeigt (Abb. 2). Erst ganz am Schluss des Films, als Voigt sich der Polizei als der gesuchte Hauptmann von Köpenick unter der Bedingung zu erkennen gibt, dass ihm nach seiner Haft endlich der ersehnte Pass zugestanden werde, führt Oswald das Bildmotiv parallel zum zentralen Handlungskonflikt zur Auflösung. Durch eine das Bildzentrum von beiden abgedunkelten Bildflanken extrem kontrastierende Ausleuchtung der Szene, in der sich die staunenden Polizisten um den sitzenden Voigt versammeln (»Das isser!«), errichtet der Regisseur seiner Hauptfigur einen imaginären Thron, auf dem sie endlich ihren Platz finden und als anerkanntes, ja bewundertes Subjekt in der Gesellschaft ankommen kann (Abb. 3).
Abb. 3
Es sind nicht zuletzt formale Zuspitzungen wie diese, die dem märchenhaft-satirischen Gehalt der dramatischen Vorlage ein zusätzliches Potenzial der gesellschaftlichen Kontroverse über Uniformhörigkeit und Untertanengeist der Deutschen hinzufügen. Oswald hatte ursprünglich beabsichtigt, einer politisch polarisierenden Wirkung des Films durch eine ganz andere Formgebung vorzubeugen. Auf einer Regiesitzung Anfang November 1931 verlieh er seiner Ansicht Ausdruck, der HAUPTMANN VON KÖPENICK dürfe »kein Film gegen links oder rechts sein, kein Werk gegen Militarismus oder Beamtentum, sondern müsse eine sachliche Reportage sein, die das Schicksal
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eines heimatlosen Menschen zeigen solle. Einen Menschen, der vorbestraft ist, seinen Paß verliert und keinen neuen erhält, weil er vorbestraft ist.«26
An den Rändern des politischen Spektrums stieß diese tendenziell den Stoff entpolitisierende Haltung des sozialen Mitleids, gemessen am fertigen Produkt, auf Unverständnis und heftige Kritik.27 Die linke Presse entlarvte sie als »Gesinnungslosigkeit und ›zarte Rücksichtnahme‹ auf den Kassenerfolg«.28 Rechtskonservative Stimmen buchten sie ihrerseits auf »das Lügenkonto dieser sauberen Gesellschaft« und sprachen der pointierten Militarismuskritik des Films jede soziale Berechtigung und Wirkungsmacht ab, da das gesamte Uraufführungspublikum bei der abschließenden Parade der Wachkompanie begeistert »im Takte des mitreißenden preußischen Marsches« geklatscht hätte.29 Dazu ist anzumerken, dass die Schlusseinstellung des Films, in der Voigt an der Spitze der Wachkompanie im Gleichschritt mitmarschiert, einen tonfilmspezifischen Zusatz zur Bühnenfassung darstellt, die schon mit der Vernehmungsszene auf dem Polizeirevier geendet hatte. Als Echo auf den Beginn des Films, an dem eine ähnliche Einstellung steht, in der Voigt den marschierenden Soldaten noch unbeteiligt nachblickt,
26 »Der ›Hauptmann von Köpenick‹. Regiesitzung bei Richard Oswald«, in: 8-Uhr-Abendblatt vom 10.11.1931. 27 Schon an Zuckmayers Bühnenstück wurde jedoch schon der fehlende politische Gehalt kritisiert. Willy Haas etwa bemängelte, der historische Stoff hätte den »Kern zu einer wirklich großen politischen Komödie« abgeben können, die der Autor jedoch »wohlweislich ungeschrieben ließ.« In: Die literarische Welt 11 (1931), S. 7. 28 H.L. [Lüdecke, Heinz]: »›Der Hauptmann von Köpenick‹ für die Volksgemeinschaft«, in: Die Rote Fahne vom 3.1.1932; hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Gertraude Kühn/Karl Tümmler/Walter Wimmer (Hg.), Film und revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland 1918-1932, Berlin: Henschel 1978, Bd. 1, S. 255. 29 Peter Hagen in: Der Angriff 230 (23.12.1930). Vgl. a. Lisser, Heinz: »DER HAUPTMANN VON KÖPENICK und der Militarismus«, in: Der Vorstoß 2 (10.1.1932), S. 54-57, hier S. 54: »Die Verfilmung von Zuckmayers Komödie bietet willkommenen Anlaß, mit einer ebenso törichten wie gemeingefährlichen Legende aufzuräumen, mit der Legende nämlich, daß dieser Fall irgend etwas mit dem sogenannten ›deutschen Militarismus‹ zu tun habe.«
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markiert diese Wahl des Schlussakzents den Augenblick der symbolisch-musikalischen Re-Integration ins Kollektiv als Moment ästhetischer Geschlossenheit. Angesichts des nahezu vollständigen Verzichts auf jede musikalische Untermalung der Handlung zwischen diesen beiden Einstellungen bezeichnet die Schlusswendung im HAUPTMANN VON KÖPENICK jedoch zugleich eine versöhnlich anmutende Rückkehr ins Genremuster des Unterhaltungsfilms, die einer affirmativen, den gesellschaftskritischen Gehalt des Films negierenden Lesart effektiv den Boden bereitet.
Z ERSPLITTERTE G ESCHICHTE : D IE » HISTORISCHEN R EPORTAGEN « So wenig überzeugend im Nachhinein Oswalds Versuch erscheint, sich in der Frage der sozialen Wirkungsintention des HAUPTMANN VON KÖPENICK auf einen Begriff filmischer Objektivität im Modus der »Reportage« zurückziehen, so verweist dieser Begriff doch auf eine Gestaltungsauffassung, die Oswald zuvor an DREYFUS, vor allem aber an 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND entwickelt hatte und die ihm ursprünglich auch für den HAUPTMANN VON KÖPENICK vorgeschwebt war. In der angesprochenen Regiesitzung hatte er seinerzeit dazu angeregt, »die Sache realistisch zu machen«, als »eine Art von Wochenschau-Reportage von damals, so wie mein DREYFUS gewesen ist.«30 Oswalds Konzept, das Genre des Geschichtsfilms durch die Verbindung von inszenierter Spielhandlung mit dem dokumentarischen Gestus der »historische[n] Reportage [...] unter genauer Berücksichtigung des aktenmäßigen Verlaufs«31 im Tonfilm zeitgemäß zu erneuern, ist von der Filmgeschichtsschreibung in seinem Innovationspotenzial bis heute nicht zur Genüge erkannt und in der Konsequenz seiner Umsetzung gewürdigt worden. Obwohl ihm mit DREYFUS und 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND nur zwei fertig gestellte Filme entsprechen, konstituiert das originäre Genrekonzept der inszenierten historischen Reportage doch einen zentralen Arbeitsschwerpunkt Os-
30 Richard Oswald, zitiert nach: -lo-: »Kriegsrat bei Oswald«. 31 Richard Oswald, zitiert nach: »Kriegsausbruch à la Dreyfus«, in: Film-Kurier 259 (1.11.1930), 4. Beiblatt.
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walds, den er ursprünglich in unrealisiert gebliebenen Projekten am Beispiel anderer historischer Stoffe wie der Figur Rasputins oder der Affäre von Mayerling fortzuführen und auszubauen dachte;32 Stoffe, die ihm besonders bei seinen späteren Projekten in den USA bewegt haben. Verdient die ihm zugrunde liegende Auflösung fester Gattungsstatiken aus heutiger Sicht allein schon wegen der gezielten Vermischung von Fakt und Fiktion als zeitspezifische Vorform von »dokudramatischen« Medienformaten der aktuellen Populärkultur einige Aufmerksamkeit, so verspricht eine nähere genealogische Spurensuche und analytische Werkbetrachtung der »historischen Reportage« im Kontext der Profilierung eines identifizierbaren Personalstils Oswalds erst recht instruktive Aufschlüsse. Zum einen nämlich scheint mit der Formentwicklung der historisch dramatisierenden Reportage zu Beginn der 1930er Jahre eine Überzeugung Oswalds erneut konkrete filmische Gestalt zu gewinnen, die bereits seinen frühen Aufklärungsfilmen zugrunde gelegen hat und auch an anderen Stellen seines Werks virulent vorhanden ist.33 Ihr zufolge könne, wie der Regisseur Mitte der 1920er Jahre schreibt, jeder gute Film – also auch ein Spielfilm – als »Kulturfaktor« verstanden werden, sofern er »belehrend auf die Masse wirkt«. Tatsächlich sei die Wirkung auf das Publikum stärker, je weniger ein Film »diese Belehrung [...] als solche anzeige«,34 d.h. je stärker er sie durch die Aufbietung geläufiger Narrationsmuster zu camouflieren versteht. Setzt man diese Bemerkungen in Bezug zu den historischen Reportagen der frühen Tonfilmzeit, so wird deutlich, dass hier bereits unter dem Siegel eines Beitrags zur Kulturfilmtheorie das für DREYFUS und
32 Oswald plante das Rasputin-Projekt seit Anfang 1931, es wurde dann aber mit der Verfilmung desselben Stoffs durch Adolf Trotz im Jahr darauf hinfällig. Vgl. das Inserat des Atlas-Filmverleihs, in: Film-Kurier 14 (17.1. 1931); ul.: »›Rasputin‹ im Werden«, in: Die Lichtbild-Bühne 4 (6.1.1932). 33 Vgl. Kasten, Jürgen: »Dramatische Instinkte und das Spektakel der Aufklärung. Richard Oswalds Filme der 10er-Jahre«, in: Jürgen Kasten/Armin Loacker (Hg.), Richard Oswald. Kino zwischen Spektakel, Aufklärung und Unterhaltung, Wien: Filmarchiv Austria 2005, S. 15-139, hier bes. S. 82ff.; von Keitz, Ursula: »Lebenskrisen en gros. Richard Oswalds Filme der 20er-Jahre«, in: Ebd., S. 141-245, hier bes. S. 179ff. 34 Oswald, Richard: »Der Film als Kulturfaktor«, in: Edgar Beyfuss/A. Kossowsky (Hg.), Das Kulturfilmbuch, Berlin: Chryselius 1924, S. 103.
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1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND kennzeichnende Bedingungsverhältnis von gesellschaftlich eingreifender Wirkungsmacht und gattungsüberschreitendem ästhetischen Entwurf etabliert ist: »Man kann nur dann belehrend und ethisch bildend auf ein Volk wirken, wenn man im modernen Film der Zeit einen Spiegel vorhält, wenn man einem Volk zeigt, wie es selbst und die Welt aussieht. […] Der Kulturfilm kann und wird immer nur der realistische, der wahre Film sein.«35
Bei Filmen, die diesem Modell entsprechen, wird aus Oswalds Sicht die Unterscheidung zwischen »historischem« und »modernem« Film hinfällig. Historische Filme wären sie nur insofern als aus ihnen »Weltgeschichte« zu lernen sei; moderne Filme aber, weil die Darstellung der jeweiligen geschichtlichen Ereignisse und Konstellationen stets auf die Wirkung in der Gegenwart hin angelegt ist.36 Wie sehr sowohl DREYFUS als auch 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND diesem Modell entsprechen sollten, ist schon allein daran zu sehen, dass beide Filme zu öffentlich breit diskutierten Publikumserfolgen wurden, nachdem sie zunächst von Plagiatsvorwürfen und Zensurverbot bedroht waren.37 Der Berechtigung von Oswalds Bemühen, seine filmischen Darstellungen historischer Abläufe und Schwellenereignisse als tatsachen-
35 Ebd., S. 105f. 36 Ebd., S. 103. 37 Plagiatsvorwürfe wurden sowohl gegen DREYFUS als auch gegen 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND erhoben. Vgl. Oswald, Richard: »Plagiat? – Ich klage an!«, in: Film-Kurier 273 (18.11.1930). Vgl. a. »Oswald über ›1914‹«, in: Film-Kurier 216 (12.9.1930). 1914 – DIE LETZTEN
TAGE VOR DEM WELTBRAND wurde zunächst verboten und erst
nach Umarbeitungen zugelassen. Vgl. »›1914‹ zunächst verboten. Zensur – der böse Engel«, in: Film-Kurier 303 (24.12.1930); »Neufassung von ›1914‹. Freigabe so gut wie sicher«, in: Film-Kurier 4 (6.1.1931); »›1914‹ erneut geprüft«, in: Film-Kurier 7 (9.1.1931). DREYFUS zählte in der Saison 1930/31 zu den zehn in Deutschland kommerziell erfolgreichsten Filmen. Vgl. Garncarz, Joseph: »Hollywood in Germany. Die Rolle des amerikanischen Films in Deutschland: 1925-1990«, in: Uli Jung (Hg.), Der deutsche Film. Aspekte seiner Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Trier: WVT 1993, S. 199.
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getreue »Reportagen« zu authentifizieren, ist nicht erst von der jüngeren Forschung zu Recht entschieden widersprochen und materialreich begegnet worden. Auf historisch unzulässige psychologische Stilisierungen, ja Typisierungen in der Figurenzeichnung historischer Persönlichkeiten wurde dabei ebenso verwiesen wie auf Produktionszwänge und Eingriffe von Seiten staatlicher Stellen, die vor allem dem Weltkriegs-Film eine gesellschaftspolitisch permissive Perspektive auf die Kriegsschuldfrage unterlegten.38 Davon unberührt bleibt jedoch der innovative ästhetische Entwurf, zu dem Oswald verschiedene in anderen Genres erprobte Produktionsstrategien und Gestaltungsmerkmale zusammenführt. Dazu gehört eine tendenzielle Offenheit der fiktionalen Konstruktion auf die Aufführungssituation hin, wie sie parallel in seinen musikalischen Komödien und Operettenverfilmungen in Form direkter Publikumsansprache und zahlreicher selbstrefenzieller Verweise auftreten.39 Vom inszenatori-
38 Vgl. Korte, Helmut: Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik. Ein rezeptionshistorischer Versuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 267ff.; Mühl-Benninghaus: »1914. DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND (1930)«, S. 107ff. 39 Diese Verweise sind allerdings nicht im Sinne modernistischer Selbstreflexion als Mittel der kritischen Distanzierung zu den eigenen Produktionsund Gestaltungsbedingungen zu verstehen. Vielmehr sind sie bei Oswald stets auf die Anschlussfähigkeit des Kinoerlebnisses an konkrete kulturelle Bedeutungshorizonte (etwa der Theater-, Varieté- oder Vortragssituation) gerichtet, nach denen die Filmerfahrung zunächst modelliert wird, um anschließend das Besondere der kinematographischen Darbietungsform eines bestimmten literarischen, musikalischen oder historischen Sujets umso deutlicher hervortreten zu lassen. Insofern sind sie Teil der kommerziell motivierten Eigenwerbung populärer Filmunterhaltung, die, auf historisch vorgängige Formen rekurrierend, ihre spezifischen Wirkungspotenziale vor allem in Phasen der ästhetischen und industriellen Umorientierung verstärkt in den Vordergrund stellt. Vgl. hierzu Hake, Sabine: »Selbstreferenzialität im frühen deutschen Kino«, in: Thomas Elsaesser/Michael Wedel (Hg.), Kino der Kaiserzeit. Zwischen Tradition und Moderne, München: Edition text + kritik 2002, S. 303-317. Zur Renaissance selbstreferenzieller Gestaltungsmomente im frühen deutschen Tonfilm vgl. Schweinitz, Jörg: »›Wie im Kino‹. Die autothematische Welle im frühen Tonfilm. Figurationen des Selbstreflexiven«, in: Thomas Koebner (Hg.), Diesseits der »dä-
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schen Konzept her unterscheiden sich die dort verwendeten bühnensketchartigen Eröffnungen in dieser Hinsicht nicht wesentlich von dem »Vorspruch« des Historikers Eugen Fischer, mit dem 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND einsetzt. Wie Oswalds Theaterverfilmungen reagieren auch seine historischen Reportagen auf aktuelle Medienereignisse und die Strömungen des Zeitgeists. DREYFUS nimmt in diesem Zusammenhang mit Bruno Weils soeben erst erschienener Schrift Der Prozess des Hauptmanns Dreyfus nicht nur eine in der Öffentlichkeit vehement diskutierte literarische Vorlage zum Ausgangspunkt. Der Zeitpunkt der Realisierung des von Oswald bereits Ende der 1920er Jahre ins Auge gefassten Projekts steht zudem in Verbindung mit der Uraufführung des Stücks Affäre Dreyfus von Hans José Rehfisch und Wilhelm Herzog, das zum Theaterereignis der Saison 1929/30 geworden war.40 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND gehörte zu einer ganzen Welle von Büchern, Rundfunksendungen und Filmen, die sich im Anschluss an Erich Maria Remarques Bestseller Im Westen nichts Neues des Weltkriegsthemas annahmen und rekurrierte damit seinerseits auf ein bestehendes Publikumsinteresse am Thema.41 Der offensichtlichste Werkzusammenhang, aus dem beide Filme hervorgegangen sind, besteht jedoch darin, dass es sich bei ihnen wiederum um Ensemble-Filme handelt, die nicht eine einzelne Figur, sondern eine ganze Gruppe von Akteuren in den Mittelpunkt rücken. In DREYFUS und 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND, deren Rollenbesetzung mit erstrangigen Stars wie Fritz Kortner, Heinrich George, Albert Bassermann, Grete Mosheim, Reinhold Schünzel oder
monischen Leinwand«. Neue Perspektiven auf das späte Weimarer Kino, München: Edition text + kritik 2003, S. 373-392. 40 Vgl. Korte: Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik, S. 267. 41 Vgl. Mühl-Benninghaus: »1914. DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND (1930) «,
S. 107. In DAS EISERNE KREUZ hatte Oswald sich bereits
im September 1914, unmittelbar nach Kriegsausbruch, des damals aktuellen Themas angenommen, das 1929 auch den Hintergrund seines letzten Stummfilms DIE HERRIN UND IHR KNECHT bildete. Schließlich ist der Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch in VIKTORIA UND IHR HUSAR, im März 1931 unmittelbar nach 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND
entstanden, Ausgangspunkt des dramatischen Konflikts.
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Theodor Loos gleichermaßen beeindruckend ist, führt Oswald dieses Prinzip allerdings zu einer neuen Qualität.42 In der Konsequenz der dramaturgischen Umsetzung des EnsemblePrinzips geht 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND dabei noch einen entscheidenden Schritt weiter als sein unmittelbarer Vorgänger, der deutlicher auf drei Figuren – Kortner als Dreyfus, den von Bassermann gespielten Oberst Picquart sowie gegen Ende Georges Zola – zugeschnitten ist.43 Befindet sich die subjektive Fokussierung und emotionale Hierarchisierung in DREYFUS noch unterschwellig im Widerspruch zum ansatzweise durchaus schon spürbaren Gestaltungskonzept der Reportage, gelingt Oswald mit 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND die filmische Simulation historischer Zeugenschaft im Modus pseudo-dokumentarischer Rekonstruktion auf weitaus überzeugendere, weil konsequenter von den Darstellungskonventionen des Spielfilms losgelöste Weise. Erst in diesem Film unternimmt Oswald wahrhaft den Versuch, einen Geschichtsverlauf ohne zentralen Helden und unter nahezu vollständigem Verzicht auf jede äußere Handlung und direkte Interaktion zwischen den einzelnen Protagonisten zu entwerfen. Seine dramatische Wirkung bezieht er allein durch das mediale Ineinandergreifen der »Fakten«, die per Brief, Telegramm oder via Telefon zwischen den einzelnen Herscherhäusern und diplomatischen Vertretungen kursieren.
42 Vgl. »Der Film von 1914«, in: Film-Kurier 260 (3.11.1930): »Getreu dem Prinzip, den [sic] er schon in DREYFUS verfolgte, trachtet Oswald auch in diesem Film danach, die stärksten schauspielerischen Persönlichkeiten für jede Rolle heranzuziehen, und so sind alle Rollen des Films – nicht weniger als 52 – durchweg mit Darstellern ersten Ranges besetzt.« 43 Der besondere erzählerische Ansatz wurde jedoch auch an DREYFUS von der Kritik bereits vermerkt: »Woran mag es liegen, dass dieser Film so erschütternd wirkt? Am Stoff allein? […] Das Ganze rollt ab wie eine Chronik, nicht wie ein Kriminalfall; man fragt nicht: wer ist schuld?, sondern: wird Gerechtigkeit werden? Und man spürt ein göttliches Walten wie in alten Tragödien, einen Hauch von Ewigkeit hinter der Staffage der altmodischen Kleider und Begriffe, ein Air von Größe hinter den Werken, den gleichen, die sonst Phrasen sind. Ein epischer Film, eine Chronik, Ereignis folgt auf Ereignis«. L.H.: »Richard Oswalds DREYFUS«, in: LichtspielRundschau 386 (17.8.1930), 3. Beiblatt zum Berliner Tageblatt.
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Im Grunde handelt es sich um den Versuch, in der Klammer zwischen zwei Attentaten – dem Anschlag vom 28. Juni auf Erzherzog Franz Ferdinand und der Ermordung des Pazifisten Jean Jaurés am 31. Juli 1914 – einen historischen Prozess jenseits einer auch nur ansatzweise ausgeformten fiktionalen Gesamtkonstruktion als Kette von »Tatsachenereignissen« zur Darstellung zu bringen, deren Glieder an monadisch isolierten Schauplätzen aus voneinander weitgehend unabhängigen psychologischen und ethischen Beweggründen geschmiedet werden. Weit davon entfernt, ein »Geschichtspanorama«44 zu sein, ähnelt 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND vielmehr einem Mosaik von kammerspielartig inszenierten psychologischen Situationen, die in sich konsistent und für sich autonom sind, abstrakt aber aufeinander einwirken und auf diese Weise in ihrer Summe sich zu einer verhängnisvollen Konstellation fügen.45 Von einer Kausalität geleitet, die sich allein an den papiernen Zusammenhang der überlieferten Dokumente hält, springt die Handlung mit der Präzision eines Uhrwerks zwischen den Vertretungen und Herrscherhäusern in Wien, Berlin, Sankt Petersburg, Paris und London hin und her. Insofern ist Oswalds Darstellung ganz zu Recht »unterkühlt« und »penibel in historischen Details«46 zu nennen: Zug um Zug, von einem Mikrokosmos zum anderen, von Depesche zu Depesche, Ultimatum zu Ultimatum, legt der Film die Maschinerie einer internationalen Diplomatie offen, deren Betriebsamkeit zu keiner Kommunikation mehr führt und deren abgekoppelter Leerlauf zu einer Katastrophe, deren Heraufkunft am Ende niemand betrieben haben will. Auf diese Weise gestattet die für 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND gefundene filmische Form »Ursachenforschung, wo andere Regisseure mit ihren Filmen den Krieg heroisch verklären oder seine monströse Grausamkeit bloßstellen«.47
44 Bock, Hans-Michael: »Biographie«, in: Belach/Jacobsen (Hg.): Richard Oswald., S. 130. 45 Ein Rezensent von DREYFUS sah in diesem Film bereits das »Prinzip von Aufbau und dramatischer Steigerung […] durch ein Mosaik an Miniaturszenen ersetzt.« Vgl. -e-: »Richard Oswalds Dreyfus«, in: Film-Kurier 193/194 (18.8.1930). 46 Mühl-Benninghaus: »1914. DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND (1930)«, S. 109. 47 Ebd., S. 108.
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Siegfried Kracauer sind die einzelnen Elemente dieser Kompositionsweise seinerzeit nicht entgangen. Er konnte diese zwar nicht goutieren und qualifizierte 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND daher pauschal als »Gespensterreigen« ab. Treffend bleibt jedoch seine Beobachtung, der Film veranschauliche das Unwesen der historischen Figurinen, die in zwölfter Stunde zu sichtbaren Exponenten des großen Kräftespiels wurde. […] Es fehlen die montagemäßigen Bindungen zwischen den Auftritten, es fehlt die überragende optische Einheit, die dem ganzen Film eine Gestalt verliehe.48
Geht man jedoch davon aus, dass es sich hierbei um eine bewusste Inszenierungsstrategie Oswalds handelt, so scheint es weder angebracht, von der »steifen, tableauxartigen Dramaturgie«49 des Films enttäuscht zu sein, noch ihm eine Neigung zur »willkürlichen Episodik«50 vorzuwerfen. Vielmehr wären sowohl die auffällige Zurückhaltung in der filmischen Darstellungsweise als auch die offene dramaturgische Fügung Bestandteile eines Gestaltungskonzepts, das dokumentarisch orientiert und auf die geduldige Hervorlockung der inneren Konflikte der Protagonisten (hier vor allem Schünzels Zar Nikolaus II.) und überholten Ehrbegriffe der Adelsepoche konzentriert ist. Wenn Oswald seine Figuren immer wieder zu emblematischen Tableaus arrangiert, in behutsamen Kamerafahrten den beengten Raum eines Kabinetts erkundet51 und nur selten mit einer Nahaufnahme eine mimische Regung
48 Kracauer, Siegfried: »1914«, in: Frankfurter Zeitung vom 22.1.1931; zitiert nach dem Wiederabdruck in: Kracauer, Siegfried: Werke, Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film 1928-1931, hg. v. Inka Mülder-Bach, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 444. 49 Bock, Hans-Michael: »Biographie«, S. 130. 50 Mühl-Benninghaus, »1914. DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND (1930)«, S. 109. 51 Tatsächlich erforderte die dominierende Inszenierungsform in tableau-artigen Plansequenzen technisch einen weitaus höheren Aufwand als die übliche Szenenauflösung in mehrere Einstellungen. Um sicherzustellen, dass die Dialogzeilen aller an einer Szene beteiligten Figuren gleichmäßig verständlich waren, wurde von Charles Métain für die Filmaufnahmen eigens ein besonderer Tongalgen konstruiert, der durch Druck eines Hebels geschwenkt werden konnte. Vgl. »Kriegsausbruch à la DREYFUS«, in: Film-
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oder die leere Hülle einer militärischen Haltung herausstreicht, so steht dahinter ein ästhetisches Kalkül, dessen Bedeutung sich in den letzten Worten erschließt, die in 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND fallen. In ihnen lässt Oswald Heinrich George als Jean Jaurés die an das Gegenwartspublikum gerichtete demokratische Botschaft des Films formulieren, deren Überzeugungskraft exakt auf der spezifischen klaustrophobisch-monadischen Form beruht, die der Regisseur ihm gegeben hat: »Dieser Krieg ist in den Kabinetten entstanden. Wir müssen die Türen der Kabinette aufreißen. Wir müssen das Volk entscheiden lassen. Ich klage an!« Die primär politisch wertenden Rezensenten des Jahres 1931 lobten den »Geschichts-Bildbericht« zwar für seine »Tatsachen-Photographie«,52 zeigten jedoch wenig Interesse, unterhalb der Genreetikettierungen einem innovativen und in sich schlüssigen ästhetischen Entwurf nachzuspüren. Gesteht man ihn heute jedoch zu, so könnte dies am Ende plausibel machen, weshalb Oswald von 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND im Rückblick immer als seinem »besten Film« gesprochen hat.
U NTERIRDISCHES IM G LANZLICHT : F ANTASTISCHE F ILME Mit ALRAUNE (1930) und UNHEIMLICHE GESCHICHTEN (1932) greift Oswald zwei Stoffkreise wieder auf, die bereits in der Stummfilmzeit – teils sogar mehrfach – zur Verfilmung herangezogen worden waren: die u.a. aus Motiven von Erzählungen Edgar Allen Poes und Robert Louis Stevensons kombinierten UNHEIMLICHE GESCHICHTEN 1919 von Oswald selbst; ALRAUNE nach dem erstmals 1911 erschienenen Roman von Hanns Heinz Ewers zuerst 1918 in der Regie von Mihaly Kertész und 1928 noch einmal in der Regie von Henrik Galeen. Oswalds Neuverfilmungen Anfang der 1930er Jahre stehen damit im Kontext einer nicht nur auf das deutschsprachige Kino beschränkten, hier jedoch be-
Kurier 259 (1.11.1930), 4. Beiblatt. Bei den Aufnahmen zu DREYFUS musste das Mikrofon zuweilen noch in entsprechend platzierten Requisiten, etwa einem Sektkübel, untergebracht werden. Vgl. »G’schichten vom Mikrophon. Der rettende Sektkübel«, in: Film-Kurier 163 (12.7.1930). 52 Feld, Hans: »1914«, in: Film-Kurier, Nr. 17 (21.1.1931).
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sonders stark ausgeprägten Tendenz dieser Zeit, ein utopisch-fantastisches Stoffreservoir für den Tonfilm neu zu beleben. Neben den beiden Beiträgen Oswalds zeugen etwa die Tonfilm-Remakes DER ANDERE (1930, Regie: Robert Wiene), DER TUNNEL (1933, Regie: Kurt Bernhardt), DER STUDENT VON PRAG (1935, Regie: Artur Robison) und auch Dreyers VAMPYR (1932) von dieser Tendenz. Ernst Bloch hat an dieser Welle fantastischer Filmreprisen einen signifikanten Wandel im ästhetischen Gehalt und gesellschaftlichen Umgang mit dem Genre wahrgenommen, der konkret an den FRANKENSTEIN-Filmen der Universal und Robert Wienes DER ANDERE festgemacht wird, jedoch auch auf Oswalds Remakes gewendet werden kann. »Kehren jetzt aber gruselige Stoffe wieder«, schreibt Bloch 1932, »dann haben sie unterdes etwas erfahren. Sie sind erst recht zu etwas zuständig, zu unbestimmten Wünschen des Publikums, zur Flucht ins Grauen, zu bestimmten Absichten der Hersteller.«53 An der neuerlichen Kinokonjunktur klassischer Gruselstoffe, die ihren wirtschaftlichen Grund nicht zuletzt darin fand, dass Tonfilmrechte unabhängig von früheren Vereinbarungen neu verfügbar geworden waren, erschien dem zeitkritischen Essayisten Bloch aufschlussreich, »daß gerade diese Wanderfabeln in unsrer Zeit immer rascher rotieren und immer größere Stücke Gegenwart bezeichnen; als wären sie nicht nur Romantik, sondern Prognose. Prognose von neuer Angst, neuer Ungeborgenheit […], Zeichen eines zu Ende laufenden Zeitalters, das seine Mitternachtsglocke hört.«54
Nicht mehr die neoromantische Emphase des Stummfilms sei diesem Zeitalter der existenziellen Ungeborgenheit und des psychopathologischen Alltagserlebens angemessen, »jede Geste ist im Zeitalter der Bedrohung geladen geworden, verbirgt oder bedeutet dann Unterirdisches im Glanzlicht.«55 Die ästhetische und zugleich gesellschaftliche Funktion der zeitgenössischen Tonfilm-Fantastik bestehe Bloch zufolge darin, dass sie aus
53 Bloch, Ernst: »Bezeichnender Wandel in Kinofabeln« [1932], in: Literarische Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 75-78, Zitat S. 75. 54 Ebd., S. 77. 55 Ebd., S. 77.
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der Durcharbeitung alter Stoffe neue, einzig der filmisch-sachlichen Alltagsbeobachtung gegebene Mythen schaffe: »Wanderfabeln, die sich dergestalt aus bloßen Gesten und Dingen gebildet haben; nämlich aus solchen tausendfach wiederkehrender, doch erst im Film bemerkter Art. Dadurch, daß diese Gesten in den Film wandern, darin bei guter Regie von selber weiterwandern, werden sie erst zu Fabeln, zu unscheinbaren, gewiß doch.«56
Selbst wenn man Blochs sozialpsychologische Deutung dahingestellt sein lässt, weisen seine Bemerkungen doch auf entscheidende Veränderungsprozesse in der filmischen Auffassung fantastischer Stoffe. Für ein Verständnis dieser Verschiebungen kann Oswalds Tonfilmfassung von ALRAUNE mit einigem Recht als Schlüsselfilm gelten, stand er doch aufgrund seiner Produktionsumstände in besonderem Maße unter Innovationsdruck: Zum einen hatte er sich von seinem nur knapp zwei Jahre zuvor entstandenen Stummfilm-Pendant, das 1930 noch gelegentlich in deutschen Kinos zu sehen war, entschieden abzusetzen. Zum anderen stellte Oswald ALRAUNE im Auftrag der Ufa her, die für die Tonfilmrechte an Ewers’ Buch eine erkleckliche Summe bezahlt und dem Projekt mit Brigitte Helm – nun schon das zweite Mal innerhalb von zwei Jahren in der Doppelrolle der Alraune bzw. ihrer Mutter, der Dirne Alma, zu sehen – einen ihrer größten weiblichen Stars zur Verfügung gestellt hatte.57 Oswald und seinen Autoren Charlie K. Roellinghoff und Robert Weisbach gelingt eine grundsätzliche Neuprofilierung des Stoffes. Im Unterschied zur Version Galeens interpretieren sie die Geschichte vom Wurzelwesen Alraune, das auf Betreiben eines gewissenlosen Wissenschaftlers (Albert Bassermann) aus der künstlichen Befruchtung einer Dirne mit dem Samen eines unterdessen hingerichteten Mörders gezeugt wird, mit mehr Gespür für psychologische Nuancen. Sie stellen die unheimliche Dimension der Geschichte weniger exaltiert in den Raum und sind nicht auf eine Dämonisierung und moralische Verurtei-
56 Ebd., S. 78. 57 Die Rede ist von einer Summe bis zu einer Million Reichsmark. Zu den Verhandlungen der Ufa mit Ewers vgl. Keiner, Reinhold: Hanns Heinz Ewers und der phantastische Film, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1988, S. 56f.
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lung der Titelfigur aus. Vielmehr gilt ihr Interesse einer Alraune, die als Opfer im Schnittpunkt von Naturmystik und moderner Biowissenschaft kenntlich wird. Das physische und das metaphysische Erklärungsmodell für Alraunes Verhalten in der Schwebe zu halten, rationalen Wissenschafts- und irrationalen Aberglauben in der Balance, bildete dabei für Oswald – ganz im Sinne von Todorovs späterer Definition des Fantastischen58 – den Kern des dramaturgischen und inszenatorischen Kalküls. »Da man aber im Film Übernatürliches nicht glaubt«, gibt er am Tag der Premiere seines Films zu Protokoll, »mußte man versuchen, die Geschehnisse logisch zu machen. Es sind keine Wunder, die hier geschehen, es ist Zufall, es ist Bestimmung.« 59 Alraune erscheint daher auch nicht eindimensional triebgesteuert wie bei Galeen (und auch schon bei Ewers), sondern als eine von inneren Verwerfungen Gezeichnete an den Fäden eines ihr selbst unergründlichen Geschicks. Das Verderben, in das die Männer stürzen, deren Begehren sie ohne bewusstes Zutun weckt, macht in Oswalds Lesart auch sie zum Opfer. Als solches aufgefasst, steht ihr am Ende denn auch nicht – wie in Galeens Version – der Weg der Läuterung zum Happy End offen, sondern – in dieser Hinsicht der Romanvorlage näher – einzig der Freitod als willentliche Selbstvernichtung der physisch-natürlichen Substanz, in der ihr Fluch nistet und zuletzt noch den Geliebten (Harald Paulsen) bedroht. Die Re-Interpretation der Alraune-Figur eröffnet Oswald einen psychologischen Spielraum, der auf Geschlechter- und Verhaltenstypisierungen verzichten kann. Stattdessen setzt er – nach DREYFUS zum zweiten Mal in einem Tonfilm – auf die kammerspielartige Fokussierung des zentralen Konflikts zwischen Bassermanns Geheimrat ten Brinken, der sich in einem Akt wissenschaftlicher Hybris zum Schöpfer aufwirft, und seinem Geschöpf, dem er selbst mehr und mehr zu verfallen droht. Der Gestus, in dem die Paar-Konstellation ihrem dramatischen Höhepunkt entgegen geführt wird, ist, sieht man vom gelegentlichen Einsatz starker Helldunkel-Kontraste ab, unterkühlt. Fast sachlich werden Abstieg und innerer Zerfall ten Brinkens dem Publi-
58 Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 31ff. 59 Oswald, Richard: »ALRAUNE«, in: Film-Kurier 284 (2.12.1930).
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kum vor Augen geführt, eher einer kriminalistischen Logik verpflichtet als den Konventionen melodramatischer Inszenierung.60
Abb. 4
Alraunes Aufbegehren gegen Fremdbestimmung, sei sie patriarchalischer, genetischer oder mystischer Natur, erscheint in diesem Zusammenhang als nur leicht verzerrte Spiegelung der Bedürfnisse einer modernen Frau um 1930. In der entscheidenden Szene, in der Alraune ihre eigentliche Herkunft enthüllt wird, versteht es Oswalds Inszenierung, die aktualisierte und psychologisierte Vordergrund-Handlung im Zusammenspiel von Geste und Dekor mit dem fantastischen Hintergrund-Motiv eng zu führen. In dem Moment, in dem Alraune von der um ihr Geld betrogenen Fürstin eröffnet wird, dass sie nicht die Nichte des Geheimrats, sondern der von ihm künstlich erzeugte Spross einer Dirne und eines gehenkten Mörders ist, legt die Inszenierung die unheimliche Dimension des Geschehens als visuelle Schicht unter der inhaltlich-dramatischen frei: Die von Alraune als Reaktion auf diese Mitteilung hin angenommene Körperhaltung formt sich zu einem visuellen Echo des zuvor bereits dominant ins Bild gerückten geschwungenen Wandbogens im Wohnzimmer ten Brinkens, der jedoch erst in
60 Todorov verweist auf die enge, aber auch widersprüchliche Verwandtschaft zwischen den literarischen Regimes des Fantastischen und des Kriminalistischen, weshalb er auch davon ausgeht, dass die Kriminalgeschichten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in direkter Nachfolge der Geisterund Gespenstergeschichten des 18. Jahrhunderts stünden. Vgl. Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, S. 37f.
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dieser doppelt auf die Gestalt der Zauberwurzel verweisenden Figuration seine bildkompositorisch konkrete Funktion erhält (Abb. 4). Ausgestaltet ist hier das fantastische Motiv der »übernatürlichen« Fügung als formale. Es ist damit nicht verloren, sondern – »aus bloßen Gesten und Dingen gebildet« – in einen Bereich der Mehrdeutigkeit verschoben, der es auch einem zeitgenössischen Publikum annehmbar erscheinen lässt. Die Entscheidung, UNHEIMLICHE GESCHICHTEN 1932 ein zweites Mal filmisch aufzubereiten, dürfte für Oswald nicht nur als Folgeproduktion zu ALRAUNE aus wirtschaftlichen Gründen nahe gelegen haben. Der Regisseur wird in diesem Projekt auch die Herausforderung gesehen haben, den Stoff noch einmal unter Einschluss akustischer Gestaltungsmittel zu bearbeiten, die ihm in der Stummfilmfassung noch nicht zur Verfügung gestanden hatten. Hatte er seinerzeit seine Aufgabe noch darin gesehen, »das Unheimliche, das mehr im Akustischen als im Optischen liegt, ins Optische umzusetzen«, so muss es ihn nun gereizt haben, etwa »das Abbröckeln von Mörtel von der Wand«, wie es in Edgar Allan Poes Die schwarze Katze so einprägsam evoziert wird, im Tonfilm endlich auch akustisch angemessen zur Geltung zu bringen.61 Gemeinsam mit seinen Drehbuchautoren Heinz Goldberg und Eugen Szatmári nimmt Oswald die Gelegenheit wahr, um die einzelnen literarischen Motive neu zu arrangieren, ihre Gestaltung tonfilmgemäß durchgreifend zu bearbeiten und dem gesamten Stoffkreis eine veränderte Auffassung zu geben. Der neue Entwurf verzichtet auf die Rahmenhandlung der Stummfilmversion, beschränkt sich auf zwei der dort bereits vorhandenen Motive – Die schwarze Katze und Der Selbstmörderklub –, ergänzt sie durch ein weiteren Poe-Stoff und bindet die einzelnen Episoden zu einer fortlaufenden Handlung zusammen, indem er den namenlosen »Mörder« (Paul Wegener) seinem Verfolger, Stevensons Journalisten Frank Briggs (Harald Paulsen), zunächst zweimal knapp in die Irrenanstalt aus Poes The Method of Thear and Fedders bzw. das Haus des Selbstmörderklubs entkommen lässt. Bereits die Exposition des Films gibt dabei die wesentlichen ästhetischen und dramaturgischen Neuerungen vor: Aus Poes Trunkenbold, der im Affekt seine Frau umbringt, diese mitsamt ihrer geliebten Katze
61 Richard Oswald, zitiert bei Jawitz, Eduard: »Mein ideales Manuskript. Gespräche mit Regisseuren«, in: Film-Kurier 76 (28.3.1924).
D OKUMENT UND F ANTASIE
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im Keller seines Hauses einmauert, wodurch die Tat doch noch entdeckt wird, ist nun ein von seinen mechanischen Spielfiguren und Maschinen besessener Erfinder geworden, dem der Bezug zur Wirklichkeit, inklusive seiner Frau, restlos verloren gegangen ist. Oswald eröffnet den Film mit einer lang gezogenen Kamerabewegung über die Galerie mechanischer Puppen hinweg, begleitet von einer Geräuschkaskade, die die visuelle Reizanflutung noch übertrifft. Damit ist nicht nur eine Verlagerung des Unheimlichen ins Akustische annonciert, sondern ebenso eine Formel für die visuelle Gestaltung und Figurenzeichnung vorgegeben. Während auf der relativ dialogarmen Tonspur Glockenschläge, mechanische Geräusche wie das Ticken einer Uhr, Schreie und Schritte eine reiche Textur des Nervenkitzels bilden, wirken die sichtbaren Vorgänge vor der Kamera, die auf kaum ein Stereotyp des Horrorgenres verzichten, merkwürdig zitiert, ihrerseits als Puppenspiel ins Parodistische entrückt. Dieser ironische Zitatcharakter haftet Paul Wegener, der nach einer längeren Leinwandpause für diesen Film reaktiviert wurde, ebenso an, wie dem mächtigen Schatten, den er fast den gesamten Film hindurch hinter sich her zu tragen hat. Wo Oswalds Stummfilmversion sich auf ihre konkreten literarischen Rollenvorgaben stützte, greift die Tonfilmfassung bewusst auf mittlerweile urtypische kinematographische Modelle zurück: von Caligari (dem Eugen Klöpfers Figur des verrückten Anstaltsdirektor merklich nachempfunden ist) bis zum Motiv des Wachsfigurenkabinetts (das im mittleren Teil als Handlungsscharnier eingeführt wird), von METROPOLIS (an den das fortlaufende Verwirrspiel zwischen Mensch und Maschine gemahnt) bis zu Mabuse (auf den in der SelbstmörderklubEpisode angespielt wird und der damit wieder mit seinem literarischen Archetypus verschmolzen ist). Spätestens als am Ende Wegeners schillernder Bösewicht sich in das Panoptikum der legendären Mörder, Monster und Spitzbuben der (Film-)Geschichte einreiht, konnten sich auch zeitgenössische Kritiker des Eindrucks kaum mehr erwehren, dass sich hier ein Film dem Horrorgenre zugesellt, der sich auf jener Grenze bewegt, an der »das Grausige ins Komische umschlägt«.62 Oswalds Beiträge zum fantastischen Genre der frühen Tonfilmzeit ziehen damit, wenn auch auf jeweils unterschiedliche Weise, die Konsequenz aus einem Technik- und Bewusstseinswandel, der sie histo-
62 H. W-g. [d.i. Wollenberg, Hans]: »UNHEIMLICHE GESCHICHTEN«, in: Die Lichtbild-Bühne 211 (8.9.1932).
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risch von ihren jeweiligen Stummfilm-Vorlagen trennt und an ihnen als Stilwandel des Fantastischen hervortritt. Sie positionieren sich in einem gesellschaftlichen Umfeld, dem Oswald jeden Glauben an Übernatürliches abgesprochen und dessen Geisteshaltung einmal mehr Ernst Bloch mit den Worten umrissen hat: »Die elektrische Birne, setzt sie aus, so zeigt sie keine Geisterwelt an, die das Licht erdrückt, sondern Kurzschluß oder Reparatur im Elektrizitätswerk. […] Kurz, die moderne Technik […] läßt der Spukwelt kein Requisit mehr übrig, wenigstens nicht in der romantischen Gestalt, und was ist ein Gespenst ohne Romantik?«63
Als Tonfilme bemühen ALRAUNE und UNHEIMLICHE GESCHICHTEN nicht mehr nur das affektive Wirkungspotenzial eines kinematographischen Schattenspiels, sondern siedeln ihren »Horror« in der Ambivalenz von Ton- und Bildwahrnehmung an. Wo UNHEIMLICHE GESCHICHTEN einen ironischen, zumindest aber ins Groteske tendierenden Umgang mit den schauerromantischen Stereotypen des Genres pflegt und ihnen gegenüber Kriminalhandlung und Technikfetischismus in Stellung bringt, entfaltet ALRAUNE seinen Schrecken in der metaphysischen Dimension, die hinter der naturalistischen Geste lauert. Beiden gemeinsam ist dabei, den zeitgemäßen fantastischen Effekt darin zu suchen, dass sie das Unheimliche einsenken ins rationalistische Dekor der Lebenswelt.
63 Bloch, Ernst: »Technik und Geistererscheinungen« [1935], in: Literarische Aufsätze, S. 358-365, Zitate S. 359, 364.
6 | Risse im Erlebnissystem Universal und IM WESTEN NICHTS NEUES
Die Einführung des Tonfilms stellte nicht nur Schauspielerinnen wie Asta Nielsen und Regisseure wie Richard Oswald vor neue Herausforderungen, sie veränderte in den Jahren 1929 bis 1932 die internationale Filmwirtschaft insgesamt. Als neue Produktnorm erforderte der Tonfilm grundsätzliche Umstellungen auf dem Produktions- und Aufführungssektor wie auch in der Vertriebspraxis. Hier drohte die neue Handelsware der Filmindustrie die Vormachtstellung Hollywoods auf dem sich in einzelne Sprachgebiete zersplitternden Weltmarkt nachhaltig zu erschüttern. Schnell sollte sich erweisen, dass Louis B. Mayers Anfang 1928 geäußerte Zuversicht, der Tonfilm würde dank der weltweiten Popularität amerikanischer Produktionen endgültig das Englische als »Universalsprache« durch- und so die Internationalität des Stummfilms bruchlos fortsetzen können,1 auf einer unzutreffenden Prognose der Marktsituation, ihrer wirtschaftlichen Dynamik und kulturellen Determinanten beruhte: Innovation und Instabilität, Kreativität und Krisenmanagement bestimmten den internationalen Filmhandel der kommenden Jahre.
1
Zitiert nach Thompson, Kristin: Exporting Entertainment. America in the World Film Market, 1907-1934, London: BFI Publishing 1985, S. 158. Schon mit dem Begriff der »universal language« schloß Mayer an einen feststehenden Topos zur Beschreibung der Internationalität des Stummfilms an. Vgl. zu letzterem Hansen, Miriam: Babel & Babylon. Spectatorship in American Silent Film, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press 1991, S. 76ff.
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Bei der Beschreibung der Maßnahmen, die die amerikanische Filmindustrie in diesen Jahren ergriff, um ihre Auslandsmärkte zu sichern, stehen die führenden Unternehmen Hollywoods traditionell im Mittelpunkt des filmhistorischen Interesses: Die wissenschaftliche Diskussion der Tonfilmumstellung und ihrer Auswirkungen auf das Filmexportgeschäft hat sich weitgehend auf jene Strategien konzentriert, mit denen Paramount und M-G-M ihre kurzzeitig gefährdete Stellung im internationalen Filmgeschäft sichern, Fox, Warner und RKO ihre Marktpositionen grundlegend ausbauen konnten.2 Gegenüber den Firmen, die aus den Wirren der frühen Tonfilmjahre als die »großen Fünf« hervorgehen sollten, ist die Rolle der Universal Pictures – vor Columbia und United Artists 1928 die größte der »kleinen Drei« – in diesem Zusammenhang vergleichsweise wenig erforscht. Mit welchen Mitteln reagierte die Universal auf die Einführung des Tonfilms? Wie veränderte sich ihre Marktposition und wie gestaltete sie ihre internationale Firmenstrategie während dieser entscheidenden filmhistorischen Umbruchphase? Wie und unter welchen Vorzeichen veränderte sich die Firmenstruktur der Universal um 1930? Wie wirkten sich die Auseinandersetzungen um europäische Patentrechte und Einfuhrkontingente konkret auf die Exportpolitik aus? Welche Adaptionstechniken wurden zur Überwindung von Sprachgrenzen und kulturellen Barrieren entwickelt und eingesetzt? Mit welchen »Produkten« schließlich glaubte Hollywood ab 1929 in Europa den veränderten Publikumserwartungen am ehesten gerecht zu werden? Bei der Beantwortung dieser Fragen könnten die Aktivitäten der Universal auf dem deutschen Markt angesichts der großen Aufmerksamkeit, die das Unternehmen des schwäbischen Auswanderers Carl Laemmle Deutschland als filmwirtschaftlichem wie kulturellem Referenzpunkt seit je her zukommen ließ, nützliche Hinweise geben. Im Zentrum dieser Aktivitäten stand in den Jahren 1928 bis 1934 die Deutsche Universal. Deren mehrfach veränderte Unternehmensform und neu definierten Geschäftsbereiche waren Teil einer zur Sicherung
2
Zu nennen sind hier in erster Linie die Arbeiten von Douglas Gomery, seit kurzem gesammelt in: Gomery, Douglas: The Coming of Sound. A History, New York/Oxon: Routledge 2005. Vgl. a. O’Brien, Charles: Cinema’s Conversion to Sound. Technology and Film Style in France and the U.S., Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 2005.
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des deutschen Marktes entwickelten Strategie, die zu denen der tonangebenden amerikanischen Filmfirmen eine noch wenig beachtete historische Alternative darstellt. Zur Rekonstruktion der historischen Entwicklung, aber auch der technischen, ästhetischen und kulturellen Implikationen dieser alternativen Marktstrategie der Universal in Deutschland soll im Folgenden zunächst nach den Beweggründen für die Verlegung der Herstellung deutscher Exportfassungen von Hollywood nach Berlin gefragt werden. Auf welche technischen Grundlagen die deutschen Fassungen der Universal-Filme sich dabei stützten und wie die Arbeiten in Berlin konkret abliefen, wird anschließend skizziert. Die frühe Importpraxis der Universal unterschied ihre Produktionen für den deutschen Markt nicht nur in deren ästhetischer Beschaffenheit von denen anderer amerikanischer Produktionsfirmen, sie wirkte auch – wie an der Rezeption der deutschen Synchronfassung von ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (IM WESTEN NICHTS NEUES, 1930, Regie: Lewis Milestone) gezeigt werden soll – in die (kultur-)politischen Debatten der letzten Jahre der Weimarer Republik hinein. Auf die Fragen, welche Lehren die Universal aus dem Eklat um IM WESTEN NICHTS NEUES zog und wie sie sich in der Folgezeit auf einem ideologisch überdeterminierten gesellschaftlichen Kräftefeld neu zu positionieren versuchte, soll abschließend eingegangen werden.
D IE T ONFILMUMSTELLUNG »U NIVERSAL -M ODELL «
UND DAS
Die Gründung einer deutschen Verleihfiliale »Universal-Matador« im Mai 1927 war zunächst für damalige Geschäftspraktiken amerikanischer Filmfirmen keineswegs außergewöhnlich.3 Ebenso lag die Er-
3
Die Fox hatte ihre deutsche Filiale, aus der später die Deutsche Fox hervorging, bereits 1924 gegründet. Im August 1925 hatten die United Artists eine Beteiligung an der International Film AG (Ifa Film-Verleih) erworben, um ihre Produktionen am deutschen Markt zu platzieren. Paramount und M-G-M hatten den flächendeckenden Vertrieb ihrer Filme durch die Ufa im Rahmen des Parufamet-Vertrags Ende 1925 sichergestellt. Warner Brothers’ First National gründete im August 1927 ihre deutsche Filiale, die
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weiterung auf den Vertrieb inländischer Produktionen unter dem neuen Namen Deutsche Universal-Film-Verleih GmbH ein Jahr später durchaus im Trend der Maßnahmen, mit denen die amerikanische Filmindustrie auf die Novellierung der Einfuhrkontingentregelung und die Krise des deutschen Marktführers Ufa reagiert hat.4 Charakteristisch für die Universal war lediglich, dass Carl Laemmle das verstärkte Engagement seiner Firma von deutschen Kinobesitzern auch als Ausdruck seiner besonderen persönlichen Beziehung zur deutschen Kultur verstanden wissen wollte: »Ich habe keine Kosten und keine Mühe gescheut, Europa, und ganz besonders Deutschland, mit jenem Material zu versorgen, das Sie gerne sehen wollen. Ich stehe auf dem Standpunkt der absoluten Völkergemeinschaft in bezug auf die Filmproduktion und ich brauche Ihnen nicht erst zu erzählen, daß bei der Universal fast so viele Deutsche beschäftigt sind wie Amerikaner. Wenn ich Ihnen einen amerikanischen Film bringe, dessen Regisseur Paul Leni und dessen Hauptdarsteller Conrad Veidt ist, so bringe ich Ihnen in Wirklichkeit einen deutschen Film. Nur gesellt sich in diesem Falle zur deutschen Kunst amerikanische Technik – es ergeben sich also nur Vorteile.«5
Deutsche First National. Zur Entwicklung der deutschen Filialgründungen amerikanischer Produktionsfirmen in den 1920er Jahren vgl. Saunders, Thomas: Hollywood in Berlin. American Cinema and Weimar Germany, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1994, S. 51ff. 4
Im Oktober 1925 hatte Universal den deutschen Vertrieb ihrer Produktionen zunächst exklusiv an das Filmhaus Bruckmann übertragen, das ab April 1926 auch für den deutschen Vertrieb von Warner Bros. zuständig war. Als Gegenleistung für einen Kredit in Höhe von 15 Millionen Reichsmark hatte die Ufa 1926/27 zehn Universal-Filme pro Jahr auf den deutschen Markt gebracht. Diese Vereinbarung wurde im November 1927 von der Universal gelöst, die wohl zu diesem Zeitpunkt bereits die Gründung eines eigenen Verleihs plante, nachdem ebenfalls im November 1927 ein neues Kontingentsystem verabschiedet worden war, das die Zahl importierter Filme für den Zeitraum vom 1. April 1928 bis 30. Juni 1929 im Verhältnis zwei zu eins zugunsten einheimischer Produktionen festsetzte.
5
Carl Laemmle an die deutschen Kinobesitzer. In: Film-Kurier 107/108 (5. 5.1928). Vgl. a. Laemmle, Carl: Die Internationalisierung des Films und Deutschland. In: Film-Kurier 1 (1.1.1928).
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In den Jahren 1930/31 wurde die Deutsche Universal kontinuierlich zum Herstellungs- und Vertriebszweig von Eigen- und Auftragsproduktionen sowie von deutschsprachigen Synchronfassungen ausgebaut. Damit wurde unter dem Eindruck der Tonfilmumstellung eine Marktstrategie umgesetzt, die von den zu jener Zeit dominierenden Exportpraktiken anderer amerikanischer Filmfirmen erheblich abwich: sowohl vom »Paramount-Modell« einer zentralisierten Produktion von europäischen Fremdsprachenversionen in den zu diesem Zweck erworbenen Studios in Paris-Joinville als auch vom »M-G-M-Modell« der Einfuhr europäischen Filmpersonals zur Produktion von Mehrsprachenversionen nach Hollywood.6 Die alternative Strategie des »Universal-Modells« bestand darin, dass für den deutschen Markt von Anfang an generell nachsynchronisiert wurde; und dass diese Synchronfassungen ab Herbst 1930 von der Tochterfirma in Deutschland hergestellt wurden. Der Ausnahmecharakter des Universal-Modells wird deutlich, wenn man betrachtet, welche Optionen amerikanischen Firmen in der frühen Tonfilmzeit zur Herstellung von Exportfassungen zur Verfügung standen und welche für den deutschen Markt relevant waren. Eine Übersetzung des gesprochenen Originaldialogs durch Kommentar, Zwischen- oder Untertitel kam für den deutschen Markt prinzipiell nicht in Frage, sondern wurde vor allem für Länder mit weniger entwickelter nationaler Filmproduktion und Sprachgebiete geringeren Umfangs verwendet.7 Es blieben die Möglichkeiten der Versionenproduktion, bei der deutsche oder deutschsprachige Schauspieler die amerikanischen bei der Filmaufnahme ersetzten,8 sowie der Herstellung
6
Vgl. Vincendeau, Ginette: »Hollywood Babel. The Coming of Sound and the Multiple-Language Version«, in: Andrew Higson/Richard Maltby (Hg.), »Film Europe« and »Film America«. Cinema, Commerce and Cultural Exchange 1920-1939, Exeter: University of Exeter Press 1999, S. 207; Durovicova, Nataša: »Translating America. The Hollywood Multilinguals 1929-1933«, in: Rick Altman (Hg.), Sound Theory/Sound Practice. New York/London: Routledge 1992, S. 147.
7
Vgl. Thompson: Exporting Entertainment, S. 163; Vasey, Ruth: The World According to Hollywood, 1918-1939, Exeter: University of Exeter Press 1997, S. 97.
8
Im Unterschied zur europäischen Produktionspraxis drehten amerikanische Firmen ihre Sprachversionen nicht parallel, sondern als fremdsprachige
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von synchronisierten Sprachfassungen, bei denen lediglich der Dialog, also die Schauspielerstimmen nachträglich ersetzt wurden. Betrachtet man die quantitative Verteilung von Sprachversion und Synchronfassung für die ersten beiden Tonfilmspielzeiten in Deutschland, so waren die Sprachversionen zu diesem Zeitpunkt auf dem deutschen Markt eindeutig dominant: Bei nur etwa 10% der ausländischen Tonfilme, die 1930/31 in deutscher Sprache auf den Markt kommen, handelte es sich um synchronisierte Fassungen. Von den 24 ausländischen Spielfilmen, die 1930 als so genannte »100%ige Tonfilme« (Dialog, Geräusche, Musik) in deutsche Kinos kamen, liefen nur vier in englischer Originalfassung mit deutschen Titeln bzw. Rahmenhandlungen. Ihnen standen 19 Filme in deutscher Sprache gegenüber. Von diesen 19 waren aber nur zwei in Deutschland nachsynchronisiert worden – die Universal-Produktionen CAPTAIN OF THE GUARD (DER KAPITÄN DER GARDE, Regie: John S. Robertson) und IM WESTEN NICHTS NEUES. Von den 64 ausländischen Tonfilmimporten, die 1931 uraufgeführt wurden, liefen 52 in einer deutschen Sprachversion, davon lediglich sechs in einer in Deutschland nachsynchronisierten Fassung.9 Drei dieser sechs Filme waren die Universal-Produktionen HELL’S HEROES (GALGENVÖGEL, Regie: William Wyler), STORMS (STÜRME, Regie: Wyler) und RESURRECTION (WO DIE WOLGA FLIESST, Regie: Edwin Carewe). Die Universal war somit die einzige amerikanische Filmfirma, die 1930/31 ihre Produktionen als Teil einer bewussten Importstrategie für den deutschen Markt im Zielland nachsynchronisieren ließ.
Remakes nachträglich auf der Grundlage der amerikanischen Version. Vgl. Krützen, Michaela: »›Esperanto für den Tonfilm‹. Die Produktion von Sprachversionen für den frühen Tonfilm-Markt«, in: Schaudig, Michael (Hg.), Positionen deutscher Filmgeschichte. 100 Jahre Kinematographie: Strukturen, Diskurse, Kontexte, München: Diskurs Film 1996, S. 134f. 9
Statistische Angaben nach Wolffsohn, Karl (Hg.): Jahrbuch der Filmindustrie, 5. Jg., Berlin: Verlag der Lichtbildbühne 1933, S. 259.
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U NIVERSAL UND E UROPA : P RODUKTIONSSTRATEGIEN
DER
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1920 ER J AHRE
Sucht man Erklärungsmodelle für diesen deutschen »Sonderweg« der Universal in die frühe Tonfilmzeit, muss man einige Jahre zurückgehen. Die starke Konzentration der Universal auf das Auslandsgeschäft leitete sich wirtschaftlich zunächst aus ihrer ungünstigen Stellung innerhalb der amerikanischen Kinolandschaft ab. Mit ihrer billigen Konfektionsware – die ihr den Ruf einbrachte, das »Woolworth der amerikanischen Filmproduktion« zu sein – bediente die Universal in den 1920er Jahren zwar mit zunehmendem Erfolg Kinos in Kleinstädten und ländlichen Gebieten, verpasste damit aber die Chance, ihre Produktionen in großstädtischen Erstaufführungskinos zu platzieren. Als sich die Universal 1925 relativ spät um den Aufbau einer eigenen Kinokette und somit die vertikale Integration des Unternehmens bemühte, musste sie sich dabei auf den Erwerb kleinerer Kinos in den nordamerikanischen Provinzen beschränken. Die lukrativen Spielstätten in den urbanen Zentren der USA befanden sich entweder bereits im Besitz anderer Produktionsfirmen oder waren vertraglich an diese gebunden. Auf dem Höhepunkt ihrer Akquisitionstätigkeit besaß die Universal 1928 über Kanada und ganz Nordamerika verstreut 315 kleinere Kinos, die sie jedoch in den Jahren zwischen 1929 und 1933 sukzessive wieder verkaufen musste, da sie die im Verhältnis zu den geringen Kapazitäten der einzelnen Häuser beträchtlichen Investitionen in eine komplette Tonfilmausstattung ihres Theaterparks nicht aufbringen konnte.10 Lediglich in Europa gelangte die Universal in den 1920er Jahren vor allem mit ihren dort ausgesprochen erfolgreichen Western- und Horrorfilmen – letztere unter Beteiligung deutscher Filmschaffender wie Paul Leni und Conrad Veidt – kontinuierlich in die großen Erstaufführungskinos mit entsprechender Öffentlichkeitswirkung. Nicht zuletzt mit Blick auf den europäischen Markt und angesichts des Kapitals, das prominente europäische Regisseure und Darsteller wie Leni und Veidt in dieser Hinsicht darstellten, fügte die Universal Ende der 1920er Jahre ihrer Produktpalette kostspielige Prestigeproduktionen wie THE MAN WHO LAUGHS (1927/28, Regie: Paul Leni), UNCLE
10 Vgl. Gomery, Douglas: The Hollywood Studio System, London: Macmillan/BFI Publishing 1986, S. 150f.
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TOM’S CABIN (1928, Regie: Harry A. Pollard), THE LAST WARNING (1928/29, Regie: Paul Leni), BROADWAY (1929, Regie: Paul Fejos), das Technicolor-Spektakel THE KING OF JAZZ (1929, Regie: John Murray Anderson) oder ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT hinzu. Nachdem Carl Laemmle seinem gerade 21-jährigen Sohn Carl Laemmle jr. im April 1928 die Leitung des Produktionssektors übertragen hatte, wurde diese generelle Umstellung der Produktionsstrategie endgültig zum neuen Markenzeichen der Universal und ihrer europäischen Ableger: »Nicht Quantität – sondern Qualität ist der Wahlspruch der Deutschen Universal«, lautete der dazugehörige Werbeslogan in den Jahren 1930 bis 1933.11 Carl Laemmle jr. teilte die Skepsis seines Vaters gegenüber dem Tonfilm nicht und veranlasste die unverzügliche Umstellung der Spielfilmproduktion im ersten von ihm allein verantworteten Produktionsjahrgang 1929.12 BROADWAY, seine erste Produktion, war zugleich der erste reine Tonfilm der Universal.13 Bei der starken Ausrichtung der Universal auf den europäische Markt verlangte diese zweite, tiefgreifende Umstellung der Produktionspolitik aber auch eine schnelle Lösung der Sprachadaptionsproblematik von Exportfassungen. Hier griff die Universal, die bei der Umstellung auf Tonfilmproduktionen zu den letzten Firmen Hollywoods gehörte, als eine der ersten auf die Technik der Nachsynchronisation zurück. Die Synchronisationsarbeiten für den deutschen Markt wurden dabei 1929 noch in Hollywood ausgeführt. Daraus ergaben sich zwei
11 Der Kinematograph 244 (18.10.1930); Wolffsohn (Hg.): Jahrbuch der Filmindustrie, 5. Jg., S. 1012. 12 Die Mehrzahl der amerikanischen Filmproduzenten hatte diesen Schritt bereits im Jahr zuvor vollzogen. Vgl. Crafton, Donald: The Talkies. American Cinema’s Transition to Sound, 1926-1931, Berkeley/Los Angeles/ London: University of California Press 1999, S. 212ff. und 307ff.; Schatz, Thomas: The Genius of the System. Hollywood Filmmaking in the Studio Era, New York: Pantheon Books 1988, S. 82ff.; Dick, Bernhard F.: City of Dreams. The Making and Remaking of Universal Pictures, Lexington: The University Press of Kentucky 1997, S. 77f. 13 1930 waren fünf der 16 langen Spielfilme der Universal reine Tonfilme, 1931 waren von insgesamt 44 produzierten Kurz- und Langspielfilmen der Universal 41 100%ige Tonfilme. Vgl. die Angaben bei Wolffsohn (Hg.): Jahrbuch der Filmindustrie, 5. Jg., S. 225, 232, 235.
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Probleme: zum einen aus den bestehenden Patentregelungen zur technischen Ausstattung von deutschen Kinos vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen der Tobis-Klangfilm Gruppe und der Western Electric/RCA-Photophone-Gruppe, zum anderen hinsichtlich der niedrigen Akzeptanz von Synchronfassungen beim deutschen Publikum. Zu den ersten »Talkies« der Universal, von denen deutsche Synchronfassungen hergestellt wurden, gehörten die Musicals SHOWBOAT (1929, Regie: Harry A. Pollard) und BROADWAY. Für BROADWAY verpflichtete Laemmle jr. den ungarischen Regisseur Paul Fejos, der seit 1926 in Hollywood tätig war, 1931 jedoch wieder nach Europa zurückkehren sollte.14 Die Dialogregie der deutschen Synchronfassung von BROADWAY lag bei Friedrich Zelnik und Kurt Neumann.15 Anfang Oktober 1929 berichtete der Korrespondent des Film-Kurier über die Synchronisationsarbeiten in Universal City: »Die Schauspieler und Schauspielerinnen haben natürlich bei den Aufnahmen alle englisch gesprochen [...]. Das Wunder ist, daß sie alle auf einmal deutsch sprechen. So als sei es ihre Muttersprache. Durch den ganzen Film hindurch, der recht dialogreich ist. Was außerdem überrascht, ist, den Großaufnahmen wurde keineswegs aus dem Weg gegangen. [...] Jedenfalls fließen selbst in diesen Großaufnahmen die deutschen Worte den Darstellern leicht und flüssig von den Lippen. [...] Man erreichte [dieses Ergebnis, M.W.] im wesentlichen dadurch, dass man den englischen Dialog nötigenfalls sehr frei übersetzte. Für jede englisch gesprochene Silbe wurde eine deutsche Silbe gefunden, die eine möglichst ähnliche Mundformung bedingt. [...] es wird für das englische ›father‹ das deutsche Wort ›Vater‹ eingesetzt, das ein deutscher Schauspieler, das Filmbild des amerikanischen Schauspielers vor sich[,] im Gleichtakt mit dessen Mundbewegung ausspricht, während der Tonfilmapparat es registriert, so
14 Fejos inszenierte für die Universal 1929 mit THE LAST PERFORMANCE lediglich noch einen weiteren Film. Für ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT wurde er zwar als Regisseur kurzzeitig in Betracht gezogen, schließlich aber von der Firmenleitung abgelehnt. Während seiner Arbeit bei der Universal hatte sich Fejos für eine den Bedingungen des Tonfilms angepaßte Stoffwahl ausgesprochen; vgl. Fejos, Paul: »Illusion on the Screen«, in: National Board of Review Magazine 4 (1929), S. 3f. Zu Fejos vgl. das Sonderheft der Zeitschrift Filmkritik 272 (August 1979). 15 Vgl. Krützen: »Esperanto für den Tonfilm«, S. 148, Anm. 112.
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daß man den photographierten Ton dann an Stelle des englischen Wortes am Rande des Films einkopieren kann. [...] Unter Umständen muß der Satz vollständig umkonstruiert werden, so daß mit vollständig neuen Worten die gleiche Idee zum Ausdruck gebracht wird. [...] Es ist keine Frage, daß die Person und die adaptierte Stimme für den Zuschauer und Zuhörer zu einem einheitlichen Charakter verwachsen. Das vor allem dann, wenn die Substanz des Filmes, die Geschichte und die Erzählertechnik zu fesseln verstehen, so daß man aufhört, nach kleinen Unebenheiten in der Synchronisierung von Laut und Lippenbewegung Ausschau zu halten.«16
BROADWAY konnte kommerziell in Deutschland zunächst nur in einer stummen Fassung ausgewertet werden. In dieser Form wurde der Film am 28. November 1929 in Deutschland uraufgeführt und im Fachblatt Der Kinematograph unter der bezeichnenden Überschrift »Der verstummte Broadway« besprochen.17 Der Film-Kurier berichtete Anfang 1930: »Die Universal hat bekanntlich eine Tonfilmfassung von BROADWAY in deutscher Sprache herstellen lassen. Bei uns darf diese Fassung nicht laufen – aber in Amerika wird sie gespielt, denn zahlreiche amerikanische Städte weisen einen hohen Prozentsatz deutschsprachiger Bevölkerung auf. Der deutsche Broadway-Film ist beispielsweise [...] in Milwaukee ein Rekorderfolg [...]. Wie lange wird der Patentkrieg noch dauern?«18
Ein Opfer der Patentschwierigkeiten war zuvor auch SHOWBOAT geworden, bei dem es sich um ein so genanntes »Part-Talkie«, also einen getitelten Stummfilm mit einzelnen, nachträglich eingefügten Tonpassagen handelte. Interne Testvorführungen der deutschen Synchronfassung hatten bei der ersten Vorstellung einer Klangfilm-Apparatur in einem großen Kino am 11. Juni 1929 im Berliner Zoopalast stattgefunden. Trotz aller Bemühungen wurden während der Filmvorführung die erforderliche Lautstärke und die gewünschte Tonreinheit nicht erreicht. Da diese Mängel beim gleichen Film auf der Wiedergabeappa-
16 Ch.: »Optimismus der Jugend. Universal synchronisiert Sprechfilme deutsch«, in: Film-Kurier 234 (2.10.1929). 17 Der Kinematograph 279 (29.11.1929). 18 »Deutschsprachige Tonfilme laufen in Amerika, aber nicht bei uns«, in: Film-Kurier 7 (7.1.1930).
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ratur der Western Electric nicht auftraten, lag der Fehler eindeutig in Unzulänglichkeiten der Apparatur. Am folgenden Abend war die Tonwiedergabe erneut so unbefriedigend, dass während der Vorführung gepfiffen wurde. Die Universal, die SHOWBOAT der Ufa zur Vorführung überlassen hatte, zog daraufhin den Film wieder zurück. Nach diesem Ergebnis, so erklärte die Ufa gegenüber der Direktion der Siemens AG, verweigere der Parufamet-Verleih die öffentliche Aufführung des Spielfilms SHOWBOAT auf Klangfilm-Apparaturen. Der zweite Testlauf von SHOWBOAT fand am 24., 26. und 27. Juni im Kino Universum und im Gloria-Palast im Beisein von Vertretern der Klangfilm, des Ufa-Vorstands sowie der Universal statt – mit ähnlich enttäuschendem Ergebnis. Die Universal entzog danach endgültig der Ufa die Erlaubnis, ihre Filme auf der Klangfilm-Apparatur abzuspielen.19 SHOWBOAT (dt. Verleihtitel: DAS KOMÖDIANTENSCHIFF) wurde schließlich erst ein Jahr später, am 29. Juli 1930, regulär in deutschen Kinos gestartet – wohlgemerkt nur in einer Stummfilmfassung.20 In der Saison 1929/30 befand sich die Universal auf dem deutschen Markt somit in einer äußerst widersprüchlichen Situation. Deutsch synchronisierte Fassungen waren zwar bereits vorhanden, konnten allerdings auf dem deutschen Markt wegen der technischen Inkompatibilität der verschiedenen Tonsysteme sowie patentrechtlicher Regelungen nicht systematisch ausgewertet werden.21
19 Vgl. Mühl-Benninghaus, Wolfgang: Das Ringen um den Tonfilm. Strategien der Elektro- und der Filmindustrie in den 20er und 30er Jahren, Düsseldorf: Droste Verlag 1999, S. 119ff. 20 Vgl. Der Kinematograph 175 (30.7.1930): »Die stumme Fassung dieses tönenden Bildes ist fraglos interessant. Hier und da vielleicht ein paar tote Stellen, die aber durch Schnitte beseitigt werden können, oder bei denen man sich durch Grammophoneinlagen helfen könnte. [...] Im Phoebus-Palast gab man das Bild mit einer guten musikalischen Illustration. Es ist festzustellen, daß das Publikum zufrieden war, und daß überall, wo der Tonfilmapparat fehlt, das Spiel des Komödiantenschiffs empfohlen werden kann.« 21 Dabei stand das Problem der »Interchangeablility« zwischen amerikanischen und europäischen Aufnahme- und Abspielapparaturen, das erst im Pariser Vertrag im Juli 1930 einvernehmlich geregelt werden konnte, bis
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»A MERIKANISCHES K APITAL NACH D EUTSCH LAND «: S PRACHSYNCHRONISATION IN B ERLIN Für die neue Saison 1930/31 zog die Universal Konsequenzen aus dieser ungünstigen Exportsituation und entwickelte eine Doppelstrategie zur Lösung des Problems. Zum einen ging man dazu über, die Synchronisationsarbeiten in Deutschland auf Klangfilm-Apparaturen auszuführen, zum anderen verfolgte man den Ausbau des eigenen deutschen Verleihs unter dem Dach der Anfang März 1930 als Aktiengesellschaft auf eine breitere finanzielle Grundlage gestellten Deutschen Universal.22 Im August 1930 verkündete Paul Kohner als neuer Produktionsleiter der Deutschen Universal die aus der Analyse der europäischen – und speziell deutschen – Marktsituation getroffenen Entscheidungen: »Ich war der erste in Hollywood, der synchronisierte, recht und schlecht. Wir waren auf einem Irrweg – wir wußten es. Wir zwangen die Sprache in ein Prokrustusbett. BROADWAY und SHOWBOAT war das Resultat. [...] Restlos überzeugt bin ich nur von einer Produktion in Europa. Der Import von deutschen Schauspielern ist unrentabel. Außerdem gibt ein ›Test‹, drüben angefertigt, kein genügend vielfältiges Porträt der schauspielerischen Persönlichkeit. [...] Die Lösung: amerikanisches Kapital nach Europa. Produktion da, wo man aus der Fülle des schauspielerischen Materials wählen kann, wo der augenblickliche Publikumsgeschmack fühlbar wird. Alles andere ist Experiment.«23
Im Mai desselben Jahres hatten amerikanische Produzenten auf einem Treffen festgestellt, »daß schon nach kurzer Anwesenheit in den Vereinigten Staaten ein Fremdklang in die hinübergeholten Schauspieler [...] komme, wodurch wenigstens mit der Zeit ein geringerer europäischer Erfolg der Hollywood-Tonfilme gegenüber den in Europa herge-
dahin im Zeichen des mit allen Mitteln geführten Patentkriegs. Vgl. hierzu Mühl-Benninghaus: Das Ringen um den Tonfilm, S. 171. 22 Die Deutsche Universal AG verfügte nun über ein Grundkapital von zwei Millionen Reichsmark. Vgl. Wolffsohn, Karl (Hg.): Jahrbuch der Filmindustrie, 4. Jg., Berlin: Verlag der Lichtbildbühne 1930, S. 109. 23 Kohner, Paul: »Hollywood sagt: Nur in Europa produzieren!«, in: FilmKurier 184 (6.8.1930).
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stellten vorauszusehen sei.«24 Dies galt sowohl für Schauspieler von Fremdsprachenversionen als auch für Synchronsprecher. Bereits im April 1930 hatte die Hollywood-Berichterstattung in der Fachpresse auf dieses Problem hingewiesen: »Man hat synchronisiert, man synchronisiert weiter. Immer umständlicher und komplizierter wird die Apparatur. Umgeben von seltsamen Maschinen, Mikrophonen, Geräuschinstrumenten stehen schwitzend und traurig anzusehen die braven Schauspieler des deutschen Theaters in Los Angeles, folgen wie Heftelmacher den Mundbewegungen der berühmteren Kollegen auf der vorgespannten Leinwand und wiederholen immer wieder, immer wieder die Verdeutschung, die da zwischen Auf und Zu des Mundes hineingepreßt wird. Prokustesbett der Sprache. Wer wird es sich bieten lassen?«25
Hinzu kamen rechtliche Maßnahmen der Tobis gegen Nachsynchronisationen auf amerikanischen Systemen: Im Mai 1930 hatte sie gegen die Artiphon-Record Klage erhoben, auf dessen Nadeltonsystem William Wellmans WINGS in Amerika deutsch synchronisiert worden war. Der Film musste daraufhin vom Spielplan der deutschen Kinos abgesetzt werden.26 Die Universal lag also mit der Änderung ihrer Strategie durchaus im Trend des allgemeinen Erkenntnisprozesses der amerikanischen Filmindustrie. Im Unterschied zum überwiegenden Teil der amerikanischen Produktionsfirmen hielt sie jedoch an der Praxis der Nachsynchronisation fest. Der von Kohner als solcher bezeichnete Irrweg bezog sich nicht auf das Synchronisieren generell, sondern darauf, dass die Synchronisationen bisher in Universal City mit allzu schnell assimilierten Arbeitsmigranten und auf amerikanischen Tonsystemen ausgeführt wurden – und nicht in Deutschland auf Tonsystemen, die mit den Abspielgeräten in den Kinos technisch und patentrechtlich kompatibel waren. Aus diesen Erwägungen heraus ging man bei der Univer-
24 Murr, Peter: »Film als Mißton. Diktatur der Patente«, in: Vossische Zeitung 232 (18.5.1930). Vgl. a. Engelhard, W.: »Hohe Politik des Tonfilms«, in: Berliner Börsen-Courier 209 (7.5.1930). 25 Dr. F.K.: »So geht es nicht. Die Voraussetzungen für eine deutsche Sprechfilmproduktion in Hollywood sind gegeben; allein die bisherigen Versuche sind untauglich«, in: Der Kinematograph 86 (11.4.1930). 26 Mühl-Benninghaus: Das Ringen um den Tonfilm, S. 163.
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sal im Herbst 1930 dazu über, deutsche Synchronfassungen vor Ort in Deutschland herzustellen. Damit bildete die Universal unter den amerikanischen Firmen, denen noch in der Kontingentverordnung vom 3. Juli 1932 vorgeschrieben werden musste, ihre Importvertonungen ausschließlich in deutschen Studios ausführen zu lassen, eine Ausnahme.27 Im bereits zitierten Text von Kohner heißt es in diesem Zusammenhang: »Eben versuchen wir ein neues System des Synchronisierens. Es ist – mit dem terminus technicus – hundertprozentig.« Über Bezeichnung und Funktionsweise des Verfahrens allerdings, so Kohner geheimnisvoll, »liegt Schweigepflicht«.28 Gemeint war das rhythmographische Verfahren von Carl Robert Blum, das bei der Universal zur Synchonisation von Spielfilmen der Saison 1930/31 verwendet wurde. Das auf einer anderen technischen Grundlage basierende Ludwig-Czerny-Verfahren wurde zur Herstellung deutscher Synchronfassungen des Universal-Beiprogramms eingesetzt.29 Bei Blums Verfahren handelte es sich um eine Weiterentwicklung und veränderte Applikation seines 1926 patentierten »Musikchronometers«, das im darauf folgenden Jahr verschiedentlich Anwendung fand, unter anderem von Edmund Meisel bei den Vorbereitungen zur Uraufführung von Walter Ruttmanns BERLIN – DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927) getestet, im letzten Moment jedoch nicht verwendet wurde.30 Im Vorfeld der Premiere hatte Blum auf die »universelle Verwendbarkeit« seines Systems hingewiesen und dessen spätere Weiterentwicklung bereits vorweggenommen: »Mit ihm kann jede rhythmische Bewegungsfolge, gleich ob filmischer, tonlicher oder sprachlicher Art aufs genaueste analysiert und synchronisiert werden.«31
27 Vgl. Thompson, Kristin: Exporting Entertainment, S. 163; Spieker, Markus: Hollywood unterm Hakenkreuz. Der amerikanische Spielfilm im Dritten Reich, Trier: WVT 1999, S. 26. 28 Kohner: »Hollywood sagt: Nur in Europa produzieren!« 29 Zur Funktionsweise des Czerny-Systems vgl. Kutzleb, Leopold: »Ueber Nachsynchonisieren«, in: Die Kinotechnik 9 (5.5.1931), S. 164f. 30 Vgl. hierzu ausführlich Wedel, Michael: Der deutsche Musikfilm. Archäologie eines Genres 1914-1945, München: Edition text + kritik 2007, S. 192-217. Auch Czernys Verfahren ging auf ein System der Stummfilmzeit zur Synchronisierung von Film und Musik zurück. Vgl. ebd., S. 163-168. 31 Blum, Carl Robert: »Zeit wird Raum«, in: Der Film 11 (15.6.1927), S. 26.
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Im Zuge der Tonfilmumstellung legte Blum die Funktionsweise des Rhythmobandes und seiner von Viktor Abel konstruierten Apparatur zur Nachsynchronisation fremdsprachiger Tonfilme in der Patentschrift »Die Herstellung von Tonfilmen mittels der Rhythmographie, System C.R. Blum« dar.32 Kohner dürfte spätestens im Juli 1930 durch ausführliche Berichte in der Fachpresse auf dieses System aufmerksam geworden sein, über das er nach Vertragsabschluss dann »Schweigepflicht« verhängt.33 Tatsächlich erscheinen weitere Berichte in der Fachpresse erst wieder, nachdem im Oktober der erste nach diesem System synchronisierte Universal-Film CAPTAIN OF THE GUARD auf den Markt gekommen war. Aus ihnen geht detailliert hervor, wie sich die Synchronisationsarbeiten im Studio34 abspielten: »Das Rhythmoband läuft vor einem etwa 30 Zentimeter langen waagerechten Schlitz synchron zum Filmablauf, aber nur mit ¼ der Filmgeschwindigkeit ab, während der Tonfilm in der fremden Sprache vorgeführt wird. Vor der Mitte des Schlitzes, an einer Stelle, die wir als die Richtstelle bezeichnen wollen, wird ein kleiner Apparat angeklemmt, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Morsetelegraphen hat; er hat aber zwei voneinander unabhängige Schreibstifte, und jedem von ihnen ist ein Taster zugeteilt. Der eine Taster wird bei den [...] Ton tragenden, der andere bei den unbetonten Wortstellen gedrückt. Es werden so übereinander in zwei Reihen Striche bzw. Punkte auf dem Bande verzeichnet. Dieses erhält somit eine Längeneinteilung, die den Worten der fremden Sprache entspricht. In diese wird zunächst der fremde Text eingetragen. Nunmehr führt man dieses und ein Blankband über einen Arbeitstisch durch zwei
32 Blum, Carl Robert: Die Herstellung von Tonfilmen mittels der Rhythmographie, System C.R. Blum, Berlin: Rhythmographie 1930. 33 Vgl. Palme, Erich: »Das Rhythmographie-Verfahren«, in: Kinotechnische Rundschau 28/29 (12./19.7.1930). 34 Die Synchronisationsarbeiten wurden 1930/31 im Studio der Rhythmographie GmbH in Berlin ausgeführt. Erst als sich die Synchronisationstechnik ab 1932 in Deutschland endgültig durchzusetzen begann, wurden alle großen Ateliers auch mit entsprechenden Anlagen ausgestattet. Die von der Deutschen Universal benutzten Jofa-Ateliers gehörten in dieser Hinsicht zu den am besten ausgerüsteten: Dort standen »vier Nachsynchron-Ateliers« mit den »modernsten Ton-Misch- und Dublier-Einrichtungen« zur Verfügung. Vgl. Wolffsohn (Hg.): Jahrbuch der Filmindustrie, 5. Jg., S. 309ff.
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Zackenräder miteinander gekoppelt und fügt die Übersetzung der Teilung gemäß ein.«
Auch bei diesem Verfahren war bei der Ausarbeitung der deutschen Dialogliste »weniger auf eine wortgetreue als hinsichtlich der Wortlänge und der Klangähnlichkeit angepasste Übersetzung« Wert zu legen: »Das so vorbereitete, alle Sprechrollen vereinigende Band wird nun mit dem stummen Bildfilm genau synchron abgerollt, und es werden alle Rollen genauso abgelesen wie die betreffenden Worte an der Richtmarke vorbeilaufen. Störende Unstimmigkeiten zwischen Bild und Wort werden durch Veränderungen des Textes beseitigt, bis ein befriedigendes Band entstanden ist. Alsdann werden die Rollen auf einzelne Bänder verteilt. Jedes von ihnen kommt in einen Schaltapparat, die alle unter sich mit einem stummen Projektor synchron laufen. Bei der endgültigen Tonaufnahme steht jeder Schauspieler vor seinem Band und spricht seine Rolle so, wie deren Worte vor der Richtmarke vorbeiwandern. Dem gleichzeitig erscheinenden stummen Bilde schenkt nur der Leiter seine Aufmerksamkeit, um einen Überblick über Anfang und Ende der Szene zu gewinnen. [...] Zum Schlusse muß [...] die Tonschrift [d.i. die Lichttonspur, M.W.] auf dem Wege des Kopierens mit dem Bilde vereinigt werden.«
»Damit«, so schließt die Beschreibung, »sind gewichtige Bedenken hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit des Tonfilmes aus der Welt geschafft.«35
D AS P ROBLEM DER KULTURELLEN A KZEPTANZ VON S YNCHRONFASSUNGEN Das Rhythmographie-Verfahren scheint technisch zufriedenstellende Ergebnisse gebracht zu haben.36 ÜBER WO DIE WOLGA FLIESST stellte
35 »Das Rhythmoband im Dienste des Tonfilms«, in: Kinotechnische Rundschau 42 (15.11.1930). 36 Von Blums Rhythmographie GmbH wurde für die Universal im Juni 1931 außerdem eine englische Synchronfassung von DER SOHN DER WEISSEN BERGE (Regie: Mario Bonnard) hergestellt. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Verfahren auch von anderen Produktionsfirmen genutzt: Radio Pictures etwa synchronisierte mit ihm die deutsche Fassung von CIMARRON
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die Kritik fest: »Mit dem Deutschsprachigen nach dem Rhythmographie-Verfahren kann man in diesem Film im allgemeinen einverstanden sein. Es darf dem deutschen Bearbeiter nicht angerechnet werden, dass er manchmal etwas wortreich werden musste, da es die gegebenen Szenen nun einmal so verlangten.«37 Parallel zu den Synchronfassungen wurden noch immer zeitgleich mit den englischen Originalfassungen gedrehte stumme Versionen der Filme zur Befriedigung der Nachfrage noch nicht konvertierter Kinos verliehen. 38 Einige Filme, darunter GALGENVÖGEL, wurden »auf Wunsch der Theaterbesitzer auch in synchronisierter Fassung ohne Dialog geliefert«,39 also in stummen, lediglich mit Musik und Geräuschen versehen Fassungen. Dies ist als Konzession an die anfänglich ablehnende Haltung der deutschen Öffentlichkeit gegenüber synchronisierten Importfassungen zu verstehen und mag einmal mehr als Beleg dafür gelten, dass die verzögerte industrielle Standardisierung des Synchronisationsverfahrens nicht so sehr Ergebnis mangelnder technischer Voraussetzungen war, sondern seine Ursache in der fehlenden Publikumsakzeptanz der durch die Synchronisation hervorgehobenen Trennung von Körper und Stimme hatte. Mehrsprachenversionen erschienen in den ersten Tonfilmjahren dem Publikum akzeptabler, weil hier die imaginäre Einheit von Körper und Stimme des Schauspielers leichter nachzuvollziehen war. Demgegenüber brachte das Synchronisationsverfahren in seiner nachträglichen Synthese von – in diesem Fall – amerikanischem Schauspielerkörper und deutscher Synchronstimme kulturell hybride Produkte hervor, denen ein sensibilisiertes Publikum zunächst kritisch gegenüberstand. Erst im Zuge der industriellen Standardisierung synchronisierter Sprachfassungen und der damit einhergehenden
(Regie: Wesley Ruggles), die italienische Itala-Films eine englischsprachige Fassung von FRA DIAVOLO (Regie: Mario Bonnard). Vgl. »Rhythmographie-Arbeiten«, in: Der Kinematograph 139 (18.6.1931). 37 Der Kinematograph 250 (28.10.1931). Der Film sollte ursprünglich in einer deutschen Version in Hollywood gedreht werden, als sich die beiden Hauptdarsteller Olga Tschechowa und Arnold Korff dort zu Dreharbeiten für LIEBE NACH BEFEHL aufhielten. Vgl. »Die neue Universal-Staffel«, in: Der Kinematograph 279 (29.11.1930). 38 Vgl. ebd. Vgl. a. »Der stumme Film in U.S.A.«, in: Der Kinematograph 233 (24.9.1930). 39 Der Kinematograph 36 (12.2.1931).
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Konventionalisierung einer entsprechend illusionsbereiten Rezeptionshaltung bauten sich diese Widerstände ab 1932 langsam ab. Joseph Garncarz hat diesen notwendigen Gewöhnungsprozess des Publikums treffend beschrieben: »Die Ablehnung der Nachsynchronisation ausländischer Filme geht auf das kulturelle Problem zurück, daß es für das zeitgenössische Publikum nicht möglich ist, die ›geliehene Synchronstimme‹ dem auf der Leinwand agierenden Schauspieler zuzuschreiben. [...] Wenn man die Ablehnung der Synchronisation auf die Nicht-Identität von Körper und Stimme zurückführt, dann muß man das schrittweise Akzeptieren der Synchronisation als kulturellen Lernprozeß verstehen, in dem das Wissen um die Nicht-Identität zwischen dem Sprecher, der zu sehen ist, und dem Ursprung des gesprochenen Wortes, das zu hören ist, im Bewußtsein des Zuschauers ausgeblendet wird.«40
Ein Mittel, diesen Gewöhnungsprozess des Publikums voranzutreiben, bestand darin, die Trennung von Körper und Stimme, Bild und Ton in den Sujets der Filme selbst zu thematisieren und dadurch zu »naturalisieren«. Diese selbstreflexive Tendenz ist ein prägendes Kennzeichen vieler früher Tonfilme.41 Ein Beispiel aus dem Verleihprogramm der Deutschen Universal ist der All Star-Film DIE GROSSE SEHNSUCHT (1930, Regie: Stefan Szekely), dessen lose geknüpfte Handlung im Tonfilmatelier angesiedelt ist. Seine Eröffnungssequenz beginnt mit einer langen Kamerafahrt durchs Studio auf den Schauspieler Karl Platen zu, der – auf den nur wenige Wochen später in Produktion gehenden Ufa-Film DAS FLÖTENKONZERT VON SANSSOUCI (1930, Regie: Gustav Ucicky) anspielend – im Kostüm Friedrich II. beim Flötenspiel zu sehen und zu hören ist. Zu hören? Ein kurzer Schwenk nach links enthüllt den »wahren« Flötenspieler hinter den Kulissen. Wobei freilich der Eindruck
40 Garncarz, Joseph: »Die bedrohte Internationalität des Films. Fremdsprachige Versionen deutscher Tonfilme«, in: Sbylle M. Sturm/Arthur Wohlgemuth (Hg.), Hallo? Berlin? Ici Paris! Deutsch-französische Filmbeziehungen 1918-1939, München: Edition text + kritik 1996, S. 132f. 41 Vgl. Schweinitz, Jörg: »›Wie im Kino!‹ Die autothematische Welle im frühen Tonfilm. Figurationen des Selbstreflexiven«, in: Thomas Koebner (Hg.), Diesseits der »Dämonischen Leinwand«. Neue Perspektiven auf das späte Weimarer Kino, München: Edition text + kritik 2003, S. 373-392.
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der »Enthüllung« seinerseits nur dem stärkeren »Realitätseffekt« der Gleichzeitigkeit von sichtbarer Bewegung (Absetzen der Flöte) und akustischer Wahrnehmung (Aussetzen der Musik) entspringt.42 Indem der Zuschauer gezwungen wird, dem Ton nacheinander verschiedene Körper zuzuschreiben und die Plausibilität der Entsprechungen gegeneinander abzuwägen, wird er im Umgang mit den Illusionseffekten synchroner audiovisueller Wahrnehmung geschult. Gerade darin, dass der Film dem Zuschauer eine überzeugende Erklärung anbietet und ihn so zu dem Glauben verführt, die Mittel der filmischen Täuschung durchschaut zu haben (»In Wirklichkeit... «), etabliert er umso stärker ihr ästhetisches Funktionieren als »natürlichen« epistemologischen Horizont. Eine anderes, stärker auf die Naturalisierung der Nachsynchronisation bezogenes Mittel, von dem die Universal wiederholt Gebrauch machte, bestand darin, in Produktionsberichten die deutsche Öffentlichkeit mit den Möglichkeiten moderner Ton- und Übertragungstechnik vertraut zu machen. Im Oktober 1929 lud die Deutsche Universal vierzig Journalisten dazu ein, einer nachträglichen Tonaufnahme für THE LAST PERFORMANCE (dt. Titel: ILLUSION) beizuwohnen. Bei der Begutachtung der Tonfilmkopie des Films in Hollywood sei bemerkt worden, dass ein Satz Conrad Veidts auf der Tonspur der zentralen Gerichtsszene fehle. Da Veidt, der bei den Dreharbeiten zur Tonfassung des Films als einziger deutsch gesprochen hatte,43 sich mittlerweile wieder in Berlin aufhielt, musste dieser Satz nun »radiotelephonisch über London – New York nach Universal-City« übertragen und »von einer dort mit dem Mikrophon verbundenen Tonfilmapparatur aufgenommen werden«.44 Die Presseberichte zeugen von einer
42 Zum Begriff des Realitätseffekts vgl. Barthes, Roland: S/Z, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 84. 43 Wohl aus diesem Grunde war THE LAST PERFORMANCE der erste Universal-Film, von dem eine deutsche Synchronfassung hergestellt wurde, d.h. die Dialogtexte der übrigen Darsteller deutsch nachsynchronisiert wurden, während Veidts Stimme in der englischen Fassung ersetzt worden war. Von diesem Film soll außerdem noch eine ungarische Fassung hergestellt worden sein. Vgl. »Conrad Veidt telephoniert mit Hollywood«, in: Der Kinematograph 240 (14.10.1929); »Universal Takes Lead in Foreign Version Films«, in: Universal Weekly 5 (8.3.1930). 44 »Veidt sendet seinen Tonfilm«, in: Kinematograph 238 (11.10.1929).
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gelungenen PR-Aktion, die dazu bestimmt war, kulturelle Widerstände in grenzüberschreitende Technikfaszination umzuwandeln: »Zunächst manifestiert sich das Land der ›Unbegrenzten Möglichkeiten‹ in chaotischen Kakophonien, es surrt, zischt, summt, Stimmenwirrwarr schlägt in den Raum, und man hat das Empfinden, als wäre man mit sämtlichen Völkern der Erde gleichzeitig verbunden. Das dauert noch ein paar Minuten, dann ist Universal-City da!!! Jetzt schweigt – leider – der Lautsprecher. Man hat ihn abgestellt, um Veidt nicht durch den Widerhall seiner Stimme zu irritieren. Drüben meldet sich jetzt Paul Kohner. Connie schickt zunächst ein paar Dutzend ›Hallos‹ durch den 10.000-Kilometer-Raum, dann fragt er: ›Soll ich jetzt meinen Satz sprechen? ‹ – ›Ja‹, kommt es von drüben. Veidt spricht die Dialogstelle, einmal, ein zweites Mal. Die Anwesenden lassen die Augen groß heraushängen und sperren die Ohren torgroß auf.«45
Ein Jahr später, zu Beginn der Saison 1930/31, wandte die Deutsche Universal diese Strategie, leicht variiert, erneut an. Sie lancierte einen Bericht John M. Andersons in der deutschen Fachpresse, aus dem hervorging, wie der Universal-Regisseur bei den Dreharbeiten zu dem Paul Whiteman-Musical THE KING OF JAZZ, das gerade unter dem Titel DER JAZZKÖNIG in Deutschland anlief, ein ähnlich gelagertes Problem zu lösen wusste, indem er sich die fehlende Musik zu einer bestimmten Szene in New York komponieren und über Telefon aufs Set nach Hollywood einspielen ließ.46
R ISSE IM E RLEBNISSYSTEM : D IE K ONTROVERSE UM I M W ESTEN NICHTS N EUES Der generell ablehnenden Haltung gegenüber deutsch synchronisierten amerikanischen Filmen konnten derartige PR-Maßnahmen natürlich nur äußerst bedingt beikommen. Welchen sozialen Zündstoff das Problem der Sprachadaption von Tonfilmen entwickeln konnte, musste die Universal feststellen, als sie kurze Zeit später mit der Verfilmung
45 al.: »Tonfilm-Aufnahme über 10.000 Kilometer«, in: Die Lichtbild-Bühne 245 (14.10.1929), Hervorhebungen im Original. 46 Anderson, John M.: »Komposition durchs Telephon«, in: Der Kinematograph 242 (16.10.1930).
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von Erich Maria Remarques Bestseller Im Westen nichts Neues ihren zweiten Spielfilm und einziges A-Picture der Saison synchronisiert auf den deutschen Markt bringen wollte. Die kontroverse Rezeption der ersten deutschen Fassung von ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT ist im Rahmen der sich radikalisierenden parteipolitischen Auseinandersetzungen um nationale Wiederbewaffnung und innere Stabilität sowie der gerade erneut aufflackernden Zensurdebatte ausführlich dokumentiert und beschrieben worden.47 Dabei sind die filmtechnischen und -ästhetischen Aspekte der Debatte etwas aus dem Blick geraten. Sie spielten jedoch in der historischen Diskussion eine keineswegs unwesentliche Rolle. Vielmehr lassen sich die kritischen Reaktionen auf den Film auch als Zuspitzung des Problems der kulturellen Akzeptanz nachsynchronisierter amerikanischer Filme in Deutschland vor dem Hintergrund der internationalen Tonfilmumstellung lesen. So fiel die deutsche Erstaufführung der Synchronfassung des Films am 4. Dezember 1930 im Berliner Mozartsaal auch in die Zeit, in der die Diskussion um synchronisierte Importfassungen in Deutschland
47 Vgl. Simmons, J.: »Film and International Politics. The Banning of ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT in Germany and Austria, 1930-1931«, in: Historian 52 (1989), S. 40-60; Kelly, Andrew: »ALL QUIET ON THE WESTERN
FRONT. Brutal cutting, stupid censors and bigoted politicos (1930-
1984)«, in: Historical Journal of Film Radio and Television 2 (1989), S. 135-150; Kelly, Andrew: Filming ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT, London/New York: I.B. Tauris 1998, S. 103-132; Fried, Helmut: »›Wer die Macht hat, verlangt nach Zensur!‹ Zur Rezeption des Films IM WESTEN NICHTS NEUES«, in: Praxis Geschichte 6 (November 1992); Dörp, Peter: »Goebbels‘ Kampf gegen Remarque (2). Eine Untersuchung über die Hintergründe des Hasses und der Agitation Goebbels’ gegen den amerikanischen Spielfilm IM WESTEN NICHTS NEUES nach dem gleichnamigen Bestsellerroman von Erich Maria Remarque«, in: Erich Maria RemarqueJahrbuch/Yearbook 3 (1993), S. 45-72; Whiteclay Chambers II, John: »ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (1930). The antiwar film and the image of the First World War«, in: Historical Journal of Film Radio and Television 4 (1994), S. 377-411. Die umfangreichste Dokumentation der historischen Rezeption von Roman und Film in Deutschland und Österreich ist Schrader, Bärbel (Hg.): Der Fall Remarque. Im Westen nichts Neues – Eine Dokumentation, Leipzig: Reclam 1992.
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ihren Höhepunkt erreichte. »Wer gegenwärtig Tonfilme besucht«, hieß es etwa in der Zeitschrift Die Kinotechnik Anfang September 1930, »hat sich vom Reiz der Neuheit noch nicht völlig losgelöst; er hat täglich gelesen, was Synchronismus ist [...] und kennt alle Fehler, auf die er stoßen kann theoretisch – mit dem Erfolge, daß er sie ganz bestimmt bei der Vorführung bemerkt. Er sieht den Sprechern auf den Mund, wie er es in der Wirklichkeit niemals tun würde, und verfolgt die Lippenbewegungen, um festzustellen, ob sie synchron sind, ob vielleicht zu einer Aufnahme eines amerikanischen Sprechers nachträglich ein deutscher Dialog hinzusynchronisiert ist«.48
Und noch im November 1933 geißelte die Vossische Zeitung den »Synchronisierungs-Unfug« mit den Worten: »Die Selbstverständlichkeit, gegen die bei der Synchronisation der Filme verstoßen wird liegt auf der Hand: Man kann nicht Organe oder Funktionen von zwei verschiedenen Lebewesen miteinander austauschen, weil das schlicht aus biologischen Gründen und erst recht aus ästhetischen, eben einfach nicht geht.«
Die Synchronisationspraxis vergehe sich »an einer höchstwertigen, entscheidenden Stelle des seelischen ›Erlebnis-Systems‹ unseres Volkes: es wird jener Sinn verfälscht, mit dem man lebende Ganzheiten sieht und erfaßt und unterscheidet von Mißgeburten, Zwittergebilden, mechanischen Krüppel-Produkten«.49
In der frühen Auseinandersetzung mit der neuartigen Praxis der Nachsynchronisation stand demnach für viele nicht weniger auf dem Spiel als die Kohärenz des kollektiven Erfahrungshaushalts der Deutschen – deren nationaler Identitätsbegriff. Die kulturelle Vermittlungstechnik der Tonfilmsynchronisation mit ihrer ästhetischen Spaltung des Subjekts und ihrer künstlichen Synthetisierung von Stimme und Körper, Bild- und Tonwahrnehmung wirkte so gesehen als traumatische Läsur eines national definierten »Erlebnis-Systems«, um die sich der ideolo-
48 Pander, Hans: »Die Illusion beim Tonfilm«, in: Die Kinotechnik 17 (5.9. 1930), S. 471. 49 Landry, Harald: »Der Synchronisierungs-Unfug«, in: Vossische Zeitung vom 30.11.1933.
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gische Diskurs formieren konnte. Dies legt nahe, den von der deutsch synchronisierten Fassung von ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT ausgelösten öffentlichen Eklat einmal nicht monokausal allein als Resultat parteipolitischer Agitation zu bewerten, sondern ihre Rezeption als komplexes Interferenzphänomen im Schnittpunkt technisch-ästhetischer und politisch-kultureller Diskurse zu betrachten. Bereits in der öffentlichen Wahrnehmung der Romanvorlage des Films stand die Frage, wer hier für wen spricht, im Mittelpunkt der Diskussion. In den Stellungnahmen zu Remarques autobiografisch inspiriertem Porträt der »Frontgeneration« traf sich der ästhetische Repräsentationsbegriff mit dem politischen.50 Im krassen Gegensatz zum bewusst unpolitisch gehaltenen Motto Remarques gehörte es dabei durchaus zum Wirkungskalkül der Verwertungskanäle des in kurzer Zeit zum Bestseller avancierenden Romans, Autor und Ich-Erzähler als Repräsentanten eines in die Krise geratenen nationalen Bewusstseins zu lancieren. Wenn es in der wegen ihrer Wendung vom »Denkmal des ›Unbekannten Soldaten‹« berühmt gewordenen Ankündigung des Vorabdrucks in der Vossischen Zeitung heißt: »Einer aus der grauen Masse [...] muß für alle sprechen«,51 liegt eine politisierende Lektüre nahe. Die nicht zufällig in Begriffen politischer Repräsentanz geführte Debatte um den Roman polarisierte sich in der Ablehnung bzw. Annahme des hier angebotenen Identifikations- und Repräsentationsmusters. »Einer hat für uns Alle gesprochen [...]. Dieser eine heißt Erich Maria Remarque«, schrieb etwa Ernst Toller in seiner Rezension des Buches.52 Und im Juni 1929 rechtfertigte Axel Eggebrecht das öffentliche Interesse an Remarque mit den Worten, dass »viele Leser [...] nun etwas über den Mann wissen wollen, der für sie alle gesprochen hat«. Wie stark die Identifikationsbereitschaft mit der Frage nach nationaler Zugehörigkeit gekoppelt war, zeigt sich im selben Interview, wenn Remarque aus den gegen seine Person in Umlauf gebrachten
50 Zum Begriff der »verlorenen Frontgeneration« vgl. das politische Generationenmodell bei Peukert, Detlev J. K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 94ff. 51 J.E.: »Nichts Neues im Westen«, in: Vossische Zeitung vom 8.11.1928. 52 Toller, Ernst: »Buchchronik der Woche: Im Westen nichts Neues«, in: Die Literarische Welt 8 (22.2.1929), S. 5.
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Verleumdungen die Behauptung besonders hervorhebt, »ich hätte den Krieg als französischer und nicht als deutscher Soldat mitgemacht.«53 Als Carl Laemmle im Juli 1929 bei seinem letzten Deutschlandbesuch die Verfilmungsrechte des Romans für die Universal erwirbt, tragen die ersten Pressemeldungen der von nationalistischen Sentiments geprägten Debatte Rechnung.54 Es heißt zunächst, die Deutsche Universal hätte die Rechte erworben und plane, »unter Mitarbeit Remarques [...] die Aufnahmen in Deutschland und Amerika in deutscher und englischer Fassung« auszuführen – also eine gleichberechtigte deutsche Version mit deutschen Schauspielern in Deutschland zu drehen.55 Ob zu diesem Zeitpunkt tatsächlich beabsichtigt oder nicht, die Meldung lässt erkennen, wie bewusst der Universal mit Blick auf den deutschen Markt kulturelle Problematik und politischer Konfliktstoff eines Projekts waren, in dem erstmals in der Tradition des amerikanischen Weltkriegsfilms das Kriegserlebnis aus deutscher Sicht dargestellt werden sollte.56 Von der deutschen Öffentlichkeit wurde das Unterfangen von Beginn an mit Skepsis begleitet, die Problematik des doppelten kulturellen Transfers, den es darstellte, immer wieder kritisch reflektiert: Als
53 Eggebrecht, Axel: »Gespräch mit Remarque«, in: Die Literarische Welt 24 (14.6.1929), S. 1f. 54 Nach seiner Rückkehr in die USA auf den sich abzeichnenden Widerstand deutscher Kinobesitzer gegen eine Verfilmung angesprochen, betonte Laemmle die grenzüberschreitende pazifistische Tendenz des Romans: »den Krieg? Wir haben das doch auch durchgemacht. Soll es den ganzen Schmutz nicht gegeben haben? Da mußten wir doch auch durch. Und Einwände gegen das Kämpfen? Das Leiden hatten doch wohl beide Seiten gemeinsam.« Zitiert nach Skrentny, Werner: »›Es ist mir gesagt worden, daß ich nicht mehr nach Deutschland kommen soll...‹ Carl Laemmle, Produzent des Films IM WESTEN NICHTS NEUES«, in: Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 3 (1993), S. 34. 55 »Deutsche Universal verfilmt Im Westen nichts Neues«, in: Film-Kurier 158 (5.7.1929). 56 Nach Langman, Larry/Borg, Ed: Encyclopedia of American War Films, New York/London: Garland 1989, S. 688ff., wurden in den Jahren 1919 bis 1932 exakt 200 amerikanische Filme (Kurzfilme, Dokumentarfilme und Langspielfilme) produziert, die den Ersten Weltkrieg zum Thema hatten.
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amerikanische Verfilmung eines deutschen Romans, dessen Personal von amerikanischen Schauspielern gespielt wurde, die in der synchronisierten Fassung jedoch plötzlich deutsch zu sprechen schienen, verwischte die Synchronfassung jede klare nationale Zuordnung und eröffnete einen diskursiven Raum, dessen Widersprüchlichkeit weder durch ästhetische Konvention noch durch ideologischen Konsens abgesichert war. Bei der Bearbeitung von ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT für den deutschen Markt hielt sich die Universal dabei zumindest in einer Hinsicht an Hollywoods neuen Exportrichtlinien für Tonfilme. Die vielfältigen Kürzungen gegenüber der amerikanischen Originalfassung entsprachen durchaus der damaligen industriellen Praxis Hollywoods, Zensureingriffen auf dem internationalen Markt möglichst früh vorzubeugen, da nachträgliche Änderungen einzelner Szenen technisch weitaus schwieriger zu bewerkstelligen und somit weitaus kostspieliger waren als zur Stummfilmzeit. Eine Zensurierung einzelner Passagen, so die Befürchtung der amerikanischen Filmindustrie, könnte einem Verbot des gesamten Films und somit dem Verlust eines ganzen Absatzmarkts gleichgekommen.57 Unter dem Gesichtspunkt der veränderten Produktionsbedingungen des Tonfilms lässt sich das Vorgehen der Universal, Kürzungen von der deutschen Filiale nach Maßgabe der Mutterfirma ausführen zu lassen, bevor eine deutsche Synchronisation hergestellt wurde, zunächst einmal aus rein wirtschaftlichen Motiven heraus erklären. Aufgrund der Thematik des Films betrafen die erheblichen Kürzungen der deutschen Fassung von ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT allerdings durchweg das Zensurmotiv »Politik/Gesellschaft«58 (nicht etwa »Sexualmoral« oder »religiöses Empfinden«) und standen somit im Zentrum der Forderungen nach einem Verbot des Films, die hinter dem wirtschaftlichen Kalkül den Verschleierungsversuch einer »Gefährdung des deutschen Ansehens« (§1 Reichslichtspielgesetz) im Ausland sahen. »Mit der Würde eines Volkes wäre es nicht vereinbar«, formulierte die Film-Oberprüfstelle ihren Widerruf der Zulassung schließlich am 11. Dezember 1930,
57 Vgl. Vasey: The World According to Hollywood, S. 76f. 58 Zu den Kürzungen gegenüber der US-Version vgl. Kelly: »Filming ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT«, S. 120f.; Chambers: »ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT«,
S. 394.
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»wenn es seine eigenen Niederlagen noch dazu verfilmt durch eine ausländische Herstellungsfirma, sich vorspielen ließe. Es würde im Ausland nicht verstanden und als Billigung der bösartigen Originalfassung dieses amerikanischen Filmwerkes angesehen werden, wenn dieser Bildstreifen, für den deutschen Gebrauch zurechtgestutzt, über die Leinwand deutscher Lichtspielhäuser laufen würde«.59
Das aus filmwirtschaftlicher Sicht durchaus nachvollziehbare Vorgehen der Universal, riskante Passagen aus der deutschen Fassung vorsorglich zu entfernen, führte in diesem speziellen Fall zu der paradoxen Situation, dass die für den deutschen Markt hergestellte Fassung verboten wurde, weil an ihr nicht beanstandet werden konnte, was man an der außerhalb des Zuständigkeitsbereichs bereits gespielten internationalen Fassung gerne beanstandet hätte. Die öffentliche Kritik an der deutschen Fassung bezog sich jedoch nicht nur auf das Weglassen ganzer Szenen, sondern betraf auch subtile Änderungen am Dialog. Hier mischte sich der Widerstand gegen die Praxis der Nachsynchronisation mit dem Verdacht einer politisch motivierten Manipulation. Die von Blum und anderen beschriebene filmtechnische Notwendigkeit, in deutschen Synchronfassungen fremdsprachiger Filme Umformulierungen vornehmen zu müssen, um größtmögliche phonetische Übereinstimmung und somit Lippensynchronität zu erreichen, wurde im Fall von IM WESTEN NICHTS NEUES zum systematischen Täuschungsmanöver nicht nur im ästhetischen, sondern im ideologischen Sinne umgedeutet. Bereits im Vorfeld der deutschen Premiere wurden Zweifel an der »Authentizität« der deutschen Dialoge nahe gelegt, wenn etwa in der Fachpresse unter der beziehungsreichen Überschrift »Remarque ohne Remarque« vermeldet wurde, dass sie nicht vom Romanautor selber stammen, sondern »von einem Kollektiv in Anlehnung an Maxwell
59 Hervorhebung im Original. Zitiert nach: Loiperdinger, Martin: »Filmzensur und Selbstkontrolle. Politische Reifeprüfung«, in: Wolfgang Jacobsen/ Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler (Hg.), Geschichte des deutschen Films, Stuttgart/Weimar: Metzler 1993, S. 487. Vgl. a. das »Sitzungsprotokoll, Urteil Nr. 1254, Film-Oberprüfstelle Berlin, 11.12.1930, Widerruf der Zulassung des Films IM WESTEN NICHTS NEUES«, in: Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 10 (2000), S. 108-125.
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Andersons englische Dialoge«.60 »Die amerikanische Filmindustrie [...] sollte sich klarmachen«, schrieb der Kritiker des Berliner LokalAnzeigers, »daß der von ihr angestrebte Absatz ihrer auf deutsche Sprache synchronisierten Tonfilme auf ernste Schwierigkeiten, auch bei den deutschen Lichtspieltheaterbesitzern, stoßen muß, wenn sie nicht endlich davon abläßt, aus deutschfeindlichen Darstellungen ein Spekulationsobjekt zu machen«.61
Ähnlich kritisierte die Neue Preußische Kreuz-Zeitung »in wie unglaublicher Weise man versucht hat, aus diesem Bildstreifen, der in seiner ursprünglichen und auch in außerdeutschen Ländern heute noch vorgeführten Form ganz unverhüllt antideutsche Tendenzen zeigt, durch Wegschneiden und Fortlassen, teilweise sogar durch Übersetzungen, die dem englischamerikanischen Text nicht entsprechen, ein harmloses Gesicht zu geben«.62
Mit IM WESTEN NICHTS NEUES war die bereits im Vorjahr aus ökonomischen Überlegungen heraus festgelegte Exportstrategie der Universal, für den deutschen Markt Synchronfassungen ihrer Produktionen herstellen zu lassen, nachhaltig unter Ideologieverdacht geraten. Auf der anderen Seite scheint Carl Laemmle die Entscheidung, die Arbeiten an deutschen Verleihfassungen ab Sommer 1930 von der deutschen Tochterfirma ausführen zu lassen, in der Auseinandersetzung auch als Schlupfloch für hintergründige Schutzbehauptungen genutzt zu haben. So kann der Kinematograph ihn mit der an sich nicht falschen, allerdings zu falschen Schlüssen verleitenden Bemerkung zitieren: »Wir haben den Film in genau derselben Fassung nach Deutsch-
60 »Remarque ohne Remarque«, in: Der Kinematograph 279 (29.11.1930). Die vollständige Dialogliste der ersten deutschen Synchronfassung von Konrad P. Rohnstein ist überliefert in der Remarque Collection, R-C 1.7/001, Fales Library, New York University. Sie ist, unter Anmerkung der Auslassungen in der deutschen Premierenfassung, mittlerweile veröffentlicht in: Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 3 (1993), S. 83-106. 61 »Krieg zwischen Pappe und Kleister«, in: Berliner Lokalanzeiger vom 5.12.1930, Abend-Ausgabe. 62 Henning, Klaus-Ulrich: »Film der Erbärmlichkeit«, in: Neue Preußische Kreuz-Zeitung vom 6.12.1930, 2. Beiblatt.
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land exportiert, in der wir ihn in den Vereinigten Staaten, Paris und London gezeigt haben«, um darauf zu erwidern: »Man weiß also in Hollywood anscheinend noch nicht – oder will es nicht wissen –, daß der Dialog nicht wörtlich übersetzt ist, sondern daß er bewußt auf die deutschen Verhältnisse zugeschnitten ist, und versteht infolgedessen [...] immer den tieferen Sinn der ganzen Angelegenheit noch nicht, daß es sich nämlich erst in zweiter Linie um die jetzt vorgeführte Fassung dreht, dagegen in der Hauptsache darum, daß man in Deutschland kein Verständnis mehr dafür hat, wenn man Tendenzfilme je nach Bedarf und nach den geschäftlichen Erfordernissen übersetzt.«63
An gleicher Stelle war der Universal kurz zuvor unterstellt worden, sie hätte auf das Mittel der Synchronisation lediglich zurückgegriffen, um bei der Manipulation ihres »anti-deutschen Tendenzfilms« größere Freiheit zu haben: »Dabei kam einwandfrei in der angloamerikanischen Fassung ein Werk heraus, das die Gefühle weitester Schichten des deutschen Volkes empfindlich verletzt. [...] das muß auch die Universal selbst empfunden haben, weil sie dieses Werk für Deutschland neu bearbeiten ließ. Sie übersetzte an den entscheidenden Stellen den Dialog nicht wörtlich oder im Sinne des Originals, sondern bietet ihn uns in dem Film in geläuterter, gereinigter Fassung. [...] Wir möchten meinen, daß man diesen Film schon deswegen nicht vorführen solle, um endlich einmal die Amerikaner handgreiflich davon zu überzeugen, daß wir es uns nicht gefallen lassen, nationale Dinge außerhalb unserer Grenzen zu verunglimpfen und mit demselben Bildstreifen, anders synchronisiert, nachträglich bei uns Geschäfte zu machen.«64
Das Vorgehen der Universal sei umso verdächtiger, als die »Synchronisierung [...] mit allen Schikanen gemacht« sei: »Die Illusion, daß nicht Engländer [sic], sondern Deutsche sprechen, ist zu neunzig Prozent vollkommen.«65 Kaum einmal wurde der hohe Grad an Lippensynchronität, der mit dem Blumschen System erreicht werden konnte, von der Kritik als
63 »Zirkus Nollendorfplatz«, in: Der Kinematograph 289 (11.12.1930). 64 »IM WESTEN NICHTS NEUES«, in: Der Kinematograph 285 (6.12.1930). 65 Ebd.
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filmtechnische Leistung gewürdigt, ohne zugleich als Mittel der Illusionierung und ideologischen Manipulation bloßgestellt zu werden. Rein qualitativ wertende Reaktionen wie die folgende bildeten die Ausnahme: »Wer davon weiß, daß die ursprünglich englischen Dialoge in Berlin nachsynchronisiert wurden, und gesehen hat, wie ausgezeichnet der Dialog bis in die Stimmfärbung hinein den Mundbewegungen und der Schauspielererscheinung angepaßt war, wird von einem Sieg der Rhythmographie [...] sprechen dürfen. Die deutschen Tonaufnahmen wurden nach dem Tobis-System hergestellt. Die Geräuschaufnahmen, die niemand zu ändern brauchte, zeigen einen interessanten Vergleich zur Arbeit der Western-Electric. Die Rivalen bestanden bei ausgezeichneter Wiedergabe gleich gut.«66
Der Hinweis auf die tontechnische Heterogenität der deutschen Fassung ist insofern von Bedeutung, als er zugleich darauf aufmerksam macht, dass der »Riss« im ästhetischen Material nicht nur die synchrone Bild-Ton-Wahrnehmung betraf, sondern auch diachron durch die gesamte Tonspur, auf der die Geräusche der Ursprungsfassung mit den neu aufgenommenen deutschen Dialogen kombiniert waren, verlief. Während vor allem von rechtskonservativer Seite der nachsynchronisierte Dialog einer vernichtenden Kritik unterzogen wurde, fand die akustische Wirkung der (Kriegs-)Geräusche quer zu allen ideologischen Frontverläufen durchweg positive Aufnahme. Die Tageszeitung Germania etwa lobte die Leistung des Films in punkto »der technischen Projizierung der Kampfhandlungen«, da die »Geräusche insbesondere (Granaten, Bomben, Maschinengewehre etc.) [...] in keinem früheren Kriegsfilm so echt gelungen« seien.67 »Wenn man gerecht sein will«, schrieb auch die Neue Preußische Kreuz-Zeitung, »so muß man diesem Film wenigstens eins zubilligen: daß er an manchen Stellen beachtliche akustische Wirkungen erzielt. Die Geräusche des Angriffs und des Abwehrkampfes, das Heulen der schweren Granaten, das Knattern der Ma-
66 »Im Mozartsaal: IM WESTEN NICHTS NEUES«, in: Der Film 43 (6.12. 1930). 67 D.O.: »Remarque im Film. Die deutsche Fassung von IM WESTEN NICHTS NEUES«, in: Germania vom 5.12.1930, Abendausgabe.
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schinengewehre, das Krachen des Sperrfeuers, alles kommt verhältnismäßig echt zur Geltung.«68
Abb. 1
Während die gelungene Illusion der synchronisierten Dialoge als ideologische Operation dekuvriert wird, wird die gegenüber der US-Fassung weitgehend unveränderte Geräuschebene als authentisch wahrgenommen. In diesem Rezeptionsmuster zeigt sich nicht zuletzt, wie einseitig die öffentliche Sensibilisierung für neuartige tontechnische Verfahren zu diesem Zeitpunkt auf die Praxis der Sprachsynchronisation ausgerichtet war. In der Diskussion ausgeblendet blieb die Tatsache, dass auch der so echt wirkende Schlachtlärm des Films erst nachträglich den Bildern hinzugefügt worden war: Direktton wurde bei der Herstellung der Ursprungsfassung lediglich zur Aufnahme der englischen Dialoge verwendet, die Geräuschebene – nicht nur der wegen ihrer Kamerakran-Aufnahmen berühmten Grabenkampfsequenz (Abb. 1) – wurde von Universal-Tonmeister C. Roy Hunter synthetisch im Studio produziert und den Bildern erst nachträglich synchron unterlegt.69
68 Henning, Klaus-Ulrich: »Film der Erbärmlichkeit«, in: Neue Preußische Kreuz-Zeitung vom 6.12.1930, 2. Beiblatt. 69 Vgl. Mitchell, George J.: »Making ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT«, in: American Cinematographer (September 1985), S. 34ff. Der UniversalKamerakran, Prototyp aller späteren Kräne, wurde jedoch nicht, wie oft behauptet wird, für ALL QUIET IN THE WESTERN FRONT entwickelt, sondern bereits bei den Aufnahmen zu BROADWAY eingesetzt. Vgl. »Heute
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International der erfolgreichste Film der Universal überhaupt, blieb IM WESTEN NICHTS NEUES in Deutschland – mit über 5.000 Kinos der zweitgrößte Markt Europas – bis September 1931 verboten. Erst nach weit reichenden Konzessionen, über die den Sommer über von der Universal mit deutschen Behörden verhandelt worden war, hob die Film-Oberprüfstelle das Verbot unter der Bedingung auf, dass auch im Ausland nur die nun freigegebene Fassung verliehen werden durfte. Der abermals um zwei Szenen gekürzte Film lief dann bis Anfang 1932 in Deutschland unter ausgesprochen hohem Publikumszuspruch. Als einziger nicht-deutscher Film unter den Top Ten auf Platz sechs in der Erfolgsstatistik der Saison 1931/32 platziert, war IM WESTEN NICHTS NEUES der bis dahin erfolgreichste ausländische Tonfilm auf dem deutschen Markt.70
R EAKTIONEN
UND
K ONSEQUENZEN
Die Schwierigkeiten beim Deutschlandstart von IM WESTEN NICHTS NEUES führten den amerikanischen Filmproduzenten die ideologischen Fallen und kulturpolitischen Implikationen der Sprachadaptionsproblematik nachhaltig vor Augen. Parallel zu den Bemühungen um eine Freigabe des Films in Deutschland wurden von Universal zwei Maßnahmen ergriffen, durch die sie hoffte, ihre Investitionen in Zukunft auf dem deutschen Markt besser schützen zu können. Zum einen ließ Fritz Keller, der kurz zuvor Al Szekler als Generalmanager der Universal für Kontinentaleuropa abgelöst hatte,71 nach
Premiere BROADWAY«, in: Der Kinematograph 278 (28.11.1929). Vgl. a. Bordwell, David/Staiger, Janet/Thompson, Kristin: The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960, London: Routledge 1985, S. 307. 70 Vgl. Garncarz, Joseph: »Hollywood in Germany. Die Rolle des amerikanischen Films in Deutschland 1925-1990«, in: Uli Jung (Hg.), Der deutsche Film. Aspekte seiner Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Trier: WVT 1993, S. 200. 71 Eine Branchenzeitschrift (Der Kinematograph 48, 26.2.1931) kommentierte den Wechsel mit den Worten: »Es ist erfreulich, daß Laemmle mit der Nachfolge Szeklers einen Mann betraut hat, der schon jahrelang für die Universal in Deutschland und in anderen europäischen Staaten tätig war
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Produktionsbesprechungen in Paris Mitte April 1931 verlauten, man werde neben Synchronfassungen für den europäischen Markt verstärkt dazu übergehen, Fremdsprachenversionen »nach amerikanischen Originalen« zu drehen.72 Zu diesem Zweck wurde mit dem amerikanischen Produzenten H.P. Carver, Repräsentant des Pariser »Consortium International Cinématographique«, ein Vertrag geschlossen, der ursprünglich – nach dem Vorbild des Paramount-Modells – die zentrale Produktion deutscher und französischer Versionen in Frankreich vorsah.73 Da die Suche nach einem geeigneten Atelier in der Nähe von Paris jedoch vorerst erfolglos verlief, eröffnete die neue Universal-Tochter »International Film Production« ihre Geschäftsstelle im Juni 1931 bis auf weiteres bei der Deutschen Universal in Berlin. Während Carver als ausführender Produzent der geplanten Mehrsprachenversionen vorgesehen war, wurde S.D. Wilson zum Direktor der später unter dem Namen »Societé Internationale Cinématographique« nach Paris verlegten Firma ernannt. »Wir wollen Filme herstellen, die bereits ihrem Thema nach für die Mentalität der in Frage kommenden Länder Deutschland, Frankreich, England, Amerika geeignet sind«, lässt Wilson bei seinem Amtsantritt verlauten: »Bei einer gut aufgezogenen Produktion muss es sich ermöglichen, dass ein interessanter Stoff, wenn er für jedes Land richtig aufgemacht ist, einschlägt.«74 Im Februar 1931 hatte die im Herbst des vorangegangenen Jahres in Universal-City gedrehte deutsche Version des (auf ein deutsches
und der stets besonderes Verständnis für die Lage in Deutschland bewies.« Szekler stieg zum Generalmanager der Universal auf und kehrte nach New York zurück. Für seine Nachfolge war kurzzeitig auch Paul Kohner im Gespräch. Vgl. »Revirement bei Universal«, in: Der Kinematograph 41 (18.2. 1931). 72 »Universal – Paris-Berlin«, in: Film-Kurier 86 (14.4.1931). N.L. Manheim, Exportchef der Universal in New York, plädierte im Film Daily vom 20. Juli 1931 sogar dafür, für das Ausland vollständig zur Produktion von Stummfilmen zurückzukehren, die lediglich mit Musik und Geräuschen unterlegt sind. Zitiert nach Crafton: The Talkies, S. 438 73 »Carver produziert für die Universal in Frankreich«, in: Film-Kurier 100 (30.4.1931). 74 »Universal-Kombination plant 10 Filme – für den 1. Teil der Saison«, in: Film-Kurier 144 (22.6.1931).
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Bühnenstück zurückgehenden75) Verwechslungslustspiels THE BOUDOIR DIPLOMAT unter dem Titel LIEBE AUF BEFEHL ihre deutsche Premiere erlebt.76 Entgegen der generellen Praxis der Universal waren – nach dem M-G-M-Modell – Olga Tschechowa, Johannes Riemann, Arnold Korff und Hans Junkermann zu den Dreharbeiten nach Hollywood eingeflogen worden.77 Für die Regie der deutschen Version war ursprünglich Paul Ludwig Stein vorgesehen,78 er wurde dann aber von Johannes Riemann ersetzt, der zusammen mit E. Redlich auch die deutschen Dialoge schrieb. Die deutsche Fachpresse begrüßte die Entscheidung gegen eine synchronisierte Fassung und für die Produktion einer deutschen Version, und merkte nicht ohne Spitze an: »Was Hollywood uns an guten deutschen Versionen bisher theoretisch verhieß, ist diesmal auch von der Universal glücklich in die Praxis umgesetzt.«79 Der Erfolg des Films beim deutschen Publikum dürfte die
75 THE BOUDOIR DIPLOMAT basierte auf dem Bühnenschwank »Die Republik befiehlt« von Rudolf Lothar und Fritz Gottwald, der gerade unter dem englischen Titel »The Command to Love« am Broadway erfolgreich angelaufen war. Dieses Adaptionsmuster scheint Modell gestanden zu haben für die Einrichtung einer eigenen Theaterproduktion der Universal, die Laemmle im Frühjahr 1931 betrieb. Vgl. »Laemmle kombiniert Film und Theatergeschäft«, in: Der Kinematograph 24 (29.1.1931): »Dramatische Werke, die später als Tonfilme geplant werden, werden zunächst auf der Bühne auf ihre dramatische Wirkung hin erprobt [...]. Autoren, deren Stücke angenommen werden, bleiben [...] zu 50% mit der Universal an den Verfilmungsrechten beteiligt. Die Verfilmungsrechte werden auch anderen Gesellschaften angeboten. Die Europäische Generaldirektion der Universal in Berlin wird Stücke deutscher und europäischer Herkunft, die eventuell für [den] Broadway in Betracht kommen, annehmen. Eine besondere Abteilung, die sich mit der Beschaffung der Stücke von den Verlegern und Autoren befaßt, wird eingerichtet.« 76 Von diesem Film waren im Oktober und November 1930 in Universal-City außer einer deutschen noch eine französische und eine spanische Version hergestellt worden. 77 »Die neue Universal-Staffel«. 78 Vgl. »Universal dreht deutschen Film in Amerika«, in: Der Kinematograph 234 (7.10.1931). 79 »Ein deutscher Tonfilm aus Hollywood«, in: Der Kinematograph 43 (20.2. 1931).
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Verantwortlichen der Universal in ihrer Tendenz zur Herstellung von Mehrsprachenversionen bestärkt haben.80 Abermals entwickelte die Universal ihre Markstrategie gegenläufig zur allgemeinen Exportpolitik Hollywoods. Sie intensivierte das Engagement ihrer europäischen Filialen auf dem Sektor der Mehrsprachenversion für die Saison 1931/32 zu einer Zeit, als alle anderen amerikanischen Produktionsfirmen sich aus der Herstellung von Mehrsprachenversionen für den europäischen Markt zurückzuziehen und auf die Nachsynchronisation als Standardoption umzustellen begannen.81 Schon im Januar 1931, also nur wenige Wochen nach dem Verbot von IM WESTEN NICHTS NEUES, hatte sich die Deutsche Universal als Koproduzentin an einer französischen Version der Cicero-Produktion ICH GEH AUS UND DU BLEIBST DA (Regie: Hans Behrendt) mit dem Titel INCONSTANTE beteiligt.82 Die Societé Internationale Cinématographique trat als Produzentin bzw. Koproduzentin der französischen Versionen von G.W. Pabsts DIE HERRIN VON ATLANTIS (L’ATLANTIDE, 1932) und Carl Boeses PAPRIKA (1932) hervor, deren deutsche Ursprungsversionen sich im Verleih der Deutschen Universal befanden. Für die Auftragsproduktion EHE MIT BESCHRÄNKTER HAFTUNG (MARI-
80 Vgl. »LIEBE AUF BEFEHL im Deutschen Reich«, in: Der Kinematograph 46 (24.2.1931). 81 Vgl. »Hollywood dreht keine ›Versionen‹ mehr«, in: Der Kinematograph 215 (17.9.1931). Warner Brothers hatte 1930 vier spanische, vier französische und sechs deutsche Exportversionen hergestellt, produzierte ab Februar 1931 insgesamt 13 französische Versionen in den Teddington Studios in England, um ab Juni desselben Jahres keine einzige fremdsprachige Version mehr herzustellen. M-G-M hatte 1930 insgesamt 102 Fremdsprachenversionen (45 Spiel- und 57 Kurzfilme) produziert, drehte im Frühjahr 1931 noch einmal 33 spanische, französische und italienische Versionen, um im Sommer des Jahres komplett auf Synchronfassungen umzustellen. Paramount schloss ihre Studios in Paris-Joinville endgültig im Juli 1932, nachdem die Auslastung in den vorangegangenen Monaten kontinuierlich zurückgegangen war. Vgl. Crafton: The Talkies, S. 436f. 82 Zu ICH GEH AUS UND DU BLEIBST DA vgl. Wedel, Michael: »Wilhelm Speyer und der Film. Motive, Projekte, Adaptionen«, in: Helga Karrenbrock/Walter Fähnders (Hg.), Wilhelm Speyer (1887-1952). Zehn Beiträge zu seiner Wiederentdeckung, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2009, S. 75-111, hier S. 93ff.
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AGE À RESPONSABILITÉ LIMITÉE, 1931/32) wurde der nationale Vertrieb von den jeweiligen Universal-Töchtern in Berlin und Paris übernommen. Im Oktober und November 1932 stellte die Deutsche Universal in Berlin den Luis-Trenker-Film DER REBELL (1932/33) in einer deutschen und amerikanischen Version her. Und noch im Frühjahr 1933 wurden von S.O.S. EISBERG (1932/33, Regie: Arnold Fanck) – einer Gemeinschaftsproduktion der Deutschen Universal und ihrer Mutterfirma in New York – eine deutsche und eine amerikanische Version angefertigt. Den letzten deutschen Versionenfilm im Verleih der Deutschen Universal, SKANDAL IN BUDAPEST (Regie: Geza von Bolvary/Stefan Szekely) produzierte die ungarische Filiale Universal-Hunnia RT im Sommer 1933. Parallel zur verstärkten Nutzung der Option von Mehrsprachenversionen schloss die Deutsche Universal als zweite Maßnahme im August 1931 ein Gemeinschaftsproduktions-Abkommen mit der Tobis für sechs abendfüllende Spielfilme ab, von denen vier in der Saison 1931/ 32 realisiert wurden. Dank dieses Kooperationsvertrages konnten die Tobis-Tonfilm-Apparaturen ohne anfallende Lizenzgebühren genutzt und die Zahl technisch und ästhetisch »homogener« deutscher Eigenproduktionen gegenüber der Vorsaison verdoppelt werden.83 Zu den im Rahmen dieser Koproduktionsvereinbarung hergestellten Filmen gehörte neben DIE NACHT OHNE PAUSE (1931, Regie: Andrew Marton/Franz Wenzler), FÜNF VON DER JAZZBAND (1932, Regie: Erich Engel) und EIN STEINREICHER MANN (1932, Regie: Stefan Szekely) auch der Weltkriegsfilm UNTER FALSCHER FLAGGE (1932, Regie: Johannes Meyer). Da die Deutsche Universal in derselben Spielzeit mit der Richard-Eichberg-Produktion DIE UNSICHTBARE FRONT (1932) ein weiteres Spionagedrama aus der Zeit des Ersten Weltkriegs in Auftrag gab, liegt die Vermutung nahe, dass die Vorgabe einer neuen Anpassungspolitik an die »deutsche Mentalität« nach dem Eklat um IM WESTEN NICHTS NEUES nicht nur konversionstechnisch, sondern auch inhaltlich umgesetzt werden sollte.84 Als weiteres Indiz in diese Rich-
83 In der Saison 1930/31 hatte die Deutsche Universal drei spielfilmlange Filme produziert. Vgl. Wolffsohn (Hg.): Jahrbuch der Filmindustrie. 5. Jg., S. 41, 225, 262. 84 Zu DIE UNSICHTBARE FRONT vgl. Wedel, Michael: Kolportage, Kitsch und Können. Das Kino des Richard Eichberg. Berlin: CineGraph Babelsberg 2007, S. 52ff., 126ff.
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tung kann gelten, dass es sich bei der einzigen eigenständig finanzierten Spielfilmproduktion der Deutschen Universal dieser Saison ebenfalls um ein Kriegsdrama – wenn auch im historischen Kostüm des österreichischen Befreiungskampfes gegen Napoleon – handelte: Die nationalistischen Untertöne in Kurt Bernhardts und Luis Trenkers DER REBELL waren 1932 immerhin vernehmbar genug, um ihn zu einem Lieblingsfilm Hitlers zu machen.85 An den »Revanchegelüsten der Hitler-Partei« bei der Zwangsabwicklung der Firma im ersten Jahr nach der Machtübernahme änderte allerdings, wie Markus Spieker schreibt, »auch die Tatsache nichts, daß sich die Deutsche Universal mit hohem Dollaraufwand an der deutschen Filmproduktion beteiligt hatte und dabei nationalpatriotische Qualitätsfilme [...] auf die Leinwand gebracht hatte«.86 Als im Juli 1934 die Verleihorganisation der Deutschen Universal im Zuge der Firmenliquidierung von der neu gegründeten Rota-Film AG zum Wohle des »Ausbaus der deutschen Filmindustrie« übernommen wurde, gehörte auch der größte Profiteur der Tonfilmumstellung und ehemalige Kooperationspartner Tobis zu jenen Anteilseignern, die, wie es hieß, ihre »Erfahrungen maßgeblich verwerten« wollten.87
85 Vgl. Spieker: Hollywood unterm Hakenkreuz, S. 47. Für das Festhalten am Genre des Kriegsfilms sprachen aber einmal mehr auch rein wirtschaftliche Erwägungen, schließlich wurde mit Kriegsfilmen zwischen 1925 und 1932 über ein Viertel des gesamten Theaterumsatzes in deutschen Kinos erzielt. Vgl. Garncarz: Hollywood in Germany, S. 177f. 86 Spieker: Hollywood unterm Hakenkreuz, S. 67. 87 »Rota-Film AG gegründet«, in: Film-Kurier 169 (21.7.1934). Zur Rolle der Tobis vgl. a. Wedel, Michael: »Klärungsprozesse. Tobis, Klangfilm und die Tonfilmumstellung 1929-32«, in: Jan Distelmeyer (Hg.), Tonfilmfrieden/Tonfilmkrieg. Die Geschichte der Tobis vom Technik-Syndikat zum Staatskonzern, München: Edition text + kritik 2003, S. 34-43; MühlBenninghaus, Wolfgang: »Lizenzen und Konzentrationen. Von der internationalen Patentgesellschaft zum Staatskonzern«, in: Ebd., S. 90-106.
7 | Offene Unterhaltung? Reflexivität und polyphones Erzählen in Willi Forsts FRAUEN SIND KEINE ENGEL
Willi Forsts im Filmmilieu angesiedelte Verwechslungskomödie FRAUEN SIND KEINE ENGEL gilt gemeinhin als wenig aussagekräftiges Nebenwerk des Regisseurs. Forst selbst hat den Film, den seine Produktionsfirma ab September 1942 für die Wien-Film herstellte, im Nachhinein als »Verlegenheitsarbeit« bezeichnet, der er sich aufgrund der damaligen Umstände (»Krieg«) nicht hätte entziehen können.1 Auch die Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit hat sich bisher weniger auf den Film selbst gerichtet als vielmehr auf die Verlegenheit, aus der heraus Forst ihn inszeniert hat. Karl Stanzl legt in seiner unmittelbar nach Kriegsende verrfassten Dissertation nahe, die Zuweisung dieses Projekts hätte der politischen Disziplinierung des bis dahin wenig kooperativen Starregisseurs gedient: »Als er […] angebotene Tendenzstoffe zur Verfilmung ablehnt, erhält er Spielund Drehverbot und nur einer stürmischen Petition der Kinobesitzer verdankt er, dass er seine Regietätigkeit nochmals ausüben kann. Dazu kommt das Verbot, Wienerischen Dialekt und Filme in österreichischem Milieu herzustellen.
1
»Biographische Notizen über Willi Forst. Von ihm selbst«, in: Filmkunst 11 (1977), S. 8.
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Forst erhält daher den Auftrag, den Film FRAUEN SIND KEINE ENGEL zu gestalten. Ohne lange große Pläne dreht er diesen billigen Gebrauchsfilm.«
2
Zweifel an dieser Version sind durchaus berechtigt. Hatte Forst – zu diesem Zeitpunkt einer der populärsten und bestbezahlten Schauspieler-Regisseure der »großdeutschen« Filmindustrie – doch unmittelbar zuvor bei OPERETTE (1940) und WIENER BLUT (1942) für die staatlich kontrollierte Wien-Film abermals auf typische Stoffe der Wiener Tradition zurückgegriffen, deren weitere Pflege diesem Studio als erkennbarer »Eigenstil« im Konzert der zentralisierten Filmindustrie zudem offiziell zugestanden war.3 Stichhaltiger erscheint da die Schilderung des Drehbuchautors Géza von Cziffra: »Ursprünglich sollte ich meinen ersten deutschsprachigen Film bei der WilliForst-Produktion inszenieren, nach meinem Drehbuch ›Frauen sind keine Engel‹, das ich nach meinem Stück ›Richard der Große‹ geschrieben hatte; aber einige Tage vor dem ersten Drehtag kam das ›Nein‹ aus dem Propagandaministerium. Es existierte eine Verfügung, wonach junge Regisseure einen sogenannten Probefilm inszenieren mußten, bevor sie einen abendfüllenden Film drehen durften. Außerdem mußte der angehende Regisseur als Regieassistent bei einem Film mitwirken. Willi Forsts Protest, daß ich jahrelang bei den bekanntesten Regisseuren assistiert und nach 1933 in Ungarn mehrere Filme inszeniert hatte, nützte nichts […]. Ich assistierte bei Forst, der nun den Film selber inszenieren mußte […].«4
2
Stanzl, Karl: Willy Forsts Bühnen- und Filmarbeit, Diss. Wien 1947, S.
3
Vgl. Filmwelt 32 (9.8.1940), S. 7. Wie ihr Produktionsleiter Karl Hartl im
119. März 1939 programmatisch verkündet hatte, fiel der im Dezember 1938 gegründeten Wien-Film GmbH die Aufgabe zu, »Wien-Filme« zu produzieren. Vgl. Hartl, Karl: »Das künstlerische Programm des Wiener Films«, in: Film-Kurier 59 (10.3.1939), 5. Beiblatt, S. 17. Zur Geschichte der Wien-Film vgl. a. Hake, Sabine: »The Annexation of an Imaginary City. The Topos ›Vienna‹ and the Wien-Film AG« [sic], in: Popular Cinema of the Third Reich, Austin: University of Texas Press 2001, S. 149-171. 4
Cziffra, Géza von: Kauf dir einen bunten Luftballon. Erinnerungen an Götter und Halbgötter, München/Berlin: Herbig 1975, S. 283f.
O FFENE U NTERHALTUNG ?
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Stanzl glaubt, die Entstehungsumstände seien dem Film durchaus anzumerken. Da das Sujet Forst nicht gelegen und er demzufolge auch »keine besondere Ambition« mit dem Projekt verbunden habe, sei ihm lediglich ein »Durchschnittsfilm« gelungen, »der wenigstens seinem hohen Ruf nicht schadet«. Eine nähere Beschäftigung mit ihm hält Stanzl im Werkzusammenhang für »unangebracht«.5 Welche Beweggründe Forst die Regie von FRAUEN SIND KEINE ENGEL auch immer übernehmen ließen, Stanzls Verdikt, der Film könne sowohl hinsichtlich der Stoffwahl als auch mit Blick auf die gestalterische Umsetzung im Grunde nicht als »echter« Forst-Film gelten, ist von späteren Filmhistorikern und Forst-Biografen regelmäßig bekräftigt bzw. stillschweigend bestätigt worden. Robert Dachs lässt den Film in seiner Biografie vollständig aus, um sich bei der Darstellung des Schaffens Forsts während der Kriegsjahre ganz auf die sogenannte »Wiener Operetten-Trilogie« konzentrieren zu können, von der FRAU6 EN SIND KEINE ENGEL chronologisch eingerahmt wird. Walter Fritz nennt FRAUEN SIND KEINE ENGEL mit Blick auf andere Filme Forsts jener Zeit einen »für seine Verhältnisse billigen Film«.7 Bogusław Drewniak schließlich stellt in seiner Überblicksdarstellung des deutschen Films der Jahre 1938 bis 1945 lapidar fest: »Forst ging in diesem Film andere Wege als bisher. Nichts von Revue, von tausend schönen Beinen. Er machte einen Film vom Film.«8 Mit ICH BIN SEBASTIAN OTT (1939) teilt FRAUEN SIND KEINE ENGEL zwei Eigenschaften, die beide Filme aus einer solchen Autorenperspektive entscheidend herabzusetzen scheinen: Zum einen sind sie nach Drehbüchern entstanden, an denen Forst, der das Drehbuch einmal das »Geheimnis«9 seiner Arbeit nannte, nicht mitgewirkt hat. Zum zweiten fügen sich beide Filme thematisch und produktionsgeschichtlich nicht in den Rahmen jener »österreichischen Filmsymphonie«,10
5
Stanzl: Willy Forsts Bühnen- und Filmarbeit, S. 119.
6
Dachs, Robert: Willi Forst. Eine Biographie, Wien: Kremayr & Scheriau
7
Fritz, Walter: Kino in Österreich 1929-1945. Der Tonfilm, Wien: Österrei-
1986. chischer Bundesverlag 1991, S. 194. 8
Drewniak, Bogusław: Der deutsche Film 1938-1945. Ein Gesamtüberblick. Düsseldorf: Droste 1987, S. 242.
9
Forst, Willi: »Zitate«, in: Filmkunst 11 (1977), S. 10.
10 Gesek, Ludwig: »Willi Forst«, in: Ebd., S. 7.
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mit der Forst als Regisseur dem österreichischen Tonfilm zu seiner kurzen Blüte verholfen und passiven Widerstand gegen die kulturelle Vereinnahmung von Seiten Nazi-Deutschlands geleistet haben soll. Dies mag erklären, weshalb FRAUEN SIND KEINE ENGEL bislang nicht eingehender betrachtet wurde. Weder hat der Film Beachtung gefunden im Kontext der Arbeit, Genrepolitik und Marktstrategie des Produzenten Forst, noch hinsichtlich eines möglicherweise parallel zum »Wiener Film« verlaufenden Entwicklungsstrangs im Schaffen des Regisseurs vor 1945 oder – historisch enger gefasst – im Hinblick auf Stilmittel, die aus seinen weitaus höher geschätzten »Wiener Filmen« in variierter Form Eingang gefunden haben mögen. Ohne die angesprochenen Aspekte hier erschöpfend behandeln zu können, sollen im Folgenden doch einige Anhaltspunkte zur Neubewertung dieses Films gegeben werden. Dabei gilt das Interesse weniger thematischen und motivgeschichtlichen Verwandtschaften; vielmehr soll von einem Kompositionsprinzip ausgegangen werden, das genreübergreifend als charakteristisch für Forsts Regiearbeiten gelten kann. Es besteht darin, dass die Darstellungs- und Verständnisebenen stets mehrdimensional angelegt sind, und verleiht den Filmen ungeachtet aller Genrebeschränkungen eine ungewöhnliche formale Offenheit, in die sich die Signatur des Regisseurs einschreiben kann. Karsten Witte hat dieses Spiel mit Genrekonventionen und Zuschauererwartungen einmal Forsts »Lektion der Doppelbödigkeit« genannt, mit der er sich »der verachteten Konfektion wie ein Autoren-Filmer« angenommen habe.11 In der Mehrzahl der Filme, in denen Forst zugleich Regisseur und Hauptdarsteller war, hat dieses Spiel mit unterschiedlichen Bezugsebenen sein Zentrum in der vexierenden Identität von dargestellter Figur, Starimage und inszenatorischer Gestaltungsinstanz.12 Dass dieses Spiel aber auch in einem Film-im-Film-Sujet wie FRAUEN SIND KEINE ENGEL, bei dem Forst selbst nicht vor der Kamera gestanden hat, auf spezifische Weise zur Entfaltung zu bringen ist, liegt nahe und mag
11 Witte, Karsten, »Wiener Brut«, in: Lachende Erben, toller Tag. Filmkomödie im Dritten Reich, Berlin: Vorwerk 8 1995, S. 19 u. 23. 12 Vgl. Bono, Francesco: Willi Forst. Ein filmkritisches Porträt, München: Edition text + kritik 2010; Loacker, Armin (Hg.): Willi Forst. Ein Filmstil aus Wien, Wien: Filmarchiv Austria 2003.
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bereits einen Hinweis darauf geben, was ihn an der Ausgestaltung dieses Stoffes gereizt haben könnte. Betrachtet man den Arbeitszusammenhang, in den der Film biografisch einzuordnen ist, fällt zunächst auf, dass seine Ausgangssituation einen klassischen Topos des Operettengenres variiert: Ganz wie etwa in ZWEI HERZEN IM DREIVIERTELTAKT (1929/30, Regie: Géza von Bolvary), DIE BLONDE CARMEN (1935, Regie: Victor Janson) oder LIEBESPREMIERE (1942/43, Regie: Arthur Maria Rabenalt) Komponist und/ oder Librettist ihr Inspirationstief bei der Arbeit an einer neuen Operette, die schließlich den Titel des gesamten Films tragen wird, zu überwinden haben, so begeben sich auch in FRAUEN SIND KEINE ENGEL der Filmregisseur Richard Anden (Axel von Ambesser) und sein Drehbuchautor Alfred Bolt (Richard Romanowsky) auf Kreuzfahrt, um einen Stoff für ihren neuen Film zu entwickeln. Umgeben von jungen Damen, die unbedingt die Aufmerksamkeit der Filmleute erhaschen und auf diese Weise zu einer Rolle kommen wollen, begegnen ihnen an Bord lediglich zwei Frauen, die weder an ihnen noch an einer Filmkarriere interessiert zu sein scheinen: die Sängerin Lola (Margot Hielscher) und die flüchtige Witwe des von ihr ermordeten Millionärs Arato, die ihre Passage unter dem Namen Helga Norden gebucht hat (Marte Harell). Bei beiden wird sich an verschiedenen, sorgsam orchestrierten Punkten der Handlung herausstellen, dass auch sie nichts anderes als eine Filmkarriere im Sinn haben, dies jedoch scheinbar nicht direkt dadurch erreichen wollen, dass sie sich zum unvermittelten Blickobjekt der beiden Männer machen. Vielmehr verfolgen sie die Strategie, mit den Mitteln der Maskerade und des Rollenspiels Frauenbilder zu suggerieren, denen sie nicht, die aber den divergenten Vorstellungen der beiden Männer entsprechen. Lola gibt sich gegenüber Bolt als ihrem Wesen nach häuslich veranlagte Frau aus, der nichts wichtiger wäre als einen Mann zu umsorgen – ein weiblicher Handlungstopos der scheinbaren Bühnenmüdigkeit, wie er unter Sängerinnen im Operetten- und Revuefilm von DIE KEUSCHE SUSANNE (1926, Regie: Richard Eichberg) über DIE BLONDE CARMEN bis hin zu FRAU MEINER TRÄUME (1943/44, Regie: Georg Jacoby) weit verbreitet und damit fest etabliert war. Die andere, hinter der sich die Nichte der einflussreichen Verlegerin Orla (Hedwig Bleibtreu) und eine unentdeckte Drehbuchautorin verbirgt, inszeniert für den Regisseur Anden das Imago einer geheimnisumwitterten Femme Fatale, die sich aus seelischer Not zu einer Tat
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hinreißen ließ, für die sie nun vom verdeckt an Bord ermittelnden Kriminalkommissar Bandini (Curd Jürgens) zur Rechenschaft gezogen werden soll – was, so das Kalkül, Anden zu verhindern bestrebt sein wird. Am Ende, als Anden sich längst in Helga Norden verliebt und mit ihr von Bord »geflohen« ist, wird sich nicht nur herausstellen, dass es sich bei Bandini um Helgas Bruder handelt, der sich in dieser Rolle vor Anden als Schauspieler zu profilieren suchte. Gemeinsam mit Anden wird man schließlich auch erfahren, dass das Geschwisterpaar sich bei der Inszenierung strikt an ein Drehbuch gehalten hatte, das Helga Norden unter dem Titel »Leuchtende Schatten«13 verfasst hat, das von Anden jedoch – aus Voreingenommenheit gegenüber den kreativen Potenzialen des weiblichen Geschlechts – unbeachtet geblieben war. Anden wiederum revanchiert sich damit, dass er die geplante Hochzeit im Filmstudio nur inszeniert (Abb. 1) und Helga Norden erst am darauffolgenden Tag unter dem Vorwand, ihr Drehbuch kaufen zu wollen, einen Ehevertrag unterschiebt, der mit einem abschließenden Kuss besiegelt wird. Die bemerkenswerteste Pointe folgt jedoch erst ganz zum Schluss des Films. Nachdem der obligatorische Kuss des Liebespaares getauscht ist, setzt der Regisseur im Film dem Film selbst ein Ende. Wenn die Kamera die letzte Einstellung auf seinen Zuruf hin abblendet, rückt er plötzlich an die Stelle des Regisseurs jenes Films, in dem er den Regisseur bisher nur gespielt hat (Abb. 2).
13 »Leuchtende Schatten« nannte Géza von Cziffra 1944 auch sein Drehbuch zu einem »Großfilm«, der denselben Titel tragen sollte. Der Film blieb jedoch unvollendet, da Cziffra gegen Ende der Dreharbeiten im Februar 1945 wegen unrechtmäßigen Erwerbs von Fleischkarten zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde und bis Kriegsende inhaftiert war. Dass er bei seiner Verhaftung gefesselt wurde, erinnert er sich später, hätte ihn aus einem bestimmten Grund besonders geärgert: »Schon während der ersten Drehtage zu ›Leuchtende Schatten‹ hatte ich eine Szene inszeniert, in der ein Mordverdächtiger verhaftet und gefesselt abgeführt werden sollte. Herr Eweler [auf Anordnung des Propagandaministeriums ›kriminalistischer Berater‹ des Films, M.W.] hatte sich mächtig aufgeregt: ›Wozu die Fesseln? Unsere Kriminalpolizei arbeitet viel humaner. Aber die Herren beim Film müssen alles übertreiben!‹« (von Cziffra: Kauf dir einen bunten Luftballon, S. 311).
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Abb. 1
Abb. 2
Diese ungewöhnliche Konstruktion unterstreicht, dass Anden den Geschlechterkampf mit seiner zukünftigen Frau um die inszenatorische Vorherrschaft ihrer Liebesbeziehung letztlich doch noch für sich entschieden hat. Sie enthüllt zugleich aber auch, dass die von den Figuren vielfältig ins Spiel gebrachten Ebenen der Inszenierung und Fiktionalisierung nicht auf einer wie auch immer gearteten »Realität« basieren, sondern ihren ultimativen Horizont in der filmischen Fiktion finden, die Forsts Kamera dem Zuschauer im Kino darbietet. Offene Kompositionsweisen und reflexive Verfahren wie dieses, durch die sich Filme »in sich selbst spiegeln«14 und auf den Akt ihrer eigenen Rezeption im Kino verweisen, gehören zu den hervorstechen-
14 Metz, Christian: Semiologie des Films, München: Fink 1972, S. 289.
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den Kennzeichen modernistischer Gestaltungskonzepte, mit denen etwa die Avantgarde der 1920er Jahre oder der europäischen Autorenfilm nach 1945 die illusionistischen Dispositive des kommerziellen Unterhaltungskinos porös gemacht haben. Christian Metz hat für sie den Begriff der »Infrarierung«15 geprägt, Umberto Eco sprach in einem umfassenderen Sinne von einer Poetik des »offenen Kunstwerks«, welche danach strebe »im Interpreten ›Akte bewusster Freiheit‹ hervorzurufen, ihn zum aktiven Zentrum eines Netzwerks von unausschöpflichen Beziehungen zu machen, unter denen er seine Form herstellt, ohne von einer Notwendigkeit bestimmt zu sein, die ihm die definitiven Modi der Organisation des interpretierenden Kunstwerks vorschriebe«.16
Eco hat an anderer Stelle auf die historischen und kulturellen Wechselwirkungen hingewiesen, unter denen die Massenkultur sich seit je her aus den ästhetischen Innovationen der Avantgarde gespeist hat. Der Kitsch der Massenkultur, so Eco, »erneuert sich und blüht gerade deshalb, weil er unablässig die Entdeckungen der Avantgarde ausbeutet«.17 Was die Nachahmung avantgardistischer Verfahrensweisen im Bereich der Massenkultur allerdings von deren originären Wirkungen unterscheide, sei darin zu erkennen, dass »die Avantgarde bei der Kunstproduktion die Verfahrensweisen [in den Mittelpunkt rückt], die zum Werk führen«, während »der Kitsch die Reaktionen hervor[hebt], die das Werk inszenieren soll« und »die Gefühlsantwort des Benutzers zum Zielpunkt [wählt]«.18 Die Fragen, die hier aufgeworfen werden, führen direkt ins Zentrum von FRAUEN SIND KEINE ENGEL, der die Figuren- und Konfliktkonstellationen der Handlung von Anfang an in Begriffe der Inszenierung und Zuschauerschaft fasst und auf diese Weise das eigene ästhetische Verhältnis zu seinem Publikum zu seinem eigentlichen Thema macht. Dieses Verhältnis wird zu Beginn als Reflexion über das kine-
15 Ebd, S. 289-297. 16 Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 31. 17 Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S. 67. 18 Ebd., S. 65.
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matographische Sehen und Gesehenwerden exponiert. Das Wetteifern der jungen Damen um den besten Tisch im Speisesaal, der durch Bestechungsgeld beim Oberkellner erkauft wird, gilt ausdrücklich jenem Platz, von dem aus man am besten von Anden gesehen wird. Sobald dieser den Speisesaal jedoch betritt, kehren sich die Blickverhältnisse um, wird er selbst zum Blickobjekt von über einem Dutzend ihm gegenüber platzierter Frauen, die ihn unverblümt anstarren (Abb. 3).
Abb. 3
Anden, dem diese Ausrichtung der ihn umgebenden Realität auf seine Person nicht behagt, da sie kaum geeignet ist, ihn bei seiner Suche nach einem geeigneten Filmstoff – der, wie er Bolt bereits zu Beginn des Films programmatisch erklärt, an seiner Nähe zur Wirklichkeit zu messen ist – zu inspirieren, entzieht sich diesem Arrangement aufs Promenadendeck. An Deck erstattet er zunächst zwei jungen Damen, die ihm dorthin nachstellen, ihr »Eintrittsgeld« zurück und wird anschließend, im Halbdunkel verborgen, Zeuge der Begegnung zwischen der vermeintlichen Gattenmörderin Helga Norden und dem vermeintlichen Kriminalkommissar Bandini. Jetzt endlich teilt Anden mit uns die Position des unsichtbaren Voyeurs eines scheinbar realen Geschehens, das sich erst später für ihn wie für uns als melodramatische Inszenierung für seinen/unseren Blick herausstellt und die Illusion unbeteiligter Zuschauerschaft nachträglich zerstört. In FRAUEN SIND KEINE ENGEL berühren die zahlreichen Handlungsumschwünge auf diese Weise immer auch das Verhältnis des Filmzuschauers zur Konstruktion filmischer Realität. In der Dramaturgie des
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Films ist der »implizite Zuschauer«19 ein Mitspieler in der Fiktion, dessen Erkenntnisprozess mit demjenigen anderer Figuren nach Belieben synchronisiert, verzögert oder beschleunigt wird. Erst gegen Ende lässt uns der Film gegenüber den Hauptfiguren offensichtliche Wissensvorsprünge genießen, um in der Schlusspointe nicht nur sich selbst, sondern auch sein nur faktisches Gegenüber, den Zuschauer, als reziproke Bestandteile der Illusionsmaschine Kino kenntlich zu machen. Der Schluss des Films macht dessen durchweg dialogisch konzipierte Form jedoch nur offenkundig. Sie spiegelt sich auf der Ebene der Erzählung, ganz im Sinne Bachtins, im polyphonen Ringen um die Autorschaft zwischen den beiden Hauptfiguren, der Drehbuchautorin Helga Norden und dem Filmregisseur Richard Anden. Bachtin zufolge interessiert in einer polyphonen Erzählung der Held, dem »die ganze Wirklichkeit zu einem Element des Selbstbewusstseins wird«, lediglich als »ein besonderer Standpunkt auf die Welt und auf sich selbst.« Dies führe dazu, dass »die von einer Darstellungsebene auf die andere versetzten festumrissenen Züge des Helden, obwohl sie sich inhaltlich nicht verändern, eine ganz andere künstlerische Bedeutung bekommen. Sie vermögen den Helden nicht abzurunden und zu verschließen«.20
Was Bachtin als Karnevalisierung der Literatur aus dem Geiste mittelalterlicher Lachkultur beschrieben hat, findet in FRAUEN SIND KEINE ENGEL sein vielleicht gar nicht so fernes Echo. Eine besondere Rolle kommt hierbei der Musik in Form der beiden Schlager des Films zu. Der eine, der Titelschlager aus Willi Forsts vier Jahre zuvor entstandenem Film BEL AMI, wird von Lola in der ersten Speisesaal-Szene dargeboten. Als Zitat ist er ein offensichtlicher Selbstverweis auf Forsts eigenes Starimage und somit explizite Artikulation einer Frauenfantasie, die hier auf sein Alter Ego Anden, dem unfreiwilligen Objekt weiblicher Begierde im Film, gewendet wird:
19 Zum Konzept des »impliziten Zuschauers« vgl. Mayne, Judith: Cinema and Spectatorship, London/New York: Routledge 1993. 20 Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1985, S. 86f.
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»Alle küsst Du und bleibst keiner treu/doch die Frau, die dich liebt, machst Du glücklich wie nie/Bel ami, Bel ami«). Das zweite musikalische Motiv, der Titelsong »Frauen sind keine Engel«, ist in seiner mehrfach variierten Verwendung weitaus komplexer angelegt. Er illustriert nicht etwa nur eine komplementäre Männerfantasie, sondern spricht im Gegenteil »die Wahrheit« hinter den weiblichen Maskeraden und Rollenspielen aus. Auch er wird zunächst von Lola im Speisesaal vorgetragen und als Kommentar auf deren Verhalten zu verstehen gegeben: »Frauen sind keine Engel, sie tun so, doch nur zum Schein.« Bald laufen Musik- und Handlungsdramaturgie jedoch an entscheidenden Stellen auseinander. Bevor der Titelschlager des Films gegen Ende, als auch die Selbstinszenierung Helgas bereits als solche entlarvt und mit dem Thema des Liedes in Verbindung zu bringen ist, von Lola im Speisesaal ein weiteres Mal intoniert wird, sind einzelne instrumentale Motive der Enthüllung bereits vorausgeeilt.
Abb. 4
Unmittelbar nachdem Anden Bolt (der diesen Bericht als Entwurf zu einem Film »missversteht«) von der nächtlichen Szene an Deck erzählt hat, springt die Handlung in die Kabine Helga Nordens, die gerade dabei ist, sich zur Grammophon-Musik des Titelschlagers auszukleiden (Abb. 4). Diese Szene hat keinerlei narrative Relevanz, sie dient als Entkleidungsszene aber auch nicht allein der Schaffung eines erotischen Attraktionswertes. Vor allem geht es in dieser Szene um die frühzeitige Verschränkung der Figur Helga Nordens mit dem Thema der weiblichen Vortäuschung, das von der Schlagermelodie musika-
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lisch transportiert wird. Als instrumentale Off-Musik setzt sich das Schlager-Motiv in der folgenden Szene mit Lola fort und spielt noch in die sich daran anschließende Szene hinein, in der Lola Bolt gegenüber ihre häuslichen Qualitäten anpreist. In variierter Form begleitet es schließlich die Szene der zweiten Begegnung zwischen Anden und Helga Norden auf dem Promenadendeck und legt damit eine bereits vielfältig in sich verschlungene, kaum auf Anhieb lesbare ästhetische Spur – zurück an jenen Ort, von dem die Selbstinszenierung Helgas ausgegangen war. In dieser letzten Hinsicht ist der Film – vor allem durch die Figur des etwas begriffsstutzigen Bolt, der demonstrativ den Ereignissen hinterherhinkt und sich dadurch der Lächerlichkeit preisgibt – sichtlich bemüht, sein Publikum über jede Entwicklungsstufe des Enthüllungsprozesses mitzunehmen. Insofern würde er Ecos Definition von Kitsch entsprechen, bei dem komplexe Kompositionsweisen keine neuen Interpretationsmöglichkeiten eröffnen, sondern lediglich mit Blick auf ihre manifeste Wirkung »genießbar« und »konsumierbar« gemacht werden. Die ästhetischen Verfahren, die Forst (nicht nur) in FRAUEN SIND 21 KEINE ENGEL gefunden hat, um »in der Maske des Klischees« über die Bedingungen illusionärer Prozesse im Kino zu reflektieren, gehen jedoch nicht restlos in diesem Begriff auf. Sie führen zumindest den heutigen Zuschauer tatsächlich in das Werk zurück, fordern zu einer weitergehenden Auseinandersetzung heraus. Damit sollte dieser Film nicht nur im konkreten Werkzusammenhang Forsts an Bedeutung gewinnen. Er könnte auch einer Neubetrachtung dessen, was das Genrekino im Nationalsozialismus seinem Publikum an Konsumgratifikationen und ästhetischen Erfahrungen jenseits der so oft bemühten These von der illusionistisch-eskapistischen Unterhaltung zur Verfügung stellte, wichtige Anhaltspunkte geben. Wenn FRAUEN SIND KEINE ENGEL sich von anderen Filmen Forsts jener Zeit unterscheidet, dann darin, wie nahe der Oberfläche hier die reflexive Qualität seiner Inszenierung angesiedelt ist, wie deutlich sie durch den Stoff des Filmes selbst hindurch scheint. Für die gleichgeschaltete Filmkritik der NS-Zeit deutlich genug, allzu deutlich, wie aus der »Filmbetrachtung« im Film-Kurier hervorgeht:
21 Witte: »Adieu, Bel Ami«, in: Lachende Erben, toller Tag, S. 22.
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»[W]enn dann die Handlung allerdings immer doppelbödiger wird, ja wenn man zum Schluß gleichsam von einer Schachtelkomödie sprechen muß, bei der eine Handlung immer in die andere eingekastelt wird, so beginnt das Barometer der Freude ein wenig zu sinken, um dann ganz am Ende mit einem überraschenden Dekorationseffekt wieder jäh in die Höhe zu schnellen.«
22
Von Forst selbst rückblickend als kriegsbedingter »Verlegenheitsfilm« abgetan, von der Forschung frühzeitig vernachlässigt, ist das im Filmmilieu angesiedelte Verwechslungslustspiel FRAUEN SIND KEINE ENGEL in der Tat so etwas wie ein Schlüssel zum Verständnis von Forsts Operetten-Trilogie, führt es doch in Form eines Films-im-Film vor, wie die doppelte Adressierung des Publikums, die Infrarierung der Realitäts- und Bezugsebenen im Modus der Eigenbezüglichkeit zum unverhüllten Erzählprinzip und zum Primärfaktor des Unterhaltungswerts werden können.23 Was dem Publikum von FRAUEN SIND KEINE ENGEL so unmissverständlich transparent gemacht wird, indem eine Ebene der filmischen Fiktionalisierung sukzessive die andere ablöst, bis die Figur des Regisseurs schließlich mit dem Befehl »Abblenden!« dem Film selbst ein Ende setzt und sich Fiktion und Publikum gemeinsam im Kino wiederfinden, verbleibt in Forsts Operetten-Trilogie im Zustand der Ambivalenz. Gerade darin aber könnte sich enthüllen, worin die »Lektion der Doppelbödigkeit« für Forst – in der Genreform des Operettenfilms und über sie hinaus – gelegen haben mag: In jener Kippbewegung, in der sich das Trugbild des Klischees als Vexierbild selbst erkennt.
22 Jerosch, Ernst: »Frauen sind keine Engel«, in: Film-Kurier 109 (22.7. 1943). 23 Vgl. Wedel, Michael: »Krise im Klischee. Willi Forsts Wiener OperettenTrilogie«, in: Der deutsche Musikfilm. Archäologie eines Genres 19141945, München: Edition text kritik 2007, S. 391-441.
8 | Vexierspiel mit Thomas Mann Kurt Hoffmanns FELIX KRULL
Ihr Auftritt ist kurz, aber prägnant. Als englische Gouvernante der heillos in den jungen Kellner Felix Krull alias Armand (Horst Buchholz) vernarrten Eleanor Twentyman (Heidi Brühl) betritt Erika Mann die Szene, wie ein Filmstar von einem Kameraschwenk durch den Speisesaal des Hotels zum Tisch begleitet. Ihr Erscheinen unterbricht das Liebesgeständnis Eleanors an jenem Punkt, an dem diese soeben zum Ausdruck gebracht hatte, Krull ein Kind schenken zu wollen, und von ihm die Antwort erhalten, einem Kellner schenke man kein Kind, sondern ein Trinkgeld, und das auch nur, wenn man mit der Bedienung zufrieden sei. Mit den Worten »Well, Eleanor, come on now, dear... no way« setzt Erika Mann der Situation ein Ende, indem sie den verliebten Backfisch resolut aus dem Saal entfernt (Abb. 1). Die Tochter Thomas Manns war an der postumen Verfilmung von dessen unvollendet gebliebenem Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil (1954) als Mitarbeiterin am Drehbuch sowie die Dreharbeiten begleitende Beraterin beteiligt. Dass sie darüber hinaus im Film selbst gewissermaßen als »Gralshüterin ihres Vaters«1 die genealogisch-physiognomisch verbürgte Spur des Schriftstellers hinterlassen hat, ist schon der zeitgenössischen Presseberichterstattung nicht entgangen.2 Sie würdigte den Kurzauftritt als »ein fast schon spukhaftes Erlebnis«:
1
Haas, Helmuth de: »Schauspieler Horst Buchholz hatte seinen großen
2
Schon in der ebenfalls von Hans Abichs Filmaufbau hergestellten Verfil-
Abend«, in: Welt am Sonntag vom 28.4.1957. mung KÖNIGLICHE HOHEIT (1953, Regie: Harald Braun) war Erika Mann
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»[D]a geistert doch wahrhaftig das geliebte Antlitz Thomas Manns in dem Gewimmel. Es gehört seiner Tochter Erika und scheint akkurat seins, so sehr sein Fleisch und Blut ist es. [...] Sie ist so etwas wie der Geist [ihres Vaters] hinter den Kulissen [...]. Eine Miniaturrolle; nur der Kenner [...] wird später im Kino zwei Sekunden lang aufhorchen, wenn das Thomas-Mann-Antlitz vorüberhuscht – gekleidet als Gouvernante.« 3
Abb. 1
Erika Manns mehrfach gespiegelte Stellvertreterfunktion als Mitautorin, Beraterin der Produktion und Gouvernante im Film erstreckte sich auch auf den federführenden Autor des Drehbuchs, Robert Thoeren, der den Dreharbeiten, die an 32 Tagen zwischen dem 24. Januar und dem 4. März 1957 in den Real-Film-Studios in Hamburg-Wandsbek stattfanden, wegen eines krankheitsbedingten Sanatoriums-Aufenthaltes fernbleiben musste.4 Gegenüber der Öffentlichkeit, die der 1,3 Millionen DM teuren Adaption von Thomas Manns feinsinnigem Sprachkunstwerk – durch Hans Abichs Göttinger Filmaufbau GmbH und in der Regie des damals erfolgreichsten westdeutschen Unterhaltungsregisseurs Kurt Hoffman – mit einiger Skepsis entgegensah, bestand
am Drehbuch beteiligt und in der Kleinstrolle der Oberschwester Amalie zu sehen gewesen. 3
Beheim-Schwarzbach, Martin: »Ein Blick ins Allerheiligste. Bei Felix
4
Ferber, Christian/Ramseger, Georg: »Wie sie den Hochstapler auf die
Krull, ein Drehtag wie jeder andere«, in: Der Telegraf vom 17.2.1957. Leinwand zaubern. Diskussion über Felix Krull als Film mit Erika Mann, Hans Abich und Kurt Hoffmann«, in: Die Welt 46 (23.2.1957).
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Erika Manns vordringlichste Aufgabe darin, wiederholt zu versichern, dass der Film sich an keiner Stelle unter dem Niveau des Buches ihres Vaters bewege.5 Thomas Mann habe Thoerens Drehbuchentwurf vor seinem Tod noch gelesen und nicht nur gebilligt, sondern den Handlungsabriss »von A bis Z«, inklusive des hinzuerfundenen Schlusses, »goutiert«, ja sogar »erheitert bejaht«.6 Immer wieder äußert Erika Mann gegenüber Journalisten, ihr Vater hätte den Plan der Verfilmung noch ausdrücklich befürwortet. Sie erzählt, »wie sie dem Vater den Vorentwurf des Drehbuchautors Robert Thoeren überreicht habe und wie der Vater nach der Lektüre in heiterste Laune gekommen sei und ausgerufen habe: ›Das ist sehr nett! Was so einem Filmmann nicht alles einfällt!‹«7 Demonstrativ nimmt sie gemeinsam mit ihrer Mutter Katia Mann, der Witwe Thomas Manns, nicht nur an der Premiere des Films am 24. April 1957 im Berliner Gloria-Palast teil. Beide würdigen das Ereignis zudem mit ihrer Anwesenheit beim anschließenden Empfang der Filmaufbau GmbH im Hotel Kempinski.8 Wie seinen persönlichen Aufzeichnungen zu entnehmen ist, fühlte sich Thomas Mann in seinem letzten Lebensjahr von den Plänen einer Verfilmung seines Romanfragments, die erstmals im Januar 1955 von Seiten seines Verlages und seiner Tochter an ihn herangetragen worden waren, tatsächlich wohl eher bedrängt, wenn nicht gar belästigt. Im Tagebuch qualifiziert er die Nachfragen als »ziemlich unsinnige« ab, hält die Idee eines »Felix Krull-Films« für eine »Narretei«.9 Bei
5
»Nichts ist unter dem Niveau des Buches meines Vaters.« Zitiert nach Herzberg, Georg: »Glanzvoll in Berlin: BEKENNTNISSE DES HOCHSTAPLERS FELIX KRULL«,
6
in: Film-Echo 35 (4.5.1957).
Ferber/Ramseger: »Wie sie den Hochstapler auf die Leinwand zaubern«. Vgl. auch E. St.: »›Horst Buchholz ist der ideale Felix Krull‹. Interview mit Erika Mann in Hamburg«, in: Hamburger Anzeiger vom 7.2.1957; E.S.: »Die frivolen Abenteuer des Felix Krull. Interview mit Erika Mann«, in: Der Tagesspiegel vom 11.2.1957.
7
Johannsen, Christa: »Filmheld Felix Krull. Besuch in den Hamburger Real-Film-Studios«, in: Neue Zeit vom 20.3.1957.
8
Vgl. Herzberg: »Glanzvoll in Berlin«.
9
Mann, Thomas: Tagebücher 1953-1955, hg. v. Inge Jens, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1995, S. 306 (Eintrag vom 9.1.1955) u. 325 (Eintrag vom 11.3. 1955).
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einem Treffen mit Erika Mann und Hans Abich, dem Leiter der Göttinger Filmaufbau GmbH, am Wohnsitz der Manns in Kilchberg wird die Idee im April 1955 zugunsten der Gemeinschaftsproduktion einer Zauberberg-Adaption mit der schweizerischen Praesens-Film vorerst wieder fallengelassen.10 Wann, wenn überhaupt, Erika Mann ihren Vater von der Idee überzeugt haben mag, ist den Tagebüchern nicht zu entnehmen. Deutlich wird jedoch, dass sie schon zu dieser Zeit die treibende Kraft hinter dem Projekt war. In einem Brief Thomas Manns vom 9. Januar 1955 heißt es in diesem Zusammenhang: »Was nun die Filmanfrage [...] betrifft, so kommt sie mir etwas phantastisch und mindestens verfrüht vor. Wir hatten schon davon gehört, dass der Verlag den Gegenstand anbietet, und hörten es mit einiger Überraschung, denn es bedarf doch dazu meiner Zustimmung [...]. Nun steht aber meine Tochter Erika mitten im deutschen Filmbetrieb, sie lebt seit Monaten in Geiselgasteig und ist von mir autorisiert, über Angebote aus dieser Sphäre zu verhandeln und eventuell im Einverständnis mit mir abzuschliessen.«11
Es ist also davon auszugehen, dass der Krull-Film von Anfang an ein persönliches Anliegen Erika Manns war, die kolportierte Zustimmung Thomas Manns zumindest zweifelhaft bleibt. Ihr späteres Engagement während der Dreharbeiten und im Vorfeld der Premiere sollte der Verfilmung das mit der literarischen Vorlage und der Reputation ihres Verfassers verbundene kulturelle Kapital sichern. Zugleich war es der Versuch Erika Manns, das eigene Verhalten gegenüber ihrem Vater und den postumen Umgang mit dessen Werk im Nachhinein zu legitimieren.12 Wie notwendig dieser Legitimationsversuch und das Vorhaben einer literarischen Nobilitierung im kulturellen Wertesystem der 1950er Jahre war, wird an einem Nebenschauplatz der Entstehungsgeschichte des Films deutlich. Der Schriftsteller und in Hollywood tätige Drehbuchautor John (Hans) Kafka, der die Kernidee des Rollentauschs zwi-
10 Ebd., S. 333 (Eintrag vom 5.4.1955). 11 Thomas Mann an Rudolf Hirsch vom 9.1.1955. Zitiert nach ebd., S. 710. 12 Über das Verhältnis und die enge Zusammenarbeit mit Thomas Mann in dessen letzter Lebensphase hatte Erika Mann 1956 unter dem Titel Das letzte Jahr einen »Bericht über meinen Vater« veröffentlicht.
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schen Felix Krull und dem Marquis de Venosta von Thomas Mann seiner 1930 in der Münchner Illustrierten erschienenen Erzählung »Welt und Kaffeehaus« entnommen sah, erhob nun Plagiatsvorwürfe gegen den geplanten Film. Im Herbst 1956 forderte er die Produktionsfirma auf, »seine Novelle nicht mitzuverwenden« oder ihm eine Summe zwischen 20.000 und 30.000 DM zu zahlen.13 Als diese Forderung ergebnislos blieb, stellte Kafka nach der Premiere des Films einen Antrag auf einstweilige Verfügung, der von der 17. Zivilkammer des Berliner Landgerichts ohne nähere Begründung abgelehnt wurde.14 Einen letzten Versuch unternahm er schließlich vor dem 5. Senat des Kammergerichts Berlin, der seine Berufungsklage gegen die Filmaufbau Göttingen und den Europa-Film-Verleih Anfang September 1957 endgültig abwies.15 Friedrich Luft, der den Rechtsstreit als Kommentator verfolgte, deckte hinter der von Kafka öffentlich aufgeworfenen Frage, ob die Krull-Verfilmung Handlungsteile enthielt, die nicht von Thomas Mann stammten, die für das kulturelle Klima jener Zeit bezeichnende Frage auf, ob »die literarische Annektion [sic] eines Stoffes [...] mit der Verfilmung wieder unliterarisch wird, also zur reinen Handlung, wieder zum absoluten Stoff«. In diesem Falle müsse »der Urheber (immer angenommen, er sei es wirklich) doch auch als Erfinder dieser Handlungssträhne im Film genannt werden, falls er es verlangt«.16 So folgenlos die Auffassung, mit der Verfilmung verliere der literarische Stoff seinen künstlerischen Wert, juristisch auch geblieben ist, für die Filmkritik in West- wie in Ostdeutschland blieb sie, wie vielleicht auch nicht anders zu erwarten, der gemeinsame Ansatzpunkt, von dem aus Hoffmanns Film ins Visier genommen wurde. Selbst noch dort, wo man den Versuch machte, den Film nach den ihm eigenen Kriterien zu bewerten, blieb der Roman der Maßstab. So befand die Kritikerin der Wochenzeitschrift Die Zeit, der Film liege »weit über dem Durchschnitt [...], weil einmal nicht jene Klischeefiguren,
13 Vgl. »Hochstapler Krull: Kein Plagiat. Vorläufige Entscheidung – Film läuft weiter«, in: Der Abend vom 21.5.1957. 14 Vgl. ebd. 15 »Kafka endgültig abgewiesen«, in: Die Welt vom 5.9.1957. 16 Luft, Friedrich: »FELIX KRULL gibt keine Ruhe. Verzwickter Prozeß um den Stoff zum Thomas Mann-Film zu erwarten«, in: Die Welt vom 16.5. 1957.
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die als Pseudocharaktere durch deutsche Filme geistern, darin auftreten, sondern eben jene Thomas-Mannschen Gestalten, die alle ›ein bißchen Einmaligkeit‹ haben«. Zwar seien die Figuren im Film sämtlich »weniger nuanciert, etwas derber und äußerlicher« geraten, »aber doch so, daß die Bekanntschaft mit ihnen vergnüglich ist, besonders, wenn man das Buch nicht kennt.« Insgesamt finde sich fast schon naturgemäß im Film nichts »von jener wohltemperierten Mischung von Poesie und Kritik [...]: da geht es frisch-fröhlich zu. Ohne Umschweife steuert er auf die knalligsten Situationen zu«. Hoffmanns Werk verfüge über »Takt, [...] Delikatesse und Souveränität«, was dem Film allerdings »an Eigenem eingefallen« sei, sei »reichlich blaß« geblieben.17 In ähnlicher Stoßrichtung heißt es in der Kölnischen Rundschau, der Film sei von Hoffmann »in rechter deutscher Lustspielmanier abgedreht« worden: »Denn der eigentliche Reiz dieses Werkes, seine schillernde Ironie, das auf die Spitze getriebene, verborgene Stilprinzip der Parodie, die geistige Brillanz der Abenteuer in diesen BEKENNTNISSEN DES HOCHSTAPLERS FELIX KRULL, all das ist weder vom Drehbuch noch von Kurt Hoffmann in einer nur annähernd gemäßen Form ins Visuelle, auf die Leinwand übertragen worden.«18
Ungeachtet aller Bemühungen Erika Manns spielte die Mehrzahl der Kritiker die literarische Vorlage gegen die filmische Umsetzung und damit Thomas Mann gegen Kurt Hoffmann aus. Nur vereinzelte Stimmen griffen jene Frage auf, die laut Friedrich Luft an diese wie jede andere Verfilmung füglich zu stellen sei: Ob nämlich der Film als Film gelungen ist. So wie Luft in seiner eigenen Besprechung des Films »die Ambivalenz der Dinge und Gefühle angenehm zu schaukeln« beginnen sah,19 fühlte sich der in Ost-Berlin lebende Schriftsteller Arnolt Bronnen vom Film doch zumindest »in angenehmster Weise an Thomas
17 Müller, Erika: »Lockere Bekenntnisse. Der Hochstapler Felix Krull im Film«, in: Die Zeit vom 2.5.1957. 18 M.: »Hervorragend missglückt. Ufa-Theater: FELIX KRULL, sehr frei nach Thomas Mann«, in: Kölnische Rundschau vom 18.5.1957. 19 Luft, Friedrich: »Der Bel Ami unter den Schelmen der Welt«, in: Die Welt vom 26.4.1957.
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Mann erinnert«, man erlebe schließlich »einen vergnüglichen Filmabend«, wobei es dem Besucher unbenommen bleibe, »sich mehr zu denken«.20 Hoffmann habe, so ein anderer ostdeutscher Rezensent, bei der Krull-Verfilmung einmal mehr »sein Talent in der Kunst des Möglichen« unter Beweis gestellt: »Die lose Spannung des Handlungsfadens wird von ihm mit regielicher Feinheit elegant überspielt. Mit dem sicheren Gefühl für kleine Nuancen [...] weiß er jeder Episode den witzig gefälligen Augenblicksreiz abzugewinnen.«21 In den Zuschreibungen eines »Talents in der Kunst des Möglichen« und eines »sicheren Gefühl[s] für kleine Nuancen« zeichnet sich die allmähliche Herausbildung eines Gespürs der Kritik für jenen künstlerisch-filmischen »Eigenwert« ab, der die Regie-Arbeiten Hoffmanns aus den Durchschnittsproduktionen des deutschen Genrekinos jener Jahre heraushob. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des KrullFilms setzte sich das Bewusstsein für einen charakteristischen Inszenierungsstil des Regisseurs durch, der es vor allem liebte, »die Realität entweder zu überhöhen [...] oder zu ironisieren«.22 Für Hans Helmut Kirst war sein Name spätestens 1962 zu einem »Gütezeichen« geworden und bürge stets »für eine gewisse Qualität«, wenn auch im geradezu gegenteiligen Sinne zum Qualitäts- qua Kunstanspruch, wie ihn etwa Fritz Lang in seinen Filmen erhebe: »Im Grunde seines Wesens ist er ein getreuer Bewahrer der inzwischen bereits klassisch gewordenen Kunst eines Lubitsch, Schünzel, Wilder und Capra: eine leicht groteske, liebenswürdig-verspielte, menschlich-persönliche Heiterkeit.«23 Hoffmann hatte bei seinem KRULL also gleich auf zweifache Weise als »getreuer Bewahrer« zu fungieren: Zum einen als Hüter des literarischen Erbes Thomas Manns (dabei sekundiert und zugleich überwacht von dessen Tochter), zum anderen aber auch als Vertreter einer
20 Bronnen, Arnolt: »Thomas Mann auf Zelluloid. Ein westdeutscher Film: DIE BEKENNTNISSE DES HOCHSTAPLERS FELIX KRULL«, in: Berliner Zeitung vom 1.5.1957. 21 Gobo.: »BEKENNTNISSE DES HOCHSTAPLERS FELIX KRULL«, in: Welt der Arbeit vom 7.6.1957. 22 Tornow, Ingo: Piroschka und Wunderkinder oder Von der Vereinbarkeit von Idylle und Satire. Der Regisseur Kurt Hoffmann, München: Filmland Presse 1990, S. 15. 23 Kirst, Hans Helmut: »Kurt Hoffmann«, in: Münchner Merkur vom 25.11. 1962.
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mittlerweile selbst als »klassisch« anerkannten Tradition des gehobenen Unterhaltungsfilms à la Lubitsch, Schünzel, Wilder und Capra. Hoffmann selbst war dabei nur zu bewusst, dass er neben den Erwartungen des literarisch (ein-) gebildeten Bürgertums, dem nicht zuletzt die Mehrzahl der oben zitierten Kritiker zuzuzählen sind, vor allem den in sich breit gestreuten Wünschen und Sehnsüchten eines Kinopublikums Rechnung zu tragen hatte, das die Pflege der filmischen Unterhaltungskultur auf dem Niveau ihrer besten nationalen wie internationalen Vorbilder von ihm erwarten konnte. Noch während der laufenden Dreharbeiten zu FELIX KRULL äußert er sich über die Schwierigkeit des Unterfangens, den divergenten Erwartungshaltungen eines Publikums in jeder Hinsicht gerecht zu werden, das sich in diesem Fall in mindestens drei Gruppen aufteile – die Leser des Romans, die Liebhaber des Abenteurer-Genres, die sich immer dann besonders aufgerufen fühlten, wenn im Filmtitel von einem »Hochstapler« die Rede sei, und die Fans von Horst Buchholz: »Jeder will etwas anderes von uns – der eine dies, der andere das. Unmöglich, alle Wünsche unter einen Hut zu bringen.«24 Dass das Krull-Projekt in dieser Hinsicht eine besondere Herausforderung an den Regisseur und seinen Drehstab stellte, scheint Hoffmann dabei von Anfang an klar gewesen zu sein. Entgegen seiner sonstigen Praxis bedingt er es sich in diesem Falle aus, mit seinen Schau-
24 Ferber/Ramseger: »Wie sie den Hochstapler auf die Leinwand zaubern«. Wie groß der Erfolg des Films beim Publikum schließlich gewesen ist, ist heute nicht mehr genau zu bestimmen. Im »Bericht zur geschäftlichen Entwicklung im Geschäftsjahr 1958/59« der Filmaufbau ist vermerkt, die Produktionstätigkeit hätte nach Abschluss der Dreharbeiten zu FELIX KRULL 1957/58 geruht »um neue Risiken zu vermeiden und sich wirtschaftlich am Ertrag des Films FELIX KRULL in gewissem Umfange zu erholen.« Zitiert nach Fuhrmann, Susanne: »Filmaufbau GmbH Göttingen«, in: Hans-Michael Bock/Wolfgang Jacobsen (Hg.), Filmaufbau GmbH Göttingen, Hamburg/Berlin/Hannover: CineGraph/Stiftung Deutsche Kinemathek 1993, S. 9. Gemeint ist damit wohl, dass die beträchtlichen Investitionen in diesen Film sich zunächst einmal zu amortisieren hatten, bevor neue Projekte umgesetzt werden konnten. Die nächstfolgende Produktion der Filmaufbau war dann ab Mai 1958 Kurt Hoffmanns WIR WUNDERKINDER. Im Jahr darauf folgte die zweiteilige Buddenbrooks-Verfilmung in der Regie von Alfred Weidenmann.
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spielern und Mitarbeitern zunächst acht Tage hinter »verschlossene Ateliertüren« in Klausur zu gehen, damit die »Zeit der Akklimatisation, das Werden der notwendigen Arbeits-Atmosphäre, durch keinerlei Besuche gestört wird«.25 Im Zentrum der ersten Arbeitsphase dürfte dabei der Umgang mit dem Drehbuch gestanden haben. Hoffmann hat im Verlauf seiner Karriere immer wieder betont, welch hoher Stellenwert dem Buch für einen gelungenen Hoffmann-Film zukommt: »Die Voraussetzung ist das Buch, der Stoff. Das ist mein Star Nummer Eins.«26 Der beste Regisseur könne keinen guten Film machen, so äußert er sich 1959, »wenn er nicht ein gutes Drehbuch als Grundlage hat [...]. Es gäbe viel mehr gute deutsche Filme, wenn es mehr gute Drehbücher gäbe!«27 Konkret in Bezug auf die Arbeit am Krull-Film stellt er klar: »Der Regisseur ist kein Zauberkünstler. Die Hauptperson eines Films ist das Buch. [...] Hier haben wir den großartigen Ausnahmefall, hier liegt ja eine ordentliche Vorlage zur Hand.«28 Das erklärte Ziel Hoffmanns war es dabei, ins Drehbuch »soviel von Thomas Mann« hineinzunehmen, wie es überhaupt nur möglich war«,29 was schließlich dazu führte, Originalpassagen aus dem Roman als Dialogtexte zu verwenden. Für ihn selbst sei es bei der Bearbeitung des Stoffes durchaus überraschend gewesen, »wie ausgezeichnet die Thomas Mannschen Dialoge sich sprechen lassen! Wir haben ja soweit wie nur irgend möglich diese Dialoge übernommen. Wo sie uns fehlten, haben Herr Thoeren und Frau Mann versucht, die Sprache des Films der des Romans möglichst genau anzugleichen.«30
25 »Felix Krull – frei nach Thomas Mann. Kurt Hoffman verfilmt in Hamburg-Wandsbek Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«, in: Mannheimer Morgen vom 9.2.1957. 26 Netzeband, Günter: »Der Stoff liegt auf der Straße. Interview mit dem westdeutschen Regisseur Kurt Hoffmann«, in: Sonntag 32 (1964), S. 9. 27 Zitiert nach Schönherr, Karlheinz: »Ja, wenn wir mehr Hoffmanns hätten... ...dann gäbe es mehr gute deutsche Filme! – Regisseur Kurt Hoffmann nimmt’s mit der Heiterkeit ernst«, in: Neue Post 7 (1959). 28 Zitiert nach Ferber/Ramseger: »Wie sie den Hochstapler auf die Leinwand zaubern«. 29 Herzberg: »Glanzvoll in Berlin«. 30 Ferber/Ramseger: »Wie sie den Hochstapler auf die Leinwand zaubern«.
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Die zeitgenössische Kritik hat diese gewagte Strategie der Anverwandlung des besonderen literarischen Tonfalls von Manns Spätwerk nicht goutiert. Sie sah in ihr lediglich die Sprachdistanz des sich aus dem Abstand von Jahrzehnten erinnernden Ich-Erzählers fortfallen und damit die »Absonderlichkeiten des Ausdrucks [...] dramaturgisch nicht unterlegt« sowie ihres »ironischen Doppelsinn[s]« verlustig gehen.31 Auch für diejenigen Kritiker, von denen die wörtliche Übernahme der Romandialoge weniger streng beurteilt wurde und die immerhin ansatzweise Verständnis für den jedem eindimensionalen Realismus abgewandten Stil Hoffmanns aufbrachten, verlieh der prominent verwendete Mannsche Tonfall dem Film eine ungesunde Fallhöhe.32 Lediglich als Mittel zur Profilierung des Jungstars Horst Buchholz und dessen Umgang mit den Mannschen »Teufelsdialogen« mochte deren Verwendung Gnade finden: Seine »darstellerische Intelligenz« mache »den schwierigen Film erst möglich«.33 Nicht aber für Karena Niehoff, die über die filmische Transposition der berühmten Musterungsszene schrieb: »Hier nun muß Horst Buchholz – er macht es perfekt – sich in den wildesten epileptischen Faxen ausbreiten, in einer burlesken, klinischen Hampelei, die auch nicht durch den fast wörtlich übernommenen Dialog vor ihrer Unappetitlichkeit gerettet wird. Das Publikum juchzt vor Glück. Traurig.«34
Nimmt man den oben zitierten Hinweis Hoffmanns auf die unterschiedlichen Publikumssegmente und deren heterogene Interessenlagen, die in das ästhetische Kalkül seiner Krull-Verfilmung einbezogen werden mussten, so ernst, wie er es ganz offensichtlich verdient, erscheint die Übernahme der Mannschen Dialoge in den Film weniger als fehlgeleiteter Anbiederungsversuch, sondern vielmehr als eine
31 Luft Friedrich: »Der Bel Ami unter den Schelmen der Welt«. Vgl. a. Krieger, Georg: »Illustrationen zu Felix Krull. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull von Thomas Mann als Film«, in: Rheinischer Merkur vom 3.5.1957. 32 Vgl. Nemo, Korbinian: »Hochstapler Felix Krull als Film«, in: Forum 1 (1957), S. 984-987, hier S. 985f. 33 Luft: »Der Bel Ami unter den Schelmen der Welt«. 34 Niehoff Karena: »Parade ohne Parodie. BEKENNTNISSE DES HOCHSTAPLERS FELIX KRULL«,
in: Der Tagesspiegel vom 26.4.1957.
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mögliche Lösung des Problems, den divergenten Erwartungshaltungen gerecht zu werden. Die hochprozentige Integration der kunstvoll ausstilisierten Dialoge bot die Möglichkeit, einerseits die Leser und Kenner des Romans weiterhin in den Genuss seiner unverwechselbaren literarischen Qualität zu bringen. Andererseits konnte auf diese Weise den Fans von Horst Buchholz eine neue, virtuose Facette des Könnens ihres Leinwandlieblings vor Augen und Ohren geführt werden, was eindrucksvoll schon in der Musterungsszene, die daher nicht umsonst an den Beginn des Films gerückt ist, geschieht. Den eingeschworenen Liebhabern eines reinen Genrekinos der Herzensbrecher, Abenteurer und Hochstapler schließlich wird nicht nur eine weitere Ebene offeriert, auf der die verwegene Liebenswürdigkeit des Helden zur Abwechslung auch einmal in seiner sprachlichen Gewandtheit zum Ausdruck kommt. Ihnen wird zugleich signalisiert, dass der Film als solcher mit seinem literarischen Stoff auf liebenswürdige, weil selbstbewusste Weise spielerisch, ironisch, ja »hochstaplerisch« verfährt – und damit dem Unterhaltungsfilm mit den Mitteln der Persiflage und Parodie jene Tendenz zur Selbstverleugnung angesichts der literarischen Hochkultur austreibt, die ihn in Deutschland so lange dabei behindert hat, zu sich selbst und zu seinem Publikum zu finden. Von der zeitgenössischen Kritik weitgehend unbemerkt geblieben ist die Tatsache, dass Hoffmann in seinen Film an zwei entscheidenden Stellen Rückblenden einfügt und damit eine in sich verschachtelte Narration einführt, die zumindest ansatzweise die zeitliche Distanz der Erinnerung in den Erzählvorgang spiegelt. Im Unterschied zu Thomas Manns Ich-Erzähler, der seinen Lesern frühzeitig versichert, »von nun an gedenke ich nicht mehr vorzugreifen, sondern die Zeitfolge sorgfältig zur Richtschnur zu nehmen«,35 bietet Hoffmann die beiden zentralen amourösen Eskapaden Krulls als Binnenerzählungen dar: Über seine Nacht mit Madame Houpflé (Susi Nicoletti) berichtet Krull seinem Kumpanen Stanko (Heinz Reincke) nach einem Zeitsprung von einem Jahr, Professor Kuckuck (Paul Dahlke) gesteht er erst nachträglich sei-
35 Mann, Thomas: »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil«, in: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 7, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1990, S. 269.
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ne Doppelaffäre mit dessen Frau Maria Pia (Ilse Steppat) und Tochter Zouzou (Ingrid Andrée).36 Es kann darüber spekuliert werden, ob die im Erzählprozess subjektiv und mehrfach vermittelte Darstellung der beiden (zumindest noch im Roman) erotisch brisantesten Episoden eine filmisch sublimierte Form der Selbstzensur darstellt und als solche von Rücksichtnahmen der Produktionsfirma auf die eher prüden Moralvorstellungen im Adenauer-Deutschland oder von einem bewussten Verzicht des Regisseurs herrührt, der einmal über sich selbst bemerkt hat, »Filme, die sich um Sex drehen«, würden ihn genieren und von solchen Stoffen würde er sich – Ästhet, der er sei – distanzieren.37 Wenn eine solche Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Zwänge bzw. eigene Sensibilitäten der gewählten Verschachtelung der Erzählebenen hier zugrunde gelegen haben sollte, so hat der Film, wie Peter Zander in seiner vergleichenden Betrachtung von Thomas-Mann-Verfilmungen der Adenauer-Zeit feststellt, aus dieser Not »immerhin eine Tugend« gemacht: Indem er nämlich gar nicht erst den Versuch unternimmt, »eine geschlossene Geschichte zu erzählen«, sondern die einzelnen Szenen – die Musterungsszene, die Houpflé-Affäre, Zaza und Zouzou – als »lose Nummernfolge« präsentiert, »von Kommentaren aus dem Off wie von einem Conférencier moderiert«.38 Zander hebt Hoffmanns KRULL aus allen anderen Mann-Adaptionen dieser Jahre zu Recht heraus, weil es diesem Film gelungen sei, in seinem freien Umgang mit der literarischen Vorlage »einen eigenen, experimentellen Erzählstil zu entwickeln, der die Geschichte augenzwinkernd kommentiert und Manns Ironie eine originär filmische entgegenhält. Dies ist vor allem das Werk der Bild- und Ton-Montage, die mit dem gedrehten Filmmaterial am Schneidetisch in spielerischer Weise umging: ganz so wie Thomas Mann seinerzeit mit seinem Recherchematerial«.39
36 Vgl. Zander, Peter: Thomas Mann im Kino, Berlin: Bertz + Fischer 2005, S. 78. 37 Netzeband: »Der Stoff liegt auf der Straße«. 38 Zander: Thomas Mann im Kino, S. 75. 39 Ebd., S. 77.
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Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4
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Abb. 5
Besondere Beachtung verdienen hier jene Szenenübergänge, die mittels Überblendungen visuelle Echos und figurative Zusammenhänge stiften, mit denen augenzwinkernd immer wieder auf die inszenierte Künstlichkeit und genuin filmische Verfasstheit des Geschehens verwiesen wird. So beispielsweise im Übergang vom letzten Gespräch Krulls mit dem Marquis von Venosta (Peer Schmidt) zu Krulls Abreise aus Paris (Abb. 2-5): Von den Gitarrensaiten der im Hintergrund spielenden Flamenco-Band (die bereits auf die iberische Halbinsel als erste Etappe der Reise voraus weist) wird direkt auf das analoge vertikale Muster der Eisenbahnschienen, dann auf die römisch »I« geschnitten, die den Erste-Klasse-Wagon bezeichnet, in dem Krull (wie der anschließende Kameraschwenk nach oben enthüllt) sich unversehens schon befindet (und die ihrerseits ein spöttisches Echo auf die »III« des Großabteils darstellt, in dem er einst zu seiner Reise nach Paris aufgebrochen war).40 Auf die Spitze getrieben wird dieser Gestus einer frei flottierenden filmischen Ironie in der Schlusswendung des Films, für die den Filmkritikern der 1950er Jahre jedes Verständnis fehlte. Anfreunden konnte man sich zwar mit der Idee, den inhaftierten Krull durch ein entsprechendes Präparat aus dem Naturkundemuseum Professor Kuckucks als Scheintoten entfliehen zu lassen. Nicht jedoch mit der finalen Begegnung zwischen dem unverhofften Liebespaar Krull und Zaza (Liselotte Pulver), der Pariser Gespielin des Marquis de Venosta, die ihm heimlich (und auch ohne Wissen des Zuschauers) nachgereist war und nun
40 Vgl. ebd. Dort auch weitere Beispiele für dieses Verfahren.
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mit ihm in eine vermeintlich glückliche Zukunft entschwinden kann. Die Kritikerin der Zeit empfand dies als unverzeihlichen Stilbruch: »Doch ach, nun wird brav auch noch ein konventionelles und auswendig gelerntes Liebesglück angepappt, so daß man – auch ohne Erinnerung an das geistige Vergnügen des Buches – ein wenig die frische Freude an dem Film verliert und schließlich doch noch mehr der Ironie des Ausrufes zuneigt: ›Nein, was den Filmleuten nicht alles einfällt!‹«41
Und auch Friedrich Luft schloss seine Besprechung in der Welt mit den Worten: »Krull wird geschnappt, muß kurz büßen, entwindet sich der Verhaftung und zieht wieder in die Welt – neuen Abenteuern und Streichen entgegen. Ausgezeichnet! Warum dem aber nun noch ein plumpes Happy-End aufgepappt werden muß, warum auf diesen ganz poetisch heiteren Abgang mit harter Konventionshand die Allerweltsumarmung aufgekleistert wird, verstehe ein anderer.«42
Ist das Happy-End des Films aber tatsächlich so »billig« und dürfen, ja sollen wir es überhaupt »zu ernst nehmen«,43 wie ein anderer Kritiker schweren Herzens, aber gar nicht zu Unrecht fragt? Die Kritik dürfte mit besonderer Spannung das Ende des Films erwartet haben, in der berechtigten Hoffnung, dem Film den Vorwurf der geschmacklosen Kommerzialisierung Thomas Manns dort am leichtesten machen zu können, wo er sich nicht mehr auf den Roman berufen konnte. Vielleicht haben Hoffmann und seine beiden Drehbuchautoren gerade in ihrer Anfügung eines vorschnell als Hollywood-Happy-End diskreditierten Schlusses allen vermeintlichen Thomas-Mann-Kennern aber den größten Streich gespielt. Denn ausgerechnet die vermeintlich offensichtlichste Beugung des Stoffes in Richtung einer dramaturgisch unmotiviert und insofern fantastisch anmutenden Genrekinokonvention stellt die filmische Realisierung eines Gedankenspiels, einer literarischen Fantasie dar, die Thomas Mann seinem Ich-Erzähler an einer Stelle des Romans gestattet hat, an der es heißt:
41 Müller: »Lockere Bekenntnisse«. 42 Luft: »Der Bel Ami unter den Schelmen der Welt«. 43 Nemo: »Hochstapler Felix Krull als Film«.
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»Eine andere Zaza – so anders in der Tat, dass ich mich nachträglich frage, ob eine eigentliche Ähnlichkeit, wenn ich sie auch mit Augen zu sehen glaubte, überhaupt vorlag. Glaubte ich sie vielleicht nur zu sehen, weil ich sie sehen wollte, weil ich – sonderbar zu sagen – nach einer Doppelgängerin Zazas auf der Suche war? [...] Kann es sein, dass ich die Verliebtheit in sie in meine neue Identität aufgenommen, daß ich mich nachträglich in sie verliebt hatte und in der Fremde einer Zaza zu begegnen wünschte?«44
Auf jeden Fall aber bestätigt der Schluss gleich in mehrfacher Hinsicht die Gesamttendenz des Films, den eigenen Bezug zur literarischen Vorlage konsequent zu ironisieren und in die entsprechenden filmischen Formen zu überführen. So einmal mehr im Dialog, wenn Krull auf Zazas Frage, ob er sie noch liebe, »nein« antwortet und sie zum Beweis dafür küsst.45 Oder in der direkten Adressierung des Publikums kurz zuvor, als Krull Kamera und Publikum gegenüber gerade noch beteuert hatte, er habe »eine entscheidend wichtige Lehre« aus all seinen Abenteuern gezogen: »Frauen sind lebensgefährlich und daher unbedingt zu meiden.« Nur um mitten im Vortrag von der Zustellung eines Billets unterbrochen zu werden und mit den Worten: »Sie entschuldigen mich bitte für einen Augenblick« in die Arme der Absenderin zu eilen. Damit, so Peter Zander, wird »auch die letzte Instanz, Krulls Erzählperspektive, ironisch gebrochen, was im Kontext des Unterhaltungsfilms ein amüsantes Spiel von Sein und Schein ergibt. Das letzte Wort hat entsprechend die Kamera, wenn der Erzähler längst verstummt ist. Der Roman wird hier vom Film eines Besseren belehrt«.46
Das kann nicht im Sinne Erika Manns gewesen sein, die schließlich an der Produktion des Films entscheidenden Anteil genommen und darauf zu achten hatte, dass ein solch doppeltes Spiel mit dem Werk ihres Vaters nicht gespielt wird. Wenn man nicht davon ausgeht, dass sie eben darin den Geist dessen, was ihrem Vater schon mit dem Roman vorgeschwebt war, bewahrt sah, bleibt die Frage, wie Erika Manns Auftritt im Film aus dieser Perspektive im Nachhinein zu bewerten ist.
44 Mann: »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«, S. 559f. 45 Vgl. a. de Haas: »Schauspieler Horst Buchholz hatte seinen großen Abend«. 46 Zander: Thomas Mann im Kino, S. 79.
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Abb. 6
Den Weg mag hier ein Kurzauftritt weisen, den eine andere Thomas Mann nahe stehenden Person in Kurt Hoffmanns KRULL hat: der Schauspieler Walter Rilla als Lord Kilmarnock (Abb. 6). Die wenigen Szenen, in denen Rilla zu sehen ist, schienen schon damaligen Kritikern aus dem von Film vorgegebenen Rahmen zu fallen. Friedrich Luft berichtete, das »heikle, homoerotische Zwischenspiel mit dem reichen Lord Kilmarnock [...], der sich auf schlimme und tragische Weise in den jungen Adonis vergafft« sei »so geschmackvoll und taktsicher angerichtet, daß es vor Beteiligung ganz still im hohen Kinosaale«47 geworden sei. Wie Walter Rilla die deutsche Öffentlichkeit in einem während der Dreharbeiten zu FELIX KRULL publizierten Text wissen ließ, stand er für den Film »nach zwanzigjähriger Emigration in England zum erstenmal wieder in einem deutschen Filmatelier vor der Kamera«.48 Da er Thomas Mann über lange Jahre freundschaftlich verbunden gewesen war, so stellt er an gleicher Stelle einleitend fest, sei es für ihn eine besondere Freude gewesen, dass es dessen Worte waren, die er als erste deutsche Worte in einem Film zu sagen hatte. Wenn Rilla sich dann aber an seine letzte Begegnung mit Mann erinnert, ähnelt die Schilderung derart genau den späteren Szenen im Film, dass es schwer fällt, hier noch zu entscheiden, ob die wahre Begegnung des Schauspielers mit dem Schriftsteller in die Inszenierung hineinprojiziert wird
47 Luft: »Der Bel Ami unter den Schelmen der Welt«. 48 Rilla, Walter: »Kleine Feier für Thomas Mann«, in: Die Welt vom 12.3. 1957.
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– und diese damit auf verschlungene Weise authentisch erscheinen lässt – oder ob umgekehrt die Erinnerung des Schauspielers bereits dem Drehbuch des späteren Films folgt: »Das war in London, ein Jahr oder eineinhalb vor seinem Tod, ich war ihn besuchen gegangen in seinem Appartment im Savoy-Hotel, und da saß er mir gegenüber in seiner Sofaecke, hatte kaum ein graues Haar, sah nicht ein Jahr älter aus als sechzig und rauchte seine Zigaretten wie eh und je. Und da fragte ich ihn nach dem Felix Krull und wie es denn nun, nach dem unerhörten Schluß des ersten Bandes, weiterginge. [...] Daran also dachte ich unter den Lampen im Filmatelier. Und als ich am Abend fertig war, fuhr ich in mein Hotel zurück, zog mich um und ging hinunter in die Bar.«49
Ebenso wie erst in der Überlagerung des aus dem Exil zurückkehrenden Schauspielers mit der von ihm gespielten Figur des melancholisch verliebten homosexuellen Lords sich aus heutiger Sicht ein Bild im Film einstellt, das die Präsenz Thomas Manns auf umständlich verschachtelte, doch folgerichtige Weise suggeriert, beginnt auch die Erscheinung Erika Manns als Gouvernante zwischen authentischer Anmutung und der Maskerade des Zitats zu oszillieren. Dass Kurt Hoffmanns BEKENNTNISSE DES HOCHSTAPLERS FELIX KRULL zu derartigen Vexierspielen zwischen literarisch-biografischer Authentifizierung und filmisch-imaginärer Brechung und Spiegelung der Bezugsebenen bis heute einlädt, deutet darauf hin, dass es dem Regisseur am Ende doch noch gelungen ist, die disparaten Erwartungshaltungen seines Publikums zu bedienen und mehrdimensionale Lesarten zu ermöglichen. Der Reiz, der dieser Form der filmischen Aneignung von Literatur (und literarischem Leben) entspringt, kann (und will) an sich noch keinen Kunstanspruch erheben. Als produktive ästhetische Strategie der literarischen Adaption zu Unterhaltungszwecken fügt sie sich jedoch keineswegs eindeutig den Kategorien der rein illustrativen filmischen »Ergänzung«, partiell eingreifenden filmischen »Verwandlung« und radikalen filmischen »Neuschöpfung«, mit denen die Filmge-
49 Ebd.
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schichtsschreibung die Literaturverfilmungen der Adenauer-Zeit nach qualitativen, vornehmlich textbasierten Kriterien sortiert.50
50 Vgl. Segeberg, Harro: »Literatur im Film. Modelle der Adaption«, in: Harro Segeberg (Hg.): Mediale Mobilmachung III. Das Kino der Bundesrepublik Deutschland als Kulturindustrie (1950-1962), Mediengeschichte des Films, Bd. 6, München: Fink 2009, S. 411-431.
9 | Kino im Katastrophenschatten DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE und LE MÉPRIS
Peter Sloterdijk zufolge ist den westeuropäischen Gesellschaften im »Katastrophenschatten« der Jahre 1914 bis 1945 ein »nachgeschichtlicher modus vivendi« gemeinsam, eine »nach-tragische« und »nachepische« Lebensform, bei der die »Zivilisierung« die Tragödie und die »Negotiation« das Epos ersetzt haben.1 Damit ist eine Umschichtungsbewegung skizziert, an der sich die an gleicher Stelle generell behauptete Bedeutung und Funktion von »Nachkriegszeiten für die Selbstregulierung von Kulturen« exemplifizieren lässt.2 Trotz der gemeinsamen Abwendung von Tragödie und Epos als sinnstiftenden Formen kultureller Selbstverständigung steht im Ergebnis des konkreten Beschreibungsversuchs der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 bei Sloterdijk die These, dass es »aufgrund der […] stark abweichenden Nachkriegsprozesse in beiden Ländern keine Beziehungen zwischen ihnen geben« könne: Ihr Verhältnis sei »günstigenfalls als das einer wohlwollenden gegenseitigen Nicht-Beachtung oder einer benignen Entfremdung zu bezeichnen, wie man sie manchmal zwischen ehemaligen Liebespartnern findet – und warum auch nicht zwischen ehemaligen Hasspartnern.«3 So pauschal diese Behauptung der Unmöglichkeit eines deutschfranzösischen Verhältnisses im Schatten von Nationalsozialismus und
1
Sloterdijk, Peter: Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1945, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 7ff.
2
Ebd., S. 8.
3
Ebd., S. 8f.
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Zweitem Weltkrieg ist, sie perspektiviert eine kultur- und filmgeschichtliche Konstellation, die sich zumindest in der radikalen filmischen Umarbeitung tragischer und epischer Gehalte in das ihr zugrunde liegende Szenario zu fügen scheint: Im Folgenden soll daher der Versuch einer Parallellektüre von Fritz Langs DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE (1960) und Jean-Luc Godards LE MÉPRIS (DIE VERACHTUNG, 1962) unternommen werden, die beide Filme als kommunizierende Röhren eines in die Latenzzeit des Zweiten Weltkriegs fallenden kulturellen Selbstverständigungsprozesses betrachtet. Dabei handelt es sich um zwei Werke, wie sie, wären sie nicht durch die Figur Fritz Langs verbunden, auf den ersten Blick voneinander kaum weiter entfernt anmuten könnten.4 Beide Filme siedeln zudem ihre Erzählstoffe in der Gegenwart an und scheinen daher nur mittelbar mit der Erinnerung an Krieg und Faschismus und den Prozessen ihrer kulturellen Verarbeitung zu tun zu haben. DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE, als deutsch-italienisch-französische Koproduktion unter der Federführung von Artur Brauners CCCFilm entstanden, lässt einen selbsternannten Nachfolger – den Arzt und Architekten Dr. Jordan, der auch in der Maske des blinden Hellsehers Peter Cornelius auftritt (beide gespielt von Wolfgang Preiss) – die Pläne des toten Mabuse im Nachkriegsdeutschland fortführen. Mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems von Überwachungskameras kontrolliert der Widergänger Mabuses das Berliner Hotel Luxor, in dem der amerikanische Multimillionär Henri B. Travers (Peter van Eyck) abgestiegen ist. Um Zugang zu Travers zu erhalten, bringt der Verbrecher durch Hypnose die junge Marion Menil (Dawn Addams) dazu, einen Selbstmordversuch zu unternehmen, bei dem sie von Travers gerettet wird. Ziel des neuen Mabuse ist es, die Kontrolle über die Atomkraftwerke von Travers zu erlangen. Die Polizei, an der Spitze Kriminalkommissar Kraus (Gert Fröbe), ist ihm jedoch auf der Spur. Mit Hilfe von Travers und Marion Menil werden sein Überwachungssystem entdeckt und seine Identität enthüllt; seine Pläne, der Konvention des Kriminalfilms entsprechend, im letzten Moment vereitelt. In der auf lineare Spannungssteigerung ausgerichteten Erzählanlage unterscheidet sich der Film auf den ersten Blick kaum von ähnlichen Unterhal-
4
Godard selbst hat vor allem den Einfluss von Langs M (1931) auf LE PETIT SOLDAT
(1960) hervorgehoben. Vgl. Godard, Jean-Luc: Einführung in eine
wahre Geschichte des Kinos, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S. 33ff.
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tungsfilmen des deutschen Genrekinos jener Jahre, geschweige denn von den noch folgenden Beiträgen zur Mabuse-Serie der CCC, bei denen Lang selbst nicht mehr Regie geführt hat und die Titel tragen wie IM STAHLNETZ DES DR. MABUSE (1961, Regie: Harald Reinl), DIE UNSICHTBAREN KRALLEN DES DR. MABUSE (1961/62, Reinl), SCOTLAND YARD JAGT DR. MABUSE (1963, Paul May) oder DIE TODESSTRAHLEN 5 DES DR. MABUSE (1964, Hugo Fregonese). Wird Langs letzter Film gemeinhin als unerfreuliche Konzession eines ehemals gefeierten auteurs des ambitionierten Weimarer Kinos und klassischen Hollywood betrachtet, so gilt LE MÉPRIS als einer der künstlerisch anspruchsvollsten Filme Godards und als eines der zentralen »Meisterwerke« des westeuropäischen Autorenfilms überhaupt. Schon in seiner Gesamtanlage als Film-im-Film bedient sich LE MÉPRIS eines der bevorzugten reflexiven Verfahren des Autorenfilms. In Grundzügen auf Alberto Moravias Roman Il disprezzo basierend, wird die Geschichte eines Filmprojekts erzählt: »Der amerikanische Produzent Prokosch (Jack Palance) ruft den Filmschreiber Paul Javal (Michel Piccoli) zu Hilfe, weil er meint, sein Regisseur (Fritz Lang als Fritz Lang) mache ihm einen kommerziell völlig untauglichen, altmodischen Odysseus-Film. Nach dem ersten Zusammentreffen des Produzenten und des Drehbuchschreibers spielt sich die für die Ehegeschichte Javals wenigstens äußerlich entscheidende Szene ab. Prokosch lädt Javal und seine Frau Camille (Brigitte Bardot) in seine Villa ein; er fährt einen Alfa Romeo mit nur zwei Sitzen; Paul klemmt sich nicht auf den Notsitz, sondern schickt seine Frau mit dem Produzenten voraus und nimmt ein Taxi, mit dem er sich verspätet. […]
5
Vgl. Bergfelder, Tim: International Adventures. German Popular Cinema and European Co-Productions in the 1960s, New York/Oxford: Berghahn 2005, S. 103-137. Zuschlagen ließe er sich mit Blick auf seine Erzählanlage höchstens einer innerhalb des populären westdeutschen Kriminalfilms der 1950er Jahre zu beobachtenden Tendenz, unter explizitem Verweis auf die gesellschaftspolitischen Bedingungen von Kriminalität eine eindeutige Lösung des Verbrechens zu verweigern. Vgl. zu diesem Aspekt, der allerdings noch im Zusammenhang der Serialität der Mabuse-Filme zu reflektieren wäre, Joglekar, Yogini: »Helmut Käutner’s EPILOG: DAS GEHEIMNIS DER
ORPLID and the West German Detective Film of the 1950s«, in:
John E. Davidson/Sabine Hake (Hg.), Framing the Fifties. Cinema in a Divided Germany, New York/Oxford: Berghahn 2007, S. 59-73.
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Camille jedenfalls ist beleidigt. In der Eheszene in der noch nicht eingerichteten und noch nicht bezahlten Dreizimmerwohnung der Javals zeigt sich, daß Paul sie dem Produzenten hat anbieten wollen oder doch mindestens mit der Möglichkeit gerechnet hat. Die Dreharbeiten finden auf Capri statt; mehr widerwillig fährt Camille mit. Paul meint nun, den modernen Dreh für den Odysseus-Film herausgefunden zu haben: Odysseus ist ein Neurotiker, hat Eheschwierigkeiten. Camille schreibt ihrem Mann schließlich einen Abschiedsbrief […] und fährt mit Prokosch zurück nach Rom. Bei einem Autounfall kommen beide ums Leben.«6
Dieser narrative Entwurf wird von Anfang an durch den verfremdenden Einsatz von Off-Kommentar, Musik und Farbe reflexiv gebrochen. An die Seite der diegetisch verankerten Szenen der Gegenwartshandlung tritt zudem eine zweite, die Erzählung interpunktierende Ebene mit statisch-statuarischen Ansichten von Figuren aus Homers Epos, deren ontologischer Status in der Schwebe bleibt. (Stammen sie aus dem geplanten Film? Dienen sie Godard als Mittel eines direkten Autorenkommentars zur Handlung?) Wenn DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE und LE MÉPRIS bei allen nur zu offensichtlichen filmästhetischen Differenzen hier dennoch in der Zusammenschau betrachtet werden sollen, so gilt das Interesse dem, was man mit Thomas Elsaesser das »historisch Imaginäre« der beiden Filme nennen könnte und womit ihre reflexive Ausrichtung auf die Geschichtlichkeit der eigenen kinematographischen Form gemeint ist.7 Zu zeigen wäre in diesem Zusammenhang, dass Langs letzte Regiearbeit und Godards Hommage an Lang in genau dieser ästhetisch gebrochenen Ausrichtung auf Geschichte eine Reihe von Verwandtschaften aufweisen, die für ein Verständnis des westeuropäischen Nachkriegskinos – und hier nicht nur des Autorenfilms – aufschlussreich sein können.
6
Schaub, Martin: »Kommentierte Filmographie«, in: Peter W. Jansen/ Wolfram Schütte (Hg.), Jean-Luc Godard, München/Wien: Hanser 1979, S. 117ff.
7
Zum Begriff des »historical imaginary« vgl. Elsaesser, Thomas: Weimar Cinema and After. Germany’s Historical Imaginary, London: Routledge 2000, S. 3ff.
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Obwohl beide Filme – populäres Genrestück der eine, avantgardistischer Kunstfilm der andere – eher beiläufig, und nur an wenigen Dialogstellen explizit, auf NS-Vergangenheit und Nachkriegsrealität rekurrieren und damit ihre realgeschichtliche Position sehr zurückhaltend annoncieren, führen sie doch vor, wie auf dieser historischen Folie die Möglichkeitsbedingungen jedes direkten filmischen Weltbezugs fragwürdig geworden sind und auf neue bzw. andere als rein semantisch bezeichnende oder mimetisch abbildende Art reflektiert werden müssen. Auf je unterschiedliche und dennoch, so die These, komplementäre Weise entwirft DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE nicht weniger konzise als LE MÉPRIS die Welt des Kinos als jenen Ort, an dem sich Vergangenheit und Gegenwart durchdringen, Reales und Imaginäres in ein wechselseitiges Austauschverhältnis treten. Es ist dies eine Bestimmung der ästhetischen Modellierung von Geschichte, wie sie aus dem europäischen Autorenfilm der 1960er und 1970er Jahre hinreichend bekannt ist, dem Genrekino der 1950er und frühen 1960er Jahre, dem Langs letzter Mabuse-Film in erster Linie angehört, jedoch selten zugeschrieben wird. Gilles Deleuze hat die korrelierende ästhetische Transformation als die Entstehung des ZeitBildes aus der Krise des Bewegungs-Bildes beschrieben und nicht zuletzt an Godard festgemacht.8 Mit dem Paar Lang/Godard und der konkreten Gegenüberstellung der beiden Beispielfilme soll im Anschluss an Gilles Deleuze suggeriert werden, dass sich hier nicht nur ein Umschlagpunkt, sondern eine signifikante Verschlingung zwischen den Regimes von Bewegungsbild und Zeitbild erkennen lässt, die in beide Richtungen weist und quer zur die Beschäftigung mit dem europäischen Nachkriegskino noch immer prägenden Unterscheidung von Genrekino und Autorenfilm operiert.9
8
Vgl. die Godard gewidmeten Passagen von Kapitel 7 (»Das Denken und das Kino«) und Kapitel 8 (»Kino, Körper und Gehirn, Denken«) in Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Zum Zusammenhang Godard/Deleuze vgl. a. Büttner, Elisabeth: Projektion. Montage. Politik. Die Praxis der Ideen von Jean-Luc Godard und Gilles Deleuze, Wien: Synema 1999.
9
Deleuze bezeichnet das zweite Regime auch als »ein kristallines Regime, das Regime des Zeit-Bildes«. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 19721990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 99.
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Nicht zufällig, sondern durchaus strategisch steht an diesem Punkt mit Fritz Lang eine Figur, die sich in ihren Filmen von jeher zwischen Legende und Wirklichkeit, Autorenfilm und Genrekino, Kunst und Kitsch, Politik und Ästhetik bewegt hat.10 Es geht – und das wäre das übergeordnete Projekt, das sich hinter meinen Beobachtungen und Überlegungen abzeichnen könnte – daher auch um eine Neubetrachtung der Rolle Fritz Langs im europäischen – und nicht nur deutschen – Nachkriegskino und für das europäische – und nicht nur deutsche – Nachkriegskino.
D AS K INO
UND DAS HISTORISCHE I MAGINÄRE
Mit dem Begriff des historischen Imaginären hat Thomas Elsaesser eine Denkfigur in die Diskussion der Geschichtlichkeit des Films eingebracht, an der sich eine Reihe konzeptueller Fragen zur gesellschaftspolitischen Funktion des Kinos, von historischer Kontinuität und Diskontinuität, Tradition und Neubeginn in der Filmgeschichte neu stellen lassen. Für Elsaesser fungiert das Weimarer Kino, auf das der Begriff ursprünglich gemünzt war, innerhalb der Filmgeschichte als eine wirkungsmächtige Figuration des »historischen Imaginären«. So ist das Weimarer Kino »[...] nicht nur eine besondere Epoche des deutschen Kinos, es ist das historisch Imaginäre dieses Kinos, womit gemeint ist, dass das Weimarer Kino quasi der Doppelgänger aller deutschen Filme ist: ein vorwärts wie rückwärts durch die Zeit reisendes, scheinbar immer wiederkehrendes Double, das bereits in den zwanziger Jahren die Kino-Debatten begleitete, bevor das Nazi-Kino und dessen Versuche, es zu be- bzw. enterben, von ihm überschattet wurde. Es verlieh der Arbeit der deutschen Filmemigranten in Frankreich und Hollywood, in Form des Film noir, ambivalente Anerkennung, und schließlich bot es
10 Vgl. in diesem Zusammenhang programmatisch Lang, Fritz: »Kitsch – Sensation – Kultur und Film«, in: Edgar Beyfuss/Alex Kossowsky (Hg.), Das Kulturfilmbuch, Berlin: Chryselius 1924, S. 28-31.
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dem Neuen Deutschen Kino der siebziger und achtziger Jahre eine Tradition und einen Bezugspunkt.«11
Zu den Vorzügen von Elsaessers Konzeptualisierung des Begriffs des »historischen Imaginären« als einer kulturellen Zeitlogik medialer Rekursivität, die traditionelle Muster chronologischen Fortschritts und linearer Einflussnahme untergräbt, gehört zum einen, dass die von ihr erfasste Logik quer zu herkömmlichen Kategorisierungen in Kunstund Populärkino operiert; zum anderen, dass sie den kulturellen Einfluss, die historische Bedeutung und gesellschaftspolitische Funktion von Filmen nach deren spezifischer ästhetischer Form bemisst. Nicht primär auf den Ebenen der manifesten Erzählinhalte und historischen Produktionsweisen, die als symptomatisch oder stilprägend angesehen werden, sondern in ihrer konkreten ästhetischen Artikulation kann den Filmen des Weimarer Kinos Elsaesser zufolge eine ganz eigene Spezifik zugesprochen werden, die zugleich ihre Geschichtlichkeit ausmacht: »[…] the films usually indexed as Weimar cinema have one thing in common: they are invariably indexed as picture puzzles. Consistently if not systematically, they refuse to be tied down to a single meaning. […] Kracauer’s Möbiusstrip effect is […] due to a set of formal and stylistic devices, whose equivalences, inversions and reversals facilitate but also necessitate the spectator constructing ›allegories of meaning‹. […] Apart from the ambiguity after which all art strives, Weimar cinema’s rebus images – readable, like Wittgenstein’s duck-rabbit picture as either the one, or the other, but not both at the same time – have to do with mundane matters of film economics and marketing, with the film industry and its objectives and constraints. These function as the ›historical symbolic‹, the limits and horizons that outline and yet vanish in the historical imaginary.«12
Das historische Imaginäre wäre somit zu verstehen als eine Form von Geschichtlichkeit des Films, die sich gewissermaßen von innen heraus
11 Elsaesser, Thomas: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig, Berlin: Vorwerk 8 1999, S. 10. 12 Elsaesser: Weimar Cinema and After, S. 4f. Ich zitiere diese Passage aus der englischen Ausgabe, da sie sich in dieser Form in der deutschen Ausgabe nicht findet.
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stiftet, subjektive Kontinuitäten schafft, nach Traditionen zwischen kinematographischen Bildformen sucht, Wahlverwandtschaften zwischen Filmemachern über geografische Abstände und historische Brüche hinweg schließt. Seine geschichtsbildende Kraft liegt darin, dass das Imaginäre in diesem Zusammenhang nicht als unwahr definiert ist, sondern – ganz im Sinne Deleuzes – als eine spezifische Dimension historischer Realität, in der die Unterscheidbarkeit zwischen Realem und Irrealem tendenziell aufgehoben ist.13
F RITZ L ANG
UND
F RANKREICH
Durch das konzeptuelle Prisma des historischen Imaginären lassen sich nicht zuletzt diejenigen Schwierigkeiten genauer in den Blick nehmen, die die Begegnung mit Werk und Person Fritz Langs der westdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit bereitete. Während die Protagonisten der französischen Nouvelle Vague dem Filmästheten und Emigranten Fritz Lang in ihren Artikeln und Filmen huldigten, vollzog sich die filmische Annäherung der jungen Generation westdeutscher Filmemacher in den 1960er und 1970er Jahren weitaus behutsamer und weniger vorbehaltlos. In BEGEGNUNG MIT FRITZ LANG (1963) etwa nähert sich Peter Fleischmann seinem Gegenüber während der Dreharbeiten zu Godards LE MÉPRIS über den doppelten Umweg der Lang-Bewunderung Go-
13 Deleuze hat wiederholt seine Zweifel daran geäußert, »ob er [der Begriff des ›Imaginären‹, M.W.] für den Film gültig ist, denn Film produziert Realität« (Deleuze: Unterhandlungen, S. 87f.). Wenn dieser Begriff im deleuzeschen Gefüge von Wahrem und Falschem, Realem und Irrealem, Aktuellem und Virtuellem eine Funktion hat, so die folgende: »Das Reale ist die legale Verbindung, die verlängerte Verknüpfung der aktuellen Momente; das Irreale ist das abrupte und diskontinuierliche Auftauchen im Bewusstsein, eine Virtualität, die sich aktualisiert. […] Falsches gibt es, sobald die Unterscheidung von Realem und Irrealem nicht mehr erkennbar ist. […] Das Falsche ist nicht Irrtum oder Verwirrung, sondern eine Macht, die das Wahre unentscheidbar macht. […] Das Imaginäre ist nicht das Irreale, sondern die Nicht-Unterscheidbarkeit von Realem und Irrealem. […] Das Imaginäre ist das Kristallbild.« (Ebd., S. 97f.) Vgl. a. die entsprechende Bestimmung in Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 138ff.
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dards und Alain Robbe-Grillets sowie der fiktiven Figur »Fritz Lang«, die Lang in Godards Film verkörpert. Im Stil einer Reportage befragt Fleischmann Lang über dessen Beziehung zu den Filmen Godards und der Nouvelle Vague, das Verhältnis zu Produzenten und die Voraussetzungen, die zur Schaffung eines in sich geschlossenen Werks notwendig sind. Ausschnitte aus DER MÜDE TOD (1921) und DIE NIBELUNGEN (2 Teile, 1922-24) dienen der Kontrastierung zwischen Langs wie auf dem Reißbrett entworfenen architektonischen Studiovisionen, in denen, wie der Off-Kommentar wissen lässt, »der Zufall keinen Platz hat«, und der improvisatorischen Arbeitsweise Godards on location auf Capri. Fleischmanns Film bezieht sich ausführlich auf Langs deutsche Filme der Zeit vor 1933, erwähnt seine Arbeit in Frankreich und den USA, nicht aber seine jüngsten westdeutschen Produktionen DER TIGER VON ESCHNAPUR und DAS INDISCHE GRABMAL (beide 1958/59) sowie DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE. Identifikationsmoment ist der Brückenschlag zwischen der deutschen Filmavantgarde der 1920er und der französischen der 1960er Jahre. Auch dies kein Zufall, auch Fleischmanns Figur ein Fritz Lang in Anführungszeichen, zwischen denen die für Artur Brauners CCCFilm hergestellten Genrefilme des Spätwerks keinen Platz haben. Und dies nicht nur bei Peter Fleischmann. Für den jungen Enno Patalas trug DER TIGER VON ESCHNAPUR das Stigma des »alten Kinos«, das die Unterzeichner des Oberhausener Manifests wenige Jahre später kollektiv für tot erklären werden: »Langs deutsches Comeback wirkt wie das eines Veteranen, der dreißig Jahre kein Filmstudio besucht, kein Drehbuch in der Hand gehabt und keinen Film gesehen hat: dramaturgisches Ungeschick, künstlerische Indifferenz und schlechter Geschmack vereinen sich in ihm wie sonst nur bei Veit Harlan.«14
Ähnlich scharf fiel die Ablehnung von DAS INDISCHE GRABMAL durch den Filmkritiker Rino Sanders aus. Er sah sich bei dieser Gelegenheit veranlasst, Lang vorab seinen ganz persönlichen Totenschein auszustellen: »Hier ruht Fritz Lang, einst Schöpfer so gewichtiger Filme wie
14 Patalas, Enno: »DER TIGER VON ESCHNAPUR«, in: Filmkritik 3 (1959), S. 69.
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und M [...]. Er stellte jetzt das INDISCHE GRABMAL her. Es ist sein eigenes.«15 Entsprechend zwiespältig gestaltete sich auch das Verhältnis der Filmemacher des Jungen und Neuen Deutschen Films zu Lang. Weder »romantischer Künstler« (wie F.W. Murnau bei Werner Herzog) noch »zärtlicher Beobachter« (wie Detlef Sierck/Douglas Sirk bei Rainer Werner Fassbinder), ließ sich Lang in seiner angeblich widersprüchlichen Stellung zwischen Weimarer Autorenfilm und »Papas Nachkriegskino« nicht ohne weiteres zur wiedergefundenen Vaterfigur einer neu zu stiftenden Kontinuität deutscher Filmgeschichte stilisieren.16 »Wenn man sich die etwa zur gleichen Zeit entstandenen Filme von Fritz Lang anschaut, wo das schlimmste Unvermögen zu Hause ist«, schrieb Fassbinder 1971, »da weiß man, was man hat, wenn man Douglas Sirk im Kopf hat, oder?«17 Mit Lang im Kopf wusste man anscheinend nicht, was man hat. Die anfänglich hohe Erwartungshaltung und frühe Wertschätzung, die dem zurückgekehrten Emigranten Ende der 1950er Jahre etwa von Volker Schlöndorff (der »dem größten lebenden Filmschöpfer Deutschlands« seinen ersten Kurzfilm widmete) oder Alexander Kluge (der bei der Produktion von DAS INDISCHE GRABMAL hospitierte und Lang 1962 zum Direktor des neu gegründeten Ulmer Instituts für Filmgestaltung vorschlug) entgegengebracht wurde, wich bald einer eher skeptischen Haltung gegenüber dem Zeitgenossen Lang. In dieser Konstellation war Kluge bei der Formulierung seines AutorenfilmVerständnisses das Beispiel von Langs Zusammenarbeit mit Artur Brauner lediglich noch als Parabel für die Unvereinbarkeit von subjektiver Phantasie und kommerziellen Zwängen gut.18 METROPOLIS
15 Sanders, Rino, in: Die Welt vom 7.3.1959. 16 Zu den imaginären Vaterfiguren der Regisseure des Neuen Deutschen Films vgl. Elsaesser, Thomas: »The New German Cinema’s Historical Imaginary«, in: Bruce A. Murray/Christopher Wickham (Hg.), Framing the Past. The Historiography of German Cinema and Television, Carbondale, Edvardsville: Southern Illinois University Press 1992, S. 280-307. 17 Fassbinder, Rainer Werner: »Imitation of Life. Über die Filme von Douglas Sirk«, in: Filme befreien den Kopf. Essays und Arbeitsnotizen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 14. 18 Kluge, Alexander: »Zum Autorenfilm«, in: Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste, München: Hanser 1980, S. 102f.: »Fritz Lang wollte etwas
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Die Aporien des schwierigen Umgangs mit der imaginären »Vaterfigur« Fritz Lang werden nicht weniger anschaulich in Wim Wenders’ fast schon totemistischer Beschwörung Langs in IM LAUF DER ZEIT (1976). Wenders selbst brachte sie in seinem Nachruf auf Lang wie folgt auf den Punkt: »Ich war dabeigewesen, alles zu lesen, was ich mir von und über Lang hatte besorgen können, und je tiefer ich da hineingeraten war, um so größer wurde mein Zorn über diesen schizophrenen Zustand [in Deutschland, M.W.], dass da einer geachtet werden sollte, weil er nun tot war, der nicht geachtet worden war, während er gelebt hatte. [...] Jetzt, wo er tot ist, will man ihn schnellstens zum Mythos machen. Scheiße. [...] Von seinen Filmen habe ich viele nicht gesehen. Die ersten, die ich überhaupt gesehen habe, habe ich in Paris gesehen, da waren sie mir sehr fremd. Zumindest fremder als das amerikanische Kino oder das französische und sogar das russische. Weil: diese Filme waren deutsche Filme, und die wollten nicht in meinen Kopf, der schon voll war von anderen Bildern und anderer Bewunderung. Von anderen Vätern als diesem. Es sträubte sich alles in mir gegen diese kühlen und scharfen, sezierenden Bilder,
verwirklichen, das er immer im Kopf gehabt hatte [...]: er wollte ›Das indische Grabmahl‹ verfilmen, das Thea von Harbou für ihn geschrieben hatte [...] und von dem er empfunden hatte, dass es ihm weggenommen worden war. Das sollte sein letztes Werk werden, und er hatte umfassende, fast wagnerische Vorstellungen, wie die Leprakranken aus dem Untergrund hervordringen, welche Perspektivität Willy Schatz ihm bauen sollte, was der Oberbeleuchter ihm ans Licht bringen sollte. Hier regierten der Produzent und seine Schwägerin mit massiver, wirklicher Gewalt hinein, gaben direkte Anweisungen an den Oberbeleuchter, an den Bühnenarchitekten, an alle Mitarbeiter, die ja ihre Angestellten waren; jede zweite Idee von Lang wurde als zu teuer, als abwegig unterminiert. Zum Trost erhielt Lang am Abend Sekt, den er nicht trank. Das war die Zerstörung eines Filmkonzepts, und es ist der Meisterschaft Fritz Langs zu verdanken, dass noch immer ein Film von Qualität entstanden ist. Aber das ist nicht der Film, den Lang machen wollte – ein Kompromiss ist entstanden aus der Übermacht des Produzenten und dem nachhaltigen Widerstand dieses Regisseurs, der mehrfach zurücktreten wollte.«
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diese sichtbar gewordenen Gedanken. [...] Oft ist einem etwas fremd, weil es einem zu nah ist.«19
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DES
S EHENDEN ,
SEHERISCHER
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Stand Langs Nachkriegswerk in Hollywood und im westdeutschen Kino der 1950er Jahre einer positiven und produktiven Bezugnahme der deutschen Filmemacher des Jungen und Neuen Deutschen Films im Wege, die in ihm eben jenen Mythos Langs der Weimarer Zeit zerstört sahen, so schließt Godard in LE MÉPRIS auch die späteren Filme Langs explizit mit ein und sieht von ihnen einen Mythos unberührt, den er in seinem Film auf doppelte Weise ausarbeitet: Einmal, indem er Lang selbst als mythische, zwischen Göttern und Menschen vermittelnde Figur inszeniert; und zum anderen, indem er die grundlegende Struktur des langschen Œuvres, den Kampf des Menschen mit seinem Schicksal in post-metaphysischer Zeit,20 noch einmal in reiner, gleichsam kristalliner Form zum Gestaltungsprinzip seines eigenen Films erhebt: »Am Ende der Plansequenz von LE MÉPRIS, wenn die Stimme erstirbt, bleiben der blaue Himmel (wie am Ende des Films das Meer einer orangefarbenen Krümmung) und eine uns zugeneigte Kamera (die Mikrophonstange beugt sich auch in unsere Richtung) im Bild. Godard hat gesagt, dass sein Film ›von oben gesehen wurde‹ (Die Person Langs markiert deutlich diese Distanz, die ›Höhe‹), dass ›das Kino den Blick der Götter ersetzt‹, jene Götter, die eine unseren Wünschen entsprechende Welt repräsentieren. Was geschieht, wenn diese Götter abwesend sind? Es bleibt das Kino; und wenn sich für dieses ›die Prüfung des Ausdrucks‹ erschöpft hat, bleibt die ›Geschichte‹ dieser Prüfung.«21
Von Lang, und nicht zuletzt von die 1000 AUGEN DES DR. MABUSE, könnte Godard zwei seiner filmischen Grundformeln übernommen haben, auf die auch Deleuze hingewiesen hat: Dass es nämlich im Kino
19 Wenders, Wim: »Sein Tod ist keine Lösung. Der deutsche Filmregisseur Fritz Lang«, in: Hans Günther Pflaum (Hg.), Jahrbuch Film 77/78, München: Hanser 1977, S. 161ff. 20 Vgl. Gunning, Tom: The Films of Fritz Lang. Allegories of Vision and Modernity, London: BFI Publishing 2000. 21 Leutrat, Jean-Louis: Verzweigte Bilder, Weimar: VDG 2003, S. 126f.
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nicht darum ginge, ein richtiges – im Sinne von wahrhaftiges, Wirklichkeit abbildendes – Bild zu geben, sondern nichts weiter als ein Bild.22 Und dass das Wesentliche bei Godard die Verwendung des UND sei, die sich zu keiner Kausalität oder Dialektik fügende reine Konjunktion, Koexistenz und Koaleszenz, mit dem Ziel »›die Grenzen sehen‹, d.h. das nicht Wahrnehmbare sichtbar machen« zu können.23 Bezogen auf LE MÉPRIS ließe sich dieses Verfahren der Sichtbarmachung von auf direkte Weise Undarstellbarem an jenen Punkten des »ästhetischen Miteinanders«24 aufweisen, an denen die Grenze zwischen den Ebenen der Gegenwartshandlung und der antiken mythologischen Folie porös werden und das eine zum Spiegel des anderen wird: Paradigmatisch vorgeführt in der zentralen Sequenz im Apartment von Paul und Camille, deren räumlicher Angelpunkt und zeitliche Spiegelachse die an die Götterstatuen gemahnende Plastik eines weiblichen Körpers bildet (Abb. 1 und 2). Zu denken ist in diesem Zusammenhang aber auch an die erste, auf die Eröffnungseinstellung folgende Szene mit Paul und Camille im Bett: Sie ist nicht nur durch die verschiedenen roten, blauen und gelben Farbfilter, die in ihr zum Einsatz kommen, der Verwechslung mit jeder prä-kinematographischen Realität entzogen.25 In ihrer intertextuellen Anspielung auf die Grundsituation von Alain Resnais’ HIROSHIMA MON AMOUR (1959) enthält sie zudem einen impliziten Verweis auf den reflexiven Gehalt all dessen, was im Gespräch über Camilles Körper nicht zur Sprache kommt: der (film-)geschichtliche Ort nämlich, an dem es geführt wird (Abb. 3).26
22 Deleuze: Unterhandlungen, S. 59. 23 Ebd., S. 69. 24 Beuthan, Ralf: Das Undarstellbare. Film und Philosophie, Metaphysik und Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 49. 25 Joseph Vogl zufolge stellen die Farben in LE MÉPRIS eine eigene Ordnung der Differenz zwischen Sagen und Zeigen, Wörtern und Dingen, Kodes und Materialien dar. Vgl. Vogl, Joseph: »Schöne gelbe Farbe. Godard mit Deleuze«, in: Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.), Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, München: Fink 1996, S. 252-265. Vgl. a. Egner, Silke: Bilder der Farbe, Weimar: VDG 2003, S. 83-95. 26 Zum Verhältnis von Sprache und Bild in LE MÉPRIS vgl. Bersani, Leo/Dutoit, Ulysse: Forms of Being. Cinema, Aesthetics, Subjectivity, London: BFI Publishing 2004, S. 19-73.
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Dieser Prozess des Sichtbarmachens einer Wahrheit über die Welt, die nur in der »Lüge«, d.h. der künstlichen Verfasstheit des Bildes aufscheint, folgt nicht mehr der Logik einer »Enzyklopädie der Welt«, d.h. einem Regime der Repräsentation äußerer Wirklichkeit, das sich schon bei Resnais einer radikalen Kritik unterzogen sah. An ihre Stelle tritt, was Deleuze eine »Pädagogik der Wahrnehmung« im »seherischen« Film nennt, dem nicht mehr »an einer Verschönerung der Natur lag, sondern daran, sie in höchster Intensität zu vergeistigen«.27 Der moderne, seherische Film, so Deleuze, »[...] konstruiert außergewöhnliche Räume; anstelle der sensomotorischen Zeichen treten hier ›Optozeichen‹ und ›Sonozeichen‹. […] Man könnte sagen, dass das aktuelle Bild und sein virtuelles Bild sich kristallisieren. Es ist immer ein doppeltes oder verdoppeltes Kristallbild, […] immer sieht man etwas im Kristall. Zunächst sieht man die Zeit, die Schichten der Zeit, ein unmittelbares Zeit-Bild. [Das Bild] unterhält […] neue Beziehungen zu seinen eigenen optischen und akustischen Elementen: man könnte sagen, dass das Seherische es eher ›lesbar‹ als sichtbar macht.«28
An anderer Stelle bringt Deleuze diese durch den historischen Bruch von Weltkrieg und Holocaust notwendig gewordene Pädagogik der Wahrnehmung mit einer neuen Funktionalität des kinematographischen Bildes in Verbindung: »Nach dem Krieg verschaffte sich […] eine zweite Funktion des Bildes in einer neuen Frage Ausdruck: Was gibt es auf dem Bild zu sehen? ›Nicht mehr: was gibt es dahinter zu sehen, sondern eher: was kann mein Blick aushalten von dem, was ich ohnehin sehe? Und was sich auf einer einzigen Ebene abspielt?‹ […] das Bild akzeptierte seine Flächigkeit, seine ›Oberfläche ohne Tiefe‹ oder seine Untiefe [...].«29
27 Deleuze: Unterhandlungen, S. 104. Vgl. a. ebd., S. 77: »Die große Erfindung des Neorealismus: Man glaubt nicht mehr so recht an die Möglichkeit, auf Situationen einzuwirken oder zu reagieren, und trotzdem ist man überhaupt nicht passiv, man erfasst oder entdeckt irgend etwas Unerträgliches, etwas, das nicht auszuhalten ist, selbst im alltäglichen Leben. Dieser Film ist seherisch.« 28 Ebd., S. 78f. 29 Ebd., S. 103.
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Es ist hier nicht länger der Blick, dem die Zentralfunktion der Entdeckung und Organisation eines Wissens über die Welt hinter den Bildern zukommt. Vielmehr ist das »Auge […] schon in den Dingen, ist Teil des Bildes, es ist die Sichtbarkeit des Bildes. […] Das Auge ist nicht die Kamera, es ist die Leinwand«.30 Gleichzeitig drohe »die neue soziale Macht der Nachkriegszeit, die in Überwachung und Kontrolle bestand, den Film der zweiten Phase zu vernichten«, wie Deleuze schreibt: »Mabuse änderte sein Gesicht und setzte nun Fernseher ein. […] Der gewaltsame Tod wäre folgender: nicht länger ist der Grund des Bildes immer schon ein Bild […], sondern alle Bilder werfen mir ein einziges zurück: das meines leeren Auges, in Kontakt mit einer Un-Natur, kontrollierter Zuschauer, der in die Kulissen hinübergewechselt ist, in Kontakt mit dem Bild, in das Bild eingeblendet.«31
A UGE , K ETTE , S PUR Sowohl in DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE wie auch in LE MÉPRIS finden sich Schlüsselbilder für die bei Deleuze beschriebene Konfiguration einer in das Bild hinübergewechselten Zuschauerschaft, deren historischer Index das leere Auge im Kontakt mit der unheimlichen Natur bzw. Un-Natur der Dinge ist (Abb. 4 und 5). Während Godard das Motiv direkt von Homer und der griechischen Mythologie bezieht, greift Lang hierbei auf die Figur des blinden Sehers zurück, die auch jenseits der Mabuse-Filme in seinem Werk eine lange Tradition hat.32 Ihre vermeintliche Blindheit steht bei Lang für ein besonderes, sinnliches Wahrnehmungs-, mentales Durchdringungs- und kognitives Deutungsvermögen der Umwelt (z.B. in M, 1931) ebenso wie für die Lüge als jene Maske, in und unter der die gesellschaftliche Wahrheit von Macht und Gewalt aufscheint (z.B. in MINISTRY OF FEAR, 1943/44).
30 Ebd., S. 82. 31 Ebd., S. 106f. 32 Vgl. Wedel, Michael: »De blinde Ziener. Fritz Lang op het keerpunt«, in: Skrien 2 (März 2002), S. 31ff.
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DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE nimmt beide Dimensionen der Figur wieder auf, um aus ihnen das ästhetische Kernparadox des Films zu gewinnen: Die hellsichtige Blindheit des Sehers Cornelius und das den hypnotischen Blick des toten Mabuse in 1000 unsichtbare Augen zerlegende Überwachungssystem des Hotel Luxor markieren die Grundkoordinaten für ein doppeltes Spiel mit der »Maske des Mediums«. Je weiter dieses Spiel im Erzählfortschritt enthüllt wird, Cornelius seiner Blindheit entkleidet, das Überwachungssystem des Hotels dekuvriert, desto vollständiger zwingt der Wahrnehmungsprozess dem Zuschauer selbst diese Maske auf. Die am Ende des Films gegebene Erzählinformation, dass das von Cornelius/Dr. Jordan, dem doppelten Widergänger Mabuses, zu verbrecherischen Zwecken eingesetzte Überwachungssystem des Hotels bereits vor dem Zweiten Weltkrieg von der Gestapo eingerichtet wurde, mag den Entwurf der Kriminalhandlung des Films als Dokument einer Vergangenheit ausweisen, die nicht vergehen will. Eingelöst wird dieser Anspruch jedoch erst in der ästhetischen Zurichtung eines Zuschauerblicks, der mit dem aktualisierten Schrecken nicht nur konfrontiert wird, sondern sich in seiner Wahrnehmung selbst in ihn verstrickt findet: Der aushalten muss, was ihn nicht aus der Tiefe der historischen Zeit einmal mehr anspringt, sondern was sich unmittelbar auf der Oberfläche seiner sinnlichen Wahrnehmung einschreibt. Wie dies von Lang ins Werk gesetzt wird, lässt sich an der Spur verfolgen, die das paradigmatische Augenpaar des blinden Sehers Cornelius in seinen Mediatisierungen und ornamentalen Vervielfältigungen quer durch den Film legt. Als visuelles Echo eines doppelten Lichtpunktes schreibt es sich nicht nur in die Dinge ein, die sich im Hotel befinden (Abb. 6), es durchwirkt nahezu sämtliche im Film gezeigten Räume, inklusive der polizeilichen Abhörwagen und Besprechungszimmer (Abb. 7 und 8). Das Ornament des verdoppelten, hypnotisch nach innen wirkenden wie analytisch nach außen gehenden Auges wird damit zur Spiegelung des Zuschauerblicks selbst – zur Chiffre einer medialen Adressierung, mit der der Film den Blick des Zuschauers erwidert. Eine wichtige Transformation erfährt dieses Motiv im Verlauf des Films darin, dass es zum einen im Raum vervielfältigt, zum anderen
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televisuell mediatisiert wird.33 Im Zimmer der unter dem hypnotischen Einfluss Dr. Jordans stehenden, vom Überwachungssystem des Hotels beobachteten Marion Menil ist das eine »sehende« Auge der Überwachungskamera im Deckenstuck eingelassen in das Ornament einer Vielzahl »blinder« Augen (Abb. 9). Durch entsprechende Kadrierungen und Bildkompositionen wird die Verschränkung von individuellem Blick, äußerer Beobachtung und psychologischem Terror ins Bild gerückt, etwa wenn die Stuckleiste mitten durch den Kopf Travens gezogen wird und den Horizont seines eigenen Blicks zu bezeichnen scheint (Abb. 10). Auch in anderen Räumen des Hotels, z.B. dem Fahrstuhl (Abb. 11), kehrt dieses Muster der Verdinglichung, Vervielfältigung und Mediatisierung des Blicks als eine die Figuren und die Handlungsschauplätze umschließende Kette wieder. Sie ist, wie Lang in anderen Bildmetaphern suggeriert, Schmuck und Fessel zugleich, diegetisches Attribut Marions (deren Perlenketten und Perlenohrringe das Motiv aufnehmen und variieren) und meta-diegetisches Prinzip des filmischen Prozesses der Verkettung und Vervielfältigung, Kondensierung und Überblendung selbst (Abb. 12).
Abb. 10
33 Zum Verhältnis von televisuellem Dispositiv und ornamentaler Kodierung des Wahrnehmungsraums in DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE, auf das im Folgenden nicht näher eingegangen wird, vgl. Wedel, Michael: »Constitutive Contingencies. Fritz Lang, Double Vision, and the Place of Rupture«, in: Jaap Kooijman/Patricia Pisters/Wanda Strauven (Hg.), Mind the Screen. Media Concepts According to Thomas Elsaesser, Amsterdam: Amsterdam University Press 2008, S. 166-176, hier S. 173f.
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Abb. 11
Abb. 12
Abb. 13
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Abb. 14
In einer letzten Variation und Übertragung des Motivs bindet der Film es zurück auf die historische Nachkriegsrealität seines eigenen Entstehens, die ihm insofern nicht nur als Kulisse seines Kriminalsujets dient, sondern als jener Punkt, auf den sein ästhetisches Kalkül folgerichtig hinausläuft. In der Szene der Flucht Dr. Jordans aus dem Hotel Luxor schreibt die Maschinengewehrsalve emblematisch ein letztes Kettenornament auf die Fassade des Hotels (Abb. 13), mit dem sich das Motiv des multiplizierten Augenpaares schließlich in jene Gewalt verwandelt, die es immer schon impliziert hat. Wenn Kriminalkommissar Kraus in der folgenden Einstellung die Verfolgung Jordans aufnimmt, ist im Umschnitt auf den Parkplatz vor dem Hotel im Hintergrund ein ähnliches Muster von Einschüssen zu entdecken, das allerdings als Relikt des Zweiten Weltkriegs einer anderen Realität und historischen Zeit angehört (Abb. 14). Wenn es stimmt, dass es neben der Aussicht auf eine Rückkehr ins Nachkriegs-Berlin34 vor allem zwei Zeitungsberichte waren, die Lang dazu bewogen haben, den Kinomythos Mabuse nach 1921/22 (DR. MABUSE – DER SPIELER) und 1932/33 (DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE) ein weiteres Mal wiederauferstehen zu lassen – »der erste über ein von der US-Armee entwickeltes Geschoss, das angeblich keine Spuren im Körper des Getroffenen hinterließ, der zweite über ein von den Nazis geplantes Prominentenhotel, in dessen Zimmern versteckte Mikrophone eingebaut werden sollten. Unsichtbare Zeugen, unsichtba-
34 Vgl. McGilligan, Patrick: Fritz Lang. The Nature of the Beast, New York: St. Martin’s Press 1997, S. 439.
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re Projektile: dahinter erkannte Lang Mabuses Geist«35 –, dann könnte der Kern seines Vorhabens darin gelegen haben, die Spuren der Projektile wieder lesbar und die Zuschauer seines Films zum erneuten Zeugen ihrer Gewalt zu machen. Weniger in der narrativen Bezugnahme auf die fiktive NS-Vergangenheit des Hotels Luxor als vielmehr in einer »Verkettung« der Spuren historischer Zeit und filmischer Inszenierung, die Naht und nahtlos zugleich ist, mag man hier den Anspruch eingelöst sehen, Virtuelles und Aktuelles im ästhetischen Bild zu kristallisieren. In seiner Wendung der narrativen »Spur«, der jede Kriminalhandlung zu folgen hat, ins Ästhetische und zugleich Historische, erscheint Langs Films letztlich kaum weniger rekursiv gebrochen als LE MÉPRIS, dessen fiktives Projekt einer Verfilmung der Odyssee per Infrarierung zum Formprinzip von Godards Film selbst wird.36 Als Antwort auf Sloterdijks These eines »nach-tragischen« und »nach-epischen« Zeitalters nach 1945 halten beide Filme die Antwort bereit, am Mythos festzuhalten, und wenn es nur der Mythos vom Kino ist, den Mabuse hier und Lang selbst dort verkörpern. Dieses Festhalten bedeutet aber auch, das Epische und das Tragische einerseits (bei Lang) der »Zivilisierung« des seriellen Genrekinos auszusetzen, andererseits (bei Godard) im Prozess der »Negotiation« durch Verfremdung und Disjunktion zu brechen. Beiden Verfahren gemeinsam ist eine Inszenierungsweise, bei der die Gegenwart sich abspielt unter den (»blinden«) Augen einer mythologischen Instanz als Agentin einer ursprünglichen Einrichtung der Elemente, auf deren Folie sich Geschichte in widerstreitenden (aktuellen, virtuellen) Figuren der Zeitlichkeit als vergemeinschaftete Bedeutung und Erfahrung artikuliert. So verstanden, meint die Geschichtlichkeit, die beiden Filmen auf je verschiedene, vielleicht jedoch verwandte Weise zugeschrieben werden kann, den singulären Ort und die singuläre Form der Sichtbarkeit und Präsenz, an dem sich die verschiedenen Zeitmodalitäten ins
35 Patalas, Enno: »Kommentierte Filmographie«, in: Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hg.), Fritz Lang, München/Wien: Hanser 1976, S. 140. 36 Zum Begriff der Infrarierung vgl. Metz, Christian: Semiologie des Films, München: Fink 1972, S. 289. Zur Infrarierungsstruktur in LE MÉPRIS vgl. Schleicher, Harald: Film-Reflexionen. Autothematische Filme von Wim Wenders, Jean-Luc Godard und Federico Fellini, Tübingen: Niemeyer 1991, S. 102-107.
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Verhältnis setzen, sich einander auf dem Feld des Ästhetischen »umgreifen«.37 Insofern muss »die Frage nach der filmischen Einschreibung von Geschichte […] nicht mehr nur zwei, sondern drei ›Geschichten‹ miteinander in Übereinstimmung bringen: Die Art der Intrige, aus der der Film besteht, die Funktion der Erinnerung, die er erfüllt, und die Art und Weise, in der er eine Teilhabe am gemeinsamen Schicksal bezeugt«.38 Letzten Endes zielt damit die Rückwendung zum (Kino-)Mythos in beiden Filmen auch auf die Erneuerung der Utopie vom Kino selbst: Auf die Möglichkeit eines Neubeginns, dessen historische Sinnstiftung sich als diskursive Figur auf dem Grund einer mythischen Zeitvorstellung vollzieht, die als historiale Zeit bezeichnet und als eine Temporalität verstanden werden kann, welche sich dem Horizont des unmittelbar als historisch Erfahrenen zu entziehen scheint. An der ihrerseits historischen Notwendigkeit dieser rekursiven Figur lässt sich indes der Katastrophenschatten erkennen, der auf beide Filme fällt.
37 Rancière, Jacques: »Die Geschichtlichkeit des Films« [1998], in: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin: Vorwerk 8 2003, S. 230246, hier S. 232. 38 Ebd., S. 232f.
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»Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.« WALTER BENJAMIN: ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE
Als Curt Bois am 26. November 1988 den Europäischen Filmpreis für seine Darstellung des Homer in Wim Wenders’ DER HIMMEL ÜBER BERLIN (1987) entgegennahm, konnte er auf die längste Zeitspanne zurückblicken, die je ein Schauspieler im deutschen Film aktiv war: Gemessen an den Eckdaten umfasste seine Filmkarriere zu diesem Zeitpunkt bereits fast acht Jahrzehnte. Dabei trügt der Eindruck von Kontinuität, den dieser Umstand erwecken mag, sind es doch gerade die historischen Brüche und Verwerfungen, die politischen Einschnitte und ästhetischen Umschwünge, die Bois – als öffentliche wie als filmische Kunstfigur – in der Geschichte des deutschen Kinos verkörpert: War Bois bis 1933 als gefeierter Kinderstar und begnadeter Bewegungskomiker eines ihrer herausragenden Phänomene, wurde er nach seiner Rückkehr aus der Emigration zu ihrem Phantom. Vielleicht lässt sich dieser einzigartige Wandel von Bois’ filmischer Erscheinung und kultureller Bedeutung daher am besten vom Ende her beleuchten. Im Sommer 1991 begannen mit dem mittlerweile 90-jährigen Bois die Dreharbeiten zu IN WEITER FERNE, SO NAH, dem im Abspann von DER HIMMEL ÜBER BERLIN angekündigten Nachfolgeprojekt. Als Bois im Dezember des Jahres starb, bevor seine Rolle abgedreht war, entschied sich Wenders, ihn durch Heinz Rühmann und
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die Figur des greisen Dichters Homer durch die des treuherzigen Chauffeurs Konrad zu ersetzen. Seinen fertigen Film widmete er dem verstorbenen Schauspieler. Nicht nur bei der Witwe von Bois, die den Regisseur bat, die Widmung aus dem Film zu entfernen, hat Wenders’ Versuch, in seinem Werk die divergenten Stränge deutscher Filmgeschichte exemplarisch miteinander zu versöhnen, einiges Kopfschütteln hervorgerufen. Bois, der politisch – wie auch künstlerisch – nie zu vereinnahmende Rückkehrer aus dem amerikanischen Exil, der 1930 jene Rolle in DIE DREI VON DER TANKSTELLE (Regie: Wilhelm Thiele) wegen persönlicher Vorbehalte gegen Hugenbergs Ufa ausgeschlagen hatte, die Rühmann zum Durchbruch verhelfen sollte, wurde nun ein zweites, diesmal unfreiwilliges Mal von jenem Schauspieler ersetzt, der das deutsche Unterhaltungskino entscheidend geprägt hat, aus dem Künstler wie Bois ab 1933 verdrängt wurden. Vielleicht war Wenders’ Geste in ihrer kaum beherrschbaren Symbolik widersprüchlich und unglücklich, in der Tradition, in der sie steht, lässt sie jedoch die Bedeutung erkennen, die dem Schauspieler Bois als »Intertext« für den Prozess der Identitätsfindung des deutschen Kinos von Regisseuren dieser Generation zugeschrieben wurde.1 Gerade in der Konstellation mit Rühmann wird deutlich, wie sehr diese kulturelle Bedeutung im Falle von Bois nicht von einer kontinuierlichen, »fast immer synchron zur Gesellschaft«2 verlaufenden Langzeitentwicklung, sondern von der sperrigen und momenthaften Qualität seiner vergleichsweise wenigen deutschen Nachkriegsfilmrollen bestimmt wird. Während Rühmann von den frühen 1930er Jahren bis in die 1970er Jahre über alle politischen Brüche hinweg als Inbegriff des »kleinen Mannes« dem deutschen Film- und Fernsehpublikum mehrerer Generationen ein stabiles Identifikationsangebot machte, hat Bois
1
Zur Besetzungspolitik und kulturellen Funktion des »Schauspielers als Intertext« im Neuen Deutschen Film vgl. Elsaesser, Thomas: Der neue deutsche Film von den Anfängen bis zu den neunziger Jahren, München: Heyne 1994, S. 384.
2
Lowry, Stephen/Korte, Helmut: Der Filmstar, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 61. Vgl. a. Lowry, Stephen: »Der kleine Mann als Star. Zum Image von Heinz Rühmann«, in: Thomas Koebner (Hg.), Idole des deutschen Films. Eine Galerie von Schlüsselfiguren, München: Edition text + kritik 1997, S. 265-278.
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die Peripherie seiner amerikanischen Neben- und Chargenrollen auch im deutschen Nachkriegsfilm kaum einmal verlassen. Sie wird ihm und seinen Regisseuren, im Gegenteil, zunehmend zur strategischen Position, um den Rahmen der geschlossenen Inszenierung zu sprengen. Betreibt Rühmanns Darstellungsstil des Typischen und Alltäglichen einen »Exorzismus der Ambivalenz«,3 so verdichtet Bois in seinen Film- und Fernsehrollen der Nachkriegszeit aus dem Selbstverständnis der Randfigur heraus historische Person und fiktive personnage zu einem oszillierenden Zeichenagglomerat, dessen verstörendes Potenzial ihn zu einer Schlüsselfigur einer »anderen« Geschichte des deutschen Films werden lässt. »Bis zu meiner Emigration war ich gefüllt mit Übermut und Lustigkeit – jetzt mit Melancholie.«4 Dieser Satz, 1962 geäußert, bringt nicht nur den Bruch auf den Punkt, den das 17-jährige Exil in der Biografie von Curt Bois bedeutete. Er wirft auch ein Schlaglicht auf die künstlerische Zäsur, die seine Filmrollen vor 1933 von den Figuren trennt, die er neben seiner Theaterarbeit im deutschen Kino und Fernsehen nach seiner Rückkehr nach Deutschland verkörperte. Ließ sich über den Schauspieler in Theater und Film der Weimarer Zeit 1925 noch mit Recht behaupten, er drücke »das Heute aus, weil er von Gestern und Vorgestern überhaupt nichts weiß«,5 so trifft bei der Betrachtung der Entwicklung seiner Figuren im deutschen Film und Fernsehen der Nachkriegszeit das Umgekehrte zu: Sie retten das Wissen um die gespaltene, problematische Vergangenheit des deutschen Films, das Bois als Schauspieler bezeugt, ins Heute. Dass er das Schauspielen nie professionell erlernt hat und eher aus Zufall auf Bühne und Leinwand gelangt ist, hat Bois nie verschwiegen. Im Gegenteil hat er sich stets weniger als darstellender acteur, denn als comédien verstanden, bei dem die Person hinter der Figur, die sie verkörpert, spürbar bleibt. »Das schauspielerisch Erlernbare schien ihm
3
Hake, Sabine: »Heinz Rühmann und die Inszenierung des ›kleinen Man-
4
Zitiert nach Donath, Erna: »Monsieur Léon, der Klavierspieler. Gespräch
nes‹«. In: Montage AV 1 (1998), S. 33-56. mit Curt Bois«, in: Theater heute 8 (1962). 5
Paul Cohen-Portheim, zitiert nach Brandlmeier, Thomas: »Curt Bois – Essay«, in: Hans-Michael Bock (Hg.), CineGraph. Lexikon zum deutschsprachigen Film, München: Edition text + kritik 1984ff., Lg. 19 (Januar 1992), S. E1.
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unerreichbar, das Unerlernbare ist ihm gegeben«, hat Fritz Kortner Bois’ Talent in diesem Sinne einmal charakterisiert.6 Es ist kein Zufall, das Bois Anfang der 1980er Jahre, nachdem er sich von der Bühne schon zurückgezogen hatte, um sich ausschließlich seiner Film- und Fernseharbeit zu widmen, dieses Merkmal seiner Rollengestaltung in Interviews wiederholt hervorhob, wenn er darauf beharrte, das einzige, was er versuchen würde, wäre, nicht zu spielen, höchstens sich selbst.7 Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Anspruch einer authentischen Verkörperung zur Kategorie der historischen Reflexivität geworden, die Randfigur zur kulturellen Schlüsselfigur des filmischen Gedächtnisses einer neuen Generation von Filmemachern.
G ELD UND KEINE A RBEIT , H ERR P UNTILA UND KEIN B RECHT : K INOFILME DER 1950 ER J AHRE Am 25. Juli 1950 war Bois auf Betreiben Wolfgang Langhoffs und mit Unterstützung von Thomas Mann ins mittlerweile geteilte Berlin zurückgekehrt. Als Mitglied des Deutschen Theaters im Ostteil der Stadt spielt er zunächst vier Jahre lang den Chlestakow in Gogols Revisor, der 1932/33 auch seine letzte Rolle vor der Emigration gewesen war. Ursprünglich mit der Absicht, Gogols Stück in Anlehnung an Langhoffs Inszenierung mit Bois zu verfilmen, nimmt ihn die DEFA am 1. April 1951 unter Vertrag: »Ein beratender Dramaturg aus der Sowjetunion sah mich im Revisor und begeisterte sich an der Idee, die Komödie zu verfilmen«, erinnert sich Bois an die Umstände seiner Verpflichtung: »Seine deutschen Kollegen lehnten entsetzt ab: Wir können doch einen heiligen russischen Klassiker nicht anrühren!«8 Obwohl sich der Plan auf diese oder ähnliche Weise schnell zerschlug, bleibt Bois bei der DEFA bis zum 1. Oktober 1953 mit einem monatlichen Salär von 6.600 Mark fest angestellt. Mit seinem subversiv, nie affirmativ wirkendem Humor, so vermutet Ralf Schenk, sei der »kleine quirlige, so spitzzüngige wie schwer berechenbare Mann« der DEFA-
6
Kortner, Fritz: Aller Tage Abend, München: Kindler 1969, S. 211.
7
Vgl. Ducke, Gerold: »›Ich versuche, nicht zu spielen‹. Curt Bois im Film«, in: Lothar Schwab (Red.), Curt Bois, Berlin: Stiftung Deutsche Kinemathek 1983, S. 27, 33.
8
Bois, Curt: Zu schön, um wahr zu sein, Berlin: Henschel 1982, S. 90.
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Direktion stets »irgendwie suspekt« gewesen. So habe man ihn bei der DEFA lieber »hochdotiert auf Eis« gelegt.9 Ausgerechnet bei der staatseigenen, von den sowjetischen Besatzungsbehörden finanzierten DEFA, kommentierte Bois später ironisch, sei sein amerikanischer Traum in Erfüllung gegangen: »Geld und keine Arbeit.«10 Erst nach Ablauf des Vertrages wird ihm die Gelegenheit gegeben, einen Film für die DEFA zu drehen – jedoch nicht vor, sondern hinter der Kamera. Als Regisseur adaptiert er 1955 seine Ende 1952 am Deutschen Theater mit einigem Erfolg uraufgeführte Bühneninszenierung der Berliner Posse Ein Polterabend von Werner Bernhardy. Nicht nur hinsichtlich der Rollenbesetzung, bei der DEFA-Schauspieler (u.a. Brechts Tochter Barbara Berg als Hausmädchen Guste) die EnsembleMitglieder des Deutschen Theaters ersetzten, unterscheidet sich Bois’ Filmversion des frei nach dem Leben des Berliner Satirikers Adolf Glaßbrenner geschriebenen Lustspiels jedoch erheblich von der Theaterfassung. In seiner zweiten – und letzten – Filmregie nach SCHERBEN BRINGEN GLÜCK (1932) bemüht sich Bois, die auf groteske Typisierung angelegte Komik des Stücks filmisch nicht nur umzusetzen, sondern zu brechen und zu reflektieren. Er entwickelt dabei einen präsentativen filmischen Stil, der die im nachrevolutionären Berlin des Jahres 1849 angesiedelte Handlung weniger befördert, als sie zum Anlass für visuelle Effekte und ein kinematographisches Spiel mit historischen und aktuellen Bedeutungsebenen zu nehmen. Gemäß dem von Bois gewählten Untertitel »Unser Lustspielfilm auf falschen Wegen« verabschiedet sich sein Film in der Darstellung des Geschehens von vornherein von allen gängigen Repräsentationsmustern der musikalischen Filmkomödie. Wenn auch einiges überzogen wirkt, beginnt das Lokalkolorit des Stoffes in dieser filmischen Behandlung neu zu schillern. Die dramaturgische Handlungsschablone ist nur noch Ausgangsmaterial für den kinematographischen Spieltrieb des Regisseurs: Der demokratische Publizist Brennglas (Rolf Moebius) will die Wiener Schauspielerin Adele Peroni (Hella Ferstl) heiraten, die jedoch im Zwiespalt zwischen der Liebe zu ihrem fortschrittlichen Bräutigam und einem von reaktionären preußischen Kräften ab-
9
Schenk, Ralf: »Mitten im Kalten Krieg. 1950 bis 1960«, in: Ralf Schenk (Hg.), Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946-1992, Berlin: Henschel 1994, S. 65.
10 Bois: Zu schön, um wahr zu sein, S. 90.
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hängigen Engagement steht. Der Kultusminister erpresst sie damit, Brennglas in Haft zu nehmen, wenn sie nicht einen Vertrag mit dem Königlichen Schauspielhaus eingeht, wodurch eine Ehe mit Brennglas unmöglich, weil gesellschaftlich kompromittierend würde. Sie unterschreibt, versteht es aber am Ende, den Spieß umzudrehen und die Reaktionäre zu kompromittieren, um sich schließlich glücklich mit Brennglas zu vereinen. Mit Robert Baberske und Rochus Gliese findet Bois bei der DEFA zwei Mitarbeiter vor, die seine Intentionen kongenial umzusetzen wissen. Die Kameraarbeit Baberskes, der in den 1920er Jahren als Kameraassistent bei F.W. Murnaus DER LETZTE MANN (1924) und Walter Ruttmanns BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT (1927) an der Revolution der deutschen Filmfotografie nicht unmaßgeblich beteiligt war, versteht es, den filmischen Raum um die Akteure zu dynamisieren und mit den Mitteln der Trickfotografie zusätzliche Glanzlichter aufzusetzen. Die szenografische Ausgestaltung durch den ehemaligen Murnau-Architekten Rochus Gliese unterstützt diese Wirkungsabsicht mit expressionistisch anmutenden, vom historischen Biedermeier abstrahierenden Formelementen.11 Die ungewohnte, an Experimentierfreudigkeit und offene Gattungsformen des Weimarer Unterhaltungskinos anschließende Ästhetik des Films wird weder vom damaligen Publikum noch von der zeitgenössischen Kritik goutiert. Letztere sah zwar ganz richtig die dramaturgische Führung der musikalischen Komödie vollständig auf Kosten einer Reihe grotesker Einfälle und Kameratricks gegangen, beurteilte die »Gags, die der Regisseur Curt Bois aus Eigenem hinzutat«12 jedoch nicht als berechtigten Versuch, über eine rein theatrale Inszenierungsweise hinauszugehen. Die ablehnende Rezeption dürfte die DEFA-Lei-
11 Als Gliese Anfang der 1960er Jahre in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, setzte sich Bois mit Nachdruck für ihn ein und warb bei Künstlern und Politikern um Unterstützung für einen Antrag auf Pensionsanspruch. Vgl. den Brief Fritz Kortners an Bois vom 6. Mai 1963, in: Völker, Klaus: Fritz Kortner. Schauspieler und Regisseur, Berlin: Edition Hentrich 1987, S. 303. 12 H.U.E.: »Flaue Stimmung beim POLTERABEND«, in: Berliner Zeitung vom 21.8.1955; vgl. a. Creutz, L.: »Der Film braucht eine Fabel«, in: Deutsche Filmkunst 5 (1955), S. 197ff.
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tung endgültig davon überzeugt haben, dass mit Bois auch hinter der Kamera kein Staat zu machen war. Noch bevor EIN POLTERABEND in die Kinos kam, erhielt Bois im Frühjahr 1955 das Angebot der Wien-Film, den Puntila in einer Verfilmung von Brechts Volksstück Herr Puntila und sein Knecht Matti zu spielen. Auch dieses Filmengagement ging auf Bois’ Theaterarbeit, womöglich direkt auf einen Vorschlag Brechts selbst zurück, an dessen Berliner Ensemble er 1952 unter der Regie des Autors den Puntila gemäß Brechts Vorstellungen interpretiert hatte. 13 Es ist zumindest anzunehmen, dass die Verpflichtung von Bois durch den sowjetischen Direktor der Wien-Film, Sorin, in Zusammenhang mit dem Bemühen stand, sich auch weiterhin der vertraglich festgeschriebenen Mitarbeit Brechts am Drehbuch des Films zu versichern. Die Idee zu einem Puntila-Film stammt aus dem Sommer 1953, der Vertrag zwischen Brecht und der Wien-Film wurde am 15. September 1953 geschlossen. Ende 1953 entwickelten Brecht und Vladimir Pozner ein erstes gemeinsames Exposé, auf dessen Grundlage Pozner bis Juni 1954 eine erste und zwischen Dezember 1954 und Februar 1955 eine zweite Drehbuchfassung des Stoffs herstellte. Zu diesem Zeitpunkt begann der Regisseur Alberto Calvacanti mit den Vorbereitungen der Dreharbeiten, die sich jedoch durch Unstimmigkeiten über den zugrunde liegenden Drehbuchentwurf zunächst verzögerten. Differenzen in der Auffassung des Stoffes scheinen bei einem Arbeitstreffen Calvacantis und Pozners mit Brecht und Ruth Fischer in Berlin zutage getreten zu sein, woraufhin Brecht und Pozner ein neues Konzept entwickelten (»Neue Linien der Puntila-Fabel«) und damit einen durchgreifenden Umarbeitungsprozess des Drehbuchs in Gang setzten, an dem zunächst Calvacanti und Hanns Eisler (der auch die Filmmusik schrieb), später Isot Kilian und Manfred Wekwerth beteiligt waren. Dieser Prozess war erst am 14. Juni 1955 abgeschlossen, nachdem Calvacanti letzte Korrekturen Brechts in sein Regie-Buch übernommen hatte und Brecht schließlich sein Einverständnis mit dieser Fassung erklärte.14
13 Vgl. in diesem Zusammenhang die Aussage von Bois: »Ansonsten ließ er mich machen, was er wollte« sowie den Brief Brechts an Bois vom 28.12. 1951 in Bois: Zu schön, um wahr zu sein, S. 94ff. 14 Die Datierungen folgen den Angaben in: Hecht, Werner (Hg.), Alles was Brecht ist... Fakten – Kommentare – Meinungen – Bilder, Frankfurt a.M.:
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Vor dem Hintergrund von Brechts Einflussnahme auf die Arbeiten am Drehbuch erscheint die Verpflichtung von Bois als flankierende Maßnahme zur Wahrung seiner Interessen. Dies wird auch dadurch nahe gelegt, dass Bois dem »Produzenten« Sorin zum Zeitpunkt des Engagements kein Begriff war, Calvacanti sich über seine Darstellung des Puntila im nachhinein äußerst abfällig geäußert hat, keiner von beiden ihn also vorgeschlagen haben dürfte.15 Brechts dominierende Position während der Bearbeitung des Drehbuchs könnte auch die nachgiebige Haltung Sorins bei den Gagenverhandlungen erklären, die Bois in seinen Erinnerungen überliefert hat: »Sofort fuhr ich nach Wien. Es ging mir schlecht, also versuchte ich, großspurig zu sein. Ich bat erst mal einen Film von Calvacanti sehen zu dürfen. Man ging darauf ein und führte eigens für mich einen Film vor. Er gefiel mir sehr. Mitten in der Vorführung klingelte das Telefon. Der sowjetische Mit-Direktor der Wien-Film, Herr Sorin, ließ anfragen ob ich in sein Büro raufkommen könnte. Raufkommen? Raufgeflogen wäre ich am liebsten, aber ich spielte meine Rolle weiter und ließ ausrichten, er möge sich bitte gedulden. Ohne bei der Sache zu sein, sah ich den Film zu Ende. Sorins erste Frage: ›Was verlangt Herr Bois? ‹ Seine Dolmetscherin übersetzte meine Forderung. Ich merkte, wie ihn die Höhe der Summe überrascht hatte, denn er schlug sofort zurück. Die Dolmetscherin nannte einen Betrag, der nicht unerheblich unter meinen Vorstellungen lag. Jetzt war ich an der Reihe... Schließlich wurden 20.000 Mark heruntergehandelt und ich gab großmütig nach mit der Bemerkung: ›Na, dann will ich nicht kleinlich sein.‹ Sorin atmete auf.«16
Suhrkamp 1997, S. 213f. Zur Entstehungsgeschichte des Films vgl. a. Durchardt, Michael: »Herr Puntila und sein Knecht Matti [Drehbuch]«, in: Jan Knopf (Hg.), Becht-Handbuch, Bd. 3: Prosa, Filme, Drehbücher, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 472ff. 15 Mit Bezug auf Bois’ Interpretation des Puntila auf der Bühne schrieb Calvacanti 1969: » S’il pouvait donner, à la scène, l’illusion d’être un grand propriétaire terrien, devant la caméra il ressemblait plutôt à un commis-voyageur.« Calvacanti, Alberto: »Mes relations avec Bertolt Brecht« [1969], in: Lorenzo Pellizzari/Claudio M. Valentinetti (Hg.), Alberto Calvacanti, Locarno: Edition du festival international du film 1988, S. 193. 16 Bois: Zu schön, um wahr zu sein, S. 104f.
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Im Sommer und Herbst 1955 wurde der Film in den noch unter Leitung der sowjetischen Besatzungsbehörden stehenden Ateliers der Wien-Film am Rosenhügel gedreht; im Dezember 1955, nachdem das Studio mittlerweile an den österreichischen Staat zurückgegeben worden war, fertig gestellt. Da HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI nun als österreichischer Film das einheimischen Produktionen eingeräumte Exportkontingent belasten würde, ohne entsprechende Umsätze zu versprechen, wurde er vom neuen Eigentümer der Wien-Film, dem Verleger Heinrich Bauer, für den Auslandsvertrieb nicht gemeldet.17 So blieb seine Wirkung äußerst beschränkt. Außerhalb Österreichs war er bis Ende der 1950er Jahre ausschließlich in nicht öffentlichen Vorstellungen zu sehen (etwa am 29. März 1959 auf Initiative Calvacantis in Brüssel). Die offizielle deutsche Erstaufführung fand erst 1960 auf Betreiben des Göttinger Verleihs Neue Filmkunst in München statt. Brecht hatte die ersten beiden Drehbuchentwürfe Pozners als Vorlagen für eine »verfeinerte Salonkomödie« kritisiert, aus der nicht ersichtlich werde »wer das alles erzählt und von welchem Standpunkt aus«.18 Er setzte durch, dass die farbigen Spielszenen des Films von braun getönten Sequenzen unterbrochen werden, in denen die Küchenmägde Puntilas, Strophen des Puntila-Lieds von Paul Dessau rezitierend, die Handlungen des Gutsbesitzers kommentieren und so »von unten, aus dem Volk heraus«19 perspektivieren. Für Bois’ Interpretation des Puntila erwuchs daraus die Forderung, die Attraktion seiner komödiantischen Fähigkeiten gegen die Figur zu wenden. Dass ihm dies nicht gelingen wollte, ist Bois nur insofern vorzuwerfen, als die Zerrissenheit der Figur zwischen gefühlsseliger Trunkenheit und nüchterner Bestialität hinter dem Charme der schauspielerischen Darbietung nicht deutlich genug hervortritt: Sein Puntila ist an der Seite von Heinz Engelmanns knöchernem Matti in Calvacantis statisch zurückgenommener Inszenierung das einzige dynamische Element des Films, das den Zuschauer schon für sich eingenommen hat, bevor die Dop-
17 Bois hat später politische Gründe angeführt, aus denen heraus der Film bis 1960 »boykottiert« worden sei. Vgl. ebd., S. 105. Da der Film von Produktionsseite jedoch erst gar nicht in den internationalen Vertrieb gelangte, musste er auch nicht boykottiert werden. 18 Brecht, Bertolt: Texte für Filme, Bd. 2 [Gesammelte Werke, Supplementband II], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 636. 19 Vgl. ebd.
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pelgesichtigkeit der Figur zum Vorschein kommen kann: »Seine artistischen Clownerien und sein vergnüglicher Charme bringen kein ›gewisses vorzeitliches Tier‹ zustande, sie machen Puntila zu einer kuriosen Individualität, der Mitgefühl sicher ist.«20 Nicht nur die Gesetze kinematographischer Identifikation geraten hier in Konflikt mit brechtschen Strategien der Verfemdung, es bleibt auch – und dies wird für Bois’ Filmschauspiel zunehmend kennzeichnend werden – der Schauspieler stets hinter der Figur sichtbar; oder, wie Bois selbst es genannt hat: »Herr Puntila und kein Brecht.«21
F LÜCHTLINGSGESPRÄCHE : F ERNSEHPRODUKTIONEN 1958-1969 Ab Ende der 1950er Jahre – Bois hatte seinen Wohnsitz mittlerweile im Westteil Berlins – bot das junge Medium Fernsehen ihm jene kontinuierlichen Arbeitsmöglichkeiten, auf die er seitens der deutschen Filmindustrie nach seinen ersten beiden wenig erfolgreichen Produktionen vergeblich wartete. Entgegen kam Bois dabei, dass die der ARD angeschlossenen Sendeanstalten sowie (ab 1963) das ZDF in der Anfangszeit ihrer Bemühungen um kulturelle Legitimität ausgiebig auf Theaterpersonal und Inszenierungs-Übernahmen aus dem zeitgenössischen Sprechtheater setzten.22 Als Programmquelle dienten dabei vorzugsweise aktuelle Theaterereignisse, an denen auch Curt Bois, seitdem ihn Fritz Kortner 1957 an die Münchner Kammerspiele sowie das Residenztheater engagiert hatte, wieder beteiligt war. Auf diese Weise war der späte Ruhm des Regisseurs Kortner Bois nicht nur bei der ReIntegration in den westdeutschen Theaterbetrieb behilflich, sondern
20 Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht, Berlin: Henschel 1975, S. 296. 21 »›Ich mußte nicht verdrängen, ich wurde verdrängt‹. Ein Gespräch zwischen Curt Bois, Dagmar Bois, Bruno Ganz und Helmut Wietz«, in: Lothar Schwab (Red.), Curt Bois, S. 17. 22 Vgl. Rosenstein, Doris/Seibert, Peter/Gompper, Renate: »Theatersendungen im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland«. In: Helmut Schanze/ Bernhard Zimmermann (Hg.), Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2: Das Fernsehen und die Künste, München: Fink 1994, S. 159ff.
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eröffnete ihm auch das neue Wirkungsfeld des Fernsehens. Am Beginn von Bois Fernsehkarriere steht daher keineswegs zufällig eine Aufzeichnung der Münchner Inszenierung von George Bernhard Shaws Androklus und der Löwe, die am 5. April 1958 im Residenztheater uraufgeführt und nur knapp sechs Wochen später in der ARD ausgestrahlt wurde. Gleichfalls um die Aufzeichnung einer gefeierten Inszenierung Kortners am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg handelt es sich bei DER EINGEBILDETE KRANKE, einer Koproduktion zwischen Bayerischem Rundfunk und ZDF, die am 20. Dezember 1964 mit Bois als Argan gesendet wurde (Abb. 1).
Abb. 1
An den Fernsehspielen, in denen Bois in den 1960er Jahren zu sehen war, lassen sich die frühesten Anzeichen für eine signifikante Wandlung seines Bewegungsrepertoires und Rollenprofils ausmachen. Gegenüber seinen zahlreichen Bühnen- und seltenen Filmauftritten dieser Zeit wirkt er in den zumeist auf einer literarischen Vorlage basierenden oder ein literarisches Sujet behandelnden Fernsehproduktionen in Mimik und Gestik den Figuren entsprechend zurückgenommen. Diese Tendenz ist an seinem Iwakichi in DIE HUNDERTSTE NACHT (1966) nach Nô-Spielen von Yukio Mishima ebenso festzustellen wie an seinem Naphta in DER ZAUBERBERG (1968) nach Thomas Mann. Sie steht einerseits in Zusammenhang mit den damaligen medienspezifischen Produktionsbedingungen in den Fernsehstudios, hat aber auch zu tun mit der in jenen Jahren einsetzenden Entwicklung einer originären Fernsehspiel-Ästhetik, die im Zuge des Selbstbestimmungs-Prozesses des jungen Mediums gegenüber den großen Arrangements der
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(Unterhaltungs-)Bühnen und Kinoleinwände auf eine Dramaturgie der fiktionalen Verdichtung, visuellen Konzentration und literarischen Zuspitzung setzte.23 Ein anderer Strang in der Entwicklung des westdeutschen Fernsehspiels, der sich im Hintergrund dieses darstellerischen Repertoirewandels von Bois abzeichnet, ist die verstärkte Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit des Nationalsozialismus und des Exils. Zwischen 1964 und 1969 ist Bois in drei Fernsehspielen zu sehen, die die Behandlung eines literarischen Gegenstands mit der Reflexion der Exil-Problematik verbinden. In Harry Buckwitz’ TV-Adaption einzelner Dialogszenen aus Brechts Zweipersonen-Stück Flüchtlingsgespräche, in der ersten Augustwoche 1964 beim Hessischen Rundfunk in Wiesbaden aufgezeichnet,24 spielt er neben Karl Paryla als Kalle den Ziffel. Hier wie auch in der Rolle Brechts in Roland H. Wiegensteins TV-Rekonstruktion des McCarthy-Untersuchungsverfahrens gegen den Exil-Schriftsteller (BERT BRECHT VOR DEM MCCARTHY-AUSSCHUSS, 1966) oder in der Kafka-Verfilmung AMERIKA ODER DER VERSCHOLLENE (1969) ist Bois’ grazile Bewegungskomik fast vollständig einer statischen, durch subtile Mimik und Textakzentuierung wirkenden Darstellung gewichen. Diese Reduktion im Bewegungsrepertoire wird allein schon dadurch augenfällig, dass die Anlage aller drei Figuren es Bois gestattet, sie überwiegend im Sitzen zu interpretieren. Damit einhergehend zeichnen Thematik und Rollenprofil dieser drei Fernsehspiele eine andere Tendenz, die für die Bois’ Wirkungsweise auf Leinwand und Bildschirm zunehmend Bedeutung erlangen sollte. Er wird nicht mehr primär wegen seiner komödiantischen Fähigkeiten besetzt, sondern mit Blick auf eine »Authentizität« der Darstellung, die seine Biografie verbürgt. Träger dieser den fiktionalen Rahmen überschreitenden Bedeutungsebene ist in FLÜCHTLINGSGESPRÄCHE nicht nur Bois, sondern natürlich auch Paryla, der die Kriegsjahre in Zürich verbracht hatte und erst 1948 wieder in seine Heimatstadt Wien, 1956 dauerhaft nach Deutschland zurückgekehrt war. Buckwitz’ Regiebearbeitung von Brechts Text ist in mehrfacher Hin-
23 Vgl. Schneider, Irmela (Hg.): Dramaturgie des Fernsehspiels, München: Fink 1980. 24 Vgl. Bois, Curt: So schlecht war mir noch nie. Aus meinem Tagebuch, Königstein/Ts.: Athenäum 1984, S. 31.
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sicht auf die beiden Darsteller zugeschnitten. Dies reicht von der verständlichen Entfernung aller Hinweise auf Ziffels Esstrieb und überbordende Leibesfülle bis hin zur deutlichen Tendenz, antagonistische Passagen zwischen den beiden Figuren (und damit deren Klassenunterschied) nicht nur abzuschwächen, sondern dadurch nahezu vollständig aufzuheben, dass über weite Strecken des Dialogs Sätze Ziffels Kalle in den Mund gelegt werden und umgekehrt. Sprechen beide Figuren somit zunehmend mit einer Stimme, so lassen auch Einstellungswahl und Kameraführung sie näher zusammenrücken als in der literarischen Vorlage angelegt. Auf Kamerabewegungen innerhalb einer Szene und Schuss-Gegenschuss-Sequenzen wird nahezu durchgehend verzichtet. Bevorzugt werden Ziffel und Kalle halbnah zusammen im Bild gezeigt, um den Nuancen im Wechselspiel der beiden Darsteller einen kohärenten gemeinsamen Raum zu geben, in dem »die Gesprächspartner [...] vom Kameraauge erbarmungslos freigelegt« werden.25 Auch in seiner konkreten filmischen Umsetzung läuft Buckwitz’ TV-Bearbeitung damit auf einen zweistimmigen Monolog hinaus, dessen eigentliches gesellschaftliches Gegenüber die zwischen den einzelnen Szenen eingefügten Titelsequenzen mit Standfotos und Textpassagen aus Brechts Kriegsfibel darstellen, »durch welche die Dialoge Ziffels und Kalles einen schreckenerregenden realen und aktuellen Akzent erhielten«.26 Lediglich Bois’ filigrane, von der eigenen Erfahrung gesättigte Darstellung des ewigen Skeptikers Ziffel straft schon in seinem ersten Fernsehspiel Parylas Aussage Lügen, der Bois angemessene »Lebensraum« sei noch stets die »immerwährende Totale« der Bühne.27 Mit dem kulturell wie gesellschaftskritisch ambitionierten Fernsehspiel der 1960er Jahre entstand für Bois ein diskursiver Raum, in dem er sich als Interpret von Figuren der literarischen Moderne auf neue Wiese profilieren, zugleich aber auch (und stärker als dies im Theater möglich war) sein eigenes Schicksal als Person der Zeitgeschichte ein-
25 Sb: »FLÜCHTLINGSGESPRÄCHE«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12.12. 1964. 26 Gregor Ulrich: »FLÜCHTLINGSGESPRÄCHE«, in: Frankfurter Rundschau vom 16.12.1964. 27 Paryla, Karl: »Stegreif, ein ewiger Wert im Theater, oder Das Schöpferische im Schauspielerberuf« [Manuskript im Nachlass von Curt Bois], zitiert nach Bois: Zu schön, um wahr zu sein, S. 125.
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bringen konnte. Wie stark hier bereits sein Rollenprofil sich zuweilen dem »authentischen« Schauspieler-Ich anglich, untrennbar von ihm wurde, erweist sich in Heinrich Carles (Buch) und Zbynek Brynychs (Regie) TV-Bearbeitung von Kafkas AMERIKA ODER DER VERSCHOLLENE, die im Sommer 1969 in den Studios der Berliner Union-Film entstand. Sie bettet das Roman-Fragment in eine eigenständige, in der Gegenwart angesiedelte Rahmenhandlung, in der sich Bois als Vater des verschollenen Karl Roßmann bei der zuständigen Behörde auf die Suche nach den Spuren seines Sohnes macht. Im Amtsgebäude bekommt er einen Regenschirm, ein Paar Schuhe und den Koffer Karls ausgehändigt, vor allem aber Filmmaterial vorgeführt, in dem das Schicksal seines Sohnes in Amerika – der eigentliche Inhalt des Kafka-Fragments und die Binnenhandlung des Films – dokumentiert ist. Diese Film-im-Film-Konstruktion schreibt der Bois-Figur eine zentrale Funktion in der beabsichtigten Aktualisierung des Stoffes zu, der durch Zwischenschnitte, Parallelhandlungen und sich überschneidende Blickachsen konsequent auf deren Wahrnehmung hin subjektiviert wird. Als Vermittler zwischen Zuschauer und Repräsentation, Vergangenheit und Gegenwart, Erzählzeit und erzählter Zeit, literarischer Vorlage und filmischer Inszenierung steht Bois zugleich innerhalb und außerhalb der Fiktion, innerhalb und außerhalb seiner Rolle als imaginärer Vater Karl Roßmanns. Wenn Bois nach der Filmvorführung sagt, er wisse nicht, ob es sein Sohn war, dessen Schicksal er soeben auf der Leinwand verfolgt habe, und somit nahe gelegt wird, es könnte auch sein eigenes gewesen sein, tritt er endgültig aus einer Rolle heraus, die er gar nicht erst zu spielen brauchte.
G EISTER UND G ANOVEN : K INOFILME DER 1960 ER J AHRE Auf den ersten Blick scheinen die beiden Auftritte in Kinofilmen der 1960er Jahre von dieser Veränderung des Rollenfachs unberührt. In Kurt Hoffmanns turbulentem »Grusical« DAS SPUKSCHLOSS IM SPESSART (1960) brilliert Bois in bewährter Manier der Weimarer Zeit als Tänzer und Interpret von Schlagern u.a. von Friedrich Hollaender. Die Rolle des Spessart-Räubers Hugo, der zusammen mit seinen Kumpanen im Wirtshaus lebendig eingemauert wurde und nun nach hundert Jahren zu neuem Leben erwacht, bietet ihm neben Hanne Wieder, Ge-
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org Thomalla, Paul Esser und Hans Richter als weiteren Mitgliedern der Räuberbande willkommene Gelegenheit, sowohl seine akrobatischen Fähigkeiten als auch seine Gabe der satirischen Pointierung auszuspielen. Während in der einen Hinsicht seine »getanzte Einkleidungsszene« im Duett mit Thomalla unzweifelhaft einen Höhepunkt des Films darstellt (Abb. 2), dessen sich »auch ein überdurchschnittliches Hollywood-Musical nicht zu schämen brauchte«,28 verlässt sich Hoffmann auch beim Transport der schärferen Töne seiner Gesellschaftssatire im Gewand der musikalischen Komödie vor allem auf Bois’ unnachahmlich lakonische Bissigkeit – etwa, wenn dieser auf die Frage, wie das »gottverlassene Nest am Rhein« denn noch gleich heißt, schlicht repliziert: »Bonn«.
Abb. 2
Bevor Bois jedoch auf sein Repertoire der Weimarer Zeit zurückgreifen kann, ist das erste Drittel des Films vergangen, in dem er als Geist und Schutzengel der in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Schlossbesitzerin Charlotte von Sandau (Liselotte Pulver) nur schemenhaft in Erscheinung getreten war. Hoffmann inszeniert die parallele Geisterwelt seines Grusicals als beschauliche Reflexion auf das eigene Medium. Bevor die Geister durch einen Zaubertrank ihre Körperlichkeit und durch die guten Taten, die sie verrichten, ihre Seelen zurückgewinnen, leiden sie in erster Linie unter der Lichtempfindlichkeit ihrer
28 Tornow, Ingo: Piroschka und Wunderkinder oder: Von der Vereinbarkeit von Idylle und Satire. Der Regisseur Kurt Hoffmann, München: Filmland Presse 1990, S. 175.
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Erscheinung, die nur im dunkeln sichtbar ist, sich jedoch in nichts auflöst, sobald ein Lebender das Zimmer betritt und das Licht anschaltet: Als Negativ und Positiv einer doppelbelichteten Welt, deren Schranken zunächst nur die Stimmen und Geräusche der Widergänger überschreiten können (Abb. 3).
Abb. 3
Wie seine Figur muss sich Bois aus der Schattenexistenz hervor arbeiten, im Diesseits des westdeutschen Unterhaltungsfilms materialisieren, um sich zur alten Geltung zu bringen. Neben den gesellschaftskritischen Spitzen mag es diese hintergründige Dimension seiner Rolle gewesen sein, die Hoffmanns streckenweise arg in den Klamauk abrutschendes Sequel zu seinem Publikumserfolg DAS WIRTSHAUS IM SPESSART (1957/58) für Bois interessant machte. Friedrich Luft jedenfalls erkannte in ihm den »perfekte[n] deutsche[n] Heiterkeitsfilm mit Musik« und sah eine Tradition fortgeführt, der Bois wie auch Hoffmann, als Sohn des Kameramanns Carl Hoffmann und ehemaliger Assistent Reinhold Schünzels, verpflichtet waren: »So dicht gepackt saßen die Pointen in einem deutschen Humorfilm selten. So zart und sicher waren die Übergänge seit dem großen Lubitsch kaum. Dieser Film tut absolut zeitlos in einer Freude am perfekten Quatsch. Und trotzdem hat er die Zeit und ihre Kümmernisse andauernd fest an den Hammelbeinen. [...] Die guten Geister spuken, daß es komisch knackt. Sie rumoren in Bonn. Sie fegen zeitgenössische, aktuelle Gespenster beiseite. Sie putzen die deutsche Illustrierten-Weltanschauung sauber. [...] Wie überschlägt sich da scheinbar die Phantasie! Trotzdem: wie genau gezielt sind alle Anspielungen, wie ganz un-
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gequält treffen ihre Gespenstereien erst aufs Zwerchfell und dann ins satirische Schwarze.«29
Als revenant ist Bois auch in Wolfgang Staudtes Komödie GANOVENEHRE inszeniert, die nach der gleichnamigen Bühnenfarce von Charles Rudolph um die Jahreswende 1965/66 in den CCC-Ateliers in BerlinSpandau entsteht.30 Angesiedelt in der kriminellen Halbwelt der 1920er Jahre, beginnt der Film mit dem feierlichen Begräbnis eines Mitglieds des »Sparvereins Biene« (einem Zusammenschluss der ansässigen Zuhälter), um anschließend im filmischen Rückwärtslauf (Erzählerstimme: »und nun lasst uns das Rad der Zeit zurückdrehen...«) die Umstände, die zu dessen Tod geführt haben, zu rekonstruieren und die Identität des Verstorbenen zu enthüllen. Es handelt sich – man ahnt es, obwohl der Film anderes suggeriert – bei ihm um Seiden-Emil, Besitzer des offiziell als »Massage-Salon« geführten Etablissements »Venus von Milo«, dessen symbolische Rückeroberung seines Schaukelstuhls, von dem aus er sein Bordell verwaltet, ihm zum Verhängnis wird. Vermutet doch der von dem Vorsitzenden des Ringvereins (Gert Fröbe) gedungene Mörder in ihm den abtrünnigen Artisten-Orje (Mario Adorf), auf den das Attentat gemünzt ist. Obwohl Bois’ SeidenEmil sich über weite Strecken des Films auf Auslandsreise von der Handlung verabschiedet, ist er der geheime Angelpunkt in Staudtes filmischer Zeitschleife. Entwirrt sie sich doch erst dadurch, dass ihre Logik einer »verkehrten Welt« von Emils Talent, sich im falschen Moment am richtigen Platz zu befinden, eingelöst wird. Aber nicht nur Emil, auch Bois selbst ist, wenn auch in anderem Sinne, eine Schlüsselfigur in Staudtes mit zahlreichen Anspielungen auf die Unterhaltungskultur der 1920er Jahre versetztem Retro-Szenario. Im Rücken seiner Rolle erscheint er als eines jener Zitate, aus denen Staudte beabsichtigte, auf dem Fundament einer »Gauner- und
29 Luft, Friedrich: »Endlich ein deutsches Filmlustspiel«, in: Die Welt vom 17.12. 1960. 30 Für einen Bericht über die Dreharbeiten vgl. Schuller, Marianne: »Kesse Jungen und leichte Mädchen. Staudte inszeniert mit Helen Vita, Curt Bois und Gert Fröbe in Spandau den Film GANOVENEHRE«, in: Der Tagesspiegel vom 9.1.1966. 1932 hatte die Terra den Stoff erstmals verfilmt, diese Adaption verschwand jedoch mit Machtantritt der Nationalsozialisten unverzüglich aus den Kinos.
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Hurenkomödie, geschrieben in der Zeit und für die Zeit der ›goldenen zwanziger Jahre‹ [...] das reine Vergnügen« zu montieren.31 Die zeitgenössische Filmkritik zeigte sich von Staudtes Versuch enttäuscht und erkannte in ihm eine Abkehr von der bissigen Gesellschaftssatire hin zur seichten, unverbindlichen Unterhaltung. »Einer aber ist mehr als großartig«, urteilte der Telegraf: »Curt Bois als windiger ›SeidenEmil‹. Nur in seiner drahtig-grazilen Gestalt steckt der gesamt schwarze Charme der zwanziger Jahre. Sein Emil ist jede Sünde wert, die er begeht.«32 Ein anderer Kritiker fragte sich, warum sein »spitzer und herrlicher Humor« im deutschen Film nicht öfter genutzt würde.33 Für Bois bedeuteten seine beiden Ausflüge in den westdeutschen Unterhaltungsfilm der 1960er Jahre wohl nicht mehr als gut bezahlte Brotarbeiten.34 Rückblickend lassen sich aber noch an diesen beiden Filmen die Spuren einer veränderten Qualität in Darstellung und Rezeption von Bois erkennen, die in seinen Fernsehrollen weitaus früher sichtbar wird, sich in seinen Filmarbeiten jedoch erst Anfang der 1980er Jahre vollends herauskristallisieren sollte. Wenn Bois sich rückblickend mit feiner, jedoch nur halber Ironie von den Ergebnissen seiner Filmarbeit der 1960er Jahre distanziert hat, so zeugt dies nicht nur davon, wie sehr sich das Selbstverständnis des Schauspielers mittlerweile verändert hat: »Soweit ich mich erinnern kann«, gibt er auf die Frage eines Interviewers Auskunft, »wurde DAS SPUKSCHLOSS von einem Studenten-Filmclub zum schlechtesten Film des Jahres 1960 erklärt. Und wie Sie ja wissen, ist GANOVENEHRE ein Halbwelterfolg gewesen.«35 Bois späteres kritisches Verhältnis zu DAS SPUKSCHLOSS IM SPESSART und GANOVENEHRE steht auch im Zeichen einer Erneuerung innerhalb der deutschen Filmkultur, die seinem Imagewandel befördern sollte und deren erste Anzeichen in jene Zeit fallen, in der er seine beiden einzigen Rollen im von den jungen Filmemachern bald verhöhnten und verpönten westdeutschen Unterhaltungskino der Nachkriegszeit übernahm. »In GANOVENEHRE jedenfalls findet der ›neue deutsche
31 Staudte, Wolfgang: »Die Konstruktion des Vergnügens«, in: Atlas Filmhefte 71 (1966). 32 D.F.: »GANOVENEHRE im Zoo-Palast«, in: Der Telegraf vom 16.4.1966. 33 -ft: »Rückzug in den Klamauk«, in: Die Welt vom 23.4.1966. 34 Vgl. Bois: So schlecht war mir noch nie, S. 47ff. 35 »Ein Gespräch«, S. 19.
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Film‹ nicht statt«,36 stellte der Kritiker der Neuen Zürcher Zeitung fest. Er illustriert damit einen sich vollziehenden Wandel der ästhetischen Maßstäbe, der Bois’ Filmschauspiel neue Wirkungsdimensionen erschließen sollte.
A USSENSEITER FÜR I NSIDER : TV- UND V IDEOPRODUKTIONEN 1971-1989 Nach GANOVENEHRE sollte es bis 1980 dauern, ehe Bois in DAS BOOT IST VOLL (Regie: Markus Imhoof) wieder auf die Kinoleinwand zurückkehrte. Neben seiner Theaterarbeit (bis 1978) ist er in den 1970er Jahren in insgesamt elf TV-Produktionen zu sehen, zumeist in kleineren Rollen, aus denen er es jedoch versteht – etwa als Herr Seidner in DER TROJANISCHE SESSEL (1971) oder, unter der Regie von Wolfgang Becker, als Juwelier Nathan in der Folge TOCCATA UND FUGE (1976) aus der Krimi-Serie »Der Alte« – schillernde Miniaturen seiner gereiften Schauspielkunst zu machen. Zu den bemerkenswerten seiner wenigen TV-Hauptrollen gehört die des Simon Norton in Peter Zadeks DER POTT (1970/71) nach dem Anti-Kriegs-Stück The Silver Tassie von Sean O’Casey. Nach Kortner ist Zadek erst der zweite deutsche Regisseur, der O’Caseys nur schwer einzurichtendes Stück 1967 in Wuppertal und 1970, nach Abschluss der Dreharbeiten, noch einmal in Stuttgart auf die Bühne bringt.37 Neue televisuelle Produktionstechniken wie Farbe, Bluebox und elektronische Stanzen bieten ihm die Gelegenheit, O’Caseys ätzende Gesellschaftssatire (in der deutschen Bearbeitung Tankred Dorsts) von den Beschränkungen der Bühne zu abstrahieren und die Darsteller der fantastisch-kabarettistischen Szenen der ersten beiden Akte in einer synthetischen Umwelt aus elektronisch montierten Bildhintergründen des Comic-Zeichners Guy Peelleart agieren zu lassen.38
36 sb., in: Neue Zürcher Zeitung vom 24.11.1966. 37 Vgl. Zadek, Peter: My Way. Eine Autobiographie 1926-1969, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998, S. 445: »Das Stück war als eines der unspielbaren Stücke überhaupt bekannt. Der einzige, der es je in Deutschland inszeniert hatte, war Kortner.« 38 Zum Produktionshergang vgl. Canaris, Volker: Peter Zadek. Theatermann und Filmemacher, München: Hanser 1979, S. 256.
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Zadek besetzte Bois lediglich für die Fernsehfassung seiner Inszenierung, deren für ein Fernsehspiel revolutionäre Konzeption und die daraus erwachsenden, nicht nur für Bois neuartigen Produktionsumstände die Zusammenarbeit keineswegs problemlos ablaufen ließen: »Die Bluebox-Aufnahmen waren ungeheuer kompliziert, weil wir damit noch zusätzlich experimentierten. Für Spielszenen mit Bluebox brauchte man gleich zwei Studios. Der WDR war monatelang vom POTT-Unternehmen besetzt. Wir hatten schwierige große Schauspieler – Curt Bois und Hans Mahnke, um die man sich ständig kümmern mußte.«39
An der Seite von Mahnkes Sylvester ist Bois’ Simon als Beobachter und Kommentator des Geschehens zunächst abermals auffällig statisch angelegt: Bei ihren lakonischen Dialogen streiten sich die beiden Veteranen auf einem Ofenrohr sitzend über historische Sportereignisse oder liegen betrunken auf einem Schuttberg, um über die geheimen Entsprechungen zwischen gewissen körperlichen und moralischen Eigenschaften des weiblichen Geschlechts zu philosophieren. Im Falle Simons jedoch erweist sich die anfängliche Statik der Figur genau auf das explosive Bewegungspotenzial ihres Darstellers kalkuliert, als Bois plötzlich vom Ofenrohr springt und sich Schlachtgesänge anstimmend an die Spitze jenes Umzugs jubelnder Fußballer setzt, der sich unversehens in eine Masse randalierender Plünderer verwandelt. Bois taucht kurzzeitig in der Masse unter, um, als die anderen längst weiter gezogen sind, voll bepackt aus dem zerworfenen Schaufenster des Delikatessen-Geschäfts eines deutschen Einwanderers zu steigen, das der Kriegsbegeisterung der irischen Sportler zum Opfer gefallen ist. Ein Auftritt, der nicht nur aufgrund der irrealen Kulissen, vor dem er sich abspielt, gespenstisch anmutet, weil er den Gedanken der ideologischen Verführung zur sprachlosen Pointe formt. Nachdem die beiden Alten Simon und Sylvester im zweiten Teil des Films noch einmal unvermittelt in den realistischer gehaltenen Kulissen des Feldlazaretts auftauchen, um es durcheinander zu bringen, und vor allem Bois dabei einen Teil seiner grazilen Körperdynamik zum Einsatz bringen kann, treten sie beim Friedensschluss-Gelage der Schlussszene wieder in ihre statische Position scheinbar unbeteiligter Kommentatoren und Beob-
39 Zadek: My Way, S. 452.
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achter zurück: engelsgleich auf ihren Bänken hockende Advokaten des Absurditätentheaters, das sich um sie herum abspielt. Im Kontext von Bois’ Fernseharbeit der 1970er und 1980er Jahre stellt die Simon-Figur aus Zadeks provokantem Fernsehprojekt sicherlich die radikalste Version jenes abgründigen Humors dar, mit dem er die bissige Melancholie seiner Figuren zum Ausdruck bringt. Die Spannung zwischen Bewegungsdrang und künstlicher Statik ist hier jeden Moment spürbar, Bois’ gestalterische Ausdrucksmittel zeigen sich oft nur provisorisch gezähmt. Sie sind den veristischen Chiffren in Mimik und Gestik noch nicht unterworfen, die für das Fernsehschauspiel jener Zeit zunehmend verbindlich werden und kaum noch das Ausspielen einer schauspielerischen Haltung gestatten.40 Festzuhalten ist, dass sich Bois trotz seiner verhältnismäßig zahlreichen Fernsehrollen der 1970er und 1980er Jahre – als kriegsgeschädigter Mordverdächtiger in Wolfgang Staudtes TOD EINES LADENBESITZERS (1971, Serie »Der Kommissar«), zynischer Totengräber in FLÄCHENBRAND (1980/81), Lord Clarence in der P.G.-WoodhouseSerie DIE FEINE ENGLISCHE ART (1982) oder als hinters Licht geführter Rentner in DER ZOCKER (1983) – dieser Zurücknahme seines individuellen Darstellungsstils nicht gebeugt hat, ihn im Gegenteil vor diesem Hintergrund aufgrund eines sehr spezifisch gepflegten Rollenrepertoires erst recht zur Geltung bringen konnte. Ob er in der »Kommissar«-Folge SCHWIERIGKEITEN EINES AUSSENSEITERS (1974) eine zu Unrecht des habgierigen Mordes verdächtigte, von Schwerhörigkeit, Senilität und Alkoholabhängigkeit gezeichnete gesellschaftliche Randfigur spielt oder einen mit hellsichtigem Altersstarrsinn gesegneten Individualisten, der in Dieter Wedels DAS RENTENSPIEL (1977) dem Bonner Rentenskandal zum Opfer fällt, jedoch nicht ohne ihm mit stolzer Chuzpe zu begegnen – zumeist befinden sich Bois’ auf eigensinnige Weise anrührende Figuren ein Stück weit außerhalb der sie umgebenden Realität und erlauben so eine größere Freiheit der individuellen Rollengestaltung. Wo seine Figuren der Umwelt nicht von
40 Dieser von der zunehmenden Kommerzialisierung und Massennutzung des Fernsehens diktierte Imperativ des Unterspielens droht bis heute zu einer Nivellierung von historischen Darstellungsstilen, zu einer »Enthistorisierung des Darstellens durch das Fernsehen« zu führen. Vgl. Hickethier, Knut: »Schauspielen in Film und Fernsehen«, in: Kinoschriften. Jahrbuch der Gesellschaft für Filmtheorie, Wien: Synema 1990, S. 62ff.
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vornherein enthoben scheinen, brechen sie mit Vehemenz aus ihren gesellschaftlichen Rollen aus, wie etwa in Wolfgang Beckers Fernsehspiel DIE ALTEN KOMMEN (1980), in dem Curt Bois mit weitaus überzeugenderer Verjüngungslust in seine alte Schule einbricht als seine Mittäter Gustav Knuth und Ernst Fritz Fürbringer. Seine letzte Fernsehrolle übernimmt Bois 1986 in ADIEU, CLAIRE, der vierten Folge von Helmut Dietls und Patrick Süskinds HighSociety-Satire »Kir Royal«. Er spielt den todgeweihten Komponisten und Librettisten Friedrich Danziger, der die Vorstellung, die ihm sein behandelnder Arzt suggeriert, man könne mit seiner Lungenerkrankung noch lange leben, als »gräßlich« empfindet und die Praxis unverzüglich verlässt, um sich eine Zigarette anzustecken. Die Weltflucht seiner (natürlich auf Friedrich Hollaender anspielenden) Figur ist auch eine Flucht vor der Vergangenheit, die ihn auf Betreiben schlagzeilenhungriger Klatschreporter am Ende doch noch einmal einzuholen droht: Sie inszenieren einen Krankenbesuch der Schauspielerin Claire Maetzig – gespielt von Marianne Hoppe! –, mit der Danziger »eine der letzten großen Liebesromanzen, die in den dreißiger Jahren in Hollywood begann«, verbunden haben soll.41 Für Bois muss dies eine nicht minder beklemmende Vorstellung gewesen sein, gehörte Marianne Hoppe, mit der er im Film tatsächlich nur eine kurze Szene hat, doch zu den gefeierten Schauspielgrößen des NS-Films. »Wenn ich was empfinden würde, dürfte ich nicht hier sein«, hat Bois einmal über professionelle Begegnungen dieser Art in einem der beiden Fernsehporträts geäußert, die Anfang der 1980er Jahre über ihn entstehen.42 In Bruno Ganz’ und Otto Sanders Doppel-Hommage GEDÄCHTNIS – EIN FILM FÜR CURT BOIS UND BERNHARD MINETTI (1982) geht Bois allerdings dem Treffen mit Minetti – den er, wie er zu Protokoll gibt, als Schauspieler sehr schätze, politisch jedoch verachte – aus dem Weg. Ganz und Sander wollten in ihrer »Liebeserklärung an zwei alte Schauspieler«, deren »berufliche Entwicklung [...] durch die allgemeinen Geschehnisse ihrer Zeit auf auseinanderlaufende Bahnen
41 Dietl, Helmut/Süskind, Patrick: Kir Royal. Aus dem Leben eines Klatschreporters, München: Heyne 1987, S. 180. 42 1980 hatte Uwe Belz für das Fernsehen der DDR unter Mitwirkung von Bois die Dokumentation CURT BOIS ODER MIT HEINERLE FING ALLES AN produziert.
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gebracht« wurde, »Souterrain und Belle Etage des deutschen Theaterbetriebs« im Sinne Hölderlins »ein Gedächtnis stiften«. Ohne schriftlich fixiertes Drehbuch macht sich der Film auf die Suche nach eben jener historisch gewachsenen schauspielerische Haltung, die Ganz und Sander ihrer Generation längst verloren sahen. Während Minetti sichtlich bemüht ist, diese für sich zu formulieren und aus seiner Ausbildung und seinem Werdegang herzuleiten, verzichtet Bois auf lange Erklärungen und führt seine Berufsauffassung, die eher eine Lebensauffassung ist, in den ihm gewidmeten Teilen mit einer Suada stets auf eine unberechenbare Pointe hinauslaufender Anekdoten und Erinnerungen, geschliffenen Kabinettstücken seiner Improvisationskunst, vor. Auf seine Begabung angesprochen, antwortet Bois: »Es war einfach da, ich hab’s nicht gelernt.« Und als Sander wissen will, was einen Komiker ausmache, bekommt er zu hören: »Da Du es nicht weißt, bist Du keiner.« Während Minetti in ernsthafter Versenkung um die richtigen Worte ringt, entwischt Bois seinen Gesprächspartnern mit einer überspitzten Geste oder einem lakonischen Blick in die Facetten einer Typage, deren Identität kenntlicher wird, je weniger sie von sich preisgibt. Gerade darin bleibt er sich treu: Selbst wenn von ihm nicht anderes verlangt wird, als Curt Bois zu sein, fällt er aus der Rolle, indem er es vorzieht, ihn zu spielen. Deutlicher lässt sich eine »Haltung« nicht vor Augen führen. Dieser Haltung ist auch zuzuschreiben, dass Bois es verstanden hat, sich der Nostalgie-Welle der 1980er Jahre, der sich das Fernsehen gerne öffnete, noch dort mit listiger Konsequenz zu entziehen, wo die Umarmung unvermeidlich scheint. In der NDR-Produktion DIE ENDLOSE SEHNSUCHTSREVUE – EINE NACHT IN HAUS VATERLAND (1983/ 84) ist er neben Blandine Ebinger, Grete Mosheim, Ilse Werner, Carl Raddatz und Comedian Harmonist Robert Biberti zu sehen.43 Allerdings verweigert er sich (demonstrativ, so hat man den Eindruck) einem regelrechten »Auftritt« in diesem Versuch eines Schulterschlusses zwischen der Unterhaltungskultur der »Vorkriegszeit« (bis einschließlich 1942) und den jungen Wilden der Neuen Deutschen Welle, indem er sich zuhause im Bett mit Inga und Annette Humpe von Peter Glaser Fragen stellen lässt, die er zumeist nicht beantwortet, weil sie ihn, wie er sagt, gar nicht interessierten.
43 Bois erscheint im 3. Teil (»Nacht und Tag«), der am 6.2.1984 erstmals gesendet wurde.
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Stattdessen verliest er Passagen aus dem Manuskript seines Erinnerungsbuchs Zu wahr, um schön zu sein, die dem ansonsten so einträchtigen Reigen der Generationen eigentlich den Boden unter den Füßen weg schlagen müssten: »Im Jahre des Heils lebte ein Komiker in der Stadt Berlin. Er sah im Februar 1933 die Straßen und Plätze verstopft von braunen Menschen. Sie erhoben ein großes Geschrei: ›Deutschland erwache! Juda verrecke!‹ Schrien und schrien, bis dem Komiker schwarz vor Augen wurde und er sich aufmachte, die Stadt zu verlassen. Tausende und aber Tausende flohen mit ihm; wurden alle grausam zerstreut in viele Länder. Die sie vertrieben hatten, nahmen an sich ihre Gelder, Kleider, Häuser und alles, was sie begehrten. Und hofften, daß es ihnen dadurch endlich besser ginge in Deutschland. Die Zeit aber, die der Komiker nicht unter ihnen verbringen würde, sollte dauern siebzehn Jahr. Im Angesicht der gewetzten Messer hätte mancher vergehen mögen vor Furcht, aber er sprach zu sich: ›Kümmere dich nicht um ihren Haß, denn ihr Heil sind Kot und Würmer.‹«44
Als er am Ende doch noch auf zwei Fragen eingeht, sagt der Schauspieler, der nach eigener Auskunft privat bereits seit geraumer Zeit das »Probesterben« betreibt: »Das Wichtigste im Leben? Die Jugend, sich an ihr zu erfreuen; das Schönste? Das Schönste ist der Tod. Gute Nacht.« Er legt das Manuskript zur Seite, faltet die Hände und schließt die Augen. Ganz am Ende, als der Abspann bereits durch ist, sieht man Bois noch einmal wie er aufsteht, sich anzieht, im Spiegel betrachtet und feststellt: »47 Kilo, jetzt könnte ich Jockey werden.« Damit gibt sich Bois’ kunstvoll verweigerter Auftritt den Eingeweihten vollends als Geniestreich des Selbstzitats und einer Selbstinszenierung zu erkennen, die wortgetreu dem anderen seiner beiden Bücher, seinen im gleichen Jahr neu veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen, gefolgt war. Die Regieanweisungen lassen sich dort unter dem Datum des 31. 12.1964, 24.00 Uhr, nachlesen: »Während draußen das Silvesterfeuerwerk abbrennt, sehe ich mir nochmal in dem Spiegel, der meinem Bett gegenübersteht, an, wie ich aussehe, wenn ich endlich tot sein würde. Die gefalteten Hände über dem kleinen Buch, meinem
44 Bois: Zu schön, um wahr zu sein, S. 60.
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Traberalmanach, sehen echt aus. Störend ist, daß ich um das zu prüfen, immer ein Auge halb öffnen muß. Ich werde mich fotografieren lassen. Auch fehlt eine weiße gesteppte Decke.«45
Horst Königsteins schräge Nostalgie-Revue war für Bois also nicht mehr als eine willkommene Gelegenheit, sich mitsamt der kurz zuvor endlich erworbenen weißen Steppdecke »fotografieren zu lassen«.46 Im Jahr 1988 entstand das letzte mit Curt Bois realisierte Projekt, Jean-Claude Kuners Videofilm DAS LETZTE BAND. Samuel Becketts gleichnamiges Monodrama um den verwahrlosten Schriftsteller Krapp, der, aus der Zeit gefallen, in Schachteln mit alten Tonbandaufzeichnungen nach seinem Gedächtnis sucht, dient seinerseits nur als Folie, auf der sich ein anderer Text, eine andere Erinnerung einschreiben kann: »Ein Fenster, ein alter Mann, allein. Erinnerungen. Ein Schauspieler erinnert sich an eine alte Rolle, Becketts Krapp, das letzte Band. Keiner schaut ihm zu, als in seiner Wohnung eine mühselig zusammenimprovisierte Bühne entsteht. Ein letzter, zufriedener Blick, dann schlurft er als Krapp auf die Bühne in der Zimmerecke. Bald vergisst er seine Rolle und kramt in den eigenen Erinnerungen. Dann besinnt er sich, spielt weiter und kämpft um die Darstellung einer Figur, die er längst selber geworden ist. Am Ende des Beckett-Stückes steht die Erstarrung eines Lebens. Die letzte Großaufnahme zeigt den alten Mann, Annäherung und Abschied zugleich.«47
Der Film beginnt mit einer Einstellung, in der Bois, der Kamera abund der eigenen Vergangenheit zugewandt, aus seinem Sessel ein Foto an der Wand betrachtet, das ihn zu Beginn seiner Karriere als Heinerle zeigt. Von Anfang an erkennen wir, dass auch Becketts Krapp nur eine weitere Maske ist, die Bois aufsetzt, um sich selbst zu spielen. Als er sich schließlich erhebt, um das Tonbandgerät und die Schachteln mit den Tonbändern zu holen, dabei mehrfach eine am Boden lauernde Bananenschale elegant umsteuert, um schließlich, sobald er alles bei-
45 Bois: So schlecht war mir noch nie, S. 44. 46 Vgl. ebd., S. 87. 47 Produktionsmitteilung, zitiert nach Internationales Forum des jungen Films 1989, Informationsblatt »Video 3«.
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einander hat, über sie zu stürzen, steht eine Reminiszenz der anderen im Wege, durchkreuzt die Inszenierung des Schauspielers die der Figur. Bois spielt sich in einer anderen Zeit, in der Gegenwart wirkt dann nichts mehr gespielt, weder seine Verzweiflung beim Ringen mit Becketts Text noch beim stillen Abhören der Tonbänder, auf denen die eigene Stimme die Passage so fehlerlos reproduziert. Das Drama, dessen Zeuge wir werden, spielt sich ab in den Zwischenräumen von Stimme und Körper, die zu keiner Identität mehr zu finden scheinen; in der Kluft zwischen Becketts Regieanweisungen, die Bois sich selbst verliest, und ihrer stets misslingenden Darstellung. Gerade in diesem Misslingen vermag es Bois, sich Krapps zu erwehren, um Kuners Video zu seinem eigenen »letzten Band« zu machen und sich ein letztes Mal als »Curt Bois« zu realisieren.
Z AUBERER DER E RINNERUNG , S CHUTZENGEL DER G ESCHICHTE : K INOFILME DER 1980 ER J AHRE Schon 1980, bei seiner Rückkehr auf die große Leinwand in Markus Imhoofs DAS BOOT IST VOLL, hätte er »in den meisten Szenen nichts anderes gemacht als das, was ich bin.«48 Tatsächlich war die Rolle des jüdischen Flüchtlings Lazar Ostrowskij, der gemeinsam mit einer zufällig zusammen gewürfelten Gruppe Verfolgter aus Nazi-Deutschland in die Schweiz flieht, Bois auf den Leib geschrieben. Noch bevor das endgültige Drehbuch entstand, war die Besetzung bereits festgelegt, so dass Imhoof »beim Dialogschreiben die Gesichter und Stimmen« kannte.49 Den Dreharbeiten, die im August 1980 in Siblingen und Diepoldsau an der Rhein-Grenze zu Deutschland stattfanden, gingen ausgiebige Probearbeiten mit den Hauptdarstellern in Berlin voraus. Dabei sollte das auf sie zugeschriebene Drehbuch so genau durchgesprochen wer-
48 Zitiert nach Ducke: »Ich versuche nicht zu spielen«, S. 33. 49 »Ausschnitte aus einem Gespräch mit Markus Imhoof«, in: Imhoof, Markus: Das Boot ist voll. Ein Filmbuch, Zürich: Ammann 1983, S. 175.
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den, dass am Drehort der kreative Prozess ohne lange Erklärungen in Gang gesetzt werden konnte.50 Imhoofs Film, finanziert im Rahmen einer gemeinsam von SRG, ZDF und ORF produzierten Trilogie über »Schicksale in der Emigration«, wurde auf zahlreichen Festivals ausgezeichnet, heftig in der Öffentlichkeit diskutiert und gilt heute als eines der zentralen Werke des Neuen Schweizer Kinos. Gestützt auf historische Dokumente zur damaligen Flüchtlingspolitik der Schweiz entwickelt Imhoof einen Gegenentwurf zum Mythos vom wohltätigen Asylland, den Leopold Lindtberg 1945 in DIE LETZTE CHANCE, dem ersten internationalen Nachkriegserfolg des schweizerischen Kinos, zu stiften half.51 DAS BOOT IST VOLL erzählt dagegen von den verzweifelten Bemühungen der Flüchtlingsgruppe, den widersinnigen Statuten der damaligen Schweizer Asylpraxis zu entsprechen. Im Waschhaus eines Dorfgasthofs, dessen Wirtspaar sie aufgenommen hat und sich für sie einsetzt, formieren sie sich zu einer politisch verfolgten Schein-Familie, da Rassegründe allein für einen Asylanspruch nicht ausreichen. Ihr Vorhaben ist zum Scheitern verurteilt, als der französische Waisenjunge Maurice sich schließlich, vom Landjäger Bigler (Michael Gempart) provoziert, verrät. »Markus Imhoofs Film besticht durch die Gradlinigkeit seiner Dramaturgie«, befand Friedrich Dürrenmatt: »Die Kunstform der Tragödie hat die Bühne verlassen und findet sich unverhofft auf der Filmleinwand wieder, in einem neuen Medium. Wie Oedipus, seinem Schicksal zu entgehen, den falschen Weg einschlägt, der ihm seinem
50 Vgl. liv.: »Vom Verhältnis der Heimat zu Heimatlosen. Bei den Dreharbeiten zu DAS BOOT IST VOLL von Markus Imhoof«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 28.8.1980. 51 Imhoof wollte seinen Film allerdings weniger als »Korrektur« von DIE LETZTE
CHANCE verstanden wissen, denn als dessen »zweite Strophe«.
Vgl. ebd. Lindtberg, am Schauspielhaus Zürich der erste Regielehrer Imhoofs, schrieb diesem nach der Lektüre des Drehbuchs zu DAS BOOT IST VOLL,
das Happy End in DIE LETZTE CHANCE sei sicher ein Fehler, jedoch
der Film zu jener Zeit nicht anders zu machen gewesen. Vgl. Imhoof, Markus: »War das Boot wirklich voll?«, in: Fritz Hufen/Th. Jäschke (Hg.), Ausgestoßen. Schicksale in der Emigration, München: Goldmann 1982, S. 37.
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Schicksal entgegenführt, schlagen diese Flüchtlinge den falschen Weg ein: Sie retten sich in ihr Verderben.«52
Abb. 4
In einer der zentralen Szenen des Films versucht Ostrowskij, dem Jungen klarzumachen, dass er sich während des Verhörs taubstumm stellen muss, um als Sohn einer mit einem Deutschen verheirateten Jüdin (Tina Engel) durchzugehen. Da er sich mit dem französischen Jungen nicht anders verständigen kann, überzeugt er ihn mit einem Zaubertrick: Er zaubert ein Stück Würfelzucker von einer Hand in die andere, dann in den Kopf, um den Leckerbissen zuletzt aus der Nase zu blasen (Abb. 4). Mit seinen wenigen Brocken französisch bedeutet er dem Jungen, dass er den Zucker jetzt bekommt, wenn er gleich im Gespräch mit dem Landjäger stumm bliebe. Schließlich verständigt er selbst sich nur noch pantomimisch, und als Maurice darauf eingeht, gibt er ihm das Zuckerstück in den Mund. »Mit ruhiger Geduld richtet Imhoof die bedrückende Einstellung ein, probt, prüft, lässt wiederholen«, heißt es in einem Entstehungsbericht dieser Szene: »Da der kleine Maurice, dort Lazar Ostrowskij, verkörpert vom heute achtzigjährigen Curt Bois, einem früheren Mitglied von Brechts Berliner Ensemble, dessen Leben die Bühne war, in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten. Es zeugt für die Konzentration dieses Schauspielers, [...] dass die elende Angst des Alten, in der er das Kind mit Zauberstücklein zum Schweigen überreden
52 Dürrenmatt, Friedrich: »Vorwort«, in: Imhoof: Das Boot ist voll, S. 11.
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will, sich plötzlich atmosphärisch mitteilt, ungeachtet des technischen Apparats rundherum.«53
Imhoof zufolge dienten Szenen wie diese dazu, die Gradlinigkeit der Geschichte zu brechen, ihrer Tragik durch komödiantische Momente eine zusätzliche Wirkungsdimension zu erschließen. Bois kam dabei eine zentrale Funktion zu: »Beim BOOT IST VOLL wollte ich unbedingt erreichen, dass der Zuschauer sieht, was ich zeigen will. Die Geschichte sollte stärker als Story erkennbar werden. Ich habe dazu auch vorsichtige Überhöhungen versucht, mehr Fiktion also, wie beim ›Familientausch-Motiv‹, an dem ich das Sich-selber-Preisgeben darstellen wollte, oder das Zuckerspiel oder das Lied. Das sind dann vielleicht die Dinge, die mir vom Bund als schlechtes Volkstheater oder gar ›Verwechslungskomödie‹ angelastet worden sind. Es sind wirklich zum Teil Komödienmotive, ich gebe zu, ich habe sogar an ›Charleys Tante‹ gedacht (übrigens Bois’ großer Erfolg im Berlin der 20er Jahre). Es wird im Kino ja auch gelacht, zum Teil aber auch geweint. Wichtig war mir, das Lachen nicht aus der Kontrolle zu verlieren, es wieder in den Hälsen stecken lassen zu können. Diktatorische Dramaturgie? Emotionen, Aristoteles statt Brecht? Hat der greise Kobold Curt Bois nur auf den Kopf gewirkt? Brecht hat mit ihm nie ein Wort über Verfremdung gesprochen.«54
Bois’ besondere Gabe, Trauer durch melancholischen Humor zum Ausdruck zu bringen, lässt erst erkennen, wie abgrundtief der Film mit der Absurdität zielt, die den Überlebensstrategien der Flüchtlinge aufgezwungen wird. Im Waschhaus an die Wand gelehnt, seinen Dialog ins Leere des Kamera-Offs, mehr zu sich selbst als zu seinen Schicksalsgenossen sprechend, wird Bois zur Metapher für die Situation, in der sich seine Figur befindet: »Ah, da fragt doch dieser ... dieser Goebbels, wissen Sie? ... einen Juden hat er gefragt: das ist doch nicht möglich, daß Sie stolz sind, daß Sie ein Jud sind? Das antwortet der: Ja wenn i nit stolz bin, bleib i ja trotzdem ein Jud. Also – bin i lieber stolz.«
53 liv.: Vom Verhältnis der Heimat zu Heimatlosen, a.a.O. 54 »Ausschnitte aus einem Gespräch mit Markus Imhoof«, S. 175f.
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Abb. 5
Abb. 6
Abb. 7
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Die Kenntlichkeit von Bois’ Präsenz, die erlittene Geschichte nicht darzustellen, sondern zu verkörpern scheint, ist die größte Stärke des Films. Sie ist aber auch seine größte Gefahr: Sie verleiht seinem Authentizitätsgestus eine Gestalt, die dessen Konstruktion zu entlarven droht, ein Antlitz, das über den Horizont des filmischen Realismus hinausblickt. An ihm lässt sich erahnen, wie ein Kritiker vermerkt, »was Imhoofs Inszenierung versäumt hat«.55 Erahnen lässt sich hier aber auch schon, was ein Filmemacher wie Wenders sechs Jahre später an Bois hat: einen »authentischen«, zugleich aber alle realistischen Ausdrucksmittel transzendierenden Modus selbstreflexiver filmischer Erinnerung, einen Gedächtniskern, um den sich die visuellen Collagen und auditiven Überlagerungen seiner Engels-Saga DER HIMMEL ÜBER BERLIN schlingen können, ohne ihn jemals zu verzehren (Abb. 5-7). Wie seine Figur des ewigen Erzählers Homer existiert Bois in Wenders’ Film »zwischen allen Ebenen, Welt und Universum«, »abgetrennt von allen Beobachtungen, Erzählungen, Phantasien«.56 Die filmische Assoziation Bois’ mit Homer – oder treffender: Homers mit Bois – ist deshalb überzeugend, weil Bois selbst für den Film eine mythische Präsenz darstellt, »weder Engel noch Mensch, sondern beides zugleich, denn er ist so alt wie das Kino.«57 Wenders konzipierte Bois’ Rolle, wie auch die Peter Falks, erst spät auf Vorschlag von Ganz und Sander, während die Dreharbeiten bereits begonnen hatten. Bois’ Homer und Falks ehemaliger Engel, der sich auf Erden als Darsteller des Fernsehkommissars Columbo niederlässt und dort jeden flüchtigen Moment zeichnend festhalten will, sind in ihrer unauflöslichen mise en abîme von Rollen- und Schauspieleridentität die eigentlichen Hauptfiguren, konzentrische Reflexe der sie umgebenden filmischen Imagination. Sie sind die Schutzengel der beiden »arbeitslosen Schutzengel« Damiel (Ganz) und Cassiel (Sander), die auseinander tretende Figuration dessen, was den zu Zuschauern verdammten Engeln wie auch Wenders’ Film als solchem vor der Ver-
55 Pflaum, H.G.: »Wichtig, aber nicht geglückt«, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.12.1981. 56 Grob, Norbert: »Alle Helden sind Engel«, in: Die Zeit vom 30.10.1987; Grob, Norbert: Wenders, Berlin: Spiess 1991, S. 265. 57 Wenders, Wim: »Le souffle de l’Ange«, in: Die Logik der Bilder. Essays und Gespräche, München: Verlag der Autoren 1988, S. 137.
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gangenheit nicht mehr gelingen will: aufzuzeichnen und zu erzählen, Bilder festzuhalten und sie zu einer Geschichte zu fügen. Sie sind aber auch Komplementärfiguren einer gegenläufigen Bewegung. Während sich die eine – »Peter Falk« – in der Mitte des Films als ehemaliger Engel zu erkennen gibt und sich so in die Fiktion hineinbegibt, tritt die andere – Homer – im Verlauf des Films aus ihr heraus und in die Identität ihres Schauspielers zurück, der am Potsdamer Platz sein altes Café Josty sucht, in dem er nachmittags immer seinen Kaffee getrunken, seine Zigarre geraucht und das Publikum beobachtet hat. Es ist eine Bewegung, die Bois in seinen späten Film- und Fernsehproduktionen immer wieder vollzogen hat, in denen er die schauspielerischen Grundprinzipien auf den Kopf stellte und hinter der Maske seiner Rollen mit einem stummen Blick oder einer kleinen Geste hervortrat und jenes: »Ich bin es doch« wiederholte bzw. vorwegnahm, das er 1908 bzw. 1988 auf der Bühne seinem Publikum entgegen rief. DER HIMMEL ÜBER BERLIN bringt das Spiel des Verhüllens und Erkennens zu einer ästhetischen Rundung, in der Figur und Schauspieler innerhalb der kinematographischen Fantasie den umgekehrten Weg zueinander finden können. Wo Engel zu Schauspielern werden und Schauspieler von ihren Figuren gespielt, scheint der melancholische Grenzgänger, der »als Clown getarnte Anarchist«58 Curt Bois am Ende doch noch einmal angekommen zu sein: »Eine Mumie der Erinnerung im Niemandsland, die noch nicht vergessen will.«59
58 Hildebrandt, Dieter: »Der Bürger als Edelmann«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.3.1968. 59 Witte, Karsten: »Frenetisch. Curt Bois wird 90«, ín: epd Film 4 (1991), S. 2.
11 | Zeichen, Trick und Teilung Animationsfilm-Theorie in Ost und West
In einem 1978 entstandenen Text hat Juri Lotmann das damals von ihm als solches empfundene Theorie-Defizit zum Trick- bzw. Animationsfilm aus der »peripheren Position« abgeleitet, »die der Trickfilm im Gesamtsystem der Filmkunst einnimmt«. »Diese Position«, so Lotman weiter, »hat selbstverständlich nichts Gesetzmäßiges und Obligatorisches, und in einer anderen Kunstetappe kann sie sich leicht ändern«.1 Nicht nur Lotmans Forderung nach einer angemessenen Theoretisierung des weiten Felds der Animation ist mittlerweile dabei, sich zu erfüllen.2 Mit der (engl.) animation als tricktechnischem wie filmästhetischem Schlüsselbegriff ist auch der Animationsfilm als künstlerisch anspruchvolle und kommerziell erfolgreiche Gattung seit den 1990er Jahren von der Peripherie längst ins Zentrum filmkultureller Bedeutung gerückt. Er ist damit ganz zweifellos in eine neue, in einer andere »Kunstetappe« eingetreten.
1
Lotman, Juri: »Über die Sprache der Trickfilme« [1978], in: Montage AV 2 (2004), S. 122.
2
Ich denke hier u.a. an die grundlegenden Arbeiten von Paul Wells und Maureen Furniss. Vgl. Wells, Paul: Understanding Animation, London/ New York: Routledge 1998; Furniss, Maureen: Art in Motion. Animation Aesthetics, London/Montrouge: John Libbey 1998. Vgl. a. die Beiträge zu Jayne Pilling (Hg.), A Reader in Animation Studies, London/Paris/Rom/ Sydney: John Libbey 1997 und die Texte in der seit 2006 in der Redaktion von Suzanne Buchan erscheinenden Zeitschrift Animation – An Interdisciplinary Journal.
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Selbst wenn man nicht – wie zuletzt beispielsweise Tom Gunning oder Sean Cubitt – so weit gehen mag, unter dem aktuellen Eindruck von Digitalisierung und Medienkonvergenz das Filmische generell vom Begriff der Animation ausgehen und wieder auf ihn hinauslaufen zu lassen, so zeugen doch gerade derartige Versuche, aus der Gegenwart heraus neue Perspektiven an die historisch veränderlichen Imperative des Mediums anzulegen, von der Notwendigkeit auch einer theoriegeschichtlichen Betrachtung. Einer theoriegeschichtlichen Betrachtung dessen, was historisch und kulturell zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unter Animation in Bezug auf Film verstanden wurde.3 Wenn also an dieser Stelle für eine theoriegeschichtliche Reflexion plädiert werden soll – d.h. für die historische Erforschung der Theorieentwicklung des Animationsfilms –, so soll damit Lotmans Forderung nach einer Theoretisierung des Animationsfilms aktualisiert und zugleich ihrerseits im Sinne einer theoriegeschichtlichen Einordnung zur kontextualisierenden und damit historisierenden Betrachtung vorgeschlagen werden. Gegenüber seiner historisch-empirischen bzw. analytischen Beschreibung stellt eine theoriegeschichtliche Reflexion des Animationsfilms (nicht nur) in Deutschland noch immer ein Forschungsdesiderat dar. Dies trifft insbesondere für eine vergleichende Betrachtung der gattungstheoretischen Entwicklung in Ost- und West-Deutschland zu. Dabei wären die von ihr aufgeworfenen Fragen geeignet, ein deutlicher konturiertes – wenn auch notwendigerweise abstraktes – Bild national und kulturell differenter Gattungsdynamiken zu entwerfen. Zu fragen ist zum Beispiel, wie der Animationsfilm in beiden deutschen Staaten als kulturelle Ausdrucksform und als ästhetisches Objekt konzeptualisiert wurde, in welche Traditionen er gestellt wurde, welche gesellschaftlichen Funktionen ihm idealtypisch zugeschrieben wurden und schließlich welche Zukunftsperspektiven ihm jeweils eröffnet bzw. verweigert wurden.
3
Gunning, Tom: »›Animated Pictures‹. Tales of Cinema’s Forgotten Future, after 100 Years of Films«, in: Christine Gledhill/Linda Williams (Hg.), Reinventing Film Studies, London: Arnold 2000, S. 316-331; Gunning, Tom: »The Ghost in the Machine. Animated Pictures at the Haunted Hotel of Early Cinema«, in: Living Pictures 1 (2001), S. 3-17; Cubitt, Sean: The Cinema Effect, Cambridge, Mass./London: The MIT Press 2004.
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Das vorliegende Kapitel will diesen Fragen in exemplarischer Form nachgehen. Auf diese Weise soll ein erster Ansatz zur Rekonstruktion des historischen Theoriehorizonts gemacht werden, vor dem die Produktionsrealität und ästhetische Beschaffenheit einzelner Werke und Werkgruppen neu zu diskutieren wären. Die folgenden Ausführungen und Thesen sind insgesamt als Teil eines ersten und notwendigerweise vorläufigen Versuchs zu verstehen, eine vergleichende theoriegeschichtliche Diskussion über den deutschen Animationsfilm der Nachkriegszeit zu initiieren. Exemplarisch ist er insofern, als er vornehmlich auf die theoretische Diskussion des Zeitraums 1950 bis 1975 konzentriert ist. Entwicklungen der späten 1970er und 1980er Jahre werden nur insofern erwähnt, als in ihnen Kontinuitäten zur früheren Theorieentwicklung sichtbar werden. Anstelle einer umfassenden, historisch vergleichenden Betrachtung der Animationsfilm-Theorie in Ost- und Westdeutschland auf unangemessene, weil unzulässig totalisierende Weise hier vorzugreifen, soll ihr an dieser Stelle lediglich ein erster Impuls gesetzt werden.
A NIMATIONSFILM -T HEORIE IN DER B UNDESREPUBLIK 1950-1975 Überblickt man die Literatur zum Animationsfilm in den 1950er und 1960er Jahren in beiden deutschen Staaten, so ist allgemein festzustellen, dass rein quantitativ die theoretische Diskussion um die Gattung in der DDR weitaus früher einsetzte und weitaus intensivere Züge trug als in der Bundesrepublik.4 Die allgemeine Feststellung, dass die frühe Filmtheorie der Bundesrepublik von einer weitgehenden Vernachlässigung des Animationsfilms gekennzeichnet ist, dürfte den Sachverhalt nicht allzu sehr verzerren. Diese Vernachlässigung spiegelt ihrerseits bereits die relativ begrenzte ästhetische und gesellschaftliche Relevanz wider, die der Gattung auch dort, wo sie Beachtung fand, zugestanden wurde.
4
Umfassende bibliografische Zusammenstellungen zum deutschsprachigen Schrifttum über den Animationsfilm finden sich bei Goergen, Jeanpaul: Bibliografie zum deutschen Animationsfilm, Berlin: CineGraph Babelsberg 2002; Schenk, Ralf/Scholze, Sabine (Hg.): Die Trick-Fabrik. DEFAAnimationsfilm 1955-1990, Berlin: Bertz 2003, S. 523-527.
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In Fritz Kempes Film. Technik, Gestaltung, Wirkung aus dem Jahre 1958 ist der Animationsfilm zum Beispiel ebenso wenig ein Thema wie in Erich Feldmanns Theorie der Massenmedien von 1962; und noch 1968 finden Formen jenseits des fotografischen Realfilms in Walter Dadeks Begründung einer allgemeinen Filmtheorie keine gesonderte Betrachtung.5 Zu den seltenen Ausnahmen zählen in dieser Hinsicht Walter Hagemanns 1952 erstmals erschienene und mehrmals neu aufgelegte Studie Der Film. Wesen und Gestalt sowie Detlof Karstens in Umfang und theoretischem Entwurf weitaus weniger anspruchsvoller Versuch Die Sprache des Films aus dem Jahre 1954. Von diesen beiden universaltheoretischen Werken soll in der folgenden kurzen Skizze der bundesrepublikanischen Animationsfilm-Theorie ausgegangen werden, ergänzt durch eine Reihe von Teilstudien und Aufsätzen, die bis 1975 aus unterschiedlichen Kontexten heraus in der Bundesrepublik entstanden sind. Mit Blick auf das Verhältnis des Mediums Film zur Wirklichkeit sieht Walter Hagemann im Zeichenfilm die privilegierte Gattung eines »romantischen Filmstil[s]«, den er einerseits vom realistisch-naturalistischen, andererseits bemerkenswerter Weise aber auch vom »abstrakten« Filmstil absetzt. Im Zeichenfilm, so Hagemann, »hat die freie Phantasiegestaltung jenseits aller Außenwelterfahrungen ihren guten Sinn und ihre höhere Glaubwürdigkeit. Es ist uns bewusst, dass die hier sich vollziehenden Geschehnisse nicht in der äußeren ›Wirklichkeit‹, sondern nur in der liebenswürdigen Phantasie ihres Schöpfers Bestand haben«.6
Der Zeichenfilm sei daher »das geeignete Medium für die Darstellung wirklichkeitsfernen Geschehens«.7 Walt Disney habe im Zeichenfilm den romantischen Filmstil auf »einen Gipfel geführt«; wer dagegen, so
5
Kempe, Fritz: Film. Technik, Gestaltung, Wirkung, Braunschweig: Georg Westermann 1958; Feldmann, Erich: Theorie der Massenmedien. Presse, Film, Funk, Fernsehen, München/Basel: Ernst Reinhardt 1962; Dadek, Walter: Das Filmmedium. Zur Begründung einer allgemeinen Filmtheorie, München/Basel: Ernst Reinhardt 1968.
6
Hagemann, Walter: Der Film. Wesen und Gestalt, Heidelberg: Kurt Vowinkel 21956, S. 111.
7
Ebd., S. 137.
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Hagemann weiter, »eine Alltagsgeschichte mit romantischen Stilmitteln drapiert, wird schwerlich Form und Inhalt zur Wirkungseinheit zusammenschmelzen können«.8 Grundsätzlich wird dem Zeichenfilm von Hagemann damit einerseits die Möglichkeit jedes direkten Realitäts- und Gegenwartsbezugs abgesprochen, der anders als allegorisch vermittelt ist; vom abstrakten Film, dessen Formvokabular Hagemann kategorial als Ausdruck »reinen Denkens« versteht, wird der Zeichenfilm andererseits dadurch unterschieden, dass er über nackte Sinneseindrücke hinaus in der Lage sei, konkrete »Bedeutungs- und Erlebnisinhalte zu schaffen«.9 Diese Eigenschaft ließe den Zeichentrick zwar auch als geeignetes Mittel für den Lehr-, Werbe- und wissenschaftlichen Film erscheinen; in diesen Spielarten wie im dominierenden fiktional-fantastischen Genre warte man in (West-)Deutschland jedoch auf »den großen Zeichenfilmkünstler [...] noch vergebens«.10 Einen besonderen Zugang zu den stilisierten Erlebensformen des Animationsfilms sieht Hagemann sowohl dem »reifen Kunstverständnis« gegeben – d.h. dem gebildeten Kunstkenner, der Allegorien, thematische Anspielungen und visuelle Zitate zu entschlüsseln vermag; sowie, auf der anderen Seite, »dem naiven, kindlichen Gemüt«.11 Detlof Karsten unterscheidet generell zwischen Sachtrick, Puppentrick und Zeichentrick, wobei er letzterem in der zeitgenössischen Produktion den »größten Raum unter den Trickfilmen« und »eine besondere Popularität« zugesteht.12 Dabei sieht Karsten den Zeichentrickfilm von der »Zuspitzung des Typus« leben, »von dem grotesken Bewegungsrhythmus der durch den Projektionsvorgang belebten Phasenzeichnungen und von der Überzeugungskraft des vollkommen freien Striches«.13 In seiner Kennzeichnung des Zeichentrickfilms als dem dominanten Animationsfilm-Genre schließt Karsten nicht nur an Béla Balázs an, den er in dem entsprechenden Kapitel seines Buches ausführlich zu
8
Ebd., S. 112.
9
Ebd., S. 114.
10 Ebd., S. 138. Zum Werbefilm vgl. a. S. 181f. 11 Ebd., S. 143. 12 Karsten, Detlof: Die Sprache des Films. Über Ausdrucksmittel und Wirkungsweise des Films, Seebruck: Heering-Verlag 1954, S. 34, 36. 13 Ebd., S. 36f.
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Wort kommen lässt. Er greift auch Überlegungen auf, die Reinhold Johann Holtz 1940 in seiner Schrift Die Phänomenologie und Psychologie des Trickfilms angestellt hatte. Mit Holtz geht Karsten von der prägenden Dominanz Disneys im Zeichentrickfilm aus, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ästhetisch begründet wird. So zitiert Karsten aus der Dissertation von Holtz zustimmend die Feststellung: »Der amerikanische Zeichentrick wendet sich grundsätzlich nicht an die rationalen Faktoren der Psyche, sondern vorwiegend an jene Bereiche, die wir mit den Worten Affektivität, Emotionalität bezeichnen.«14 Der gegenständlichen Disney-Tradition gegenüber- oder genauer: an die Seite gestellt werden »synästhetisch-abstrakte Film[e]« der Fischingers und Norman McLarens, die Karsten erstaunlicherweise unter dem bei ihm übergeordneten formalen Aspekt »einer außerordentlichen musikalisch-rhythmischen Artistik« nicht als oppositionelle, sondern als komplementäre Erscheinung auffasst.15 Es ist eine bemerkenswerte »Versöhnung der Gegensätze« auf dem Gebiet des Animationsfilms, die hier unternommen wird. Sie erscheint insofern durchaus symptomatisch für die bundesdeutsche Theoriebildung der 1950er Jahre, als sich in ihr das Bemühen ausdrückt, die dominierende Stellung Disneys nicht nur als filmindustrielle Gegebenheit hinzunehmen, sondern auch ästhetisch zu begründen und gegenüber alternativen Traditionen und neueren, innovativen Stilentwicklungen auf- bzw. zumindest nicht abzuwerten. Dies ändert sich in der westdeutschen Diskussion grundsätzlich erst ab 1960. Eine Schlüsselfunktion hatte hier Reinhold E. Thiels im gleichen Jahr veröffentlichter Essay mit dem bezeichnenden Titel Puppen- und Zeichenfilm oder: Walt Disneys aufsässige Erben. Thiel weist mit Nachdruck auf die thematisch und stilistisch vielfältige internationale Animationsfilm-Landschaft hin und verortet den klassischen Film à la Disney demgegenüber in einer Sackgasse: »allzu naiv moralisch waren seine Fabeln, allzu naiv naturalistisch seine Zeichnungen«. Beides, Fabel und Zeichenstil, steht Thiel zufolge zur radikalen Revision an. Für die Bundesrepublik verweist er in diesem Zusammenhang auf er-
14 Holtz, Reinhold Johann: Die Phänomenologie und Psychologie des Trickfilms. Analytische Untersuchungen über die phänomenologischen, psychologischen und künstlerischen Strukturen der Trickfilmgruppe, Diss. Hamburg 1940; zitiert bei Karsten: Die Sprache des Films, S. 37. 15 Karsten: Die Sprache des Films, S. 38f.
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ste Ansätze in dieser Richtung durch Anton Weber und E.E. Krafft (SCHILLER UND GOETHE KOMMEN LEIDER NICHT DRIN VOR, 1956), Herbert Seggelkes direkt auf Film gezeichnete Arbeiten STRICH-PUNKTBALLET (1952) und EINE MELODIE – VIER MALER (1955) sowie auf Herbert Hungers und Hans-Jürgen Priebes KNALLEIDOSKOP (1959), deren Figuren aus Draht, Glasstücken und alten Schrauben zusammengesetzt waren.16 Andere Arbeiten, etwa die von Flo Nordhoff, bezeichnet Thiel als »scheinavantgardistisch«, weil sie, wie er schreibt, »formal immer noch vom Kindchen-Effekt der späten DisneySchöpfungen« lebten. Im Übrigen, so stellt er bissig fest, »beschränkt sich die westdeutsche Trickfilmproduktion auf Werbefilme (Fischerkoesen, Kaskeline)«, und hier käme »zumeist der Geschmack der Produzenten über den der Auftraggeber nicht hinaus«.17 Im Positiven – wie bei Hageman und Karsten – wie hier im Negativen bleibt der Disney-Stil jedoch während des gesamten Untersuchungszeitraums die maßgebliche Folie zur Bewertung stilistischer Qualität. Damit ist ein rhetorisches Manöver bezeichnet, dessen sich selbst diejenigen bundesdeutschen Kritiker bedienen, die sich – wie Thiel oder auch Enno Patalas – den fortschrittlichen, avantgardistischen Tendenzen im aktuellen internationalen Animationsfilmschaffen verpflichtet fühlen.18
16 Thiel, Reinhold E.: Puppen- und Zeichenfilm oder Walt Disneys aufsässige Erben, Berlin: Rembrandt 1960, S. 30f. 17 Ebd., S. 30. 18 Vgl. Thiel, Reinhold E.: »Der Trickfilm auf neuen Wegen«, in: Neue Deutsche Hefte 73 (1960). Vgl. a. Patalas, Enno: »Neue Tendenzen im Trickfilm«, in: Filmkritik 9 (1962), S. 390-395, hier S. 390: »Dunnings Film [THE FLYING MAN, M.W.] bezeichnet den Schnittpunkt verschiedener Entwicklungen, die im modernen Trickfilm zu beobachten sind. Sie gehen allesamt zurück auf den allgemeinen Aufbruch, der auf diesem scheinbar der Politik entrückten Feld gegen Kriegsende einsetzte. Damals wurde der Primat Walt Disneys im Zeichentrickfilm gebrochen. Disney, das hatte bedeutet (nicht immer, aber spätestens seit Schneewittchen): die neckischen Verbiederungen realer Vorlagen, die Kanalisierung der Phantasie in den Bahnen eines braven Kinderbuchstils, naturalistisch akkurate Hintergründe, durchgepauste Konturen und Bewegungen, Limonadenfarben und breit ausgemalte Tonkulisse.«
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In ihrem »Versuch einer Ästhetik des Puppen- und Zeichentrickfilms« legt Ursula-Regine Teiner 1968 in der in München herausgegebenen Zeitschrift Jugend – Film – Fernsehen (dem Vorläufer des noch heute existierenden Periodikums Medien & Erziehung) einen gattungsspezifischen Theorieentwurf vor, der in seiner Definition des Gegenstandes den früheren, im Rahmen einer universellen Filmtheorie entstandenen Gattungsbestimmungen zunächst noch weitgehend entspricht. »Mit der Erfindung des Zeichentrickfilms«, so heißt es bei Teiner, »wurde die entscheidende Möglichkeit geschaffen, abstrakte, naturunabhängige Formen in ein zeitliches Ordnungsgefüge zu bringen. Damit haben wir im groben den Stellenwert des ästhetischen Mediums Zeichenfilm bestimmt.«19 Anders als Hagemann und Karsten sieht Teiner Zeichen- und Puppentrickfilm jedoch nicht vollends der Realität enthoben. Vielmehr stellt sie fest: »Im Unterschied zur Musik ist er nicht nur rein zeitlich, im Unterschied zur Zeichnung nicht nur rein räumlich –, er verbindet vielmehr beide Dimensionen. Im Unterschied zum Realfilm ist er nicht primär naturnachahmend, sondern fast ohne Grenzen der Abstraktion fähig. Demnach scheint das ästhetische Schicksal des Zeichenfilms in einem ewigen Schweben zwischen den beiden Extremen der Naturnachahmung und dem reinen Formenspiel zu liegen.«20
Die Filme Disneys dienen ihr nicht mehr – wie noch Hagemann und Karsten – als Inbegriffe eines fantastisch-»romantischen Stils« (Hagemann) oder rein »musikalisch-rhythmischer Artistik« (Karsten), sondern als Beispiele für die als mittlerweile überlebt bezeichnete Tendenz, mit den Mitteln des Zeichentrickfilms »die Natur zu kopieren«. Dieser Tendenz werden nun die Filme Viking Eggelings und Hans Richters oppositionell gegenübergestellt als historische Beispiele für das andere Gattungsextrem, die Abstraktion als »graphische Musik« zum Äußersten zu treiben.21
19 Teiner, Ursula-Regine: »Versuch einer Ästhetik des Puppen- und Zeichentrickfilms«, in: Jugend – Film – Fernsehen 1 (1968); abgedruckt in: Burckhardt Heer (Hg.), Tendenzen im Trickfilm. Eine Dokumentation, Aachen: Arbeitsgemeinschaft für Jugendfilmarbeit und Medienerziehung – Bundesarbeitsgemeinschaft der Jugendfilmclubs e.V. o. J. [1974], S. 116f. 20 Ebd., S. 117. 21 Ebd.
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Wie schon bei Walter Hagemann finden sich in den 1960er und 1970er Jahren in der Bundesrepublik weiterhin Ansätze, die Filmgattung der Animation nicht nach einzelnen Techniken, sondern nach Zielgruppen (Kinder/Erwachsene) und Wirkungs- bzw. Verwertungszusammenhängen zu differenzieren. So unterscheidet Burkhardt Heer 1974 vier Subformen des Trickfilms nach deren Verwendungs- und Verwertungszwecken: • • • •
»Trickfilme, die als Werbeträger dienen«; »Trickfilme als formale Experimente«; »didaktische Trickfilme«; und Trickfilme, »deren Ziel die reine Unterhaltung des Zuschauers ist«.22
Als heuristisches Gliederungsprinzip wird diese Unterteilung noch dort aufrechterhalten, wo zugestanden wird, dass die »Grenzen zwischen diesen [...] Gruppen fließend« sein können.23 Regelmäßig wiederholt wird dabei jedoch Hagemanns Kritik an einer gesellschaftspolitischen und propagandistischen Funktionalisierung des Animationsfilms. Joachim Kreck umreißt 1970 »Die Grenzen des Trickfilms« in diesem Sinne wie folgt: »Im Trickfilm – das liegt im Wesen seiner von der bildenden Kunst hergeleiteten Mittel – dominiert gewöhnlich das ästhetische Element. Das macht es dem Zeichentrickfilm leichter, Aufmerksamkeit und Verständnis des Zuschauers, wie des Kritikers, zu gewinnen. [...] Der Trickfilm muss aber dort versagen [...], wo es darum geht, das Publikum selbst zum Denken zu veranlassen und es dazu anzuregen, seine eigenen Folgerungen zu ziehen. Der ideologisch engagierte Trickfilm liefert darüber hinaus stets eine fertige Patentlösung, die der Zuschauer je leichter akzeptieren wird, desto gelungener ihre artifizielle ›Verpackung‹ ist, wobei natürlich die Disposition eben jenes Zuschauers ein weiterer Faktor zu sein hat. Selbst die brillanten politischen Filme der Jugoslawen, Tschechen und Polen, deren Themen Krieg, Militarismus, H-Bombe, Nationalismus zu sein haben, hinterlassen neben der ästhetischen Befriedigung höchstens eine vorübergehende Gefühlserregung, ohne jedoch tiefere Einsichten zu
22
Heer: Tendenzen im Trickfilm, a.a.O., S. 127, 130.
23 Ebd.
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vermitteln. Der Trickfilmkünstler schafft hier eine artifizielle Welt, die für den Zuschauer keinerlei Verbindlichkeit besitzt.«24
Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre mehren sich in der bundesrepublikanischen Diskussion strukturanalytische und strukturalistische Ansätze. Michael Schaaf übt in diesem Zusammenhang erstmals auch eine Kritik an der pauschalen Anwendung des Abstraktionsbegriffes als grundlegendem Wesensmerkmal des Animationsfilms. Stattdessen schlägt er vor, Differenzierungen nach Abstraktionsgraden auf verschiedenen Ebenen der Textstruktur vorzunehmen. Seine Schlussfolgerung: »Trickfilm abstrahiert (a priori) immer in der Gestaltungsebene, meistens in der Darstellungsebene und oft in der Themenebene.«25 Auch Schaaf operiert dabei jedoch weiterhin auf der Ebene der Textimmanenz und schreibt damit die Fokussierung auf formale Strukturprinzipien innerhalb der Gattung fort. Diese Fokussierung kennzeichnet auch eine Reihe von Beiträgen, die sich Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre textsemiotisch mit den Möglichkeiten der Computeranimation befassen.26 Ausgegangen wird in ihnen von der technischen Herstellung rein kinetischer Bewegungsfolgen und ihrer Wahrnehmung. Kinetik wird hier als Grundlage jeder narrativen Dynamik verstanden und so zum absoluten Gestaltungs- und Rezeptionshorizont erhoben. In der Konsequenz wird damit die technisch bewerkstelligte Animation in allen ihren historischen Ausprägungen auf eine gemeinsame ästhetische Basis gestellt, die unabhängig von ihrem analogen bzw. digitalen Trägermedium besteht. Zugleich werden in der bundesrepublikanischen Diskussion historische Entwicklungen und ästhetische Strukturprinzipien des Animations-
24 Kreck, Joachim: »Die Grenzen des Trickfilms« [1970]; abgedruckt in: Heer: Tendenzen im Trickfilm, S. 158f. 25 Schaaf, Michael: »Emanzipation und Apologie. Strukturanalyse im Trickfilm«, zitiert nach: Heer: Tendenzen im Trickfilm, S. 146. 26 Vgl. Exakte Ästhetik 5 (1967), Sonderheft »Kunst aus dem Computer«; Heidsieck, Arnold: »›Filmsprachen‹ für den Computer«, in: Sprache im technischen Zeitalter 27 (1968), S. 252-261; Rast, Johanna: »Vom Computer gezeichnete Bewegungsfolgen«, in: Friedrich Knilli (Hg.), Semiotik des Films, München: Hanser 1971, S. 150-157; Wunderlich, Dieter: »Der kinetische Film. Über Analyse und Synthese von Bewegung im Film«, in: Ebd., S. 158-175.
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films sehr früh auf ihre digitalen Zukunftsmöglichkeiten hin ausgerichtet. Signifikant erscheint in dieser Hinsicht der Versuch, die abstrakte Filmavantgarde der 1920er Jahre als, wie es 1971 bei Birgit Hein heißt, »Historische[n] Hintergrund der Computerfilmkunst« neu aufzustellen: »Damit die mögliche Entwicklung für Computerfilme klarer gemacht werden kann«, so Hein in ihrem Buch Film im Untergrund, »sollen historische Fallbeispiele aufgeführt werden, die mehr als eine oberflächliche Ähnlichkeit mit den heutigen Computerfilmen haben. Zu diesen gehört als einer der ersten DIAGONALSYMPHONIE 1921 von Viking Eggeling. Dieser Film hätte aus verschiedenen Gründen ein Computerfilm sein können. Er ist weitgehend linear und aus einfachen abstrakten Elementen zusammengefügt. Nicht allein das Bild könnte out-put gegenwärtiger Computer sein; wichtiger ist, dass man die Arten der Beziehungen auf animierten Entwicklungen hätte programmieren können.«27
Neben Marcel Duchamps ANÉMIC CINÉMA (1925) und Dziga Vertovs DER MANN MIT DER KAMERA (1929) werden als proto-digitale Animations- und Trickfilmkunst auch die Filme Oskar Fischingers reklamiert, wobei hier, wie es heißt, »nicht so sehr [über den] analytische[n] Aspekt des Computers« die Brücke zu schlagen sei, sondern die Verbindung vielmehr in der Möglichkeit bestehe, Fischingers »Handarbeit zu vereinfachen und zu verkürzen«.28 Ebenso wie der äußerst allgemeine Hinweis, Fischingers Arbeiten wären allein aufgrund ihres Einflusses auf die jüngere US-amerikanische Entwicklung des abstrakten Films im Zusammenhang mit der Computerkunst von Bedeutung, scheint die sehr lose Assoziation hier charakteristisch für das Bemühen, eine nationale Tradition der historischen Avantgarde mit aktuel-
27 Hein, Birgit: Film im Untergrund, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1971; hier zit. n. Heer: Tendenzen im Trickfilm, S. 57. 28 Zumindest angedeutet ist hier bereits die paradigmatische Stellung, die Vertovs DER MANN MIT DER KAMERA als historische Matrix der Digitalmedien später von Lev Manovich zugeschrieben werden sollte. Vgl. Manovich, Lev: The Language of New Media, Cambridge, Mass.: The MIT Press 2001, S. XIV-XXXV.
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len avantgardistischen Tendenzen der computerbasierten Animation in Verbindung zu bringen.29 Zusammenfassend lassen sich über die prägenden Merkmale der frühen westdeutschen Animationsfilm-Theorie folgende Hypothesen aufstellen: Im Mittelpunkt der Diskussion stehen gattungsspezifische formale Eigenschaften des Animationsfilms, denen gegenüber inhaltliche und thematische Schwerpunkte nur eine sekundäre Rolle spielen. Das mimetische Potenzial des Animationsfilms als Repräsentationsform und Abbildungsmedium wird auf nahezu kategorische Weise in Abrede gestellt, seine gesellschaftliche Funktion dementsprechend nicht direkt, sondern lediglich über Zielgruppen und Verwendungskontexte vermittelt konzeptualisiert. Wo konkret auf die aktuelle Produktionsrealität Bezug genommen wird, wird Disney nicht nur als filmindustrieller Standard, sondern auch als stilistische Norm weitgehend akzeptiert; alternative Entwicklungen werden stets im Verhältnis zu dieser Norm gesehen und führen erst in den 1960er und 1970er Jahren zu zaghaften Revisionen auch der theoretischen Gattungsbeschreibung. Die als einheimische Tradition betrachtete historische Avantgarde des absoluten bzw. abstrakten Films wird tendenziell nicht in radikale Opposition zur narrativen Tradition, sondern mit ihr auf ein gemeinsames ästhetisches Fundament gestellt. Im Rahmen einer solchen Modellierung lassen sich die unterschiedlichsten aktuellen Entwicklungen – von Disney bis hin zum Experiment der Computeranimation – in ihre Nachfolge stellen. Insgesamt ist die frühe Ausrichtung auf den computeranimierten Film ein kennzeichnendes Merkmal der bundesdeutschen Diskussion. Spätestens Ende der 1960er Jahre ersetzt der Begriff der Bewegung (Kinetik) den der Abstraktion (bzw. der Fantastik) als Schlüsselbegriff zur Gattungsbeschreibung. Dementsprechend erscheinen computeranimierte Bewegungsfolgen, unabhängig von ihrem Realitätsbezug und narrativen Gehalt, am Horizont der Theoriebildung als Utopie der Gattung. Parallel dazu
29 Ähnlich bereits die genealogische Konstruktion kinetischer Gegenwartskunst in Bezug auf den abstrakten Film bei Claus, Jürgen: Kunst heute. Personen, Analysen, Dokumente, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1965, S. 165ff.
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werden intensiv Potenziale der Anwendbarkeit und Verwertbarkeit der technischen Möglichkeiten in unterschiedlichen Kontexten reflektiert: in ihrer Unterhaltungsfunktion, Werbefunktion und als Mittel der didaktischen und pädagogischen Beeinflussung. Nicht in der Analyse und Interpretation einzelner Werke, sondern erst auf der Ebene der Bestimmung einzelner Anwendungsgebiete, Zielgruppen und Rezeptionskontexte werden auch Überlegungen zur gesellschaftlichen Relevanz des Animationsfilms angestellt.
A NIMATIONSFILM -T HEORIE IN DER DDR 1950-1975 Wo in der gattungstheoretischen Diskussion der DDR bis 1975 die Definition des Animationsfilms nicht rein technischen Kriterien folgt – in dieser Hinsicht stammen die weitaus höher qualifizierten Bestimmungen lange von DDR-Autoren30 –, lässt sich bereits rein definitorisch ein wichtiger Unterschied zur westdeutschen Gattungstheorie ausmachen. So fassen Klaus Rümmler und Jörg Herrmann unter den Trickfilm-Begriff zwar rein technisch gesehen »alle Filme, die mit einer Einzelbildkamera [...] aufgenommen werden«. In ihrer Überblicksdarstellung der Geschichte des Animationsfilms in der DDR der 1950er bis 1970er Jahre nicht behandelt werden jedoch, wie es heißt, jene »zum Zwecke künstlerischer Wirkungen einsetzbaren Gebiete des Film-Tricks«, die »dem Prozess der Kinemation unterliegen«. Unter Kinemation wird dabei »die phasenweise Erzeugung von Bewegun-
30 Vgl. Wilkening, A./Bauenrat, H./Lippert, K.: Kleine Enzyklopädie Film, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1966: »Trickfilm steht im deutschen Sprachgebrauch als Sammelbegriff für Zeichen-, Puppen-, Silhouetten und Flachfigurenfilme. Genau besehen haben alle diese Filme nichts mit Tricks zu tun. Ihnen ist vielmehr das technische Herstellungsverfahren gemeinsam, das die einzelnen, für sich starren Phasen einer Bewegung durch Einzelbildschaltung der Kamera ›multipliziert‹. Ihre ästhetische Besonderheit besteht in der ›Animation‹ (Belebung) toter Gegenstände. Insofern sind die internationalen Begriffe ›Multiplikationsfilm‹, bzw. ›Animationsfilm‹ sachgerechter.« Nicht zufällig wird diese Definition auch in westdeutsche Publikationen übernommen, etwa bei Heer: Tendenzen im Trickfilm.
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gen« verstanden, »die im Unterschied zur Animation nicht der ›Abbildung von Vorfällen zwischen Menschen‹ dient«.31 Der Begriff der Animation bezeichnet für Rümmler und Herrmann in diesem Zusammenhang »eine künstlerische Methode zur Darstellung von Bewegungen und Entwicklungen« zu eben jenem Zwecke der »Abbildung von Vorfällen zwischen Menschen«, letzteres eine Wendung, die auf Brecht zurückgeht. Über Brecht hinaus verstehen die Autoren unter Animation allerdings nicht nur die »Belebung« oder »Beseelung« von Figuren oder Dingen, sondern die »Gesamtheit der Bewegung aller Gestaltungselemente«.32 Deutlich zeichnet sich in dieser theoretischen Fassung nicht nur die Ausgrenzung rein kinetisch-abstrakter Bildfolgen ab – die umgekehrt in der westdeutschen Diskussion mehr und mehr in den Mittelpunkt rücken. Ebenfalls im diametralen Unterschied zur westdeutschen Diskussion impliziert diese Ausgrenzung zugleich eine Hierarchisierung von Form und Inhalt zugunsten des thematischen Bereichs. So sind denn Rümmler und Hermann zufolge »Entwicklung und Geschichte des Animationsfilms in der DDR« auch in erster Linie bestimmt durch die »Eroberung immer neuer Gegenstände für den Animationsfilm«. Lediglich »damit verbunden« ist die »Entdeckung immer neuer Möglichkeiten der künstlerischen Methode der Animation«.33 Unter dem Primat des dargestellten Gegenstands wird als Telos der Gattung die »Verschmelzung der künstlerischen Methode der Animation mit der sozialistischen Weltanschauung« formuliert.34 Vorrangige Aufgabe der Animatoren des Trickfilmstudios der DEFA sei es in den Jahren und Jahrzehnten nach 1955 gewesen, »sich die Lehren des Marxismus-Leninismus« anzueignen und sie »entsprechend der sich bildenden gesellschaftlichen Bedingungen vermittels der Methode des sozialistischen Realismus« anzuwenden: »Dieser komplizierte Prozess«, so schreiben die Autoren weiter, »führte letztlich zu eindeutig sozialistischen Erzählhaltungen und Erzählweisen und mündete
31 Rümmler, Klaus/Herrmann, Jörg: Zur Geschichte des Animationsfilms in der DDR – Teil I: Die fünfziger Jahre, Potsdam-Babelsberg: Hochschule für Film und Fernsehen der DDR o.J. (Lehrbrief 13/0), S. 3. 32 Ebd., S. 3f. 33 Ebd., S. 4. 34 Ebd.
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schließlich in die Bewältigung großer Gegenstände im Animationsfilm der DDR«.35 Die Kunstdoktrin des sozialistischen Realismus gewährleiste, so Ruth Herlinghaus 1958, »auch dem Experiment einen Platz«, wiederum jedoch nur unter der Voraussetzung, dass »sich der sozialistische Standpunkt des Künstlers im Experiment beweist und für ihn Triebkraft ist, mit den Mitteln seiner Kunst nach dem Ausdruck unserer neuen Zeit zu suchen«.36 Ähnlich formuliert Klaus Richter-de Vroe die vorrangigen Kriterien der Qualitätsbestimmung im DDR-Animationsfilm. Merkmale der Entwicklung eines »besonderen, nationalen Profil[s] des DDR-Trickfilms« sind ihm zufolge »klare und eindeutige sozialistische Parteilichkeit, eine betonte Hinwendung zum politischen Thema und zu moralischen Problemen«. Als konkrete Ziele werden der formalen »Experimentierfreudigkeit« die »Erschließung neuer thematischer Bereiche« und die »Eroberung des neuen Gegenstandes unserer sozialistischen Kunst für den Trickfilm« vorgegeben.37 Als zentrales ästhetisches Anliegen wird nach Gründung des DEFA-Studios für Trickfilme die »Arbeit an der Dramaturgie« gesehen.38 Einer Entschließung der »Ersten schöpferischen Konferenz des VEB DEFA-Studio für Trickfilme Dresden« vom November 1958 zufolge gehören zu den »praktische[n] Hauptaufgaben« des Studios u.a. eine »klare Orientierung auf die sozialistischen Erziehungsziele unseres Staates«, die »weitere Durchsetzung des sozialistischen Realismus in unserem Trickfilmschaffen« sowie das »Studium der sowjetischen Kunst als Vorbild in der Anwendung der Methode des sozialistischen Realismus«.39 Zweck des Studios sei, wie Ruth Herlinghaus in ihrem
35 Ebd., S. 5. 36 Herlinghaus, Ruth: »Gedanken zu einer Konferenz«, in: Deutsche Filmkunst 12 (1958), S. 389. 37 Richter-de Vroe, Klaus: »Der Weg zum nationalen Profil unseres Trickfilms«, in: Filmwissenschaftliche Beiträge (1971), S. 213. 38 »Entschließung der ersten schöpferischen Konferenz des VEB DEFA-Studio für Trickfilme Dresden«, in: Deutsche Filmkunst 12 (1958), S. 378. Vgl. a. Herlinghaus, Ruth: »Ein Jahr DEFA-Studio für Trickfilme«, in: Deutsche Filmkunst 4 (1956), S. 107. 39 »Entschließung der ersten schöpferischen Konferenz des VEB DEFA-Studio für Trickfilme Dresden«, S. 378.
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Konferenzbericht festhält, »die Herstellung sozialistischer Kinderfilme im umfassendsten Sinne des Wortes«.40 Entsprechend der bei der Gattungsbestimmung leitenden Schwerpunktsetzung werden prägende Entwicklungslinien des DDR-Animationsfilms unter primär thematischen Gesichtspunkten identifiziert. Unterschieden werden dabei • Bearbeitungen von Stoffen, die die »Haltung unterdrückter Klassen und Schichten im Klassenkampf der vorkapitalistische Zeit ausdrücken«; • Bearbeitungen von Stoffen aus dem »revolutionären Kampf der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung«; • Bearbeitungen von Stoffen, »die sich offensiv mit imperialistischer Ideologie auseinandersetzen oder die Gefährlichkeit des imperialistischen Systems widerspiegeln«; sowie • Bearbeitungen von Stoffen, »die sich direkt mit Problemen der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft beschäftigen«.41 Neben der besonderen Pflege von Puppentrick- und Silhouettentrickfilm sieht man den »eigene[n] Dresdener Stil« sich erst allmählich in den 1960er und 1970er Jahren herausbilden: einerseits im Anschluss an innovative thematische und gestalterische Tendenzen vor allem in der Tschechoslowakei, der Sowjetunion und China, andererseits in ostentativer Absetzung von der Tradition der Disney-Schule. Ein Werk wie Lothar Barkes Zeichentrickfilm SECHSE KOMMEN DURCH DIE WELT (1959) wird in diesem Zusammenhang noch als zu sehr unter dem Einfluss Disneys stehend bewertet, sowohl mit Blick auf »die Zeichnung der Figuren und ihre gestalterische Typisierung als auch auf den Gag-Aufbau und zeichnerische Lösungen für die oft recht turbulent verlaufende Handlung«.42 Im Anschluss an Überlegungen Alberto Calvacantis43 und am Beispiel von Stephen Bosustows UPA (United Productions of America) hatte Werner Zurbuch 1956 in der
40 Herlinghaus: »Gedanken zu einer Konferenz«, S. 379. 41 Ebd., S. 5f. 42 Rümmler/Herrmann: Zur Geschichte des Animationsfilms in der DDR – Teil I: Die fünfziger Jahre., S. 16. 43 Calvacanti, Alberto: »Einige Gedanken zur Entwicklung des Trickfilms«, in: Deutsche Filmkunst 4 (1956), S. 105f.
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Zeitschrift Deutsche Filmkunst kategorisch die Abwendung vom Disneyschen »Cartoon« hin zum »künstlerischen Trickfilm« gefordert, bei dem es sich jedoch, wie er schreibt, keineswegs um »eine ›formalistische‹ Spielerei« handeln dürfe.44 Als Schlüsselfilme der späten 1950er Jahre gelten der DDR-Animationsfilmgeschichtsschreibung in dieser Hinsicht TANTE MINNA UND DER POLYTECHNISCHE UNTERRICHT (bemerkenswerter Weise ebenfalls von Lothar Barke und 1959 fast zeitgleich zu SECHSE KOMMEN DURCH DIE WELT entstanden) sowie noch aus dem gleichen Jahr LUFTPOST von Klaus Georgi. An letzterem wurde besonders die konkrete historische Ansiedlung seines Sujets hervorgehoben sowie der Verzicht auf eine allegorische oder parabelhafte Erzählanlage, der als Abwendung vom universal-fantastischen Modus des Märchenhaften verstanden und begrüßt wurde. Dadurch, so Rümmler und Herrmann in ihrer Überblicksdarstellung, werde »die gezeigte Handlung zu einem Modellfall für die Freundschaft der Menschen aus den sozialistischen Ländern. In Jeder Episode finden wir eine Reihe von Helden, die gegen auftretende Schwierigkeiten kämpfen, um den gefassten Plan zu verwirklichen«.
Auf diese Weise schlage der Film LUFTPOST »eine wichtige Brücke von den 1950er Jahren in das künftige Animationsfilmschaffen. Es war gelungen, Helden unserer Zeit mit ihren individuellen und nationalen Besonderheiten mit den Mitteln der Animation zu gestalten.«45 Im Einklang mit den meisten theoretischen Texten, die in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren publiziert wurden, stellt Ernst-Günter Jahnke in seiner Diplomarbeit an der Deutschen Hochschule für Filmkunst und Fernsehen von 1958, die den durchaus bezeichnenden Titel Die Aneignung der Wirklichkeit mit den Mitteln des Trickfilms trägt,
44 Zurbuch, Werner: »Vom ›Cartoon‹ zum künstlerischen Trickfilm«, in: Deutsche Filmkunst 10 (1956), S. 311. Zurbuch lebte und lehrte später in der Bundesrepublik, wo er auch rege an der filmsemiotischen Diskussion teilnahm. Mit Positionen wie der hier vertretenen fand er jedoch im offiziellen Verlautbarungsorgan des DDR-Filmwesens das besser geeignete Forum. 45 Rümmler/Herrmann: Zur Geschichte des Animationsfilms in der DDR – Teil I: Die fünfziger Jahre, S. 19.
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fest: »Der Überbetonung der Mittel [...] wird die Aufgabe entgegengestellt, die realen Möglichkeiten der Veränderung der Wirklichkeit zu suchen und die Menschen zu dieser Veränderung zu begeistern. Gag und Figuren«, für Jahnke Kernelemente der Disney-Produktionen,46 verlören »im sozialistischen Trickfilm ihre überbetonte Funktion« und würden »zu Elementen, die dem wertvollen Gehalt zum Durchbruch verhelfen sollen«. Figurenüberzeichnung und die Konstruktion von komischen Effekten nähmen vielmehr »eine untergeordnete Stellung ein [...], denn der sozialistische Alltag verlangt nach einer deutlichen Darstellung der Aufgaben«.47 Im Mittelpunkt stehe dabei die Erziehung der Kinder, genauer: die sozialistische Erziehung der Kinder.48 »Was der Realfilm z.B. mit der Darstellung eines ertrinkenden Vogels im Vogelbauer [...] indirekt aussagt und an Emotionen und Vorstellungen schafft [angespielt wird hier auf eine Szene aus Wolfgang Staudtes ROTATION, M.W.], verabsolutiert der Trickfilm, indem er Figuren gestaltet, die in der Widerspiegelung der menschlichen Gefühle, Fähigkeiten usw. zu einer Aussage über das Leben der Menschen gelangen. Dies ist im Zeichen- und Puppentrick-Film möglich. Die Zeichnung kann die Wirklichkeit in der Beherrschung des Raumes bzw. der Fläche widerspiegeln, die Puppe, die eine ›geronnene‹ Form menschlicher Charaktere und Eigenschaften darstellt, kann dies in ihrer Typisierung von Bewegung und Ausdruck in der Zeit.«49
Am Beispiel von Klaus Georgis BLAUE MÄUSE GIBT ES NICHT (entstanden in den Jahren 1957-59) verweist Jahnke etwa darauf, dass seiner Ansicht nach die »fehlende klare Orientierung auf das Verständnis der Kinder und Erwachsenen« sowie »eine übermäßige Stilisierung zur Zerstörung der Idee und der Handlung führen« können.50 Jahnkes Fazit lautet:
46 Jahnke, Ernst-Günter: Die Aneignung der Wirklichkeit mit den Mitteln des Trickfilms, Diplomarbeit an der Deutschen Hochschule für Filmkunst und Fernsehen 1958, S. 40. 47 Ebd., S. 11. 48 Ebd., S. 21. 49 Ebd., S. 31. 50 Ebd., S. 38.
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»Die Orientierung des Trickfilmschaffens auf die Position der konsequenten Durchsetzung der sozialistischen Ideologie zieht eine Unzahl Probleme mit sich, die besonders in der Sphäre des Trickfilmschaffens nicht leicht zu lösen sind. Neben der Zerschlagung der alten Meinung vom Trickfilm muss der Beweis für den neuen Weg im Trickfilm erbracht werden. Die Gefahren des neuen Weges liegen im Naturalismus und im Proletkult. Die gute Kenntnis der Wirkungsmöglichkeiten der Trickfilmmittel kann vor diesen Abweichungen schützen.«51
Immer wieder wird die Forderung nach zeitnahen Sujets oder aber nach zeitgemäßer Neuinterpretation traditioneller und der Entwicklung moderner Märchen mit Bindung an die aktuelle politische Situation in der DDR erhoben.52 Als bestimmend werden in den DEFA-Animationsfilmen dieser Jahre einerseits Kompositionsprinzipien angesehen, »die realitätsnah die Wirklichkeit nur wenig abstrahiert im künstlerischen Abbild widerspiegeln«. Andererseits wird auf die Entwicklung von Kompositionsprinzipen hingewiesen, die »in gleichnishafter, poetischer oder märchenhafter Weise die Wirklichkeit überhöht, phantasievoll verfremdet interpretieren.« Noch diese Stoffe aber seien »histo-
51 Ebd., S. 54. 52 Der rückblickende Befund zur korrespondierenden Produktionsrealität der Jahre 1955-63 lautet dabei: »In Stoff- und Themenwahl, Konflikt- und Erzählstruktur [weisen] die Animationsfilme des DEFA-Studios für Trickfilme in der Zeit von 1955-1963 den qualitativ veränderten Standpunkt ihrer Schöpfer aus. In bildhaften Sujets wurden die sozialistischen Wertvorstellungen in Stoffen, die gesellschaftlich relevante Probleme aufgriffen, parteilich und volksverbunden interpretiert.« Gabriel, Anne-Katrin: Über die Ausprägung spezifischer filmkünstlerischer Kompositionen zur Darstellung von Zeitgeschehen im DEFA-Animationsfilm des Zeitraums 1955-1963, Diplomarbeit an der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR 1984, S. 70. Untersuchte Filme: BAUER SORGLOS (1957), DIE GESCHICHTE VON DEN
WINDGEISTERN (1956), DIE GESCHENKE DES GRAU-
MÄNNCHENS (1957), ICH SEHE DAS SO (1959), ABENTEUER IM ALL (1959),
GLEICH LINKS HINTERM MOND (1959), LUFTPOST (1959), RAUBRITTERS LANDFAHRT (1960), TANTE MINNA UND DER POLYTECHNISCHE UNTERRICHT
(1959), DAS LIED VON DER TAUBE (1960), SENSATION DES JAHR-
HUNDERTS
(1960), DAS WOLKENSCHAF (1960), DER VERSCHWUNDENE
HELM (1962).
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risch-konkret angesiedelt« und präsentierten ihre Wertungen über »eine zweite Bedeutungsebene«, die wie folgt beschrieben wird: »Mit der Absicht, neue Einsichten zu vermitteln, werden assoziativ über den Kontext zum eigentlichen Handlungsvorgang Erfahrungen mit dem sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaftssystem bewusst gemacht.«53
F AZIT Zusammenfassend lassen sich im deutsch-deutschen Vergleich folgende Befunde thesenartig formulieren: In der Bundesrepublik verläuft der theoretische Diskurs relativ unabhängig von der einheimischen Produktionsrealität, Verweise auf aktuelle Entwicklungen geschehen hier – über die Anerkennung der Dominanz des Disney-Stils hinaus – selten und dann auch zumeist nur beiläufig. In der DDR sind die theoretischen Auslegungen dahingegen eng mit der nationalen und internationalen Animationsfilmentwicklung verzahnt. Sie nehmen aufgrund ihres »offiziellen Charakters« die Funktion von zentralen, die einheimische Produktionspraxis kollektiv »kontrollierenden Ideen«54 an. Im Gegensatz zur westdeutschen Theoriebildung wird dem Animationsfilm in der vom sozialistischen Realismus geprägten Diskussion in der DDR ein grundlegendes mimetisches Vermögen und ein direkter Gesellschaftsbezug zugestanden. Seine Behauptung gegenüber den formal gegebenen Abstraktions- und Verfremdungsmöglichkeiten der Gattung ist der gemeinsame konzeptuelle Ausgangspunkt der theoretischen Reflexion. Während in der Bundesrepublik die Begriffe der »Abstraktion«, der »Bewegung« und »Kinetik« die Theoriebildung bestimmen, werden sie in der DDR-Animationsfilm-Theorie entweder systematisch ausgegrenzt oder in Abhängigkeit zu den übergeordneten Aspekten der »Repräsentationsfähigkeit« der Gattung gestellt. Gemäß der Doktrin des sozialistischen Realismus dominiert in der DDR die Diskussion gattungsgemäß privilegierter oder neu zu erschließender – d.h. dem Realfilm abzuringender – Themenfelder die
53 Ebd., Anhang: »Thesen zur Diplomarbeit«, S. 2. 54 Wells, Paul: Animation. Genre and Authorship, London/New York: Wallflower 2002, S. 16.
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theoretische Diskussion des Animationsfilms. Die Diskussion gestalterischer Aspekte vollzieht sich in direkter Abhängigkeit von der inhaltlichen Dimension. Noch die formale Analyse bleibt stark geprägt von dramaturgischen Fragen und ist somit wiederum tendenziell inhaltsbezogen angelegt. In der bundesdeutschen Diskussion werden Lehr- und Werbefunktion theoretisch stets als legitime Felder dem Animationsfilm zugestanden. In der DDR-Theorie ist die Diskussion konkret anwendungsbezogener Nutzungen für den betrachteten Zeitraum eher marginal, weshalb sich Klaus Richter-de Vroe noch Anfang der 1970er Jahre dazu gezwungen sieht, sich gegen eine »theoretische Verabsolutierung […] der künstlerisch-ideologischen Methode« zu wenden, die »unter ›Trickfilm‹ einseitig und ausschließlich [den] Trickfilm mit Spielhandlung« verstanden wissen will und die »großen Möglichkeiten für den Einsatz der künstlerischen Mittel des Animationsfilms in dokumentarischen und wissensvermittelnden Genres« noch kaum in Betracht gezogen hätte.55 Weitaus früher als in der Bundesrepublik reflektiert die Animationsfilm-Theorie in der DDR die kategorische Absetzung vom DisneyModell, das auf seine typisierenden und eindimensional komischen Elemente reduziert wird. Weitaus entschiedener lässt sie in ihre theoretischen Beschreibungen alternative zeitgenössische Tendenzen im internationalen, hier vor allem osteuropäischen Film einfließen. Schließlich wird an nationalen Animationsfilm-Traditionen – entsprechend der stark mimetisch orientierten Auffassung der Gattung – der abstrakte bzw. absolute Film in der DDR-Theorie weitaus weniger stark in Anspruch genommen als die Traditionen des Puppentrickfilms und des Scherenschnitt- bzw. Silhouettenfilms, die zeitgleich von Künstlern wie Johannes Hempel, Kurt Weiler und Bruno Böttge weitergeführt werden. Die anhaltende theoretische Diskussion und praktische Pflege dieser beiden Spielarten sieht sich dabei historisch dem Paradox gegenüber, dass die prägenden deutschen Vertreter dieser Techniken – die Brüder Diehl und Lotte Reiniger – ihre Arbeit zur gleichen Zeit in der Bundesrepublik fortsetzen, wo beide Genres gegenüber dem Zeichentrickfilm in der Gattungsdiskussion wie in der breiten Medienöffentlichkeit nur eine marginale Rolle spielen. Konnte
55 Richter-de Vroe: »Der Weg zum nationalen Profil unseres Trickfilms«, S. 221.
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für den Puppentrickfilm an innovative zeitgenössische Gestaltungsauffassungen etwa der »stilisierten Puppe« bei Jiří Trnka, Karel Zeman oder Hermina Tyrlová angeknüpft werden, so wurde die »ungebrochene Daseinsberechtigung«56 des Silhouettenfilms noch zu Lebzeiten Lotte Reinigers und unter Berufung auf ihre historischen Verdienste, jedoch unter Absehung ihres aktuellen Schaffens allein dem Dresdner Trickfilm-Studio zugeschrieben, wo »dieses Genre […] wie in keinem anderen der Welt entwickelt und gepflegt« werde57 – eine Behauptung, die im deutsch-deutschen Vergleich nicht zuletzt deshalb zutrifft, weil Lotte Reiniger in der Bundesrepublik für ihr Spätwerk kein Studio mehr zur Verfügung stand, das diesen Namen noch verdient hätte.
56 Herlinghaus: »Ein Jahr DEFA-Studio für Trickfilme«, S. 109f. 57 Rümmler/Herrmann: Zur Geschichte des Animationsfilms in der DDR – Teil I: Die fünfziger Jahre, S. 9.
12 | Einblicke von außen? Die DEFA, Konrad Wolf und die internationale Filmgeschichte
( MIT T HOMAS E LSAESSER )
Mit wachsendem historischen Abstand zur Liquidierung der DEFA (1991) stellt sich die Frage, ob es möglich ist, die Geschichte des Films in der DDR im Rahmen einer gesamtdeutschen Filmgeschichte in den Blick zu nehmen und vor dem Hintergrund der international geführten Debatten über das Verhältnis zwischen nationalem Kino, Film und Geschichte neu zu bedenken. Dies mag noch immer als ein gewagtes Unterfangen erscheinen. Allzu deutlich hat sich mit dem Fall der Mauer die Aufgabe gestellt, nicht nur Gebiete und Menschen, sondern auch die Künste und das kulturelle Leben der DDR zu »integrieren«. Nicht weniger evident war die Gefahr, sich das Erbe der DDR nur äußerst selektiv anzueignen und dessen mannigfaltige Formen der Andersartigkeit auf das westdeutsche Modell hin umzuschreiben. Die ostdeutsche Filmkultur schien in diesem Prozess ein besonderes Problem darzustellen, da sie, im Unterschied zum literarischen Leben der DDR, in der Bundesrepublik und allgemein in der westlichen Öffentlichkeit ein zu weiten Teilen unbekanntes Gelände geblieben war. Wurde sie überhaupt zur Kenntnis genommen, so entweder als ein (unter den besonderen Bedingungen des Staatskapitalismus entwickeltes) populär-kommerzielles Parallelkino oder als Parallelentwurf zum westlichen Autorenkino (wobei Konrad Wolf, Frank Beyer,
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Heiner Carow u.a. als Äquivalente zu Alexander Kluge, Edgar Reitz, Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder usw. herzuhalten hatten).1 Aus dieser Wahrnehmung resultierten vor allem deshalb eine Reihe von verzerrten Symmetrien, weil es kaum anging, das ostdeutsche Kino im gleichen Sinne als »Gegenkino« zu betrachten wie man einmal das politische Kino eines Jean-Luc Godard der 1970er Jahre, die Filme von Glauber Rocha oder das Neue Brasilianische Kino verstanden hat. Die genaue Verortung des DEFA-Films auf einer integralen historischen und geografischen Landkarte muss insofern vorerst eine offene Frage bleiben, der sich zukünftige Filmhistoriker zweifellos zu stellen haben werden.2 Ohne an dieser Stelle etwas zu den kleinteilig kartografierten Mikroebenen dieser Verortung beitragen zu können, muss die Perspektive hier zwangsläufig eine aus der Distanz und von außen eingenommene sein. Im Folgenden soll versucht werden, aus diesem nachteilig anmutenden Blickwinkel den größtmöglichen Vorteil zu schlagen. So fällt bei der Betrachtung der in den bisherigen (traditionellen) filmhistorischen Überblicksdarstellungen explizit oder implizit vorgenommenen Verortungen auf, dass ihr Ansatz überwiegend ein parataktischer war und der DEFA- bzw. DDR-Film den Epochen und Spielarten des Films in der alten Bundesrepublik lediglich hinzugefügt wurde, so als ob das Problem in einer rein nachbarschaftlichen Kontiguität bestanden hätte und es nur darum gegangen sei, einige neu auftauchende weiße und graue Flecken auf einer ansonsten klar gegliederten Landkarte zu füllen.3 Eine auf diese Weise konzipierte Landkarte erscheint jedoch wenig mehr zu sein als ein vor einem Minenfeld aus miteinander um Vorherrschaft wetteifernden Diskursen, normativen Werturtei-
1
Vgl. z.B. die Beiträge in Jansen, Peter W./Schütte, Wolfram (Hg.), Film in
2
Vgl. a. Patalas, Enno: »Feindkultur 3. Die zerrissene Leinwand«, in: Die
3
Vgl. die entsprechenden Kapitel über den Film in der DDR in: Pflaum,
der DDR, München/Wien: Hanser 1977. Zeit vom 28.10.1999, S. 61-65. H.G./Prinzler, H.H.: Film in der Bundesrepublik Deutschland. Der neue deutsche Film von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mit einem Exkurs über das Kino der DDR, München/Wien: Hanser 1992, S. 149-187; Jacobsen, Wolfgang/Kaes, Anton/Prinzler, Hans Helmut (Hg.), Geschichte des deutschen Films, Stuttgart/Weimar: Metzler 1993, S. 323-364 (von Wolfgang Gersch).
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len und präskriptiven Debatten aufgestelltes Schild mit der Aufschrift »Durchgang verboten«. Es kann hier nicht mehr geleistet werden, als auf diese Tatsachen hinzuweisen, die folgenden Ausführungen bestätigen jedoch in gewisser Weise die Notwendigkeit, ihnen ins Auge zu blicken. Angesichts dieser vornehmlich auf Kontexte gerichteten und dem konkreten kritischen Umgang übergeordneten Eingangsfragen mag es einigermaßen überraschen, dass der Fokus des Kapitels auf einen einzelnen Regisseur und dann auch noch ausgerechnet auf Konrad Wolf gerichtet werden soll. Tatsächlich bietet es im weiteren Verlauf eine Reihe von Lektüren von Einzelwerken Wolfs. Die Ausgangsthese lautet, dass einige der bekanntesten Filme Konrad Wolfs dem westlich sozialisierten Betrachter plötzliche Momente des Wiedererkennens gestatten: des Erkennens von filmischen Idiomen, der Wahrnehmung unerwarteter Echos, frappierender Parallelen zu Stilrichtungen und Autorensignaturen sowie von Bild- und Handlungsmotiven, wie sie aus der nationalen und internationalen Filmgeschichte vertraut sind. Die aus diesen Momenten des Wiedererkennens (die natürlich zugleich auch Momente der Verkennung sind) abgeleitete Arbeitshypothese führt zwar ebenso wenig zu einer völligen Neubewertung von Wolfs Werk wie sie eine unanfechtbare Strategie für einen komplett neuen Zugang zum Gesamtausstoß der DEFA liefert. Es ist durchaus denkbar, dass Wolf am Ende doch nicht ganz als der solitäre Ausnahmeregisseur zu betrachten ist, für den er besonders im Westen gerne gehalten wurde; und sollten einige der an Beispielen aus seinem Werk aufgezeigten Gesichtspunkte in anderen Filmen der DDR ihren Widerhall finden, so würde dies der Stichhaltigkeit des Arguments sicherlich zugute kommen. Das übergeordnete Ziel besteht jedoch darin aufzuzeigen, wie die konzeptionelle Einbeziehung des DEFA-Films in die deutsche Filmgeschichte notwendigerweise die internationale Stellung und die diskursiven Orte sowohl des ost- wie des westdeutschen Kinos neu bestimmt, ja vielleicht sogar die Frage nach der Identität des deutschen Films auf ganz neue Weise aufwirft. Wie z.B. beeinflusst diese Einbeziehung die filmhistorische Herleitung der wohlbekannten Brüche und Kontinuitäten in der deutschen Filmgeschichte, ihre genealogischen Konstruktionen, die Erfindung von Traditionen, die Topoi ihrer »großen Erzählungen« und das Verhältnis von Haupt- und Nebenströmungen, von alternativen zu oppositionellen Praktiken? Eine solche Inte-
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gration der DEFA in die deutsche Filmgeschichte würde es vor allem gestatten, die überschaubaren und scheinbar unvermeidlichen ideologischen Binaritäten einmal beiseite zu lassen, denen zufolge die historische Kontiguität des deutschen Kinos in Ost und West zu zwei wesentlich unterschiedlichen Entwicklungen innerhalb zweier sich politisch und gesellschaftlich antagonistisch zueinander verhaltenen Systemen geführt hat. Aus pragmatischen Gründen muss an dieser Stelle ein genauerer Blick auf einige wenige von Konrad Wolfs Filmen – LISSY (1957), STERNE (1959), DER GETEILTE HIMMEL (1964), ICH WAR NEUNZEHN (1968) und SOLO SUNNY (1980) – genügen, dem ein Zitat von ganz anderer Seite, dem bundesdeutschen Fernsehen, vorausgeschickt werden soll. Es kann zum einen als Erinnerungsstütze dienen für die Intervention des Fernsehens als zentraler Vermittlungsinstitution im Rahmen der Debatte. Zum anderen dient es aber auch als eindrücklicher Hinweis auf die Rolle, die sich die Fernsehanstalten bei der Politisierung der Medienöffentlichkeit, einschließlich der diskursiven Foren der Filmgeschichtsschreibung, im Zuge der Wiedervereinigung mit noch heute verblüffender Hurtigkeit angeeignet haben.
S IEGERGESCHICHTE Am Abend des 3. Oktober 1990 wurde Konrad Wolfs DER GETEILTE HIMMEL im dritten Programm von Nord 3 ausgestrahlt. Anmoderiert wurde die Sendung von der TV-Moderatorin Hanni Vanhaiden wie folgt: »Hier auf N3 zeigen wir ihnen jetzt den DDR-Film DER GETEILTE HIMMEL, den Konrad Wolf 1964 gedreht hat. Ein Film, der unter vielen Filmkennern sozusagen als Inbegriff der DDR-Filmkunst der 60er Jahre gilt. Eine Inszenierung vom Feinsten, ausgeklügelte Bilder und dazu ein Drehbuch nach dem Roman der Dichterin Christa Wolf – was will man mehr? Seit den vergangenen Berliner Filmfestspielen allerdings kennt das Publikum aber auch andere Filme aus jenen Jahren, die, kaum gedreht, auch schon wieder verboten wurden wie z.B. DIE SPUR DER STEINE von Frank Beyer oder DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE,
den Frank Vogel gedreht hat. Beide Filme spannende Zustandsbe-
schreibungen einer nach Wandlung süchtigen Gesellschaft. Wie anders doch bei Konrad Wolf. In der Verkleidung einer angeblichen Liebesgeschichte hat
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der Regisseur eine ideologische Positionsblase nach der anderen inszeniert. So unerotisch und dumm kann man sich das beim besten Willen nicht vorstellen. In diesem Sinne aber ist DER GETEILTE HIMMEL ein Dokument dafür, welcher intellektuellen Verdrehungen es bedurft hat, um 1964 mit einem Film in den DDR-Kinos zu landen.«4
Sieht man einmal von der augenscheinlichen Unkenntnis ab, die eine derartige Beschreibung von Wolfs Film an den Tag legt, so erscheint eine solche Charakterisierung im Rückblick selbst als ein extrem aufschlussreiches »Dokument« für eine Geisteshaltung, wie sie nicht nur Filmen gegenüber zu einem Zeitpunkt eingenommen wurde, an dem die DDR soeben aufgehört hatte zu existieren. Die Ausführungen der Fernsehansagerin illustrieren treffend, dass im wiedervereinigten Deutschland die Vergangenheit ihre Zukunft nun wieder vor sich hatte: Es wird einiger »intellektueller Verdrehungen« bedürfen, bevor die schmerzlich erfahrenen Teilungen abklingen können und ein für alle Beteiligten gangbares Geschichtsverständnis möglich wird. Die Moderation von Hanni Vanhaiden liefert zu diesem Prozess auch gleich ihren ganz eigenen Beitrag, der in seiner doppelten Positionierung gegenüber dem anzukündigenden Film (sowohl eine autorenorientierte wie eine politische Interpretation anbietend) besonders instruktiv ist. Sie unternimmt nicht weniger als den Versuch einer retrospektiven Neuschreibung des DEFA-Kanons, indem sie – unter dem Eindruck der damals frisch aus den Verschlusskammern befreiten »Verbotsfilme« von 1965 – postwendend einen Film dem GULAG der Kritik anheim gibt, der einst als hervorstechendes Emblem von Konrad Wolfs künstlerischer Glaubwürdigkeit galt wie auch als Ikone des Anspruchs der DEFA, ein Studio zu sein, das sich nicht scheut, in politisch kontroverse Projekte zu investieren.5 Die spezielle Konstellation von Hanni Vanhaiden (als »TV-Autorität«), Konrad (und Christa) Wolfs DER GETEILTE HIMMEL und dem
4
Moderationstext der Fernsehausstrahlung von DER GETEILTE HIMMEL am
5
Zur Geschichte der Wiederentdeckung der sogenannten »Verbotsfilme«
3.10.1990 auf Nord 3. vgl. Agde, Günter (Hg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin: Aufbau Verlag 21999. Vgl. a. Byg, Barton: »What Might Have Been. DEFA Films of the Past and the Future of German Cinema«, in: Cineaste 4 (Sommer 1990), S. 9-15.
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Tag der Wiedervereinigung kann für eine Art von sich selbst erfüllender Prophezeiung stehen, ideologisch abgestützt von einer retrospektiven Teleologie. So dient der Anlass als Allegorie jener Koinzidenzen und Überdeterminierungen, wie sie die Geschichte des deutschen Films schon allzu oft heimgesucht zu haben scheinen. Gerade sie machen es so schwer, wissenschaftlichen Beweis und ideologisches Glaubensbekenntnis, mutwillige Bösartigkeit und unfreiwillige Fehlleistung voneinander zu scheiden; wobei sie, in diesem Fall, dazu herangezogen werden, um eine ganze Epoche an das Kreuz der beiden Zeitpfähle von 1965 und 1990 zu schlagen. Indem es die Verbotsfilme als zugleich moralischen, ästhetischen und historischen Fluchtpunkt konstruiert, von dem aus das Kino der DDR nun erst eigentlich eingeordnet und bewertet werden kann, versichert sich das westdeutsche Fernsehen seiner vermeintlichen Funktion als helfende Instanz für DDR-Bürger bei deren Kampf um politische und wirtschaftliche Freiheit. Seinen Verdiensten wird jetzt auch noch das – 1989/90 »befreite« – Kino hinzugefügt, in dem der Öffentlichkeit in Ost und West gleichermaßen der verborgene und damit implizit authentischere Teil der DDR selbst enthüllt werden soll.6 Ein überzeugenderer Nachweis für die Stichhaltigkeit von Walter Benjamins Behauptung, dass Geschichte stets von denen geschrieben wird, die aus ihr als Sieger hervorgegangen sind,7 ist nur schwer vorstellbar: Hätte es die Verbotsfilme nicht gegeben, man hätte sie erfinden müssen, so perfekt passten sie in die Strategien westdeutscher Kulturträger zur Um- und Neuschreibung der Geschichte, wobei ihre schnelle Handlungsbereitschaft mit Blick auf das kulturelle Kapital der DDR jener der Treuhandgesellschaft im Hinblick auf die Abwicklung ihres Wirtschaftskapitals in nichts nachstand.
6
Zur Rolle von Fernsehen und Rundfunk im Wiedervereinigungsprozess vgl. Nowell-Smith, Geoffrey/Wollen, Tana (Hg.): After the Wall. Broadcasting in Germany, London: BFI Publishing 1991; Bohn, Rainer/Hickethier, Knut/Müller, Eggo (Hg.): Mauer-Show. Das Ende der DDR, die deutsche Einheit und die Medien, Berlin: Edition Sigma 1992.
7
Vgl. Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 691-704, hier S. 696: »Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut.«
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»N ORMALISIERUNG « UND »I NTERNATIONALISIERUNG « Es wäre sicher aufschlussreich zu überprüfen, ob diese spezielle Version der »Siegergeschichte« seinerzeit unter westdeutschen Filmkritikern breite Akzeptanz gefunden hat. Jedenfalls begrüßten einige von ihnen die Verbotsfilme enthusiastisch und benutzten sie als willkommene Entschuldigung dafür, den obligatorischen »DDR-Bonus« nun nicht mehr zu entrichten. Unverhofft lieferten die Filme der Presse eine historisch dokumentierte Variation auf jenen öffentlichen Exorzismus, den ihre für Literatur zuständigen Redaktionskollegen an Schriftstellern wie Christa Wolf, Hermann Kant und Heiner Müller durchzuführen für angebracht hielten.8 Zugleich bot die Entdeckung der verbotenen Filme ideologische Anknüpfungspunkte für jene bei ihren früheren Weggefährten als »Wendehälse« verschrienen Karrieristen, deren beruflichen Neubeginn die Verbotsfilme mit dem Beweis dafür versorgten, dass es im Herzen der Ideologie doch einen politisch neutralen Grund gegeben habe. (Denn waren die Verbotsfilme nicht Beleg genug für »eine nach Wandlung süchtige Gesellschaft«?) Sicher ist nur soviel: Derart geschmeidige Übergänge von der Differenz zur Indifferenz, von der Ablehnung zur Anverwandlung stehen Historikern des deutschen Films als Option nicht zur Verfügung. Was aber sind die Alternativen? Welche Ansätze gibt uns die aktuelle Filmgeschichtsschreibung an die Hand? Ein erster Impuls führt zurück auf Methoden der »New Film History«, die es erlauben sollten,
8
Im Kontext des sogenannten »Literaturstreits«. Diese Debatte ist in verschiedenen Publikationen ausführlich dokumentiert. Vgl. z.B. Anz, Thomas (Hg.): »Es geht nicht nur um Christa Wolf«. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München: Edition Spangenberg 1991; Deiritz, Karl/Krauss, Hannes (Hg.): Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder »Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge«, Hamburg: Luchterhand 1991; Williams, Arthur/Parkes, Stuart/Smith, Roland (Hg.): German Literature at a Time of Change, 1989-1990. German Unity and German Identity in Literary Perspective, New York u.a.: Peter Lang 1991. Für eine kritische Würdigung des gesellschaftlichen Symbolgehalts der Debatte im hier angedeuteten Sinne vgl. meine Besprechung in: Das Argument 196 (November/Dezember 1992), S. 937-938.
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die ehemaligen Filmkulturen Ost- und Westdeutschlands in den Blick zu nehmen, ohne auf starre ideologische Positionen zurückzufallen und die unterschiedlichen politischen Interessen in den Mittelpunkt zu stellen.9 Die Methoden der neuen Filmgeschichtsschreibung erscheinen hilfreich bei dem Vorhaben, diesen Teil der deutschen Filmgeschichte in dem Sinne zu »normalisieren«, dass angemessenes Gewicht auch auf die institutionellen Aspekte, die komparatistische Dimension und die Bestimmung jener Art von Öffentlichkeit gelegt wird, die das Kino in der DDR dargestellt hat. Was, kurz gefasst, mit dem auf den ersten Blick höchst ideologischen Begriff der Normalisierung gemeint ist, bezieht sich somit auf das primäre Anliegen, den Untersuchungsgegenstand zu internationalisieren; was wiederum bedeutet, einzelne filmhistorische Epochen oder nationale Kinos auf eine Weise neu zu konfigurieren, dass sie gleichzeitig auf verschiedenen diskursiven Ebenen geltend und auf mehreren Interpretationsfolien sichtbar gemacht werden können. Dieser Ansatz schließt zugleich an Positionen an, wie sie in jüngerer Zeit von Historikern des DDR-Filmwesens entwickelt worden sind. So sind beispielsweise der besondere institutionelle Kontext und filmindustrielle Modus von Filmproduktion und -vertrieb, Filmfinanzierung und -regulierung, Filmabspielstätten und Publikumsrezeption vor allem für die Frühzeit der DEFA auf beeindruckende Weise untersucht worden, u.a. von Filmhistorikern wie Christiane Mückenberger, Ralf Schenk und Thomas Heimann, die ihre Deutungen auf Archivmaterial stützen können, das in den 1990er Jahren zugänglich geworden ist.10
9
Einen Überblick der Grundannahmen und Modelle der »New Film History« geben Elsaesser, Thomas: »The New Film History«, in: Sight & Sound 4 (1986), S. 246-252; Kusters, Paul: »New Film History. Grundzüge einer neuen Filmgeschichtswissenschaft«, in: Montage AV 1 (1996), S. 39-60.
10 Vgl. Mückenberger, Christiane/Jordan, Günter: »Sie sehen selbst, Sie hören selbst«. Eine Geschichte der DEFA von ihren Anfängen bis 1949. Marburg: Hitzeroth 1994; Mückenberger, Christiane: »Zeit der Hoffnungen: 1946 bis 1949«; und Schenk, Ralf: »Mitten im Kalten Krieg: 1950 bis 1960«, in: Ralf Schenk (Hg.), Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946-1992, Berlin/Potsdam: Henschel/Filmmuseum Potsdam 1994, S. 8-157; Heimann, Thomas: DEFA, Künstler und SEDKulturpolitik, Berlin: Vistas 1994.
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Komplementär dazu bietet sich eine Forschungsstrategie an, die sich der Rekonstruktion der Öffentlichkeit widmet, in der das Kino seinen Platz unter den Kunstforen und Freizeitaktivitäten der DDRBürger eingenommen hat. Teil dieser Strategie wäre es, dass die Filmhistoriker die Sensibilität für ein breiter angelegtes Verständnis der Film- und Medienkultur entwickeln und Fragen des ausländischen Filmimports oder die faktisch gegebenen prozentualen Marktanteile der DEFA in ihre Überlegungen mit einbeziehen, ebenso wie sie den veränderlichen Rezeptionsmustern und Erwartungshaltungen des Publikums nachzugehen hätten. Letztere wären zu unterscheiden von den auf das Fernsehen gerichteten Erwartungen, das ja selbst eine Schlüsselöffentlichkeit der DDR darstellte und bekanntermaßen wegen der technisch auf breiter Basis gegebenen Empfangsdurchlässigkeit der Haushalte von einem internationalen, wenn nicht gar »westlichen« Bezugshorizont strukturiert war. Wie aus den bereits vorliegenden Verzeichnissen sämtlicher zwischen 1945 und 1961 auf dem Gebiet der DDR zur Aufführung gelangten Spielfilme hervorgeht, hatte man es auf den Leinwänden der DDR-Kinos Mitte und Ende der 1950er Jahre mit einer überraschend hohen Präsenz von populären Unterhaltungsfilmen aus der Bundesrepublik zu tun, gefolgt von deren fast vollständiger Abwesenheit in den darauf folgenden Jahrzehnten.11 Dies führte
11 Von 1950 bis einschließlich 1961 kamen ungefähr 70 westdeutsche Produktionen – in der Mehrheit populäre Unterhaltungsfilme, aber auch Dokumentar- und Kinderfilme – mit nur wenig Verspätung gegenüber dem bundesdeutschen Verleihstart in die Kinos der DDR. Vgl. die Titel, die in der Zeitschrift Deutsche Filmkunst (10, 1959, S. 314-315; 2, 1961, S. 71) aufgelistet sind. Das staatseigene Periodikum versuchte, der Zugkraft populärer westdeutscher »Importe« mit einer Reihe unsignierter Kommentare entgegen zu wirken. Vgl. z.B. »Westdeutscher Film im Schlepptau der USA«, in: Deutsche Filmkunst 1 (1953), S. 120-123; »Der Westdeutsche Film – ein hoffnungsloser Fall?«, in: Deutsche Filmkunst 2 (1953), S. 177179); »O alte Ufa-Herrlichkeit. Themen der neuen westdeutschen Filmproduktion«, in: Deutsche Filmkunst 3 (1953), S. 163-166. Vgl. a. Hagen, Ewald H.: »Lustspielfilme – stark gefragt«, in: Deutsche Filmkunst 3 (1953), S. 113-116; »Für gesamtdeutsches, nationales Filmschaffen«, in: Deutsche Filmkunst 1 (1954), S. 4 f.; »Westdeutsche Filmschaffende zum Gesamtdeutschen Film«, in: Deutsche Filmkunst 2 (1954), S. 39 ff. Eine ausführliche Diskussion des Filmhandels zwischen West- und Ostdeutsch-
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schließlich zu einer graduellen Rücknahme von Importbeschränkungen gegenüber westeuropäischen und sogar Hollywoodproduktionen im Laufe der 1980er Jahre. Ein anderes Forschungsfeld, das dazu angetan ist, das historische Profil der damaligen Öffentlichkeit für unseren Blick zu schärfen, besteht in den Darstellungen der DEFA-Studios in Babelsberg. Indem etwa der Einfluss von Stars und Mitarbeitern, die nicht aus der DDR stammten, hervorgehoben oder die Geschichte der internationalen Koproduktionen nachgezeichnet wird, lassen sich unerwartete Momente von historischer Kontinuität und gegenseitiger filmindustrieller Befruchtung identifizieren und beschreiben.12 Sie bestätigen einmal mehr die hohe Zahl früherer Ufa-Mitarbeiter sowie von Personal aus Westdeutschland und westeuropäischen Ländern in den DEFA-Studios bis mindestens 1960. Lässt man sich einmal von dem Bild einer weniger monolithisch gedachten Filmöffentlichkeit leiten, so ist die zusehends wachsende Zahl von einzelnen historischen Figuren gewidmeten Studien – Biografien, Dokumentationen, Interview- und Sammelbände – in diesem Zusammenhang von ähnlichem Interesse, nicht zuletzt dank der Tatsache, dass sie sich zunehmend über Regisseure hinaus auf andere Filmschaffende wie Drehbuchautoren, Schauspieler und Szenografen erstrecken. Nicht selten weisen sie auf widersprüchliche Einfluss- und Orientierungsmuster hin, die – wie im Folgenden am Beispiel Konrad Wolfs und der Filmelite seiner Generation nahe gelegt werden soll – zumindest eine doppelte Ausrichtung nach sich zogen: einerseits einer kreativen Gemeinschaft anzugehören, der es
land vor dem Mauerbau findet sich bei Gersch, Wolfgang: »Die Verdoppelung der Ferne. Notizen von der anderen Seite«, in: Jürgen Berger/HansPeter Reichmann/Rudolf Worschech (Hg.), Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt a.M.: Deutsches Filmmuseum 1989, S. 100-109; Schenk: »Mitten im Kalten Krieg«, S. 8692. 12 Vgl. Schenk, Ralf: »Auferstanden aus Ruinen. Von der Ufa zur Defa«, in: Bock, Hans-Michael/Töteberg, Michael (Hg.), Das Ufa-Buch. Kunst und Krisen, Stars und Regisseure, Wirtschaft und Politik, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1992, S. 476-481; Schenk: »Mitten im Kalten Krieg«, S. 93-101; Jacobsen, Wolfgang: »Cha Cha Bim Bam Bum«, in: Wolfgang Jacobsen (Hg.), Babelsberg. Ein Filmstudio 1912-1992, Berlin: Argon 1992, S. 279-284.
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aufgegeben war, die einheimische Filmpraxis zu definieren, während man anderseits auf internationalen Filmfestivals um Ruhm und Ehre – für sich selbst wie für sein Land – zu konkurrieren hatte. In dieser doppelten Ausrichtung verfügten DDR-Filmemacher über eine nahezu lückenlose Kenntnis der zeitgenössischen Filmszene und ihrer vielfältigen Transformationen nach 1945: Vom Neorealismus zur Nouvelle Vague, von Ingmar Bergman oder Michelangelo Antonioni als Repräsentanten ihres jeweiligen nationalen Kinos bis hin zu osteuropäischen Regisseuren in ähnlicher Funktion wie Andrej Tarkowskij, Andrzej Wajda oder István Szabó. Nicht zu vergessen, dass die Filmemacher der DDR in den 1970er und 1980er Jahren auch Zugang hatten zu den Filmen des Neuen Deutschen Films und des New Hollywood.13 Wie in anderen Künsten und Kulturbereichen (der Literatur, dem Theater oder der bildenden Kunst) erfüllten Ausreisegenehmigungen, ausländische Devisen und internationale Kontakte in der Filmkultur der DDR eine Funktion, die aus dem Bereich des DDR-Sports hinreichend bekannt ist: Sie waren so etwas wie »leistungsfördernde Mittel« für die künstlerische Elite. Ein weiteres Modell der Internationalisierung, das den Ansatz dieses Kapitels inspiriert hat, besteht schließlich darin, die Filme eines gegebenen nationalen Kinos nicht so sehr auf mögliche Autorenfilmer, einzelne Meisterwerke oder unterschwellige nationale Mythen hin zu sichten, sondern im Lichte ihrer populären Genres und Darstellungskonvention zu betrachten. In jüngerer Zeit ist diese Position im Hinblick auf den DEFA-Film programmatisch von Barton Byg vertreten worden.14 Sie spiegelt sich aber auch in einer Reihe anderer Veröffentlichungen jüngeren Datums, in denen Neubewertungen verschiedener Genres wie dem Musikfilm, dem fantastischen Film und der Filmkomödie15 sowie der »Indianerfilme« als besonderer Spielart des Wes-
13 Vgl. z.B. Konrad Wolfs Kommentare zu Filmen von Gallher/Schübel, Christian Ziewer, Reinhard Hauff und Francis Ford Coppola in: Direkt in Kopf und Herz. Aufzeichnungen, Reden, Interviews, hg. v. Aune Renk, Berlin: Henschel 1989, S. 246ff. 14 Vgl. Byg, Barton: »DEFA and the Traditions of International Cinema«, in: Allan, Sean/Sandford, John (Hg.), DEFA. East German Cinema, 19461992, Oxford: Berghahn 1999, S. 22-41. 15 In Bezug auf diese Genres vgl. die Beiträge in Schenk (Hg.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. Ein wichtiges Forum für die Wiederent-
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tern16 unternommen oder traditionelle Ansichten über die DEFA-Produktion von Dokumentar- und Animationsfilmen17 kritisch hinterfragt werden, die Spitzenposition des Studios auf dem Gebiet des Kinderfilms nicht zu vergessen.18
W ARUM K ONRAD W OLF ? Warum nun soll sich man sich in diesem Zusammenhang ausgerechnet noch einmal Konrad Wolf zuwenden, von allen ostdeutschen Filmschaffenden wohl der prominenteste Autorenfilmer, Galionsfigur der DDR und offizieller Repräsentant der Filmkultur des Staates? Es war lange üblich, seine Filme auf einer persönlichen, wenn nicht gar autobiografischen Folie zu betrachten, auf der prägnante politische Kommentare sich wie in einem Prisma an den institutionellen Diskursen über Klasse, Familie und nationale Identität brechen. Fast immer siedelt Wolf seine Protagonisten in den Zwischenräumen dieser Diskurse an und schafft damit eine Figuration, die sich im Licht seiner eigenen Biografie unschwer als autobiografisch inspiriert entziffern lässt: Als wiederkehrende Signatur eines in Moskau aufgewachsenen Deutschen und eines Kommunisten, auf dem die Bürde Nazi-Deutschlands lastet.19
deckung des DEFA-Genrekinos war in den Jahren 2000 bis 2004 auch das von Erika Richter und Ralf Schenk herausgegebene Jahrbuch der DEFAStiftung: Apropos Film, Berlin: Bertz 2000-2004. 16 Vgl. Gemünden, Gerd: »Zwischen Karl May und Karl Marx. Die DEFAIndianerfilme (1965-1983)«, in: Film und Fernsehen 1 (1998), S. 37-41. 17 Vgl. Jordan, Günter/Schenk, Ralf (Hg.): Schwarzweiß und Farbe. DEFADokumentarfilme 1946-1992, Berlin: Jovis 1992; Zimmermann, Peter (Hg.): Deutschlandbilder Ost. Dokumentarfilme der DEFA von der Nachkriegszeit bis zur Wiedervereinigung, Konstanz: UVK 1995; Schenk, Ralf/ Scholze, Sabine (Hg.): Die Trick-Fabrik. DEFA-Animationsfilme 19551990, Berlin: Bertz 2003. 18 Vgl. König, Ingelore/Wiedemann, Dieter/Wolf, Lothar (Hg.): Zwischen Marx und Muck. DEFA-Filme für Kinder, Berlin: Henschel 1996. 19 Zur Biografie Wolfs vgl. Jacobsen, Wolfgang/Aurich, Rolf: Der Sonnensucher Konrad Wolf. Biographie, Berlin: Aufbau Verlag 2005.
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Die Entscheidung, sich weder diesen widersprüchlichen Dimensionen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu widmen noch sich mit dem ästhetischen Kalkül eines subjektiven Bewusstseins zu beschäftigen, in dem sich die offiziellen Geschichtsversionen und Gesellschaftsentwürfe spiegeln und kritisch brechen, ist somit Teil einer weiter reichenden Behauptung, die hier aufgestellt werden soll. Die These nämlich, dass Wolfs Filme ganz ähnliche Fragen aufwerfen wie man sie gewöhnlich an das populäre (oder in westliche Begriffe gefasst: kommerzielle) Kino heranträgt. Auf welcher Grundlage aber lässt sich Konrad Wolf in einen Zusammenhang mit Fragen und Themen des Genrekinos bringen? Inwiefern beschäftigte er sich selbst mit der Kontinuität nationaler Stiltraditionen und inwiefern zeugen seine Filme von einem Bewusstsein international geltender Konventionen und Entwicklungen auf dem Gebiet des Genrekinos? Bevor einige konkrete Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen gegeben werden sollen, scheint es zunächst angebracht, die Entscheidung für eine Neubetrachtung der Filme Konrad Wolfs in einen übergeordneten Forschungszusammenhang zu stellen, wie er im vorhergehenden Abschnitt skizziert worden ist. Zunächst einmal erscheint Wolf in diesem Zusammenhang als angemessene Wahl im negativen Sinne: Wenn es gelingt, an einem anerkannten Autorenfilmer wie Wolf einen Einfluss des internationalen Kinos sowohl in seinen Mainstream- wie in seinen Kunstvarianten nachzuweisen, dann würde die generelle These, dass der DEFA-Film allgemein weit weniger isoliert zu betrachten ist als bisher üblich, deutlicher an Plausibilität gewinnen als wenn die Beispiele dem Bereich populärer Unterhaltungsfilme der DDR entstammten. Darüber hinaus kann Wolf, obwohl er ganz zweifellos ein anerkannter Autorenfilmer der DEFA war, nicht als oppositioneller, gegen das SED-Regime gerichteter Künstler bezeichnet werden. Neben seinem Ruf als Emigrant und Parteimitglied der ersten Stunde fallen hier seine vielen offiziellen Funktionen als Vorsitzender der Künstlergewerkschaft, Präsident der Akademie der Künste der DDR (1965-1982) und Mitglied des Zentralkomitees der SED (1981-82) ins Gewicht.20 In
20 Detaillierte historische Dokumentationen Wolfs filmpolitischer Aktivitäten im Kontext seiner verschiedenen institutionellen Mandate finden sich bei Heinze, Dieter/Hoffmann, Ludwig (Hg.), Konrad Wolf im Dialog. Künste und Politik, Berlin: Dietz 1985; Dietze, Ulrich/Geißler, Gudrun (Hg.),
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dieses Spannungsverhältnis fällt auch der Umstand, dass mit SONNENSUCHER (1958/71) einer der Filme Wolfs, die nicht unmittelbar nach ihrer Fertigstellung in die Kinos kommen konnten, nicht etwa aus Angst vor einer möglichen Zersetzung der öffentlichen Moral oder als Bedrohung der inneren Sicherheit verboten worden war wie im Falle der »Verbotsfilme« von 1965/66. Vielmehr war die Entscheidung für ein Verbot von SONNENSUCHER von außenpolitischen und diplomatischen Erwägungen geleitet: Standen die Staaten des Warschauer Pakts zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Films doch gerade in Verhandlungen über ein Abrüstungsabkommen mit den USA, in deren Prozess, so die Befürchtung, der Kinostart eines Films über den unter sowjetischer Leitung stehenden Bergbau in Wismut Irritationen hätte auslösen können.21 Schließlich erscheint Wolf als Fallbeispiel zur Überprüfung der soeben formulierten Hypothese deshalb geeignet, weil seine Filme bei aller Vielfalt als mehr oder weniger repräsentativ, wenn nicht gar symptomatisch für die beiden Genres gelten können, auf denen der Anspruch der DEFA, eine alternative Tradition begründet zu haben, beruht: die Genres des »anti-faschistischen« Films und des »Gegenwartsfilms«.22 Dieser Umstand mag einmal mehr den Versuch verdeutlichen, gewissermaßen die filmische Unterfütterung eines wichtigen Teils des DEFA-Kinos nach außen zu kehren. Die scheinbar so tief im persönlichen wurzelnde Besessenheit, mit der Konrad Wolf sich in seinen Filmen zwischen den Brüchen der jüngeren deutschen Vergangenheit und der DDR-Gegenwartsrealität bewegt, erscheint so gesehen als
Zwischen Diskussion und Disziplin. Dokumente zur Geschichte der Akademie der Künste (Ost) 1945/50 bis 1993, Berlin: Henschel 1997, S. 188389. Vgl. a. Braun, Matthias: »Konrad Wolf – legendärer Präsident der Akademie der Künste der DDR zwischen ›Kahlschlag-Plenum‹ und ›Berliner Begegnung‹«, in: Michael Wedel/Elke Schieber (Hg.), Konrad Wolf – Werk und Wirkung. Berlin: Vistas 2009, S. 189-211. 21 Vgl. Wagner, Reinhard: »SONNENSUCHER (1958/1972). Notizen zur Werkgeschichte«, in: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 39 (1990), Themenheft »Konrad Wolf: Neue Sichten auf seine Filme«, S. 3464. 22 Vgl. Byg, Barton: »Konrad Wolf. From Anti-Fascism to Gegenwartsfilm«, in: Margy Gerber u.a. (Hg.), Studies in GDR Culture and Society, New York: University of America Press 1985, S. 115-124.
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auf doppelte Weise vorgeprägt: von dem widersprüchlichen Erbe einer sozialistischen und einer faschistischen Arbeiterklasse, aber auch von den Interessen und Sachzwängen eines eigenen diskursiven Gesetzen folgenden Marktes.
M ELODRAMA
UND
P ASTICHE : L ISSY
UND
S TERNE
In diesem spezifischen und doch erweiterten Sinne – der sich von herkömmlichen autorenorientierten, auf formale Besonderheiten und thematische Stellvertretungsfunktionen ausgerichteten Ansätzen unterscheidet – sollen Wolfs Filme als symptomatisch für wichtige Tendenzen des DEFA-Films verstanden werden, in deren Zentrum das aus anderen nationalen Kinos Europas vertraute Problem steht, wie ein Begriff nationaler Identität sich über Verfahren der filmischen Darstellung aushandeln lässt. Der den überwiegenden Teil des europäischen Nachkriegskinos – inklusive dem der DDR – gemeinsame Nenner besteht dabei im Streben nach der Schaffung eines nationalen Kinos, das es vermag, nationale Geschichte in Form von oder schlicht als nationale Filmgeschichte zu entwerfen. Mit dem US-Kino Hollywoods als vorrangigem Beispiel für eine Nation, die ihre Geschichte beständig als Filmgeschichte neu schreibt, verschiebt ein solcher Ansatz den Schwerpunkt der Betrachtung auf die Genre-Identitäten und das intertextuell vermittelnde Imaginäre der Filme. Weitaus weniger Bedeutung kommt in diesem Rahmen den traditionellen Eigenarten des europäischen Kunstkinos zu, etwa den Paradigmen von Realismus und kultureller Legitimation eines nationalen Kinos durch Künstler, Autoren und Literaturverfilmungen. Ungeachtet der Tatsache, dass sie regelmäßig als herausragende Beispiele für die Fortführung der Tradition des antifaschistischen Films zitiert werden, ist Konrad Wolfs Filmen der 1950er Jahre mehr als einmal vorgeworfen worden, sie würden auf »kompromittierte« filmische Ausdrucksformen zurückgreifen. Nicht ganz unähnlich der oben zitierten Stichelei Hanni Vanhaidens gegen die vermeintlichen ideologischen Klischees von DER GETEILTE HIMMEL, sind die frühen Filme Wolfs in die Nähe von Unterhaltungsgenres wie dem Heimatund dem Arztfilm gerückt und als Vehikel gängiger melodramatischen Stilisierungen und Erzählkonstruktionen kritisiert worden. Dahingegen erkennt eine autorenzentrierte Sichtweise in den Filmen von EINMAL
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(1954) und GENESUNG (1956) hin zu SONNENSUCHER und PROFESSOR MAMLOCK (1961) einen langsamen, doch stetigen Prozess der künstlerischen Reifung. Nur selten werden die Genrebestandteile in diesem Teil des Wolfschen Werks für den hohen Grad an Mehrdeutigkeit gewürdigt, der diese frühe Phase von Wolfs Filmschaffen so spürbar prägt.23 Weit früher als seine westdeutschen Kollegen scheint Wolf z.B. bewusst geworden zu sein, dass die Möglichkeit einer filmischen Darstellung der NS-Vergangenheit von einer merkwürdigen Nähe und Verwandtschaft zum Modus des Melodramatischen, wie er für das Kino jener Zeit selbst kennzeichnend war, abhängig sein könnte. In dieser Hinsicht ist Wolfs STERNE dem Neuen Deutschen Film der Bundesrepublik um einiges voraus, begann dieser doch erst Mitte der 1970er Jahre, seinen internationalen Ruf vor allem damit zu festigen, dass er eine Wiederbelebung des Melodramas und des sogenannten »Frauenfilms« als privilegierte Genres zur Eröffnung einer Auseinandersetzung mit der NS-Zeit vorantrieb (man denke nur an Rainer Werner Fassbinders DIE EHE DER MARIA BRAUN, 1978; Helma SanderBrahms’ DEUTSCHLAND BLEICHE MUTTER, 1979/80; oder Edgar Reitz’ HEIMAT, 1980-84). Die Auszeichnung von Wolfs Film bei den Filmfestspielen von Cannes nimmt so gesehen Volker Schlöndorffs Oscar für DIE BLECHTROMMEL (1978/79) bereits vorweg, und vielleicht ließe sich eine Linie ziehen von Konrad Wolf zu Rainer Werner Fassbinder oder sogar von STERNE zu SCHINDLER’S LIST (SCHINDLERS LISTE, 1993, Regie: Steven Spielberg).24 IST KEINMAL
23 Vgl. z.B. Silberman, Marc: »Remembering History. The Filmmaker Konrad Wolf«, in: New German Critique 49 (Winter 1990), S. 167f.: »A clear change occurred in Wolf’s oeuvre, a shift from the pathos and pretentiousness of the early films to the suppleness and discretion of the later ones. [...] Wolf’s aesthetic maturation shows a constant – if uneven – pattern of progression.« 24 Vgl. Elsaesser, Thomas: »Subject Positions, Speaking Positions. From Holocaust, OUR HITLER, and HEIMAT to SHOAH and SCHINDLER’S LIST«, in: Vivian Sobchack (Hg.), The Persistence of History. Cinema, Television, and the Modern Event, New York/London: Routledge 1996, S. 145-183.
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Abb. 1
STERNE folgt überdies dem Urmuster eines Melodramas der Opferbereitschaft und Selbstaufopferung, das, in seiner spezifisch deutschen Ausprägung, den Filmen Wolfs und zum Beispiel auch Sanders-Brahms’ historisch vorausgeht. Es sieht für Frauen die Rolle bereitwilliger Opfer vor, um die Männer auf ihre Wandlungsfähigkeit und die Frauen auf ihre Leidensfähigkeit hin einer Prüfung zu unterziehen. Mit seiner Schlusswendung, bei der der Mann entgegen seiner guten Absicht »zu spät« kommt, um die geliebte Frau noch retten zu können, lädt STERNE allerdings auch zum Vergleich ein mit vielen ähnlich »apologetischen« Momenten im Ufa/ NS-Kino sowie im westdeutschen Mainstreamkino der Nachkriegszeit. Während die letztgenannten nicht zu Unrecht als Ausdruck unangebrachten Selbstmitleids angesehen werden, wäre Wolfs Held zumindest seine stoische Resignation als Zeichen eines inneren Widerstands zugute zu halten (Abb. 1).25 Dies verweist jedoch weniger auf Wolfs eigene ideologische Haltung oder mögliche Komplizenschaft als vielmehr auf eine bei seinem historischen Zielpublikum verbreitete Art von Vorwissen, war es doch gewohnt, moralischen Fragen genau in dieser besonderen, generisch überdeterminierten Form auf der Leinwand zu begegnen. Ein Umstand, der die Aufmerksamkeit wiederum auf vielleicht unverhoffte, historisch in den 1950er Jahren noch immer vorherrschende Gemeinsamkeiten der beiden Öffentlichkeiten in Ost und West lenkt und
25 Vgl. Elsaesser, Thomas: »Vergebliche Rettung. Geschichte als Palimpsest in STERNE«, in: Wedel/Schieber (Hg.), Konrad Wolf – Werk und Wirkung, S. 73-92.
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damit auch auf Wolfs eigene Unsicherheit in Bezug auf sein Publikum an diesem Punkt seiner Arbeit als Regisseur.26 Heutige Filmhistoriker mögen daher verständlicherweise ein höheres Interesse an der Unentschiedenheit haben, mit der STERNE sein ideologisch widersprüchliches Material und seine Darstellungsverfahren (inklusive der verschiedenen Spielarten einer antifaschistischen Grundhaltung) organisiert, als daran, im Nachhinein Wolfs Grad an politischer Korrektheit oder verstecktem männlichen Chauvinismus zu beurteilen. Seine ganz persönliche Antwort auf die Uneindeutigkeiten seiner damaligen Öffentlichkeit scheint in der Entwicklung eines Stils bestanden zu haben, der zugleich genregebunden und originell war, wobei seine Originalität zumindest teilweise in der Meisterung vergangener Ausdrucksweisen (oder Ausdrucksweisen der Vergangenheit) gelegen hat. In einem noch immer wenig diskutierten Ausmaß erweist sich Wolf in STERNE als Regisseur mit außergewöhnlichem Talent zum Geschichts-Pastiche, das – paradoxerweise – die positive Aufnahme des Films als einer authentischen Darstellung im Kontext eines Filmfestivals wie Cannes erst sicherzustellen schien, bei dem die Kritiker Wolf sowohl als »Autorenfilmer« wie als Sprachrohr des »besseren Deutschland« erkannten und würdigten. Die Qualität eines Pastiche von Stiltraditionen und einer perfekten Mimikry von existierenden Genrekonventionen tritt in LISSY (1957) noch prägnanter hervor. Der auf einem Roman von F.C. Weiskopf aus dem Jahr 1931 basierende Film erzählt die Geschichte einer Frau aus dem Arbeitermilieu und ihres ebenfalls aus diesem Milieu stammenden Ehemannes Freddy, die beide im sozioökonomischen Strudel der Wirtschaftskrise arbeitslos werden. An der Schwelle zum finanziellen Ruin hat Freddy so etwas wie eine Epiphanie, aus der er als Nazi-Sympathisant und Parteimitglied hervorgeht, das schnell die höheren Ränge der SA erklimmt. Die Auswirkungen der wirtschaftlichen Misere des Paares werden noch dadurch verstärkt, das es für ein neugeborenes Kind zu sorgen hat, während die Solidaritäts- und Identitätskrise
26 In seinen Schriften, Selbstaussagen und Interviews aus den 1950er und frühen 1960er Jahren, die in Direkt in Kopf und Herz gesammelt sind, bringt Wolf wiederholt seine Unsicherheit über die Form der richtigen Zuschaueradressierung zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang und mit Blick auf den breiten Erfolg von STERNE sprach er von diesem Film auch als einem »Januskopf« (S. 49).
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der Arbeiterschaft sich im Schicksal von Lissys Bruder Paul spiegelt, einem Kommunisten und Kleinkriminellen, der sich schließlich auch den Nazis anschließt, sich jedoch schon bald wieder von der Partei abkehrt aus Enttäuschung darüber, dass sie die Kommunisten anstelle der kapitalistischen Großindustriellen und Geschäftsleute zum Ziel ihrer Angriffe macht. Bei einer dieser Aktionen fällt Paul einer Schießerei zum Opfer, für die seinen ehemaligen kommunistischen Freunden die Verantwortung in die Schuhe geschoben wird. In einem Anflug von fehlender Bedachtsamkeit gesteht Freddys Parteivorgesetzter Kaczmierczik jedoch, dass der Mord von den Nazis verübt wurde, um sich eines unerwünschten Zeugen des Geschehens zu entledigen. Bei der offiziellen Totenfeier, bei der Paul zum Märtyrer der NS-Bewegung stilisiert wird, ist Lissy von den heuchlerischen Reden derart angewidert, dass sie aus der Kirche stürmt und dem Filmzuschauer damit den Schluss nahe legt, sie sei bereit, ihre eben erst errungenen häuslichen Annehmlichkeiten zugunsten des erneuten Kampfes an der Seite ihrer wahren Kameraden aufzugeben. Zum großen Teil rührt die unheimliche Faszinationskraft des Films vom Geschick her, mit dem er die Zeit der frühen 1930er Jahre zu rekonstruieren versteht – und dies vor allem in vielen Sequenzen erreicht, die an frühere Filme erinnern. LISSY ist durchsetzt mit sorgsam eingefügten Zitaten aus dem linken Avantgardefilm der Weimarer Republik, von Piel Jutzi bis Slatan Dudow: am augenfälligsten wohl in der Montagesequenz, die Freddys Arbeitssuche von Tür zu Tür in ihrer monotonen Vergeblichkeit ebenso lakonisch zusammenrafft wie die Referenzsequenz aus KUHLE WAMPE ODER WEM GEHÖRT DIE WELT (1932, Regie: Slatan Dudow) Annis vergebliche Versuche, ihrer Familie die Wohnung zu erhalten.27 Diese konkrete filmhistorische Bezugnahme hat Kommentatoren dazu gebracht, von einem Schritt Wolfs in Richtung brechtscher Verfremdungsverfahren zu sprechen, wobei sie darüber hinaus noch auf
27 Man sollte Wolf daher beim Wort nehmen, wenn er selbst über seine beiden in den 1930er Jahren angesiedelten Filme LISSY und PROFESSOR MAMLOCK feststellt, er hätte in ihnen den Versuch unternommen, »dem Stoff entsprechend […] über den Stil und das Bild unmittelbare [historische] Glaubwürdigkeit zu schaffen«. Wolf: Direkt in Kopf und Herz, S. 154.
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den Einsatz einer das dramatische Geschehen rahmenden Erzählerstimme aus dem Off verweisen konnten (wie man sie allerdings auch in fast allen anderen frühen Filmen Wolfs findet).28 Nicht minder plausibel erscheint jedoch ein anderer intertextueller Referenzpunkt für den Einsatz dieser Art meta-diegetischen Kommentars, findet er sich doch auch im zeitgenössischen kommerziellen Kino der Bundesrepublik, dessen damals produktivster und erfolgreichster Vertreter Kurt Hoffmann seine Filme nicht selten mit einer ähnlich »ironischen« Kommentarstimme versehen hat.29 Noch auffälliger ist an LISSY allerdings der akribische Versuch, in der historisch exakten Rekonstruktion jeden Details des Großstadtlebens (Zeitungen, Straßencafés, Warenhäuser) wie in der Beschreibung der sozialen und emotionalen Zustände der Protagonisten die divergierenden filmischen Traditionen zwischen der Zeit des Erzählten und der des Erzählens miteinander in Einklang zu bringen. In diesem Sinn kann der Film als eine sehnsüchtig detaillierte, fetischistisch anmutende Rekonstruktion jenes historischen Moments vor dem politischen Fall von 1933 angesehen werden (dem »Sündenfall« der Kommunisten, die die Sozialdemokraten bekämpften, anstatt eine Volksfront gegen den Faschismus zu bilden). Heute mag der Film jedoch mit gleicher Berechtigung als postmodernes Geschichts-Pastiche aufgefasst werden, das in seinen spezifischen Darstellungsverfahren zum Tragen kommt: Man findet stereotype Handlungssituationen, soziale Räume (Berliner Hinterhöfe, typisch kleinbürgerliche Wohneinrichtungen) und Figurenkonzeptionen, die aus dem populären Kino der 1920er und 1930er Jahre hinreichend bekannt sind; weibliche Selbstentwürfe, die
28 Vgl. Spoden, Madina: »LISSY (1957). Gedanken beim neuerlichen Sehen«, in: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 39 (1990), Themenheft »Konrad Wolf: Neue Sichten auf seine Filme«, S. 32f. 29 Vgl. das Kapitel zu Kurt Hoffmanns FELIX KRULL in diesem Buch. Mit neun Filmen, die zwischen 1950 und 1961 in beiden deutschen Staaten in die Kinos kamen, rangiert Hoffmann auf dem ersten Platz aller deutschen Regisseure. Vgl. Gersch: »Die Verdoppelung der Ferne«, S. 101ff. Zur großen Beliebtheit (west-)deutscher Unterhaltungsfilme zu dieser Zeit, die sogar diejenige ausländischer Importe überstieg, vgl. a. Fehrenbach, Heide: Cinema in Democratizing Germany: Reconstructing National Identity after Hitler, Chapel Hill/London: University of North Carolina Press 1995, S. 148-168.
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zwischen den beiden Welten der emanzipierten »Neuen Frau« und dem Konsumverhalten »Neuer Ordnung« hin und her gerissen sind – eine Identitätsspaltung, die von Wolf auf beeindruckende Weise unter Verwendung von Spiegeln, Selbstinszenierungen und Schaufensterauslagen ins Visuelle transponiert wird. Während die Darstellung von Freddys gesellschaftlichem Aufstieg eine ganz eigene Sensibilität des deutschen Kinos im Umgang mit dem narzisstischen Kleinbürger wieder aufnimmt und reflektiert, dessen Inbegriff von den 1930er bis in die 1960er Jahre Heinz Rühmann war,30 deutet Freddys moralische Ambivalenz, etwa in der Szene seines antisemitischen Ausbruchs vor einem Straßenplakat, auf Parallelen zu den sogenannten »FascinatingFascism«-Filmen der 1970er Jahre von Luchino Visconti oder Bernardo Bertolucci. Die angesprochene Szene beeindruckt auch heute noch als ein filmischer Geniestreich, der Eisensteins Montagekonzepte mit einer fast schon opernhaft anmutenden visuellen Fantasmagorie vermählt. Angesichts solcher Anspielungen, Wiederholungen und Parallelkonstruktionen über Zeit und Raum hinweg bedeutet das betont melodramatische Ende des Films, in dem Lissy sich vom sorgfältig choreografierten, verschatteten Raum der Kathedrale abwendet und ihn auf einer symmetrisch von Bäumen eingerahmten Allee verlässt, nicht wirklich einen stilistischen Bruch mit dem proletarischen Film der 1920er Jahre. Ganz im Gegenteil erscheint es als eine fast schon notwendige Vervollständigung, die den Pastiche-Eindruck perfektioniert, indem sie dem Zuschauer eine Variation auf den typischen Look eines Detlef-Sierck-Melodramas der späten 1930er Jahre oder auch ein Echo der düsteren Inszenierungen von Bestattungsritualen aus Filmepen Gustav von Ucickys oder Veit Harlans der frühen 1940er Jahren bietet. Auf anachronistische, im Kontext der DDR aber auch durchaus angemessene Weise wirft LISSY die Frage auf, wie der deutsche Faschismus dargestellt werden kann, ohne auf die diesem eigene Ikono-
30 Diese Logik der Verdoppelung und Spiegelung durch Zitat und Anspielung tritt besonders deutlich in jener Szene hervor, in der sich Freddy vor dem Spiegel in einen Nazi verwandelt. Es handelt sich hierbei um eine Szene, die in Bezug auf ihre gesellschaftlichen Implikationen, ihr kleinbürgerliches Milieu und ihre visuelle Organisation nahezu identisch ist mit der Spiegelszene aus Carl Boeses Heinz-Rühmann-Film DIE UMWEGE DES SCHÖNEN KARL
(1938).
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grafie zurückzugreifen – und dies knapp 20 Jahre, bevor Regisseure wie Visconti, Fassbinder, Bertolucci, François Truffaut oder Louis Malle genau diese Frage zu einem der großen Themen des europäischen Films machten.
D IE INNERE U NSICHERHEIT : D ER GETEILTE H IMMEL Im DEFA-Film markieren die frühen 1960er Jahre einen deutlichen Bruch. Verschärfte Importbeschränkungen für Filme aus dem Westen gingen einher mit dem Ruf nach gegenwartsbezogenen Stoffen, die sich kritisch mit den Problemen der Industrieproduktion und der Alltagsrealität auseinandersetzen würden: Eine politische Kurskorrektur, zu deren Aushängeschild die Rede vom »Bitterfelder Weg« wurde. Es ist dieser Bruch, von dem man sagt, dass er in DER GETEILTE HIMMEL einen starken Widerhall gefunden habe. Der Film wurde von Wolfs einheimischem Publikum äußerst kontrovers aufgenommen, wohingegen er im Ausland nahezu ungeteilte und unmittelbare Anerkennung erfuhr. Wie erwähnt, handelt es sich bei diesem Film um die Adaption des gleichnamigen Romans von Christa Wolf, die auch an der Ausarbeitung des Drehbuchs beteiligt war. Die Geschichte ist angesiedelt um die Zeitenwende des Mauerbaus 1960/61 und wird aus der Perspektive Ritas erzählt, die nach einem erlittenen Nervenzusammenbruch auf ihre Liebesbeziehung zu dem Chemiker Manfred zurückblickt, der die DDR verlassen hat, weil dort sein Bahn brechender Prozess zur Färbung von Stoffen von der staatseigenen Fertigungswirtschaft abgelehnt worden war (Abb. 2). Manfred hat sich für die Bundesrepublik entschieden, um seine Erfindung industriell auswerten zu können, während Rita, die eine Ausbildung als Lehrerin gemacht hat und in ihren Ferien in einer Eisenbahn-Waggonfabrik arbeitet, zwischen ihrer Liebe zu Manfred und der Solidarität gegenüber ihren beiden väterlichen Freunden – ihrem Lehrer Professor Schwarzenbach und dem Arbeiter Meternagel – hin und her gerissen ist. Nach einem Kurzbesuch bei Manfred in West-Berlin entscheidet sie sich zur Rückkehr in die DDR, in der Hoffnung auf ein besseres und ausgefülltes Leben unter »ihresgleichen«.
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Abb. 2
In der Frage nach den Gründen für die von diesem Film ausgelösten Kontroversen mag es von Bedeutung sein daran zu erinnern, dass die kritischen Einwände sich nicht primär auf die sensiblen Themen der Republikflucht oder des die deutsche Nation scheinbar endgültig teilenden »antifaschistischen Schutzwalls« richteten. Schließlich waren die Auswirkungen des Mauerbaus bereits vor DER GETEILTE HIMMEL verschiedentlich im DEFA-Film thematisiert worden.31 Die Proteste galten vielmehr überwiegend den formalen Eigenschaften des Films und seiner komplizierten, avantgardistisch anmutenden Erzählweise.32 Es erscheint in der Tat sinnvoll, die in DER GETEILTE HIMMEL aufgeworfenen Fragen auf die für die Erzählung gefundene Form umzulegen, ist der Film doch geprägt von mehreren raumzeitlich parallel geführten Erzählsträngen, einer komplexen Verwendung der Montage und einer Reihe radikaler mentaler Bedeutungsverschiebungen, der fast schon obsessiv wirkenden Wiederholung symptomatisch ins Bild gerückter Räume, metaphorischer Landschaften und Stadtansichten, mehrfach in sich verschachtelten Formen der Rückblende und des inneren Monologs sowie subjektiver Point-of-View-Strukturen. Als ein Werk, das aktuelle filmische Zeitströmungen auf äußerst reflexive Weise aufnimmt und verarbeitet – stilistisch wie thematisch
31 Vgl. Richter, Erika: »Zwischen Mauerbau und Kahlschlag: 1961 bis 1965«, in: Schenk (Hg.), Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg, S. 164-168. 32 Für eine Zusammenfassung der Debatte vgl. die Besprechung von Friedrich Hitzer, in: Filmkritik 12 (Dezember 1964), S. 650f.
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dem internationalen Kunstkino eng verwandt –, enthält DER GETEILTE HIMMEL eine Reihe von Motiven, die für genau diesen Zusammenhang charakteristisch sind: Man begegnet einem vereinsamten Liebespaar, das in unsagbarer Agonie gefangen ist (Abb. 3), tiefgreifenden Generationskonflikten sowie, gebrochen durch das Prisma weiblicher Subjektivität, gesellschaftlichen Zuständen und historischen Umständen, die den Figuren auf schmerzhafte Weise eingeschrieben sind. DER GETEILTE HIMMEL lässt sich damit zwischen Marguerite Duras’ Filmen mit Alain Resnais und den frühen Werken Antonionis mit Monica Vitti ansiedeln. Im Rahmen eines Genreansatzes an Wolfs Filme legen diese Motive nahe, dass sich in der filmformalen Verschiebung zwischen den 1950er und den 1960er Jahren auch ein nachhaltiger Wandel der von ihr adressierten Öffentlichkeit abbildet.
Abb. 3
Die von den verschiedenen filmischen Idiomen konnotierte Identitätspolitik verortet Wolfs Film im Zentrum einer kulturellen Malaise, die gewöhnlich als typisch westliche, aus DDR-Sicht typisch kapitalistische betrachtet wird und bei der körperliches Wohlbefinden sehr wohl mit geistiger Beklemmung und Trostlosigkeit einher gehen kann. Diese Assoziationen dienen Wolf allerdings nur als Folie, auf der er eine weitaus spezifischere deutsche Malaise einschreiben kann und zugleich der »deutsch-deutschen Frage« eine Stimme geben, die innerhalb des internationalen Kunstkinos Gehör findet. Die Darstellung des DDR-Themas der Republikflucht durch das Prisma von HIROSHIMA MON AMOUR (1959, Regie: Alain Resnais) und LA NOTTE (1961, Regie: Michelangelo Antonioni) siedelt Wolfs Film auf der gleichen diskursiven Ebene an, auf die etwa zeitgleich Alexan-
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der Kluge (mit ABSCHIED VON GESTERN, 1966, oder ARTISTEN IN DER ZIRKUSKUPPEL: RATLOS, 1968) und Edgar Reitz (mit MAHLZEITEN, 1967) den Jungen Deutschen Film zu heben versuchten. In diesen Kontext gerückt, kommt Wolfs DER GETEILTE HIMMEL eine neue Dimension seines historischen Gehalts zu, aber auch eine avantgardistische Qualität innerhalb der deutschen Filmgeschichte in ihrer Gesamtheit, die den Kommentar Hanni Vanhaidens aus dem Jahr 1990 ideologisch umso grotesker verzerrt erscheinen lässt.
S IMULIERTE A UTHENTIZITÄT : I CH
WAR NEUNZEHN
Eine ähnlich gelagerte Lektüre von Wolfs folgendem Film ICH WAR mag auf den ersten Blick problematisch erscheinen: In der subjektiven Zeitlichkeit eines filmischen Tagebuchs gehalten, geht ICH WAR NEUNZEHN in zwei Wochen der historischen Zeit zwischen dem 16. April und dem 3. Mai 1945 zurück, die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. Die locker gefügte Erzählung des Films ist gefiltert durch das Bewusstsein des 19-jährigen Gregor Hecker, der in Köln geboren wurde, seine Jugend im Exil verbracht hat und nun in der Uniform der Roten Armee in sein Heimatland zurückkehrt. Als Mitglied der Roten Armee wird er zeitweise zum Kommandanten der Kleinstadt Bernau ernannt und fungiert als Dolmetscher bei diplomatischen Unterhandlungen. Im Rahmen seines primären Verantwortungsbereichs der ideologischen Agitation an der Front avanciert nicht etwa ein sowjetischer Panzer oder eine Kalaschnikow zur Waffe seiner Wahl, sondern eine mobile Medieneinheit in Form eines mit Megafon, Mikrofon und Verstärker ausgerüsteten Kleintransporters (Abb. 4). Die Kameraden an seiner Seite sind die germanophilen Offiziere Vadim (ein Deutschlehrer aus Kiew, der seinen Heine auswendig kennt) und Sascha, der eine besondere Vorliebe für deutsche Volksmusik und Schallplatten mit populären Schlagern pflegt. Zur Struktur des Films gehören auch ein allegorischer Prolog sowie zwei Stellen, an denen recht früh in den Verlauf des fiktionalen Geschehens dokumentarisches Bildmaterial eingeschnitten ist. Die Erzählung ist sorgfältig um eine Reihe von Begegnungen und Schlüsselsituationen des gegenseitigen Erkennens und Verkennens zwischen Gregor und seinen Landsleuten herum arrangiert, deren mythische Subtexte sich zu einer poetischen Geografie dunkler Labyrinthe und NEUNZEHN
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verwilderter Landschaften entfalten, am deutlichsten wohl in der um einen Bauernhof in Brandenburg herum inszenierten Schlusssequenz.
Abb. 4
Im Sinne einer filmischen Verarbeitung Wolfs eigener Erfahrungen als 19-jähriger politischer Flüchtling, der in der der Uniform der Roten Armee nach Deutschland zurückkehrt, gilt ICH WAR NEUNZEHN gemeinhin als das am stärksten autobiografisch geprägte Werk des Regisseurs. In dem Maß, in dem der Film mit klassischen Erzählkonventionen und Mustern der Publikumsadressierung bricht, wird er als Ausdruck einer persönlichen Sichtweise, individueller Integrität und historischer Authentizität verstanden.33 Sieht man den Film fast 40 Jahre nach seiner Premiere wieder, wird die Aufmerksamkeit allerdings stärker darauf gelenkt, wie dieser Authentifizierungseffekt vom hochgradigen Bewusstsein des Films für die kinematographischen Traditionen nicht seiner Entstehungszeit, sondern der Zeit seiner historischen Handlung erzielt wird, von denen er viele explizit umschreibt oder implizit neu fasst. Diese Dimension der »Authentizität als Simulation« tritt in ICH WAR NEUNZEHN vielleicht dort am deutlichsten hervor, wo im Anschluss an die letzten Bilder eines Interviews mit einem Mitarbeiter des Konzentrationslagers Sachsenhausen, die aus TODESLAGER SACHSENHAUSEN (1946) stammen und als dokumentarisches Material ausgewiesen sind, unmit-
33 Vgl. z.B. Silberman, Marc: »The Authenticity of Autobiography. Konrad Wolf’s I WAS NINETEEN«, in: German Cinema. Texts in Context, Detroit: Wayne State University Press 1995, S. 145-161.
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telbar zurück zum fiktiven Interview mit einem Landschaftsarchitekten geschnitten wird, wodurch der Zuschauer zunächst irritiert und desorientiert wird, bevor er in der Lage ist, die Sprecher als Filmfiguren und damit den nicht-dokumentarischen Status der Sequenz zu identifizieren. Eine solche Pendelbewegung zwischen Faktischem und Fiktionalem stellt allerdings nur eine Art der Wahrnehmungsturbulenzen dar, die von den zahlreichen, die visuellen Register des Films kraftvoll umspülenden intertextuellen Unterströmungen ausgelöst werden. Um nur einige der prominentesten Verweise zu nennen: Leicht auszumachen sind Roberto Rossellinis PAISÀ (1946) – und zwar nicht nur das Zitat der Sequenz mit dem tot im Wasser treibenden Partisanen zu Beginn – sowie das Niemandsland des ausgebombten Berlin aus GERMANIA ANNO ZERO (DEUTSCHLAND IM JAHRE NULL, 1947) desselben Regisseurs, während die Sequenz in der Spandauer Zitadelle eine subtil choreografierte Anspielung auf und Hommage an Jean Renoirs LA GRANDE ILLUSION (1937) darstellt. Hinzu kommt, dass Wolf über ein betont zeitgemäßes Konzept zu verfügen scheint, wie eine »authentische« Öffentlichkeit in Begriffen ihrer Medienrealität herzustellen ist. Es findet sich in ICH WAR NEUNZEHN kaum eine Sequenz, die nicht von institutionalisierten menschlichen oder technisch-apparativen Kommunikationsverfahren vermittelt wäre, die von zweisprachigen Dolmetschern, Mono-Mikrofonen, populärer Schlager- und Volksmusik über Schellackaufnahmen klassischer Musik von Bach bis hin zum »Hohenfriedberg-Marsch« und dem Ernst-Busch-Lied »Rio Guarama« aus dem Spanischen Bürgerkrieg reichen. Zugleich verdoppeln die literarischen Verweise auf Heinrich Heines »Ich hatte einst ein schönes Vaterland« und der Reclam-Ausgabe der Werke Kants (aus denen der Landschaftsarchitekt seinen apologetischen Monolog ableitet) bis zu e.o. plauens ComicBuch,34 in das sich Gregor beim Schallplattenhören vertieft, die inten-
34 Die Bildergeschichte »Vater und Sohn« von e.o. plauen (der mit bürgerlichem Namen Erich Ohser hieß), ursprünglich erschienen in Fortsetzungen in der Berliner Illustrierten Zeitung ab 1933, genoss bis 1945 eine hohe Popularität, die sie auch weit über die Zeit, zu der ICH WAR NEUNZEHN entstand, beibehalten konnte. Ohser selbst nahm sich im April 1944 in einem NS-Gefängnis das Leben. Dank an Wolfgang Kohlhaase, der die fil-
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sive Auseinandersetzung mit der Medialität von Geschichte durch eine weitere diskursive Schicht. Wolf gelingt es auf noch heute beeindruckende Weise, das Kino zu einer Zeitmaschine historischer Simulation auszumodellieren, bei der Authentizität aus einer nach innen führenden Spiralbewegung hervorgeht. Diese Spiralbewegung ist jedoch weniger die der persönlichen Erinnerung und biografischen Rekonstruktion als vielmehr eine in die (Propaganda-)Medien- und (populäre europäische) Filmgeschichte als Instanzen des kollektiven Gedächtnisses und seiner Logiken der Darstellung und Überlagerung hineinführende, bei der – wie etwa ein Jahrzehnt später im Neuen Deutschen Film – Geschichte als Filmgeschichte wiederkehrt. Und tatsächlich suggeriert der Umstand, dass seit der Entstehungszeit von ICH WAR NEUNZEHN die jüngere Vergangenheit Deutschlands in Begriffen einer Mediengeschichte neu geschrieben worden ist – in Reitz’ HEIMAT und DIE ZWEITE HEIMAT (1992), den Filmen von Fassbinder oder Jean-Luc Godards ALLEMAGNE NEUF ZÉRO (1990) –, ein gemeinsames, mehrere Epochen des Nachkriegskinos in Deutschland umfassendes Paradigma. Sichtbar werden hier vielleicht einige Aspekte eben jener integralen Geschichte, die eingangs als mögliches Ziel einer erneuten Beschäftigung mit dem DEFA-Film und den Filmen Konrad Wolfs in den Blick genommen wurde. Ein solcher Wechsel der Perspektive auf ICH WAR NEUNZEHN legt auch ein weniger symmetrisch ausbalanciertes, weitaus komplexer gelagertes Verständnis des deutsch-sowjetischen Verhältnisses nahe, das bei Wolf nicht nur im Angelpunkt von ICH WAR NEUNZEHN steht, sondern auch im Mittelpunkt von SONNENSUCHER und MAMA, ICH LEBE (1977). Vergleicht man die deutsch-sowjetische Matrix bei Wolf mit der zum Beispiel bei Wim Wenders, Reitz oder Fassbinder so prominent figurierenden deutsch-amerikanischen Achse, so scheint der Gedanke nicht allzu weit hergeholt, dass die gemeinsame Basis einer ganzen Reihe sogenannter national foundation films verschiedener Regisseure in klassischen Filmtopoi verwurzelt sind, wie in dem Motiv des nationale Identität vom jeweils Anderen scheidenden »Grenzlands« und seiner Geografie der Homelands, Zivilisationsenklaven und Minderheitsreservate.
mische Anspielung auf e.o. plauen in einem Gespräch am 6. Oktober 1997 in Boston, USA, präzisiert und kommentiert hat.
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Was für Wenders das Road Movie war, die Familiensaga für Reitz und das Melodrama für Fassbinder,35 erscheint so bei Wolf bereits als leidenschaftliche Würdigung und scharfsinnige Wiederaufnahme des klassischen Western in der Art eines John Ford, Robert Aldrich oder gar Sam Fuller vorweggenommen. Vor diesem Hintergrund betrachtet, lässt sich Gregor Hecker, der Held aus ICH WAR NEUNZEHN, vielleicht am besten verstehen als Variation auf die typische Westernfigur des indianischen Scout (und einmal nicht als heimkehrender Odysseus), an der es möglich wird, den verschlungenen Pfaden nachzuspüren, auf denen der Film die Bestimmung von Andersartigkeit zwischen Russen, Deutschen, Wehrmachtssoldaten und SS-Mitgliedern neu verteilt. Tatsächlich reproduziert die Darstellung der Belagerung des Bauernhofs am Ende des Films exakt die geografischen Organisationsprinzipien klassischer Handlungssituationen und Raumanordnungen des WesternGenres, wie sie ihre paradigmatische Artikulation beispielsweise in STAGECOACH (1939, Regie: John Ford), APACHE (1954, Regie: Robert Aldrich) oder RUN OF THE ARROW (1957, Regie: Sam Fuller) gefunden haben. Ihr Wiederauftauchen in ICH WAR NEUNZEHN fügt dem Film eine ganz eigene mythologische Schicht hinzu, die mit der klassischen Mythologie von Styx und Lethe, die von den immer wieder ins Bild gerückten Flusslandschaften und symbolisch inszenierten Überquerungen nicht weniger kraftvoll evoziert wird, in ein Konkurrenzverhältnis tritt. Dies alles gerahmt von einer Mark Brandenburg, die nicht nur über die notwendige raue Qualität eines Landstrichs der inneren wie äußeren Vereinsamung verfügt, sondern auch über die resolute Festigkeit eines ostpreußischen Vorpostens germanischen Pioniergeists.36
35 Vgl. Elsaesser, Thomas: »American Friends. Hollywood Echoes in the New German Cinema«, in: Nowell-Smith, Geoffrey/Ricci, Steven (Hg.), Hollywood & Europe. Economics, Culture, National Identity, 1945-95, London: BFI Publishing 1998, S. 142-155. 36 Wie Barton Byg gezeigt hat, lassen sich konkrete Anspielungen auf den klassischen amerikanischen Western auch in Wolfs SONNENSUCHER sowie Frank Beyers FÜNF PATRONENHÜLSEN (1960) und SPUR DER STEINE (1966) nachweisen. Vgl. Byg, Barton: »DEFA 1996 – Eine Ortsbestimmung«, in: Film und Fernsehen 3/4 (1996), S. 36f.
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A LLTAG
IM
R AMPENLICHT : S OLO S UNNY
An SOLO SUNNY37 fällt eine ganz ähnlich gelagerte diskursive Ebene auf, von der aus ein vergleichender oder integraler historiografischer Ansatz eine brauchbare Begrifflichkeit generieren und die Triebkräfte hinter dem deutschen Film der Nachkriegszeit auf diese Weise neu fassen könnte. Sie betrifft hier vor allem die Darstellung weiblicher Subjektivität, allerdings nicht wie so oft im Zeichen sexueller Befreiung – in dieser Hinsicht bedarf Sunny keiner Befreiung, wird ihre Autonomie doch schon in den ersten Dialogzeilen des Films etabliert, wenn sie ihren Liebhaber wissen lässt, eine Nacht mit ihr sei nicht nur »ohne Frühstück«, sondern auch »ohne Diskussion«. Vielmehr geht es um die Darstellung weiblicher Subjektivität vermittelt über die spezifische Öffentlichkeit des Showgeschäfts, die von der Bühne, Mikrofonen und Verstärkern ebenso hergestellt wird wie von den Logiken der Selbstzurschaustellung und des Spektakels (Abb. 5). In deutschen Film wurde diese Tradition spektakulärer weiblicher Selbstdarstellung am denkwürdigsten (und mehrdeutigsten) von den Revue- und Operettenfilmen der Ufa in den 1930er und 1940er Jahren ausgebeutet, wobei Zarah Leander und Marika Rökk nur die heute noch bekanntesten Beispiele sind. Dieses Modell der Problematisierung weiblicher Subjektivität durch spektakuläre Zurschaustellung war
37 Der in der damaligen Gegenwart der DDR angesiedelte Film porträtiert die Nachtklubsängerin Ingrid Sommer, genannt »Sunny«, die einer durch das Land tingelnden Band angehört, jedoch von einem Solo-Auftritt träumt. Als sie es ablehnt, mit Norbert, dem Saxofonisten der Band, zu schlafen, wird sie von einer anderen Sängerin ersetzt. Den ganzen Film über lehnt sie es außerdem ab, mit ihrem größten Verehrer, dem Taxifahrer Harry, ins Bett zu gehen. Zu einem früheren Zeitpunkt wurde Norbert, der von einer Schlägerei eine aufgeschlagene Lippe davongetragen hatte, zeitweise von dem philosophischen Amateursaxofonisten Ralph vertreten, dessen ruhige, zurückgezogene Lebensweise auf Sunny eine starke Faszination ausübt, der jedoch mit der gemeinsamen Beziehung von sich aus eher zwanglos umgeht. Nachdem sie ihn mit einer anderen Frau im Bett erwischt hat, macht sie eine schwere Krise durch, die in einen Selbstmordversuch mündet. Der Film endet mit einem Auftritt der wieder genesenen Sunny als Sängerin einer anderen Band, deren übrige Mitglieder unübersehbar einer jüngeren Generation angehören.
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zum Zeitpunkt der Entstehung von SOLO SUNNY längst einer kritischen Revision von Seiten der Regisseure des Neuen Deutschen Films unterzogen worden, am nachhaltigsten vielleicht in den Filmen Fassbinders. Fassbinder unterzog dabei jedoch nicht nur die Show-Vehikel der Ufa einer radikalen Neuauslegung (z.B. in LILLI MARLEEN, 1981), wie viele andere europäische Filmemacher der 1970er Jahre deutete er die Figur der Künstlerin auch zu einer Metapher um, mit der sich die Verbindung zwischen Faschismus und Showgeschäft anschaulich machen und zugleich mit einem Identitätskonzept operieren ließ, das quer zu politischen, ideologischen oder geschlechterbedingten Verabsolutierungen anders gelagerte Bruchlinien, Kontinuitäten und Trennungsverläufe kennt.
Abb. 5
Verortet man SOLO SUNNY auf diesem kontroversen Bezugsfeld der Umschreibungen und Umdeutungen, erscheint am äußeren Fluchtpunkt der diskursiven Dreieckskonstellation ein anderer Film, gewissermaßen als Relais aller drei kinematographischen Modi über historische Zeit- und Raumgrenzen hinweg: Dieser Film ist Bob Fosses CABARET (1972), dessen Heldin Sally Bowles in SOLO SUNNY an mehreren Stellen auf fast schon unmissverständliche Weise evoziert wird. Fosses Film erscheint daher umso wichtiger in seiner Funktion als Katalysator für das deutsche Kino und dessen Umgang mit umstrittenen kinematographischen und nationalen Traditionen, wie sie in Bezug auf weibliche Subjektivität, Unterhaltungskultur und Öffentlichkeit bis heute unermüdlich durchgearbeitet werden. Darüber, was die Präsenz jener besonderen Konstellation von NSKino, Hollywood, Fassbinder und SOLO SUNNY zur metakritischen
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Dimension der Auseinandersetzung von Wolfs Film mit der damaligen Gegenwartssituation der DDR-Wirklichkeit beitragen kann, soll an dieser Stelle nicht weiter spekuliert werden. Aus einer solchen querschnittartig angelegten Lesart einiger Aspekte von Wolfs Filmen ergeben sich jedoch eine Reihe möglicherweise zufälliger Berührungspunkte mit Stil- und Genremustern, wie sie aus dem westdeutschen, europäischen und Hollywoodkino bekannt sind. Die Frage nach deren Relevanz ist zumindest legitim und vielleicht sogar dazu angetan, es Kommentaren wie dem Hanni Vanhaidens in Zukunft etwas schwerer zu machen.
W OLF
UND
F ASSBINDER 1982/1992
Mit SOLO SUNNY schließt sich gewissermaßen der Kreis unserer Betrachtung, die – wie zu Beginn am Beispiel von LISSY – auf die Heldin des Films fokussiert war und die Frage der filmischen Darstellung deutscher Geschichte direkt auf das unbequeme Erbe des NS-Kinos hin ausgelegt hat. Die Kombination von nationalen Stiltraditionen und internationalen Genrehorizonten, eines im Verschwinden begriffenen historischen Referenten und der Projektion weiblicher Subjektivität verleihen dem imaginären Modus des Kinos in der narrativen Zurichtung aktueller Widersprüche und vergangener Realitäten eine spezielle Funktion und Qualität. Auf dem Wege zu einer integralen und internationalen Geschichte des deutschen Films scheinen Konrad Wolf und seine Filme daher so etwas wie das fehlende Glied einer solchen Geschichte darzustellen und zugleich ein Werk, das nicht weniger herausfordernd und kontrovers ist als das jedes einzelnen jener (west-) deutschen Regisseure, die schon lange als Schlüsselfiguren anerkannt sind. Konrad Wolfs Werk in diesen Kanon einzubeziehen bedeutet auch, den die Politik und Theoretisierung des westdeutschen Kinos so stark prägenden ödipalen Bruch zu schließen, jene Generationslücke zwischen den vor 1920 geborenen Regisseuren (wie z.B. Kurt Hoffmann, Rolf Hansen und Veit Harlan, aber auch Helmut Käutner, Wolfgang Staudte und Bernhard Wicki) und den Regisseuren des Jungen und Neuen Deutschen Films, die Mitte der 1930er Jahre und in den 1940er Jahren geboren wurden (Kluge, Reitz, Syberberg, Wenders, Herzog und Fassbinder).
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Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bemerkenswert, dass nicht nur der 1925 geborene Konrad Wolf, sondern auch die meisten anderen Regisseure der sogenannten zweiten DEFA-Generation38 – Gerhard Klein (geb. 1920), Egon Günther (geb. 1927), Günter Reisch (geb. 1927), Heiner Carow (geb. 1929), Joachim Kunert (geb. 1929), Frank Vogel (geb. 1929), Ralf Kirsten (geb. 1930) und Konrad Petzold (geb. 1930) – zwischen 1920 und 1930 geboren wurden und damit eine Generation darstellen, die im westdeutschen Film nahezu vollständig fehlt. Abschließend soll noch einmal kurz auf die Konstellation Fassbinder/Wolf eingegangen werden, an deren Beispiel sich einige der hier angerissenen Themen engführen lassen. In dieser Konstellation kommt dem Jahr 1982, Zeitpunkt des verfrühten Todes beider Filmemacher, besondere Bedeutung zu, markiert es doch zugleich eines der Schlüsseldaten, um die herum eine integrale Geschichte des deutschen Nachkriegskinos sich – im Blick zurück wie im Blick voraus – zu konstituieren hätte. Die Anziehungskraft, die von dieser Koinzidenz der Sterbedaten ausgeht, ist freilich die einer perfekten Symmetrie, die eine ganze Reihe von Asymmetrien überdeckt. Denn nicht weniger vielsagend als die Parallelen zwischen den Filmen Wolfs und Fassbinders ist die Gedenkkultur, die um die beiden verstorbenen Regisseursikonen aufgekommen ist und die 1992 zu einer reichlich asymmetrisch anmutenden Balance zwischen dem Rückblick auf Fassbinder »zehn Jahre danach« und den Veranstaltungen aus gleichem Anlass zum Gedenken an Konrad Wolf geführt hat: Während Fassbinder mit einer groß angelegten Ausstellung am Alexanderplatz, zahlreichen Buchpublikationen und umfassenden Werkschauen in Programmkinos und auf mehreren Fernsehkanälen gefeiert wurde, würdigte man Konrad Wolf in nur einer Handvoll Zeitungsartikeln, vereinzelten Filmaufführungen und einem eher beschaulichen Gedenkabend in der früheren Ostberliner Akademie der Künste. 39
38 Vgl. a. Byg, Barton: »Generational Conflict and Historical Continuity in GDR Film«, in: Murray, Bruce A./Wickham, Christopher J. (Hg.), Framing the Past. The Historiography of German Cinema and Television, Carbondale/Edwardsville: Southern Illinois University Press 1992, S. 202-212. 39 Vgl. den Bericht in Hochmuth, Dietmar: »Würde eines Gesinnungstäters. Vor zehn Jahren starb Konrad Wolf«, in: Freitag 12 (1992). Wie still die Gedenkveranstaltung vonstatten gegangen sein muss, geht auch daraus
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Es ließe sich jedoch eine Perspektive auf die Filmemacher der DDR und der Bundesrepublik – und somit auf den deutschen Nachkriegsfilm insgesamt – einnehmen, von der aus weniger jene ganz offensichtlichen politisch und historisch asymmetrischen Symmetrien ins Auge fallen, sondern vielmehr beide Traditionen symptomatisch verzerrt, wenn nicht gar anamorphotisch und anachronistisch entstellt erscheinen. Zugegeben, Fassbinder und Wolf stehen für zwei unterschiedliche Versionen nationaler Geschichte (die allerdings beide gleich weit von jeder offiziellen Version entfernt sind). Auf der einen Seite steht Fassbinders panoramatischer, an Balzac gemahnender Versuch einer kompletten gesellschaftlichen Darstellung vom 19. Jahrhundert bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, deren Fokus auf den (Überlebens-)Strategien des Einzelnen in der Auseinandersetzung mit den um ihn herum existierenden sozialen und zwischenmenschlichen Verhältnissen liegt – ein Kino der langfristigen Verschiebungen und historischen Kontinuität. Auf der anderen Seite steht bei Konrad Wolf eine Form der Retrospektive, die mit einer gewissen Besessenheit immer wieder an die gleichen Brüche heranzoomt (die NS-Machtergreifung 1933, den Zweiten Weltkrieg, die sogenannte »Stunde Null« von 1945), von denen jeder einzelne die Figuren in die Schwebe zwischen zwei Welten bringt, mit Situationen persönlicher »Traumatisierung« und politischer »Entscheidung« konfrontiert, wobei die Frage nach der übergreifenden Bedeutung dieser Momente historischer Diskontinuität bewusst offen gehalten wird. Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Unterschiede könnte ein veränderter Blick auf die kinematographischen Ausdrucksformen und divergierenden Imaginationen von Geschichte in einem erweiterten internationalen und intertextuellen Rahmen das filmische Erbe beider Regisseure und beider deutscher Staaten in einen produktiveren Dialog miteinander bringen. Nicht zuletzt verleiht eine solche Betrachtungsweise der Tatsache größeres Gewicht und präzisere Kontur, das der Neue Deutsche Film und der DEFAFilm zumindest in einem Punkt übereinkommen: In ihrem Verschwin-
hervor, dass Margarethe von Trotta nur ein Jahr später ihre Dankesrede für den Konrad-Wolf-Preis mit dem Geständnis beginnen konnte, sie habe nie einen seiner Filme gesehen. Diese Anekdote ist übermittelt bei Schoenberner, Gerhard: »Filme von Konrad Wolf. Erinnerungen an einen deutschen Kommunisten«, in: Gabriela Seidel (Hg.), Deutschlandbilder. Eine Dokumentation, Berlin: Freunde der Deutschen Kinemathek 1997, S. 91.
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den aus den laufenden Kinoprogrammen wie aus den gegenwärtig geführten Debatten über den aktuellen deutschen Film, die scheinbar so leicht ohne jeden Bezug auf kulturelle Erinnerung und das Bewusstsein historischer Brüche auskommen. Angesichts dieses Umstands erscheint eine Neuverortung des Nachkriegsfilmschaffens in Ost und West umso dringender geboten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil es sich sehr wohl herausstellen mag, dass eine solche Neubestimmung sowohl eine Geschichte als auch eine Zukunft des deutschen Films überhaupt erst ermöglicht.
13 | Fremde Heimat Dokumentarische Poetik im Neuen Deutschen Film
»Das subjektive Leben gestaltet den Film und läßt ihn mit den großen Passaten des Imaginären dahintreiben. Was ist im Laufe dieser Reise aus der Objektivität eines Bildes geworden?« EDGAR MORIN: DER MENSCH UND DAS KINO
U NTERGRÜNDIGE G ESCHICHTE : G ENEALOGIE EINER B EWEGUNG Das auf einer Pressekonferenz der Oberhausener Kurzfilmtage am 28. Februar 1962 verlesene Manifest gilt als Gründungsurkunde des Jungen und in der Folge des Neuen Deutschen Films. Es war allerdings nicht das einzige Schriftstück, das zu diesem Anlass von jungen, um eine Erneuerung des bundesdeutschen Films bemühten Filmemachern öffentlich gemacht wurde. Als Beleg bereits existierender Ansätze zur Kenntnis gebracht wurde auch eine Auflistung von Kurz- und Dokumentarfilmen, die von Mitgliedern der Münchner »DOC 59 – Gruppe für Filmgestaltung« bis dahin fertig gestellt worden waren.1 Die DOC 59 hatte sich am 9. April 1959 in München auf Initiative von Haro Senft und Ferdinand Khittl gegründet. Ihr Ziel war es laut Satzung »zur Schaffung kulturell und künstlerisch wertvoller Filme beizutragen«.2 Zu den Gründungsmitgliedern des Vereins gehörten ne-
1
Mitteilung von Haro Senft.
2
Zitiert nach Jung, Fernand: »Das Kino der frühen Jahre. Herbert Vesely und die Filmavantgarde in der Bundesrepublik«, in: Jürgen Berger u.a.
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ben Senft und Khittl Petrus Schlömp, Heinz Furchner, Franz Josef Spieker, Bodo Blüthner, Wolf Wirth, Hans Posegga, Enno Patalas, Hans Loeper, Fritz Schwennicke und Herbert Thallmayer, später stießen Herbert Vesely, Raimond Ruehl, Wolfgang Urchs, Edgar Reitz und Alexander Kluge hinzu. Im Mittelpunkt der praktischen Arbeit der Gruppe standen monatliche Zusammenkünfte der Kurz- und Dokumentarfilmer zum Zwecke des »Gedanken- und Erfahrungsaustauschs« und der »gegenseitige[n] Kritik [...] zur Steigerung ihrer gestaltenden Arbeit«.3 Inhaltlich schlossen sich die filmkulturellen Reformbestrebungen der Gruppe an Vorstellungen an, die Vesely, Senft und Heiner Braun zwei Jahre zuvor in ihrem Manifest »Das dritte Programm« aus Unmut über die künstlerische Stagnation des deutschen Films formuliert hatten und in dem eine Reihe von Forderungen des Oberhausener Manifests von 1962 bereits vorweggenommen waren. Die DOC 59 fungierte als Forum, aus dem heraus sich thematische Setzungen, ästhetische Impulse und alternative Formen der Zusammenarbeit auf dem Gebiet des dokumentarischen und essayistischen Kurzfilms entwickelten, die Wilfried Berghahn später unter dem Etikett der »Münchner Schule« zusammengefasst hat. 4
(Red.), Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt a.M.: Deutsches Filmmuseum 1989, S. 327. 3
Ebd.
4
Berghahn, Wilfried: »Ansichten einer Gruppe«, in: Filmkritik 4 (April 1963), S. 156f.: »Die spiegelnde Fassade eines Hochhauses oder einer Wohnmaschine blendet auf: viel Glas, matt schimmernde Metallrahmen der Fenster, helle Betonflächen. In den nächsten Bildern: Betonpfeiler schmal in den Himmel aufragend, auch langgestreckte, bildfüllende Raster aus Glas und Stein; Kuben, Flächen, ineinandergeschachtelte Balkonwaben und wieder Glas. Unten ein einsamer Platz, leer, Betonplattenraster. Alles kühl, streng, kantig, aber auch schön, schön vor allem! Welcher deutsche Kurzfilm beginnt so? Unkundige werden glauben, so könne nur ein Auftragsfilm zum Ruhme des Bundes Deutscher Architekten anfangen. Gewitztere Zuschauer wissen jedoch bereits, wo sie ungefähr die Urheber des Films aufzusuchen haben. Sie registrieren Münchner Schule. […] Nähme man zu den Kindern und der immer wieder erneuerten Beschwörung der Wirtschaftswunder-Architektur noch ein halbes Dutzend weiterer Stereotypen hinzu, ließe sich ohne Anstrengung ein imaginärer Film erfinden, in dem alle tatsächlichen Werke der ›Münchener‹ enthalten wären. Eine
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Die Schnittmenge zwischen den Mitgliedern der DOC 59 und den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests ist naturgemäß groß, war dessen programmatischer Wortlaut doch nicht etwa erst am Rande der Kurzfilmtage entworfen, sondern in den Nächten vor Beginn des Festivals im China-Restaurant »Hongkong« in der Münchner Tengstraße, dem regelmäßigen Treffpunkt der DOC 59-Gruppe, »bis spät in den
sehr wesentliche Rolle in diesem Film würden Baukräne spielen, geschäftig drehende, aber mehr noch grafisch erstarrte: Filigran vor einem leeren Himmel. Dazu feine Stilleben aus Drähten, Masten, Röhrengestängen und jeder Art von Gitterwerk. Mindestens einmal würde in diesem Film eine Menschenmenge von oben aufgenommen worden sein, am besten am münchner Stachus, sodaß man den Eindruck bekäme, daß Ameisen über den Asphalt laufen. Auf jeden Fall würde in diesem Film eine Schaufensterpuppe zu sehen sein, auch ein Mädchen, das sich vor einem Spiegel oder einer Glasscheibe die Lippen anmalt. Wenn es ein Farbfilm ist, dürfte eine Verkehrsampel nicht fehlen. Auch Plakate würden eine große Rolle spielen, wobei solche der Textilbranche und der kosmetischen Industrie Vorrang genießen müßten. Eines von ihnen, am besten aber mehrere nebeneinander würden auf einer vergammelten alten Hauswand kleben und von Wind und Wetter bereits so heftig angenagt worden sein, daß die hübschen Mädchengesichter, die sie einstmals auf uns herunterstrahlen lassen sollten, bereits einen derangierten Eindruck hinterließen. Vergessen wir auch nicht die Hand, die an elektrischen Schaltern oder dem Zündschlüssel eines Autos manipuliert. Sind elektrische Geräte nicht in der Nähe, können sie durch die Hebel einer Espressomaschine oder Spielautomaten ersetzt werden. Die Tonseite wäre relativ einfach. Bedrohliche Situationen würden durch Elektronisches gekennzeichnet, das Normaldasein mit Musikfetzen aus dem Radio untermalt. (Zu diesem Zweck dreht man einmal langsam den Sucher über den Mittelwellenbereich.) Außerdem würde der Film Lautsprecherdurchsagen enthalten. (Dafür empfehlen sich Marktberichte, Sportreportagen und Werbefunk.) Unter Umständen können sie ersetzt werden durch Gesprächszitate nicht im Bild sichtbarer Personen.« Bemerkenswert an Berghahns rhetorisch pointierter Überblendung motivischer und ästhetischer Merkmale ist die Behauptung eines hier noch konkret erkennbaren Gruppenstils, der als solcher in das Themen- und Formenarsenal des Jungen Deutschen Films eingegangen ist, sich später jedoch in divergierende Personalstile auffächern sollte.
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Morgen hinein«5 ausgearbeitet worden. Angesichts der Tatsache, dass somit das Oberhausener Manifest selbst als direktes Produkt der Arbeit innerhalb der Gruppe DOC 59 gelten kann, muss die Asymmetrie des Stellenwerts beider Gruppen (wenn sich die Oberhausener überhaupt als solche bezeichnen lassen) im filmhistorischen Gedächtnis um so deutlicher ins Auge fallen. Die Beteiligten selbst haben in Texten und Gesprächen immer wieder darauf hingewiesen, dass die konkrete Zusammenarbeit und der regelmäßige Gedankenaustausch im Rahmen der DOC-59-Veranstaltungen mindestens ebenso wichtig, wenn nicht viel entscheidender für die Erneuerung des bundesdeutschen Films waren.6 So gesehen ist die Rede von den »Oberhausenern« im Grunde weniger zutreffend als das seinerzeit von skeptischen Kritikern ironisch verliehene Etikett der »Obermünchhausener«.7 Wenn, wie Alexander Kluge einmal nahe gelegt hat, neben der offiziellen Geschichte des Neuen Deutschen Films noch eine untergründige zu schreiben wäre,8 so fände sie hier einen ihrer möglichen Gegenstände. Dabei sind die Gründe für die weitgehende Vernachlässigung der DOC 59 und den von ihr ausgehenden Anregungen zu einem ästhetisch gestaltenden Umgang mit dokumentarischen Formen kennzeichnend.9 Sie ist zum einen der Tendenz geschuldet, Filmgeschichte
5
Rauh, Reinhold: Edgar Reitz. Film als Heimat, München: Heyne 1993, S. 70. Vgl. a. Lewandowski, Rainer: Die Oberhausener. Rekonstruktion einer Gruppe 1962-1982, Diekholzen: Verlag für Bühne & Film 1982, S. 177.
6
Edgar Reitz, in: Lewandowski: Die Oberhausener, a.a.O., S. 137: »Die Oberhausener Gruppe ist ja nicht in Oberhausen entstanden, sondern in München. Sich ›Oberhausener Gruppe‹ zu nennen, das war das Ergebnis der Ereignisse. Wir hätten uns genauso gut ›Münchner Gruppe‹ nennen können.« Vgl. z.B. auch die Aussagen von Heinz Furchner, Haro Senft und Herbert Vesely, ebd., S. 69ff., 175, 209.
7
Vgl. Koch, Krischan: Die Bedeutung des »Oberhausener Manifestes« für die Filmentwicklung in der BRD, Frankfurt a.M./Bern/New York: Peter Lang 1985, S. 68.
8
Kluge, Alexander: »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts«, in: Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste, München/Wien: Hanser 1980, S. 5.
9
Veselys AUTOBAHN (1957) und DIE STADT (1959/60) etwa weisen eine ganze Reihe charakteristischer Merkmale auf, mit denen die Gruppe in ihren Filmen auf die damals dominante, schematische Baukastenästhetik der Wochenschau (vgl. Enzensberger, Hans Magnus: »Scherbenwelt. Die Ana-
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als Suche nach Brüchen und Diskontinuitäten, Umschwüngen und Gegenbewegungen zu betreiben und somit als einen historischen Pendelschlag zu inszenieren, der über gleichzeitig-ungleichzeitige Parallelentwicklungen, graduelle ästhetische Verschiebungen und kontinuierlichen Wandel in der Mikrophysik filmischer Praxis hinwegzugehen pflegt. Zum anderen hat die in der Filmgeschichtsschreibung noch immer vorherrschende Spielfilmfixierung zu einer Fokussierung auf die ersten abendfüllenden Erzählfilme nach dem Oberhausener Manifest geführt, deren innovatives Formengut sich jedoch bereits vorgeprägt findet in einer Reihe von dokumentarischen bzw. semi-dokumentarischen Kurzfilmen der späten 1950er Jahre. Auch viele Mitglieder der DOC 59 werden Mitte der 1960er Jahre mit ihren ersten Spielfilmen bekannt, worüber die früheren Kurzfilmarbeiten in Vergessenheit geraten. »Es wird nicht allzu oft gewürdigt, dass fast jeder Spielfilmmacher der ersten und zweiten Generation nach Oberhausen als Dokumentarfilmer anfing«, hält Thomas Elsaesser in seiner – nicht nur in der Korrektur dieser retrospektiven Verzerrung – grundlegenden Studie zum Neuen Deutschen Film fest: »Wahr ist aber auch, dass sich die westdeutsche Spielfilmproduktion in 25 Jahren vor allem durch die Wiederentdeckung des Dokumentarfilms erneuert hat.« 10 Ausmachen lassen sich für Elsaesser die Fernwirkungen der Münchner Schule etwa bei Kluge, Herzog und Syberberg in deren »Vorliebe für die Do-
tomie der Wochenschau«, in: Einzelheiten I. Bewusstseins-Industrie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962, S. 106-133) anspielen, um sie in einen neuen essayistisch-dokumentarischen Gestus zu überführen. Eine Strategie, die sich noch in Hilmar Hoffmanns zeitgenössischer Einschätzung widerspiegelt, AUTOBAHN sei »vom Thema her verschenkt, optisch aber gelungen und dynamisch«. Hoffmann, Hilmar: »Eine Chronik des Kulturund Dokumentarfilms. VIII. Folge: Situation und Leistungen in der Bundesrepublik«, in: Filmforum 5 (Mai 1960), S. 3. DIE STADT ist aber auch ein zu Unrecht vergessener Berlin-Film, dessen angedeutete Spielhandlungen und aus Zeitungsannoncen, Werbeslogans und Theaterprogrammen als »gestellte Dialoge« zusammengesetzte Zitat-Collagen ihr visuelles Echo in einer Inszenierung von Blickmontagen zwischen Passanten, Filmplakaten und Schaufensterpuppen finden, die dem Konstruktivismus Dziga Vertovs näher steht als dem Walter Ruttmanns. 10 Elsaesser, Thomas: Der neue deutsche Film. Von seinen Anfängen bis zu den neunziger Jahren, München: Heyne 1994, S. 226f.
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kumentation von Exzentrikern, Eigenbrötlern oder naiv-bösartigen Finsterlingen, die sich in eigenen Fiktionen vergraben«.11
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Mit dem Verweis auf DOC 59 und Münchner Schule sind exemplarisch zwei wichtige Ausgangsimpulse des Jungen und Neuen Deutschen Films bezeichnet. Impliziert ist damit allerdings mehr als die rein filmhistorische Geste auf verschüttete Traditionen und übersehene Werkbestände. Sie sollen hier vielmehr als Anhaltspunkte für die Genealogie einer ästhetischen Subjektivität und (kultur-)politischen Haltung dienen, die sich mit Nachdruck auf dokumentarische Gestaltungsprinzipien beruft. Von ihnen ausgehend wäre grundsätzlicher zu fragen, welche Rolle der »dokumentarischen Neigung des Neuen Deutschen Films«12 zukommt und wie nachhaltig sie sich in einzelnen Personalstilen und über sie hinaus ausgewirkt hat. Elsaessers Kernthese lautet, dass der Neue Deutsche Film sich als stilistisch einheitliches filmhistorisches Phänomen nur mit Blick auf jene formalästhetischen Strategien begreifen lässt, mit denen »sich die Filme den Zuschauern zuzuwenden versucht haben«.13 Jenseits der identifikatorischen Adressierungsautomatik des kommerziellen Erzählkinos zeichnet sich für Elsaesser hinter den vielgestaltigen Versuchen, »den Zuschauer eher indirekt in die Handlung einzubeziehen«, ein gemeinsamer Gestus der ästhetischen Sondierung von Erwartungshaltungen und Erfahrungshorizonten des Publikums ab, aus dem heraus sich erklären lässt, »warum viele deutsche Filmemacher dazu tendierten, mit Erzählformen zu arbeiten, die mehr dem Dokumentarfilm und dem Essayfilm verbunden waren«.14 Zur Beschreibung dieser Tendenz hat Elsaesser – in Abgrenzung von einer generisch präformierten »Erfahrung des Kinos« – den Be-
11 Ebd., S. 234. 12 Ebd., S. 222. 13 Ebd., S. 17. 14 Ebd., S. 18.
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griff »Kino der Erfahrung« gewählt. Er zielt auf eine filmische Praxis, die sich nicht an ein spezielles Publikum richtet, sondern »auf besondere Dispositionen der Zuschauer, auf Formen der Rezeption, die weder mit der psychoanalytisch erklärbaren Schaulust identisch sind noch von ihr, wie im Sinn des Brechtschen oder auch formalistischen Begriffs ›Verfremdung‹, verschieden sind«.15 Damit ist ein erweiterter diskursiver Raum umrissen, dessen poetologisches Erkenntnisinteresse quer zur traditionellen Gattungsunterscheidung zwischen Spiel- und Dokumentarfilm in der beträchtlichen Spanne zwischen kommerziellen und avantgardistischen Realismuskonzeptionen sich auf die Erfahrung des Zuschauers richtet. In dieser Ausrichtung macht das Interesse am Neuen Deutschen Film als einem »Kino der Erfahrung« nicht bei den individuellen Signaturen und Selbstentwürfen der Regisseure als Autorenfilmer halt. Die Schlüsselkategorie der (ästhetischen16) Erfahrung als »Zeichen der potentiell fruchtbaren, aber auch frustrierenden Beziehung von Film, Filmemacher und Zuschauer« legt vielmehr ein »horizontales« Verständnis ihrer poetologischen Modelle nahe, in dem das Kino zu einem »integralen Bestandteil anderer Gebiete des öffentlichen Lebens wie auch der eigenen Erfahrung des Betrachters« wird.17 Der programmatische Begriff des »Autorenfilms« bezeichnet insofern keinen alternativen Stil oder problemorientierten Themenbereich, sondern ist in erster Linie als politisches Konzept zu verstehen.18 In dieser unter dem Sigel des Autorenfilms betriebenen Verschränkung des Ästhetischen mit dem (Gesellschafts-)Politischen ist wiederum das »Kino der Erfahrung« mit dem Dokumentarfilm als Gattung zwar nicht identisch, seinem Formprinzip der außerfilmischen Bezugnahme jedoch eng verbunden.19
15 Ebd., S. 222. 16 Gemäß dem primär poetologischen Erkenntnisinteresse ist hier eine ästhetisch verstandene Erfahrungsweise des Filmdokumentarischen gemeint, deren Verhältnis zum sozialwissenschaftlichen Begriff der Erfahrungsbildung erst noch genauer zu bestimmen wäre. Zu letzterem vgl. Schändlinger, Robert: Erfahrungsbilder. Visuelle Soziologie und dokumentarischer Film, Konstanz: UVK 1998. 17 Elsaesser: Der neue deutsche Film, S. 217f. 18 Ebd., S. 419. 19 Ebd., S. 226.
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Damit konturiert sich der dokumentarische Gestus als ästhetische Grundfigur des Neuen Deutschen Films »auf der Suche nach dem Zuschauer«.20 Wo immer dessen Protagonisten – von Senft, Kluge und Reitz zu Herzog und Wenders, so individuell verschieden die Umsetzungen im einzelnen auch ausgefallen sind – erprobte Dokumentarfilm-Prinzipien in ihre Spielfilme übernahmen, handelte es sich mit den Worten Elsaessers stets um eine »berechnete Politik« der Form, ging es »um die Moral, die einer bestimmten Zuwendung innewohnte«.21 In der Absicht, »die Authentizität des dokumentarischen Bildes zu erhalten und dennoch die metaphorischen Möglichkeiten einer Fiktion zu erreichen«,22 wurde die Aporie jeder strikten Gattungsunterscheidung zu jenem Ort, an dem die gesellschaftliche Utopie eines neuen Filmverständnisses greifen sollte. Zwar rechnete es, etwa bei Kluge, noch immer mit den hergebrachten Gattungskategorien, allerdings dienten ihm diese nicht mehr als normative Formvorgaben, sondern wurden als wirkungsästhetische Prägungen ins dekonstruktive Kalkül gezogen: »Ein Dokumentarfilm wird mit drei ›Kameras‹ gefilmt: der Kamera im technischen Sinn (1), dem Kopf des Filmemachers (2), dem Gattungskopf des Dokumentarfilm-Genres, fundiert aus der Zuschauererwartung, die sich auf Dokumentarfilm richtet (3)«.23 Hauptziel jedes filmischen Realismuskonzepts musste es dementsprechend sein, »um jeden Preis das Unterscheidungsvermögen zu produzieren«: »Es setzt die assoziative Methode voraus und ein organisiertes Erinnerungsvermögen. Umstrukturierung des sinnlichen Interesses zu einem sinnlich-vergesellschafteten, durch und durch analytischen ›zweiten Instinkt‹.«24 Gedacht ist das Dokumentarische hier als ästhetisches Differenzial in der »Produktion eines Erwartungshorizonts«, mit dem sich die Maßstäbe für die Inszenierung der Motive und die Authentizität ihrer Wahrnehmung erst einstellen.25 Es ist diese Produktion, die bei der Selbstreflexion der Filmemacher des Neuen Deutschen Films ins Zentrum rückt. Sie wird dem fil-
20 Ebd., S. 206. 21 Ebd., S. 112. 22 Ebd., S. 112f. 23 Kluge, Alexander: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 202. 24 Ebd., S. 217f. 25 Vgl. ebd., S. 219.
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mischen Herstellungsprozess als Fluchtpunkt eingeschrieben, auf den die ästhetische Komposition zuläuft. Den Varianten einer Poetik des Dokumentarischen im Neuen Deutschen Film, die im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden sollen, wird damit ein Gattungsverständnis zur Regel, das den Wahrhaftigkeitsanspruch des Nichtfiktionalen nicht als ontologisch gegebenen, sondern als vom ästhetischen Diskurs hervorzubringende Wahrnehmungsdifferenz auffasst. Entsprechend verschieben sich die Begriffe, unter denen die Spezifik des Dokumentarischen verhandelt wird: Authentizität wird (nicht nur bei Syberberg) zur Funktion ästhetischer Transparenz, Gesellschaftskritik (nicht nur bei Kluge) zur Funktion alternativer Erfahrungsangebote, Geschichtsdarstellung (nicht nur bei Reitz) zum Appell an das Erinnerungsvermögen der Zuschauer, Wirklichkeitsabbildung (nicht nur bei Bitomsky) zu einer Frage der Lesbarkeit der Bilder. Die Erkenntnis, dass »des Kinematographen oft zitierte ›dokumentarische Authentizität‹ nichts anderes [ist] als die hohe Stilisierung der Oper«,26 ist hier bereits zum Ausgangspunkt filmischer Praxis und zur Maxime ihrer angemessenen Rezeption geworden: »Der naive Umgang mit Dokumentation«, heißt es bei Kluge, »ist […] eine einzigartige Gelegenheit, Märchen zu erzählen«.27 Es gehört zur allgemeinen Charakteristik des europäischen Autorenfilms, dass sich seine wichtigsten Vertreter nicht nur mit ihren Filmen, sondern eben auch als Autoren mit kritischen und selbstreflexiven Texten an die Öffentlichkeit wenden. Zumindest mit Bezug auf das Autorenfilmkonzept des Neuen Deutschen Films ist dieser Sachverhalt aber nicht nur als Komponente eines individuellen Ausdrucksund Geltungsbedürfnisses zu betrachten, das sich schreibend, die eigene Praxis reflektierend seiner selbst versichert. Darüber hinaus gibt sich das Schreiben im Verständigungsprozess zwischen »Film, Filmemacher und Zuschauer« als ein dem dokumentarischen Aufklärungsgestus komplementärer Modus zu verstehen, der Transparenz schaffen, Haltungen explizit machen, Erwartungshorizonte produzieren soll. Insofern sind die hier skizzierten Poetiken des Dokumentarischen als dokumentarisch gedachte Poetiken Teil einer ästhetischen Praxis, bei der
26 Straschek, Günter Peter: Handbuch wider das Kino, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 10. 27 Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 202.
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die reflexive Formulierung zur spezifischen diskursiven Form gehört, die für den Autorenfilm als »Kino der Erfahrung« gefunden wurde.
R OHSTOFF ZUM E RFAHRUNGSAUSTAUSCH : S YBERBERG In den reichlich nostalgisch angehauchten Rückblicken auf die Blütezeit des Neuen Deutschen Films fiele der Name Hans Jürgen Syberberg kaum noch, stellte Bernd Kiefer 1993 in einer der wenigen fundierten deutschsprachigen Arbeiten zu dessen Filmästhetik fest. Dies, so Kiefer, sei durchaus erstaunlich, wurde Syberberg doch seinerzeit im Ausland – etwa von Susan Sontag, Michel Foucault und Alberto Moravia28 – als »der deutsche Filmemacher schlechthin« angesehen.29 Andererseits ist es durchaus erklärlich, hat sich das kontroverse Werk Syberbergs doch mit derselben Konsequenz, mit der es von deutschen Filmkritikern (nicht selten höhnisch) abgelehnt wurde, seinerseits aus den Spielplänen deutscher Kinos weitgehend verabschiedet und der Wiederverwertung im Fernsehen entzogen. Was für die bekannteren Hitler-, Parsifal- und Ludwig-Filme Syberbergs zutrifft, gilt in noch höherem Maße für sein dokumentarisches Frühwerk, das letztlich auch in Kiefers Untersuchung keine Beachtung findet. Ein genauerer Einblick in die filmästhetische Entwicklungsgeschichte Syberbergs ist damit bis heute verstellt. Einen eigenen Komplex dieses Frühwerks bilden die Arbeitsporträts zweier Ikonen des Weimarer Theaters, Bertolt Brecht und Fritz Kortner. Die Brecht-Filme – 1953 im Berliner Ensemble mit einer 8mm-Amateurkamera aufgenommen, 1971 bearbeitet, auf 35mm aufgeblasen, mit einem Kommentar von Hans Mayer versehen und unter dem Titel NACH MEINEM 30 LETZTEN UMZUG veröffentlicht – existieren als Videofassungen in ei-
28 Vgl. Sontag, Susan/Foucault, Michel/Moravia, Alberto u.a.: Syberbergs Hitler-Film, München/Wien: Hanser 1980. 29 Kiefer, Bernd: »Kulturmontage der Posthistoire. Zur Filmästhetik von Hans Jürgen Syberberg«, in: Horst Fritz (Hg.), Montage in Theater und Film, Tübingen, Basel: Francke 1993, S. 229. 30 Vgl. Syberberg, Hans Jürgen: »Aus der Zeit der letzten Unschuld«, in: Hans Jürgen Syberberg/Käthe Reichel/Egon Monk: Berliner Ensemble
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ner elektronischen Neubearbeitung, in der die an jene von Brecht so geschätzten Stummfilmgrotesken erinnernden filmischen Verfremdungseffekte in der doppelten technischen Transformation noch deutlicher hervortreten: Zum ungleichmäßigen Bewegungstempo und dem Einsatz von Zwischentiteln kommt nun noch das – für Syberbergs spätere Filme so zentrale – Element der Bildüberlagerung hinzu. Syberbergs 300-minütiger, filmisch schmerzhaft zurückgenommener, dabei aber um so dichter konzentrierter, nur von Zwischentiteln begleiteter Monolog Winifred Wagners von 1974, den Hilde Spiel einmal das große, von der Literatur schuldig gebliebene Zeitbild der letzten 60 Jahre nannte, ist nicht nur die unmittelbarste Annäherung an Wagner als jenem »Schlüsselkomplex«,31 um den nahezu sein gesamtes Werk kreist, sondern wohl auch die radikalste Einlösung seiner Dokumentarfilmästhetik. Die unbeirrbare Konsequenz, mit der sie im Rahmen eines ausgreifenden, mittlerweile aber medienpolitisch verschütteten Filmprojekts zur deutschen Kulturgeschichte umgesetzt wurde, lässt sich an diesen Filmen exemplarisch nachvollziehen. Aber nicht nur an ihnen. In SEX-BUSINESS MADE IN PASING (1969) begibt sich Syberberg vorderhand einmal nicht in die Abgründe der deutschen Seele, sondern dokumentiert deren Untiefen. Sechs Tage lang begleitet, befragt und beobachtet er mit seinem Kameramann Christian Blackwood den bayerischen Sexfilm-Produzenten Alois Brummer bei der Arbeit (Abb. 1): »Könnten Sie uns die Szene etwas erklären, was da gemacht wird?« – Brummer: Ja, das Mädchen spielt das Cowgirl. Hier dreht es sich ja, wie gesagt, um 7 Töchter der Gräfin. Dieses Mädchen wird vom Grafen Eder (Porno) verführt, wie ihr Verlobter nicht oder zu spät zurückkommt. Da gibt es an und für sich nichts zu sagen …«32
1953 – Syberberg filmt bei Brecht, Berlin: Alexander Verlag o.J. [1993], S. 97-116. 31 Elsaesser, Thomas: »Myth as the Phantasmagoria of History. H. J. Syberberg, Cinema and Representation«, in: New German Critique 24/25 (Herbst/Winter 1981/82), S. 117. 32 Syberberg, Hans Jürgen: »Das Kino als Puff«, in: Syberbergs Filmbuch, Frankfurt a.M.: Fischer 1979, S. 79.
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»So harmlos kommen die Dinge, die wir nicht ernst nehmen, bevor sie Markt und Meinung selbstverständlich beherrschen«, kommentierte Syberberg die Tage mit Brummer später.33
Abb. 1
Heute, da die innerfilmische Begegnung des (Pseudo-)Dokumentarischen mit dem (Pseudo-)Pornografischen zu den festen Bestandteilen des Reportage-Repertoires jedes Nachtmagazins im Privatfernsehen gehört, markiert Syberbergs im doppelten Wortsinne hintergründiger Film nolens volens den Beginn eines zunehmend von seinem Gegenstand vereinnahmten dokumentarischen Genres;34 in seiner Rhetorik und seinen verfremdenden Stilmitteln aber eben auch eine historische Differenz im Blick der Bilderproduktion durch sein Gegenüber auf sich selbst: Für den Zuschauer sei »alles klar und einsehbar gemacht«: »Alles in einer Woche aufgenommen, chronologisch geschnitten – mit
33 Ebd., S. 78f. 34 Elsaesser liest Syberbergs Film zudem als – allerdings misslungenen – Versuch einer Dekonstruktion der Dekonstruktion des Heimatfilm-Genres: »SEX-BUSINESS MADE IN PASING ist ein Film über eine doppelt falsche Fiktion: die Ausbeutung Bayerns durch den Heimatfilm und die Ausbeutung des Heimatfilms durch den deutschen Softporno.« Elsaesser: Der neue deutsche Film, S. 204.
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Zwischentiteln zur Anmerkung und Information über Statistisches und Situation des deutschen Films zur Zeit der Entstehung: 1969.«35 Syberbergs Film ist so nicht nur ein aufschlussreiches Dokument der »Geschäfte mit Film und Mädchen«36 Ende der 1960er Jahre, sondern auch Beispiel für eine in Absetzung von und Auseinandersetzung mit seinem Gegenstand entwickelte Ästhetik der Transparenz: »Der Filmmacher wird sich und seinem Objekt einen übersehbaren Raum und eine nachvollziehbare Zeit schaffen, worin sich seine Personen bewegen können. […] Der Zuschauer weiß, wo und unter welchen Bedingungen aufgenommen wurde und wann.«37
In Syberbergs früher dokumentarischer Porträtgalerie macht Alois Brummer neben Kortner, Brecht, Romy Schneider und Winifred Wagner auf den ersten Blick eine etwas absonderliche Figur. Es spricht für die Konsequenz von Syberbergs dokumentarischem Ansatz, dass sein Blick sich dabei nicht verändert, sondern auch hier das Geduldsspiel mit dem Porträtierten über die filmische Bloßstellung hinausgeht: »Die Kamera wird einfach aufgestellt, und die Person redet oder macht, und wenn es gut geht, also knifflig, dann hat er sie reingelegt, der Regisseur. Man muß wissen und akzeptieren, daß erst einmal alle Menschen vor der Kamera dazu neigen, sich zu verbergen mit Worten und Gesten. Dabei muß man sie lassen. Es wird ein Versteck- oder Suchspiel sein. Die Widersprüche ergeben dann ein Assoziationsgeflecht, mit dem der Zuschauer arbeiten kann.«38
Auf diese Weise wollte Syberberg seine Porträt-Serie »das Leben erzählend, ohne Fernseh-Interesse, als Archivgut unserer Geschichte«39 fortsetzen, unter anderem mit Henry Kahnweiler, Marlene Dietrich, Katia Mann, Oskar Kokoschka, Lotte Lenya, Walter Mehring, Lotte
35 Syberberg: »Das Kino als Puff«, S. 79. 36 Ebd. 37 Syberberg, Hans Jürgen: »Zuhören, Mitdenken, Dirigieren. Wie ich Dokumentarfilme drehe«, in: Syberbergs Filmbuch, S. 83. 38 Ebd., S. 82. 39 Syberberg, Hans Jürgen: Die freudlose Gesellschaft. Notizen aus dem letzten Jahr, München/Wien: Hanser 1981, S. 127.
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Eisner, Marta Feuchtwanger, Ernst Jünger, Anna Seghers, Carl Schmitt, Karl Popper, Erich Fried, Herbert Marcuse, Karl Böhm, Herbert Wehner, Alfred Kantorowicz, Lil Dagover, Rosa Albach-Retty, Ernst Busch, Douglas Sirk, Olga Tschechowa, der Witwe von Alban Berg, Wilhelm Hoegner und Karl Dönitz. Anfang der 1980er Jahre, als viele der Genannten bereits verstorben waren, musste er jedoch feststellen, dass an seinem Projekt eines filmischen »Nationalgedächtnisses« kein Interesse bestand, »nicht bei den großen Stiftungen, in Bonn, nicht in den Zeitungen, darüber zu diskutieren, zu ermuntern«.40 Zynisch verweist er in diesem Zusammenhang auf ein anderes, institutionell ungebrochen tradiertes Projekt, wobei nicht ganz deutlich wird, ob es von seinem fortgesetzt oder im Sinne eines Gegengedächtnisses in der Waage gehalten werden sollte: »Goebbels hatte 80 solche Portraits ohne Ansehen ihrer Parteizugehörigkeit herstellen lassen. Sie sind die einzigen jetzt im Bundesarchiv, außer dem über WW [Winifred Wagner, M.W.].«41 Vor dem Hintergrund von Syberbergs ehrgeizigem Unternehmen, den Makrokosmos einer Kultur am Mikrokosmos einer einzelnen, in dieser Kultur tätigen Figur darzustellen,42 erschließt sich der symptomatische Gehalt eines Films wie SEX-BUSINESS MADE IN PASING und eines Protagonisten wie Alois Brummer: »Um eine Epoche oder sonstige wichtige Ereignisse darzustellen«, so Syberberg, »kann es ergiebiger sein, das an einer Person, einem Haus, einer Reise, einer Straße oder einem Ort genau und übersichtlich zu demonstrieren, wenn Gegenstand und/oder Thema als Zentrum eines Spannungsfeldes gut gewählt sind.« Dazu sei es wichtig, »den Mikrokosmos feinnervig und ökonomisch zu organisieren. Je detaillierter und subjektiver hier gearbeitet wird, umso weiter greift alles hinaus«.43 Das trifft nicht nur auf Syberbergs frühe Dokumentarfilme zu, deren methodische und ästhetische Prämissen eben auch eingegangen sind in die Arbeit an HITLER, EIN FILM AUS DEUTSCHLAND (1977) und zum kontroversen Potenzial dieses Films beigetragen haben. Dabei setzt er gegen ein Denken in Gegensätzen von »Wenn-Dann oder Gut-
40 Ebd. 41 Ebd. 42 Syberberg, Hans Jürgen: »Non-Fiction-Filme«, in: Syberbergs Filmbuch, S. 56. 43 Ebd., S. 57.
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Böse, Weich-Hart« ein »dialektisches Programm«, das »Leben und Menschen« auch in Ambivalenzen und im »Spiel der Möglichkeiten […] umkreisen und auswägen und am Ende zur Diskussion stellen [wird], wobei die Wertung notwendig impliziert, aber sorgsam und nicht terroristisch agitiert wird«.44 In Syberbergs aus dem dokumentarischen Impuls heraus entwickeltem dialektischen Programm, das immer auch als dialogisches konzipiert ist, zeichnet sich somit eine werkgeschichtliche Kontinuität ab, die (neben dem Knotenpunkt Bayreuth) auch eine Brücke von Pasing zum Obersalzberg, von Brummer zu Hitler schlägt: »Vielleicht ist man erstaunt, daß gerade Trivialität aus der Provinz einer Münchner Vorstadt, vorgetragen in scheinbar harmloser Form, über Kultur derartige Auskünfte geben kann. Natürlich hätte ich gern eine Fernsehdiskussion nach der Sendung des Films gesehen. Denn der Film selbst ist nur ein ›Beitrag‹ zur notwendigen Dokumentensammlung in der augenblicklichen Krisensituation des Films. Er müßte ergänzt werden, er verlangt es geradezu, ist nur Rohstoff zum Erfahrungsaustausch über die heutige Ausbeutung des Publikums durch gezielte Volksverdummung. Jetzt wäre ein Film über Lümmelfilmhersteller und Heintje-Verkäufer fällig, und ich würde mir wünschen, einer nähme sich des sogenannten ›guten Unterhaltungsfilms‹ in Deutschland einmal dokumentarisch an.«45
P RINZIP DER V IELFALT , T HEORIE DES Z USAMMENHANGS : K LUGE UND DIE ANDEREN »Bundestagswahlen [...] gelten als öffentlich«, heißt es anspielungsreich im ersten Satz von Oskar Negts und Alexander Kluges mediensoziologischem Standardwerk Öffentlichkeit und Erfahrung.46 Acht
44 Syberberg, Hans Jürgen: »Noch einmal: Das Requiem als Film-System«, in: Syberbergs Filmbuch, S. 88. 45 Syberberg, Hans Jürgen: »Notizen zum Film« [1970], Archiv Arsenal – Institut für Film und Videokunst, Berlin. 46 Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 7.
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Jahre nach der Publikation dieses Buches machte sich Kluge in einer weiteren Gemeinschaftsarbeit zusammen mit Volker Schlöndorff, Stefan Aust und Alexander von Eschwege daran, dem Bundestagswahlkampf als öffentlichem Ereignis einen neuen, vielschichtigen kinematographischen Erfahrungshorizont zu erschließen: DER KANDIDAT, zwei Jahre nach dem heute noch ungleich bekannteren Gemeinschaftsfilm DEUTSCHLAND IM HERBST (1977) entstanden, ist die zweite große Kollektivproduktion des Neuen Deutschen Films, bei der sich abermals auf Anregung des Filmverlags der Autoren mehrere Filmemacher zusammenfanden, um zur aktuellen Situation der Bundesrepublik filmisch Stellung zu beziehen. In diesem Fall zur Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980. Während DEUTSCHLAND IM HERBST aus individuellen Beiträgen besteht, die als solche unter Kluges Signatur kenntlich bleiben, ist in DER KANDIDAT der Anteil der vier beteiligten Filmemacher lediglich aus den verschiedenen Herangehensweisen und Techniken zu ersehen, die der Film miteinander verbindet, ohne sie jedoch in einen Einklang bringen zu wollen und die Brüche und Widersprüche zwischen ihnen zu überdecken. »Jedes System hat Überhang in die anderen Systeme und verwirrt sie«, schrieb Ivan Nagel in der in dieser Hinsicht wohl scharfsinnigsten Besprechung des Films: »Der erzählende Rhythmus, der montierende Rhythmus, der szenische Rhythmus – sie stören einander oft beträchtlich. Solche Störungen als Absicht höherer Stufe zu entschuldigen wäre so unehrlich, wie der Film DER KANDIDAT ehrlich ist bis zur Selbstaufgabe. Das Bild von Deutschland im Winter hat er uns nicht gegeben; aber vielfaches Material zum Nachdenken.«47
Kluges assoziative Montage- und Collage-Handschrift – im gleichen Jahr in den Ulmer Dramaturgien als »Theorie des Zusammenhangs«48 von Montage, Authentizität und Realismus formuliert – tritt am deutlichsten im Anfangs- und Schlussteil des Films zutage, in denen hinter Biografie und Person des CSU-Kanzlerkandidaten ein größerer historischer, politischer und kultureller Horizont aufgerissen wird (Abb. 2-4). Auf konventionellere Weise prägen dokumentarische Reportagetechniken den Mittelteil des Films, der anhand von existierendem Archivma-
47 Nagel, Ivan: »Triumph der Angst«, in: Der Spiegel 17 (21.4.1980). 48 Kluge: Ulmer Dramaturgien, S. 97.
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terial die Karriere (und Skandale) des Franz Josef Strauß nachzeichnet. Für sie sind in erster Linie der Panorama-Redakteur Stefan Aust und der Dokumentarist (und spätere Spielfilmregisseur) Alexander von Eschwege verantwortlich. In den Passagen, in denen ein Charakterporträt des Menschen Franz Josef Strauß versucht wird, macht sich der geduldige und genaue Blick des soeben mit einem Oscar dekorierten Spielfilmregisseurs Volker Schlöndorff bemerkbar, der hinter die Maske des politischen Funktionsträgers dringen und abseits oder am Rande offizieller Wahlkampfauftritte die Untiefen in Rhetorik und Verhalten der öffentlichen Person – und ihrer Anhänger – sichtbar machen will. Die Produktion des Films, der sich nicht als Wahlkampfhilfe für Helmut Schmidts SPD, sondern als Ergänzung des Informationsangebots im Vorfeld der Bundestagswahl 1980 verstand, wurde vielfältig behindert. Schwerer als die Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen den Beteiligten selbst – die in ihren späteren Kommentaren zu diesem Film wiederholt zur Andeutung kommen49 – wog hier etwa die Weigerung der beiden öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ARD und ZDF, den Filmemachern Bild- und Tonmaterial zur Verfügung zu stellen, da, wie es hieß, man sich der ausgewogenen Verwendung dieses Materials nicht sicher sein konnte. Vor allem Aust und von Eschwege machten sich daher in internationalen Archiven auf die Suche nach geeignetem Material – ein Umstand, der den Film auch in dieser Hinsicht von der damaligen deutschen Fernsehberichterstattung über Strauß abhebt. Nicht nur bei der Produktion, auch beim Vertrieb des Films waren Widerstände zu überwinden. In Augsburg etwa sah sich die dortige SPD-Bezirksleitung genötigt, das kommunale Kino für zwei Wochen anzumieten und einen Vorführer aus München zu bestellen, da sich die dortigen Kinos geweigert hatten, den Film ins Programm zu nehmen. In Passau und anderen Städten Bayerns brachte der Filmverlag der Autoren aus ähnlichen Gründen einen Kleintransporter zum Einsatz, mit dem Vorführer, Projektor und Filmkopie zu eigens angemieteten Gaststätten für Einzelvorführungen transportiert wurden. Von der Filmbewertungsstelle wurde der Film nur mit ungewohnter Verzögerung prädikatisiert.
49 Vgl. Habernoll, Kurt: »Mann des Lächelns. Heikles Porträt: Interview mit den Dokumentaristen des Strauß-Films DER KANDIDAT«, in: Der Abend 92 (19.4.1980).
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Auf solche »deprimierenden Erfahrungen« angesprochen, kündigte Kluge an: »Ich werde sie mir merken, wie ein Elefant«.50 Und tatsächlich scheint er sie bei der weiteren Ausformulierung seines Öffentlichkeitsbegriffs wie auch bei seiner bis heute unermüdlichen »Guerilla«Tätigkeit im kommerziellen Fernsehen nicht vergessen zu haben.51 Letztlich profitierte jedoch auch DER KANDIDAT von der ereigniszentrierten öffentlichen Aufmerksamkeitslenkung: am 18. April 1980 mit 30 Kopien in bundesdeutschen Kinos gestartet, verzeichnete er bis Mitte Juli 1980 über eine Viertelmillion Zuschauer und Einnahmen in Höhe von knapp 2 Millionen DM. Er ist damit wohl – und dies trotz der vielfältigen Behinderungen und Widerstände – der erfolgreichste Dokumentarfilm, den der Neue Deutsche Film hervorgebracht hat. Gemeinsam war den beteiligten Filmemachern jedoch die Skepsis hinsichtlich der unmittelbaren politischen Einflussmöglichkeiten des Films auf das Stimmverhalten der Bürger. Mit den Worten: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Kino heutzutage Einfluß auf eine Wahl hat«, brachte etwa Alexander von Eschwege seine Zweifel zum Ausdruck. Davon unbenommen war jedoch das Vertrauen in die gesellschaftliche Kraft langfristiger Bewusstseinsveränderungen durch ästhetische Innovation: »Die Konzeption für diesen Film, gedrehtes und Archivmaterial nicht chronologisch aneinanderzureihen, sondern in historischen und aktuellen Bezug zu bringen, ist für einen Kinofilm nicht ganz neu, aber in Verbindung mit der Karriere von Franz Josef Strauß sehr interessant. Hinzu kommt, daß, außer über Hitler, in Deutschland noch nie ein Film über einen Politiker der letzten 50 Jahre gemacht worden ist. Nicht einmal einen Film über Adenauer hat es bisher gegeben, dafür einige über dem Alten Fritz.«52
50 Eder/Kluge: Ulmer Dramaturgien, S. 117. 51 Vgl. Schulte, Christian: »Fernsehen und Eigensinn«, in: Christian Schulte/Winfried Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 65-81. 52 Alexander von Eschwege, zitiert nach Hembus, Joe: Der deutsche Film kann gar nicht besser sein. Ein Pamphlet von gestern, eine Abrechnung von heute, München: Rogner & Bernhard 1981, S. 372.
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»Das Nichtverfilmte kritisiert das Verfilmte« hat Kluge diese Einforderung eines »Prinzips der Vielfalt«53 einmal genannt und damit den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Bewusstseinsproduktion und verändertem Produktionsbewusstsein gemeint. Für ihn fand darin »das Prinzip Kino« seine Utopie.54
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DES
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»Man erinnert sich nicht, man schreibt das Gedächtnis um.« Mit einem Satz aus Chris Markers SANS SOLEIL (1982) hat Edgar Reitz einmal umrissen, worin für ihn »der filmästhetische Kern des Dokumentarfilms und des Spielfilms zugleich« liege: In einer filmischen Gedächtnisarbeit, die das Erinnern nicht als Gegenteil, sondern als Kehrseite des Vergessens sichtbar werden lässt.55 Formuliert wird hier die Utopie einer ästhetischen Praxis, deren Geschichtsgehalt sich erst an der in Bild und Ton »umgeschriebenen« persönlichen Erfahrung der Vergangenheit kristallisiert. Ihr Entwurf beinhaltete schon zu Reitz’ Ulmer Zeit Mitte der 1960er Jahre die Aufhebung traditioneller Gattungsunterscheidungen im Konzept des »analytischen Films«, das eine Synthese von Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilm anstrebte: »Der analytische Film ist weder Propaganda für die bestehende, bekannte, noch für eine nichtbestehende ›heile Welt‹. Sein Engagement will nicht die Veränderung der bestehenden oder die Beseitigung einer unheilen Welt. Er zerlegt vielmehr die bestehende Welt in ihre Elemente, mit denen die Phantasie erst dann wieder etwas anfangen kann, wenn sie aus dem Zwang der Verhältnisse und Klischeevorstellungen gelöst werden.«56
53 Kluge, Alexander: »Das Nichtverfilmte kritisiert das Verfilmte« [1979], in: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. v. Christian Schulte, Berlin: Vorwerk 8 1999, S. 60f. 54 Vgl. Kluge, Alexander: »Die Utopie Film«, in: Alexander Kluge (Hg.), Bestandsaufnahme: Utopie Film, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1983, S. 443ff. 55 Reitz, Edgar: »Das Unsichtbare und der Film« [1983], in: Liebe zum Kino. Utopien und Gedanken zum Autorenfilm 1962-1983, Köln: Verlag Köln 78 o.J. [1984], S. 126f. 56 Reitz, Edgar: »Utopie Kino« [1963-65], in: Ebd., S. 18.
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Das gegen das kommerzielle »Kino der Zutaten«57 gerichtete »Kino der Autoren«, wie es von Reitz verstanden wird, ist der Ort, an dem sich Filmemacher und Publikum über ihre gemeinsamen historischen Erfahrungen austauschen können. Maßstab und Garant des Gelingens dieses Dialogs mit dem Zuschauer ist für Reitz die Identifikation des Filmautors mit seinem Stoff, die soweit zu gehen hat, dass »von einer autobiographischen Tendenz beim ›Kino der Autoren‹ gesprochen« werden kann.58 Ebenso wie das »spezifische Interesse des Zuschauers am Film [...] identisch [ist] mit seinem Interesse an sich selbst, an seinem eigenen Leben«,59 muss der Autorenfilmer von der »Menschlichkeit« seiner eigenen, »bescheidenen Erfahrung« ausgehen: »Wir verteidigen Phantasie gegen Programm, Vielfalt gegen Welterfolge, Einzelerfahrungen gegen ›relevante Stoffe‹, wir hängen an Werten wie ›Individualität‹, ›Einmaligkeit‹, ›Unabhängigkeit‹ und klammern uns an unsere Wurzeln in den Landschaften, den Familien, den Städten [...]. Wir inspirieren uns an Erlebnissen, die wir selber haben.«60
Kaum ein zweiter Filmemacher des Neuen Deutschen Films hat diesen autobiografischen Primat, den eigenen Erfahrungshaushalt in eine filmische Erinnerungslandschaft umzuarbeiten, in der sich eine kulturelle Gemeinschaft wiederfindet, so unbeirrt umgesetzt wie Edgar Reitz in seinen beiden Fernsehserien HEIMAT (1980-84) und DIE ZWEITE HEIMAT. CHRONIK EINER JUGEND (1992/93). Auf besondere Weise erhellt wird die von Reitz als Arbeits- und Kommunikationsutopie zwischen Filmautor und Publikum beschriebene Konstellation von Gedächtnis und Geschichte, persönlicher Erfahrung und kultureller Identität, gelebter Vergangenheit und filmischer Gegenwart aber auch in GESCHICHTEN AUS DEN HUNSRÜCKDÖRFERN, einem Dokumentarfilm, der im Schatten der ersten HEIMAT-Staffel gerne übersehen wird, im Hunsrück selbst aber »oft noch beliebter [ist] als das nachfolgende Hunsrück-Epos«.61
57 Ebd., S. 12. 58 Ebd., S. 14. 59 Reitz: Filmen außerhalb der professionellen Grenzen (1969). In: Ebd., S. 55f. 60 Edgar Reitz: Unabhängiger Film nach Holocaust? (1979). In: Ebd., S. 103. 61 Rauh: Edgar Reitz, a.a.O., S. 190.
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»Der Dokumentarfilm GESCHICHTEN AUS DEN HUNSRÜCKDÖRFERN zeigt die Leute, die dort leben, die die Heimat (noch) nicht verlassen haben. Die Serie wird zeigen, daß fast alle weggehen, die Heimat verlassen«, notierte Edgar Reitz nach Abschluss der Dreharbeiten zu diesem Film, der nicht nur Vorläufer der berühmteren Fiktion, sondern in vielerlei Hinsicht auch dessen dokumentarisches Alter Ego ist.62 Entstanden im November und Dezember 1980 – zwischen dem Ende der Arbeiten am Drehbuch und dem Beginn der Dreharbeiten zu HEIMAT – sind die geduldig und mit elegischem Unterton aufgezeichneten GESCHICHTEN AUS DEN HUNSRÜCKDÖRFERN mehr als filmische Vorarbeit: Sie bilden gewissermaßen den analytischen Humus, aus dem Reitz die Stoffe seiner HEIMAT-Serie gezogen hat, auch wenn in Reitz’ berühmteres Werk kaum eine Episode konkret übernommen wurde. Das dichte Geflecht aus Erzählungen, in denen Bergleute, Streckengeher, Schieferdachdecker, Gemmenschleifer, Waldarbeiter und Woppenrother Fußballvereinsveteranen von Krieg und Einmarsch der Amerikaner, Landschaft und Handwerk, Freizeit und Lokalmythologie berichten, kreuzt sich mit Gegenwartsbeobachtungen über die »Airbase Hahn« und den Klagen der angeschlossenen Animierdamen über die nachlassende »Konsumlust« der stationierten Soldaten bei gleichbleibender Lärmbelästigung. Karl Windmoser, Reitz’ einstiger Mentor, erzählt »Hunsrücker Stückle«, Anekdoten, die in den Landstrich eingelassen sind wie die Fossilien in den Bernstein, den die Bergarbeiter aus den Schächten zutage fördern. Historische Kontinuität entsteht hier »durch das lebendige Kontinuum der Personen«,63 deren Erfahrungen sich in einem Kaleidoskop von Erzählungen überliefern und stets »umschreiben«. Die chronologische Zeit wird aufgesprengt von der »magischen Existenz« der – wie die versteinerten Insekten – im Kameralicht aufscheinenden Gegenstände der Erinnerung und des Eingedenkens (Abb. 5-7). Als »Schlüssel zu meinem Werk« hat Reitz die GESCHICHTEN AUS DEN HUNS64 RÜCKDÖRFERN einmal bezeichnet, und tatsächlich konkretisiert sich
62 Reitz, Edgar: Drehort Heimat. Arbeitsnotizen und Zukunftsentwürfe, hg. v. Michael Töteberg, München: Verlag der Autoren 1993, S. 32. 63 Ebd., S. 55. 64 Edgar Reitz an Ulrich Gregor, 14. Januar 1982, Archiv Arsenal – Institut für Film und Videokunst, Berlin.
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nirgends in seinem Werk die Utopie filmischer Gedächtnisarbeit mit ähnlich unaufdringlicher Poesie. Der Film löst so ein, was der Morbacher Uhrmachersohn Reitz in einem »Die Kamera ist keine Uhr« überschriebenen Text aus dem Jahre 1979 als das besondere Vermögen des Mediums beschrieben hat, subjektive Zeiterfahrung gegenüber der Diktatur der Chronologie in ihr Recht zu setzen: »Der Film hat vieles gemeinsam mit unserer Fähigkeit, uns zu erinnern. Es ist nicht nur die Möglichkeit, Bilder und Ereignisse aufzubewahren, über die Vergänglichkeit hinweg zu retten, sondern auch die Möglichkeit, Gegenwart und Vergangenheit in einer Weise zu vermischen, daß sie sich durchdringen. [...] Alles, was wir beim Erzählen in die Hand nehmen, ist unzerstörbar, verlangt sein eigenes Leben, kann nicht einfach im Verlauf eines Films wieder verschwinden, nimmt eine magische Existenz an und ist stärker als der Wille des Erzählers. [...] Die Kamera ist ein Instrument der Magie. Sie entrückt die Dinge aus der Zeit, reißt ihre sinnliche Erscheinung aus der banalen Gegenwart heraus, macht sie verfügbar, gibt ihnen Überlebenschancen. [...] Jedes Lebewesen und jeder Gegenstand lebt in einer eigenen Zeit, und diese eigene Zeit fließt nicht kontinuierlich, sondern steht gelegentlich still, geht stockend voran, manchmal mit rasender Geschwindigkeit, also unregelmäßig.«65
Die Hunsrücker Bauern aber, notiert Reitz vier Jahre später, »brauchen keine Filme«: »Es scheint, daß sie ununterbrochen darin den Beweis für die Wahrheit ihrer Geschichten antreten, indem sie die Orte bezeichnen oder vorzeigen. [...] Sie leben mit den realen Beweisstücken ihrer Geschichten.«66 Zeigen und Erzählen, die beiden ästhetischen Grundfiguren des Kinos, stiften auch hier den gemeinsamen Erfahrungshorizont von Filmemacher und Publikum, der den Austausch zwischen Vergangenheit und Gegenwart für Reitz erst ermöglicht. Zwischen dem magischen Instrument Kamera und dem von ihm vor den Dingen zu erweisenden Respekt besteht allerdings ein unheimlicher Pakt: »Die Dinge aber sind [...] nicht tot. Sie rächen sich an uns.«67
65 In: Reitz: Liebe zum Kino, S. 106ff. 66 Reitz, Edgar: »Das Unsichtbare und der Film«, in: Ebd., S. 130. 67 Reitz: »Die Kamera ist keine Uhr«, S. 109.
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F REMDE H EIMAT : B ITOMSKY Beiden Facetten dieses dokumentarischen Pakts zwischen Filmemacher und Publikum, Film und Gegenstandswelt machen auch für Hartmut Bitomsky die Faszination der Gattung aus und führen ihn zu der Mutmaßung: »Vielleicht ist das Dokumentarische nichts als das Exil der Realität, ihre fremde Heimat«.68 Bitomskys filmisches Schaffen, das von den 1970er Jahren bis heute an die 40 Filme umfasst, kreist um die Vorstellung, dass das Dokumentarische an seinem Gegenstand zwangsläufig zum »Ausdruck einer Krise« wird, »weil das, was man als Realität bezeichnet, selber schon ein Gegenstand der Krise ist«: »Das Reale ist immer im Begriff der Auflösung, des Auseinanderbrechens und Umbrechens und Durchbrechens, Entfaltens, der Veränderung, des Entgleitens und des Übergangs. Der Begriff Realität selbst betrifft schon einen Gegenstand in einer Krise.«69 Den Erfahrungsmodus der ästhetischen Realität des Dokumentarischen, die dieser Begegnung zwischen Realitätsausschnitt und Kamera als neue und krisenhafte entspringt, nennt er »Ciné Trance«.70 Ihr Erkenntnisgehalt: »Nichts muß so sein, wie es ist«.71 In Abwandlung einer Formulierung von Michel Foucault über das Verhältnis zwischen Sprache und Malerei könnte man sagen, dass das Schreiben und das Filmen sich bei Hartmut Bitomsky, obgleich auf vielfältige Weise miteinander verschränkt, irreduzibel zueinander verhalten.72 »Über Filme schreiben ist eine Weise sie zu entziffern – das Zuschauen fortzusetzen und zugleich zu behalten«, so hat Bitomsky selbst in seiner Einleitung zum Reprint von Béla Balázs’ Der Geist des Films 1972 dieses Verhältnis einmal auf den Begriff gebracht: »Der Text kann sich nicht an die Stelle des Films setzen, wohl aber auf die
68 Bitomsky, Hartmut: »Die dokumentarische Welt«, in: Kinowahrheit, hg. v. Ilka Schaarschmidt, Berlin: Vorwerk 8 2003, 202-215, Zitat S. 212. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 209. 71 Ebd., S. 202. 72 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 38.
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Seite des Zuschauers schlagen.«73 Was hier über Balázs zu lesen ist, gilt nicht minder für den schreibenden Filmemacher und filmenden Autor Bitomsky: »Er löst sein theoretisches System nicht aus der Verkettung mit den Filmen heraus, und er wendet seinen Text, und damit dessen Leser, dem Film zu. […] seine Theorie verlässt nie das Stadium der Rezeption.«74 Traf dies bereits für Bitomskys theoretisch ambitionierten Versuch Die Röte des Rots von Technicolor. Kinorealität und Produktionswirklichkeit (1972) zu,75 so führen Bitomskys Essays und Kritiken das Schreiben als Verlängerung nicht nur des Rezeptionsakts, sondern auch der eigenen filmischen Produktion vor Augen. Neben einer Reihe von Texten über andere Filme und Filmemacher kreisen viele seiner Essays um die eigene Filmarbeit, sind als deren Fortsetzungen mit anderen Mitteln zu lesen: »Das Kino und der Tod« aus dem Jahre 1990 variiert Themen, die in Bitomskys gleichnamigen Film von 1988 eine andere Reflexionsebene gefunden haben; der Text »Schmutzige Wäsche« zeichnet ein Bild des größten deutschen Filmunternehmens, das Bitomskys Filmdokumentation über die Ufa (1992; 2. Fassung 1993) Modell gestanden haben könnte; der Essay »Der Kotflügel eines Mercedes-Benz« schreibt den Voice-Over-Kommentar zu DEUTSCHLANDBILDER (1983) fort, der Text »VW-Komplex« den des Films gleichen Titels. Das 2003 erstmals veröffentlichte Arbeitstagebuch zu Bitomskys Film B-52 (1997-2000) schließlich gibt nicht nur Aufschluss über Konzeption und Umsetzung eines Projekts, das mit dem Irak-Krieg zum Zeitpunkt seiner Publikation beklemmende Aktualität gewonnen hat.76 Die Notizen aus der Zeit zwischen Dezember 1995 und Dezember 2001 stellen in Reinform dar, was die anderen genannten Texte auch sind: Zeugnisse eines Filmemachers, der sich selbst bei der Arbeit zuschaut, der nicht weniger zum Zuschauer seiner eigenen Arbeiten wird wie der von Louis Lumière, Max Ophüls, Robert Bresson, Jean-
73 Bitomsky, Hartmut: »Der Abstand des Lesers zum Text und der Abstand des Textes zum Film«, in: Béla Balázs: Der Geist des Films, Frankfurt a.M.: Makol Verlag 1972, S. 8f. 74 Ebd., S. 10. 75 Bitomsky, Hartmut: Die Röte des Rots von Technicolor. Kinorealität und Produktionswirklichkeit, Neuwied/Darmstadt: Luchterhand 1972. 76 Bitomsky, Hartmut: »B-52 Arbeitsjournal«, in: Kinowahrheit, S. 232-278.
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Jean-Luc Godard, Marguerite Duras, Michael Cimino, Humphrey Jennings oder Peter Nestler, denen andere, teils kritische, zumeist aber die Bewegungen der Filme einfühlsam nachvollziehende Würdigungen gewidmet sind. Texte eines Filmemachers, der sich als Autor auf die Seite der Zuschauer schlägt. Es ist daher nur folgerichtig, dass Bitomsky in »Die dokumentarische Welt« – seiner bündigsten Äußerung zur Ästhetik der Gattung – von einem dreifachen Dialog spricht, in den der Dokumentarfilmer bei der Arbeit erstens mit seinem Publikum, zweitens mit den abgebildeten Dingen und drittens mit seinem künstlerischen Material verwickelt sei.77 In dieser von Bitomsky offen, dialogisch konzipierten Form der Gattung ist der Dokumentarfilm für ihn, wie er an anderer Stelle einmal auf die Frage, ob er sich nicht eher als Essayfilmer verstehe, angemerkt hat, immer ein brauchbarer Begriff geblieben, der sehr viele verschiedene Möglichkeiten abdecke, darunter auch die des Kompilationsfilms und die des Essayfilms, welcher gewissermaßen sein Sujet im Vollzug des Filmemachens erst erfindet.78 In diesem Sinne greifen Bitomskys Filme dort ein, wo Ereignisse sich zu Spuren einer Wirklichkeit verdichten, die ihrerseits als filmisch gegebene reflektierbar wird. Dokumentarfilm bedeutet hier immer auch, den eigenen Umgang des Mediums Film mit seinem Material zu dokumentieren, sich der Bedingungen des eigenen Tuns zu vergewissern, um der konventionalisierten Wahrnehmung ästhetische Widerstände entgegenstellen zu können. »Es hat nach dem Krieg keinen Bildersturz gegeben. Man pflegt die Bilder heute als Dokumente anzuschauen. Ein Bild ist die Maske des anderen«, heißt es in Hartmut Bitomskys Kommentar zu DEUTSCHLANDBILDER, einer Montage von Ausschnitten aus NS-Kulturfilmen, die ihrer Instrumentalisierung zu keiner Zeit entrinnen: [A]ls Dokumente werden sie mit einer doppelten Aufgabe betraut. Sie sollen belegen, wie der Faschismus wirklich gewesen ist, sie sollen sagen, was der Faschismus damals gesagt hat, die alte Botschaft noch einmal. Diesmal aber als Schreckensbotschaft. Und gleichzeitig haben sie gegen sich selbst auszusa-
77 Bitomsky: »Die dokumentarische Welt«, S. 203. 78 Vgl. Bromin, Theo: »Dem Kino das Wirkliche zurückgeben. Ein Interview mit Hartmut Bitomsky«, in: Hartmut Bitomsky. Retrospektive, München: Goethe-Institut 1997, S. 5.
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gen, wie man es mit Agenten macht, die übergelaufen und umgedreht worden sind.«79
Neben dem (Geschichts-)Panorama steht bei Bitomsky stets auch der Teilausschnitt – der Überbrückung dieser Distanz durch das formale Mittel des Zooms spricht er einen spezifisch »dokumentarischen Duktus« zu: »Es gehört zum Begriff der Dokumentation, dass das Dokumentierte unabhängig vom Dokumentierenden existiert: im Dokumentarfilm gibt es eine unverrückbare Distanz zwischen dem Geschehen, das gefilmt wird, und der Kamera, die das Geschehen filmt. Die Kamera selbst ist unbedeutend; die Bedeutung wird der Kamera vom Geschehen diktiert. Innerhalb dieser Distanz gibt es einige Variabilität für die Kamera: sie liegt zwischen der Authentizität des bedeutungsvollen Geschehens und der Intention der Kamera, das Geschehen nicht zu beeinflussen, aber seine Bedeutung angemessen zu erfassen und wiederzugeben. […] Der dokumentarische Zoom intendiert nichts, das die Authentizität des Gefilmten gefährden könnte. Diese Intention bringt der Zoom in den Spielfilm mit.«80
Ein seinerseits historisch gewordenes »Deutschlandbild« als Teil- und Momentaufnahme entwickelt etwa der nahezu unbekannt gebliebene Kurzfilm INFRASTRUKTUR BERLIN/WEST (1987), indem er die Orte jenseits der offiziellen Großstadtkultur aufsucht und kommentarlos ihre historische Beredsamkeit vor Augen führt. Auf diese Weise, so Bitomsky, sollte er »von Berlin handeln und ohne die deutsche Sprache auskommen. Wir suchten die Zonen auf, über die früher die Stadt versorgt wurde. Jetzt liegt dort Müll und Abfall. Der Müll ist bunt, die Farben schreien. Das Geschrei ersetzt die Sprache«.81
79 Bitomsky, Hartmut: »Der Kotflügel eines Mercedes-Benz«, in: Kinowahrheit, S. 43. 80 Bitomsky: Die Röte des Rots von Technicolor, S. 12f. 81 Zitiert nach: Hartmut Bitomsky. Filmemacher. Eine Werkschau, Programm-Leporello, Berlin: Ex Picturis o.J. [1991].
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Noch im Verzicht auf bestimmte Gestaltungsmittel ist die ästhetische Verfasstheit des dokumentierten Geschehens stets mitbedacht. Dies ist ein Gedanke, der dem Umgang mit historischem Filmmaterial (etwa in DEUTSCHLANDBILDER) ebenso zugrunde liegt wie der Produktion von zukünftigem. »Der künftige Dokumentarfilm wird sich ändern müssen, um zu überleben und neue Definitionen für sich zu erarbeiten haben«, schreibt Bitomsky über die Krise der Indexikalität in der dokumentarischen Welt an deren digitaler Wende: »Auf die Garantie einer Wahrheit, die auf der maschinellen Reproduktionstechnik der Kamera und des Filmmaterials fußt, wird er nicht länger bestehen können. Die Authentizität hat den Dokumentarfilm lange genug gefesselt, und Realität zu konsumieren statt zu produzieren, wird mehr denn je nicht genügen. Und es wird offenbar werden, daß die Realität auch des Dokumentarischen nicht jenseits der Bilder zu suchen ist, sondern in ihnen.«82
82 Bitomsky: »Die dokumentarische Welt«, S. 215.
14 | Bodenlose Resonanz Tom Tykwer, transnationale Ästhetik und das neue europäische Kino
Mitte der 1990er Jahre erschien mit Tom Tykwer ein Regisseur auf der Szene des deutschen Films, der von der Kritik selbst noch dort als singuläres Talent erkannt wurde, wo sie ihn in seinen ästhetischen Entwürfen letztlich scheitern sah; und der schon mit seinen ersten Regiearbeiten eine Fangemeinde um sich versammeln konnte, die ihm als »Kultregisseur« auch dorthin noch zu folgen bereit war, wo die von seinen Filmen erzählten Geschichten zunehmend banal anmuteten und dieser Eindruck immer weniger von der ihnen verliehenen filmischen Ausdrucksform (und dem entsprechenden Gefühl einer ästhetisch gesättigten Kinoerfahrung) wettgemacht zu werden schien. Von DIE TÖDLICHE MARIA (1993) und WINTERSCHLÄFER (1997) über LOLA RENNT (1998) und DER KRIEGER UND DIE KAISERIN (2000) zu HEAVEN (2002), THE PERFUME – THE STORY OF A MURDER (DAS PARFUM – DIE GESCHICHTE EINES MÖRDERS, 2006) und THE INTERNATIONAL (2009): Die Werkentwicklung seiner Spielfilme hat es sowohl den Kritikern als auch den ihm zugeneigten Teilen des deutschen Publikums nicht immer leicht gemacht, Tykwer die Treue zu halten.1 Viele halten sich noch heute lieber an die frühen Filme und deren Lust am spielerischen, dabei aber äußerst präzisen Umgang mit Genreversatzstücken, etwa des Horror- und Kammerspielfilms in DIE TÖDLICHE MARIA und des Melodramas in WINTERSCHLÄFER, den man mit
1
Für einen vor allem motivisch orientierten Werküberblick bis einschließlich HEAVEN vgl. Schuppach, Sandra: Tom Tykwer, Mainz: Bender 2004.
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dem Geniestreich von LOLA RENNT auf die Spitze getrieben sieht, dessen überragender Publikumserfolg sie ihm aber auch sogleich wieder abgebrochen zu haben schien. Was bisher auf LOLA RENNT folgte, bezeuge, so der Tenor, eine schleichende Preisgabe der besonderen filmischen Fantasie und inszenatorischen Signatur Tykwers an den Geschmack eines Massenpublikums, der zwischen Kunst und Kitsch, auf deren Grenze die Arbeiten des Regisseurs sich seither auf zunehmend prekäre Weise und unter steigender Absturzgefahr bewegten, bekanntlich nicht allzu trennscharf zu unterscheiden wisse. Die einstige Virtuosität wirkt auf viele Kritiker lediglich noch manieriert, der besondere filmische Reiz des Tykwerschen Inszenierungstalents zur Dekoration verkommen. Vom Ausverkauf an Hollywood ist die Rede. HEAVEN, THE PERFUME, THE INTERNATIONAL: Leicht lassen sich die Titel der jüngsten internationalen Koproduktionen Tykwers metaphorisch gegen ihren Regisseur wenden. Seinem Stil wäre in diesem Sinne jede Bodenhaftung – sprich: der Bezug zur eigenen persönlichen Vision und damit auch jede Verankerung in einem glaubwürdigen Stoff – verloren gegangen, er wirke abgehoben und aufgesetzt, auf unangenehme Weise »parfümiert«, hinterlasse hier und da lediglich noch vereinzelte cineastische Farbtupfer und Duftnoten. Und für viele der Enttäuschten stellt sich die Frage, ob Tom Tykwer – »the international« – überhaupt noch als Repräsentant des deutschen oder auch nur europäischen Gegenwartsfilms anzusprechen ist. Lässt man die Berechtigung des soeben paraphrasierten Bewertungsmusters einmal dahingestellt, so scheint an ihm doch zumindest eines überdeutlich zu werden: Dass die antithetisch konstruierten Gegensätze zwischen nationalem und internationalem Kino, die Gegenüberstellung von Autorenfilm und Genreästhetik, von konventionellem Mainstream und künstlerischem Gegenentwurf, die Unterscheidung in Inhalt und Form, die immer wieder eingeforderte Symmetrie zwischen Themenwahl und geeignetem filmischen Ausdruck für den sichtbarsten Teil des deutschen Gegenwartskinos im allgemeinen und insbesondere die Filme Tykwers keine Geltung beanspruchen können.
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V OM »K ONSENS -K INO « ZUR » TRANSNATIONALEN Ä STHETIK « Um diese Auflösungsbewegung hergebrachter kritischer und ästhetischer Maßstäbe im historischen Verlauf etwas genauer zu erfassen, ist es nützlich, sich an die Situation des deutschen Films zu Beginn der 1990er Jahre zu erinnern. Eric Rentschler hat die damals vorherrschende Tendenz unter den Begriff eines »Konsens-Kinos« gestellt. Er meint damit die Renaissance eines starzentrierten Unterhaltungskinos, das sich in bewusster Abwendung vom Autoren-Selbstverständnis und gesellschaftskritischen Realismusdiskurs des Neuen Deutschen Films der 1970er und 1980er Jahre rückhaltlos dem fragwürdigen Publikumsgeschmack des gesamtdeutschen Volkes verschrieben habe; und damit einen filmwirtschaftlichen Aufschwung des deutschen Films ausgelöst, der 1997 (also im Jahr vor LOLA RENNT) mit einem einheimischen Marktanteil deutscher Produktionen von 37 % seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte.2 Der Preis, der für den kommerziellen Erfolg von Regisseuren wie Rainer Kaufmann (mit STADTGESPRÄCH, 1995, und DIE APOTHEKERIN, 1997), Sönke Wortmann (mit DER BEWEGTE MANN, 1994, und DAS SUPERWEIB, 1996), Katja von Garnier (mit ABGESCHMINKT, 1993, und BANDITS, 1997), Joseph Vilsmaier (mit STALINGRAD, 1992, und COMEDIAN HARMONISTS, 1997), Helmut Dietl (mit SCHTONK, 1992, und ROSSINI, 1996) oder Detlev Buck (mit WIR KÖNNEN AUCH ANDERS, 1993, und MÄNNERPENSION, 1996) zu entrichten war, bestand, so Rentschlers Verdikt, in filmformaler Konfektionsware, politischer Anbiederung an den Common Sense und der Inszenierung von PseudoIdentitätskrisen ohne Tiefgang und gesellschaftliche Konsequenzen: »no depth of despair, no true suffering, no real joy«,3 wie Rentschler schreibt, und weiter: »the cardinal sins for this ›Joystick-Generation‹ were ›reflection‹ and ›commitment‹ [...] Instead of German tales of martyrdom and suffering, the New Cinema of Consensus offers tableaux of mobile young professionals, who play
2
Vgl. Rentschler, Eric: »From the New German Cinema to the Post-wall Cinema of Consensus«, in: Mette Hjort/Scott MacKenzie (Hg.), Cinema & Nation, London/New York: Routledge 2000, S. 260-277, hier 260.
3
Ebd., S. 263.
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with possibility and flirt with difference, living in the present and worrying about their future, juggling careers, relationships and lifestyles.« 4
Was sich am Beispiel der Wiedervereinigungs- und Beziehungskomödien von GO, TRABI, GO (1990, Regie: Peter Timm) und MANTA, MANTA (1991, Regie: Wolfgang Büld) bis zu MÄNNERPENSION, DAS SUPERWEIB und DER BEWEGTE MANN, aber auch in Filmen mit explizitem Geschichtsbezug wie Vilsmaiers RAMA DAMA (1990), STALINGRAD und COMEDIAN HARMONISTS oder Dietls SCHTONK mit einigem guten Willen zumindest thematisch noch als eine Wendung verstehen ließ, die der deutsche Film als dezidiert »nationales« Kino einer neuen »Normalität« der »Berliner Republik« (Jürgen Habermas) genommen hat, trug in sich bereits die ersten Anzeichen einer unaufhaltsamen Zersetzung des Nationalen: Rentschler weist darauf hin, dass viele der kommerziell an einheimischen Kinokassen erfolgreichsten Filme – darunter ABGESCHMINKT, STADTGESPRÄCH, DER BEWEGTE MANN und KNOCKIN’ ON HEAVEN’S DOOR (1997, Regie: Thomas Jahn) – ihren Erfolg nur mithilfe der fünf großen US-amerikanischen Verleihfirmen (Warner, UIP, Columbia, Buena Vista, Fox) erzielen konnten.5 Nimmt man diesen Hinweis auf, so lässt sich eine kontinuierliche Linie ziehen zwischen dem vermeintlich noch national definierten »Konsens-Kino« zu einem zweiten, nur scheinbar konkurrierenden Paradigma, mit dem die übergreifende Entwicklung des deutschen Films nach 1990 beschrieben worden ist: der bewussten Ausformung einer »transnationalen Ästhetik« im Zeitalter eines global organisierten, zumindest aber europäisch und transatlantisch operierenden, Produktions- und Verleihsystems. Vor dem Hintergrund des Übergangs von einem staatlich subventionierten Filmförderungssystem zu einem privatwirtschaftlich finanzierten hat Randall Halle überzeugend dargelegt, dass die daraus resultierende »transnationale Ästhetik« deutscher Spielfilmproduktionen weder gleichbedeutend ist mit der Nivellierung nationaler und kultureller Differenz noch zwangsläufig zu einer Verarmung der filmsprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten führt. Ganz im Gegenteil experimentierten für einen internationalen Markt hergestellte Filme weitaus
4
Ebd., S. 270ff.
5
Ebd., S. 269.
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bewusster mit unterschiedlichen Erzählformen und filmischen Gestaltungsmöglichkeiten, um kulturell bzw. inter-kulturell spezifische Themen zu verhandeln.6 Folgt man dieser Argumentation, so ist die Mischung von Genreversatzstücken und Formelementen aus der Tradition des deutschen und europäischen Autorenfilms in diesem Zusammenhang bezeichnend für eine neue Form von Autorschaft, deren Stilverständnis sich nicht mehr ohne weiteres gegen den Design-Charakter ihrer Produkte im medialen Verwertungszusammenhang ausspielen lässt.7 Auf ganz ähnliche Weise hat Rosalind Galt im Anschluss an Überlegungen Thomas Elsaessers für die Herausbildung eines »neuen europäischen Kinos« seit 1990 reklamiert, dass eine nachgewachsene Generation von Regisseuren wie Lars von Trier, Pedro Almodovar oder eben Tom Tykwer die alte Scheu der Autorenfilmer vor »schönen«, d.h. Genuss versprechenden Bildern und spektakulären Inszenierungen abgelegt habe, wodurch die Unterscheidung zwischen Genreästhetik und »realistischem« Gegenkino längst porös geworden sei, ohne deshalb sogleich im vagen Begriff der Postmoderne aufzugehen.8 Letzteres vor allem deshalb nicht, weil die jeweilige Amalgamierung von Genreanlehnung und Autorenstil an sich bereits schon das Produkt konkret zu bestimmender historischer und filmhistorischer Konstellationen ist, als solche beschreibbar bleibt und sich der kritischen Reflexion anbietet. Im neuen europäischen Kino, so Galt, kehrt Geschichte als spezifische ästhetische Konfiguration wieder, womit auch das künstlerische Anliegen der genannten Regisseure nicht mehr zu verwechseln ist mit dem Anspruch des »alten« europäischen Autorenkinos auf einen in die Gesellschaft unmittelbar hineinwirkenden kritischen Realismus.
6
Halle, Randall: German Cinema After Germany. Toward a Transnational Aesthetic, Urbana/Chicago: University of Illinois Press 2008.
7
Vgl. Garwood, Ian: »The Autorenfilm in Contemporary German Cinema«, in: Tim Bergfelder/Erica Carter/Deniz Göktürk (Hg.), The German Cinema Book, London: BFI Publishing 2002, S. 202-210.
8
Galt, Rosalind: The New European Cinema. Redrawing the Map, New York: Columbia University Press 2006. Vgl. a. Elsaesser, Thomas: European Cinema. Face to Face with Hollywood, Amsterdam: Amsterdam University Press 2005.
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Das Interesse der Regisseure gelte vielmehr der Mobilisierung eines in seiner filmischen Bedingtheit annoncierten Bildes von Geschichte, oder auch: eines in seiner ästhetischen Verfasstheit historisch identifizierbaren kinematographischen Bildes der Welt, in und an dem sich persönliche Geschichten noch erzählen und ins Bild setzen lassen – Geschichten, die deshalb nicht zufällig bevorzugt eben von Erfahrungen des Ichverlusts und verstellten Weltzugängen handeln. Aber eben nicht mehr dadurch, dass die lebensweltlich gegebene Wahrnehmung von Raum und Zeit in irgendeiner Weise »realistisch« simuliert und gespiegelt würde, sondern gerade indem diese Spiegelung selbst in der ästhetischen Bearbeitung vielfältig gestört und verstört wird, damit aber erst Sichtbarkeit und Aussagekraft erlangt. In diesem Sinne hat auch Gertrud Koch speziell die Filme Lars von Triers und Tom Tykwers vor dem Vorwurf in Schutz zu nehmen versucht, sie hätten ihren Anspruch auf künstlerische Autorschaft zugunsten einer unheiligen Allianz von filmischem Stilwillen und religiösem Kitsch aufgegeben, angesichts einer globalen, jeden Film rücksichtslos kommerzialisierenden Film- und Medienindustrie, der sie zuletzt immer zu dienen hätten. Wie Rosalind Galt die Integration »schöner«, spektakulärer, im Sinne von: pathetisch-piktorialer Bildkompositionen, so versteht Koch die Wiederkehr religiöser Motivik und Ikonografie in den Filmen Lars von Triers und Tom Tykwers stattdessen als Antwort auf eine tief greifende ästhetische Krise des europäischen Kinos. Die Frage, die sie aufwirft, ist folgende: Ob nämlich die Geschichten, die Tykwer und von Trier erzählen, »einfach nur Geschichten [sind] über Leute mit starken mystischen Überzeugungen, die wahr werden, oder sind diese neuen wundersamen Märchen dazu da, um unseren Glauben an das Kino selber zu stärken, an jene magische, wundervolle Maschine, die uns unseren Glauben an die Welt zurückgeben soll?«9
Der Schlüssel zum Verständnis eines Films wie Tykwers DER KRIEGER UND DIE KAISERIN ist für Koch der Begriff der »Konversion« bzw. »Bekehrung«, der zugleich ein ästhetisches Verfahren und eine Form
9
Koch, Gertrud: »Katholischer Piktorialismus. Religion als Stil bei Lars von Trier und Tom Tykwer«, in: Gerhard Johann Lischka/Peter Weibel (Hg.), Das Regime des Image. Zwischen mimischem Display und Corporate Branding, Bern: Benteli Verlag 2003, S.155-169, hier 156f.
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der Zuschaueransprache bezeichnet. In beiden seiner Bedeutungen wendet er sich gegen die durchgreifende Ironisierung, mit der die Postmoderne auf die Krise des Erzählens reagiert hat. Für Koch manifestiert sich die filmische Begabung, die Tykwer hier unter Beweis stellt, nicht darin, dass DER KRIEGER UND DIE KAISERIN die Geschichte einer Bekehrung (zur Liebe) erzählt. Sie besteht vielmehr in der Fähigkeit, in seinen Filmen diese Konversionsbewegung der Bekehrung selbst zum ästhetischen Prinzip zu erheben. Daher ihr Vorschlag, Tykwers Filme als »die formale Konversion von einem Bild in das andere zu sehen und damit vielleicht eine Erzählung über das Kino selbst«.10 Die auffällige Präsenz religiöser Motive im neueren europäischen Kino sollte mithin weder als eine rein zufällige Häufung noch als etwas im buchstäblichen Sinne zu Verstehendes betrachtet werden. Vielmehr dienen diese Motive als Katalysatoren für einen kinematographischen Stil, dessen vorrangige Funktion es ist, uns die Macht, mit der das Kino uns an ästhetische Illusionen glauben lässt, in einer Form vor Augen zu führen, die eine rein ideologische Antwort auf ein wie auch immer geartetes epistemologisches Problem weit übersteigt. Tykwers (und Lars von Triers sowie des neuen europäischen Films insgesamt) vermeintlicher »Katholizismus«, wie er in religiösen Motiven zum Vorschein kommt, so führt Koch ihren Gedanken zu Ende, ist nichts anderes als der »Träger eines kinematographischen Stils [...], mit dem noch einmal die Macht des Glaubens an die ästhetische Illusion des Films beschworen wird. [...] ›Katholizismus‹ ist hier der Name für einen piktorialen Stil. Ein Stil, der es ermöglicht in Bildern zu leben«.11
10 Ebd., S. 166. 11 Ebd., 167f. Vgl. auch die überarbeitete englische Fassung des Aufsatzes, in der dieser Gesichtspunkt noch deutlicher ausgeführt ist. Koch, Gertrud: »Catholic Pictorialism. Religion as Style in the Films of Lars von Trier and Tom Tykwer«, in: Stephan K. Schindler/Lutz Koepnick (Hg.), The Cosmopolitan Screen. German Cinema and the Global Imaginary, 1945 to the Present, Ann Arbor: The University of Michigan Press 2007, S. 225-234.
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Kehrt man aus dieser Perspektive des Übergangs von der nationalen Allegorie eines dezidiert a-politischen »Konsens-Kinos« in den Anfangsjahren des wiedervereinigten Deutschland zur Herausbildung einer »transnationalen Ästhetik« im deutschen und europäischen Film um die Jahrtausendwende zur Betrachtung der Rolle zurück, die Tom Tykwer und seine Filme in dieser historischen Konstellation gespielt haben, so lässt sich seine gerade in ihren inneren Spannungen und Widersprüchen symptomatische Position genauer bestimmen. Als Tykwer im Juli 1994 – ein Jahr nach seinem Spielfilmdebüt – in Berlin gemeinsam mit seinen Regiekollegen Wolfgang Becker und Dani Levy sowie dem Produzenten Stefan Arndt die Produktionsfirma »X-Filme Creative Pool« gründete, richteten sie sich programmatisch gegen das vorherrschende »Konsens-Kino«, das zu diesem Zeitpunkt allerdings gerade erst dabei war, sich auch kommerziell im großen Stil durchzusetzen. Wolfgang Becker bezeichnete den Zeitpunkt der Gründung von X-Filme als »den absoluten Tiefpunkt des deutschen Films, 12 sowohl was den Marktanteil als auch die Inhalte betraf«. Stefan Arndt hat die Ausgangssituation wie folgt beschrieben: »Wir sind nicht auf der deutschen Komödienwelle mitgeschwommen oder haben Remakes von deutschen Filmen hergestellt. Wir suchen authentische Stoffe, die in Deutschland spielen oder mit Deutschland zu tun haben, aber international funktionieren. Ziel ist ein anspruchsvolles Independent-Autorenkino, das eher in der Tradition der amerikanischen Independents liegt.«13
Anschaulich umreißen die ursprünglichen Zielsetzungen der beteiligten Filmemacher den Spagat, der hier versucht wurde: authentische – was wohl heißt: lebensnahe – in Deutschland angesiedelte Stoffe, die dennoch in einem filmischen Idiom gehalten sind, mit dem ein internationales Publikum angesprochen werden kann. Damit war ein Konzept formuliert, das sich in den ersten Produktionen der Firma allerdings noch keineswegs erfüllte. Obwohl Achtungserfolge bei der Kritik, konnten sich weder Levys STILLE NACHT (1996) noch Beckers DAS
12 Zitiert nach Töteberg, Michael (Hg.): Szenenwechsel. Momentaufnahmen des jungen deutschen Films, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 40 13 Zitiert nach ebd., S. 41.
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LEBEN IST EINE BAUSTELLE (1997, nach einem gemeinsam mit Tykwer verfassten Buch) noch Tykwers WINTERSCHLÄFER an den Kinokassen, geschweige denn den ausländischen, in einem Maß behaupten, wie es für das Überleben der Firma notwendig gewesen wäre. Es ist bekannt, dass Tykwer LOLA RENNT in dieser Situation unter dem expliziten Vorsatz gemacht hat, dass der Film vor allem eines werden müsse: ein kommerzieller Erfolg. Dass ihm dies – auch im Ausland – derart überragend gelungen ist, hat das gewagte Konzept einer kreativen Kooperation von Filmemachern gerettet und Tykwer selbst zum (auch international) am meisten gefragten jungen Regisseur des deutschen Films gemacht. De facto bedeutete der Erfolg von LOLA RENNT aber auch den unmittelbaren Anschluss an die Vorjahreserfolge von Unterhaltungsfilmen wie DAS SUPERWEIB, ROSSINI oder MÄNNERPENSION, deren massenhaften Zuspruch beim deutschen Publikum LOLA RENNT nahtlos fortsetzte. Es lässt sich darüber spekulieren, wie bewusst X-Filme in den Folgejahren in jene Genres und Publikumsschichten hineinzustoßen versuchte, die zuvor das »Konsens-Kino« besetzt hielt: Mit ABSOLUTE GIGANTEN (1999, Regie: Sebastian Schipper) als Antwort auf KNOCKIN’ ON HEAVEN’S DOOR; Connie Walthers MIT FEUER UND FLAMME (2001) oder Beckers GOOD BYE, LENIN (2003) als doppelte Antwort auf BANDITS, SONNENALLEE (1999, Regie: Leander Haussmann) und HELDEN WIE WIR (1999, Regie: Sebastian Peterson) bis hin zu Levys ALLES AUF ZUCKER (2005) und MEIN HITLER (2007) als verspätete Repliken auf SCHTONK und ROSSINI. Unabhängig vom jeweiligen Produktionskalkül und ästhetischen Anspruch der Filme ist jedenfalls festzuhalten, dass X-Filme das Konsens-Kino wenn nicht mit anderen Mitteln fortsetzte, dann doch zumindest um eine Palette ergänzte, die erprobte Stars und Genrerezepte aufnahm und in transponierter Form weiterführte. Ganz fraglos aber ist der Aspekt der transnationalen Publikumsaspirationen von LOLA RENNT beschleunigt worden, sodass bereits 1999 ein First-Look-Deal mit der amerikanischen Miramax geschlossen werden konnte, für die Tykwer 2002 dann HEAVEN gedreht hat. Aber auch Tykwers unmittelbar auf LOLA RENNT folgendes Spielfilmprojekt DER KRIEGER UND DIE KAISERIN, auf das er sich trotz mehrerer Angebote aus Hollywood zunächst zurückzog, stand schon unter dem Zeichen (und dem Druck) der Variation jener »transnationalen Ästhetik«, zu deren Vorreiter er nolens volens mit LOLA RENNT geworden war.
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So konsequent Tykwers weiterer Weg zum Regisseur hoch budgetierter, englischsprachiger Koproduktionen, weg von X-Filme und (mit THE PERFUME) hin zu Bernd Eichingers Constantin-Film bzw. (mit THE INTERNATIONAL) zum Studio Babelsberg im Rückblick auch erscheinen mag: Er ist doch gekennzeichnet von Brüchen, Pausen, Umwegen und zumindest einer existentiellen Schaffenskrise nach der Fertigstellung von HEAVEN im Jahre 2002.14 Aus dieser Krise führte Tykwer erst die Arbeit an dem Kurzfilm TRUE – zwischen 2002 und 2004 als Teil des Omnibus-Projekts PARIS, JE T’AIME (F/FL/CH 2006) entstanden – hinaus. Ein Werk, das trotz seiner nur gut 10 Minuten Länge und nicht nur wegen seiner werkbiografischen Scharnierfunktion so etwas wie ein Schlüsselfilm in Tykwers Oeuvre darstellt. Vielleicht gerade weil TRUE als Kurzfilm befreit ist vom Erzählbogen des langen Spielfilms stellt sich der typische Tykwer-Mix, jenes unmittelbar identifizierbare, aus dem charakteristischen Look und Sound hervorgehende Feeling, umso prägnanter ein. Das kurze, jedes Unterscheidungsvermögen zwischen Fantasie und Realität hintergehende und unterlaufende Spiel mit einer amour fou zwischen dem Blinden und der Fremden ist dabei auf allen Ebenen der Gestaltung gespickt mit Anspielungen und Selbstzitaten, der Film selbst so etwas wie eine kleine Enzyklopädie des Gesamtwerks von DIE TÖDLICHE MARIA und WINTERSCHLÄFER über LOLA RENNT und DER KRIEGER UND DIE KAISERIN bis hin zu HEAVEN. Die Paarung eines HollywoodStars (Natalie Portman) mit dem Darsteller des Blinden aus DER KRIEGER UND DIE KAISERIN (Melchior Beslon) schlägt den Bogen hin zu den transnationalen Produktionen, die noch kommen werden, auf die auch der Schauplatz (Paris) und die (französisch-englische) Mehrsprachigkeit des Films verweisen.
14 Als Umweg, wenn nicht gar verschlungene Rückkehr zu seinen Anfängen, lässt sich Tykwers bisher letztes Filmprojekt DREI (2010) auffassen, laut Produktionsmitteilung »ein tragikomischer Film über Liebe, Moral und Geschlechter im spätmodernen Deutschland der gemischten Gefühle. Hanna und Simon, beide Mitte 40, sind ein Paar in Berlin. Ohne das Wissen des jeweils anderen verlieben sie sich in den ebenso fremden wie faszinierenden Adam. Das Geheimnis belebt und verwirrt die Beziehungen zwischen den Liebenden.« Zitiert nach www.x-filme.de/html/neu_drei.htm, (Stand: 3.8.2010)
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A FFEKTIVE R ESONANZ , SINNLICHE E VIDENZ : Z UM B EISPIEL D ER K RIEGER UND DIE K AISERIN So leicht sich TRUE im Gesamtwerk verorten lässt, so schwer erschließt sich sein im Titel erhobener Wahrheitsanspruch. Welche Wahrheit, so muss man wohl fragen, kann sich in einem Film aussprechen, der vor Künstlichkeit und Selbstzitaten nur so strotzt und dessen eigentlicher Anlass die Inszenierung eines touristischen Klischees, Paris als Stadt der Liebe, darstellt? Im Anschluss an Gertrud Kochs vorhin skizzierte Überlegungen ist wohl davon auszugehen, dass eine andere Wahrheit gemeint ist als die metaphysische der »wahren Liebe«. Und es damit nicht um die Wahrheit des filmisch inszenierten Gegenstands oder einer filmisch zum Ausdruck gebrachten Idee geht, sondern um die Evidenz, die dem Kinematographischen als ästhetischer Präsentationsform immanent ist. Gertrud Koch hat sich bei Ihrem Versuch, die Filme Tykwers – und hier vor allem DER KRIEGER UND DIE KAISERIN – auf der Folie ästhetischer Immanenz zu lesen, auf Deleuzes paradoxes Theorem berufen, allein das Kino gebe uns unseren Glauben an die Welt zurück, allein im Kino werde die Welt als ontologische Gewissheit noch evident: »Das Band zwischen Mensch und Welt ist zerrissen. Folglich muss dieses Band zum Gegenstand des Glaubens werden: es ist das Unmögliche, das nicht anders als in einer Glaubenshaltung zurückkehren kann. Der Glaube richtet sich nicht an eine andere oder verwandelte Welt. Der Mensch ist in der Welt wie in einer rein optisch-akustischen Situation. [...] Allein der Glaube vermag den Menschen an das zurückzubinden, was er sieht und hört. Von daher ist es notwendig, daß das Kino nicht die Welt filmt, sondern den Glauben an die Welt, unser einziges Band. [...] Uns den Glauben an die Welt zurückzugeben – dies ist die Macht des modernen Kinos (wenn es kein schlechtes mehr ist).«15
Wenn im Folgenden ein Zugang zu DER KRIEGER UND DIE KAISERIN vorgeschlagen werden soll, der auf ganz ähnliche Weise davon ausgeht, dass in den kinematographischen Konversionsbewegungen, in der »Bekehrung von einem Bild zum andern«, der eigentliche Kern des ästhetischen Verfahrens liegt, so unter einer zweifachen Akzent-
15 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 224.
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verschiebung: Zum einen stelle ich die vielfältigen Phasierungen und Rhythmisierungen in den Mittelpunkt. Mit diesen entfaltet sich nicht nur das kinematographische Bild als unabgeschlossener Prozess des Visuellen und bekehrt in dieser Entfaltung das wahrnehmende Subjekt zum Kino und damit (mit Deleuze gedacht) zum Glauben an die Welt als Ort der (ästhetischen) Immanenz. In ihnen verbinden sich auch das Visuelle und das Akustische, das Hören und Vernehmen wie das Sehen, erst zu einer ästhetischen Präsenz, in der sich das Kinematographische konstituiert. Zum anderen stütze ich mich auf Überlegungen, die Jean-Luc Nancy an den Filmen Abbas Kiarostamis angestellt hat, was in diesem Zusammenhang und in Bezug auf Tykwer vielleicht zunächst befremden mag. Um diesem Befremden entgegenzuwirken, möchte ich nahe legen, Nancys Arbeit zur Evidenz des Filmischen bei Kiarostami (in der er sich über die akustische Dimension auf auffällige Weise ausschweigt) in Konjunktion mit einem anderen Text zu lesen, in dem es unter dem Begriff der »Resonanz« zentral um akustische Wahrnehmung als grundlegende Form von Welterfahrung geht: dem 2002, unmittelbar nach der Kiarostami-Arbeit entstandenen Essay »À l’écoute«.16 Nancy zufolge vollzieht sich die kinematographische Erzeugung von Evidenz auf drei Ebenen, die zugleich drei Formen von Präsenz herstellen: (1.) die Evidenz der Kunst an sich; (2.) die Evidenz des Bildes als etwas per definitionem Distinktem, von der Welt wie dem wahrnehmenden Subjekt geschiedenen; sowie (3.) die Evidenz der Zeitlichkeit von Bewegung.17 Die Leinwand, auf der dieses mit der Welt stets un-identische Bild erscheint, fungiert zugleich als eine Öffnung in der Welt und als eine Öffnung auf die Welt (bzw. das Reale) hin. Der Blick des Zuschauers, dem das Bild im Modus des respektvollen Schauens sich öffnet, verweist das Bild auf das wahrnehmende Subjekt, misst zugleich aber auch immer die Distanz zwischen Bild, Welt und Subjekt aus. In der Bewegtheit des Bildes schließlich, in der Transformation von Diskontinuität und Kontinuation, der Variation des doppelten Bezugs zur Welt und zum wahrnehmenden Subjekt, ver-
16 Nancy, Jean-Luc: Zum Gehör, aus dem Französischen von Esther von der Osten, Zürich/Berlin: Diaphanes 2010. 17 Nancy, Jean-Luc: Evidenz des Films. Abbas Kiarostami, Berlin: Brinkmann & Bose 2005.
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wandelt sich laut Nancy Repräsentation in Präsentation, in »Präsenz«. Wobei die entstehende Präsenz, wie Nancy klarstellt, nicht im Akt des Sehens begründet ist, sondern sich im Erscheinen einer plötzlichen Begegnung und der Entfaltung einer sinnlichen Intensität in der Zeit darbietet. In »À l’écoute« geht es um eine vierte Ebene der Evidenz und Form von Präsenz, die Nancy unter den Begriff der »Resonanz« fasst.18 In einer Fußnote gegen Ende des Essays benennt Nancy die konkreten kulturellen Verschiebungen, die ihn zu seinen Reflexionen veranlasst haben mögen. Er spricht hier von »den neuen rhythmischen Prägungen, die aus so vielen volkstümlichen Musiken hervorgegangen sind, bis zur digitalen Klangsynthese, über alle erdenklichen Techniken der Klangbearbeitungen (Sample, Remix usw.). Auch in dieser Hinsicht zieht ein Abstand zwischen dem Klanglichen und dem Visuellen die Aufmerksamkeit auf sich: Die Mutation der Bilder wahrt ihnen einen allgemeinen Charakter, den ich etwas zugespitzt den ›Tableaucharakter‹ nennen würde. Die klangliche Veränderung dagegen öffnet und gräbt in uns und um uns herum neue Höhlen, in denen das ›Musikalische‹ letztlich seine ›Figur‹, sein ›Gesicht‹ verliert (doch das Bildliche verliert es zum Beispiel in der Performanz). Andererseits bräuchte es eine besondere Erforschung der Klangwelt von Kino und Video und der Weise, in der dort Akustisches und Optisches einander gegenseitig affizieren«.19
Ohne diese Erforschung, wie im Kino »Akustisches und Optisches einander gegenseitig affizieren«, selbst schon zu leisten, bietet Nancys Essay in seiner Unterscheidung zwischen verschiedenen Modi der akustischen Wahrnehmung (dem Hören und dem Vernehmen), dem Visuellen als »Form« und dem Akustischen als »Kraft« doch vielfältige Anknüpfungspunkte für eine solche Erforschung. Sie ist zu denken
18 Nur am Rande sei vermerkt, dass der Begriff der Resonanz in Nancys Philosophie zunehmend an Bedeutung gewinnt und mehr und mehr dabei ist, zu einem gleichwertigen Konzept neben das des »Mit-Seins« und des »espacement« zu treten, auf denen seine Ontologie, Epistemologie und Ästhetik gründen. Eine exzellente Einführung in die Philosophie Nancys bietet James, Ian: The Fragmentary Demand. An Introduction to the Philosophy of Jean-Luc Nancy, Stanford: Stanford University Press 2006. 19 Nancy: Zum Gehör, S. 49.
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eben als eine Analyse der wechselseitigen ästhetischen Konversionsbewegung, in der, wenn man so will, das Bild unablässig zum Ton bekehrt wird und der Ton zum Bild; und sich, in leichter Abwandlung einer Formulierung Nancys, »die Wahrheit ›selbst‹ als Transivität und als unablässige Transition eines Kommen-und-Gehen«20 von Bild gewordenem Ton und Ton gewordenem Bild vernehmen lässt. Einer solchen Erforschung bieten sich nun wiederum die Filme Tykwers auf besondere Weise an. Nicht nur darin, dass er in den meisten seiner Filme neben der Regie und oft der Mitarbeit am Buch auch für die Musik verantwortlich zeichnet, die zu einer weiteren unverwechselbaren Signatur geworden ist. Eine Untersuchung der ästhetischen und affektiven Resonanzen in seinen Filmen, die nicht zufällig oft mit einer auf der Ton- und Bildebene deutlich akzentuierten mise en phase einsetzen, korrespondiert zudem mit einer modularen Vorgehensweise des Regisseurs, die nicht primär von einem fertigen Figurenentwurf oder Handlungskonflikt ausgeht, sondern von einer atmosphärischen Bildidee als einzelner affektiver Einheit, die es dann zu entfalten gilt. »Ausgangspunkt meiner Filme ist meist ein situativer Moment«, hat Tykwer auf die Frage, wie er die Geschichten zu seinen Filmen entwickle, einmal geantwortet, und diesen Ansatz wie folgt beschrieben: »Ein Bild, das aber noch nicht so konkret ist, sondern eher etwas von einem atmosphärischen Klimaraum hat. Das wird dann die Urzelle des Films. […] ich versuche, ein inneres Bild, das einen klimatischen Zustand skizziert, in eine kommunizierende Kunstform zu transformieren.«21
In Bezug auf die Szene mit Bodo und Sissi in der Gummizelle der Wuppertaler Psychiatrie aus DER KRIEGER UND DIE KAISERIN erklärt er in diesem Zusammenhang:
20 Ebd., S. 11. 21 Zitiert nach Kremski, Peter/Wulf, Reinhard: »›Als Künstler formuliert man über große Zeiträume, wenn nicht sogar sein Leben lang immer das gleiche‹. Werkstattgespräch mit Tom Tykwer«, in: Filmbulletin 229 (2000), S. 33-40, hier S. 33.
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»Auch die Musik hat in dieser Szene etwas Sphärisches und Psychedelisches, um das Innere eines Zustands, ein Im-Kopf-Sein zu beschreiben. Sie sollte nicht melodiös klingen, sondern eher wie eine Atmo oder wie ein Klangkörper sein, so als hörte man wie der Raum klingt, der in der Tat ein seelischer Raum ist. Diese Musik taucht übrigens immer dann auf, wenn die Grenzen fließend werden und das, was die Personen im Traum wahrnehmen, herüberschwappt in die Realität. Das sind Momente, in denen sich surreale Räume ihren Weg in die Wirklichkeit bahnen.«22
Die wenigsten Kritiker sind im Fall von DER KRIEGER UND DIE KAISEdem Regisseur auf diesem Weg gefolgt. Einige sahen, nach LOLA RENNT, nur »eine große Lähmung und Langsamkeit, die Tykwersche Trance, über Story und Figuren« fallen.23 Realistisch sei der Film lediglich in den Psychiatrie-Szenen,24 die Konstruktion im Ganzen bleibe »schleierhaft«, »das prätentiöse Spiel mit Zeichen und Bedeutungen« führe zu einer unnötigen Verrätselung der Geschichte, die »Allmachtsfantasie des Regisseurs« schließlich »zur degoutanten Publikumsverachtung, wenn uns Krieger und Kaiserin zwingen zu verstehen, was sie uns nicht sagen wollten«.25 Einmal mehr, so ein fester Topos der Kritik, komme »die Handlung [...] der visuellen Ebene nicht immer« hinterher.«26 »Entwickelt der Film wirklich Poesie«, fragt ein Kritiker, »oder wird ihm diese Poesie, je länger die Geschichte dauert, nicht auf manieristische Weise aufgezwungen?«27 Die Geschichte des traumatisch verwitweten ExRIN
22 Ebd. 23 Feldvoss, Marli: »Todesengel trifft Schutzengel. DER KRIEGER UND DIE KAISERIN – ein Film von Tom Tykwer«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 27.11.2000. 24 Vgl. Kersten, Heinz: »Bodo rennt«, in: Neues Deutschland vom 12.10. 2000. 25 Bühler, Philipp: »Schicksal und Zufallsspirale. Die Verrätselung der Langsamkeit: DER KRIEGER UND DIE KAISERIN von Tom Tykwer«, in: Berliner Zeitung vom 12.10.2000. 26 Zander, Peter: »Ob du willst oder nicht. Der neue Tom Tykwer: DER KRIEGER UND DIE KAISERIN mit Franka Potente«, in: Berliner Morgenpost vom 12.10.2000. 27 Koppold, Rupert: »Überirdische Langsamkeit«, in: Stuttgarter Zeitung vom 12.10.2000.
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Soldaten Bodo und der Psychiatrie-Schwester Sissi ließe sich doch auch mit bescheideneren Mitteln erzählen, als »Miniatur vom steinigen Weg zur Selbstfindung« à la ABSOLUTE GIGANTEN: »Das wäre«, so eine weitere kritische Stimme, »die ›angemessene Form‹ für eine ›kleine‹ Geschichte, und so haben wir im deutschen Kino seit langem diese Geschichten auch erzählt«.28 Von wenigen Ausnahmen abgesehen, kehrt in der Rezeption von DER KRIEGER UND DIE KAISERIN das bekannte Set an oppositionellen Ordnungskategorien von Nationalem und Universellem, Genrekino und Autorenstil, Genussversprechen und Reflexionsanspruch wieder, das nicht nur Form und Inhalt gegeneinander abwägt, sondern den Film auch auf den visuellen Umgang mit seinem Sujet reduziert. Es ist nun zugegebenermaßen nicht die Aufgabe der Filmkritik, sich in jeden Film bis in die kleinsten Verästelungen seiner Artikulation hineinzubegeben, um etwa Aufschluss über die Möglichkeiten des Welt- und Selbstzugangs zu gewinnen, die das Kino dem Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch gewähren mag. Und doch ist die Frage, aus denen heraus der Philosoph Nancy nach eben diesen Aufschlüssen sucht – und deren Relevanz für eine ästhetische Beschreibung von DER KRIEGER UND DIE KAISERIN jetzt an einigen Momenten des Films hervorgehoben werden soll – so schwierig nicht gestellt. Nancy fragt zu Beginn seines Essays »À l’écoute«: »Es scheint recht einfach eine klangliche Form – sogar eine Vision – zu evozieren, unter welchen Bedingungen aber könnte man von einem visuellen Geräusch sprechen?«29 Ins Kinematographische gewendet, eröffnen die Bedingungen, nach denen hier gefragt wird, die Möglichkeit einer Lektüre der Filme Tykwers, deren Gravitationspunkte jene Momente darstellen, in denen Präsenz (jenseits des repräsentierten Geschehens, aber auch an ihm) als ästhetische Erfahrung durch die wechselseitige Affizierung und Modulierung von Bild und Ton hergestellt wird. Von Nancy ausgehend, lässt sich diese Modulierung entlang der Transformationen verfolgen, der die grundlegende aristotelische Unterscheidung zwischen »Form« (bei Nancy Merkmal des Bildes und seiner visuellen Evidenz)
28 Rodek, Hans-Georg: »Das Ende falscher Bescheidenheit. Fantasie an die Macht: Tom Tykwers neuer Film DER KRIEGER UND DIE KAISERIN«, in: Die Welt vom 11.10.2000. 29 Nancy: Zum Gehör, S. 10.
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und »Kraft« (als Eigenschaft des Akustischen und dessen affektiver Resonanz) im audiovisuellen Zeitmedium des Films ausgesetzt ist. In der prononcierten mise en phase zu Beginn von DER KRIEGER UND DIE KAISERIN – den Schreien der Möwen, dem Rauschen der Wellen, dem Ticken des Weckers auf dem Schreibtisch, dem Surren der Briefbeförderungsmaschinen, aber auch in den Bewegungen der Figuren und dem Wechsel von einer Einstellung zur anderen – wird ein grundlegender zeitlicher Rhythmus und Resonanzraum im Schnittpunkt von Visuellem und Akustischem etabliert, der ähnlich rhythmisierte Expositionen etwa in LOLA RENNT oder HEAVEN variiert, zugleich aber auch ein ganz eigenes Gefüge raumzeitlicher und tonbildlicher Artikulation errichtet.30 Eingeführt wird hier im Wechselspiel von Punkt und Dauer, Ereignis und Struktur, Ton und Bild, Sehen und Hören, Blick und Berührung ein Modus kinematographischer Welterfahrung, der den handelnden Subjekten auf der Leinwand wie den wahrnehmenden Subjekten im Kino einen spezifischen Erfahrungshorizont vorgibt, vor dem der Prozess einer ästhetischen Transformationen sich vollziehen kann. An den Hauptfiguren des Films wird dies sogleich vorgeführt: Sowohl Sissi mit der Muschel am Ohr, in der sie das Geräusch ihres eigenen Körpers als Echo eines inneren Fantasiebildes vernimmt (Abb. 1) wie auch Bodo bei seinem Flugversuch auf der Autobahnbrücke, den der vertikale Kreisschwenk der Kamera als äußere Bewegung für eine innere Bewusstseinstätigkeit vollzieht (Abb. 2),31 sind als Figuren einer radikal exponierten Subjektivität inszeniert, die sich aus Resonanzen speist: Mit Nancy gesprochen, entsteht ein kinematographi-
30 Zur Funktion audiovisueller Rhythmisierung in LOLA RENNT vgl. Wedel, Michael: »Backbeat and Overlap. Time, Place, and Character Subjectivity in RUN LOLA RUN«, in: Warren Buckland (Hg.), Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema, West Sussex: Wiley-Blackwell 2009, S. 129-150. Zum Begriff der mise en phase und ihrer Funktion als Initiationsmodell des Filmanfangs vgl. Hartmann, Britta: Aller Anfang. Zur Initialphase des Spielfilms, Marburg: Schüren 2009, S. 256-275. 31 Zur Bedeutung kreisender Kamerabewegungen u.a. in Tykwers Filmen vgl. Mergenthaler, Volker: »Kreisfahrten. Überlegungen zum ästhetischen Potential eines filmischen Stilmittels«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 2 (2006), S. 269-286.
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scher Raum der Verweise, der »ganz allgemein als Raum eines Selbst oder eines Subjekts definiert werden kann«: »Ein Subjekt spürt sich: Das ist seine Eigenheit und seine Definition. Das heißt, es vernimmt sich, sieht sich, berührt sich, schmeckt sich usw. und es denkt oder repräsentiert sich, nähert und entfernt sich von sich selbst. Und somit spürt es sich immer ein ›Selbst‹ spüren, das sich entgeht oder sich verschanzt und anderswo widerhallt wie in/an sich, in einer Welt und im anderen.«32
Abb. 1
Abb. 2
Was im klassischen europäischen Autorenfilm (etwa bei Fellini, Antonioni oder Resnais) als mise en conscience auf die Verschränkung von realem und mentalem Geschehen zielte, kehrt bei Tykwer im Modus eines »fundamentalen Rhythmus des Affekts« wieder: als grundlegende Resonanz, ja, wie Nancy es formulieren würde, als »Resonanz als
32 Nancy: Zum Gehör, S. 17.
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Grund, als erste oder letzte Tiefe des ›Sinnes‹ (oder der Wahrheit) selbst«. 33
Abb. 3
Abb. 4
Abb. 5
An einigen wenigen Beispielen lässt sich verdeutlichen, was damit gemeint sein kann und wie sich diese grundlegende Resonanz in DER
33 Ebd., S. 13.
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KRIEGER UND DIE KAISERIN in der gegenseitigen Affizierung des Visuellen und des Akustischen, der beständigen Transformation von Form und Kraft, von visuellen Geräuschen und sonoren Bildern ästhetisch umgesetzt findet: So fällt in der Szene des Gesprächs zwischen dem Anstaltsleiter und Bodo auf, wie übersteuert das Geräusch des sprudelnden Mineralwassers auf dem Schreibtisch gegenüber den anderen Geräuschen der Szene ist (Abb. 3). Hervorgehoben wird in der Manipulation auf der Tonebene die subjektive Wahrnehmung Bodos, die durch eine Großaufnahme des Wasserglases (Abb. 4) im Rahmen einer Point-of-View-Konstruktion auch visuell gestaltet ist (Abb. 5).
Abb. 6
Abb. 7
Wir nehmen an dieser Stelle aber nicht nur eine optisch konnotierte Sinneswahrnehmung der Figur akustisch wahr, die Kadrierung der Einstellungsfolge paart unseren Blick auf Bodo zugleich mit dem Blick auf die in kleine Kästchen unterteilte Milchglasscheibe im Hintergrund, die, um die Motive des Wassers und des Glases, einen merkwürdigen figuralen Kontrapunkt zum Anblick der aufsteigenden Gasbläschen im Mineralwasser bildet. In diesem Geflecht von visuellen
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und akustischen, figuralen und motivischen Korrespondenzen und Analogien wird Bodos psychologisch scheinbar unmotivierter, angeblich durch eine physiologische Fehlfunktion ausgelöster Tränenausbruch zwar nicht erklärt. Als Form unmittelbar affektiver Resonanz ist er jedoch eingelassen in ein System ästhetischer und sinnlicher Korrespondenzen, die ihn als solchen evident erscheinen lassen. Die der ästhetischen Transformationsbewegung immanente Evidenz klärt sich jedoch vollständig erst in einer späteren Szene, wenn der Film das Muster von motivischen Entsprechungen und sinnlichen Resonanzen nochmals variiert. Was in der soeben beschriebenen Szenen noch zu hören war, kehrt als »visuelles Geräusch« in jenem Moment wieder, als Sissi und Bodo nach ihrem Sprung vom Dach der Anstalt sich unverhofft in einem Jenseits »immersiver Resonanz« wiederfinden (Abb. 6). Wie für Bodo die Milchglasscheibe im Hintergrund der Szene mit dem Wasserglas, so gibt es auch für die Sissi-Figur ein entsprechendes Pendant zu diesem späten Moment der ästhetischen Realisierung umfassender Resonanz, in dem das Bild seine Form aufzugeben scheint und die Kraft eines visuellen Geräuschs annimmt: In Sissis Zimmer, dessen Dekor eine präzise Beschreibung ihrer Innenwelt gibt, war eben diese umfassende Kraft der Resonanz noch »unbelebt« und in ihrer rein visuellen Form zum Bild erstarrt (Abb. 7).
S CHLÜSSE Es ist behauptet worden, der Erzählverlauf in Tykwers Filmen, auch der von DER KRIEGER UND DIE KAISERIN, würde letztlich einem festen Muster gehorchen, an dessen Ende seinen Figuren die Flucht aus den sie gefangen haltenden Umständen gelingt: In LOLA RENNT entkommen Manni und Lola schließlich mit einer Tüte voller Geld; in HEAVEN entziehen sich Philippa und Filipo dem Zugriff der Polizei mit dem Helikopter Richtung Himmel; in DER KRIEGER UND DIE KAISERIN langen Sissi und Bodo am Ende doch noch fern ihrer traumatischen Vergangenheit auf der idyllischen Insel an.34
34 Vgl. Schlipphacke, Heidi: »Melodrama’s Other. Entrapment and Escape in the Films of Tom Tykwer«, in: Camera Obscura 2 (2006), S. 108-143.
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Jenseits einer rein narrativen und repräsentationell gefassten Logik lassen sich die Schlusswendungen aber auch anders verstehen: Nicht als Flucht in die Utopie, sondern als finale Einkehr in die Medialität und Bekehrung der Figuren zum kinematographischen Bild. Auf dieser Ebene bleiben Manni und Lola im endlosen Intervall des letzten freeze frame für immer gefangen. Philippa und Filipo verschwinden nicht im Himmel, sondern lösen sich im Zentrum eines Bildes vom Himmel auf, das einen Moment später ebenso plötzlich kollabiert wie die Flugsimulator-Animation zu Beginn des Films. Die Fahrt von Sissi und Bodo schließlich führt sie an keinen anderen Ort ihrer Träume als in die fotografische Reproduktion hinein, die sie von ihm besitzen.35 Eine solche Lektüre der Schlusswendungen würde bestätigen, dass jede Metaphysik, die hier noch zu entdecken ist, in Tykwers Filmen auf unheimliche Weise mit der ästhetischen Immanenz des Kinos zur Deckung gebracht wird. Es ging mir in diesem Kapitel um dreierlei: Erstens, um die historische Einordnung der Filme Tykwers im Übergang von einem primär national definierten »Konsens-Kino« zur transnationalen Ästhetik eines »post-nationalen« oder »neuen europäischen Kinos«. Zu zeigen war, dass sich nicht nur die bisherige Werkentwicklung bei Tykwer, sondern viele ästhetische Eigenarten seiner Filme vor diesem Hintergrund zunächst einmal perspektivisch erfassen und teilweise auch erklären lassen. Zweitens ging es um eine genauere Beschreibung dieser ästhetischen Eigenarten selbst auf der Grundlage einer Bestimmung von Autorschaft, die sich nicht mehr in strikter Abgrenzung vom Unterhaltungskino begründet, sondern in Auseinandersetzung mit den ihm eigenen »Poetiken des Affekts« operiert. Dies mündete, drittens, in den Vorschlag eines analytischen Ansatzes, der sowohl den Besonderheiten von Tykwers Stil und Arbeitsweise als auch den kulturellen Voraussetzungen und ästhetischen Implikationen seiner Filme – im Hinblick auf eine andere Form von Subjektivität und kinematographischer Evidenz – Rechnung trägt.
35 Hinzufügen ließe sich auch noch Grenouille, der, in einer Schlussfigur nur scheinbar christlicher Epiphanie, am Ende von THE PERFUME von den Pariser Obdachlosen verspeist wird und dessen Körper sich im Bild vom Pariser Marktplatz, das den Bogen zurück zur ersten Einstellung des Films schlägt, verstreut.
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Im Ergebnis dieser drei Schritte kann vielleicht die Feststellung stehen, dass Tykwers Werk tatsächlich eine Art »kon-sensuellen Kinos« darstellt. Allerdings in dem Sinne, dass es sich hierbei um ein Kino handelt, das immer mit allen Sinnen rechnet und keinem einzelnen staatlichen Gebilde ohne weiteres noch als politische Allegorie dient. Ein Kino, das, wie andere Beispiele des aktuellen transnationalen oder europäischen Kinos auch, neue Gemeinschaften bildet und abbildet und sie aufeinander hin öffnet – und warum nicht auch mit Hollywood oder von Hollywood aus?
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Abbildungsverzeichnis
KAPITEL 1 Abb. 1-22:
KAPITEL 2 Abb. 1-2: Abb. 3-5:
Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8:
Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11:
Kaderausbelichtungen aus TITANIC. IN NACHT UND EIS (1912, Regie: Mime Misu, Kopie: Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Fotos: Marian Stefanowski)
W. Selke: »Photoskulptur« (1900), Schemazeichnungen François Willème: »Photosculpture« (1862), Schemazeichnung Atelier Willème, Reproduktion der Fotoskulptur mit dem Storchenschnabel, Atelier zur Serienproduktion von Fotoskulpturen Historische Darstellung von »Pepper’s Ghost«, um 1865 Oskar Messter: »Alabastra-Theater« (1910), Schematische Darstellung Kaderausbelichtung aus HILDE WARREN UND DER TOD (1917, Regie: Joe May, Kopie: Deutsches Filminstitut, Foto: Kristin Thompson) Historische Darstellung von Etienne-Gaspard Robertsons »Fantasmagorie«, 1840 Szenenfoto aus WEIHNACHTSGLOCKEN (1914, Regie: Franz Hofer, Kopie: Nederlands Filmmuseum) Kaderausbelichtung aus UNHEIMLICHE GESCHICHTE (1919, Regie: Richard Oswald, Kopie: Deutsches Filminstitut, Foto: Kristin Thompson)
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Abb. 12-13:
Abb. 14-17:
Abb. 18: Abb. 19:
KAPITEL 3 Abb. 1: KAPITEL 4 Abb. 1-2:
Abb. 3-4:
Abb. 5-6:
KAPITEL 5 Abb. 1-3:
Abb. 4:
KAPITEL 6 Abb. 1:
Kaderausbelichtungen aus RICHARD WAGNER (1913, Regie: Carl Froelich/William Wauer, Kopie: Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Fotos: Marian Stefanowski) Kaderausbelichtungen aus SO RÄCHT DIE SONNE (1915, Regie: William Wauer, Kopie: Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Fotos: Marian Stefanowski) Albert Bassermann in DR. SCHOTTE (1918, Regie: William Wauer). Zeitgenössische Starpostkarte William Wauer: »Albert Bassermann« (1918, Bronze, Höhe: 51,5 cm)
Hans Böhm: »Physiognomische Studien« (1914).
Kaderausbelichtungen aus DIRNENTRAGÖDIE (1927, Regie: Bruno Rahn, Kopie: Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin) Kaderausbelichtungen aus AFGRUNDEN (ABGRÜNDE, 1910, Regie: Urban Gad, Kopie: Det Danske Filminstitut, Kopenhagen) Kaderausbelichtungen aus VANINA (1922, Regie: Arthur von Gerlach, Kopie: Filmmuseum München)
Standbilder aus DER HAUPTMANN VON KÖPENICK (1931, Regie: Richard Oswald, Screenshots von DVD) Standbild aus ALRAUNE (1930, Regie: Richard Oswald, Screenshot von DVD)
Standbild aus ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (1930, Regie: Lewis Milestone, Screenshot von DVD)
A BBILDUNGSVERZEICHNIS
KAPITEL 7 Abb. 1-4:
KAPITEL 8 Abb. 1-6:
KAPITEL 9 Abb. 1-3, 5:
Abb. 4, 6-14:
KAPITEL 10 Abb. 1: Abb. 2-3:
Abb. 4: Abb. 5-7:
KAPITEL 12 Abb. 1:
Abb. 2-3:
Abb. 4:
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Standbilder aus FRAUEN SIND KEINE ENGEL (1943, Regie: Willi Forst, Screenshots aus der VHS-Sichtungskopie des Filmarchiv Austria)
Standbilder aus BEKENNTNISSE DES HOCHSTAPLERS FELIX KRULL (1957, Regie: Kurt Hoffmann, Screenshots von DVD)
Standbilder aus LE MÈPRIS (DIE VERACHTUNG, 1962, Regie: Jean-Luc Godard, Screenshots von DVD) Standbilder aus DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE (1960, Regie: Fritz Lang, Screenshots von DVD)
Standbild aus DER EINGEBILDETE KRANKE (ZDF 1964, Regie: Fritz Kortner) Standbilder aus DAS SPUKSCHLOSS IM SPESSART (1960, Regie: Kurt Hoffmann, Screenshots von DVD) Standbild aus DAS BOOT IST VOLL (1980/81, Regie: Markus Imhoof, Screenshot von DVD) Standbilder aus DER HIMMEL ÜBER BERLIN (1987, Regie: Wim Wenders, Screenshots von DVD)
Szenenfoto aus STERNE (1959, Regie: Konrad Wolf, Fotoarchiv Arsenal – Institut für Film und Videokunst, © DEFA-Stiftung/Werner Bergmann) Szenenfotos aus DER GETEILTE HIMMEL (1964, Regie: Konrad Wolf, Fotoarchiv Filmmuseum Potsdam, © DEFA-Stiftung/Werner Bergmann) Szenenfoto aus ICH WAR NEUNZEHN (1968, Regie: Konrad Wolf, Fotoarchiv Filmmuseum Potsdam, © DEFA-Stiftung/Werner Bergmann)
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Abb. 5:
KAPITEL 13 Abb. 1:
Abb. 2-4:
Abb. 5-7:
KAPITEL 14 Abb. 1-7:
Szenenfoto aus SOLO SUNNY (1980, Regie: Konrad Wolf, Fotoarchiv Arsenal – Institut für Film und Videokunst, © DEFA-Stiftung/Dieter Lück)
Produktionsfoto SEX-BUSINESS MADE IN PASING (1969, Regie: Hans Jürgen Syberberg, Fotoarchiv Arsenal – Institut für Film und Videokunst) Standbilder aus DER KANDIDAT (1980, Regie: Stefan Aust/Alexander von Eschwege/Volker Schlöndorff/Alexander Kluge, Screenshots von DVD) Standbilder aus GESCHICHTEN AUS DEN HUNSRÜCKDÖRFERN (1980-82, Regie: Edgar Reitz, Screenshots von DVD)
Standbilder aus DER KRIEGER UND DIE KAISERIN (2000, Regie: Tom Tykwer, Screenshots von DVD)
Dank / Drucknachweis
Die Kapitel dieses Buches sind über einen Zeitraum von knapp zehn Jahren entstanden. Sie bündeln Beobachtungen, Überlegungen und Forschungsergebnisse, die verschiedentlich auch schon in Zeitschriften und Sammelbänden zugänglich gemacht wurden. Alle Kapitel wurden für dieses Buch durchgesehen, überarbeitet und, wo nötig, aktualisiert. Mein Dank gilt allen Herausgebern der unten genannten Teilveröffentlichungen. Thomas Elsaesser danke ich für sein freundliches Einverständnis, das gemeinsam verfasste Kapitel 12 in das Buch aufzunehmen. An Peter Latta von der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen geht mein Dank für seine schnelle Hilfe bei der Auswahl der Umschlagabbildung. Der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« danke ich für den großzügig gewährten Druckkostenzuschuss, der die Publikation ermöglicht hat. Dank auch an Milena Gregor und Chris Wahl, die Teile des Manuskripts gelesen und kommentiert haben, sowie an Christine Jüchter, die das Buch von Verlagsseite umsichtig und verständnisvoll betreut hat. Eine frühere Version von Kapitel 1 ist unter dem Titel »Schiffbruch mit Zuschauer. Das Ereigniskino des Mime Misu« erschienen in: Thomas Elsaesser/Michael Wedel (Hg.), Kino der Kaiserzeit. Zwischen Tradition und Moderne, München: Edition text + kritik 2002, S. 97-154. Kapitel 2 erschien in kürzerer Form in englischer Sprache unter dem Titel »Sculpting with Light: Early Film Style, Stereoscopic Vision and the Idea of a ›Plastic Art in Motion‹« in: Annemone Ligensa/ Klaus Kreimeier (Hg.), Film 1900: Technology, Perception, Culture, New Barnet: John Libbey 2009, S. 201-223. Eine frühe Fassung von Kapitel 3 erschien erstmals unter dem Titel »Medium, Maske, Metapher. Albert Bassermann und DIE NÄCHTE DES
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CORNELIUS BROUWER«, in: FilmGeschichte 14 (September 2000), S. 29-34. In kürzerer Form ist Kapitel 4 erstmals unter dem Titel »Anstoß der Erregung. Zum Ausdrucks- und Wahrnehmungswandel um 1920« erschienen in: Heide Schlüpmann/Eric de Kuyper/Karola Gramann/ Sabine Nessel/Michael Wedel (Hg.), Unmögliche Liebe. Asta Nielsen, ihr Kino, Wien: Filmarchiv Austria 2009, S. 110-130. Kapitel 5 geht auf Material zurück, das in anderer Form verwendet wurde für den Aufsatz »Richard Oswald und der Tonfilm. Regiekonzepte, Produktionsstrategien, Genreentwicklungen 1930-1936«, in: Jürgen Kasten/Armin Loacker (Hg.), Richard Oswald. Kino zwischen Aufklärung, Spektakel und Unterhaltung, Wien: Verlag Filmarchiv Austria 2005, S. 317-369. Kapitel 6 erschien zuerst unter dem Titel »›A Universal Language‹ oder: Die unsichtbare Front. Die Tonfilmumstellung und die Marktstrategien der Universal in Deutschland 1929-1932«, in: Erika Wottrich (Hg.), Deutsche Universal. Transatlantische Verleih- und Produktionsstrategien eines Hollywood-Studios in den 20er und 30er Jahren, München: Edition text + kritik 2001, S. 44-69. Der Haupttitel dieses Kapitels ist identisch mit dem eines demnächst erscheinenden Aufsatzes, der im gleichen Zusammenhang anderen Fragestellungen nachgeht: »Risse im Erlebnis-System. Tonfilm, Synchronisation, Audiovision um 1930«, in: Thomas Macho/Christian Kassung (Hg.), Kulturtechniken der Synchronisation, München: Wilhelm Fink 2010. Eine kürzere Fassung von Kapitel 7 ist erschienen in: Filmarchiv 4 (2003), S. 30-37. Kapitel 8 erscheint zeitgleich in leicht veränderter Form unter dem Titel »›Was einem Filmmann so alles einfällt‹. Kurt Hoffmanns F ELIX KRULL«, in: Chris Wahl/Hans-Peter Reichmann (Hg.), Der Mann mit der leichten Hand. Kurt Hoffmann und seine Filme, München: Belleville 2010. Kapitel 9 ist erstmals erschienen in: Hermann Kappelhoff/Bernhard Groß/Daniel Illger (Hg.), Demokratisierung der Wahrnehmung? Das westeuropäische Nachkriegskino, Berlin: Vorwerk 8 2010, S. 177195. Kapitel 10 erschien erstmals unter dem Titel »Schutzengel der Geschichte. Curt Bois in Film und Fernsehen nach 1950«, in: Sabine Zolchow/Johanna Muschelknautz (Hg.), Ich mache alles mit den Beinen... Der Schauspieler Curt Bois, Berlin: Vorwerk 8 2001, S. 134-163.
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Kapitel 11 erschien zuerst unter dem Titel »Animationsfilm im geteilten Deutschland. Ansätze zu einer vergleichende Theoriegeschichte« in: Hans-Jörg Stiehler/Lothar Mikos (Hg.), Die Kunst des Betrachters. Jugendsoziologie, Kinderfilm und Medienkompetenz. Festschrift für Dieter Wiedemann, Leipzig: Universitätsverlag 2006, S. 61-77. Kapitel 12 wurde gemeinsam mit Thomas Elsaesser geschrieben und zuerst in englischer Sprache veröffentlicht. Es trug seinerzeit den Titel: »Defining DEFA’s Historical Imaginary. The Films of Konrad Wolf«, in: New German Critique 82 (2001), S. 3-24. Deutsch erstmals in: Michael Wedel/Elke Schieber (Hg.), Konrad Wolf – Werk und Wirkung, Berlin: Vistas 2009, S. 29-56. Kapitel 13 erschien als »Fremde Heimat. Zur Poetik des Dokumentarischen bei Syberberg, Kluge, Reitz und Bitomsky«, in: Malte Hagener/Johann N. Schmidt/Michael Wedel (Hg.), Die Spur durch den Spiegel. Der Film in der Kultur der Moderne, Berlin: Bertz 2004, S. 303-319. Kapitel 14 erscheint zeitgleich unter dem Titel »Bodenlose Resonanz. Tom Tykwer und die Evidenz der Sinne«, in: Tobias Ebbrecht/ Thomas Schick (Hg.), Kino in Bewegung. Analysen und Perspektiven zum aktuellen deutschen Film, Wiesbaden: VS Verlag 2010.
Film Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.) Identitäten in Bewegung Migration im Film März 2011, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1472-5
Dagmar Hoffmann (Hg.) Körperästhetiken Filmische Inszenierungen von Körperlichkeit August 2010, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1213-4
Gesche Joost Bild-Sprache Die audio-visuelle Rhetorik des Films 2008, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-923-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Film Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch Februar 2011, ca. 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1091-8
Annette Simonis Intermediales Spiel im Film Ästhetische Erfahrung zwischen Schrift, Bild und Musik Oktober 2010, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1520-3
Waltraud »Wara« Wende, Lars Koch (Hg.) Krisenkino Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm Juni 2010, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1135-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Film Joanna Barck Hin zum Film – Zurück zu den Bildern Tableaux Vivants: »Lebende Bilder« in Filmen von Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini 2008, 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-817-9
Maik Bozza, Michael Herrmann (Hg.) Schattenbilder – Lichtgestalten Das Kino von Fritz Lang und F.W. Murnau. Filmstudien 2009, 212 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1103-8
Catrin Corell Der Holocaust als Herausforderung für den Film Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie 2009, 520 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-89942-719-6
Daniel Fritsch Georg Simmel im Kino Die Soziologie des frühen Films und das Abenteuer der Moderne 2009, 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1315-5
Tina Hedwig Kaiser Aufnahmen der Durchquerung Das Transitorische im Film
Katrin Oltmann Remake | Premake Hollywoods romantische Komödien und ihre Gender-Diskurse, 1930-1960 2008, 356 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-700-4
Sebastian Richter Digitaler Realismus Zwischen Computeranimation und Live-Action. Die neue Bildästhetik in Spielfilmen 2008, 230 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-943-5
Elisabeth Scherer Spuk der Frauenseele Weibliche Geister im japanischen Film und ihre kulturhistorischen Ursprünge Februar 2011, ca. 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1525-8
Catherine Shelton Unheimliche Inskriptionen Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm 2008, 384 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-833-9
Thomas Weber Medialität als Grenzerfahrung Futurische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre 2008, 374 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-823-0
2008, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-931-2
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