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German Pages 336 Year 2014
Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin (Hg.) Wissen durch Bilder
Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin (Hg.)
Wissen durch Bilder Sachcomics als Medien von Bildung und Information
Der Band wurde mit großzügiger Unterstützung der Hochschule Luzern – Design & Kunst produziert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Umschlagmotiv aus Christophe Badoux, Fatmas fantastische Reise, Edition Moderne, Zürich 2006 mit freundlicher Genehmigung des Autors Korrektorat: Nicole Habermacher, Luzern Satz: Brigitte Hürzeler, Samuel Tyson, Mirijam Ziegler Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1983-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
In Sachen Sachcomics Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin | 7
„Sequential art to teach something specific“ Sachcomics – Definitorisches, Historisches, Aktuelles Urs Hangartner | 13
Problemorientiertes Erzählen im Manga: Confidential Confessions von Reiko Momochi Bernd Dolle-Weinkauff | 43
Pathosformel und Ausdrucksfigur in Educational Comics Bildhafte Sinnproduktion durch die Anlehnung an die kunsthistorische und mediale Tradition Matthias Vogel | 65
Gesellschaft als Comic Soziologie via Bilderzählung Felix Keller | 93
Authentisierungsstrategien in historischen Comics Anne Hillenbach | 131
Abschied von Farbe und Fiktion? Comics in der politisch-historischen Bildung Christine Gundermann | 149
Sowjetpropaganda und Animationsfilme Ulrich Schmid | 171
Von Reflexion bis Persuasion – wenn der Sachcomic mehr will als informieren Resultate einer Begleitstudie zu Hotnights Dorothea Oechslin | 189
Das Abenteuer der Synthetic Biology Klippen und Fallen eines Sachcomics Felix Keller, Dorothea Oechslin | 215
Sachcomics übersetzen Heike Elisabeth Jüngst | 249
Potenziale der sequenziellen Kunst: Bildergeschichten und Comics im naturwissenschaftlichen Unterricht Markus Prechtl | 271
Die Vermittlung von Zusammenhängen und Handlungsfolgen mit Hilfe beweglicher Elemente Jakob F. Dittmar | 301
Bericht aus der Praxis: Out of Somalia Ein Comic-Projekt im Auftrag von Médecins Sans Frontières Urs Hangartner | 317
Autorinnen und Autoren | 329
In Sachen Sachcomics Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin
Der Versuch, Wissen via Comics zu vermitteln, boomt. Sachcomics werden längst nicht mehr nur zur Bildung von Jugendlichen eingesetzt. Ihre Anwendungsbereiche sind äußerst vielfältig geworden, alles scheint heute möglich. Und dies in großer Zahl: Sachcomics bewähren sich rein quantitativ auf dem Markt in steigendem Maß. Die Hoffnungen, die sich mit den Sachcomics als Mittel für die Wissensverbreitung verbinden, sind evident: dass die unmittelbar einleuchtende Kraft der Bilder in Verbindung mit guten Geschichten neue Möglichkeiten bietet, Wissen in medial gesättigten und kulturell diversen Gesellschaft auf anregende und erfolgreiche Weise zu vermitteln. So antworten die Sachcomics der zeitgenössischen Medienwahrnehmung, indem sie gezielt auf Affekte setzen, auf Spannung, Emotionen, dramatische Elemente und Ironie. Allerdings, so augenfällig, gehaltreich und lustvoll die Geschichten daherkommen mögen: Der Sachcomic erweist sich auch als Medium mit Klippen und Fallen. Es droht die Unvorhersehbarkeit der Kommunikation mit Bildern: Was in ihnen gesehen wird, ist nicht genau festlegbar. Die Gefälligkeit der Geschichten droht die Thematik des Erzählten zu überblenden, und der Ursprung in einer populärkulturellen Form hat zur Folge, dass viele Sachcomics (immer noch) nur mit spitzen Fingern anfassen und das Medium nicht ernst nehmen. Zweifelsfrei: Die Anwendungsfelder vervielfachen sich, die Zeit der Wissensvermittlung durch Comics scheint erst angebrochen. Es gibt praktisch nichts, was es nicht gibt in den unterschiedlichsten Anwendungsformen mit verschiedenen Wirkungsabsichten – von eigentlicher Bildung und Wissensvermittlung über Werbung und Sensibilisierung in Präven-
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tionskampagnen bis hin zu politischer oder religiöser Propaganda und zu Reportagen, Tagebüchern, Biografien und Autobiografien. Ob sich allerdings diese Konjunktur stabilisiert, wird sich erst noch weisen müssen. Vor allem stellt sich zunehmend die Frage, wie effektiv und sinnvoll die Wissensvermittlung sich überhaupt zeigt. Das Forschungsprojekt mit dem Titel „Angewandte Narration: Sachcomics“ bot Gelegenheit, sich speziell den Fragen zur Wirksamkeit von Sachcomics eingehend zu widmen. Durchgeführt wurde das Projekt von 2009 bis 2012 mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlicher Forschung SNF (Förderinstrument DORE für praxisorientierte Forschung) an der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Klar scheint: Der Vielfalt und der Menge im weiten Feld der Sachcomics steht in einem Missverhältnis eine praktisch nichtexistente Erforschung des Phänomens gegenüber: Es fehlen breitere, aussagekräftige Untersuchungen zum Funktionieren und zur Wirkung von Wissensvermittlung via Sachcomics. Die Untersuchungen zu Wissen in Bildern füllen zwar Bibliotheken. Aber das mediale Charakteristikum des Comics, Bilder und Texte, Visuelles und Erzählung auf spezifische Weise zu kombinieren und damit ganz eigene Formen der Kommunikation zu entwickeln, harren noch der Untersuchung, wenn es darum geht, zu fragen, auf welche Weise sie sich auf die Vermittlung von Wissen auswirken. Dasselbe gilt für die eigensinnige Rhetorik des Mediums, die nachhallende Wirkung ihres ursprünglichen Gebrauchs in den Medien. Das Forschungsprojekt bildet den Ausgangspunkt für diesen Sammelband, der den Forschungsradius gleichsam erweitert und den Horizont öffnet hin zu weiteren Blicken auf das Medium, auf Möglichkeiten, mit Hilfe von (erzählenden) Bildern Information und Wissen zu vermitteln. Es wäre aber zu viel erwartet, dass der Sammelband die fehlenden Grundlagen in toto liefern könne. Er versteht sich als Beitrag zur Eröffnung einer fachlichen Diskussion, zur Bestimmung von Eckpunkten eines entstehenden Forschungsfeldes. Es soll extrapoliert werden, was und wie in Sachcomics kommuniziert wird, auch jenseits des unmittelbar Intendierten. Diese Horizonterweiterung geschieht aus unterschiedlichen Perspektiven, die dieser Band erstmals zusammenbringt. Es sind comicologische, medienwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche, bildwissenschaftliche, aber auch pädagogisch-didaktische und übersetzerische. Die Beiträge in diesem Band verstehen sich als Aufruf und Anregung zur Diskussion, zu Analyse, Reflexion und auch Kritik dieser bilderzählerischen Form na-
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mens Sachcomic. Aber auch das Experimentieren mit dem Medium steht im Blickpunkt. Die Beiträge dürfen deshalb auch anstiften zur weiteren Forschung und zum Ausprobieren dessen, was das Medium leisten kann und was nicht. Nicht zuletzt soll auch ein Nutzen in der Praxis Ziel dieser Beiträge sein: Sie mögen konkret hilfreich sein beim Einsatz von Sachcomics in Institutionen, in Schule und Bildung. Der einführende Beitrag von Urs Hangartner dient der Begriffsklärung. Er versammelt Definitorisches und referiert die Arbeiten des theoretischen wie praktischen Sachcomic-Pioniers Will Eisner. Ein Blick zurück in eine frühe Hochblütezeit der US-amerikanischen Sachcomics illustriert eine historische Ära in der Entwicklung und belegt, mit welchen Wirkungsabsichten diese besondere Form von Comics produziert wurde. Eine kleine Umschau aufgrund eines erforschten Sachcomic-Samples zeigt auf, wie es sich aktuell mit dem „state of the art“ verhält. Bernd Dolle-Weinkauff zeigt am Beispiel der Manga-Serie Confidential Confessions, wie ein japanischer Comic für ein jugendliches Zielpublikum einzelne in dessen Alltagsleben gründende Probleme mitsamt Lösungsmöglichkeiten verhandelt, die Problemerzählung von Confidential Confessions sich aber am Ende in konventionellen Mainstream-Manga im Geiste der Soap Opera verwandelt hat. Die Attraktivität der medialen Form des Comics scheint damit den pädagogisch-wissensvermittelnden Aspekt letztendlich dominiert zu haben. Dies lässt sich durchaus als Hinweis auf das Risiko verstehen, das von der starken Ausstrahlung des Mediums auch ausgeht. Matthias Vogel nimmt sich der bildlichen Tradition an, in welcher der Comic steht. Mit einer ästhetischen Analyse vornehmlich der ikonischen Elemente von Sachcomics zeigt er, in welcher Weise das Album Logicomix, das er zwischen Sachcomic und Abenteuercomic, zwischen Fakten und Fiktion situiert, aus der Kunstgeschichte wohlbekannte Pathosformeln heranzieht und mit einem anders erzählten Gegenstand, der Logik, verknüpft. Allerdings, um dieses ikonografische implizite Wissen auch decodieren zu können, ist bereits vorhandenes klassisches Bildwissen vonnöten, also Visual Literacy. Ansonsten bleibt die Ikonografie der Emotionen, die der Comic verwendet, nur ungenügend verstanden. Der Vermittlung soziologischen Wissens via Bilderzählung widmet sich Felix Keller. Er diskutiert drei Varianten solcher visuellen Narration von Gesellschaft und bringt sie miteinander in Bezug: Otto Neuraths Projekt einer universalen Bildersprache zur Darstellung sozialer Tatsachen;
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das Projekt der Schule des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, die mit einer Zeitschrift ein „Comic-Fanzine für die Soziologie“ kreierte; das Projekt des Verlags Icon Books, der mittels des Mediums Comic den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge ermöglichen will. Hierbei gerät auch der rhetorische Einsatz des Mediums in den Fokus: Bilderzählerische Visualisierungsstrategien sollen der Überwindung von Alltagsbildern und Common-Sense-Vorstellungen des Sozialen dienen. Auf welche Weise gesellschaftspolitische Zusammenhänge und historisches Geschehen sich via Comics vermitteln lassen, respektive auch, wo hier die ideologischen Gefahren liegen, thematisieren weitere Beiträge. Anne Hillenbach zeigt, wie dabei sogenannte Authentisierungsstrategien zur Anwendung gelangen, um überhaupt die Verknüpfung zwischen Comics und dem historischen Wissen zu ermöglichen. Es sind Verfahren, die auf den referenziellen Wirklichkeitsbezug eines Werkes auf bildlicher, textueller, kontextueller oder paratextueller Ebene verweisen. Sie funktionieren unter Umständen sehr subtil, wie die Autorin zeigt, und bedürfen einer sorgfältigen und kritischen Diskussion. Christine Gundermann wiederum diskutiert Möglichkeiten des Einsatzes von Geschichtscomics und eröffnet Wege, wie sich durch den Einsatz von Comics ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein fördern lässt. Dies kann nur unter dem Augenmerk geschehen, welches historische Wissen mit dem Einsatz des Mediums auch implizit vermittelt wird. Nach einer kritischen Würdigung des aktuellen Comic-Markts und Einblicken in die Geschichtsdidaktik bietet ihr Beitrag konkrete Ideen zur Unterrichtsvorbereitung an. Auf welche Weise sich das Medium ideologisch aufladen und in ein nicht kontrollierbares Spannungsfeld geraten kann, thematisiert der Historiker Ulrich Schmid, der die Verwendung des Mediums amerikanischen Ursprungs in der Sowjetunion unter die Lupe nimmt, und zwar anhand des Animationsfilms. Er macht anschaulich, mit welchen Visualisierungsstrategien der sowjetische Animationsfilm zwecks Inszenierung der stalinistischen Ideologie zum propagandistischen Einsatz gelangte – und wie in einem späteren Schritt diese Formen auch dazu verwendet wurden, die ideologischen Strategien zu unterlaufen und subversiven Aussagen Einlass zu bieten. Neben der Untersuchung des breiteren gesellschaftlichen und historischen diskursiven Wissens, das Sachcomics als hybride Medien transportieren, notwendigerweise, aber nicht unbedingt explizit erkennbar, nehmen
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sich weitere Beiträge der Rezeption des Comics an. Auch hier, unter dem Aspekt des Lektüreprozesses als einer aktiven Tätigkeit, zeigen sich Unwägbarkeiten. Dorothea Oechslin führt aus, wie bei der intendierten Zielgruppe eines Präventionscomics wichtige Hinweise bezüglich Akzeptanz und Verständlichkeit eruiert wurden und wie die gewonnenen Erkenntnisse als Feedback in die Arbeit der Comic-Schaffenden zurückfließen konnten – dies dank einer begleitenden wissenschaftlichen Untersuchung, die noch während des Entwicklungsprozesses des Comics durchgeführt wurde. Sie schlägt dabei unter dem Gesichtspunkt eines sozialpsychologischen Modells aus dem Bereich der Medienwirkungsforschung Begriffe und Dimensionen vor, aufgrund derer die Wirksamkeit eines Comics beobachtet werden kann. Welche Klippen und Fallen sich bei der Wissensvermittlung via Comic ergeben können, wenn die Rezeptionsweisen unbekannt bleiben, veranschaulichen Felix Keller und Dorothea Oechslin. Sie erläutern Resultate einer Wirkungsforschung zum Sachcomic Abenteuer im Reich der Synthetic Biology, der als originaler US-amerikanischer Titel beim Transfer in eine deutschsprachige Version auf Widerstand der Medien und auf Unverständnis der Lesenden stieß, während dem Comic in den USA Sympathie und Wohlwollen entgegengebracht wurde. Hier zeigte sich, was von den Lesenden an Kritik gegen den Einsatz eines Sachcomics mobilisiert werden kann. Der Problematik der kulturellen Bedingtheit der Rezeption nimmt sich auch Heike Elisabeth Jüngst an. An ausgewählten Beispielen widmet sie sich Fragen, die sich bei der Sachcomic-Übersetzung ergeben. Die Übersetzung einer Erzählung von einer Sprache in eine andere ist eine Sache. Aber müssen auch die Bilder für eine andere Sprachkultur übersetzt werden, und wie könnte dies geschehen? Sie zeigt, wie Zielgruppen, Publikationsmethoden, Zielsprachen und die Besonderheiten des Comic-Formats die Übersetzungen beeinflussen, und auch, wie vielfältig die Ergebnisse sind. Eine gelungene Sachcomic-Übersetzung ist eine, die nicht nur den Text, sondern auch die Bilder hin zur Zielkultur übersetzt. Auch dies ist nicht unbedingt einfach zu erreichen. So besonders der Sachcomic als Medium der Wissensvermittlung erscheinen mag, er ist auch in ein klassisches Dispositiv der Buchkultur eingebunden: Er wird meist als Buch oder Broschur gedruckt publiziert, es gibt Autoren, die das Wissen formen, Verlage, die es herausbringen, und Lesende, die es zu rezipieren haben. Weitere Beiträge zeigen Erweite-
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rungen dieser buchkulturellen Ordnung und eröffnen neue Sichtweisen. Markus Prechtl dreht den Kommunikationsweg von Autor zu Rezipienten gleichsam um, und der Comic wird zu etwas, das in der Lernkultur als Mittel eingesetzt wird, das von den Schülern selbst aktiv erstellt wird. Die Potenziale des Comics können im naturwissenschaftlichen Unterricht auf besondere Weise zur Geltung kommen, so zeigt Prechtl, wenn Schülerinnen und Schüler im Umgang mit visuellen Botschaften angeleitet werden und ihr gelerntes Wissen selbst via Comics ausdrücken. Präsentiert wird zudem eine fachdidaktische Vertiefung zur Anwendung von Gestaltungsmöglichkeiten des Comics. Jakob F. Dittmar widmet sich der Überwindung des linearen Erzählens via Comics, die in die dritte Dimension erweitert werden. Er verdeutlicht, wie sich räumliche Zusammenhänge oder auch Bewegungsphasen im Printmedium mittels 3D-Darstellungstechniken veranschaulichen lassen, nicht nur als selbstständige Illustration, sondern auch eingebunden in den Erzählzusammenhang eines Comics oder eines illustrierten Textes. Gerade auch Technik- und Wissenschaftsvermittlung können von der Beweglichkeit der räumlichen Darstellungen profitieren, indem buchstäblich eine Neuanordnung des Wissens zum Zuge kommt. Das abschließende Werkstattgespräch nimmt als Bericht aus der Praxis diverse Aspekte wieder auf und reflektiert sie vor dem Hintergrund der Produktion von Sachcomics, die immer ein bestimmtes Ziel verfolgen und hinter denen bestimmte Auftraggeber stehen. Bei all den Möglichkeiten, die sich dem Medium zur Wissensvermittlung bieten, sieht sich der Sachcomic auch mit Beschränkungen durch Sachzwänge konfrontiert. Andrea Caprez und Christoph Schuler reflektieren im Interview ihre Auftragsarbeit einer Comic-Reportage für Médecins Sans Frontières in einem afrikanischen Flüchtlingslager. Als ernüchternde Bilanz bleibt, dass der Comic letztendlich sein Potenzial nicht ausschöpfte. Zusammengefasst: Der Sachcomic scheint in unsere von visuellen Medien und Unterhaltung geprägte Kultur geradezu ideal zu passen. Sein hybrider Charakter lässt den Comic für viele Bereiche als geeignete Form dafür erscheinen, Wissen auf attraktive Weise zu vermitteln. Freilich, die Flexibilität und die Gefälligkeit des Mediums reduzieren den Reflexionsbedarf nicht, was sich wie sinnvoll vermitteln lässt: Sie erhöhen ihn drastisch. Sollte dieser Band darauf aufmerksam machen und zu weiteren Forschungen anleiten, so wäre ein erstes Ziel erreicht.
„Sequential art to teach something specific“ Sachcomics – Definitorisches, Historisches, Aktuelles Urs Hangartner
Woher sie wann kamen, wer sie warum mit welchen Mitteln machte, wie sie wurden, welcher ihr Anspruch ist, wie sich die heutige Situation zeigt: Das sind einige Fragen zum Themenkomplex „Sachcomics“, auf die im folgenden Abriss als Einführung und generelle Übersicht Antworten zu finden versucht werden. Der letzte Stand der Dinge weist ein praktisch unüberschaubares, weites Feld auf von Anwendungen, davon, wie mit Comics mehr als nur unterhalten werden will. Je nach wertender Einschätzung kann im Bereich Sachcomics für die letzten 20 Jahre von einem markanten Ansteigen der Titel auf dem Markt, von einem Boom oder von einer eigentlichen Bilderflut gesprochen werden, oder auch von einer „veritable explosion of non-fiction graphic novels on educational topics“ (Davidson 2008). Die Sachcomic-Historie beginnt, wenn man so will, im Krieg: dies bereits im 19. Jahrhundert. So sehen es Orselli und Sohet in einer Herleitung ihrer kleinen Studie zur Gattung der journalistischen oder Reportage-Comics. Die beiden französischen Autoren verweisen in ihrem Artikel auf die bildnerischen Kriegsreporter-Beispiele aus dem 19. Jahrhundert. Mit dem Aufkommen von Magazinen mit der Möglichkeit der Reproduzierbarkeit von Illustrationen fand auch der bildnerische Journalismus erstmals einen Publikationsort. So gesehen gilt, hier mit Blick auf Sachcomic-Genres wie Journalismus/Reportage: „En réalité, dessin et reportage entretiennent une connivence depuis longtemps déjà“ (Orselli/Sohet 2005) – Wirklichkeit, Zeichnung und Reportage stecken seit langer Zeit schon unter einer Decke, wie es die beiden salopp formulieren. Das Rapportieren in Bildern kann auf einen frühen Ursprung im 19. Jahrhundert
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zurückverfolgt werden, während für die neuste Zeit zutrifft: „… la bande dessinée explore maintenant avec succès le vaste champ des récits factuels“ (ebd.). Das damalige faktische Berichten in Bildern darf als Frühform dessen gelten, was später „Sachcomics“ geheißen werden kann. Vorerst bedarf es des Definitorischen: Wovon reden wir? Generell gesprochen von „Comics, die nicht nur auf Unterhaltung des Lesers abzielen“ (Blank 2010: 215), von einem Sonderbereich innerhalb des Mediums, wo sich Wirkungsabsichten des „Edukativen“ ausmachen lassen. Wobei grundsätzlich jede Art von Comics potenziell als auch „didaktisch“ charakterisiert werden kann: „The quality of being ‚educational‘ can be found to some degree in any comic book“ (der US-amerikanische 1970er-JahrePionier [All-Atomic Comic] in Sachen Sachcomics Leonard Rifas, zitiert in: Davidson 2008). Der Terminus „Sachcomics“ wird bei Gelegenheit auch geflissentlich vermieden, auch das „Edukative“ lassen einige in ihrer Terminologie außen vor: Wir treffen in der Literatur Begriffe an wie „Special Purpose Comics“ (Davidson 2008), in der Verlagspraxis (der 1940er-Jahre) solche wie „full-colored continuities“ und „pictorial stories“, werbewirksamer wie marktkonformer, so ist zu interpretieren, den Begriff „Comics“ mit System verschweigend. Dolle-Weinkauff definiert den Begriff wie folgt: Sach-Comic: Spielart der Sachliteratur, die mit den visuell-verbalen Darstellungsmitteln des Comics operiert. Als nichtfiktionales Genre intendiert der S. in erster Linie Information. Die Themen des S. reichen von naturwissenschaftlicher, technischer und politisch-gesellschaftlicher Information bis hin zu handbuchartigen Formen und Ratgeberliteratur (Kochbücher, Reparaturanleitungen) (DolleWeinkauff 1990: 332).
Der englische Terminus „Educational Comic“, so Dolle-Weinkauff, meint „belehrender Comic. Fiktionale Comic-Geschichten wie auch SachComics, die zu unterrichtlichen Zwecken hergestellt werden“ (ebd.: 327). Zur Begriffsentwirrung sei hier der Hinweis gemacht, dass im (besonders) amerikanischen Englisch „Comics“ und „Cartoons“ oft synonym verwendet werden, während „Cartoons“ ebenso für die Benennung von Animationsfilmen (insbesondere Zeichentrickfilme) gelten; „Comic“ meint im amerikanischen Englisch auch „Komiker“; auf „Deutsch“ wird „Cartoon“ auch für die Bezeichnung von „Karikatur“ oder „Witzzeichnung“ gebraucht. In Einzelfällen wird in abstruser Manier übersetzt: Bei Maus
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und The Dark Knight soll es sich um „postmoderne Cartoon-Romane“ handeln (Mitchell 2008: 150). Als Comic verstehen wir das einschlägig Definierte, eine Narration in sequenziellen gezeichneten Bildern. Nicht mit einbegriffen sind Einzelbildzeichnungen mit comicartigen Elementen (vornehmlich Sprechblasen), die für sich allein keine Narration leisten können. Es gilt: Nicht überall, wo Sachcomic draufsteht, sind auch Sachcomics drin. Das betrifft insbesondere die Reihen Introducing … (deutsch: … für Anfänger) und Graphic Guides (mit dem deutschen Äquivalent Infocomics), welche nur partiell eigentliche Comics oder Comic-Elemente zur Attraktion nutzen, respektive die Stilemente des Comics zur Verfremdung und Erweiterung gängiger Sichtweisen verwenden (siehe dazu die Ausführungen im Beitrag von Keller in diesem Band). Diese sind im strengen, engeren Sinne keine Comics. Begriffliche Differenzierung ist auch im Fall von „Educational“ am Platz: Es darf nicht falsch allein mit „erzieherisch“ übersetzt werden, sondern meint allgemeiner, neutraler „Lehr-“ und aber auch „Bildungs-“. (Zu „Educational“ siehe im Kapitel zu Will Eisner weiter unten). Für Irritation mag auch der Umstand sorgen, dass Sachcomics im frankofonen Sprachraum mit „bandes dessinées pédagogiques“ bezeichnet werden. Es sind schlicht Sachcomics, aber auch „Lehr- bzw. Lerncomics“, je nach Perspektive. So dient der heikle Begriff „didaktischer Comic“ nicht als allgemeiner Terminus, sondern passt lediglich in einem eingeschränkten Sinn. Der Begriff „Bildungscomic“ macht die Runde, vornehmlich dort, wo es qua Comic um die Vermittlung von im bildungsbürgerlichen Kontext kanonisierten literarischen Werken geht, wie es bei den Bemühungen der US-amerikanischen Heftreihe Classics Illustrated praktiziert wurde (siehe dazu weiter unten). Einen konzisen Überblick zur Begrifflichkeit und zu Definitorischem gibt Heike Elisabeth Jüngst in ihrer Habilitationsschrift); sie schlägt die Verwendung eines „Medium“ vermeidenden Begriffs vor: „Information Comics“ als „Format“ (Jüngst 2010: siehe besonders 11–38). Was Sachcomics im Einzelnen leisten können (oder auch nicht), erläutern Beiträge in diesem Band. Es herrscht der Konsens, dass Comics „es“ können, wenn sie es richtig und gut machen: informieren, vermitteln, anleiten etc. und darüber hinaus emotionale Affekte schaffen (siehe dazu den Beitrag von Oechslin in diesem Band). Gorg Mallia hat in einer kleinen Untersuchung mit einer Schulklasse die Wirkung unterschiedlicher Vermittlungsmethoden erprobt: Ein geschichtlicher Stoff wurde den Schülern als Text, als illustrierter Text und in einer eigens aufbereiteten
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Comic-Version präsentiert. Mallias konstatierte, dass „… comics language has he potential to go beyond its use as affective signposting and can communicate the full pedagogical message“. Er fand bestätigt „… that comics have the intrinsic potential of being a valuable affective and cognitive tool and can be used in instruction for, among others, motivational and retention purposes“ (Mallia 2007). Serge Tisseron, der seine medizinische Dissertation in Comic-Form eingereicht hatte, befand, dass sich das Besondere „du langage iconique“ (des Comics) „du côté des pouvoirs d’évocation“ finden lasse. „L’image permet de mobiliser une réceptivité optimale à la transmission d’une information […]. Elle retient l’attention et renouvelle l’intérêt. Elle retient la motivation à la lecture. Elle fait progrésser la compréhension opératoire de certains concepts en permettant de les représenter en situation etc.“ (Tisseron 1977). Alles, was möglich ist, scheint Platz zu haben im Bereich der Sachcomics. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Sowohl was Anwendungsbereiche als auch was das thematische Spektrum angeht. Zu einem möglichen Range von Themen möge das von Sol Davidson aus archivarisch-bibliothekarischer Warte entstandene Beispiel dienen. Davidson präsentiert eine kurze historische Umschau zu Educational Comics, und liefert eine wertvolle Dienstleistung mit einigen gescannten historischen Primärquellen, die sich online lesen lassen. Dazu kommentiert er eine von ihm erstellte Klassifikationsliste zu einer mit gut 2500 Titeln bestückten Sammlung von ausschließlich US-amerikanischen Sachcomics und ordnet wie folgt nach diesen Kategorien: Encyclopedias, Philosophy & Psychology, Religion, Military & Warfare, Physical Science, Biological Science, Medicine, The Arts, Music, Poetry, Current Events, World History, Geography & Travel, U.S. History, World Biography, U.S. Biography (Davidson 2008).
B ORN I N THE F ORTIES I: „FAK TEN “
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Beim Eintauchen in die Sachcomic-Historie soll auf für die Gattung prägende Druckerzeugnisse der damaligen Gründer-Ära – es sind die 1940er-Jahre – mit einigen anschaulich gemachten Beispielen eingegangen werden. Es sind dies vornehmlich die Heftreihen True Comics und Real Heroes sowie weitere Ableger desselben verlegerischen Umfelds und die Classics Illustrated. Ich folge dabei u. a. den wertvollen chronologischen Überblicksdarstellungen von Davidson (2008) und Carlson (2006a/b
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und 2007). „TRUTH is stranger and a thousand times more thrilling than FICTION“, steht auf dem Cover von True Comics geschrieben. In der Ausgabe No. 5 (Vol. 1, Oktober 1941) der monatlich erscheinenden Reihe schreibt Herausgeber George J. Hecht im Editorial unter dem Titel „Is It Really True?“: Yes, TRUE COMICS is all that its name implies. However, we sympathize with those readers who have become so accustomed to impossible fiction stories in the „comic“ magazines that they find it hard to believe fact when they see it! And, of course, many of the feats accomplished by real people are so exciting and spectacular that it sometimes seems as if those who performed them must have been endowed with superhuman powers. But the very fact that they were not super human … just ordinary mortals like you and me … makes their stories all the more thrilling. Their heroic deeds or their brilliant accomplishment are not imaginary … they are real … and any of us with sufficient courage and will power and ambition might earn an equally important place among the world’s great names.
Der Blick auf die Herausbildung einer Sachcomic-Kultur in den USA der 1940er-Jahre führt auf den Weg der Wahrhaftigkeit. Die Reihe True Comics postuliert im verlegerischen Eigenanspruch gar ein „Primat“ des Faktischen über das Fiktionale. Die Wahrheit ist nicht nur aufregender als das Erfundene, das geschätzte Lesepublikum kann sich wirkliche Helden mit tatsächlichen Heldentaten zum Vorbild nehmen (so ein mitgedachter „pädagogischer“ Impetus). Das Inhaltsverzeichnis der Ausgabe No. 5 vom Oktober 1941 gibt eine Idee von der Bandbreite des Thematischen, wie sie in True Comics zu beobachten ist: The Fighting Chaplain (Father Francis Patrick Duffy), Eagle Of The Seas (Stephen Decatur), The World’s Greatest Cowboy (Gene Autry; er wird in einem illustrierten Textbeitrag gewürdigt), Sacajawea (Indian Heroine), The Circus, Drake’s Folly, The Brown Bomber (Joe Louis), Unsung Hero (John Honeyman), The Man Who Downed The Red Knight Of Germany (Capt. Roy Brown). Es sind Vorbildfiguren aller Art versammelt: Kriegshelden (in der ersten Ausgabe war es Winston Churchill auf dem Cover als „World Hero No. 1“), Sportgrößen, historische Figuren, Film- und Radiostars (Gene Autry). Im Zuge von Political-CorrectnessBestrebungen sollten auch afroamerikanische Menschen und amerikanische Eingeborene (Indians) zum Zuge kommen. Auch ist man bei True Comics um eine gewisse Ausgewogenheit bezüglich religiöser Ausrichtun-
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Abbildungen 1/2: Coverbeispiele von True Comics – spannender als Fiction
Quelle: MSU Libraries. Digital and Multimedia Center
gen bemüht. So gibt es Geschichten in True Comics sowohl aus katholischer wie protestantischer und auch jüdischer Perspektive. The Parents’ Institute, Inc., New York, firmiert als Verlegerin/Herausgeberin von True Comics. Das Unternehmen gibt sich einen Anstrich von Glaubwürdigkeit durch das Hinzuziehen von „beratenden Herausgebern“. Sie stammen sowohl aus dem akademischen Bereich – sie nobilitieren und legitimieren das Unternehmen True Comics kraft ihrer fachlichen Autorität und verleihen dem Ganzen die gewünschte Seriosität – wie aus dem Showbusiness: Prominente wie Shirley Temple und Mickey Rooney fügen der Sache als populäre Kinostars einen Werbeeffekt hinzu. Auszug aus dem Impressum des Referenz-Exemplars (No. 5) von True Comics aus dem Jahr 1941: „Junior Advisory Editors: Shirley Temple und Mickey Rooney; Senior Advisory Editors: George H. Gallup, Director, Institute of Public Opinion, Dr. George Johnson, Director of the Department of Education, National Catholic Welfare Conference, Daniel C. Knowlton, Professor of Education, Social Studies Department, New York University“. Das Referenz-Exemplar der Nummer 5/1941 von True Comics kann dank Davidson konsultiert werden. Er hat die Ausgabe integral in digitaler Form
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in seinem Online-Beitrag „Educational Comics: A Family Tree“ verlinkt zur Visionierung per Comics Viewer.1 Diese frühe Form von Sachcomics, wie sie mit True Comics realisiert wird, bescheidet sich nicht etwa mit einer Nischenexistenz auf dem vom Fiktionalen (Superhelden, Abenteuer u. a.) dominierten US-amerikanischen Mainstream-Großmarkt der 1940er-Jahre. Zur Veranschaulichung die Zahl: Im Jahr 1943 erreicht die Auflage von True Comics rund 400’000 Exemplare, eine Zahl, die in etwa jener von All Stars Comics aus dem „fiction“-Verlag DC Comics entspricht. Mit anderen Worten: Die Sachcomics egalisieren, wenigstens zeitweise, rein quantitativ die populären GenreComics. Der Erfolg von True Comics veranlasst den Verlag The Parents’ Institute zur Lancierung weiterer, ähnlich gelagerter Titel. Im selben Verlag erscheinen so die Reihen Real Heroes („64 pages of action-pictures in full color“) und Calling All Girls, das zur Hälfte aus „true and fiction picture-stories for girls“ besteht, zur anderen Hälfte aus „special interest“-Geschichten und -Artikeln für Mädchen: Texte, „profusely illustrated with full-color photographs and drawings“. Das wirkliche Leben, ein Stück Wahrhaftigkeit soll Inhalt sein der Comics. Auf dem Cover der ersten Ausgabe von Real Heroes (September 1941) steht geschrieben: „a new ‚comic‘ magazine, not about impossible supermen, but about real life heroes who have made and are making history.“ Solche für das jugendliche Lesepublikum im Gegensatz zu den fiktionalen Ausprägungen „ungefährlichen“ und „unbedenklichen“, ja gewissermaßen pädagogisch wertvollen Comic-Hefte fanden das Kaufvertrauen der wohlmeinenden Eltern: „Parents who sought to influence their children’s reading habits in positive ways felt safe in buying Hecht’s titles“ (Carlson: 2006a, mit Bezug auf True Comics).
1 | Link siehe unter Davidson (2008); weitere Ausgaben von True Comics im PDF-Format siehe unter MSU Libraries.
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B ORN I N THE F ORTIES II: A NSTIF TUNG „ RICHTIGEN “ L ESEN
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Eine zweite wichtige Ausprägung innerhalb der Sachcomic-Historie ist im Fall der Classics Illustrated realisiert. Die verlegerischen Motivationen sind hier positiv begründet in „volkspädagogischer“ Absicht, auch wenn gleichzeitig „bad intentions“ im Sinne von schnöd kommerziellem Marktkalkül nicht von der Hand zu weisen sind. Es beginnt im Herbst 1941 mit der ersten Ausgabe von Classic Comics, verantwortet von Verleger Albert Leo Kanter (1897–1973): The Three Musketeers (nach Alexandre Dumas) kommt in einer Auflage von 200’000 Exemplaren auf den Markt. Das Vorteilhafte für eine Adaption des Romans in Comic-Form liegt auf der Hand: Es handelt sich dabei um einen allseits respektierten, kanonisierten literarischen Klassiker – und es hat Action. Aus heutiger Sicht in kruder Manier, mit geradezu unbeholfenem Strich (von Zeichner Malcolm Kildale) gestaltet, werden die Comic-Musketiere ein Verkaufserfolg. Die Folgetitel sind wie der Auftakt zur Reihe der europäischen Kultur verpflichtet: Ivanhoe und The Count of Monte Cristo. Unüblich für die Comic-Industrie, kommt es, um die entsprechende Nachfrage zu befriedigen, zu Reprints von Classic Comics-Ausgaben, erstmals bereits 1943. Bis Kriegsende sollen die meisten der frühen Hefte bis zu sieben Nachauflagen erreichen, die populärsten, The Count of Monte Cristo und Moby Dick, gar neun (am Ende der Ära haben einige Spitzentitel bis zu zwei Dutzend Auflagen erlebt). Ende 1945 lässt Verleger Kanter verlauten, er habe von insgesamt 28 Titeln der Reihe stolze 100 Millionen Exemplare verkauft (im Vergleich: Bestseller wie Superman oder Captain Marvel erreichen Mitte der 1940er-Jahre Auflagen von bis zu zwei Millionen pro Heft). Im März 1947 wird eine Namensänderung vorgenommen: Classic Comics werden zu Classics Illustrated (mit anderen Worten: die „Comics“ verschwinden). Auch unter neuem Namen halten die Literaturadaptionen die Marktstellung. 1948 werden Classics Illustrated international in übersetzten Ausgaben. Ein Gesamttotal beziffert bis zur Einstellung von Classics Illustrated im Jahr 1971 die Auflage weltweit (25 Sprachen) auf über eine Milliarde Exemplare.2 Classics Illustrated treten mit einem Anspruch 2 | Für die Geschichte der deutschsprachigen Illustrierten Klassiker siehe Dolle-Weinkauff (1990: 139–145).
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Abbildung 3/4: Helden aus dem wirklichen Leben: Real Heroes
Quelle: MSU Libraries. Digital and Multimedia Center
auf, der in den US-amerikanischen Ausgaben auf der letzten Seite so formuliert ist: „Nachdem du nun die Classics Illustrated-Ausgabe gelesen hast, versäume nicht das zusätzliche Vergnügen, das Original zu lesen“ (zitiert nach Knigge 2004: 386). Classics Illustrated als Mittel, die Jugend qua Comics, durch das im Bildungsdünkelzusammenhang nach wie vor diskreditierte Medium, zum guten Buch hinzuführen, eine Anstiftung zum „richtigen“ Lesen. So erfüllen Classics Illustrated ihren Bildungsauftrag. Es sind Sachcomics im doppelten Sinn: Die Adaption von Bestehendem, von literarischen „Realien“ stellt einem Sachcomic dar, und die beabsichtigte pädagogische Wirkung definiert den Begriff mit. Ein Ende war abzusehen (es tritt 1971 ein), doch kommt es wiederholt zu „Comeback“-Versuchen. So mit der 1990 von Berkley Publishing Group and First Publishing Inc. gestarteten Reihe mit neuen Heften, die von prominenten zeitgenössischen Comic-Schaffenden gestaltet sind („top graphic novelists as Rick Geary, Bill Sienkiewicz, Kyle Baker, Gahan Wilson“, wie die Verlagswerbung schreibt). Im Jahr 2012 bietet der New Yorker Verlag Papercutz („graphic novel publishing company for tweens 8–14“) erneut Classics Illustrated an, neben Übernahmen des Sortiments von Berkley Publishing im neuen „Deluxe“-Format eigens frisch geschaffene mit „state of the art“-Artwork (www.papercutz.com). Doch damit nicht genug: Die Firma Trajectory Inc. aus Cambridge, Massachusetts, bereitet
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originale Klassiker der Reihe aus der Ära 1941–1971 digital auf und verkauft sie für Anwendungen auf Smartphone, Tablets und E-Reader (www. trajectory.com, Zugriff im August 2012).
B ORN I N THE F ORTIES III: B ESTSELLER B IBEL Max C. Gaines ist ein Verleger, der ein Versäumnis von Classics Illustrated nachholt. Er tut es im Verlag EC, das Naheliegende: einen bestehenden Klassiker und „Bestseller“ ins Comic-Format transferieren. Gaines, von Haus aus Volksschullehrer, bevor er in die Verlagswelt eintrat, lässt die Bibel adaptieren. Er tut es in Häppchen und mit Rückendeckung: Als Berater („board of religious advisors“) für das Adaptionsunternehmen „Altes Testament“ fungieren elf Führer der relevanten Glaubensrichtungen katholisch, protestantisch und jüdisch. Und es erscheint im Herbst 1942 Heft 1 der vierteljährlich erscheinenden Reihe Picture Stories From The Bible. Sie wollen, wie der Name sagt, keine Comics sein. Auf dem Cover der ersten Ausgabe steht geschrieben: „For the first time in colored continuity“. Weit und breit kein Comic, nur sehen die Picture Stories so aus. Eine schöne Anekdote von Verleger Gaines zum „künstlerischen“ Anspruch seiner Bibel-Hefte sei hier nicht vorenthalten: „I don’t care how long it took Moses to cross the desert, I want it in three panels” (zitiert nach Carlson 2006b). Der Erfolg gibt ihm aber recht: Von den vier Ausgaben, die das Alte Testament in farbigen Bildern verbreiten, wird eine „Complete Old Testament Edition“ mit 232 Seiten herausgegeben. Der Verlag berichtet 1943, dass von den vier Einzelheften und der Gesamtausgabe total eine Million Exemplare verkauft wurden. Gaines macht in seinem volkspädagogisch-kommerziell begründeten Streben erfolgreich weiter. Nicht nur bringt er unter neuem Verlagslabel E.C. (für bezeichnenderweise „Educational Comics“) die Pictures Stories From The Bible als Nachdrucke wieder unter die Leute. Er erweitert 1947 das Sortiment um weitere faktische Comic-Reihen mit den Titeln Pictures Stories From World History und Picture Stories From Science. Seine frühere Verlagsheimat DC führt Gaines’ Ideen fort und lanciert im April 1946 Real Fact Comics (gemäß Cover-Schrift „true picture stories from the drama of life“). Im Juni 1946 folgt All-Negro Comics. Diese Comic-Heftreihe vermittelt laut Selbstdefinition afroamerikanische wahre, recherchierte Geschichten für ein afroamerikanisches Publikum, gestaltet von afro-
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Abbildungen 5/6: Kanonisierte Literatur in bunten Bildern: Classic Comics, Classics Illustrated
Quellen: www.wikipedia.com, www.bookpalace.com
amerikanischen Comic-Schaffenden. Verleger Orrin C. Evans schreibt in seinem Editorial: Dear Readers: This is the first issue of All-Negro Comics, jam-packed with fast action, African adventure, good clean humor and fantasy. Each brush stroke and pen line in the drawings on these pages are by Negro artists. And each drawing is an original, that is, none has been published ANYWHERE before. This publication is another milestone in the splendid history of Negro journalism. Evans also told readers they would also be exposed to the glorious historical achievements of Negro men and women within the pages of this comic book (zitiert nach Carlson: 2007).
Educational Comics (EC) wird ironischerweise nach dem Tod von Max Gaines (1947) von seinem Sohn Bill umbenannt in Entertaining Comics (EC). EC gilt fortan gemeinhin als Inbegriff für die Genres Horror, Crime, Science-Fiction und als Verlagsort des Satiremagazins MAD. Bibel-Adaptionen sind auch nach der Ära Gaines und bis zum heutigen Tag zuhauf zu zählen. Eine einigermaßen gesicherte Klientel mit kommerziell nicht zu vernachlässigender Umsatzverlässlichkeit bilden, wie schon zu Max Gaines’ Zeiten, Schulen und kirchliche Organisationen. Ob für den reli-
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Abbildungen 7/8: Das Alte Testament in Comic-Form: Picture Stories From The Bible
Quelle: http://ecchecklist.50webs.com
Abbildungen 9/10: Comics für die US-Army: das von Will Eisner verantwortete P*S Magazine
Quelle: Virginia Commonwealth University. VCU Libraries Digital Collection
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giösen Unterricht oder für propagandistische Zwecke, wenn etwa für das Gute geworben werden will und fundamentalistische Kreise und sektenartige Organisationen Bibelstellen als Comics herausgeben, um generell zu missionieren oder auch um vom Glauben Abgefallene wie u. a. Drogensüchtige von ihrem Treiben abzuhalten, (wieder) auf den guten Pfad zu bringen und in die (religiöse) Gemeinschaft einzugliedern. Reihen dieser Art nennen sich Spire Christian Comics oder Crusader Comics (mit deutschem Ableger, der „Gospel Literatur“ von Jack T. Chick Crusaders vertreibt; 2012 deklarieren sich Chick Publications auf www.chick.com als „Publishing cartoon gospel tracts and equipping Christians for evangelism for 50 years“).
I N THE A RMY N OW : D ER F ALL E ISNER – „I NSTRUK TIONEN “ QUA C OMICS Wie gezeigt: Die Geschichte der Sachcomics erfährt in den 1940er-Jahren in den USA eine Gründungsphase, die gleichzeitig auch eine Blütezeit darstellt, in der eine starke Verbreitung der Produkte zu beobachten ist. Im Fall von Classics Illustrated ist einem solchen Produkt als Serie eine Lebensdauer von Jahrzehnten (genauer: drei) beschieden. Neben der Privatwirtschaft tritt im großen Sachcomic-Jahrzehnt der 1940er-Jahre die US-Armee auf den Plan. Es sollen im Folgenden die praktischen und theoretischen Beiträge von Will Eisner im Bereich der Sachcomics behandelt werden. Will Eisner (1917–2005) hat sich in die Comic-Historie als Schöpfer der Serie The Spirit (1940–1952) eingeschrieben: Kriminalgeschichten im Ton des Film noir um einen dem Guten verpflichteten, maskierten (und nicht: kostümierten) vigilantenmäßigen Protagonisten ohne Superhelden-Attitüden. Eisner wird im Kriegsjahr 1942 zum Militärdienst in der Heimat eingezogen und hat im Rahmen seiner vaterländischen Pflichten Gelegenheit, sein Zeichentalent für die Armee zu nutzen. Eisner produziert Posters, Witzzeichnungen und Comics. Im Armee-eigenen Publikationsorgan Army Motors beginnt Eisner, die Möglichkeiten von Comics mit „Instruktionscharakter“ zu erkunden. 1974 erinnert sich Eisner in einem Aufsatz an jene Phase seines Schaffens:
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Abbildung 11: „Sex sells“ – frühes P*S-Magazine-Cover mit Pin-up-ähnlicher Connie Rodd
Quelle: Virginia Commonwealth University. VCU Libraries Digital Collection
Abbildung 12: Äußerlich moderater gezeichnete Instruktorinnen im P*S Magazine, Jahrgang 2012
Quelle: P*S Magazine, USAMC LOGSA
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During World War II, the need for instantly trained mechanics, gunsmiths, equipment operators and other specialists and the availability of trained sequence-picture artists were joined. Introducing early in the war by the Pentagon, instructional materials in comic book format were published about military courtesy and the care and maintenance of equipment – everything from how-todo-it to preventative maintenance. Strips were also valuable as recruitment material and in teaching the fundamentals of military trade to illiterates from the ghettos and backwoods of America (zitiert nach Worcester 2005: 134).
Eisner kreiert für seine Zeichnungen und Comics während seiner Army-Jahre unter anderem die antiheldische „Identitätsfigur“ mit Namen GI Joe Dope, die später wieder eine Rolle spielen wird. Joe Dope ist ein Depp, dem alles schiefläuft, und der, didaktisch wertvoll, an seinem Exempel des Versagens das Richtige lernt. Eisner zu zu seinem Konzept von Army Motors: Vor 1942 gab es keine präventive „Instandhaltung der Ausrüstung“ bei den Streitkräften. Die Briten hatten Wartungs-Experten, aber dass jemand etwas reparierte, bevor es kaputtging, war ein Gedanke, den erst General Campbell für das Militär aufgegriffen hatte. Angesichts der Lage war es eben besser, ein ausgefranstes Kabel abzukleben, statt auf den Kurzschluss zu warten und dann das ganze Gerät auszutauschen. Meine Aufgabe bestand nun darin, das Konzept der „Präventiven Instandhaltung“ an den Mann zu bringen. Das heißt, du versuchst Leute vom Nutzen freiwilliger Arbeit zu überzeugen – etwas, das die Armee nie zuvor versucht hatte. Dort wurden Befehle ausgegeben und befolgt. Es wurde gesagt: „Um neun Uhr hat die Truppe Moral zu haben“, und dann hatte um neun Uhr halt jeder Moral. Niemand hatte sich je mit der Frage auseinandergesetzt, wie man einen Untergebenen dazu bekommen konnte, bei einer Sache freiwillig mitzumachen. Die einfachen Soldaten kümmerten sich nicht um ihre Ausrüstung und dachten, die Armee würde immer für alles Ersatz haben. Und hier kam Joe Dope ins Spiel: „Du willst doch nicht so ein dämlicher Volltrottel sein wie der, oder? Nein, du willst scharfsinnig sein und gerissen!“ Also macht Joe Dope stellvertretend all diese gefährlichen und dummen Sachen. Er liefert das schlechte Beispiel (Eisner, zitiert in Yronwode 2011: 33).
Nach Kriegsende, 1948, gründet Eisner die Firma American Visuals Corporation, die Sachcomics für die Armee und weitere staatliche Departments, aber auch für Firmen wie General Motors, U.S. Steel, New York
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Telephone, für das amerikanische Rote Kreuz und für verschiedene schulische Institutionen konzipiert und produziert. In Eisners American-Visuals-Produktpalette findet sich etwa Good Reading Rack, das in Angestellten-Aufenthaltsräumen von großen Firmen wie General Motors aufliegt. Vier bis fünf Hefte werden pro Monat geliefert. Den Hauptanteil machen Kochrezepte, Sicherheitshinweise, Tipps zu Gartenpflege, Autokauf, zum Abschluss für Lebensversicherungen u. a. – „the rest was economical propaganda“, erinnert sich Jules Siegel, Mitarbeiter bei American Visuals Corporation, an die Rack-Serie Building Economic Understanding (zitiert nach Worcester 2005: 136). Bei Beginn des Koreakrieges (1950) erhält Eisner, der sich im Jahrzehnt zuvor schon bewährt hat, erneut den Ruf der US-Army, diesmal als Zivilist: „With the advent of Korean War, they came back and asked me if I would reconstitute Army Motors, and we developed P*S Magazine. The people who were still in the Army working on Army Motors came to me and asked me if I would agree to continue it. I was very interested in doing that because it would be a further demonstration of the use of comics as a teaching tool or as an instructional medium“ (Interview mit Eisner in: Jacks 2000). Eisner schlägt der US-Armee eine Fortsetzung von Army Motors vor: Technische Artikel in Form von illustrierten Text-Instruktionen in zielgruppenspezifischem saloppem Schreibstil (angepasster Jargon) und in der Heftmitte vierfarbig acht Comic-Seiten mit Joe Dope & Co, die intern „continuities“ genannt werden. P*S Magazine kommt 1951 erstmals heraus, mit Will Eisner als Artistic Director, diesmal im Auftragsverhältnis Staat-Privatwirtschaft. Eisner arbeitet bis 1971 federführend bei P*S Magazine. Auch in diesem Druckerzeugnis gilt in einem gewissen Maß die Losung „sex sells“: Die Instruktionssoldatin Connie Rodd an Joes Seite entspricht einem auf Papier fleischgewordenen Pin-up-Girl, einer „sexy Braut“ mit entsprechendem Attraktionswert; im Textteil haben Witze, auch schlüpfrige – das Publikum ist in den ersten Jahrzehnten von P*S Magazine durchgehend männlich –, ebenso ihren Anteil wie Anspielungen und parodistische Verweise auf populäre, allen bestens vertraute Radiound TV-Serien. Connie erhält 1970 die afroamerikanische Kollegin Bunnie (beide kommen ab 1980 in etwas moderaterer, i. e. züchtigerer äußerer Erscheinungsform zum Einsatz). Eisner und sein gesamter Mitarbeiterstab sind zu Zeiten von P*S Magazine unter der Ägide von American Visuals Corporation Zivilisten. Die Redaktion befindet sich in Armeeräumlichkeiten in Kentucky, derweil das präventive Qualitäts-Controlling, die
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Absegnung des für die Armeeangehörigen Bestimmten, durchs Pentagon in Washington, D.C., erfolgt. Zu Recherchezwecken reist Eisner persönlich an Kriegsschauplätze und Armeebasen in Korea, Vietnam und Japan. Seine Aufenthalte „on location“ beinhalten persönliche Treffen mit Soldaten, um die jeweiligen konkreten Anwendungssituationen und Erfahrungen mit technischen Gerätschaften und Ausrüstungsgegenständen, Fahrzeugen und Waffen zu studieren und als Folge davon das Erfahrene dergestalt für P*S Magazine nutzbringend anzuwenden. Die Auflagezahlen betragen Mitte der 1950er-Jahre 50’000 Exemplare, bei Beginn des Vietnamkrieges 140’000, auf dessen Höhepunkt 195’000. P*S Magazine existiert bis zum heutigen Tag, die aktuelle Auflagezahl wird mit 150’000 angegeben, und die heutigen Hefte sind gar als Open-Source-Produkte via Internet öffentlich zugänglich.3 Eisners Engagement mit P*S Magazine beruht auf verschiedenen Motivationen: „commercial, patriotic, aesthetic, conceptual“ (Worcester 2005: 134). Dem Vorwurf, als Künstler sich in den angewandten Arbeiten für P*S Magazine in fragwürdige politische und auch ideologische Gefilde – vor allem während des Vietnamkrieges – begeben zu haben, begegnet Eisner 1982 so, in seiner Argumentation gar einen lebensrettenden Wert seiner Comics nennend: I felt that as long we have a situation where somebody has to learn how to operate this kind of equipment, whether it’s a gun or a tank or a jeep, and men are being killed as a result of poor training or faulty equipment, then I was performing a service by teaching them how to survive. That was my moral justification. As far as my professional justification, that’s simple: I wanted to expand the use of sequential art, or comics, as a tool. The sad thing is that no one has ever gone beyond that first step (Eisner, zitiert in: Worcester 2005: 136).
Will Eisner wird Pionier in mehreren Comic-Bereichen: Er kreiiert mit der Spirit-Figur einen außergewöhnlichen Protagonisten innerhalb des Krimi-Action-Genres. Er ist maßgebend mit dabei bei der Herausbildung und Weiterentwicklung von Sachcomics bereits in den 1940er-Jahren/Anfang der 1950er-Jahre. Er definiert den Begriff Graphic Novel und exemplifiziert ihn praktisch mit dem Comic A Contract With God, and other Tenement 3 | Auch alle Ausgaben der Eisner-Ära von 1951 bis 1971 sind digital verfügbar, Links siehe im Quellenverzeichnis unter P*S Magazine.
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Stories (1978). Er versucht sich später selber in der Sachcomic-Gattung Literaturadaptionen mit jeweils 30-seitigen Kurzfassungen von Moby Dick (The White Whale. An Introduction to Moby Dick, 1991) und Don Quixote (The Last Knight. An Introduction to Don Quixote, 2000). Er verfasst – nach den Arbeiten von für das autobiografische Genre stilbildenden Comic-Schaffenden Robert Crumb, Harvey Pekar und Art Spiegelman – mit To The Heart Of The Storm (1991) eine gewichtige Semi-Autobiografie. Schließlich wird sich der späte Will Eisner an einen Sachcomic in Form einer Graphic Novel machen, der eine „Jahrhundertlüge“ zum Thema hat; es ist die Geschichte der antisemitischen verschwörungstheoretischen Schrift Das Protokoll der Weisen von Zion (The Plot: The Secret Story of The Protocols of the Elders of Zion, postum 2005). Nicht zuletzt: Genährt durch die Erfahrungen aus der praktischen Arbeit für Army Motors und P*S Magazine sowie seine weiteren Erfahrungen mit American Visuals Corporation und aus dem reichen Erfahrungsschatz als Comic-Praktiker im fiktionalen Bereich, verfasst Eisner seine beiden theoretisch-didaktischen Grundlagenwerke: Comics and Sequential Art (1985) und Graphic Storytelling and Visual Narrative (1996). In ihnen reflektiert er das Medium und vermittelt didaktisch überzeugend und anschaulich Comic-Grundwissen. In Comics and Sequential Art definiert Eisner die beiden Formen von „Instruktions“-Comics. Im Bereich der „instructional visuals – or the application of sequential art to teach something specific“ unterscheidet Eisner zwei Arten von Comics: „There are two forms of instructional comics, ‚technical‘ and ‚attitudinal‘“ (Eisner 1985: 142). Zu „technical“ schreibt Eisner: „A purely ‚technical‘ comic, in which the procedure to be learned is shown from the reader’s point of view, gives instruction in procedures, process, and task performance generally associated with such things as assemblies of devices or their repair. The performance of such tasks are, in themselves, sequential in nature and the success of this art form as a teaching tool lies in the fact that the reader can easily relate to the experience demonstrated“ (ebd.: 143f.). Zu „attitudinal“: „Another instructional function of this medium is conditioning an attitude toward a task. The relationship of the identification evoked by the acting out or dramatization in a sequence of pictures is in itself instructional. People learn by imitation and the reader in this instance can easily supply the intermediate or connecting action from his or her own experience“ (ebd.: 144).
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Als einen Vorteil, Instruktionen in Form von Sachcomics zu realisieren mit den Mitteln von „Sequential Art“, erachtet Eisner den Umstand, dass diese im Gegensatz zu Animations- und Realfilm keinen „Zeitdruck“ (pression of time) kennen: „There is room for approximation and opportunity for specific performances which the reader can examine without pressure. Unlike the rigidity of photographs, the broad generalization of artwork permits exaggeration which can more quickly make the point and influence the reader“ (ebd.). Cat Yronwode veranschaulicht Eisners Begriff von „instruktiven Comics“ mit konkretem Blick auf die Praxis in P*S Magazine wie folgt: In einem typischen „Prozess“-Comic [technical, U.H.] würde zum Beispiel erklärt, wie man am besten einen Ölfilter wechselt oder wie man Ersatzteile für seine Fahrzeuge beantragte. In einem „Aufklärungs“-Comic [attitudinal] würde dagegen zu vermitteln versucht, warum überzählige Teile nicht gehamstert, sondern in den Verteilerkreislauf zurückgegeben werden sollten. In einem solchen „Propaganda“-Comic würde die Notwendigkeit, sich freiwillig auf die Ziele des Programms der ‚Präventiven Instandhaltung‘ einzulassen, besonders betont werden. Eisner schien immer eine besondere Vorliebe für instruktive Comics gehabt zu haben, in denen es weniger um technische Fragen und mehr um die Persönlichkeitsbildung ging. Zum einen boten diese mehr Raum für Humor, und zum anderen war zu ihrer Herstellung nicht so viel Faktenrecherche nötig. Die besten continuities zogen den Leser mit Humor in ihren Bann, verwendeten ein, zwei Seiten auf seine Persönlichkeitsbildung – klopften ihn also meistens weich – und überfielen ihn dann auf der letzten Seite mit all den technischen Daten, die er brauchte, um im Sinne der präventiven Instandhaltung das Richtige zu tun (Yronwode 2010: 35).
S TATE OF THE ART : D EFIZITE UND E NT WICKLUNG
IN
F ORSCHUNG
Das Definitorische ist geklärt, die Geschichte der Sachcomics in ihren Anfängen in groben Zügen erzählt. Wie steht es mit der aktuellen Lage? Ein sogenanntes „Arbeitspaket“ innerhalb des Forschungsprojekts „Angewandte Narration: Sachcomics“ widmete sich den aktuellen Beispielen von Sachcomics. Als Frage stand am Anfang, wie sich ein repräsentativer Korpus oder Sample von Primärmaterial finden bzw. zusammenstellen lässt.
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Für diesen Forschungsaspekt konnte auf die Sammlung der Bibliothèque Municipale de Lausanne (BML) zurückgegriffen werden. Dazu erfolgte vorerst für einen als „internationale Sachcomics“ definierten Bereich eine generelle Übersichtsauswahl nach Expertenwissen, zum Teil nach thematisch selektionierenden Vorarbeiten durch Cuno Affolter, Konservator der wissenschaftlichen Comic-Sammlung der Bibliothek. Zustande kam dabei ein Sample, welcher die Vielfalt des Möglichen aufzeigen sollte: thematisch, stilistisch, dramaturgisch-erzähltechnisch, Gattungen sind die dabei berücksichtigten Stichworte. Im internationalen Sample konnten mit großem Anteil aktuelle Trends in den Themenbereichen „Geschichte“, „Zeitgeschichte“, „Dokumentation“, „Reportage“ sowie „Gesundheit“ (Information, Prävention) ausgemacht werden. Einschätzungen bezüglich Qualitätsstandards im internationalen Sample lieferten mit die Grundlagen zur Bewertung der Schweizer Sachcomic-Beispiele: eine Übersicht, die sich im vordefinierten Rahmen bewerkstelligen lässt. Nach diesem Versuch, einen einigermaßen gültigen Überblick mittels internationaler Titel zu fassen, ging es an den „Sample nationale Sachcomics“: Beim Erfassen des Samples wurde eine Vollständigkeit angestrebt hinsichtlich der in der Schweiz vornehmlich auf Deutsch und Französisch produzierten/erschienenen Sachcomics der letzten 25 Jahre (mit einem gesamtkalendarischen Range von 1981 bis 2010). Ausgeschlossen blieben rein verlegerische Übernahmen, also übersetzte Titel von fremdsprachigen Sachcomics, die in Schweizer Verlagen erschienen. Der Sample konstituierte sich aufgrund von Bibliotheksrecherchen in der katalogisch nicht erfassten wissenschaftlichen BML-Comic-Sammlung sowie aufgrund von Beständen eines Privatarchivs (dasjenige des Autors; rezente Titel deutschsprachiger Verlage) und zusätzlich aufgrund von Verlags- sowie direkten Autorenrecherchen. Unter Ausschluss des Subgenres Literaturadaption ergab die systematische Erfassung der relevanten Titel insgesamt 116 Sachcomics in gedruckter Form (und in wenigen Ausnahmefällen: in digitaler Form, netzgebundenen Anwendungen oder in inszenierter Ausstellungsinstallation). Die Titel wurden klassifiziert nach Thema bzw. nach einer Zuordnung zu einzelnen Gattungen. Als Resultat dieser Arbeit ergab sich folgendes Bild: Schwergewichtig werden in der Schweiz Comics hergestellt zu den Themenbereichen Geschichte (49 Titel), Gesellschaft/Umwelt (26), Gesundheit/Krankheit/Sexualität (21), dazu kommen Wissen/Technik/Naturwissenschaften (16), Tourismus/Marketing/Werbung (4).
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Es erfolgte innerhalb des Forschungsprojekts eine Bewertung nach Kriterien der professionellen, d. h. handwerklich-technischen, ästhetischen (Artwork: Zeichnung/Strich inkl. Lettering/Typografie) und dramaturgischen Umsetzung (Story), von Verständlichkeit und Attraktivität nach comic-spezifischen Kriterien (was leistet der jeweilige Einzeltitel gemäß seinem Anspruch?). Es sollte zum Quantitativen das Qualitative dazukommen, in möglichst objektivierten Einschätzungen, auch wenn der subjektiv wertende Faktor nie gänzlich ausgeschlossen werden konnte. Eine weitere Forschungsfrage widmete sich den Produktionsumständen, genauer dem Verlags- bzw. Autorenrisiko: In welchem Maß wird gleichsam „frei“ produziert von Autoren- bzw. Verlagsseite; inwieweit ist eine Arbeit eine Auftragsarbeit, die bezahlt ist; in welchem Maß sind Titel – von auftraggebenden öffentlichen wie auch privaten Institutionen – subventioniert mit einem geringen bis gar keinem Autoren- bzw. Verlagsrisiko (bei Gestaltung bzw. Herstellung)? Das Resultat zeigt ein Gleichgewicht: Je 50% der erfassten Titel gehören der Kategorie „subventioniert/Auftragsarbeit“ bzw. der Kategorie „freie Arbeit/Verlagsrisiko“ an. Zielgruppenforschung, so eine weitere Erkenntnis, bleibt in der Schweizer Sachcomic-Landschaft ein blinder Fleck: Es gibt bei sämtlichen behandelten Titeln weder Hinweise auf Pretests, um die Eignung des Titels beim intendierten Zielpublikum zu eruieren, noch wird Wirkungsforschung betrieben, welche Auskunft über die Resonanz des Titels bei der potenziellen Zielgruppe geben würde. In einem Satz: Evaluation ist kein Thema bei der Produktion von Schweizer Sachcomic-Titeln. Vielfach zu beobachten ist, wie wenig professionelle Sorgfalt zur Anwendung kommt, was die praktischen, medienspezifischen Kenntnisse von Zeichnenden und Textenden anbelangt. Die großmehrheitlich ernüchternden Resultate zeigten: Es herrscht eine mitunter erschreckende Unbedarftheit, was sowohl technisch-handwerkliche wie dramaturgische Aspekte angeht. Es klafft nicht selten eine bedenkliche Lücke zwischen dem Anspruch des gut Gemachten und dem letztlich in Sachcomic-Form Realisierten (das lediglich gut Gemeinte). Ein aktueller Befund kann zum zusammenfassenden Schluss kommen: Es gibt alles im Bereich der Sachcomics. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Nichts ist unmöglich. Thematisch wie in der Anwendung gemäß den definierenden Kriterien von „technical“ und „attitudinal“. Als Ergänzung dazu, was ein früheres Beispiel (siehe Davidsons Klassifizierung oben) versuchte, sei der „vaste champ“, das weite Feld von schierer Unübersichtlich-
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keit, veranschaulicht in einem weiteren Versuch, Sachcomics thematisch ordnend zu fassen. Leonard Rifas, selbst Praktiker mit seinem Verlag Educomics, schreibt: Rather than constituting a single genre, „educational comics“ encompasses a large constellation of related (and somewhat overlapping) categories. These include local and global history comics, „true fact“ comics, illustrated adap tations of novels and plays, instructional comics, propaganda and psychological warfare comics, religious education and proselytizing comics, advertising and industrial public relations comics, political campaign comics, health education comics, biography and autobiography comics, development education comics, educational fotonovelas, benefit/cause comics, comics-illustrated brochures, cartoon-illustrated nonfiction picture books, infotainment and classroom-based edutainment. „Educational comics“ include some of the most-widely circulated and most-respected comics ever made, and educational cartooning has attracted the talents of some of the most artistically ambitious and celebrated comic book creators. Such comics are read all over the world (Rifas, zitiert in: Davidson: 2008).
I N THE E ND I S THE B EGINNING : PAR ADOXES UND P OTENZIALE Sachcomics verdienen es, erforscht zu werden. Drei Gründe nennt die unter dem Pseudonym „Ouzomandias“ im Netz über Comics reflektierende Stacy Allston: „First, the form existes for purposes streching beyond simple entertainment; second, it represents an attempt to expand the meaning of the form, an ambition that, in some ways, puts it on a higher ground not sought by most comics throughout the 20th century; and thirdly, it represents a form of comics invented by people who did not like comics“ (Ouzomandias 2001). Punkt drei verweist noch einmal auf die (eine) paradoxe oder schizophrene Entstehungsgeschichte der Sachcomics, auf ihre Geburt aus dem Geiste des gut gemeinten volkspädagogischen Impetus: Menschen, die Comics nicht liebten, produzierten und verkauften Comics für Leute, die Comics liebten. Anders ausgedrückt: Sachcomics bzw. ihren Produzenten kann auch unterstellt werden, dass sie – unbewusst oder bewusst – ihr Publikum von der Lesepflicht (gemeint bezüglich „ordentlicher“ Bücher) zu entbinden trachten. „Paradoxerweise bringt gerade die
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zunehmende Popularität des Comics als didaktisches Mittel eine implizite Abwertung mit sich. Denn das Argument, das von Herausgebern didaktischer Comics für die Wirkungsmacht dieses Mediums vorgebracht wird, ist eben jenes, das jahrzehntelang dazu diente, Comics als trivial zu diskreditieren: seine Anwendbarkeit als Medium für ‚Ungebildete‘“ (Blank 2010: 230). Es ist so, muss aber nicht immer so sein. Dass es genügend „wertvolle“ Beispiele von Sachcomics gibt, belegt nicht nur die aktuelle Hochblütezeit dieser Comic-Form mit Titeln, die didaktische Brillanz vorzuweisen haben, die künstlerisch in höchsten Höhen anzusiedeln sind und im besten Fall beides zu kombinieren wissen. Eine Blütezeit mit Comics, die Wirklichkeit, aktuelle wie historische, in ihre Geschichten hereinholen in Reportagen und Dokumentationen. Die für andere mit Gewinn eigenes (Er)leben vermitteln in gezeichneten Autobiografien. Die auf intelligente Weise dazu anleiten, etwas richtig zu machen, die zu Einsichten und mit guten Absichten zu veränderten Verhaltensweisen anstiften, wenn es um Gesellschaftliches wie Politisches oder um Umweltbewusstsein geht. Die lehren, wie man Fremdsprachen lernt. Die der Prävention verpflichtet sind und die Gesundheit fördern, das Verständnis von Technik und Wissenschaft verbessern helfen, die allgemein Wissen und Bildung verbreiten. Einfach alles Sachcomics boomen (wieder). Zur Quantität kann sich getrost die Qualität gesellen. Die Sachcomics brauchen nur die immensen Potenziale zu nutzen, die in ihrer Sache stecken. Der Autor dankt Cuno Affolter, Lausanne, für wertvolle Anregungen und die Hilfe bei der Dokumentation von Primär- wie Sekundärliteratur.
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L ITER ATURVERZEICHNIS Autobiographies (1987): Themenschwerpunkt. Crumb, Pekar, Spiegelman, Nakazawa, Sylvie Rancourt u. a., Les Cahiers de la Bande Dessinée 73 (Jan./Febr.), Glénat: Grenoble. Autobiographical Cartoonists (1993): The Comics Journal 162 (October 1993). Darin: Interview Harvey Pekar, S. 37–44; Good Ol’ Chester Brown, S. 45–49; Interview Chester Brown, Joe Matt, Seth, S. 51–56: Pinkham, Jeremy/Reynolds, Eric: Autobio. The Autobiographical Cartoonist Survey, S.59–66), Fantagraphics Books: Seattle. Bernière, Vincent (2002): „La BD sur le terrain“, in: 9e Art. Les Cahiers du Musée de la Bande Dessinée¨7 (Jan.), S. 46–55. Binder, Hannes (2012): „Über das Zeichnen von Worten. Versuch einer kleinen Poetik der Graphic Novel aufgrund eigener Erfahrungen als Leser und Illustrator“, in: Neue Zürcher Zeitung 179, S. 65. Blank, Juliane (2010): „Alles ist zeigbar? Der Comic als Medium der Wissensvermittlung nach dem icon turn“, in: KulturPoetik. Journal for Cultural Poetics 10 (2), S. 214–233. Carlson, Mark (2006a): „‚Hey! That Ain’t Funny!‘ (Part 1): Classic and True Story Comics in the Forties“, in: The Nostalgia Zine. The Web Zine For People Who Love Comics, 2 (1). http://www.nostalgiazone.com/doc/ zine/06_V2N1/thataintfunny.htm. Carlson, Mark (2006b): „‚Hey! That Ain’t Funny!‘ (Part 2): Religious Comic Books in the Forties“, in: The Nostalgia Zine. The Web Zine For People Who Love Comics, 2 (2), http://www.nostalgiazone.com/doc/ zine/06_V2N2/thataintfunny.htm. Carlson, Mark (2007): „‚Hey! That Ain’t Funny!‘ (Part 3): Other Educational Comic Books in the Forties“, in: The Nostalgia Zine. The Web Zine For People Who Love Comics, 3 (1), http://www.nostalgiazone.com/ doc/zine/07_V3N1/thataintfunny.htm. Daniels, Mark (2009): La BD s’en va-t-en guerre. Dossier zum gleichnamigen Film, Lausanne: Alliance Sud, http://www.alliancesud.ch/fr/ documentation/projets/histoire-vivante/la-bd-sen-va-t-en-guerre. Davidson, Sol (2008): „Educational Comics: A Family Tree, ImageTexT. Interdisciplinary Comics Studies“ 4 (2) Supplement. http://www.english. ufl.edu/imagetext/archives/v4_2/davidson/.
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Problemorientiertes Erzählen im Manga: Confidential Confessions von Reiko Momochi Bernd Dolle-Weinkauff
Die seit mehr als einem Jahrzehnt in Übersetzungen auch in der westlichen Hemisphäre in großer Zahl verbreiteten Manga stellen sich gewöhnlich als Unterhaltungsliteratur par excellence dar. Zusammen mit den Anime, die großenteils die gleichen Stoffe und Geschichten im Medium des Zeichentrickfilms präsentieren, sowie einem riesigen Angebot an Videospielen für Ausgabemedien aller Art bilden sie das Gros eines populärkulturellen Programms, das schrankenlosen Konsum und schieres Vergnügen auf höchst fashionable Art zu versprechen scheint. Im Schlagwort von „cool Japan“ kulminiert dabei der Ausdruck eines in Kreisen der Fans oft emphatisch kultivierten Lebensgefühls, welches die exotischen und fremdkulturellen Elemente des J-Pop als Zeichen der Abgrenzung und spielerischen Distanzierung von der einheimischen Kultur und deren etablierten Hierarchien inszeniert. Nicht von ungefähr handelt es sich beim allergrößten Teil des auch im deutschsprachigen Raum populären Manga-Angebots um Fantasy-, Horror- und Mystery-Erzählungen und zum allerwenigsten um solche, die in historischen oder zeitgenössischrealistischen Räumen zu verorten sind; und auch die erheblich geringere Anzahl von Beispielen, welche diesem letzteren Bereich zuzuordnen ist, setzt in erster Linie auf Spannungs- und Comedy-Effekte und ist somit alles andere als das, was man als eine Literatur des Daseinsernstes bezeichnen könnte. Manga, die typischen Produkte einer „industrie du divertissement“ (Groensteen 1991: 19) – so scheint es –, vertragen sich nicht mit wirklich realistischen Stoffen und ernsten Themen.
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Ein Blick auf das Angebot im Ursprungsland lehrt jedoch rasch, dass davon keine Rede sein kann. Zwar finden sich auch in den neueren westlichen Darstellungen zur Geschichte und zu den Gattungen des modernen japanischen Comics nur einige spärliche Hinweise darauf: So zeigt etwa Brigitte Koyama-Richard lediglich einige Cover von „Manga mit pädagogischen Ambitionen“ (2008: 162), ohne weitere Erläuterungen zu bieten, und Paul Gravett begnügt sich in Manga. 60 Jahre japanische Comics mit verstreuten Bemerkungen und Beispielen im Rahmen des Kapitels über „Das Allumfassende“ (2008: 119 und 122). Vergeblich sucht man einschlägige Ausführungen auch in dem von Toni Johnson-Woods 2010 herausgegebenen Sammelband zum Phänomen Manga, der immerhin im Untertitel beansprucht, eine Anthology of Global and Cultural Perspectives darzustellen. Es sind dies jedoch offensichtlich Darstellungen aus westlicher Perspektive, die den gleichen Selektionsmechanismen unterliegen wie das Angebot an japanischen Comics, das im Rahmen der amerikanischen und europäischen Märkte in Übersetzungen bereitgestellt wird. Abbildungen 1a/1b: Japanische und westliche Taschenbucheditionen von Confidential Confessions: Die Cover der deutschsprachigen Ausgaben deuten sehr viel signifikanter auf wenig unterhaltsame, problemhaltige Inhalte hin
Quelle: Momochi, Bd. 4 (jap. Ausgabe: 2003) und Bd. 4 (deutsch sprachige Ausgabe: 2005)
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Tatsächlich existiert im Ursprungsland seit langem eine breite Palette an Non-Fiction-Manga, die in der Art von Sachbüchern Informationen zu den unterschiedlichsten Gegenständen und Phänomen zu vermitteln suchen, wie auch solche, deren authentische oder fiktionale Geschichten auf politische, gesellschaftliche und historische Zusammenhänge und Erkenntnisse zielen. Erfreulicherweise belegt der 2010 erschienene Band von Jean-Marie Bouissou Manga. Histoire et Univers de la Bande Dessinée Japonaise, der dem Manga Informatif sein eigenes Kapitel (S. 296–317) widmet, dass diese Tatsache allmählich auch in der westlichen Forschung wahrgenommen wird. Mein Beitrag setzt sich mit einem der wenigen Beispiele für einen solchen Manga Informatif auseinander, das sich unter den deutschsprachigen Veröffentlichungen aus jüngerer Zeit findet, der im Hamburger Verlag Tokyopop erschienenen Serie Confidential Confessions und deren Nachfolger Suspicious Secrets.
„…
GUT GEZEICHNE TER M ANGA MIT TIEFERGEHENDER T HEMATIK “ Die Manga-Serie Confidential Confessions von Reiko Momochi wurde zuerst 1999–2003 in Fortsetzungen im japanischen Monatsmagazin Dessert veröffentlicht. Diese im Verlag Kodansha seit 1996 erscheinende ComicZeitschrift richtet sich an ältere Teenager und jüngere Twens und erreichte 2009/2010 Auflagen zwischen 80 000 und 90 000 pro Ausgabe1. Der Verlag Tokyopop publizierte von 2004 bis 2006 eine vollständige deutschsprachige Edition in acht Bänden, wobei der originäre englischsprachige Serientitel – den Gepflogenheiten bei der Publikation aus Japan stammender Comics hierzulande entsprechend – übernommen wurde. Anstelle der japanischen Covergrafik wurden jedoch in der US-amerikanischen und der deutschen Ausgabe nahezu identische Umschlagabbildungen verwendet, die eine deutliche Distanz zur Aufmachung eines Mainstream-Manga andeuten (Abb. 1). Mit weiteren drei Bänden folgte 2006 Suspicious Secrets. Die Titel der Serien spielen an auf den Charakter der hier gebotenen Ge1 | Die verfügbaren Internetquellen geben unterschiedliche Zahlen an (vgl. http://www.animenewsnetwork.com/news/2010-01-18/2009-japanese-mangamagazine-circulation-numbers vom 18.01.2010 und http://en.wikipedia.org/ wiki/Dessert vom 17.02.2012)
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schichten, deren Stoffe und Themen im Milieu einer zeitgenössischen Großstadtjugend angesiedelt sind, die gewissermaßen als Reportagen einzelner, sich offenbarender Betroffener verstanden werden sollen. Das Themenspektrum liest sich wie ein großes Panoptikum der Probleme, Leiden, Verfehlungen und Obsessionen gefährdeter Jugendlicher. Es weist – trotz einiger japanischer Spezifika – einen so hohen transkulturellen Verallgemeinerungsgrad auf, dass es eine Reihe typischer prekärer Situationen bietet, die sich in den großstädtischen Milieus entwickelter Gesellschaften der Gegenwart weltweit vorfinden: unerträglicher Leistungsdruck in Schule und Elternhaus, Mobbing und Gewalt unter Jugendlichen, Stalking, AIDS-Erkrankung, sexueller Missbrauch, Verwahrlosung und Jugendprostitution, Drogenmissbrauch, Depressivität und Suizid. Diese Probleme werden von der Autorin so unverblümt und direkt angesprochen, dass in einer Besprechung im Fan-Blatt AnimaniA von „schonungslos realistischen Gesellschaftsporträts“ (2005: 24) die Rede ist. In die gleiche Richtung geht das Urteil der Rezensentin Stefanie Holzer in MangaSzene (2005: 37), die mit der Bemerkung schließt: „Wer dem Einerlei aus Action, Fanservice und Romanzen, das der Markt hier und in den USA zum Großteil bietet, einmal entfliehen möchte und einen gut gezeichneten Manga mit tiefer gehender Thematik sucht, sollte hier ruhig einen Blick riskieren.“ Ein solcher Blick auf die Geschichte Die Tür, die den ersten Band der Taschenbuchausgabe eröffnet, gibt in exemplarischer Weise Einblick in Handlungsstruktur, Erzählweise, Figurenkonzepte und Anlage der Thematiken der Erzählungen der Reihe. Im Zentrum der dem Thema Suizid gewidmeten Story stehen zwei Hauptfiguren, die gleichsam unterschiedliche Gefährdungsstufen repräsentieren: die von ihrer Umgebung nur mit dem Spitznamen „Spargel“ bezeichnete Schülerin ist dabei die im Hinblick auf den Wunsch, ihr Leben zu beenden, fortgeschrittenere, während die Ich-Erzählerin, die zutiefst unglückliche Manatsu, erst allmählich an diesen Gedanken herangeführt wird. Auf diese Weise kann die Autorin ein plausibles Szenario entwerfen, das Ursachen, Beweggründe und Begleiterscheinungen von jugendlichem Suizid in einem weiten Spektrum möglicher Faktoren verortet. Dabei beschleunigt sich die Dynamik der Erzählung in dem Maße, wie die bedrohlichen Situationen und Verhaltensweisen sich mehren und das irreversible Ende antizipieren. Ausgangsmotive und Seitenhandlungen bilden dabei eine Reihe anderer Problemlagen und Irrwege, die in den anderen Geschichten der Confidential Confessions die zen-
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trale Thematik darstellen, wie etwa zerrüttete Familien, mobbende Mitschüler, Jugendkriminalität, Prostitution; in der vorliegenden Story werden diese jedoch nicht weiter exponiert, sondern als Begleitfaktoren einer potenziellen Suizidkarriere ins Spiel gebracht. Abbildungen 2a/2b: Dokumentarische Präambel und Titelseite der Geschichte Die Tür
Quelle: Momochi (Bd. 1: 3, 4)
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Die meisten Erzählungen der Confidential Confessions beginnen mit eher unspektakulären Alltagsszenen, in denen sich das Thema verhalten ankündigt. Im Fall von Die Tür wird die besondere Dramatik jedoch gleich zu Beginn durch äußerst eindringliche metafiktionale bzw. gestalterische Elemente hervorgehoben: Gleich auf das Inhaltsverzeichnis folgt eine ganzseitige, in düsteren Grautönen gehaltene Abbildung, die einen Schrifttext mit der Quintessenz der japanischen Selbstmordstatistik des Jahres 2000 umrahmt (Abb. 2a), auf der folgenden Seite sind der Titelschriftzug der Geschichte und ein großformatiges Porträt der Ich-Erzählerin von Insert-Panels mit Suizid-Werkzeugen und -Szenen umgeben, die teilweise in der Erzählung wiederkehren (Abb. 2b). Es ist eine geballte Mischung aus
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Faktografie und suggestiver Bildlichkeit, die hier an den Anfang gestellt wird – sei es, weil die bis dahin unbekannte Autorin alles aufbieten möchte, um auf ihr Werk aufmerksam zu machen, sei es, dass das Thema es gebietet. Abbildung 3: Der Beginn der Suizid-Erzählung zeigt die Protagonistin beim Anlegen des Tagebuchs ihrer Verletzungen
Quelle: Momochi (Bd. 1: 5)
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Die dritte Seite der Geschichte bietet dann als Kontrastprogramm eine häusliche Szene von scheinbarer Friedfertigkeit: Sie zeigt Manatsu beim Anlegen eines sonderbaren Tagebuchs, das die Reste des Wundschorfs erlittener Verletzungen mit Bezeichnung des betroffenen Körperteils und des Datums akribisch festhält (Abb. 3). Die äußerlichen Wunden als Symbole psychischer Verletzungen und deren sorgsame Kultivierung markieren die Protagonistin als ein depressives Individuum; den Gründen dafür in ihrer Umwelt wird auf den folgenden Seiten kursorisch nachgegangen: Eine zerrüttete Familie bildet den Ausgangspunkt einer Vereinsamung, die sich in Kontaktarmut und schulischen Problemen fortsetzt. Dies wird dem Leser nicht geradlinig erzählt, sondern in Form eines komplexen, verbal-piktoralen stream of consciousness Manatsus vermittelt, in dem sich tagtraumartige Assoziationen mit Erinnerungen an unterschiedliche Erlebnisse vermischen – eine Sequenz, die abrupt beendet wird durch die erste Begegnung mit „Spargel“ und deren offenkundigem, schulöffentlichem Versuch, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Fasste man den nun folgenden Hauptteil der Erzählung in Form eines den Plot verkürzenden, die Eigenständigkeit der piktoralen Erzählelemente beiseitelassenden Abstracts zusammen, so könnte man metaphorisch von einem Stationendrama sprechen, in dessen Verlauf unterschiedliche Möglichkeiten des Suizids von den beiden Mädchen diskutiert, fantasiert und ansatzweise erprobt werden. Zunehmende Faszination und Kokettieren mit dem Ende mischen sich mit Zweifeln und weiteren unangenehmen sozialen Erfahrungen und setzen eine absurde Spirale in Gang, die dem nun immer öfter erwogenen Doppelselbstmord scheinbar unausweichlich entgegenstrebt. Die virtuose grafische Auflösung des Plots in mangatypische Wort-Bild-Verknüpfungen und Seitenmontagen durchkreuzt sehr effektiv ein potenziell aufkommendes Unbehagen über didaktische Instrumentalisierung – der Technik der rasanten Schnitte, der unkonventionellen Bildformate und Einstellungen wie auch des abstrahierenden Umgangs mit Details und Flächen gelingt es in beeindruckender Weise, von der Tatsache abzulenken, dass es sich um eine in hohem Maße konstruierte Story handelt. Diese kann ihrer Intention, ein durch Fakten und Empirie gestütztes Bild jugendlicher Selbstmordgefährdung in glaubwürdiger Weise narrativ zu inszenieren, in erster Linie dadurch gerecht werden, dass sie den Leser mit einer Grafik in ihren Bann zieht, die nicht auf den Transport von „Botschaften“ abgestellt ist, sondern einen ästhetischen Eigenwert besitzt.
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Unter diesen Voraussetzungen darf man annehmen, dass der Leser auch das relativ glückliche Ende und die darin enthaltene Ermutigung für einschlägig gefährdete Personen zu akzeptieren bereit ist: Zwar wird „Spargel“ unweigerlich Opfer ihrer Obsessionen und macht Ernst mit der zuvor vielfach angekündigten und mehrfach versuchten Selbsttötung. Bei Manatsu hingegen siegt letztlich der Überlebenswille. Dieser erste wie auch die anderen Bände enden allerdings nicht mit dem Abschluss der Story. Vielmehr liefert ein mehr oder minder umfangreicher Anhang weiterführende Informationen zum jeweils angesprochenen Thema. So präsentieren sich in diesem Band von Confidential Confessions Selbsthilfe-Vereinigungen für Suizidgefährdete und ihre Angehörigen als Anlaufstellen für Auskünfte, Hilfe und Therapien, und der Schauspieler Stephen Dürr outet sich in einem Nachwort als selbst betroffener und deshalb verständiger Zeitgenosse. Für den vierten Band, in dessen vier Erzählungen es großenteils um schulische und familiäre Probleme geht, hat die Autorin Reiko Momochi selbst ein Nachwort beigesteuert, in dem sie bekennt, mit den geschilderten Problemen teilweise aus eigener Erfahrung vertraut zu sein.
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Obwohl es sich bei Confidential Confessions um eine Serie handelt, weicht diese doch in vieler Hinsicht von herkömmlichen Serienpublikationen ab. Dies beginnt damit, dass es sich um Geschichten von sehr unterschiedlicher Länge handelt: Die kürzeren wie etwa die den ersten Band der Taschenbuchausgabe abschließende Erzählung Fehler, die von der nach der Scheidung ihrer Eltern zunehmend verwahrlosenden Yoshioka handelt (Bd. 1: 151–202), oder die Mobbing-Story Der Schrei (Bd. 6: 163–210) umfassen jeweils etwa 50 Seiten. Die umfangreicheren, wie etwa Tränen, wo es um den Widerstand des Mädchens Chika gegen die Nachstellungen ihres Sportlehrers geht (Bd. 2: 4–199), oder die Bandengeschichte Kontakt (Bd. 7 und 8) füllen ganze Bände. Hier wird offenkundig, dass sich der Umfang der Geschichten nicht in erster Linie an den Erfordernissen des Publikationsformats – in diesem Fall ursprünglich ein periodisch erscheinendes Manga-Magazin – ausrichtet, das in der Regel für die Seitenzahl bestimmte, standardisierte Vorgaben macht. Vielmehr scheint sich bei Confidential Confessions der Umfang weitgehend an den inhaltlichen Erfordernissen der jeweiligen einzelnen Geschichte zu orientieren.
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In dieser Hinsicht auffällig ist auch das Fehlen der für Serienerzählungen im Comic obligatorischen „Stehenden Figur“ und eines standardisierten Settings als Handlungsraum. Anstelle eines solchen Seriencharakters, d. h. eines einzigen Typus mit weitgehend unveränderlichen Eigenschaften, treten hier in jeder Erzählung neue, individuell gestaltete Protagonisten auf, deren Entwicklung durch eine Reihe von existenziell bedeutsamen Erfahrungen vermittelt wird. Dabei handelt es sich stets um junge Mädchen im Alter von etwa 14 bis 17 Jahren, also um weibliche Jugendliche, die gerade der Kindheit entwachsen sind, aber die Volljährigkeit noch nicht erreicht haben. Die Ich-Erzählerinnen sind stets die Protagonistinnen der jeweiligen Geschichte, und ihre ständige Präsenz in der Handlung ist erforderlich, um die intendierte Authentizität der Aussage zu sichern. Die Hauptfiguren der verschiedenen Geschichten sind als unverwechselbare Individuen gezeichnet und keineswegs untereinander austauschbar, wenngleich es sich immer um junge Mädchen und Schülerinnen in bestimmten Problemlagen handelt. Abbildung 4: Layout einer Seite aus Die Tür: Die Montage setzt nicht auf Tempo, sondern auf Einprägsamkeit
Quelle: Momochi (Bd. 1: 72)
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Abhängig vom jeweiligen Stoff lassen sich allerdings zwei Grundtypen unterscheiden: zum einen – wie etwa in der Suizid-Erzählung Die Tür – der Typus des Opfers, d. h. einer jugendlichen Person, die widrige Lebensumstände nicht zu meistern weiß und sich zunehmend in weitere Probleme verstrickt; zum anderen der Typus der Rebellin, die aber erst allmählich lernt, dem Leidensdruck nicht nachzugeben, sondern sich gegen widrige Umstände, Abhängigkeiten und schlechte Behandlung zu behaupten und im Idealfall noch andere auf diesen Weg mitzunehmen. Ein Beispiel dafür ist die Erzählung Tränen (Bd. 2: 4–199), in der die Schülerin Chika sich der gewalttätigen Übergriffe und sexuellen Bedrängungen ihres Sportlehrers erwehren muss. Andere Geschichten dieser Art sind Verbotene Küsse (Bd. 4: 165–200), in der ein lesbisches Paar lernt, zueinander zu stehen, oder Zukunft (Bd. 3: 151–199), in der sich die weibliche Partnerin in einer heterosexuellen Beziehung gegen karrieristische Neigungen und als selbstverständlich angesehene männliche Dominanz behaupten muss.
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Die Bildsprache der Confidential Confessions orientiert sich im Wesentlichen an den darstellungsästhetischen Gepflogenheiten des an Mädchen adressierten (Shôjo-)Manga (vgl. Berndt: 2000, 14ff.). Nicht zwangsläufig bedeutet dies auch eine Erhöhung des Tempos der Erzählung. In Die Tür etwa finden sich immer wieder sehr expressiv angelegte Layouts, deren verschachtelte Grafik ausgesprochen ruhige, wenngleich zutiefst bedrückende Reflexionen zum Ausdruck bringt (Abb. 4). Vielfach aber operiert Reiko Momochi mit sehr dynamischen Layouts, die von einem raschen Wechsel der Einstellungen und Bildformate leben. Das Spiel mit einer weiten Palette von Grautönen und Flächeneinfärbungen, Linien und Rastern verschafft hier auch der Schwarz-Weiß-Grafik ein nachhaltiges Gestaltungspotenzial, und die Technik der bildnarrativen Verkürzung, Perspektivierung und abbreviatorischen Detailaufnahme ermöglicht eine wirkungsvolle Dramatisierung des vorgeführten Geschehens. Der häufige Wechsel von der fiktiv-realen Handlungsebene zu reflexiven Passagen und Rückblenden, zwischen Dialogen und Gedankenströmen auf unterschiedliche Zeitebenen, zwischen fiktiv-realer und erinnerter oder imaginierter Aktion schlägt sich nieder in komplexen Montagen aus unge-
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rahmten Einzelbildern, Figuren und Porträts, Panels in allen Größen und Formen, zeichenhaft „eingefärbten“ Bildräumen und unterschiedlich gestalteten und platzierten Schrifttexten. Auch die Zitation ganzer Seiten vermag den Variantenreichtum der verbalen und piktoralen Erzählelemente aber nur ansatzweise wiederzugeben (Abb. 5). Dies gilt auch für die hier als Beispiel gewählte Seite aus der Geschichte Tränen (Bd. 2: 116), die aus einer Montage von fünf kleinformatigen Insert-Panels besteht sowie einem weiteren, diagonal abgeschrägten, fast halbseitigen Insert, das die Sequenz abschließt. Diese sind auf eine die Seite vollständig ausfüllende Abbildung appliziert, von der jedoch nur die Ränder sowie eine große geballte Faust in der Seitenmitte zu sehen sind. Die Lektüre beginnt, der japanischen Leserichtung entsprechend, im ersten Panel der Seite oben rechts. Das effektvoll im schräg-schneidend eingesetzten Panel platzierte Soundword („Watsch“) bezeichnet das Geräusch eines Schlags, mit dem Chika sich gegen einen weiteren Akt des zudringlichen Todo zur Wehr setzt: Dieser hat ihr, wie auf der vorangegangen Seite zu sehen war, in Gegenwart anderer Kollegen bei einem Gespräch im Lehrerzimmer mit dem Zeigefinger auf die Stirn getippt. Die anschließenden drei kleinen Panels beschreiben Todos zunächst sprachlose Verblüffung über diesen nicht erwarteten Widerstand, verbalisieren aber dann die Rückkehr zu seiner im Gespräch zuvor eingenommenen provozierend-heuchlerischen Haltung („Wie? War das etwa auch Belästigung?“). Der im folgenden länglichen Panel Unterstützung heischend auf die anwesenden Lehrerkollegen geworfene Blick Todos ruft die in drei untereinandergesetzten Sprechblasen wiedergegebene, von ihm gewünschte Reaktion hervor: Das Opfer sexueller Belästigung, nicht etwa der Täter, wird aufgefordert, sich zu entschuldigen. Bezeichnenderweise sind diese Blasen keinem der Anwesenden klar zugeordnet, um zu verdeutlichen, dass sich Chika hier einer anonymen, geschlossenen Front gegenübersieht, von der sie kein Verständnis oder gar Unterstützung zu erwarten hat. Die zentral positionierte geballte Faust des Mädchens zeugt jedoch von dessen ungebrochener, wenngleich stummer Renitenz: Das kleine, auf der linken Seite ins große Bild gesetzte „Warum?“ ist zunächst bloß zaghaft gedacht, es wandelt sich jedoch in den als Ausdruck höchster innerer Erregung gezackten Gedankenblasen des abschließenden sechsten, in atmosphärisch-finsteres Schwarz getauchten Panels zu einem zornigen „Das ist alles falsch!“, das sie den abgehenden Vertretern des Lehrkörpers in Gedanken hinterherschleudert.
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Abbildung 5: Layout einer Seite aus Tränen: verbale und piktorale Inszenierung eines Konflikts zwischen Opfer, Täter und anderen Beteiligten
Quelle: Momochi Bd. 2: 116
Was hier – wie bei jeder näheren Untersuchung von Beispielen aus Confidential Confessions – auffällt, ist eine markante Abweichung von ShôjoKonventionen in ganz bestimmter Hinsicht. Reiko Momochi verzichtet vollständig auf jenes charakteristische Arsenal an konventionalisierten piktoralen Zeichen, das neben den „tellergroßen“ Augen als Ausweis des japanischen Mädchen-Comics gilt. Wie es scheint, ist für die zahllosen Folien mit Sternchen, Herzchen und anderen Symbolen niedlich-
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romantischer Prägung in den Confidential Confessions kein Platz – auch nicht in den ausgemachten Liebesgeschichten wie Verbotene Küsse (Bd. 4) oder Zukunft (Bd. 3). Die allzu engen Konnotationen dieser Art Zeichen mit schwärmerischen Mädchenfantasien und deren in Teilen auch komisierende Funktion müssen wohl im gegebenen Kontext deplatziert erscheinen. Eine weitere Abweichung von gängigen Shôjo-Mustern resultiert aus dem Konflikt zwischen der streng subjektiven, auf die jeweilige Erfahrungswelt der Protagonistin begrenzten Erzählperspektive und bestimmten stofflich-thematischen Anforderungen. Der herkömmliche Mädchen-Manga muss nicht erklären, warum sich die Handelnden lieben oder nicht, warum sie sich für bestimmte Alternativen entscheiden, worin die Gründe für die eine oder andere Wendung des Geschehens liegen mögen. Die Ausbreitung der bei Reiko Momochi behandelten Problematiken in der von der Autorin intendierten Tiefe verlangt dagegen an bestimmten Stellen die Präsentation von Informationen für den Leser, die nicht ohne weiteres im Erfahrungshorizont der jugendlichen Protagonistin liegen. Um die Einführung auktorial erzählender Elemente vermeiden zu können, werden daher immer wieder Szenen kreiert, in denen die Protagonistin buchstäblich lernt. So begibt sich in der Geschichte Der Wunsch die Schülerin Migiwa, getrieben von der Sorge um ihre mutmaßlich HIV-positive Freundin Nana, in die Bibliothek und studiert die einschlägige Fachliteratur – ein Lernprozess, an dem die Erzählung den Leser in exemplarischen Ausschnitten teilhaben lässt (Bd. 5: 137–139). Die Fortsetzung innerhalb der gleichen Geschichte, deren deutschsprachige Ausgabe von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung betreut wurde (vgl. ebd.: 113), erfolgt in der Schilderung einer Schulstunde zur AIDS-Prävention (ebd.: 161–163). In der Suizid-Geschichte Die Tür zieht Manatsu einschlägige Internetseiten zu Rate und teilt dem Leser dabei Informationen mit über Automutilation und deren Bedeutung in psyschischen Krankheitsbildern (ebd.: 39–41), und der Arztbesuch der Mutter nach Manatsus erstem, demonstrativem Selbstmordversuch bringt Erkenntnisse über das „präsuizidale Syndrom“ (ebd.: 80). Etwas origineller, wenngleich in ihrer Funktion auf das Gleiche hinauslaufend, nimmt sich dagegen eine Szene in Das Gerücht aus, in der die Protagonistin Manami von ihrem ehemaligen Freund zunehmend belästigt wird: Sie versucht, sich mit den Kriterien des Stalkings vertraut zu machen, indem sie unter den Augen der Leser einen Multiple-ChoiceFragebogen ausfüllt (Abb. 6).
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Abbildung 6: Manami vermittelt Stichworte zu Stalking
Quelle: Momochi: Bd. 6: 20
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Folgt man der Auffassung von Heike Jüngst, dass Sachcomics in der Regel keine eigenen Gattungsstrukturen ausbilden, sondern auf „Spendertextsorten“ zurückgreifen (Jüngst 2008: 12), so kommt im gegebenen Fall aus naheliegenden Gründen zunächst einmal das bei Jüngst selbst präsentierte Vorbild der „Confidential Talks“ in Betracht (Jüngst 2010: 274). Tatsächlich finden sich die bei Jüngst festgehaltenen Merkmale des vertrauli-
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chen Gesprächs großenteils in den vertraulichen Bekenntnissen der Protagonisten Reiko Momochis wieder, und beim Gegenstand des Textes handelt es sich stets um die virulenten Probleme einer der literarischen Figuren, deren Offenbarung diesen nicht leichtfällt: „[…] the topics of confidential talks concern problems that one of the characters concern about. This means they are often taboo topics, connected with sexuality or health issues“ (ebd.: 275). Allerdings tritt in den hier vorliegenden Manga-Erzählungen der Leser bzw. die Leserin an die Stelle des Dialogpartners der literarischen Figur. Der „Talk“ findet nicht oder nur begrenzt zwischen den Comic-Figuren statt, sondern die Leserin rezipiert die intimen Erfahrungen ihres literarischen Gegenübers. Als Angehörige der gleichen Generation und Geschlechtsgenossinnen sind adoleszente Mädchen die primären natürlichen Partnerinnen in diesem von den Charakteren der Confidential Confessions initiierten Kommunikationsprozess, und es ist zu erwarten, dass dieses Angebot sie in besonderer Weise affiziert: „Girls tend to talk to each other a lot […] and talking represents the basis of girl’s friendships. […] Even at an early age, girl’s games involve talking. Sharing secrets is an important feature of these games, as it determines the social standing of a girl within an all-girl group“ (ebd.: 276). Die Frage nach den Adressaten scheint sich damit von selbst zu beantworten. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die adressatenorientierte Textsorte Shôjo-Manga auch von einem Teil der jungen männlichen Leser akzeptiert wird, wie generell derartige Gender- oder auch Alterszuschreibungen bei den Manga nicht als Ausschlusskriterien verstanden werden dürfen. Im Übrigen ergibt sich eine nicht unwesentliche Differenz im Hinblick auf die Adressaten der Confidential Confessions im Ursprungsland zu denjenigen in Europa, die wohl noch der Aufklärung bedarf. Erstaunlich ist nämlich in diesem Kontext, dass das Magazin Dessert, in dem Reiko Momochis Geschichten zuerst in Fortsetzungen abgedruckt wurden, in Japan als Zeitschrift für ältere Teens und junge Twens geführt wird, die im Newsletter der Japanese Manga Magazine Circulation Numbers nicht unter den Mädchen-, sondern unter den Frauenzeitschriften gelistet wird.2 Demgegenüber hat der deutsche Ableger des Verlags Tokyopop die ersten beiden Bände seiner deutschsprachigen Ausgabe mit dem Altersgruppen2 | Vgl. http://www.animenewsnetwork.com/news/2010-01-18/2009-japanesemanga-magazine-circulation-numbers vom 18.01.2010 und http://en.wikipedia. org/wiki/Dessert vom 17.02.2012
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label „16+“ versehen, um diese ab dem dritten Band wie auch für die Folgeserie Suspicious Secrets schließlich noch auf „15+“ zu reduzieren. Wie immer dieser Unterschied im Hinblick auf die anvisierten Rezipientengruppen in diesem konkreten Fall auch zu erklären sein mag, so zeigt ein Blick auf im deutschsprachigen Raum gegebene jugendliterarische Konventionen und verwandte Gattungen, dass die Import-Ausgabe der Confidential Confessions im Kontext der hiesigen jugendliterarischen Landschaft nicht ganz falsch verortet wurde. Die Art von Erzählung, welche die Autorin dieser Manga-Serie bietet, weist in ihrer Topik nicht nur deutliche Übereinstimmungen mit dem Modell des „Confidential Talk“ auf, sondern erweist sich in allen wesentlichen Zügen als Ausläufer einer seit den 1970er-Jahren verbreiteten Textsorte, für die sich der Begriff der „problemorientierten Jugenderzählung“ eingebürgert hat. Als eine wesentliche Spielart der zeitgenössischen realistischen Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Scheiner 2000) nimmt sie Elemente aufklärerischer Traditionen auf und entwickelt diese weiter zur „modernen sozialkritischen Problemerzählung“ (Payrhuber 2011: 109). Das Phänomen „Problembuch“ genoss lange Zeit keine allzu große Reputation in der Kritik, und es wurden nicht zuletzt auch klare Gattungskonturen vermisst (vgl. Weinkauff 2006: 661). Die Kritik an Büchern, die den Leser anscheinend „zu was kriegen“ wollen, wurde in der Kinder- und Jugendliteratur selbst auch ganz unverblümt vorgetragen: Michael Endes Bastian Balthasar Bux äußert zu Beginn der Unendlichen Geschichte seine tiefe Abneigung gegen Bücher, die „ganz alltägliche Begebenheiten aus dem ganz alltäglichen Leben irgendwelcher ganz alltäglichen Leute“ erzählen, verbunden mit der Absicht, darin etwas aufzuzeigen (Ende 1979: 26). In jüngerer Zeit hat jedoch Hans-Heino Ewers auf die besondere Relevanz der problemorientierten Erzählung hingewiesen und unter Verweis auf deren bislang verkannte Wurzeln im novellistischen Erzählen auf deren Legitimität insistiert. Es handle sich um Texte unterschiedlicher Art, „denen gemeinsam ist, dass sie ernste, problemhaltige und konfliktträchtige Stoffe aus der Gegenwart aufgreifen und literarisch auf unterschiedliche, jedoch nicht beiläufige Weise verarbeiten“ (Ewers 2006: 8). Von besonderer Bedeutung dürfte im Übrigen der Umstand sein, dass die problemorientierte Erzählung eine genuin jugendliterarische Erscheinung darstellt, die sich in dieser Form und Thematik in der Erwachsenenliteratur nicht findet. Problemorientiertes Erzählen tritt in den Confidential Confessions in zweierlei Grundformen auf. So enthalten die Bände 1–6 der Taschen-
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buchausgabe ausschließlich Texte, die als Exposition eines bestimmten Jugendproblems und exemplarische Fallgeschichten angelegt sind, die prototypische Handlungen, Verhaltensweisen und Schicksale der Protagonisten bieten. Wie die Autorin im Nachwort zu Band 4 feststellt, möchte sie ihre Erzählungen nicht als bloße „fiktive Geschichten“ verstanden wissen. Andererseits wird klargestellt, dass es sich nicht um Dokumentationen realer Ereignisse handelt. Zwar basierten bestimmte Erzählungen, wie etwa die Mobbing-Geschichte Morgen (Bd. 4: 115–164) auf „wahren Begebenheiten“. Doch wird im Fall anderer Erzählungen, wie etwa der AIDS-Geschichte Der Wunsch, ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „alle Personen, Schauplätze und Ereignisse […] frei erfunden“ seien (Bd. 5: 215). Wie auch immer der mehr oder minder dokumentarische Anteil beschaffen sein mag, so sind alle diese Stories auf ein einziges, grundlegendes Problem hin zugespitzt, dessen Tragweite und dessen Lösungsmöglichkeiten ausgeleuchtet werden. Die zweite Variante problemorientierten Erzählens bei Reiko Momochi geht insofern andere Wege, als hier das spannungsreiche Erzählen in den Vordergrund tritt. Dies ist der Fall in der mit Kontakt überschriebenen Jugendbandengeschichte, welche die Bände 7 und 8 der Taschenbuchausgabe füllt, ebenso wie in der Folgeserie Suspicious Secrets, die in drei Bänden einem familiären Kriminalfall nachgeht. Schrittweise hat sich hier die Erzählung einer Crime Story gegenüber derjenigen eines Problems in den Vordergrund geschoben. Löst sich in Kontakt die Fokussierung auf das einzelne Problem in der Thematisierung eines Komplexes von Jugendprostitution, Gewalt und Erpressung in einer deutlich längeren Erzählung auf, so rückt das „dunkle Familiengeheimnis“ in Suspicious Secrets, die Beseitigung der Leiche eines Säuglings und der daraus folgenden Taten und Verwicklungen, gänzlich weg von der Thematisierung genuiner Jugendprobleme. Lediglich ein Rest davon erhält sich innerhalb der Kriminalgeschichte in der Auseinandersetzung mit den psychischen Nöten der Protagonistin Kanami, deren Weltbild in eine Krise gerät. Auch die äußere Aufmachung der Tankôbon-Ausgabe der „verdächtigen Geheimnisse“ unterscheidet sich nun signifikant von derjenigen der Vorgängerserie: An die Stelle der monochrom-düsteren Umschläge mit lasierend im Hintergrund gehaltenen Themenstichworten (wie „drug abuse“, „sexual arassment“, „rape“ u.a.) sind in Pink und Pastellfarben gehaltene Cover getreten, die sich weitgehend an paratextuellen Elementen orientieren, wie sie üblicherweise von einem Shôjo-Manga erwartet werden dürfen. Wie es scheint, haben sich Autorin und Verlag in der Entwicklung ihres Werks
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dafür entschieden, die Grenzen des problemorientierten Erzählens hin zur Rückkehr zu narrativen Genre-Konventionen des Mainstream-Manga zu überschreiten. Wenngleich dies nicht einmal schlecht gelungen sein mag, so ging damit doch der ursprüngliche Charakter der Serie weitgehend verloren, und die Problemerzählung verwandelt sich mehr oder weniger in ein Genre, das in den japanischen Comics wie auch in entsprechenden TV-Serien unter der Bezeichnung „Drama“ geführt wird. In der westlichen Populärkultur ist dieses Phänomen unter dem Namen der – gezeichneten oder filmischen – Soap Opera bekannt.
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L ITER ATURVERZEICHNIS Primärliteratur Ende, Michael (1979): Die unendliche Geschichte, Stuttgart: Thienemann. Momochi, Reiko (2004–2006): Confidential Confessions. Bd. 1–8, Hamburg: Tokyopop. Momochi, Reiko (2006): Suspicious Secrets. Bd. 1–3, Hamburg: Tokyopop.
Sekundärliteratur Berndt, Jaqueline (2000): Shôjo Manga/Mädchen-Comics in Japan, in: Lexikon der Comics. 35. Ergänzungslieferung, Meitingen: Corian. S. 1–40. Bouissou, Jean-Marie (2010): Manga. Histoire et Univers de la Bande Dessinée Japonaise, Arles: Éditions Philippe Picquier. [o.V.] (2005): „Confidential Confessions“, in: AnimaniA, 1–2, S. 24. Ewers, Hans-Heino (1989): „Zwischen Problemliteratur und Adoleszenzroman: Aktuelle Tendenzen der Belletristik für Jugendliche und junge Erwachsene“, in: Informationen des Arbeitskreises für Jugendliteratur 2, S. 4–23. Ewers, Hans-Heino (2006): Zu unrecht verschmäht. Problemliteratur für Jugendliche und die Gattung der Problemerzählung. Vortrag auf der Kinder- und Jugendliteraturtagung in der evangelischen Akademie Tutzing. 16.–18. Juni 2006. (Ms. masch., S. 1–19) – http://user. uni-frankfurt.de/~ewers/word-dl/Vortrag%20Tutzing%202006.pdf vom 29.10.2012. Gravett, Paul (2008): Manga. Manga. 60 Jahre japanische Comics. Aus dem Engl. von Bernd Leibowitz, Köln: Egmont. Groensteen, Thierry (1991): L’Univers des Mangas. Une Introduction à la Bande Dessinée Japonaise, Tournai: Casterman. Holzer, Stefanie (2005): „Confidential Confessions“, in: MangaSzene, 17, S. 37. http://en.wikipedia.org/wiki/Dessert vom 17.02.2012. http://www.animenewsnetwork.com/news/2010-01-18/2009-japanesemanga-magazine-circulation-numbers vom 18.01.2010.
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Johnson-Woods, Toni (Hg.) (2010): Manga. An Anthology of Global and Cultural Perspectives, London/New York: Continuum. Jüngst, Heike (2008): Sachcomics. Lexikon der Comics. 65. Ergänzungslieferung, Meitingen: Corian. S. 1–36. Jüngst, Heike (2010): Information Comics. Knowledge Transfer in a Popular Format. (= Leipziger Studien zur angewandten Linguistik und Translatologie, Band 7), Frankfurt u.a.: Lang. Koyama-Richard, Brigitte (2008): 1000 Jahre Manga. Das Kultmedium und seine Geschichte, Paris: Flammarion. Momochi, Reiko (2005): Nachwort, in: dies.: Confidential Confessions, Bd. 4. Hamburg: Tokyopop (unpag.) Payrhuber, Franz-Josef (2011): Moderne realistische Jugendliteratur, in: Günter Lange (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart, Baltmannsweiler: Schneider, S. 106–124. Scheiner, Peter (2000): Realistische Kinder- und Jugendliteratur, in: Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1, Baltmannsweiler: Schneider, S. 158–186. Schodt, Frederik (1996): Dreamland Japan. Writings on Modern Manga, Berkeley: Stone Bridge Press. Weinkauff, Gina (2006): Ent-Fernungen. Fremdwahrnehmung und Kulturtransfer in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur seit 1945. Bd. 1, München: Iudicium. S. 661f.
A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1a: Momochi, Reiko (2003): Confidential Confessions. Bd. 4. Tokio: Kodansha. Abb. 1b: Momochi, Reiko (2005): Confidential Confessions. Bd. 4. Hamburg: Tokyopop. Abb. 2a: Momochi, Reiko (2004): Confidential Confessions. Bd. 1. Hamburg: Tokyopop, S. 3. Abb. 2b: Momochi, Reiko (2004): Confidential Confessions. Bd. 1. Hamburg: Tokyopop, S. 3. Abb. 3: Momochi, Reiko (2004): Confidential Confessions. Bd. 1. Hamburg: Tokyopop, S. 5. Abb. 4: Momochi, Reiko (2004): Confidential Confessions. Bd. 1. Hamburg: Tokyopop, S. 72.
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Abb. 5: Momochi, Reiko (2004): Confidential Confessions. Bd. 2. Hamburg: Tokyopop, S. 116. Abb. 6: Momochi, Reiko (2005): Confidential Confessions. Bd. 6. Hamburg: Tokyopop, S. 20.
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Pathosformel und Ausdrucksfigur in Educational Comics Bildhafte Sinnproduktion durch die Anlehnung an die kunsthistorische und mediale Tradition Matthias Vogel
Gehen diskursive Wissensbestände in die erlebnisstarken Bild-Text-Informationen der Educational Comics über, kommt dem Bild meist die Aufgabe zu, die Rezipienten zu emotionalisieren und dadurch die Lesebereitschaft der jeweiligen Zielgruppen zu erhöhen. Ist das Interesse durch die visuellen Stimuli geweckt, steigt nach verbreiteter Meinung auch die Bereitschaft, die abstrakten textlichen Informationen aufzunehmen. Da bei entsprechendem Gebrauch anderes und mehr durch ikonische Elemente dargestellt werden kann, liegt die Vermutung nahe, dass möglichst alles, was kommuniziert werden soll, im Bild gezeigt, aber nicht alles sprachlich ausformuliert wird. Die Erfahrung zeigt, dass das Gewicht jedoch auf dem geschriebenen Text liegt, dass viele Sachcomics das Bild nur als zusätzlichen Anreiz, nicht als Sinnstifter einsetzen (vgl. Cryan/Shatil/Mayblin 2010; Robinson/Groves 2011). Im Bereich der Educational Comics zur Philosophie und Logik, denen in diesem Artikel das besondere Augenmerk gilt, werden die Einzelbilder manchmal durch kurze Erzählsequenzen ergänzt (vgl. Osborne/Edney 1996). Dass hingegen der ganze Wissensbestand in optisch narrative Elemente transformiert wird und das Bild zumindest gleichwertig neben das Wort tritt, ist eher selten. Bildskeptiker befürchten ohnehin, dass in der Absicht der Popularisierung im Educational Comic durch affektive Aufladung und selektive Reduktion Erfahrungen nivelliert und Erkenntnisse verwässert werden (vgl. Schmidt 2005). Dieser Aufsatz möchte durch ästhetische Analyse vor allem der ikonischen Ele-
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mente von Sachcomics aufzeigen, wie Zeichner und Autoren der Trivialisierung entgegenwirken, damit der Bildbereich insgesamt aufgewertet werden kann. Die bildenden Künste und neueren Medien haben im Laufe von Jahrhunderten Strategien entwickelt, ihre emotionalen und informativen Gehalte zu verdichten und zu intensivieren. Dem Ausdruck der Leidenschaften (Expression des passions), meist über Körperhaltung, Mimik und Gestik transportiert, wird dabei eine entscheidende Rolle zugewiesen. So erstaunt es nicht, dass viele visuelle Elemente der Educational Comics bereits bestehenden Bildern entsprechen. Auf der narrativen Ebene wird durch die Personalisierung eine Identifikation mit den Erzählern bzw. Fokalisatoren vorangetrieben. Eine starre Zielgruppenspezifik, durch die Bildzeichen ohnehin schon aufgebrochen, ist dabei nicht angestrebt. Hingegen werden die hidden agendas – moralische, religiöse oder politische Botschaften, die mit dem Hauptthema nur lose verbunden sind – vornehmlich durch ikonische Zeichen vermittelt. Damit die visuellen Daten auch tatsächlich wahrgenommen, dekodiert und gespeichert werden können, ist in der Regel ein gewisser Grad an Visual Literacy vorausgesetzt.
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Die in dieser kurzen Einleitung skizzierten Fragestellungen und Hypothesen sollen anhand eines Fallbeispiels näher untersucht und erläutert werden. Auf einer Zeichnung sehen wir einen jungen Mann in einem Anzug mit Krawatte. Das Haar leicht zerzaust, die Augen zuversichtlich in eine unbestimmbare Ferne gerichtet, die dünnen Lippen entschlossen aufeinandergepresst. Strahlen gehen von seiner oberen Gesichtshälfte aus; es ist ein auratisches Bildnis, das Bild eines Auserwählten (Abb. 1). Es handelt sich um ein Porträt von Bertrand Russell, der im Augenblick der Wiedergabe eingesehen hat, dass er weder zur Mathematik noch zur Philosophie berufen sei, sondern zur Logik, die an diesem Punkt der Erzählung als eine Art synthetische Wissenschaft aufgefasst wird, in der sich Wahrheitsverlangen und Ordnungsbedürfnis die Hand bieten. Es ist das Damaskuserlebnis des jungen Gelehrten, der nach einer Phase des Suchens und der Irrungen seinen Ort oder zumindest seinen Weg gefunden hat. Das einschneidende Geschehen, dem ein Akt der Selbsterkenntnis vorausgegangen war, wird in dem Educational Comic, dessen Titel in
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der deutschen Übersetzung Logicomix. Eine epische Suche nach Wahrheit lautet, nicht durch den Sturz vom Pferd, sondern durch den Fall aus dem Zeit- und Raumkontinuum symbolisiert. Möglich wird dieses eindrückliche Verfahren durch die komplexe narrative Struktur dieses Comics, bei der sich die verschiedenen Erzählebenen, im Bemühen die Fragestellungen und Positionen sowie Grundlagen und abenteuerliche Geschichte der neuzeitlichen Mathematik und Logik darzustellen, abwechseln und durchdringen. Abbildung 1: Logicomix, S. 96
In einer Rahmenerzählung befinden wir uns im Athen der Gegenwart und verfolgen die Autoren und Zeichner beim Entstehen des Comics, den wir fertig in den Händen halten. Wir bekommen Einblicke in das Alltagsleben und die Denkweise der Comic-Macher, sodass wir die Perspektive, von der aus das Ganze geschrieben ist, nachvollziehen können. Auf dieser Ebene wird einerseits über die formalen Entscheide, die Erzählweise und den Zeichenstil reflektiert, andererseits werden auch die Inhalte kommentiert, indem ein befreundeter Mathematiker und Computerexperte die Problemstellungen und Einsichten seiner historischen Kollegen analysiert. Auf der nächsten Ebene begleiten wir Bertrand Russell am 4. September 1939,
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dem Tag, an dem England Deutschland den Krieg erklärt hatte und der Zweite Weltkrieg scheinbar unausweichlich wurde, an eine amerikanische Eliteuniversität. Dort soll er einen Vortrag halten, dessen Titel lautet: Die Rolle der Logik im menschlichen Verhalten. Er wird von protestierenden Studenten, fanatischen Pazifisten und Isolationisten, aufgefordert, auf ihrer Seite Stellung zu beziehen. Die Frage, wie man sich in einer solchen historischen Situation verhalten soll, will Russell mit Hilfe der Logik und ihrer Geschichte beantworten, die er wiederum mit der eigenen Biografie verknüpft. So begleiten wir den Redner auf der untersten Erzählebene vom Kind zu dem Logiker und Philosophen, als der er in die Geschichte eingegangen ist, wobei im visuellen Bereich manchmal Flashbacks, manchmal Lichtbilder seine Worte begleiten. Dies erlaubt das Einziehen einer speziellen Bildebene, auf der Familien- und Dokumentarfotos gezeigt werden; dargestellt werden diese Medien mit zeichnerischen Mitteln in SchwarzWeiß. Die zeitlich am weitesten zurückliegende Ebene, die von den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts reicht, ist gleichsam der Hauptstrang der Erzählung. In Gelb grundierten Captions führt uns der alte Gelehrte durch sein Leben, wobei er mit Reflexionen und Urteilen nicht spart. Bemerkungen und Gedanken der agierenden Figuren werden innerhalb dieses Erzählstrangs in der Regel in Sprechblasen wiedergegeben. Abbildung 2: Logicomix, S. 96
Auf dem eingangs erwähnten Panel sehen wir Russell im Moment beglückender Selbsteinsicht: „Von diesem Tag an wusste ich: Ich war ein … Logiker“ (Abb. 2). Die Erzählung springt im gleichen Moment von der zeitlich tiefsten Schicht in die Gegenwart, von einem Close-up des ange-
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strengt denkenden und in sich schauenden jungen Mathematikers zu einer hagiografischen Darstellung desselben. Gemildert und gebrochen wird diese Überhöhung dadurch, dass es sich um eine eher skizzenhafte, auf einer Pinnwand angebrachte Zeichnung handelt, die als Bild im Bild auf der linken Seite des Panels erscheint, das die ganze Breite einer Seite einnimmt. Die Schatten eines Betrachters vor der Skizze und andere Raumelemente verhindern eine homogene Ausleuchtung der Wiedergabe, wodurch sie etwas Vorläufiges und Prozesshaftes erhält. Rechts davon öffnet sich ein kreisrundes Fenster, in dem wir zwei Personen der Rahmenhandlung sehen (die Zeichnerin Anni und den Informatiker Christos), die die Anordnung an der Wand betrachten und eine Bemerkung zur Entwicklung der Haupterzählung machen. Der Kommentar kennzeichnet den Augenblick zusätzlich als Chairos: „Aha … Jetzt wird die Sache spannend.“ Das Herausspringen aus Zeit und Raum wird auch auf der Textebene visualisiert. Die Stimme des alten Russell aus dem Off, deren Rede in rechteckigen Felder erscheint, bricht gleichsam ab, und das letzte Wort „Logiker“ erscheint in großen roten handgeschriebenen Lettern unten auf der Porträtskizze mit einem ebenfalls roten Ausrufezeichen versehen. Es ist das einzige Mal in dem Comic, dass ein entscheidender Umschlag im Leben und Denken eines Protagonisten durch den radikalen Wechsel der Erzählebene und der -perspektive veranschaulicht wird. Ansonsten werden geistig psychische Transformationen, denen meist stark affektive Phasen vorangegangen sind, rein durch die Mittel der Expression des passions oder der Pathosformeln veranschaulicht, Erzählstrategien, die aus der Kunstgeschichte bekannt sind. So wird der Augenblick, in dem sich Bertrand Russell von den Gespenstern seines familiären Erbes, in dem Rationalität und Irrationalität, Genie und Wahnsinn, aber auch Freigeisterei und Bigotterie als dichotome Größen aufeinanderprallen, mittels eines intensiven Natur- und Kulturerlebnisses befreit, in der Form eines „Lichtgebetes“ dargestellt (Abb. 3). Bekannt wurde diese Pathosformel durch Fidus (bürgerl. Name Hugo Höppner) und die Reformbewegung um 1900, von wo aus sie bei Leni Riefenstahl und anderen Künstlern in die nationalsozialistische Ästhetik einfloss (Paul 2009: 40–47). Die Wurzel der intensiven Körperhaltung, bei der sich ganz offensichtlich innere Energien entladen, liegt jedoch wie so oft in der Antike, bei der Gestik von Oranten. Neben der Erzählstimme Russells werden die dominanten Bilder durch Verse aus Shelleys Gedicht „Alastor“ begleitet; Verse, die für den jungen Adeligen bei der Initiation
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vom ängstlichen Jüngling zum weitsichtigen Gelehrten von großer Bedeutung waren. Das Pathos der Bilder wird also in Logicomix von der Textebene aufgegriffen und mitgetragen, denn so vielfältig wie die Bildgenres sind, die verwendet werden – sie reichen von der Fotografie über das dokumentarische Sachbild und weiter zu den Mustern und Pathosformeln aus der Kunstgeschichte bis zum Diagramm – so unterschiedlich sind auch die Textgattungen, bei denen sich sachliche Informationen, biografische Erzählung, dramatische Dialoge und affektive Lyrik miteinander mischen bzw. in schneller Folge einander abwechseln. An anderen Stellen im Buch tritt gleichfalls eine expressive Gestik oder Mimik beim Ausdruck der Leidenschaften an die Seite der Wörter. ZusätzAbbildung 3: Logicomix, S. 85
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lich werden diese traditionellen kunstgeschichtlichen Instrumentarien durch grafische Mittel, die als Äquivalent zur Lautmalerei auftreten, unterstützt. Die ersten Nächte auf „Pembroke Lodge“, dem Herrenhaus seiner Großeltern, werden für den verwaisten „Master Bertie“ zum reinen Horror. Während er im Bett liegt, hört er ein Heulen, das an Eulen oder den Wind erinnert, aber einen unheimlichen menschlichen Klang besitzt. Der Knabe reißt nicht nur die Augen im Schrecken mehr und mehr auf, er klammert sich auch verzweifelt an die Bettlaken, die er bis zur Nasenspitze hochzieht. Wabernde Lettern, die sich zur „Whooos“ und „Hooos“ formen und immer größer werden (die zunehmende Lautstärke andeutend), durchziehen zusätzlich den Raum. Tatsächlich etwas Schreckliches verursacht den Lärm; es ist der Onkel, der wie ein Gefangener in einer Dachkammer haust, damit sein Wahnsinn nicht publik werde und die Familienehre beschmutze. Die Liste der Panels mit dem körperlichen Ausdruck heftiger Gefühle lässt sich weiter fortsetzen, sie ist jedoch nicht beliebig lang. Das hat zur Folge, dass dieses Gestaltungsmittel sich nicht abnützt, dass der Aufmerksamkeitsgrad des durchschnittlichen Lesers beim jeweiligen Erscheinen der Expression des passions spontan steigt. In Entsprechung zum kognitiven Inhalt von Logicomix verstärkt sich der Ausdruck der körperlichen Zeichen häufig im Augenblick einer plötzlichen Einsicht, eines Gedankenblitzes; ein solcher Erkenntnisakt kann sich dann auch über einige Panels hinziehen (Abb. 4). Abbildung 4: Logicomix, S. 163
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Das Buch setzt sich von den meisten Comics im Themenbereich Logik, Mathematik, Philosophie ab, denn dort besitzen die Protagonisten selten einen starken Körperausdruck. Das liegt auch daran, dass sie selten im Augenblick der Erkenntnis dargestellt werden, vielmehr verkünden sie ihre Lehren in zeitlicher Distanz zu ihrer Prägung. Der Ausdruck heftiger Emotionen, der für Logicomix charakteristisch ist, unterstützt eine Grundangst, die sich durch das Buch zieht und in folgender These verdichtet werden kann: Nicht nur in den Künsten, auch im Bereich rationaler Wissenschaften und Philosophie ist die Nähe von Genie und Wahnsinn groß. Es ist nur konsequent, dass die Zeichen des Wahnsinns, die in diesem Buch gelegentlich auftreten, mit jenen der tiefen Einsicht in logisch-philosophische Probleme oft parallel geführt werden (Abb. 5). Eine dritte Gruppe von Individuen weist gleichfalls eine große Ähnlichkeit in Mimik und Gestik mit den eben erwähnten auf; es sind die politischen Fanatiker wie die Isolationisten, die glauben, eine Wahrheit erkannt zu haben, und getrieben werden, diese anderen zu verkünden (Abb. 6). In allen drei Fällen entladen sich innere unsichtbare Vorgänge und Energien nach außen. Es kommt zu spontanen heftigen Bewegungen der Muskeln, der Extremitäten und des Gesichts. Es ist nicht erstaunlich, dass Ludwig Wittgenstein in diesem Comic als ein Fanatiker des Geistes dargestellt wird, der über Scherben geht, um dem Weg, den er für richtig erkannt hat, weiter zu folgen (Abb. 7). Die wichtigsten Einsichten kommen ihm am Rande des individuellen und kollektiven Wahnsinns, inmitten der schrecklichen Zerstörungen des Ersten Weltkrieges (Abb. 8). Abbildung 5: Logicomix, S. 7
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Abbildung 6: Logicomix, S. 19
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Abbildung 8: Logicomix, S. 249
Logicomix unternimmt alles, um den Leser in eine magische Welt zu entführen, in der die Zeit nicht mehr linear abläuft, sondern komplexe Schleifen vollführt – u.a. verursacht durch das harte Aufeinanderprallen simultaner und linearer Erzählstrukturen. Dadurch löst sich der Raum vom zweidimensionalen Blatt und bildet Spiralen und Wirbel, in denen sich der Rezipient zeitweise verliert (vgl. dazu Berninger/Ecke/Haberkorn 2010: 2f.). Vieles kann mit vielem in zeitlich kausale Bezüge treten. Das virtuose Gewebe innerhalb der Text- und Bildebenen, aber auch unter-
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einander, strapaziert das Format eines Educational Comic, sodass man gelegentlich unsicher ist, ob es sich tatsächlich um diese Gattung handelt oder lediglich um eine Graphic Novel mit einem hohen Informationsgehalt (zur Definition vgl. Jüngst 2010: 1–5). Dafür spricht, dass die biografischen Erzählstränge mittels dramatischer Dialoge und überraschender Bildschnitte vorwärtsgetrieben werden: keine langen Einstellungen, kein Verweilen an einem Ort oder einem Gedanken. Die Spannung wird verstärkt, die Intensität gesteigert, bis der energetische Druck unerträglich wird und sich in Wortkaskaden oder physisch-seelischen Zusammenbrüchen entladen muss. Auf der Bildebene werden diese Höhepunkte nicht selten von den Zeichen für eine Explosion, für Comics hochgradig konventionalisiert, begleitet. Die wichtigsten Entdeckungen und Einsichten zur Logik und Mathematik der Zeit zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges kommen zwar zur Sprache, sie werden jedoch oft nur angedeutet oder thesenartig vermittelt und kaum einmal nüchtern und argumentativ dargelegt und ausgebreitet. Es geht den Produzenten des Comics offenbar nicht darum, eine möglichst große Menge an Wissensbeständen zu vermitteln. Sie konzentrieren sich auf eine beschränkte Zahl an Fragestellungen und Fakten, die sich durch aufwendige, stark emotionalisierte Rahmenhandlungen dem Leser möglichst nachhaltig nahebringen möchten. Als Anhang findet sich allerdings ein Glossar bzw. biografisches Lexikon, in dem sich die wichtigen Begriffe, Personen sowie ihre Ideen rein sprachlich erläutert finden. Kritiker werden trotzdem einwenden, dass neben den dramatischen Aktionen die nüchternen Informationen verblassen und in den Hintergrund treten. Dagegen könnte man einwenden: Akteure wie Wittgenstein seien von ihren Gedanken derart besessen, dass sich die Gedanken verselbstständigen und aktiv an den Geschehnissen teilhaben. Die Ideen, an sich unsichtbar und passiv, werden, indem sie sich inkorporieren, zu wichtigen Agenten in diesem Buch. Dass der Leser nie genau weiß, ob es sich um geniale Einfälle oder Wahnvorstellungen handelt, sorgt für zusätzliche Spannung. Die Zwischenstellung von Logicomix zwischen Sach- und Abenteuercomic, zwischen Fakten und Fiktionen, die sich im reichlich verwendeten biografischen Material ohnehin mischen, wird von den Autoren im Buch selbst reflektiert. Sie versuchen zu verhindern, dass das spezialisierte Wissen allzu stark popularisiert wird, denn sie wollen keine „Logik für Dummies“ schreiben. Es ist offensichtlich, dass sie lieber einen Abenteuercomic mit viel Informationsgehalt produzieren als ein Lehrbuch im Ge-
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wand einer Graphic Novel: „In diesem Buch findet man das, was 99,9% aller Comics ausmacht … wahrhaft grundsoliden … Erzählstoff. Eine gute Story eben!“ (Doxiadis/Papdimitrou/Papadatos/Di Donna 2010: 13). Die an sich abstrakten Themen der Logik, bei denen es oft auch um schwierige existenzielle Fragen des Anfangs und des Endes, um Endlichkeit und Unendlichkeit, geht, werden manchmal vereinfacht, manchmal nur angedeutet, aber immer in eine narrative Struktur eingebunden. Es soll ganz offensichtlich in Bezug auf Alter, Geschlecht oder Bildungsstand eine große Zahl unterschiedlicher Zielgruppen angesprochen werden, dazu dient die beträchtliche Zahl an Erzählern und Fokalisatoren, über die die Identifikation der Leser erfolgen kann. In der Terminologie von Heike E. Jüngst handelt es sich um einen Information Comic, eine Untergruppe der Educational Comics, die in einem stärkeren Maß emotionalisiert sind (Jüngst 2010: 2, 22–38). Nach dieser Definition ist in diesem Genre die Gleichrangigkeit von Text und Bild angestrebt, damit es zu einer Metamorphose der reinen Textinformation in eine Bild-Text-Information kommen kann. Wir können aus der skizzenhaften Beschreibung und Analyse dieses Fallbeispiels ableiten, dass die Betonung erzählerischer Element im Sachcomic – etwa durch den Einschub biografischer Details – die affektive Dimension stärkt. Aber auch die Bilder vermögen der Emotionalisierung Vorschub zu leisten, wie wir in der Folge noch näher darstellen möchten. Für die Speicherung im Gedächtnis ist eine solche Aktivierung der Empfindungen bei den Rezipienten durchaus förderlich – auch den Wissenstransfer irritiert sie nicht per se. Für den Informationsgehalt eines Comics wird es allerdings dann problematisch, wenn mittels Kryptik, Dichotomisierung oder Stereotypisierung direkt auf Affektreaktionen bei den Betrachtern gezielt wird (Micek/Mierwald 2011: 1).
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Wie für die meisten Medien gilt auch für die Comics, dass Emotionen häufig visuell vermittelt werden. Selbst dort, wo sie uns kaltlassen, reagieren wir immer auch gefühlsmäßig auf die optischen Reize, sei es mit Widerwillen, sei es mit Langeweile oder weiteren Tönungen dazwischen. Die „Geschichte eng verknüpfter Wechselwirkungen“ zwischen den Bildmedien und den Emotionen ist bisher nur rudimentär skizziert (Grau/Keil 2005: 8). Dafür ist in letzter Zeit viel getan worden, das Begriffsspektrum
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zwischen Empfindung und Affekt zu klären und bewusst zu verwenden (Hastedt 2009: 11–26). Wir gebrauchen in der Folge meist den Begriff der Emotion, und zwar in der Tönung, wie sie unter anderem Klaus Herding benützt hat (Herding/Stumpfhaus 2004: 7). Dort wird die Emotion, eine „primär nach außen gerichtete Gefühlsäußerungen“, dem Gefühl, einer „oft nach innen gerichteten Seelenregungen“, gegenübergestellt und dadurch näher charakterisiert, dass sie „eine Art Übereinkunft oder Auseinandersetzung mit anderen sucht“. Affekte, plötzlich aufflammend und schnell abklingend, und Leidenschaften, länger andauernd, können als Steigerungsformen der Emotion gelten. Mittlerweile ist es ein Gemeinplatz, dass Gefühlsäußerungen in allen Schattierungen bei aller Universalität und biologischen Determiniertheit auch kulturell konstituiert sind (vgl. Foucault 1973: S. 9–12). Unzweifelhaft üben visuelle Botschaften dadurch Macht auf Individuen und Kollektive aus, dass sie ganz unmittelbar bestimmte Gefühle wie Verunsicherung und Angst, aber auch Begierde ansprechen. So kurzzeitig die so ausgelösten Reaktionen zuweilen auch sein mögen, sie infizieren den gesamten Organismus und lösen Veränderungen des Verhaltens aus (Grau/Keil 2005: 11). Vor allem jedoch bestimmen sie in einem wesentlichen Maße unsere Gedächtnisinhalte mit (Mangold 2007: 291–296). Es sind offensichtlich Emotionen, die die Selektionsmechanismen steuern, mit deren Hilfe wir in der Informationsflut navigieren. Die Welt wird zumindest vorstrukturiert, bevor noch die rationalen und kognitiven Ordnungskriterien und -muster greifen (vgl. LeDoux 2001). Wie genau diese Mechanismen aussehen, wissen wir noch nicht, aber wie bei der Medienwirkung schlechthin lässt sich auch hier sagen, dass es nicht allein auf quantitative Werte der auf die Sinne wirkenden Elemente ankommt. Weder steigern starke Stimuli automatisch die Emotionen, noch beeinflussen heftige Affekte zwangsläufig die Nachhaltigkeit der Gedächtnisleistung; denn das Resultat wird von Kontextvariablen wie Stimmung, Motivation und Wissensstand der Rezipienten maßgebend beeinflusst. Präferenzen bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Bildern sind komplexe kulturspezifische Prozesse, die von gesellschaftlichen Leitvorstellungen und medientechnischen Entwicklungen abhängen. Trotzdem lässt sich beobachten: Nur dort, wo wir mitfiebern und mitleiden, wandeln sich die sichtbaren äußeren in innere Bilder um. In diesem Sinne war es eine kluge Entscheidung von den Autoren von Logicomix, die Suche von Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein nach Erkenntnis und Gewissheit als Pas-
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sion darzustellen. Allerdings bleibt der Weg, das unerbittliche Ringen um Wahrheit, nachhaltiger in der Erinnerung haften als die sachlichen Resultate und dürren Schlussfolgerungen. Die heftigen Reaktionen auf das Visuelle mögen auf die assoziative Logik zurückzuführen sein, mit der wir Bildern aller Art in erster Linie begegnen, und dem kleinen Anteil an argumentativer Logik, die für ein Textverständnis notwendig ist (vgl. Kappas/Müller 2006: 3). Sprunghaftigkeit und Plötzlichkeit sind Kennzeichen der visuellen Wirkungsästhetik, sie mutet deshalb weit weniger rational an als linear strukturierte Texte mit ihren grammatikalischen Regeln und der Ablaufkonvention. Die hier angesprochenen Assoziationen beruhen meist auf mentalen Bildern, deren Bedeutungen für das jeweilige Individuum, aber auch für Kollektive dekodierbar und interpretierbar sind. Im Zuge des Iconic Turn und des Emotional Turn seit dem Beginn der 1990er-Jahre wird sowohl die sinngebende Dimension der Bilder betont (Boehm 2007:9–18) als auch die strikte Trennung von Kognition und Emotion als hinfällig erklärt (vgl. von Borries 2008). Bild und Emotion können sich gerade in Bezug auf die Wissensaneignung gegenseitig hochschaukeln; so nehmen Gefühle einerseits einen wesentlichen Einfluss auf Lernprozesse und Leistungen, andererseits bescheren Erkenntnisse dem Subjekt auch wieder Hochgefühle. Emotionen scheinen die Wahrnehmung und das Erinnern maßgeblich zu strukturieren, und sie nehmen dadurch Einfluss auf die Umwandlung exogener in endogene Bilder und auf die Reaktivierung Letzterer bei konnotativen und assoziativen Rezeptionsprozessen. Da die Körpervorgänge bei der Bildanthropologie (Belting 2001: 11–56) eine zunehmend wichtige Rolle spielen und Emotionen nicht anders als inkorporiert begriffen werden können, wird ihnen auch aus dieser Perspektive wieder eine hervorragende Bedeutung zuerkannt. Dies alles ändert nichts an der Tatsache, dass der Begriff Emotion schwer fassbar bleibt, da es scheinbar heterogene Definitionen gibt und die Übergänge zu den verwandten Termini wie Affekt, Empfinden, Gefühl, Pathos, Passion … fliessend sind. Der gemeinsame Nenner aller Definitionen wurde von Kappas wie folgt zusammengefasst: „Emotionen werden als ‚Syndrome‘ begriffen, das heißt als komplexe prozesshafte Zustände, die sich aus mehreren Komponenten zusammensetzen und subjektive Empfindungen ebenso wie Verhalten und psychische Reaktionen umfassen“ (Kappas/Müller 2006: 5).
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Die Frage nach den Charakteristika von Bildern, dem Visuellen schlechthin, ist nicht trivial. Häufig ist ihnen mit Negativdefinitionen leichter beizukommen, so lässt sich sagen, dass die meisten Bildqualitäten – abgesehen von ihren physischen Dimensionen – nur schwer zu vermessen sind (Kappas/Müller 2006: 3). Diese Aussage gilt besonders auch für den affektiven Bereich. Die Emotionalität von Bildern ist vor allem indirekt über die Reaktionen von Betrachtern zu erfassen. Trotz der langen Tradition der Expression des passions ist das Wechselverhältnis zwischen dargestellten Emotionen und emotionalen Reaktionen noch nicht derart in die Tiefe analysiert, dass es möglich wäre, anhand vorliegender Bilder die Stärke der affektiven Ausschläge zu prognostizieren (vgl. Kirchner 1991; Vogel 2001). Die Schwierigkeit, die emotionalen Reaktionen von Rezipienten vorauszusagen, könnten mit den Prämissen, die für die Appraisaltheorie zentral sind, zusammenhängen. Danach lösen die Eigenschaften von Objekten und Ereignissen selbst innerhalb des gleichen Kulturkreises nicht spontan mehr oder weniger ähnliche Reaktionen aus. Vielmehr beurteilt jeder einzelne Rezipient die visuellen Reize, die von Gegenständen und Vorkommnissen ausgesandt werden, bezüglich ihrer Bedeutung für das jeweilige Individuum (Kappas/Müller 2006: 6f.). Die Hypothesen, die während dieser kurzen Interpretationsphasen aufgestellt und meist an Prädikaten wie gefährlich, abstoßend, nützlich, anziehend, begehrenswert festgemacht werden, sind für die ersten Emotionen verantwortlich, die von Wut über Schrecken bis zur Wohligkeit, Lust und Begehren führen können. Nach weiteren Phasen des Wahrnehmens und Reflektierens mögen die Anfangshypothesen auch wieder umgestoßen werden. Deshalb lässt sich das Appraisalmodell z. B. leicht mit den meisten Theorien des Sublimen in der Nachfolge von Edmund Burke zusammenbringen, denen zufolge sich die erste emotionale Reaktion des Schreckens angesichts von etwas Erhabenem allmählich in die des intellektuellen Vergnügens verwandelt (Burke 1990: 31–35). Die Bewertungsprozesse, die zur Hypothesenbildung führen, besitzen immer bewusste und unbewusste Anteile, und sie sind vor allem blitzschnell, was oft mit evolutionsbiologischen Notwendigkeiten in Verbindung gebracht wir. Selbst, wenn man diesen hier skizzierten Modellen visuellen Wahrnehmens und Verarbeitens mit Sympathie begegnet wie der Autor, bedeutet das noch nicht, dass man gewissen Bildern ein mehr oder weniger konstantes Wirkungspoten-
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zial zubilligt, wie dies u.a. vom IAPS (International Affective Picture System) suggeriert wird. Die visuelle Wirkungskonstanz von Bildern, auf denen haarige Riesenspinnen oder putzige Kätzchen dargestellt sind, ist besonders dann nicht weiter erstaunlich, wenn man sich bewusst ist, dass es sich dabei nicht um unmittelbare Reaktionen auf die Bilder handelt, sondern auf die Interpretationen von Bildern und ihren Inhalten, wie dies empirische Untersuchungen nahelegen. Weshalb wir auf Abbilder genauso heftig reagieren wie auf die zugrunde liegenden Gegenstände in der Realität, ist dadurch allerdings noch nicht erklärt, hier aber auch nicht Gegenstand unserer Überlegungen. Wir haben bei der Analyse von Logicomix gesehen, dass bei historischen Darstellungen von philosophischen und logischen Fragestellungen und möglichen Antworten darauf die emotionale Herangehensweise die Funktion übernimmt, dass sich die Rezipienten in vergangene Welten und geschichtliche Persönlichkeiten hineinzuversetzen vermögen, sodass sie ihr Schicksal hautnah miterleben. Da der Wissensstoff – trotz starker affektiver Aufladung des Erzählstrangs – grundsätzlich vernunftbetont und sperrig bleibt, ist die Gefahr gering, dass es bei solchen Formen des Reenactments zu einer emotionalen Überwältigung kommt, indem man in die vergangenen Welten eintaucht. Bei Illusions- und Immersionsbildmedien vom Diorama bis zum Computergame sind die „inneren Distanzierungskräfte der Betrachter“ eher gefragt (Grau 2005: 71). Der unmittelbare Zugang zu der Vergangenheit, der durch eine emotionalisierte Darstellungsweise wie in unserem Fallbeispiel suggeriert wird, führt trotzdem zuweilen zum Trugschluss, dass man von einem zeitgenössischen Standpunkt und Kontext aus das Andere und Vergangene vollständig begreifen kann. Das Ausbleiben der Reflexion über das fundamental Fremde und für immer Verflossene ist eine mögliche Folge. Eine andere wäre die Verweigerung, von der emotionalen auf die kognitive Ebene zu wechseln. Hinter der Vorstellung, dass ein solcher Umschaltmechanismus nötig sei, steht allerdings der Antagonismus von Gefühl und Verstand, wie er seit Platon vorgegeben ist (vgl. Hastedt 2009: 27ff.). Mit der Einführung des Terminus Emotionale Intelligenz wird in jüngster Zeit angedeutet, dass Emotionalität und Rationalität nicht zwingend Gegenbegriffe sein müssen (vgl. Goleman 1997). Dem Körper kommt bei dieser erneuten Annäherung von Ratio und Emotio die Funktion des Vermittlers zu.
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Da Pathos in seiner Grundbedeutung Leiden, Erleiden bedeutet, wird das Pathetische, eine eminent rezeptionsästhetische Kategorie, nicht erst seit Goethe und Nietzsche als ambivalente Größe aufgefasst, in der Schönheit und Schmerz eine merkwürdige Allianz eingehen. Seit der antiken Rhetorik lebt die Vorstellung weiter, dass Bilder oder Texte, die diese Qualität besitzen, bei dem Rezipienten heftige Emotionen auslösen und sich auf diese Weise tief in seinem Gedächtnis einprägen. Weil das Pathos in der Geschichte der europäischen Künste oft mit der Tragödie und dem Tragischen verbunden wurde (Port 2005: 11ff.), nimmt es in der Comic-Literatur zunächst einen marginalen Platz ein. Die „höchste Intensität und Kraft der Leidenschaft“, wie Friedrich Schlegel das Pathos in seiner Geschichte der europäischen Literatur definiert und schon gar nicht seine irritierende Rückseite, die Pathologie, scheinen wenig mit dem unterhaltenden Genre zu tun zu haben, als das Comic-Zeichner ihr Medium zunächst verstanden. Der Einsatz pathetischer Gesten führte oft zu komischen Effekten, die in der Regel intendiert sind. Durch den Austausch mit verwandten Gattungen wie dem politischen Plakat, der Werbegrafik oder der Karikatur (vgl. Fidus, Hans Herbert Schweitzer) und mittels direkter Anlehnung an die Hochkunst in der Linie des Manierismus von Hendrick Goltzius bis Johann Heinrich Füssli finden ernst gemeinte Pathosformeln Eingang in die Comic-Produktion (vgl. Hofmann 1970). Vor allem im SuperheldenComic paaren sich zuweilen Geschichten von Leiden und Schmerz mit dem Ausdruck höchster Intensität, von Kraft und Erhabenheit. Die Zeichen des Pathetischen sind vor allem im Bereich der Körperhaltung und Gestik auszumachen und weniger im Gesicht. Vor allem die Mimik der Helden bleibt merkwürdig steif und hölzern. Etwas, das sich innerhalb der Comic-Literatur bis in die Gegenwart beobachten lässt. Logicomix seinerseits weitet in diesem Bereich die engen Grenzen nur geringfügig aus. Die Zeichner halten sich bei der Mimik eher an die Konventionen der Comic-Literatur. Sie folgen der Entwicklungslinie der Expression des passion, die von Charles Le Brun über Duchenne de Boulogne und Charles Darwin bis in die Gegenwart zu Paul Ekman reicht, nur zögerlich und haben eine Differenzierung der Ausdruckszeichen im Gesicht durch die genaue Veränderung der Gesichtsmuskulatur kaum zum Ziel. Die Produzenten der Sachcomics halten sich in einem hohen Maß an die Formeln und Stereotypen zu Wiedergabe von Emotionen wie Wut, Freude oder
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Entzücken, die innerhalb ihres Mediums selbst herausgearbeitet wurden und oft gar nicht mehr am Körper selbst ausgedrückt werden. Als Beispiel mag die Glühbirne gelten, die anlässlich eines plötzlichen Einfalls oder einer freudigen Erkenntnis oberhalb des jeweiligen Subjekts aufleuchtet. Durch einen solchen Zeichengebrauch wird signalisiert, dass ein Zielpublikum anvisiert wird, das mit den Konventionen der Comic-Literatur vertraut ist. Da in Logicomix jedoch auch Pathosformeln aus der Geschichte der visuellen Kultur eingestreut werden, ist in diesem Fall ein hoher Grad an allgemeiner bildlicher Kompetenz gefragt. Der Begriff der Pathosformel ist bekanntlich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Aby Warburg geprägt worden. Er bezeichnet Ausdrucksgebilde heftiger Erregungen, die – oft in der griechisch-römischen Antike entworfen – sich über große Zeiträume tradieren, sodass man je nach Kontext von Leitbildern, Parametern oder einem semantischen Feld spricht (Port 2005: 11). Diese „Ausdrucksformen des inneren Ergriffenseins“ sollen die Betrachter aufwühlen, einerseits damit sie das Dargestellte in der entsprechenden Gestimmtheit nachvollziehen können, andererseits damit sich die Erlebnisse in ihren tiefen Gedächtnisschichten festsetzen. Wie der Begriff andeutet, handelt es sich bei den Pathosformeln um mehr oder weniger stark vereinfachte Muster, kodierte Inszenierungen von stark emotionalisierten Regungen, die vom schreienden Schmerz bis zum stillen Leiden reichen können und ganz unmittelbar affektive Betroffenheit bei den Betrachtern hervorrufen sollen. Dies jedoch in Maßen, denn nicht nur das Herstellen, sondern auch das Betrachten von Bildern steht für Aby Warburg im Zeichen der Ökonomie der Emotionen. Um das innere Gleichgewicht zu bewahren oder wiederzuerlangen, gelte es vor allem, die Angst zu bekämpfen (Kappas/Müller 2006: 13). Stellt man die verschiedenen emotionalen Ausdrucksgesten in eine historische Traditionsreihe, dann zeigt sich – zumindest für Warburg und viele seiner Schüler –, dass sie bezüglich der zeitlichen und der kulturgeografischen Verbreitung eine gewisse Universalität aufweisen. Dass Mimik und Gestik als Visualisierung „innerer“ emotionaler Vorgänge auch eine historische und kulturelle Spezifik aufweisen, ist in den letzten Jahrzehnten verschiedentlich aufgezeigt worden (vgl. Vogel 2001). Nur so lässt sich erklären, dass diese kommunikativen Hilfsmittel zu Identität von Gruppen und Individuen beitragen. Der pathetisch Bewegte befindet sich zunächst in einem Ausnahmezustand, der ihn von seinem dauerhaften Charakter (Ethos) weit fort führen
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kann. Der Zustand kann sich wie ein Aufschwung oder wie ein Absturz anfühlen, das Subjekt ist außer sich, dem Wahnsinn nahe. Aus diesem Grund ist es verständlich, dass in Logicomix, der den Wahnsinn und die Angst vor dem Wahnsinn auch explizit thematisiert, wiederholt auf Pathosformeln zurückgegriffen wird. Die Spannung und Kraft, die von den Pathosformeln ausgeht, erklärt sich auch dadurch, dass in der rituell ästhetischen Bearbeitung die ursprünglichen Gewaltereignisse und Leidenschaften nur noch in gebrochener Form vorhanden sind, was der Imagination des einzelnen Rezipienten viel Spielraum bei der Wiederbelebung lässt. Die Synthese aus den widerstrebenden Energien, die durch dies Gestaltungsmittel bewirkt werden und sich u.a. in einer extremen Nähe und Distanz zum dargestellten Geschehen ausdrücken, kann die Sophrosyne sein, jene gelassene Besonnenheit, die sich in den verschiedensten ästhetischen Modellen in Anlehnung an die Poetik des Aristoteles als Endpunkt des Rezeptionsaktes findet. Danach stärkt der Anblick existenzieller Extreme, sofern sie nicht selber erlitten werden, die Seelenruhe. Das bedeutet nicht, dass die Fähigkeit zu Leidenschaften wie dem Mitleiden abgestumpft werden muss. Das Bedürfnis nach Ausgleich scheint vielmehr zu den grundlegenden Mechanismen vieler menschlicher Beziehungen zu gehören. Es führt dazu, dass man angesichts von Exaltation eher Gelassenheit markiert. Nicht durch einen dosierten, sondern nur durch einen exzessiven Einsatz affektiver Zeichen entstehen nach Schiller und anderen Theoretikern des Affektiven geistig-emotionale Ermüdungserscheinungen (vgl. Schiller 1970). Da im Fall der Pathosformeln das abstrahierte und stark formierte Abbild, das Leid und Leidenschaft in Szene setzt, nahezu identisch wie das selbst Erlebte wirken kann, musste es neben anderen Medienschaffenden schließlich auch das Interesse der Comic-Zeichner wecken. Gerade sie bedienen sich in der Kombination von Bild und Text einer Darstellungsweise, die überformt und diskursiv ist. Anders als bei anderen Medien werden die Rezipienten nicht durch illusionistische Gestaltungsmittel in eine Gegenwelt eingesogen. Die performativen Intentionen liegen beim Comic derart auf der Hand, dass die Verwechslung mit der dargestellten Sache selbst nie ein Problem ist. Pathosformeln lösen auch im Comic kultur- und kontextbedingt unterschiedliche Prozesse aus, in deren Folge die Affekte des rezipierenden Subjekts einmal stimuliert, sublimiert oder temperiert werden. Einzelne Individuen werden durch die explizite Präsentation der Emotionen von diesen angezogen, andere abgestoßen, wieder andere
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mögen gar einen „Reinigungsvorgang“ durchmachen. Angesichts der ausgeprägten Kodierung vieler Gefühle im Comic, die etwa bei der Darstellung der Wut zur Explosion der betroffenen Figur und Zersprengung in einzelne Körperteile führen kann, ist die Gefahr des Parenthyrsus, die bei wirklichkeitsnaheren Medien latent ist, hier zu vernachlässigen. Deshalb ist es erstaunlich, dass viele Sachcomics ganz auf Pathos und Exaltation verzichten – hier scheint die Pädagogik der Aufklärung, die mehr auf Logik und Ethos setzt, weiterzuleben. Zuweilen kommt es in diesem Medium dennoch, wie in der Moderne häufig, zu einer „den Schönheitskanon persiflierenden Groteskkoppelung“ (Hofmann 2004: 379).
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Wie an einem Fallbeispiel erläutert, mischen sich bei gelungenen Educational Comics verschiedene bildliche Traditionen und Medien, wodurch bei den Lesern ein hohes Maß an visueller Alphabetisierung vorausgesetzt wird, wollen sie die expliziten und impliziten Informationen dieser Broschüren und Bücher empfangen. Die Macher von Logicomix kennen offensichtlich die transklassischen Medienwirkungsmodelle, wonach reflexive Strukturen und die Identifikation mit Erzählern oder noch besser Fokalisatoren verantwortlich dafür zeichnen, dass die Wirkungsprozesse nachhaltig sind (vgl. Halff 1998). So prägen sich wertende Aussagen stärker ein als neutrale – besonders, wenn sie von Personen geäußert werden, in die man sich leicht einfühlen kann. Gerade auf der sprachlichen Ebene finden sich im erwähnten Comic immer wieder Kommentare und Urteile über die Verhaltensweisen, aber auch über die vermeintlichen Lösungen mathematischer und logischer Probleme durch die einzelnen Geistesgrößen. Die starke Verschachtelung der Erzähl- und Zeitebenen ermöglicht es, dass der alte Bertrand Russell die Bemühungen des jungen und seiner Mitstreiter beurteilt, während die Figuren der Rahmenhandlung mit ihren Analysen und Kommentaren nicht nur auf die historischen Figuren rekurrieren, sondern auch ihre eigenen Handlungen und Gedanken reflektieren und gegenseitig kommentieren. Der Rezipient des Comics wird sich weniger auf die stringente Linearität und Kausalität der Erzählung oder der logischen Inhalte konzentrieren, sondern sich durch kontextuelle Selektion an den Bewertungen der Agenten orientieren. Das Bewusstsein für die Wandelbarkeit der Konven-
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tionen, aber auch der Emotionen, die sich an ihnen reiben und von ihnen geprägt werden, verstärkt das Verständnis und damit die Bindung an die Protagonisten der Erzählung. Die Identifizierung durch den Filter der Historizität befördert die behutsame Generierung der eigenen Identität. Nur durch das Changieren zwischen Nähe und Distanz zu den möglichen Meinungsmachern innerhalb der Sachcomics können homogene normative Denkmuster überwunden und heterogene Identitätskonstrukte geschaffen werden (Micek/Mierwald 2011: 2). In Information Comics wie in vielen Lehrbüchern werden nicht alle Argumente explizit formuliert, nur ein Teil der Werturteile offen auf den Tisch gelegt. Dies ist in Logicomix nicht anders: Viele Ideen und diejenigen, die sie vertreten, werden nicht neutral und aus nüchterner Distanz zur Diskussion gestellt – vielmehr wird bereits in der Art, wie erzählt und dargestellt wird, Stellung bezogen. Gerade auch im visuellen Bereich braucht es zur Reflexion dieser verborgenen Botschaften, hidden agendas, viel Erfahrung und eine gewisse Schulung. Die pazifistischen, isolationistischen Jugendlichen z. B., die im Erzählstrang von 1939 wiederholt ins Bild kommen, werden als verblendete Ideologen hingestellt, die den Gegenpositionen gar nicht mehr zuhören können, sondern nur noch mit Aggression auf Einspruch reagieren (Abb. 6). Im Bild wird diese abwertende Haltung dadurch sichtbar, dass ihre Gesichtszüge entstellt sind. Sie verlieren dadurch, wie dies bei starken pathognomischen Zeichen der Fall ist, ihren individuellen Ausdruck – eine kläffende Masse, aus der einige besonders laute Individuen herausstechen. Aber nicht nur der übertriebene, auch der fehlende Ausdruck kann ein verborgenes Zeichen sein und einen Sinn generieren, der erst aus dem Gesamtzusammenhang deutlich wird. Alfred North Whitehead, der väterliche Freund Russells und Mitverfasser der Principia Mathematica, spielt eine Hauptrolle im Buch. Er wird während der ganzen Zeit mit versteinerter Miene dargestellt. Durch leicht heruntergezogene Mundwinkel und hochgezogene Augenbrauen wirkt er zugleich griesgrämig und arrogant (Abb. 9). Die unsympathische Darstellung des Mannes lässt sich kaum aus den biografischen Fakten ableiten. Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass wir ihn durch die Brille des jugendlichen Bertrand Russell betrachten. Dieser Fokalisator hat mancherlei Gründe, Whitehead in einem schlechten Licht zu sehen: Erstens ist er sein Rivale, denn auch der jüngere Kollege ist in Evelyn Wade verliebt, die der reifere Mann bereits 1891 geheiratet hatte; zweitens ist er während des Ersten Weltkrieges, im Gegensatz zum Pazifisten Russell, Kriegs-
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befürworter aus angeblichem Patriotismus; und schließlich hält er mit eisernem Willen an den Prämissen der Principa fest, die von Russell zutiefst angezweifelt werden. Auf dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzung verliert Whitehead übrigens das einzige Mal im Comic die Fassung (Abb. 10); es sind die wissenschaftlichen Problemstellungen und Konflikte, die den als unnahbar dargestellten Mann am meisten bewegen. Eine solche einseitige Ausrichtung auf das Geistige, wie sie Whitehead aus der Sicht Russells zu Schau stellt, wird auch von den Autoren unterschwellig verurteilt. Wollte man über solche personenbezogene Beobachtungen hinaus auch auf der Sachebene nach verborgenen Werturteilen suchen, käme man selbst als versierter Betrachter bald an die Grenzen. Im Bereich des Visuellen versprechen nur wenige Methoden – wie etwa die Ikonologie – einen Zugang zu den verborgenen Bedeutungen von Bildern, indem der Zeitgeist, aus dem heraus etwas geschrieben und gezeichnet wurde, aufgedeckt wird. Dabei besteht eine Schwierigkeit darin, dass die hidden meanings in der Regel den Produzenten selbst nicht bewusst oder
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zumindest nicht von ihnen intendiert sind, in den Quellen werden sich deshalb kaum explizite Hinweise finden. Bilder kommunizieren immer auch Uneindeutiges und Ungewolltes, sodass nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden kann, was die Produzenten beabsichtigen, was sie von den Rezipienten erwarten. Oft ist der ideale oder implizite Betrachter nur in vagen Umrissen entworfen. Andererseits legt gerade das Medium Comic als visuell diskursiver Hybride meist über Stoff und Erzählweise den Leserkreis fest, der sich für das einzelne Produkt interessieren könnte. Auch der Zeichenstil verrät oft, dass die Zielgruppe vor Beginn der Abfassung schon festgelegt wurde (vgl. Berninger/ Ecke/Haberkorn 2010: 13f.). Die Verwendung allgemeiner Ausdrucks- und Kommunikationsweisen wie der Pathosformeln verspricht jedoch eine Emanzipation von einem zielgruppenspezifischen Produktions-, Deutungsund Rezeptionskontext, deren Analyse oder Rekonstruktion nicht mehr so relevant ist, wie dies aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht scheinen mag. Bei Pathos und Katharsis treffen sich individuelle und uni-
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verselle Wirkungsweisen von Zeichen, gruppenbezogene und gesellschaftliche Prozesse treten hingegen in den Hintergrund. Allerdings nicht vollständig, denn der emotionelle Ausdruck und die bildliche Darstellung halten sich immer auch an Regeln, die historisch und kulturell determiniert sind. Der gegebene kulturelle Kontext legt den Rahmen aus einer Menge von möglichen Bedeutungsvarianzen fest. Zudem ist es nicht zufällig, welche Zeichen in einer bestimmten historischen Situation interpretiert und welche übergangen werden – auch hierfür bilden sich jeweils „decoding rules“ heraus, die der kompetente Mediennutzer kennt (Kappas/ Müller 2006: 18). Die Idee der angeblichen unmittelbaren Verständlichkeit und universellen Gültigkeit von Bildern ist in jüngster Zeit ausführlich als Mythos entlarvt worden (Schade/Wenk 2011: 13–34). Bilder und vor allem visuelle Zeichensysteme wie Mimik und Gestik bedeuten nicht in allen historischen Perioden und in allen Kulturen das Gleiche. Einige Bildelemente gerade im Bereich von Farbigkeit und Strahlkraft mögen, nicht zuletzt wegen einer großen zeitlichen Konstanz, evident sein, bei anderen muss der Sinn immer wieder neu austariert und erlernt werden. Dazu gehören nicht zuletzt die Körperbilder und -zeichen, gerade weil sie oft naturalisiert, d. h. als Teil der Natur, als natürlich ausgegeben werden (ebd.: 13). Bestimmte Bereiche des Bildverständnisses für Educational Comics können im Laufe einer „normalen westlichen“ Erziehung spontan erlernt werden, andere Bereiche werden kaum entwickelt. Insgesamt von einem „Anikonismus“ respektive „bildlichen Analphabetismus“ zu sprechen, scheint je nach Messlatte durchaus berechtigt (Kappas/Müller 2006: 4). Wie ich darzustellen versuchte, ist die Repräsentation von Emotionen im Comic stark kodiert. Ihre Dekodierung macht ein hohes Maß an Medienkompetenz bzw. Visual Literacy notwendig. Der Terminus Visual Literacy wurde in den 1960er-Jahren von John Debes als Gegenbegriff zur Linguistic Literacy eingeführt (Debes 1969: 25). Er und seine Nachfolger gingen zunächst davon aus, dass Bilder wie geschriebene Texte gelesen und verstanden werden und deshalb eine wichtige Form der zwischenmenschlichen Verständigung darstellen, die – wie die geschriebene und gesprochene Sprache – erlernt und optimiert werden kann (Avgerinou/ Ericson 1997: 280–283). Der Erwerb der Fähigkeit, Bilder wahrzunehmen, zu interpretieren, einzuordnen und wieder in der Kommunikation einzusetzen, wird aus dieser Sicht als eine entscheidende Kulturtechnik in den heutigen globalisierten Gesellschaften angesehen (vgl. Kress 2003). In
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neueren Studien wird das Konzept der Visual und Linguistic Literacy nicht mehr als dichotom aufgefasst, da sich die Fähigkeiten und Aktivitäten in beiden Bereichen der Kommunikation nicht ausschlössen, sondern komplimentierten (vgl. Moor/Dwyer 1994). Im Zuge des Pictorial Turn wird dann mit aller Vehemenz auf die Differenz der Bilder zu anderen Textformen hingewiesen und ihr Eigenleben etwas einseitig betont (vgl. Boehm 2007; zur Diskursanalyse des Pictorial Turn vgl. Schade/ Wenk 2011: 40–46). Einig ist man sich darin, dass kreative Formen im Bereich der visuellen Kommunikation nur dann entwickelt werden, wenn Wahrnehmen, Fühlen und Denken auf der epistemologischen Ebene nicht mehr als unvereinbar gelten (vgl. Santas/Eaker 2009). Im Fall von Logicomix und anderen Sachcomics, die durch erzählerische und pathetische Elemente die Wissensvermittlung zum Erlebnis machen wollen, ist auch bei der Differenzierung von affektiv aufgeladener und rein sachlicher Information ein hohes Maß an Kompetenz gefragt, ansonsten lassen sich in der Vielzahl an Reizen und Daten keine Ordnungsmuster finden, die letztlich notwendig sind, wenn es darum geht, den Eindruck zu bekommen, etwas verstanden zu haben. Sobald die an sich geradlinige visuelle Sprache der Comics Anleihen an der Kunst macht, erhöht sich einerseits ihr Leidenschaftspotenzial, andererseits nimmt ihre Ambivalenz zu. Was zunächst einen Verlust an eindeutiger Lesbarkeit bedeutet, führt zu einer zunehmenden Nähe zur historischen und aktuellen Realität, sei es im wissenschaftlichen oder sozialen Bereich. Dadurch wird es möglich, dass sich das Gezeigte und das Gesagte nicht nur im Gedächtnis festsetzen, sondern auch auf die alltägliche Handlungsebene durchschlagen.
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Gesellschaft als Comic Soziologie via Bilderzählung Felix Keller
Es gibt ein Rätsel, das die modernen Gesellschaftswissenschaften seit jeher beschäftigt: Wie lässt sich ihr Untersuchungsgegenstand, die „Gesellschaft“, darstellen, vermitteln, angesichts der Tatsache, dass diese Gesellschaft vor lauter einzelner Menschen niemand direkt sieht? Wie kann die Evidenz des Sozialen jenen erklärt, gezeigt werden, die selbst schon Teil davon sind, es bilden, verändern und auch erfahren? Wie lässt sich das Denken der Soziologie gegenüber etablierten Vorstellungswelten plausibilisieren, die bislang auch ohne soziologisches Wissen funktionierten? Exemplarisch hatte Norbert Elias in seiner Einführung in die Soziologie als Klassiker des Fachs sich diesem Problem des Zeigens und Plausibilisierens gesellschaftlicher Ordnung gewidmet: „… man sieht […] die Schwierigkeiten“, schrieb er, „mit denen Menschen zu kämpfen hatten und in der Tat noch heute kämpfen, wenn sie die wachsende Einsicht zu bewältigen suchten, dass auch die Zusammenhänge, die sie selbst miteinander bilden, die Gesellschaftszusammenhänge, sich besser verstehen und erklären lassen, wenn man sie gedanklich nicht einfach als von bestimmten einzelnen, namentlich bekannten Personen geschaffene Zusammenhänge verarbeitet, sondern ebenfalls als unpersönliche, zum Teil sich selbst regulierende und selbst perpetuierende Zusammenhänge von Geschehnissen“ (Elias 1976: 58). Zur Sichtbarmachung der unsichtbaren gesellschaftlichen Prozesse, der „unsichtbaren Ketten“, die das Soziale zwischen den Menschen bildet (Elias 1987: 31), gibt es bislang keine allgemein geltende oder nur annährend zufriedenstellende symbolische Technik. Der vorliegende Beitrag zeigt Versuche, dieses Problem der soziologischen Darstellungen über eine grafische Erzählung sozialer Tatsachen und Verhältnisse zu lösen, die
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mit der Logik der Comic-Sprache explizit oder implizit in Verbindung stehen. Es sind drei Varianten der visuellen Narration von Gesellschaft, die hier diskutiert und miteinander in Bezug gesetzt werden: Neuraths Projekt einer neuen universalen „Bildersprache“, die aus dem inneren Wissen exakter Soziologie in Verbindung mit künstlerischer Formung eine visuelle Sprache bildlichen Darstellens sozialer Tatsachen entwickelt: eine Bildersprache, die mit dem Comic entscheidende Merkmale teilt, selbst den wahrgenommenen Ursprung in der Hieroglyphenschrift; dann das Projekt der Schule Pierre Bourdieus, mittels der Zeitschrift Actes de la Recherche en Sciences Sociales ein „Comic-Fanzine für die Soziologie“ zu schaffen; und letztlich der Versuch, mittels des Mediums Comic selbst, durch die bestehende Comic-Sprache hindurch gesellschaftliche Zusammenhänge zu vermitteln, wie es der Verlag Icon Books mit einer eigenen Reihen versucht. Die Entwicklung von Projekten des grafischen Erzählens gesellschaftlicher Zusammenhänge liegt in einer Zeit, in der visuelle Kommunikation stetig zugenommen hat, an sich auf der Hand (Dacheux 2011). Die vorgestellten Projekte verfolgen aber auch die Idee, über die bilderzählerische Darstellungen die üblichen Formen der Repräsentation des Sozialen zu durchbrechen, auf andere Weise zu vermitteln, um den Schleier des Gewohnten und Selbstverständlichen zu heben, das dem Wahrnehmen gesellschaftlicher Realitäten stets anhaftet.
S OZIOLOGISCHES W ISSEN IM K ORSE T T WISSENSCHAF TLICHER F ORMEN Weshalb erweist sich grafisches Erzählen überhaupt als attraktiv für die Soziologie? Die Entwicklung einer wissenschaftsinternen Sprache, einer eigenen Terminologie, die das Besondere und Eigenständige gesellschaftlicher Zusammenhänge erfassen soll, führte die Soziologie immer wieder zu einer Sprache, die für Außenstehende meist als seltsam, unverständlich, bemüht wissenschaftlich gilt, besonders dann, wenn sie von ganz alltäglichen Gegebenheiten handelt, die selbst auch erlebt werden. Es gibt denn auch kaum eine andere Wissenschaft, die wie die Soziologie dem Vorwurf ausgesetzt war, einen sperrigen Jargon zu verwenden, ja ihn eigentlich zu zelebrieren.1 Andererseits drohen der Wissenschaft die „Fal1 | Vgl. hierzu: Kieserling (1999) und Bellebaum (1978).
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len der Sprache“ (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991: 144f.), wenn sich die Soziologie den alltäglichen Formen des Sprechens nähert: die Gefahr fehlgeleiteter Metaphorik oder der falschen Konkretheit. Zitiert soziologisches Schreiben anschauliche Bilder von anderen Bereichen, droht es schnell als unwissenschaftlich zu gelten oder gerät in Ideologieverdacht (Lüdemann 2004). Auch die präsentativen Formen des Darstellens2 , Diagramme und Statistiken, welche die sozialen Evidenzen sinnlich erfassbar machen sollen, erweisen sich oft als schwer vermittelbar (Tufte 1983). Denn Quantifizierung, die einer statistischen Darstellung zugrunde liegt, bedeutet immer auch Abstraktion. Das statistische Wissen enthebt sich so eigentlich der wahrnehmbaren Wirklichkeit, respektive bildet eine eigene Wirklichkeit, die außerhalb des engeren wissenschaftlichen Kreises, teils auch von anderen soziologischen Schulen, kaum begreifbar ist. Seit sie gebraucht wurden, förderten statistische Diagramme über ihre eigenwilligen Formen des Darstellens Skepsis und Misstrauen (Maus 1967), genauso wie der soziologische Jargon selbst. Die Diagramme verleiten ohne Kenntnis der Entstehungsbedingungen3 zu Missverständnissen oder aber bleiben rätselhaft und unverständlich.4 Oft gelten die visuellen Darstellungen der Sozialwissenschaften für Außenstehende als wirr (Henschel 2003) oder als schlicht inhaltsleer, „pictures of nothing“ (Lynch 1991). Es entstanden immer wieder Versuche, dieses Korsett wissenschaftlicher Formen abzustreifen, vornehmlich über eine andere, literarische Schreibweise; die Soziologie schwankt traditionell zwischen „Literatur und Wissenschaft“.5 Doch die Idee, das soziologische Problem der Darstellung und Vermittlung gesellschaftlichen Wissens über ein System von Bildern, also mit einer Bilderzählung, anzugehen, tauchte in den Gesellschaftswissenschaften erst vergleichsweise spät auf. Otto Neuraths Projekt einer Bildersprache, das International System of Typographic Picture Education (Isotype), bildet gleichsam einen Wendepunkt in der Frage nach der Vermittlung sozialer Tatbestände – mehr noch, die Verbindung zu Comics als 2 | Vgl. zu dieser Differenzierung Susanne K. Langers Symboltheorie (1984). 3 | Vgl. hierzu exemplarisch: Brian (2001), Bonß (1982), Desrosières (2005). 4 | Entsprechend finden sich in Gerhard Henschels Werk Die wirrsten Grafiken der Welt ausgesprochen viele sozialwissenschaftliche Darstellungen (Henschel 2003). 5 | Vgl. hierzu: Lepenies (1985).
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Formen grafischer Erzählungen erweist sich als viel enger, als sich zunächst vermuten lässt.
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Das Projekt zur Entwicklung eines International System of Typographic Picture Education, das Otto Neurath und seine Mitarbeitenden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Angriff nahmen, zielt auf nichts weniger als auf die Entwicklung universal verständlicher Formen der Darstellung gesellschaftlicher Tatsachen und Zusammenhänge. Angesichts der neuen Bildlichkeit, die in Zeitungen, Kino und Werbung auftauchte, sah Neurath ein „Jahrhundert des Auges“ heranziehen (Neurath 1991: 618); die neue Sprache könne nichts anderes als bildlich sein nach all den gescheiterten Projekten einer universellen Schrift.6 Das Vorhaben gründet in der damals schon breiten Wahrnehmung, dass Industriegesellschaften immer komplexer, die sozialen und dadurch auch die Wissensunterschiede umfassender werden. Moderne Gesellschaften bedürften einer neuen Sprache, die heterogene Lagen und Wissensformen hochkomplexer Gesellschaften wieder zu überbrücken vermöchte, so lautete Neuraths Grundidee. „Eine internationale visuelle Sprache“ schaffe die Möglichkeit, den Menschen, „Informationen auf universell verständliche Weise zu vermitteln“ (Neurath 1991: 616). Denn „visuelle Hilfsmittel“ hätten Zugang gleichzeitig zu Erwachsenen und Kindern, zu „Gebildeten und Analphabeten“ (Neurath 1991: 620); sie könnten dem „Unterricht von Klassen mit ungleicher Bildung“ dienen wie dem „Unterricht von müden Menschen“ (Neurath 1991: 597), eine Herausforderung der Erwachsenen- und Arbeiterbildung der damaligen Zeit. Den universalen Anspruch unterstreicht eine 6 | Diese Diagnose und diese Hoffnung waren nicht allein jene der Wiener Schule, die im Umfeld Neuraths entstand. Beispielsweise verfolgte Fritz Kahn ein ähnliches, wenn auch weniger systematisches Projekt der Visualisierung im Bereich der Naturwissenschaften (Debschitz 2009: 40f.). Auch Walter Benjamin sah zur gleichen Zeit inmitten „des wirtschaftlichen Chaos“ erste Formen einer neuen internationale „Bilderschrift“ auftauchen. Wo sich diese Entwicklung am deutlichsten zeigt, sei das statistische und technische Diagramm (Benjamin 1997: 41f.).
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seiner Publikationen, die den Titel Modern Man in the Making trägt und schlicht die ganze Menschheitsgeschichte in Bildbogen erzählt (Neurath 1939). Darüber hinaus folgte Neurath mit der Entwicklung einer visuellen Sprache zur Erzählung gesellschaftlicher Tatsachen auch einer politischen Motivation: Über bildpädagogische Interventionen sah er Möglichkeiten der Demokratisierung der Gesellschaft (Sandner 2008), in der neuen Sprache erkannte er gar die Keimzelle eines neuen Menschen, einer „Weltbürgerschaft“, die durch die neue Bildersprache ungeachtet ihrer soziologischen Heterogenität über sich selbst und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse zu kommunizieren vermag (Neurath 1991: 616ff.). Die Bildersprache war ihm nicht nur Darstellung von Wissen, sondern auch eine Strategie zur „Entbabylonisierung“ des Sozialen (Neurath 1991: 357). Ein Plakat, dessen Einsatz und Entstehungsjahr sich nicht genau identifizieren lassen (Abb. 1), illustriert die Idee wie auch das Funktionieren dieser Bildersprache. Es zeigt bunte Figuren, schematisch geordnet, Textelemente und eine Fotografie und enthält dabei nichts weniger als eine Ankündigung einer visuellen Revolution, wie die rot gefasste Überschrift zeigt: „Greatest step in visual education since invention of photography“ ist zu lesen, und korrespondierend steht zuunterst die Fußzeile: „A new ‚picture language‘“. In einem Textkasten sind die Visionen der International Foundation of Visual Education dargestellt: Es handle sich um eine Visualisierung der essenziellen Ideen moderner Sozialwissenschaften, Ergebnisse von mehr als zwanzig Jahren Arbeit in „eye learning“. Die Pictographs, wie die isotypischen Darstellungen hier genannt wurden, hätten eine magische Anziehungskraft, weil sie abstrakte Prinzipien lebendig sichtbar machen könnten. Sie stimulierten Aufmerksamkeit, Interesse, Imagination und Verständnis der Welt. Eine Fotografie zeigt Dr. Otto Neurath of the The Hague, „world-famous social scientist and educator“. Aufgeführt sind einige typische Elemente dieser Bilderschrift, die Mengen als serielle Wiederholung von ikonischen Einzelbildern darstellt und nicht über proportional verfängliche Größendarstellungen isolierter Figuren. Beispielsweise wird das Bevölkerungswachstum durch eine immer größere Zahl identischer Männchen repräsentiert, die jeweils fünf Millionen Menschen vergegenständlichen. Die steigenden Produktionszahlen der Fahrzeugindustrie werden über die Vervielfachung von Automobilsymbolen in Reihen dargestellt, die wiederum das Produktionsjahr symbolisieren. Es gibt rote Fahrzeuge und blaue, getrennt durch einen Strich. Die blauen sind in erdrückender Überzahl und zeigen die Automobilpro-
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Abbildung 1: Plakat zur Ankündigung einer neuen visuellen Sprache
Quelle: Stadler (1982: 377)
duktion in den USA. Damit dieses Bild (fast) ohne Worte verständlich wird, sind über den blauen Fahrzeugen die stilisierten Skylines amerikanischer Städte mit ihren Wolkenkratzern dargestellt, eine Fabrik und beim genaueren Hinsehen die Freiheitsstatue. Die roten Fahrzeuge vergegenständlichen die Automobilproduktion in allen anderen Ländern der Welt. Dort, wo die Skylines bei den blauen Fahrzeugen gezeigt sind, die Fabrik und die Freiheitsstatue, findet sich bei den roten Autosymbolen indes nichts, eine leere Fläche. Um das Andere der amerikanischen Produktion zu zeigen, besteht kein Platz, im drucktechnischen Sinne, aber auch im übertragenen: Die Vorstellung des Automobils bleibt mit der Vorstellung der USA eigentlich ikonisch gekoppelt – just emergiert eine visuelle Erzählung der globalen techno-ökonomischen Dominanz der USA.7
7 | Vgl. zum Kontext dieser Wahrnehmung: Pells (1997).
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Abbildung 2: Cover der „visuellen Autobiografie“ Otto Neuraths
Quelle: www.isotyperevisited.org
Woher stammte aber Neuraths Vertrauen, dass diese visuelle Sprache zur Erzählung von gesellschaftlichen Verhältnissen überhaupt funktionieren könnte? Ein wichtiges Modell, das Neurath vor Augen hatte, verbindet ihn mit der Idee des Comics: die ägyptischen Hieroglyphen. Sowohl Neurath, McCloud in Comics richtig lesen (McCloud 2006: 22f.) wie auch Lacassin in Pour un neuvième art (Lacassin 1971: 15) sehen die wahrgenommenen Ursprünge der Bilderzählung, die zu Neuraths Isotype führte ebenso wie zu Comics, bei den ägyptischen Hieroglyphen: Entsprechend trägt auch der Name seiner Autobiografie (Neurath 2010) den Titel From Hieroglyphics to Isotype (Abb. 2). Neurath bezeichnet das Betrachten ägyptischer Wandgemälde im Wiener Kunsthistorischen Museum gleichsam als Katharsis seiner individuellen Sehschule (Neurath 2010: 70). Neben all den griechischen Vasen und anderer antiker Kunst, die ihm nicht viel sagten, mit Schriftzeichen operierend, die er nicht entziffern konnte, erkannte er unmittelbar soziales
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Leben in den ägyptischen Wandgemälden, das sich ihm in aller Sichtbarkeit darbot: Die Wände waren mit ägyptischen Wandmalereien bedeckt, die mir sehr gefielen, weil ich jede Einzelheit verstehen konnte, ob sie nun vom täglichen Leben der Ägypter oder von Schlachten und Siegen erzählten … Die ägyptische Vergangenheit breitete sich vor meinen Augen aus. (…) Ich konnte sehen, was die Menschen taten, ohne durch unbestimmte Hintergründe oder dunkle Ecken gestört zu werden. Alles war einfach, leicht erkennbar und erzählte klar, was zu erzählen war. Ich wusste nicht, was die Hieroglyphenschrift an Informationen hinzufügte. Mir genügte es, die Bilder zu verstehen. Durch den informativen Charakter der Wandmalereien fühlte ich mich bald ganz vertraut mit dem Alltagsleben der Ägypter. Ich konnte sehen, wie sie Fische fingen, pflügten und alle möglichen Dinge des täglichen Lebens taten (Neurath 1991: 639).
Die stilisierende Kunst der ägyptischen Maler ließ ihm die Gesellschaft unversehens als transparent erscheinen, wurde für ihn sichtbar. „Hieroglyphen“, so Neurath, „faszinierten mich hauptsächlich, weil ihre Formen und Farben reizvoll waren und weil man die kleinen Figuren offensichtlich verbinden konnte, um eine Bildersprache zu entwickeln“ (Neurath 1991: 640), eine Beobachtung, die durchwegs auch auf einen Comic zutreffen könnte. Neurath sah in ihnen gesellschaftliches Leben, obwohl er der Sprache nicht mächtig war, und die Bildzeichen, die als Schrift funktionierten, nicht entziffern konnte. Und nicht zuletzt sah er gerade wegen ihrer Fähigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse visuell zu erzählen, eine „Renaissance der Hieroglyphen“ heranziehen (Neurath 1991: 642). Was sind aber die Voraussetzungen einer solchen Sprache und weshalb scheiterte sie? Und inwiefern ist die visuelle Sprache des Comics mit Neuraths Idee verwandt, die tatsächlich Elemente einer globalen Sprache zeigt? Die an sich naheliegende Antwort, dass das Soziale selbst schon in vielfältiger Weise sichtbar ist und Bilder über sich selbst produziert, war Neurath nicht zugänglich. Gesellschaftliche Prozesse und Tatsachen sind für ihn nicht unmittelbar visualisiert, Gesellschaft könne man nicht fotografieren (Neurath 1991: 598). Es bedürfe einer besonderen Methode der bildlichen Darstellung, einer visuellen Kunstsprache, welche sich zur Darstellung des Unsichtbaren eignet. Diese Künstlichkeit stellt aber gerade besondere Ansprüche an die Eigenschaft der Sprache selbst.
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Sind die Symbole konsequent und informationslogisch richtig gestaltet, interpretiert sie die Bevölkerung auch auf gleiche Weise, so das Credo. Dass die Botschaft unmittelbar die Menschen erreicht und verstanden werden kann, hängt für ihn damit allein von der Qualität der verwendeten Symbole ab und nicht von der Interpretationsleistung der Betrachtenden. Gerade deshalb musste die visuelle Sprache erst geschaffen werden, um sicherzugehen, dass die Zeichen nicht auf irgendeine Weise je nach Gruppe oder Individuen in denselben Situationen Unterschiedliches bedeuten, sodass die Aufnahme des zu vermittelnden Wissens erschwert wird. Beispielsweise ginge es darum, Symbole zu vermeiden, die für gewisse Länder „eigentümlich“ sind (Neurath 1991: 643). Die Bildwelten mussten also ebenso klar identifizierbar wie auch kulturell neutral sein. Nichts sei gefährlicher, so Neurath in kursiv gesetzten Lettern, „als ein Zeichen, das manchen Besuchern mehr sagt, als man in Wirklichkeit ausdrücken wollte“ (Neurath 1991: 55). Dazu gehört eine stringente symbolische Aufteilung der Welt, die Grenzverwischungen und Mehrfachcodierungen vermeidet. „Es ist nicht nur grundlegend, dass jedes Symbol als solches klar definiert sein sollte, jedes muss außerdem von den anderen leicht unterscheidbar sein“ (Neurath 1991: 643). Die neue Sprache bedarf entsprechend eines neuen „visuellen Lexikons“ und einer „visuellen Grammatik“, die sich wiederum durch einen spezifischen Stil auszeichnet (Neurath 1991: 619), der durch die Mehrdeutigkeit der Alltagssymbole unbehelligt bleibt. Um diesen zeichnerischen Reduktionismus von Isotype zu erreichen, erwies sich eine enge Zusammenarbeit mit den bildenden Künsten als unabdingbar. Stets waren Grafiker im Arbeitskreis beschäftigt. Neurath holte auch den Kölner Künstler Gerd Arntz als grafischen Leiter nach Wien, dessen Kunst ihn beeindruckt hatte. Damit gelangte ein leitender grafischer Designer zur Wiener Methode, der das Wissen und die Eignung zur „reduktionistischen Darstellung“ mitbrachte und einen entsprechend eindeutigen Stil einzusetzen vermochte (Hartmann/Bauer 2002: 59f.).8 Am Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum wurde auf vielfältige Weise experimentiert, um eine solche Sprache zu entwickeln, welche die gesellschaftlichen Zusammenhänge im gewünschten eindeutigen Sinn sichtbar werden lässt. Man erstellte ein eigentliches Lexikon, Grund8 | Vgl. zu einer Diskussion dieser Zusammenarbeit von Statistiken und Künstlern und zum Versuch ihrer Weiterführung: Behnke/Creischer/Siekmann (2004).
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elemente einer visuellen Sprache, aufgrund derer sich eine visuelle Erzählung über gesellschaftliche Verhältnisse formieren konnte. Dieses visuelle Lexikon bietet einen Grundstock unmittelbar verständlicher Zeichen, die durch Kombination größere Zusammenhänge schildern sollten. Abbildung 3: Schautafel im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Wien
Quelle: Stadler (1982: 356)
Es wird allerdings auch deutlich, dass das Projekt zu Beginn nah bei einer visuellen Erzählung lag, die eher der Comic-Sprache entsprach und sich dann eigentlich immer mehr abstrakten, stereotypen Darstellungen zuwandte, die, so die Hypothese, auch das Scheitern von Isotype ankündigten. Eine undatierte Darstellung des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums Wien (Abb. 3), wahrscheinlich eher aus der Frühphase noch vor der Konsolidierung der visuellen Sprache von Isotype, zeigt den Kampf um die verbesserte soziale und ökonomische Stellung der Frau, eine Grafik, die klar im Kontext der Arbeiterbildung steht. Die Darstellung ist aufgeteilt in fünf Panels. Jedes dieser Panels ist in weitere einzelne Bilder unterteilt, die bestimmte alltägliche Situationen zeigen. Die linke Hälfte der Spalte ist
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mit „einst“, die rechte mit „jetzt“ beschriftet. Das oberste Panel zeigt übergreifend die Aufteilung des Tages vor den Reformen, der von der Last der Lohnarbeit erdrückt wurde, und „danach“ die Ermöglichung freier Zeit durch die erkämpfte Arbeitszeitregelung. Die anderen Panels zeigen weitere Errungenschaften der Arbeiterbewegung; die Einführung des Mutterschaftsurlaubs, des Verbots der Nachtarbeit, der Vergrößerung der Sicherheit am Arbeitsplatz. Bemerkenswert ist, was diese Darstellung eben gerade nicht zeigt: den politischen Kampf, der die Verbesserungen ermöglichte. Wie der Titel der Darstellung – „Das haben die organisierten Frauen sich und ihren Schwestern erkämpft“ – nahelegt, ist aber gerade dieser Kampf das eigentlich Gemeinte. Das heißt, über die Anordnung der Panels, was sie zeigen und verbergen, wird ein wesentliches Element der Comic-Sprache übernommen (McCloud 2006: 74): Die komplexen politischen Prozesse des Aushandelns, der Artikulation von Interessen, der politischen Kämpfe werden indirekt sichtbar gemacht über die Visualisierung zweier Situationen. Das eigentlich Gezeigte liegt zwischen den einzelnen Bildern und ist damit der Erfahrung und Vorstellung des Betrachtenden überlassen. Eine spätere Darstellung zeigt den „Aufgabenkreis der Kammern für Arbeiter und Angestellte“ und versuchte den Museumsbesuchern die Aufgabe dieser Institution zu erklären: Lehrlingsschutz, sozialpolitische Überwachung, Bearbeitung von Gesetzen, Erstellung von Statistiken, Rechtsberatung, Bildung von Arbeitern. Die Panels ordnen sich wie die Zimmer eines Hauses, in denen die einzelnen Tätigkeiten des Amtes stattfinden. Auch diese Darstellung löst die abstrakten Funktionen des Amtes in einer visuellen Darstellung von Tätigkeiten auf. Hinter dem Lehrling, der gebückt über eine Maschine seine Tätigkeit verrichtet, steht eine Figur mit Veston, breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, offenbar der Patron. Eine weitere Figur, mit Akten unter dem linken Arm, tritt zu der Szene hinzu. Er hält die rechte Hand deutlich sichtbar hoch. Die Figur, offenbar den Vertreter des Amtes darstellend, interveniert, stoppt den Patron, schützt den Lehrling. Die abstrakte gesellschaftliche Funktion des Amtes ist erzählt. Freilich zeichnen sich auch Schwierigkeiten der Darstellung ab. Die Bilder ringen eigentlich damit, die Figuren eindeutig erkennbar mit einer Rolle zu versehen. Am einfachsten scheint dies bei der Funktion des Patrons zu sein, der auf immer dieselbe Weise mit Händen in den Hosentaschen und Veston dargestellt ist, aber zuweilen halten auch Arbeiter die Hände in den Hosentaschen, die Farbgebung bleibt unklar; es gibt Arbeiter
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und Angestellte mit weißen Mützen, schwarzen Mützen, zweifarbigen Beinkleidern, mit Hüten und auch Vestons, was alles etwas verwirrlich erscheint. Immerhin sind die Funktionäre klar gekennzeichnet, indem sie ganz in Schwarz gekleidet sind und Akten unter den Armen tragen. Augenscheinlich besteht das Problem dieser Darstellung darin, eine Pluralität von Arbeitern und Angestellten darzustellen, so dass sich diese trotz der Heterogenität ihrer Positionen repräsentiert sehen, um zu erläutern, dass das Amt auch für sie da ist. Abbildung 4: Das Figurenkabinett der Gesellschaftsgliederung
Quelle: Vossoughian (2008: 64)
In späteren Darstellungen sind solche Probleme (scheinbar) bereinigt. Die Grafik zur Sozialstruktur, welche das Figurenkabinett der Klassengesellschaft illustriert, mit der sich das Wissen um die Sozialstruktur darstellen lässt, zeigt bereits deutlich und klar eine Gesellschaft der eindeutigen Klassen. Symbole und die schwarzen klaren Linien suggerieren, dass diese Ordnung ebenso unabänderlich wie undurchlässig bleibt und keine Geschichte oder gar Dialektik kennt. Es sind ganz klare, aber bezeichnende Details, welche die Klassen unterscheiden lassen: die Hüte, die Vestons. Die Länge des Rocks unterscheidet die Bäuerin von der Landarbeiterin, die Stiefel des Landarbeiters unterscheiden ihn von den Bauern, die Angestellte trägt einen Hut, während die Arbeiterin keinen trägt, dafür hat die Arbeiterin diesmal einen kürzeren Rock als die Angestellte,
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während das Oberteil und der Hut Unternehmer von Arbeitern und Angestellten unterscheiden.
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VON I SOT YPE
Je klarer die Logik der symbolischen Sprache auch wurde, als desto schwieriger zeigte es sich, die Argumentations- und Klassifikationslogik wieder mit der sozialen Wirklichkeit zu verbinden. Exemplarisch soll dies an einem Beispiel illustriert werden. Ein Plakat zu einer Ausstellung der Wiener Gruppe in Berlin soll den Zusammenhang zwischen dem Angebot an Warmbadeanstalten und dem Besuch dieser Anstalten illustrieren (Stadler 1982: 274). Die hygienische Versorgung war ein wichtiges Anliegen von Neuraths sozialer Wohnpolitik. Ganz gemäß der Logik von Isotype kombiniert die Bildersprache zwei eindeutige Symbole zu einer Aussage: Das Bild einer Dusche signalisiert die zur Verfügung stehenden Badeanstalten, eine Figur, deren Gestus das Duschen signalisiert, repräsentiert Besuchende von Badeanstalten. Zusammengefügt ergeben sie das Bild eines Menschen, der eine Dusche nimmt: Brause und duschender Mensch bilden eine visuelle Einheit. Wenn nun nur das Bild der Dusche gezeigt wird, heißt dies offenbar, dass das Angebot an Warmbädern nicht vollumfänglich genutzt wurde. Was meint es aber, wenn es mehr duschende Menschen gibt als Warmbadeanstalten? Wie wird die Knappheit des Angebots dann symbolisiert? Während das Überangebot an Duschen klar und stimmig gezeigt werden kann, ist die Knappheit in der Bildersprache zwar in der Symbollogik irgendwie darstellbar, aber nicht als gesellschaftliche Praxis. Die Ratlosigkeit führte dazu, dass diese Menschen als eine Art semiotische Gespenster dargestellt wurden, als Mitteldinger zwischen sichtbarer Existenz und Inexistenz: Gestrichelt sind neben den anderen Symbolen Menschen positioniert, die Gesten des Duschens ausführend, aber im leeren Raum stehend. Duschende Menschen ohne Dusche, wenn auch nur gestrichelt gezeichnet, ergeben wenig Sinn in der wirklichen Welt, ebenso wenig wie Auto fahrende Menschen ohne Auto. Die Aussage setzt zudem Interpretationen voraus, die die Kenntnis des krisenhaften Kontexts voraussetzt. Denn die Abbildung könnte rein abstrakt gesehen auch indizieren, dass die Menschen keine Zeit hatten zu duschen, kein Geld hatten zu duschen, plötzlich Zuwanderung von Menschen erfolgte, die keine Warmbademöglichkeit hatten, oder dass die Reinlichkeitsideale
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variierten und der Besuch der Warmbadeanstalt mal täglich, wöchentlich oder monatlich vorgesehen war. Abbildung 5: Die städtischen Warmbadeanstalten im heutigen Berlin (Ausschnitt)
Quelle: Stadler (1982: 274)
Dasselbe Problem, die klaren Formen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sie bezeichnen, zu verbinden, ergibt sich bei der Klassifikation der Kollektive selbst. Das Figurenkabinett der Gesellschaftsgliederung (Abb. 4) zeigt, wie gesehen, eine starre, klar gegliederte Aufteilung der Gesellschaft, mit teils sehr scharfen Unterteilungen, beispielsweise zwischen der Klasse der Landarbeiter und derjenigen der Bauern. Die Zwischenlagen aber wurden ausgeblendet, beispielsweise die kleinen Unternehmer oder das Kleinbürgertum, die in dieser ständischen Klassen-Ordnung keinen definierten Ort haben: weder in der Oberschicht der Unternehmer noch bei den Angestellten. Gerade aber aufgrund dieses unklaren sozialen Ortes zeigten sich die entsprechenden Gruppen auch höchst verunsichert, sahen sich von Abstieg bedroht, wie Theodor Geigers soziografische Untersuchung zur Panik im Mittelstand im Jahre 1930 zeigte, in der er vor einer drohenden politischen Radikalisierung dieser mittleren Lage warnte (Geiger 1930): Der Impetus, eine klare, eindeutige Sprache zu entwickeln, blendet gerade sozialpolitisch relevante hybride Lagen ebenso wie zeitliche Bewegungen dieser Ordnung aus. Die statistische Darstellungsweise negiert die Fluktu-
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ationen des sozialen Auf- und Absteigens „hinter“ dem Figurenschema, die sich aber als gesellschaftspolitisch höchst brisant erweisen können.9 Isotype erwies sich als wegweisend für die Errichtung einer globalen Sprache, die heute die Fremden durch Flughäfen und Bahnhöfe führt, zu den Gates, Gleisen, Taxis und Bussen, ohne dass sie die jeweilige lokale Sprache verstehen müssten (Hartmann/Bauer 2002). Isotype kann jedoch hinsichtlich des soziologischen Problems, das Phänomen gesellschaftlicher Zusammenhänge klar, eindeutig und wissenschaftlich robust zu visualisieren und zu erzählen, als gescheitert betrachtet werden. Neuraths Vision gründet in einer positiven Philosophie der Wissenschaften, die besagt, dass soziale Evidenzen eindeutig abbildbar sind, darin ganz dem logischen Positivismus der Wiener Schule geschuldet. Die Welt ist das, was sich in eine logische Form gießen lässt, wie Carnaps Werk (mit dem Neurath eng zusammenarbeitete) Der logische Aufbau der Welt suggeriert (Carnap 1998). Die arbiträre, durchaus politische Arbeit des Klassifizierens und Interpretierens, die den Symbolen und Statistiken zugrunde liegt, bleibt ausgeblendet.10 Darin bleibt sie einer alten Suche nach der perfekten Sprache verhaftet, einer globalen Symbolsprache ohne Bedeutungsprobleme.11 In dieser Hinsicht vergegenständlichen die artifiziellen Symbole das Wissen der Soziologie als Wissenschaft, das Vermögen dieser Wissenschaft, von Konkretem abstrahieren zu können. In sich stimmig, wirkt die erzeugte Welt ästhetisch und logisch gereinigt, lässt sich aber vor dem Hintergrund einer fragmentierten alltäglichen Erfahrung nur über Kontextwissen interpretieren, auf das sie gerade verzichten wollte. Als umfassende Beschreibung der Gesellschaft vermochte sich Isotype entsprechend nicht zu etablieren.12 Der Einsatz der Bildersprache bleibt begrenzt auf 9 | Simultanes ließe sich unschwer bei der ethnischen Klassifikation der Weltbevölkerung zeigen, vgl. hierzu: Nikolow (2011). 10 | Vgl. etwa: Desrosières (1990), Bourdieu (1985), Bowker/Star (2000). 11 | Vgl. zu den Aporien einer universalen Sprache auf semiotischer Ebene Umberto Ecos Werk über die Suche nach der vollkommenen Sprache: Eco (1994). 12 | Sandner nennt neben der problematischen Vorstellung kontextfreier Bilder noch weitere Gründe des Scheiterns von Isotype: Das Projekt war allzu sehr auf die Person Neuraths konzentriert, es etablierten sich andere medialen Kanäle zur Information der Bevölkerung (Radio), und es veränderte sich das politische Umfeld (Sandner 2008).
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Situationen, die klar definiert sind und wo als Kontext eine gerichtete Erwartungshaltung seitens des Suchenden besteht (Ullrich 2006: 62). Freilich, hinsichtlich seiner Vision, Gesellschaftliches bildlich darzustellen und zu erzählen, sucht das Projekt um Neurath noch heute seinesgleichen. Isotype eröffnete hier eine eigentliche neue Welt der Sichtbarkeit und der visuellen Erzählung des Sozialen.
W AHLVERWANDTSCHAF TEN I SOT YPE UND C OMICS
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D IFFERENZEN :
Worin unterscheidet sich aber das Isotype-Projekt von der Comic-Sprache? Und inwiefern wurden Comics zur Vermittlung sozialer Zusammenhänge in direkter Weise eingesetzt? Aufgrund der Begeisterung für die ägyptischen Hieroglyphen erscheint es folgerichtig, dass sich Neurath auch zu Comics hingezogen fühlte, sich von ihnen beeinflussen ließ Neurath zählt denn auch verschiedene comic-ähnliche Formen, die seine eigene „visuelle Geschichte“ beeinflusst haben: Wilhelm Busch, Heinrich Hoffmanns Der Struwwelpeter oder auf Briefmarken verbildlichte Peter-Pan-Geschichten (Neurath 2010: 56, 66). Er sah auch später Parallelen zwischen der von der Wiener Methode ent wickelten Bildersprache und dem Comic und hoffte auf eine Ergänzung: In dem zukünftigen Strom von Bildern, dem der moderne Mensch ausgesetzt sei, tauchen Comic-Geschichten neben Figuren auf, die der Logik von Isotype folgen und über gesellschaftliche Verhältnisse berichten: „Popeye, Blondie, and other well-known little beings provide daily entertainment but there are also simple graphs that tell of the ups and downs of business. Sometimes rows of little men tell their story without need of boring tables of statistics“ (Neurath 2010: 3f.). Letztendlich unterzeichnete Neurath seine Briefe selbst stets mit einem gezeichneten Elefäntchen, das einem Comic hätte entspringen können. Nach Neuraths Tod wurde die Wahlverwandtschaft von seiner Frau noch deutlicher gezeigt: Es erschien in London From Cavepainting to Comic Strip – A Kaleidoscope of Human Communication, für das Marie Neurath die Illustrationen beigesteuert hat.13 In der Tat erinnern viele Isotype-Abbildungen stark an die visuelle Sprache des Comics, der damals noch vornehmlich der Unter13 | http://www.medienphilosophie.net/neurath/Bildersprache/htm/protokoll_ text7.html.
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haltung diente. So sah auch Neurath den großen Vorteil visueller Darstellung in ihrer Möglichkeit der Unterhaltung und Verständlichkeit: Es gebe keine „fremden“ Ausdrücke in Bildern. Niemand fühle sich „unsicher“ oder „gelangweilt“ (Neurath 1991: 620). Abbildung 6: Die Faszination Neuraths für Comics – eine Briefunterschrift
Quelle: Vossoughian (2008: 58)
Zieht man McClouds Comics richtig lesen als Bezugspunkt heran, so wird die Ähnlichkeit dieser beiden Weisen des bildlichen Erzählens evident, aber auch die Differenzen treten deutlich hervor. „Wir leben in einer zunehmend symbolorientierten Kultur“ ist auch bei McCloud zu lesen. „Mit Hilfe der symbolorientierten Stilisierung“, so McCloud, gelänge es vielleicht endlich, eine universelle Form der „Kommunikation“ zu schaffen (McCloud 2006: 67). Die beiden Grundelemente der Neurath’schen Utopie finden sich hier ungebrochen wieder: die Idee, dass das Erleben des Realen immer mehr symbolisch vermittelt geschieht, sowie die Feststellung, dass die zirkulierenden Zeichen höchst heterogen sind, verbunden mit der Vorstellung, dass eine universelle visuelle Sprache womöglich bevorsteht. Diese Idee einer umfassenden Sprache findet sich selbst bei Lacassin, der in seinem Plädoyer für Comics als Neunte Kunst die „Macht“ der Comic-Bilder erkannte, breite Bevölkerungsschichten anzusprechen und damit Wissen Kreisen zugänglich zu machen, die von anderen Sprachen ausgeschlossen sind (Lacassin 1971: 73). Selbst die Definition von Comics, die McCloud vorschlägt, lässt sich auf Isotype anwenden: „Zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche
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oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzielen“ (McCloud 2006: 28). Neuraths isotypische Gesellschaftsdarstellungen wie jene des Bevölkerungswachstums zeigen letztlich nichts anderes als räumliche Sequenzen bildlicher Zeichen. Sie vermitteln auch eine Information: die quantitative Struktur der Weltbevölkerung. Ihre Gestaltung zielt auf eine ästhetische Wirkung, nämlich Attraktivität durch Bilder. So ist denn auch konsequent, dass sich weitere zentrale Darstellungsprinzipien von Isotype und Comics ähneln, beispielsweise die Suche nach Abstraktionsprozessen, die dazu führen soll, dass die Bedeutung eines Bildes sich verbreitert. Je cartoonhafter ein Gesicht beispielsweise sei, desto mehr Gesichter vermöge es zu repräsentieren; gerade deshalb sei die Sprache des Cartoons universell, so McCloud (McCloud 2006: 39), auch dies ein Effekt, den die Wiener Methode geradezu suchte, um mit ihren Bildern möglichst großflächig individuelle Unterschiede zu visuellen Typen zu transformieren, die eine möglichst umfassende Menge dieser Unterschiede zu repräsentieren vermögen. Auch die sequenzielle Anordnung der Isotype-Symbole in einem Bildsystem, um Mengen oder Abläufe zu illustrieren, entspricht in gewisser Weise der Funktion der Anordnung von Comic-Panels als „Zerlegen“ von Zeit und Raum in stakkatohafter Anordnung, um eine „zusammenhängende, geschlossene Wirklichkeit“ zu konstruieren (McCloud 2006: 75). Freilich bestehen auch entscheidende Unterschiede zwischen den beiden visuellen Sprachen, die sich nicht unbedingt aus dem stillschweigend unterschiedlichen Verwendungskontext ergeben. Einer der augenfälligsten ist gerade die Verwendung textueller Elemente. Neurath stand dem sprachlichen Leistungsvermögen skeptisch gegenüber, gemäß seinem immer wieder geäußerten Diktum, dass Worte die Menschen trennten und Bilder diese vereinten. In isotypischen Darstellungen sollten die Worte idealerweise beinahe verschwinden. Eine bildliche Darstellung eines Zusammenhangs oder einer Tatsache erschien ihm umso geglückter, je weniger Worte sie verwendet, je mehr Zusammenhänge und Fakten allein auf Visualisierung beruhen. Demgegenüber versteht sich der Comic gemäß McCloud als synästhetisches Medium, das heißt, es versucht verschiedene Sinne anzusprechen, über Text, Zeichnung und hybride Formen zwischen Text und Bild (wie das übergroße WHOAMM oder die Sprechblase). Insofern gelten sowohl Schrift wie zeichnerische Formen für den Comic als gleichermaßen konstitutiv. Auch in anderer Hinsicht arbeitet die Comic-Sprache mit Gegensätzen und nicht mit Vereinheitlichungen wie Isotype: die Kom-
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bination von abstrakten Formen (das stilisierte Gesicht) und Realismus (naturalistische Landschaft) erzeugt eine eigene ästhetische Wirkung, die gerade über ihre scheinbare Widersprüchlichkeit Generelles ins Konkrete einzuschreiben vermag. Zusätzlich wird die Welt nicht bloß über eine positive Repräsentation erschlossen, sondern über ein System von Zeigen und Nicht-Zeigen. Das, was zwischen den Panels geschieht und nicht sichtbar ist, erweist sich als ein entscheidendes Moment der Narration (McCloud 2006: 51). McCloud betrachtet gerade die Hybridität der Formen des Comics als eine eigene künstlerische Weise der Exploration von Unsichtbarem (McCloud 2006: 131). Der Kontrast könnte hier nicht größer sein zu Neuraths Vision von Isotype, die auf einer Philosophie der formalen Vereinheitlichung ebenso wie der vollumfänglichen Visualisierbarkeit beruht und auf die sprachlichen Elemente am liebsten ganz verzichtet hätte. In dieser Arbeit mit dem Unsichtbaren (McCloud 2006: 100) ebenso wie mit hybriden Formen erzeugt die Comic-Sprache eine spezifische Aktivierung des Betrachters, der das Unsichtbare wiederum mit Vorstellungen zu füllen vermag. Damit wird die Position des Betrachters in einer ganz anderen Weise in die symbolische Welt, die der Comic erzeugt, einbezogen, als wenn die Bildlogik sich gleichsam selbst erläutert und der Betrachter bloß verstehen muss (vgl. den Beitrag von Oechslin in diesem Band). Der Betrachter ist nicht mehr das rezipierende Außen einer homogenen, in sich stimmigen Welt, die er kennen muss, sondern jener, der die Inhalte erst füllt, ohne dass damit die Kluft zwischen abstrakten und konkreten Darstellungen negiert würde. Ganz anders Isotype: Es versucht jeglichen Naturalismus zu vermeiden und abstrahiert die Formen höchstmöglich zu einer neuen logisch stimmigen visuellen Kunstsprache. Die entstandenen Kunstfiguren sehen den Betrachter stumm aus einem streng logischen Raum eines wissenschaftlichen Klassifikationssystems heraus an; interagieren sie untereinander, zeigen sie klar definierte logische, in sich abgeschlossene Handlungsvorgänge. Beide, Comics und Isotype, schreiben sich in ein neues Zeitalter des Auges und des Symbolischen ein, in dem Bilder immer bedeutender werden. Beide sind sich der Kluft zwischen Schrift und Bild bewusst, beide zielen nach einer unmittelbar verständlichen Sprache, aber sie gelangen auch zu ganz anderen Lösungen zur Kommunikation ihrer Inhalte. Was Isotype intendierte, ist den Comics eher gelungen: eine globale Sprache zu entwickeln. So erkannte Edgar Morin bereits 1962 Comics als Bestandteil und Signum einer entstehenden „planetaren Kultur“ (Morin 1962). Der
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Comic durchdringt mittlerweile die abgelegensten ideologischen Ecken, freilich eher rhizomatisch, über den kulturellen Untergrund der „Zitadellenkultur“ sich fortpflanzend. Comics wurden unversehens Objekt avantgardistischen Experimentierens, wie es sich in der Präsenz von Comics als „images détournées“ bei den Situationisten zeigt oder bei den eingeblendeten Comic-Sequenzen in Godards Film La Chinoise (1967) äußert. Bereits in den frühen 1970er-Jahren ist ihr kultureller Wert zumindest in Frankreich anerkannt (Lacassins Pour un neuvième art. La bande dessinée erschien 1971).14 Der Formenreichtum erregte entsprechend auf einmal Aufmerksamkeit jenseits der Unterhaltungskultur: Die Comic-Sprache gilt aufgrund der hybriden Formen, die sie verwendet, mittlerweile als ein „Verwahrungsort“ symbolischer Gestaltungsformen, die, auch wenn sie in anderen kulturellen Bereichen nicht mehr aktuell sind, im Comic „am Leben“ gehalten werden (Gopnik/Varnedoe 1990: 112). Die Comic-Sprache fungiert damit als eine Art kultureller Speicher (vgl. auch den Beitrag von Vogel in diesem Band). Werckmeister, der Comics als Ausdrucksform in seinem Werk „Zitadellenkultur“ diskutiert (Werckmeister 1989: 46), diagnostizierte diese Entwicklung ähnlich: Comics böten mittlerweile eine gemalte und gezeichnete Bilderliteratur, die künstlerische Ansprüche stellt und zugleich vertraute Erfahrungsbereiche der Lebenswirklichkeit anspreche. Die hohe Flexibilität der Formen, die Tatsache, dass Comic-Sprache beinahe universell einsetzbar ist, ließen Comics unversehens als beinahe zeitlos „modern“ erscheinen (Gopnik/Varnedoe 1990: 167).
D ER S TURM AUF DIE SOZIOLOGISCHE Z ITADELLENKULTUR : C OMICS UND A CTES DE L A R ECHERCHE EN S CIENCES S OCIALES Es erstaunt aufgrund dieser Entwicklung nicht, dass die Comic-Sprache auch als eine Möglichkeit wahrgenommen wurde und wird, die Frage anzugehen, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse jenseits etablierter Wahrnehmung darstellen lassen: nunmehr aber nicht über eine visuelle Kunstsprache wie bei Neurath, sondern als im populären Bereich erprobte Form, die in die wissenschaftliche Kunstsprache eingeführt wird, um so neue 14 | Vgl. zum Kontext und zur Geschichte der Anerkennung des Comics auch: Pennacchioni (1982: Kap. 1).
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Effekte des Wahrnehmens und des soziologischen Denkens zu erzeugen. Genau in diesem Sinne griff die Forschungsgruppe am Centre de Sociologie Européenne an der École des Hautes en Sciences Sociales in Paris, geleitet von Pierre Bourdieu, auf dieses Reservoir an Ausdrucksweisen, welche die Comic-Kultur bereitstellt, zurück, um das Gesellschaftliche auf neue Weise zu zeigen, vielleicht: die Darstellung sozialer Zusammenhängen neu zu erfinden, um so dem etablierten Diskurs über das Soziale die Evidenz zu nehmen. Luc Boltanski, der auf diese Gründungszeit zurückblickte, nannte das Programm dieser Soziologie entsprechend: „Rendre la réalité inacceptable“ (Boltanski 2008) – dieses Ziel umfasst auch die Idee, mit gängigen Sichtweisen zu brechen, auch mit jener der Soziologie. Die Forschungsgruppe um Pierre Bourdieu, zu der Luc Boltanski gehörte, verstand sich, so ist der Schrift Boltanskis zu entnehmen, als eine Art soziologische Avantgarde. Boltanski berichtet von den Schwierigkeiten, die Ideen und Forschungen in etablierten soziologischen Zeitschriften zu veröffentlichen. Die langen peinlichen Begutachtungsprozesse, die Auflagen, wissenschaftlichen Normen zu folgen, die nur wenig einleuchteten, führten zum Vorhaben, die vordefinierten wissenschaftlichen Formen zu sprengen. Luc Boltanski, der schlussendlich nach eigenen Angaben die Idee zur Form der Zeitschrift fand, gab sich als großer Freund der Bande Dessinée zu erkennen, die er mit soziologischem Interesse an der Karriere dieser Form verband. Er sammelte Comic-Fanzines, Magazine, die von Comic-Fans, oft Amateuren, produziert wurden, die Comics abdruckten und dazu Interviews mit Comic-Zeichnern präsentierten. Aufgrund dieses Blicks auf die Comic-Sprache und -Szene wurde die Idee geboren, ein Comic-Fanzine der Soziologie zu kreieren; dabei sollte das Magazin Schtroumpf. Les Cahiers de la bande dessinée, das besonders beeindruckte, als Vorbild dienen. Die Nähe zur Comic-Sprache sollte klar ersichtlich sein. Der damals schon bedeutende französische Comic-Zeichner Jean-Claude Mézières unterstützte die Gruppe in Kompositionsfragen bis hin in die letzten Details, beispielsweise, welche Schreibmaschine gekauft werden musste, damit das Schriftbild der Zeitschrift möglichst jener von Fanzines entsprach. Actes de la Recherche en Sciences Sociales, wie die Zeitschrift heißen sollte, glich schlussendlich Schtroumpf. Les Cahiers de la bande dessinée aufs Haar (Abb. 7 und 8): Format, Schrifttyp, grafisch-gestalterische Elemente, Titelsetzung, Einsatz von Fotografien und anderen grafischen Elementen. Die Zeitschrift wurde unter ähnlich amateurhaften Bedingungen produziert wie die Fanzines oder ein Underground-Comic –
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ein Bildersuchen, um nicht zu sagen: Klauen, Schneiden, Kleben, Zusammensetzen, Drucken im Keller des Institutsgebäudes mit einer billigen Offset-Maschine und dies alles mit Hilfe von Jean-Claude Mézières, der den Herausgebern die einschlägigen Tricks und Techniken zur ComicProduktion vermittelte. Abbildung 7: Ausschnitt aus dem Fanzine Schtroumpf, einen Comic zeigend, den Jean-Claude Mézières zeichnete
Quelle: Schtroumpf. Les Cahiers de la bande dessinée n°7 (1973)
Abbildung 8: Comic-Montage in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales n° 5/6
Quelle: Bourdieu (1975)
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Die Texte, handgeschrieben, dann gesetzt, mit teils übergroßen Lettern, Fotografien, statistische Tabellen, Zeichnungen, Grafiken, Buchausschnitte, mit Anmerkungen versehen, bildeten eine größere selbst visuelle Form, die mit der etablierten Form einer wissenschaftlichen Publikation völlig brach, aber gemäß Boltanski bis ins Kleinste durchdacht war (Boltanski 2008: 25). In dieser neuen, zutiefst visuellen Ordnung der Darstellung soziologischen Wissens fand die Forschungsgruppe eine ganz andere Form des wissenschaftlichen Ausdrucks. Mehr noch, Boltanski schreibt, wie teilweise die Lust an der Illustration, am Bild, am Grafischen das Textuelle in den Schatten stellte. Inhaltlich jedoch schlossen die beiden ersten Nummern gerade an die kulturelle Dynamik an, die den Comic der damaligen Zeit ergriffen hatte: die Kanonisierung von populärkulturellen Formen und die Zelebration künstlerischer Exklusivität. Die Zeitschrift kommt unmissverständlich einem avantgardistischen Angriff auf die Hochkultur gleich, indem die kulturellen Äußerungsformen der „Zitadellenkultur“ aus dem Kontext gerissen und so zweckentfremdet werden, um die kulturellen Produktionsbedingungen selbst zu durchleuchten. Worin spiegelt sich aber die Comic-Sprache selbst, nachdem die Form im Stile des Gemischs aus Comics und Text der Fanzines übernommen war? Wohl am ehesten bei der Montage der einzelnen Elemente: Sie erhalten eine ähnliche „diskursive“ Funktion wie Panels. Die einzelnen Beiträge verwehren sich gegen eine umfassende Darstellungslogik, indem jedes visuelle Element erläutert ist, Sprache und Bild, säuberlich getrennt, sich gegenseitig und stringent erläutern. Es klaffen Lücken zwischen den einzelnen textuellen und grafischen Elementen, die wiederum der Lesende selbst mit seinem Wissen und seinen Imaginationen zu füllen hat. Die einzelnen Elemente wirken wie Panels, je nach Größe und Ausdehnung gewähren sie den kulturellen Artefakten einen anderen Raum, eine andere Bedeutung, lassen Bezüge erscheinen oder imaginieren. Singularitäten kreuzen sich mit Generalisierungen. Am augenscheinlichsten wird dies in einem Beitrag Pierre Bourdieus, mit dem er sich kritisch mit der damaligen Marx-Lektüre im Pariser Milieu, genauer bei Etienne Balibar auseinandersetzte (Bourdieu 1975; Abb. 8). Was Bourdieu eigentlich demontieren wollte, war der „Wichtigkeitsdiskurs“ (discours d’importance), der sich in der damaligen Zeit um Marx’ Texte bildete. Bourdieu analysiert dabei die rhetorischen Strategien, die Bedeutung aus dem Nichts hervorzaubern, um letztendlich nur den Sprechenden selbst zu adeln, der glaubt, Marx besser zu verstehen als sogar Marx sich selbst. Die rhetorisch-
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linguistische Analyse ist eigentlich überlagert von einem Comic, ohne dass dieser selbst eine stringente Geschichte bildete. Dieser Comic zeigt ikonische Darstellungen von Marx, grafische Darstellungen wohl zu seiner Ehre, die nun mit Sprechblasen versehen zu einem Comic montiert wurden. In den Sprechblasen finden sich Texte aus der Deutschen Ideologie, genauer Stellen über Marx’ Analyse von Max Stirners Schriften und Reden, dem er als „Frère Sancho“ denselben priesterhaften Habitus unterstellt wie Bourdieu Balibar (Marx nannte Stirner bekanntlich Sancho). Sancho wird in einer Sprechblase von Marx attestiert, er eigne sich höchstens als Priester seiner eigenen Ideologie. Der Text des Artikels selbst nimmt keinen Bezug auf die Panels, erläutert sie nicht, aber er zeigt anhand von Balibars Text, auf welche Weise dieser literarische Trick der Bedeutungsverwandlung und Wichtigkeitszumessung funktioniert, ohne Abstriche an der komplexen Wissenschaftssprache vorzunehmen: „La dialectique sacerdotale du consacrant sacralisé par les actes de sacralisation se marque par la combinaison des professions d’humilité […] et des marques d’emphase“ (Bourdieu 1975: 67), um ein Beispiel seines komplexen sprachlichen Stils zu geben. Mit anderen Worten, der textuelle Körper des Artikels umfasst eine ideologiekritische Analyse der Rhetorik Balibars, während die Panels Bildund Textfragmente aus Marx-Darstellungen und der Deutschen Ideologie zusammenfügten. Es gibt keinen expliziten Bezug zwischen diesen beiden Ebenen, außer dass sie als Bestandteil desselben Artikels erscheinen. Etienne Balibars Werk wird durch diese Montage gleich zweifach parodiert, damit ein wesentliches Stilelement des Comics einsetzend (Frahm 2010): allgemeiner, indem die Stilisierung des Sprechens und des Sprechenden, die Marx Stirner vorwarf, dem Marxismus selbst unterstellt wird, wie in Form einer Ikonisierung der Marx’schen Büste dargelegt ist. Und konkreter, indem Balibar als Leser Marxens eine rhetorische Strategie angelastet wird, die Marx selbst schon kritisiert hatte. In alledem wird die Strategie deutlich: Die Form des Comics wird als Mittel gebraucht, Diskurse über das Soziale anders zu denken und darzustellen, und dieses neue Denken liegt nicht einfach in der Luft, sondern richtet sich gegen ein Pariser intellektuelles Establishment, das die Darstellung und das Denken des Sozialen (als pure Exegese von Marxens Werk) für sich pachtete. Oder in der Theorie Bourdieus selbst denkend: Die Wirkung der Comic-Sprache und der Form des Comic-Fanzines zum Aufbau einer soziologischen Zeitschrift beruht auf einem Homologie-Effekt. Was der Comic für die Bastion
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der Hochkultur in den 1960er-Jahren bedeutete, entsprach dem, was die Soziologie um Bourdieu und Boltanski mit den Pariser Kultur- und Sozialwissenschaften im Sinne hatte. Der Erfolg des Projekts ist erstaunlich, es stellt nicht nur einen Meilenstein der modernen Soziologie dar. Die Zeitschrift gewann ohne Abstriche an die soziologische Wissenschaftssprache eine Leserschaft weit über die übliche Klientel sozialwissenschaftlicher Zeitschriften hinaus. Eine genauere Darstellung würde zeigen, wie sich diese „wilde Form“ der Montage im Verlaufe der Arbeit von Bourdieu und Boltanski immer weiter normalisierte und auch standardisierte wie ehedem schon Neuraths visuelle Sprache. Boltanski sah die Grenzen des Verfahrens darin, dass ob der Unmengen von Material, das hineinmontiert wurde, die Sicht auf die Details überhandnahm und eine größere Erzählung über das Zusammengewürfelte nicht möglich war: Der Überblick ging verloren. Mit anderen Worten gesagt, die Einheit lag in der Form und im Layout und weniger in den Aussagen (Boltanski 2008: 39f.). Schlussendlich verschwand bei Bourdieu und bei Boltanski in ihren eigenen Werken diese Darstellungsweise wieder fast vollständig, und die wuchernde Montage verschiedenster Formen, die das Fanzine Schtroumpf kennzeichnete, wurde verabschiedet – vielleicht, weil die Form ihre subversive Kraft verloren hatte und zu einem spezifischen Stil wurde, vielleicht, weil die Detailsicht überhandnahm, vielleicht, weil sich der Zeitgeist änderte und die Universität diszipliniert wurde, wie Boltanski vermutet; vielleicht aber auch, weil die ehemaligen Häretiker, um mit Bourdieu zu sprechen, selbst arrivierten: „Une revue en français“, so Boltanski, „sans comité de lecture, tapée à la machine à écrire, collant côté à coté statistiques et petits mickeys, carrément critique – qui en voudrait pour sa carrière? Ce serait du suicide“ (Boltanski 2008, 48). Wenn auch die wissenschaftlichen Erwartungen ganz anders waren, Neuraths Projekt und jenes von Boltanski und Bourdieu gleichen sich: Es geht um die Attraktion der Leser, um der Kommunikation gesellschaftlicher Zusammenhänge willen, die bestehende Grenzen überschreiten soll. All dies folgt der Intention, der gemeinhin üblichen Vorstellung der gesellschaftlichen Ordnung und Interpretation ihre unmittelbare Plausibilität zu entreißen, um sie auf eine neue Weise zeigen zu können, eine Repräsentation der Welt zu erstellen, in der ein Leser Überraschendes entdeckt, weil sie selbst neu ist, desgleichen wie er sich darin aufgrund seiner eigenen Erfahrungen wiedererkennen kann: „… une représentation du
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monde qu’un lecteur pouvait découvrir avec surprise, comme si elle lui apportait une vision nouvelle et, en même temps, la reconnaître, depuis sa propre expérience“ (Boltanski 2008: 40).
THE C ARTOON S OCIET Y : C OMIC -P ROJEK TE V ERMIT TLUNG SOZIOLOGISCHEN W ISSENS
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Damit wären die beiden Großprojekte, die eine visuelle Erzählung in die Wissenschaft der Gesellschaft einführen wollten, dargestellt. Beide waren zunächst erfolgreich, aber überlebten ihre Zeit nicht oder nur als Schatten ihrer selbst. Die Verwandtschaft von Comics und Gesellschaftswissenschaften bleibt dennoch offensichtlich. Ein Artikel mit dem Titel „The Cartoon Society“, erschienen in Teaching Sociology, widmet sich dem Einsatz der Fernsehserie The Simpsons im Soziologieunterricht (vgl. Scanlan/Feinberg 2000). Die Autoren staunen, wie sich beinahe sämtliche Themen, Konzepte und auch Einsichten und theoretischen Aussagen der Soziologie in den verschiedenen Folgen finden, wie unmittelbar verständlich sich plötzlich komplexe Zusammenhänge in dieser Cartoon Society verstehen und begreifen lassen.15 Merkwürdigerweise, so ließe sich dieser Umstand formulieren, fanden die Soziologen bei den Simpsons ein unmittelbar wahrnehmbares Konzept von soziologischem Wissen vor, einen soziologischen Animationsfilm ohne pädagogische Intention.16 Weshalb ist dies möglich, offenbar eher als mit Spielfilmen oder literarischen Werken? Diese Frage stellten sich die Autoren nicht. Man könnte mutmaßen: Die Formen des Comics besitzen mehr Gemeinsames mit der modernen 15 | „The Simpsons portrays a mini-society that encompasses all of the major social institutions-education, family, mass media, government, religion, the economy-through the experiences of the ‚nuclearfamily‘ and their local community. The intersection of culture, social psychology, and social structure helps create ‚Springfield, U.S.A.,‘ the Simpson’s hometown, as a microcosm of mainstream American society“ (Scanlan/Feinberg 2000: 127). 16 | Kontrastierend zu dieser Normalitätsdarstellung bei den Simpsons, erkennt der Pariser Politikwissenschaftler Antoine Buéno bei den Schlümpfen klar die Struktur eines faschistischen Staates (Buéno 2011). Rückblickend auf das vorherige Kapitel, scheinen die Schlümpfe irgendwie einen besonders engen Bezug zur Soziologie zu haben.
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Wahrnehmung, als zunächst erkenntlich ist (vgl. hier auch den Artikel von Prechtl in diesem Band). Die mögliche Ähnlichkeit bezieht sich auf die Tatsache, dass die Wahrnehmung mit höchst heterogenen Formen des Sozialen konfrontiert ist und gesellschaftliche Wirklichkeit nur fragmentarisch, aber gleichzeitig notwendig stilisiert wahrgenommen wird, als erscheine das sichtbare Soziale selbst in Form einer Serie von Panels, die mehr unsichtbar bleiben lassen, als sie zeigen. Panels, die erst zu einer Erzählung, zu einem polyphonen „telling about society“ (vgl. Becker 2007) gefügt werden müssen, damit es sich mit ihnen irgendwie leben lässt. Es tauchen denn seit einiger Zeit Publikationen auf, die das Projekt, soziologische Zusammenhänge in direkter Weise über die Sprache des Comics zu vermitteln, wieder aufnehmen: Publikationen, die gesellschaftswissenschaftliche Fragen thematisieren und zu ihrer Vermittlung alle Register des Mediums heranziehen. Damit wird einerseits Neuraths bildpädagogisches Projekt aufgenommen, mittels Bildern die Existenz sozialer Ordnung zu vermitteln; andererseits wird auch der Underground-Touch des Comics zitiert, um soziologisches Wissen, das oft noch von den klassischen Arbeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zehrt, zu entstauben und auf eine neue Weise zu vermitteln. Verantwortlich dafür ist vor allem ein Verlag: Icon Books. Der Verlag publiziert Sachcomics, „graphical introduction books“, über fast alle Themen der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften. Die Reihe kommt im äußerst kleinen Taschenbuchformat daher, die Darstellungen erweisen sich manchmal als etwas undeutlich. Die Büchlein scheinen wie zum schnellen Wegstecken in die Manteltasche gedacht, in editorischer Hinsicht in der Tat „Underground“: Der pädagogische Gestus des Lernens über Einfärben von Textstellen und Erstellen von Randnotizen ist schon alleine über die Buchtechnik ausgehebelt, es gibt kaum weißen Platz für Anmerkungen, der wenige Text ist in sich schon markant. Befreit davon, wollen die Comics ganz offenbar einfach das Denken über einen Gegenstand aktivieren; es ist nichts zum „Lernen“ im Sinne einer inhaltlichen Wissensaneignung. Gemäß Darstellung des Verlags steht auch hinter diesem Projekt die Idee, soziale Zusammenhänge und auch gesellschaftskritische Fragen via Bilder anders zu vermitteln. Den Verlegern war das Werk des mexikanischen Cartoonisten Eduardo del Río (nom de plume: Rius) aufgefallen, der mit Comics für die unteren Schichten Mexikos soziale Zusammenhänge erklärte und die Aktivitäten der mexikanischen Regierung kritisch hinterfragte, ebenso karikierend wie präzise. Rius kreierte hierzu
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Bildergeschichten, beispielsweise die Comic-Serie mit dem bezeichnenden Namen Los Agachados (die Underdogs).17 Cuba para principiantes (Cuba für Anfänger) von 1970, worin er die Geschichte und die Revolution Kubas erzählte, hatte wenig Erfolg, doch dann erwies sich 1972 Marx para principantes (Marx für Anfänger) als ein durchschlagender Erfolg auf dem internationalen Buchmarkt und bildete den Start für die Introducing-Serie. Der Band beginnt mit zwei realistischen grafischen Zeichnungen, die London zu Karl Marx’ Tagen zeigt. Die Grafiken zitieren den Stil der damaligen Zeitungsillustrationen: eine erste Illustration zeigt den luxuriösen Ball im Saal eines Palastes und eine zweite das Elend verarmter Menschen in Londons Straßen. Nach diesem gleichsam dokumentarischen Einstieg folgt eine comic-artige Erzählung aus Text und (sprechenden) Figuren, welche Marxens Leben und den Grundgehalt der marxistischen Theorie erläutert. Der Erfolg des Buches, das grafischen Realismus, Comic-Elemente und Sachinformationen zu verbinden verstand, zeigte den Verlegern, dass offenbar das Bedürfnis nach einer einfachen und visuell gehaltenen Darstellung sozialer Zusammenhänge nicht nur bei den unterprivilegierten Schichten Mexikos bestand. Die Introducing-Serie wurde ins Leben ge rufen. Stilbildend blieb dabei das Montage-Element, das bereits die MarxEinführung gekennzeichnet hatte. In der Reihe folgte entsprechend auch ein Comic spezifisch zur Soziologie: Sociology. A Graphic Guide, der 1996 erstmals erschien und seither mehrere Auflagen erlebte. Der Graphic Guide oder vielmehr: der soziologische „Sachcomic“ verschreibt sich ganz und gar dem von Elias beschriebenen Projekt, Gesellschaft und Gesellschaftsanalyse überhaupt als Kategorie des Denkens und Wahrnehmens aufzuzeigen: „What is society? I’ve been looking for it everywhere and nobody wants to talk with me“ (Osborne/van Loon 2009: 15), fragt eine Figur exemplarisch für jene, denen das gesellschaftswissenschaftliche Denken noch fremd ist (sie wird dabei von einigen Ladies massiert, aus Gründen, die sich dem Schreibenden nicht gänzlich erschlossen haben). Verfasst wurde das Buch von Richard Osborne, einem Soziologie-Dozenten an der damaligen Londoner Guildhall University, und von Boris van Loon, einem britischen Zeichner, der für mehrere Bände der Serie verantwortlich zeichnete. Der Aufbau des Graphic Guide ähnelt formal einem Comic, aber er verwendet dabei ein immens vielfältiges Bildmaterial. Es handelt sich eher um grafische Objets trouvés, also Bilder, welche die Gesellschaft selbst er17 | Vgl. zur Geschichte: http://www.introducingbooks.com/page/history.
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Abbildung 9: Montage zum Rätsel Gesellschaft
Quelle: Osborne/van Loon (2009: 5, 6)
zeugt, die zu einer Bildgeschichte und zu Aussagen montiert und mit Text versehen sind, teils in erläuternden Boxen und teils in Sprechblasen. Die Bilder und Texte erläutern sich je gegenseitig, ohne ineinander aufzugehen. Gleich zu Beginn wird der Leser mit einer surrealen Montage konfrontiert – ein Kleinkind, das über einem Fahrrad schwebt, das sich wiederum in einem Biedermeier-Wohnzimmer befindet –, die bereits die visuelle Erwartung irritiert, während der Text durchaus verständlich bleibt: „In other words, Sociology is about to explain what seems obvious – like our society works – to people who think it is simple, but who don’t understand just how complicated it is“ (Osborne/van Loon 2009: 3). Das Beispiel der Abbildung 9 zeigt die Diskussion der Frage, ob das Konstrukt „Gesellschaft“ überhaupt Sinn ergibt, „wo“ Gesellschaft überhaupt „ist“ („What is society? In fact where is it?“). Der Blick fällt sogleich auf Maggie Thatcher im Rollstuhl, die ihren bekannten antisoziologischen Ausspruch äußert: „There is no such thing as society. There are individual men and women and there are families.“ Eine Grafik zeigt Menschen, die übereinander herfallen, sich gegenseitig würgend und aufeinander einstechend, das klassische Argument verkörpernd, dass ohne Gesellschaft, i. e. ohne eine Existenz sozialer Ordnung, Chaos und Gewalt ausbrechen würden.
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Die Grafik ist im Stil des 19. Jahrhunderts gehalten (oder entstammt womöglich sogar dieser Zeit) und zitiert damit den zeitlichen Horizont des Entstehens der Soziologie in der konfliktiven Zeit der Massengesellschaften des 19. Jahrhunderts und ihrer Furcht vor den classes dangereuses, ohne dies verbal mitzuteilen. Die dritte Grafik zeigt eine Familie im Cartoon-Stil der 1950er-Jahre, eingebettet in eine kleinbürgerliche Szenerie. Die Darstellung dürfte das Bild der 1950er-Jahre unterstreichen als einer Zeit hoher sozialer Konformität. Sie ist mit Sprechblasen versehen, die Mutter meint, die Familie sei eine natürliche Institution, und es sei Gemeingut (common sense), dieser Idee zu dienen. Die Tochter fragt nach, aber „was ist common sense?“, und ein Chauffeur übernimmt die Stimme des Soziologie-Dozenten, der die Frage weiter zu einer soziologischen Erörterung führt, die nach den Entstehungsbedingungen von „common sense“ überhaupt fragt und ihm so die Evidenz nimmt. Die Thatcher’sche Familienvorstellung wird damit eigentlich „bildlich“ genommen, gleichzeitig aber durch das grafische Objet trouvé über die visuelle Verfremdung als selbst zeitbedingt konnotiert (ganz offensichtlich die Zeit von Maggie Thatchers Jugend darstellend), um damit dem „common sense“ in der Vorstellung von der Familie die Natürlichkeit zu nehmen. Die Frage, was eine soziologische Perspektive ausmache, wird mit einem Bild russischer Bergarbeiter und eines Aliens eingeführt (Abb. 10) und mit der Aufforderung verbunden, sich in realistische, aber fremde Verhältnisse hineinzudenken wie auch einen höchstmöglich verfremdenden Blick, einen Standpunkt von außerhalb einzunehmen: Ein ComicAlien grüßt und sagt: „The ability to look at society like an alien would help as well“, um die Gesellschaft soziologisch zu betrachten. Damit wird der soziologische Blick von außerhalb, der natürlich unmöglich ist, weil die Soziologie und ihre Wissenschaftler innerhalb der Gesellschaft operieren, die sie beschreiben, über die grafische Rhetorik gleichzeitig zur Disposition gestellt und ironisiert, als bloße Fiktion dargestellt – und dies bemerkenswerterweise zu Beginn einer Einführung in die Soziologie. Die Infragestellung soziologischer Perspektiven und der Soziologie als „normaler“ Wissenschaft bleibt allgegenwärtig in dieser Einführung zur Soziologie: Bei der Darstellung der großen Soziologen, die neben den Untersuchungsfeldern der Soziologie auch eingeführt werden, ist gleich auch die Kritik an dieser Theorie hineinmontiert. Durkheims Reflexion des Problems der moralischen Bindung großer Gesellschaften erscheint knapp und bündig in einer Sprechblase gefasst, die aus einem Durkheim-
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Abbildung 10: Wirklichkeit und Parodie des soziologischen Blicks
Quelle: Osborne/van Loon (2009: 4, 5)
Porträt mit riesigen Bilderrahmen herausragt, das über einer Menge von Menschen hängt. Durkheim nahm den ersten Lehrstuhl für Soziologie ein, wie ein begleitender Text festhält, die Disziplin wurde damit eigentlich akademisch geadelt. Damit wird unschwer erkennbar rhetorisch unterstellt, dass die Akademisierung der Soziologie der Tatsache gleichkommt, dass sie sich zusehends von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abhebt, die sie untersucht. Die Menge, gleichzeitig Untersuchungsgegenstand der Durkheim’schen Soziologie, murrt in Sprechblasen: „Schon wieder eine andere Vorstellung von Gesellschaft, was soll das alles“, ist zu lesen. Die quantifizierende Forschungsmethodik, die beispielsweise Neuraths Methode von visuellen Darstellungsverfahren zugrunde liegt, wird ironisiert und fachgerecht kritisiert, indem ein zu allem entschlossener Forscher ein quiekendes Männchen unter die Okularlinse quetscht, das meint, so wolle und könne es nicht untersucht werden. Die visuelle Rhetorik der Kritik erweist sich teils als krass: Hinter der Darstellung von Spencers evolutionärer Soziologie, welche die gesellschaftliche Ordnung soziobiologisch darwinistisch auffasst, türmen sich beim genaueren Hinsehen die Leichenhaufen des Holocausts.
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Obwohl das Bändchen von Bildern unterschiedlichster Herkunft beinahe überquillt, liegt sein Impetus, die Evidenz gesellschaftlicher Zusammenhänge, augenscheinlich gerade nicht im Zeigen, positiven Repräsentieren eines zuvor Unsichtbaren, sondern in der Verweigerung, eine klare, eindeutige Repräsentation überhaupt zu erstellen. Der Status der Soziologie als normaler Wissenschaft (im naturwissenschaftlichen Sinne) ist ihr dabei natürlich aberkannt. Das „Gesellschaftliche“ erscheint vielmehr in Form von Widersprüchen, Brüchen, Inkonsistenzen, die das Buch selbst nicht in einer übergeordneten Theorie aufhebt. Der Band arbeitet mit bildlichen Fragmenten, also Evidenzen, die selbst schon in der Gesellschaft produziert wurden und zu einer visuellen, comic-artigen Erzählung soziologischer Theorie montiert werden, und nicht mit eigenen Formen der Darstellung, einer spezifischen soziologischen Symbolsprache. Das Gesellschaftliche spricht somit gleichsam mit sich selbst. Während Neurath nach einer kontextfreien visuellen Sprache suchte, stilisieren diese Darstellungen die gesellschaftliche Kontextgebundenheit des Wissens geradezu dazu, dass soziologisches Wissen immer Montage von Heterogenität bedeutet. Eine solche Verweigerung der Homogenität der Materie wie des Stils lässt sich durchaus gesellschaftspolitisch lesen als eine Kritik an totalisierenden Vorstellungen des Sozialen, die selbst schon in der Comic-Sprache steckt (Baetens 1998: 131). Im übertragenen Sinne lautet die Botschaft also: Soziologie ist eine Wissenschaft, die sich mit der Heterogenität ihres Untersuchungsfeldes abzufinden hat, in das sie selbst heillos verstrickt ist. Die Lesenden werden durch diese Lücken in den Erzählungen, durch das Zitieren von Formen, welche die Gesellschaft selbst über sich produziert hat, auf ganz spezifische Weise gefordert, dem Material überhaupt Sinn zu verleihen – sofern sie sich überhaupt auf das Spiel einlassen. Was bedeutet das überhaupt alles für die Darstellung von gesellschaftlichen Verhältnissen? Es wurde von drei Strategien berichtet, die das Soziale über grafische Erzählungen vermitteln. Alle drei Versuche griffen zum Mittel der visuellen Narration, um den Schleier des Evidenten gesellschaftlicher Wirklichkeit zu heben und eine soziologische Botschaft zu vermitteln. Neuraths Vision war, eine klare, in sich stimmige neue visuelle Sprache zu schaffen, die dem klar strukturierten logisch und quantitativ erschließbaren Gegenstand, der Gesellschaft, entspricht. Durchdachte, grafische Bilder, sind sie gelungen, lassen die Erzählungen, die mit ihnen formuliert werden, für jedermann verständlich werden. Geschaffen wurde
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damit eine visuelle Kunstsprache, die allerdings den Anspruch des Universellen nicht erfüllen kann, solange sie ihre kulturelle und historische Bedingtheit negiert. Boltanskis und Bourdieus Projekt einer soziologischen Zeitschrift in Form eines Comic-Fanzines, die vieles von der Comic-Sprache übernimmt, vertrat schon weniger umfassende Ansprüche, spielt mit dem gesellschaftlichen Kontext, innerhalb dessen es entstand. Mit den neuen visuellen Darstellungsformen blies man zum Sturm auf die „Zitadellenkultur“ und ihre „Doxosophen“, im gewissen Sinne sehr erfolgreich, bevor man sich wieder „normalisierte“. Doch die subversive Kraft der montageartigen Comic-Sprache ließ sich nicht in eine allgemeinere Wissenschaftssprache übersetzen; sie bleibt Stil einer spezifischen Schule. Die dritte Variante der Publikation der Icon Books versöhnt den Underground-Aspekt des Comics mit dem erkenntniskritischen Aspekt der Soziologie und verbindet es mit dem klaren pädagogischen Impetus, das Konstrukt des Sozialen überhaupt denkbar zu machen. Das Projekt selbst lokalisiert sich in einer soziologischen Schule, die sich selbst vom normalwissenschaftlichen Ansatz und von einer totalisierenden Vorstellung von Gesellschaft losgesagt hat. Die Montagen historisieren die Bilder der Gesellschaft und bewahren soziologisches Wissen vor falscher Generalisierung. Aber die Frage bleibt offen, ob die damit entwickelte Formsprache sich auch in eine wissenschaftsinterne Sprache rückübersetzen lässt, mit ihr korrespondieren kann, und solange diese Fragen offen ist, wird diese Weise des grafischen Erzählens von Gesellschaft wohl eine subkulturelle Nische einer Wissenschaft bleiben, die selbst stets um die Anerkennung ihrer Wissenschaftlichkeit kämpft. Dabei brächten die wilden Formen der soziologischen Comics, wie sie in diesen Beispielen gezeigt wurden, die erkenntnislogischen Probleme und Chancen soziologischen Wissens zuweilen präziser zum Ausdruck als die meisten normalwissenschaftlichen Soziologien.
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Authentisierungsstrategien in historischen Comics Anne Hillenbach
Historische Comics haben eine grundlegende Gemeinsamkeit: Sie besitzen einen referenziellen Wirklichkeitsbezug zu vergangenen Ereignissen oder Epochen. Durch Text und Bild soll im historischen Comic eine „wahre Geschichte“ erzählt werden, ohne dass jedes Detail, jedes Gespräch und jede Figur historisch überprüfbar sein müssen. Die Grenzen zwischen Fiktion und Historiografie sind in diesem Medium postmodern durchlässig: Historische Comics schildern Ereignisse aus einer bestimmten Perspektive heraus und erheben somit kaum Anspruch auf Objektivität, obwohl sie sich der Wahrheit verpflichtet fühlen. Joe Sacco bringt dieses Paradoxon im Vorwort zu seinem Comic Palästina (2007) auf den Punkt: „Es (der Comic Palästina, Anm. der Verfasserin) ist kein objektives Werk, wenn man unter Objektivität den amerikanischen Ansatz versteht, der beiden Seiten das Wort gibt, sich aber nicht um die Darstellung der Realität kümmert. In diesem Buch wollte ich nicht objektiv sein, sondern ehrlich“ (Sacco 2011: o. S.). Historische Comics bemühen sich um Wahrheit, allerdings nicht in einem historisch-korrekten Sinn, sondern in einem übergeordneten Sinn, der der subjektiven Wahrheit des Einzelnen zu einem Raum verhilft. In diesem Kontext ähnelt der historische Comic den modernen historischen Literaturformen, die sich ebenfalls an der Schnittstelle zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion bewegen, da „d[D]ie herkömmliche Unterscheidung zwischen Historiographie und Literatur … v. a. von neueren Diskurstheorien und dem Poststrukturalismus … sowie von narrativistischen Ansätzen in der Geschichtstheorie unterminiert worden“ (Nünning 2004: S. 260.) ist.
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Um dem Leser des meist fiktionalen Mediums Comic den Wirklichkeitsbezug einer Geschichte nahezubringen, nutzen Autorinnen und Autoren sogenannte Authentisierungsstrategien, die sie in den Comic einbetten. Unter Authentisierungsstrategien möchte ich an dieser Stelle solche Verfahren verstehen, die auf den referenziellen Wirklichkeitsbezug eines Werkes auf bildlicher, textueller, kontextueller oder paratextueller Ebene verweisen. Authentizität wird in diesem Text nicht als eine absolute Größe verstanden, sondern als das Ergebnis von Verfahren, die einen Text, ein Bild oder einen Comic realistisch und wirklichkeitsnah erscheinen lassen. Es ist zu vermuten, dass derartige Verfahren die Gestalt von historischen Comics prägen und somit als Gattungsmerkmale fungieren können. Die These möchte ich im Folgenden anhand von drei historischen Comics stützen: der Comic-Serie Der Fotograf von Emmanuel Guibert, Frédéric Lemercier und Didier Lefèvre, dem Comic Palästina von Joe Sacco und dem Comic Gift von Peer Meter und Barbara Yelin.
V ISUELLE A UTHENTISIERUNG : G IFT Der 2010 erschienene Comic Gift, gezeichnet von Barbara Yelin und geschrieben von Peer Meter, entwirft ein düsteres Porträt der Stadt Bremen im Jahr 1831: Eine junge Schriftstellerin bereist die Hansestadt, um einen Reisebereicht zu schreiben, und findet die Stadt in Aufruhr, da in den kommenden Tagen die Hinrichtung der fünfzehnfachen Mörderin Gesche Gottfried vollzogen werden soll. Die Tötung der Bremer Giftmörderin am 21. April 1831 war die letzte öffentliche Hinrichtung in Bremen. Dem Comic, der mit dem historischen Fall der Giftmischerin Gesche Gottfried „das ganze rumpelnde 19. Jahrhundert“ (Hünninger 2010: S. 1.) gleich mitreflektiert, liegt eine akribische Recherche von Dokumenten und wissenschaftlichen Quellen zugrunde, die für historische Comics paradigmatisch ist und die sich im Comic Gift nicht nur auf der Ebene des Comics selbst, sondern auch im Paratext niederschlägt. Der Begriff des Paratextes wird hier in einer engeren Rahmung als der ursprünglichen, von Genette geprägten, verstanden, nämlich als eine Textform, die zwar werkintern, aber außerhalb des literarischen Textes angesiedelt ist, wie zum Beispiel Klappentexte, Vorworte etc. (vgl. auch Wolf 2004. S. 511/512).
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Wie in den meisten historischen Comics werden auch in Gift auf paratexueller Ebene Hinweise zur historischen Richtigkeit und zum Produktionsprozess des Comics geliefert. Da die Paratexte außerhalb der Fiktion angesiedelt sind, beanspruchen sie einen höheren Grad an Glaubwürdigkeit als die Authentisierungsstrategien auf der Ebene des Comics selbst. Diese Glaubwürdigkeit wird im Falle des Comics Gift dadurch erhöht, dass der Autor des Comics bereits mehrere wissenschaftliche Abhandlungen über den Fall der Gesche Gottfried verfasst hat und diese Schriften auch im Anhang genannt werden. Peer Meters Bemerkungen zu den wichtigsten Personen, den Prozessakten und zu dem Bremer Spuckstein sind im Anhang des Comics nachzulesen und liefern Fakten und Hintergrundwissen zu der im Comic erzählten Geschichte (Meter 2011: 196ff.). Zum einen stützen und beglaubigen die Bemerkungen im Paratext die erzählte Geschichte, genauer die Sichtweise der jungen Schriftstellerin auf den Prozess, und zum anderen lenken sie die Rezeption des Lesers bzw. der Leserin. Gleichzeitig werden einige Unsicherheiten in der historischen Quellenlage dazu genutzt, die Geschichte des Comics zu konstruieren. So ist es laut Peer Meter erwiesen, dass der Gerichtsprotokollant große Teile der Prozessakten kopiert hatte (Meter 2011: 198/199). Unsicher ist aber einerseits, was er damit bezwecken wollte, und andererseits, ob die Kopien weiterverkauft wurden. Diese Unsicherheit innerhalb der Quellenlage wird im Comic insofern verarbeitet, als dass es der Protagonistin hier gelingt, die Kopien der Akten an sich zu bringen, zu studieren und sich so ein ganz eigenes Bild von der Mörderin und ihrer Aussagen zu machen. Doch auch an weiteren Stellen wird es dem Leser des Comics sehr leichtgemacht, die Worte und Bilder des Comics mit dem Paratext zu verknüpfen. Der der Geschichte vorangestellte Hinweis, dass „s[S]ämtliche Textpassagen der Gesche Gottfried … den Verhörprotokollen entnommen“ (Meter 2011: o.S.) wurden, verknüpft den Authentizität stiftenden Paratext mit den Zeilen aus den Verhörprotokollen im Comic (Meter/Yelin 2011: 60–64; 136–139), die der jungen Schriftstellerin in die Hände geraten sind: „Ich konnte die Mäusebutter ohne die mindesten Gewissensbisse und mit völliger Seelenruhe geben. Es war mir, als wenn eine innere Stimme mir sagte, ich müsse es tun“ (Meter/Yelin 2011: 63/64). Diese Ausschnitte aus den Verhörprotokollen geben den Ansichten der jungen Schriftstellerin über die psychische Struktur der Mörderin und der damit einhergehenden eingeschränkten Schuldfähigkeit Gottfrieds recht. Damit stellt sich der
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Comic gegen die von Gottfrieds Verteidiger Friedrich Leopold Voget verfassten Schriften, die lange Zeit als Standardwerke über den Giftmord galten (Meter 2011: 196), und hinter die vom Autor des Comics, Peer Meter, verfasste Abhandlung Gesche Gottfried. Eine Bremer Tragödie (2010). In Meters Abhandlung wird – ebenso wie im Comic – deutlich gemacht, dass die Bremer Bürger durch nicht beachtete Warnungen und fatale Fehldiagnosen das Morden Gesche Gottfrieds geschehen ließen. Neben diesen verbindlichen paratextuellen Authentisierungsstrategien treten aber auch unverbindliche Hinweise auf die sorgfältigen Recherchen Yelins und Meters auf. So ist auf textueller Ebene die Sprache der Figuren zeit- und standesgemäß, ebenso wie deren Kleidung. So spricht der mit Hut und Beffchen als evangelischer Kirchenmann ausgewiesene Pastor zur jungen Schriftstellerin in der dritten Person: „Sie sollte nicht das Spekulieren beginnen. Es sollten sie diese Dinge auch nicht weiter bekümmern. Sie sollte vielmehr den traurigen Fall ganz beiseitelassen“ (Meter/Yelin 2011: 34). Auch zeittypische Details wie das Brechen eines Holzstabes zur Bekräftigung des Urteilsspruchs (Meter/Yelin 2011: 164) finden Eingang in die Zeichnungen des Comics. Besondere Beachtung verdienen in diesem Kontext die detailgetreuen Zeichnungen der Stadt Bremen. Die Schauplätze der Handlung sind leicht als markante Orte der Hansestadt auszumachen. Nicht nur die Schlacht zu Beginn der Geschichte (Meter/Yelin 2011: 15ff.) ist detailgetreu nachempfunden, sondern vor allen Dingen das Bremer Rathaus, der Dom und der davor liegende Platz, auf welchem Gesche Gottfried hingerichtet wurde. Die Zeichnungen des gotischen Rathauses und der umliegenden Gassen (Meter/Yelin 2011: 22) sind im Comic prominent, da in diesen Bildern und um diese Bilder kein Text existiert, der den Betrachter von den Zeichnungen ablenken könnte. Auffällig ist weiterhin, dass am linken Flügel des Rathauses nur drei der vier großen Fenster zu sehen sind. Dies lässt sich zum einen durch die nicht ganz frontale Perspektive erklären, zum anderen scheint sich Barbara Yelin an Stiche und Lithografien der Zeit anzulehnen, die ebenfalls eine leicht schräge Ansicht des Rathauses zeigten und somit nicht alle vier Fenster des linken Seitenflügels sichtbar machen konnten.
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Abbildung 1: Rathaus mit Roland und Teil des Doms
Quelle: Lithografie von C. J. Billmark (um 1850)
Abbildung 2: Detailgetreue Zeichnung nach historischen Dokumenten: das Bremer Rathaus im 19. Jahrhundert
Quelle: Meter/Yelin (2011: 22)
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Besondere Ähnlichkeit besteht auch zwischen den Zeichnungen Gesche Gottfrieds im Comic und dem Porträt, das um 1829 von Rudolf Friedrich Suhrlandt angefertigt wurde. Abbildung 3: Gesche Gottfried
Quelle: Zeichnung von Rudolf Friedrich Suhrlandt (zwischen 1828 und 1831)
Durch Yelins exakte und detailreiche Bilder entsteht ein Realitätseffekt folglich nicht nur auf textueller und paratextueller, sondern auch auf der zeichnerischen Ebene. Die Zeichnungen irritieren die Wahrnehmungsgewohnheiten des Comic-Lesers, indem sie die Grenzen der ComicZeichnung ausloten: Yelin folgt keinem comicspezifischen Stil, sondern orientiert sich vielmehr an klassischen Zeichnungen, die somit eine harmonische Verbindung mit dem ebenfalls historisch korrekt gehaltenen Sprachduktus des Textes eingehen: „Die Textgattung Comic gewinnt durch das Zusammenwirken von Bildern und Texten erheblich an Komplexität“ (Dittmar 2008: 9), da die historisch korrekten, aber auch bedrü-
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ckenden und düsteren Zeichnungen den idealen Raum für die erzählte Geschichte erschaffen und deren Stimmung und Atmosphäre entscheidend prägen. Gegen Ende der Geschichte werden Fiktion und Realität erneut gekonnt verknüpft. Im Comic veranlasst die junge, namenlose Schriftstellerin, einen Pflasterstein auf dem Domhof gegen einen Stein mit einem eingemeißelten Kreuz einzutauschen. Dieser Stein existiert noch heute. Näheres zu seinen Stiftern ist nicht bekannt. Er wird allerdings nicht für Andacht, sondern vielmehr als Spuckstein benutzt, wie eine Bremer Tourismusseite beschreibt: „Wie Generationen vor ihnen spucken sie auch heute noch auf diesen Stein, um ihrem Abscheu Ausdruck zu verleihen.“1 Zeugin dieses Spuckens wird im Comic auch die Schriftstellerin, als sie im Alter die Hansestadt erneut besucht. Sie ist entsetzt über die Beschmutzung „ihres Steins“ und die immer noch vorherrschenden Vorurteile über die Grausamkeit der Giftmörderin. Fiktion und Realität verschmelzen an dieser Stelle zu einer Möglichkeit und einer Aufforderung, die Geschichte der Gesche Gottfried aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Bei allen Authentisierungsstrategien des Comics: Die Protagonistin der Geschichte, die junge Schriftstellerin, die Bremen 1831 bereist und von dieser Reise nach vielen Jahren einer jungen Begleiterin erzählt, bleibt anonym. Ihre Begleiterin hingegen trägt den Namen Lou und steht im Kontakt zu Friedrich Nietzsche, was auf Lou Andreas-Salomé (1861–1937) schließen lässt. Wäre der Name der jungen Schriftstellerin jedoch genannt worden, würde dies die Geschichte weniger glaubwürdig erscheinen lassen. An dieser Stelle wird eine Vorenthaltung von Informationen zur wirksamen Authentisierungsstrategie.
F OTOGR AFIEN ALS A UTHENTISIERUNGSSTR ATEGIE : D ER F OTOGRAF Die dreibändige Comic-Reihe Der Fotograf, die 2003 in Frankreich und 2008/2009 in deutscher Übersetzung erschien, handelt von einer humanitären Aktion der NGO Ärzte ohne Grenzen, die 1986 in Afghanistan durchgeführt wurde. Das Ärzteteam aus Frankreich wird von Didier 1 | ht tp://goto -bremen.blogspot.com/2007/09/sehenswuerdigkeiten-inbremen-der.htm.
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Lefèvre, einem französischen Fotografen, begleitet. Er dokumentiert die Arbeit der Ärzte und wird zu einem Augenzeugen der schwierigen Umstände, unter denen die humanitäre Hilfe funktionieren muss. Die Geschichte besitzt einen starken, referenziellen Wirklichkeitsbezug: Die Figuren des Comics basieren auf menschlichen Vorbildern, die Fotografien stammen von Didier Lefèvre, der gleichzeitig der Ich-Erzähler der Geschichte ist. Auch in diesem historischen Comic verweisen Paratexte auf die Wahrhaftigkeit und die Hintergründe der Geschichte (vgl. Meier 2008), doch auch auf der Ebene des Comics selbst wird betont, dass die vorliegende Geschichte eine „wahre Geschichte“ ist. Durch seinen Sprachduktus, doch vorwiegend durch seine Einbettung von Fotografien ähnelt der Comic einer Reportage und somit einer nicht-fiktionalen Gattung, die dennoch Subjektivität erlaubt. Man kann den Comic Der Fotograf, ebenso wie den Comic Palästina durchaus als einen Versuch werten, „Formen … des Bildjournalismus in die Gattung Comic zu übertragen“ (Dittmar 2008: 181): Eine Verschränkung von Subjektivität und Wahrheit gehört hier zum ästhetischen Programm. Die augenfälligste Authentisierungsstrategie in diesem Comic, die Einbettung von Fotografien, wurde bereits in anderen historischen Comics, wie zum Beispiel Art Spiegelmans Maus, sporadisch verwendet (Spiegelman 2004: 134). Aus naheliegenden Gründen eignet sich die Einbettung fotografischer Bilder gut als Authentisierungsstrategie, auch wenn die Fotografie selbst keineswegs als authentisch zu bezeichnen ist. Sie vermag es aber, Authentizität zu suggerieren, insbesondere, wenn ein umgebender Text die Aussage der Fotografie zu bestätigen scheint oder wenn – wie im Falle von Der Fotograf – die Verknüpfung von fotografischem Bild und Geschichte paratextuell bestätigt wurde: Die semantische Offenheit der Fotografie ermöglicht es dem Medium, für nahezu jeden Kontext genutzt zu werden. Außerdem kann für die Wirkung der Fotografien auf den Leser entscheidend sein, dass die Fotografien zunächst nicht in einem fiktionalen Medium erschienen, sondern in der französischen Zeitung Libération.2 Im Comic Der Fotograf wird die Authentizitätssuggestion der Fotografie allerdings auf eine sehr komplexe Art und Weise genutzt. Sie illustriert den Text, scheint ihn zu beweisen und zu bestätigen, aber kann ihn auch konterkarieren. In jedem Fall gibt sie ihm eine zusätzliche Di2 | http://www.sf.tv/sf1/kulturplatz/index.php?docid=20080730.
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mension, da sie niemals nur als Wiederholung des Gesagten funktioniert. Für die authentische Wirkung des Comics ist die bereits erwähnte Verschränkung zwischen dem fotografierenden fiktionalen Ich-Erzähler und dem realen Fotografen mit verantwortlich, da sie die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit nahezu auflöst. Ungewöhnlich für den Einsatz der Fotografie als Authentisierungsstrategie ist allerdings, dass die Fotografie zwar einerseits als Zeugnis für ein Geschehen herangezogen wird, andererseits wird die Zeugenschaft der Fotografie aber auch in Frage gestellt. Und paradoxerweise sind es aber eben diese Reflexionen über die sehr eingeschränkte Beweiskraft der Fotografie, die den Comic noch authentischer machen. Der Fotograf überrumpelt den Leser nicht mit einem „Es ist so gewesen“ (Barthes 1985: 124), sondern gibt ihm Raum und Möglichkeit für eigene Reflexionen. Dies geschieht insbesondere dann, wenn der Ich-Erzähler die Posen und das „Schauspiel“ der Fotografierten darlegt. So gibt er nicht nur an, wenn eine Koran-Klasse nur für die westlichen Besucher improvisiert wird (Lefèvre/Guibert/Lemercier 2008a: 14), sondern auch, dass es sich bei einer Fotografie einer Gruppe von Frauen in Burkas keineswegs um muslimische Frauen handelt, sondern um Ärztinnen und Krankenschwestern des Teams, die für den Fotografen in der Burka posieren (Lefèvre/ Guibert/Lemercier 2008: 34). Auf diese Weise zeigt sich, dass Fotografien zwar häufig Stereotypien zu belegen scheinen, aber ebenso leicht konstruiert oder sogar manipuliert werden können wie ein literarischer Text. Als Authentisierungsstrategie funktioniert dieses Verfahren deswegen, weil sich Lefèvres Zweifel an der Objektivität und Beweiskraft des fotografischen Bildes mit der Fototheorie weitestgehend deckt und weil die vielschichtige und reflektierte Sicht auf das Medium glaubhafter erscheint als ein eindimensionaler Blick auf die Fotografie und deren vermeintliche Beweiskraft.
P OLITISCHE W AHRHEIT : PAL ÄSTINA Auch Joe Sacco leitet seinen Comic Palästina mit einem ausführlichen Vorwort ein, in welchem er die Hinter- und Beweggründe darlegt, die ihn zur Gestaltung des Comics, welcher ursprünglich als Serie herausgegeben wurde, motivierten. Neben einem „physischen Drang zu handeln“ (Sacco 2011: o. S.) beschreibt Sacco auch, dass er sich für die in Palästina
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lebenden Araber verantwortlich fühle, da er mit seinen Steuergeldern dazu beitrage, „diese Unterdrückung aufrechtzuerhalten“ (Sacco 2011: o.S.). Zusätzlich betont Sacco die Unzufriedenheit, die er bezüglich der gängigen US-amerikanischen Berichterstattung zum Konflikt verspürt. Durch die Bemerkungen im Vorwort erhält Saccos entschiedene politische Positionierung eine Legitimation: Die Standpunkte Israels seien bekannt, schreibt Sacco, und sein Comic gebe den bislang nicht Gehörten eine Stimme (vgl. Sacco 2011). Palästina brachte Sacco auf den Weg der ComicReportage, sodass weitere Werke über die Konflikte im Gazastreifen sowie in Bosnien folgten. Mit der Schilderung seiner Beweggründe im Vorwort legt Joe Sacco seine Subjektivität offen: Ähnlich wie im Comic Der Fotograf schafft sein Verständnis von Wahrheit als einem subjektiven und individuellen Begriff mehr Vertrauen, als es ein Festhalten an den Idealen eines objektiven Journalismus könnte: Dem Comic wird zu mehr Glaubwürdigkeit verholfen, indem er sie anzweifelt. Solche Zweifel an der Schilderung finden beispielsweise im letzten Kapitel des Comics statt, in welchem der Ich-Erzähler, der – wie in einer klassischen Autobiografie – mit dem Autor zusammenfällt, einige Tage mit einer jungen Israelin in Tel Aviv, fernab des Gazastreifens, verbringt. Die Perspektive der Israelin und ihrer Freundin fordert den Erzähler heraus, es erstaunt ihn, dass sie Israels Politik zwar kritisch beleuchten, aber dennoch für notwendig halten. Seine Argumente prallen an denen der Gegenseite ab, ein Ausweg scheint undenkbar (Sacco 2011: 264–266). Die Szenen in Tel Aviv gehören zu den wenigen, in denen die sonst so deutliche Positionierung des Erzählers für die Rechte der Palästinenser im Westjordanland ins Wanken gerät. Neben den paratextuellen Bemerkungen greift Sacco weitere effektive Authentisierungsstrategien auf. Zum einen wäre hier die Einbettung von Fakten, zum anderen der ungewöhnlich hohe Textanteil zu nennen, wobei Letzterer keineswegs per se als Authentisierungsstrategie fungiert, sondern aus dem Bedürfnis nach Erklärung resultiert. Die Sprache, die es wie keine andere Ausdrucksform möglich macht, Zusammenhänge kausal und konsekutiv zu verknüpfen, scheint für Saccos Blick auf den PalästinaKonflikt unabdingbar notwendig, auch wenn er sich bei anderen Passagen auf die suggestive Kraft des Bildes verlässt. Die Fülle des das Bild umgebenden Textes wird deutlich, wenn man sich die Formate anschaut, die Sacco für seinen Text wählt. Neben den für Comics üblichen Sprech- und Denkblasen sowie den Textfeldern unterhalb
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der Zeichnungen werden Kästen mit Text auch mitten in die Bilder montiert und erhalten so auch auf visueller Ebene einen gesteigerten Raum. Abbildung 4: Textreichtum in Saccos Panels: Sprechblasen, Spruchbänder, Textfelder
Quelle: Sacco (2011: 20)
Das Durcheinander der Kästen macht außerdem das Durcheinander von Sprachen und Konflikten deutlich, in denen sich der Autor befindet. Durch die Darlegung dieses Durcheinanders und der Unfähigkeit, das Erlebte einzuordnen, macht der Autor seine eigenen Probleme bei der Darstellung des Konflikts deutlich und thematisiert so seine Angst, zu scheitern
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und der Größe der Problemstellung nicht gerecht zu werden. Dieser Zweifel an der eigenen Fähigkeit erhöht die Authentizitätssuggestion des Comics, da dieser somit genau so wirkt, wie Sacco es in seinem Vorwort beschreibt: „ehrlich“. Zugunsten eines Fließtextes gibt Sacco im zweiten Kapitel die Struktur des Comics sogar teilweise auf (Sacco 2011: 43–52). Hier berichtet Sacco von der jüngeren Geschichte Palästinas und zitiert wörtlich frühe Zionisten und Politiker. Die Aussagen des ersten Premierministers David Ben Gurion führen dem Leser vor Augen, wie früh sich die Machtverhältnisse des Konfliktes zugunsten der israelischen Bevölkerung verschoben: „Jeder Angriff muss ein Volltreffer sein, mit dem Erfolg, dass die Wohnhäuser zerstört und die Bevölkerung vertrieben wird“ (Sacco 2011: 44), zitiert Sacco. Er verzichtet allerdings auf eine Quellenangabe oder auf weitere Hinweise im Paratext, wodurch die Aussage innerhalb des literarischen Textes keine vollkommen verbindliche Legitimation erhält. Dies vermögen auch die Zeichnungen des Premierministers und der -ministerin nicht zu erfüllen, die den tatsächlichen Personen zwar ähnlich sind, aber dennoch nicht ganz so exakt erscheinen wie Barbara Yelins Zeichnungen. Die Zitation und auch die Zeichnungen der Politikerinnen und Politiker wird hier allerdings auch nicht nur als ein Hinweis auf den referenziellen Wirklichkeitsbezug und damit als Authentisierungsstrategie genutzt, sondern gleichzeitig auch verwendet, um die Sichtweise des Ich-Erzählers und Autors zu untermauern. Neben Zitationen tatsächlich existierender bzw. nun verstorbener Politiker bettet Sacco auch exakte Daten und Zahlen zur politischen Situation in seinen Comic ein. Er spricht von 90’000 Verhaftungen in den ersten vier Jahren der Intifada (Sacco 2011: 83), von 6000 Inhaftierten im israelischen Gefängnis Ansar III im November 2011 (Sacco 2011: 84) und von dem Flüchtlingslager Dschabalia als dem dichtestbesiedelten Ort der Welt (Sacco 2011: 187). Diese (theoretisch) historisch überprüfbaren Fakten erhöhen das Vertrauen des Lesers in die Geschichte und sind somit eine hervorragende Strategie, den Worten und Zeichnungen des Comics zu hoher Glaubwürdigkeit zu verhelfen. Ganz anders als in vielen anderen historischen Comics funktioniert allerdings die (scheinbare) Einbettung von nicht-fiktionalen Medien in den Comic. Während solche Dokumente häufig die Aussagen des Comics untermauern, werden sie in Palästina der erzählten Geschichte gegenübergestellt, um so zu zeigen, dass die Darstellung Saccos derjenigen der gängigen, respektive israelischen, Darstellung
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vollkommen zuwiderläuft: Sacco beschreibt im fünften Kapitel, wie ihm Einheimische über einen Überfall jüdischer Siedler auf Palästinenser berichten (Sacco 2011: 133–134). Laut den Erzählungen eines beteiligten Arabers begannen Israelis mit dem Überfall und eröffneten letztendlich auch das Feuer, bei dem einige Palästinenser schwer verletzt wurden. Als Gegendarstellung präsentiert Sacco einen Zeitungsausschnitt einer israelischen Zeitung, der die Schuld am Überfall den Arabern zuweist (Sacco 2011: 134). Obwohl es unklar bleibt, ob es sich tatsächlich um einen realen Ausschnitt handelt, so zeigt es doch das große Vertrauen, das Sacco in die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte hat. Abbildung 5: (Fiktive) Zeitungsausschnitte als Authentisierungsstrategie
Quelle: Sacco (2011: 134)
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Würden Saccos Versionen weniger „wahr“ erscheinen, so würde das nichtfiktionale Medium Zeitung die Glaubwürdigkeit Saccos in Frage stellen, anstatt seine Aussage zu untermauern, dass israelische und westliche Medien die Konflikte einseitig und falsch wiedergeben. Doch auch auf visueller Ebene greift Sacco bekannte Authentisierungsstrategien auf. Zunächst ist zu bemerken, dass seine ohnehin schon sehr detailreichen Zeichnungen im Laufe des Comics immer realistischer werden. Diese Auffälligkeit erklärt er auch selbst in seinem Vorwort: Auch hat sich mein Zeichenstil verändert. Die ersten paar Seiten in Palästina zeichnete ich im sogenannten „Bigfoot-Stil“, der die Figuren mit zu großen Füßen ausstattete. (…) Ich begriff aber, dass der Zeichenstil dem Gewicht der Thematik entsprechen sollte, und so zwang ich meinem Stift mehr Realität ab, trotzdem wollte ich das Comic-Hafte in meinem Strich nie aufgeben (Sacco 2011: o. S.).
Durch die exakte, wenn auch subjektiv gebrochene Darstellung der Straßen in Gaza, der Gefängnisse, der Architektur und des allgegenwärtigen Gewimmels kann der Leser nicht nur an den Geschichten, sondern auch an der Atmosphäre im Gazastreifen teilhaben. Diese Funktion erfüllen vor allem die Zeichnungen, die ganz ohne Text auskommen (x Sacco 2011: 148/149). Die Authentisierungsstrategien im Comic Palästina sind somit auf allen drei Ebenen, der bildlichen, der textuellen und der paratextuellen, angesiedelt und vermögen es in ihrer Kombination, den subjektiv perspektivierten Comic Saccos glaubhaft und realistisch erscheinen zu lassen. Die zahlreichen Authentisierungsstrategien historischer Comics weisen jedoch keineswegs nur auf ihren referenziellen Wirklichkeitsbezug hin, der ein Gattungsmerkmal historischer Comics auf inhaltlicher Ebene darstellt. Er rückt auch die akribischen Recherchen der Autorinnen und Autoren in den Blickpunkt und deckt somit ein Kennzeichen historischer Comics auf, das zwar auf produktionsästhetischer Ebene angesiedelt ist, sich aber dennoch auch auf die Gestaltung von Comics auswirkt: Die Bekleidung der Figuren und ihre Sprache werden der Zeit gemäß entsprechend gestaltet, die Schauplätze werden historisch korrekt präsentiert, Fakten und Dokumente korrekt wiedergegeben. Durch das Studium wissenschaftlicher Dokumente und Quellen sind die Autorinnen und Autoren in der Lage, mittels glaubhafter Authentisierungsstrategien den referenziellen Wirklichkeitsbezug des Comics zu betonen. Diese Authentisierungsstrategien sind, so möchte ich zumindest behaupten, ebenfalls
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ein Gattungsmerkmal historischer Comics. Historische Comics definieren sich folglich keineswegs nur über ihren referenziellen Wirklichkeitsbezug auf inhaltlicher Ebene, sondern ebenso über produktionsästhetische Prämissen und die Authentisierungsstrategien, die sich auf der gestalterischen Ebene befinden. Ohne Authentisierungsstrategien wäre das historische Ereignis, der politische Konflikt oder die vergangene Epoche nur Hintergrund, aber keineswegs Thema der Erzählung. Authentisierungsstrategien machen es erst möglich, den historischen Comic als historisch zu lesen, seine Botschaften als subjektive Wahrheit zu erfassen und aus ihm über Geschichte, Politik und Milieus zu lernen.
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L ITER ATURVERZEICHNIS Primärliteratur Guibert, Emmanuel/Lefèvre, Didier/Lemercier, Frédéric (2008): Der Fotograf. Bd. 1. In den Bergen Afghanistans, Zürich: Edition Moderne. Guibert, Emmanuel/Lefèvre, Didier/Lemercier, Frédéric (2008a): Der Fotograf. Bd. 2. Ärzte ohne Grenzen, Zürich: Edition Moderne. Meter, Peer/Yelin, Barbara (2011): Gift, München: Lizenzausgabe der Süddeutschen Zeitung GmbH. Sacco, Joe (2011): Palästina, München: Lizenzausgabe der Süddeutschen Zeitung GmbH. Spiegelman, Art (2004): Maus II. Und hier begann mein Unglück, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Sekundärliteratur Barthes, Roland (1984): Die helle Kammer, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Dittmar, Jakob F. (2008): Comic-Analyse, Konstanz: UVK. Hillenbach, Anne-Kathrin (2012): Literatur und Fotografie. Analysen eines intermedialen Verhältnisses, Bielefeld: transcript. Hünninger, Andrea Hanna (2010): Die Mörderin und der Klatsch, in: Zeit Online, 03.06.2010, http://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-05/ gift-tamara-drewe vom 02.01.2012. Meier, Astrid (2008): „Vorwort“, in: Emmanuel Guibert/Didier Lefèvre/ Frédéric Lemercier (2008), Der Fotograf. Bd. 2. Ärzte ohne Grenzen, Zürich: Edition Moderne. Nünning, Ansgar (2004): „Historiographie und Literatur“, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart: Metzler. S. 259/260. Wolf, Werner (2004): „Paratext“, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart: Metzler. S. 511/512.
Webseiten http://goto-bremen.blogspot.com/2007/09/sehenswuerdigkeiten-inbremen-der.html. Vom 01.01.2012 http://www.sf.tv/sf1/kulturplatz/index.php?docid=20080730 vom 10.01.2009
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A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: C. J. Billmark, Rathaus mit Roland und Teil des Doms. Lithografie (um 1850). Abb. 2: Meter, Peer/Yelin, Barbara (2011): Gift. München 2011. S. 22. Abb. 3: Rudolf Friedrich Suhrlandt, Gesche Gottfried. Zeichnung (zwischen 1828 und 1831). Nachgewiesen in: Meter, Peer/Yelin, s$Barbara (2011): Gift. München 2011. S. 196. Abb. 4: Sacco, Joe (2011): Palästina. München 2011. S. 20. Abb. 5: Sacco, Joe (2011): Palästina. München 2011. S. 134.
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Abschied von Farbe und Fiktion? Comics in der politisch-historischen Bildung Christine Gundermann
Seit wenigen Jahren werden in Deutschland Comics in der politischhistorischen Bildung eingesetzt. Diese ersten Schritte bei der Nutzung des vormals als belanglose Kinderunterhaltung vom Bildungsbürgertum abgelehnten Mediums gingen oftmals mit der Vorstellung einher, Jugendliche hätten weniger Interesse an „klassischen“ und „ernsthaft“ dargebotenen Inhalten und wären mit Comics leichter zu erreichen. Das führt zu zwei Problemen: Zum einen bleibt ungeprüft und unreflektiert das Vorurteil bestehen, Comics seien ein Medium speziell für Kinder und Jugendliche. Damit wird das große Angebot an sogenannten Graphic Novels, die komplexe Themen in anspruchsvollen Grafiken umsetzen, gar nicht beachtet. Zum anderen wird dabei vernachlässigt, dass historisches Lernen nur dann möglich ist, wenn die Schülerinnen und Schüler über Medien- und Methodenkompetenzen verfügen, die es ihnen erlauben, sich kritisch mit den – auch im Medium Comic – dargebotenen Inhalten auseinanderzusetzen. Gerade die im Comic verwendeten emotionalisierenden Codes machen eine solche Auseinandersetzung besonders wichtig. Dieser Beitrag führt drei Themen näher aus: Comics sind Teil unserer Geschichtskultur. In einem kleinen Ausblick auf die aktuellen Entwicklungen auf dem Comic-Markt und Nutzung von Comics in geschichtskulturellen Institutionen werden Möglichkeiten des Einsatzes von Geschichtscomics skizziert. Comics können historisches Lernen fördern. Anhand eines kleinen Einblicks in die geschichtsdidaktische Theorie und unter Rückgriff auf die Funktionsmechanismen des Comics werden auf theoretischer Ebene Wege aufgezeigt, wie durch den Einsatz von Comics ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein gefördert werden kann. Beim Einsatz
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von Comics in der historisch-politischen Bildung gilt es, einige zentrale Problemhorizonte zu berücksichtigen. Daher werden abschließend anhand gezielter Fragen Ideen zur Unterrichtsvorbereitung angeboten.
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Comics gibt es seit ca. 120 Jahren. Sie gehören zu den wenigen Medien, deren Entstehung nicht mit einer spezifischen technischen Erfindung oder Entwicklung einhergegangen ist. Sie sind in ihrer Entstehungsphase an das Massenmedium Zeitung gebunden gewesen und eroberten als One-Pager und Comic-Strips die US-amerikanischen Zeitungen. Große Verleger wie William Randolph Hearst und Joseph Pulitzer erkannten das Potenzial der seit 1896 auch vierfarbigen kolorierten Streifen für eine Leserbindung von Kindern (Brinkmann 1999: 37). Immer mehr Serien mit neuen Inhalten wurden für jüngeres Lesepublikum produziert. In den 1930er-Jahren entwickelte sich nicht zuletzt durch Vermarktungsstrategien der großen Syndikate in den USA ein neues, standardisiertes Format – das Comic Book, das Comic-Heft. Spätestens seit diesem Zeitpunkt galten die Comics als Kinder- und Jugendmedium. Das Comic-Heft widmete sich in verschiedenen Genres Abenteuer-, Science-Fiction-, Western- und natürlich Superheldengeschichten und war damit ganz auf die jeweiligen Zielgruppen abgestimmt. Auch in Europa und damit Deutschland erschienen Anfang des 20. Jahrhunderts Comic-Strips in Zeitungen, Illustrierten und Jugendmagazinen. US-amerikanische Comic-Serien wurden nicht nur in deutsche Magazine als Lizenzprodukte integriert, das Comic-Heft selbst hielt als US-amerikanischer Import in Europa Einzug. In Europa entwickelte sich eine eigenständige Comic-Szene; insbesondere französische und belgische Produktionen sollten in den kommenden Jahrzehnten Erfolge weit über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus feiern. Auch hier waren Zeitungen und Magazine für Kinder und Jugendliche ein erstes Trägermedium (Derscheid 2009; Groensteen 2000). Die Geschichte des Comics ist somit eine, die von Anfang an mit Massenmedien und damit auch mit der entstehenden Massenkultur verbunden war. Warum man Comics mit historischen Inhalten, also Geschichtscomics, nicht als Träger einer Geschichtskultur wahrnahm und teilweise heute wahrnimmt, liegt wohl daran, dass sie bereits kurze Zeit nach ihrer Entstehung in den USA und Europa ausschließlich mit einer
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Kinder- und Jugendkultur assoziiert wurden. Gerade die Comic-Hefte galten als Teil der Populärkultur. Dennoch gab es unter den Comic-Heften solche, die aufgrund ihres Inhalts nicht für Kinder und Jugendliche geeignet waren; das betraf vor allem die sogenannten Horror- und Crime Comics in den USA, seit dem Koreakrieg die War Comics (Witek 1996) und erotische Darstellungen mit comic-artigen Elementen. Jenseits von Massenproduktionen für ein älteres Publikum gab es Comic-Zeichnerinnen und -Zeichner, die ihre eigenen Ideen unabhängig vom Massengeschmack verwirklichen wollten. Sie arbeiteten nicht nach Maximen des Verkaufens, sondern erzählten eigene, meist unkonventionelle Geschichten und experimentierten mit der Erzählstruktur und den grafischen Grenzen des Mediums. Da solche Künstler oftmals keine großen Verlage für die Publikation ihrer Arbeit gewinnen konnten, entwickelte sich in den USA wie in allen anderen Ländern mit einer Comic-Szene eine Untergrundkultur (Underground Comix), als einer deren Pioniere Robert Crumb gilt. Er bot mit seinem seit Ende der 1960er-Jahre in kleinen Auflagen erscheinenden Magazin Zap Comics nicht nur anderen Comic-Zeichnern und -Zeichnerinnen eine Publikations- und Diskussionsplattform, er gilt auch neben S. Clay Wilson und Kim Deitch (Bongco 2000: 6) als ein Wegbereiter der autobiografischen Comic-Erzählungen (Fischer 2004). In Europa entwickelten sich ebenso wie in den USA solche „Comix“-Szenen. Ein qualitativ hochwertigeres Angebot für Comic-Konsumenten entstand Ende der 1960er-Jahre mit einem neuen Comic-Format, dem ComicAlbum, auch Autoren-Comic genannt.1 Oftmals auf gutem Papier in festen Einbänden wurden hier auf 48 Seiten Geschichten aus verschiedensten Genres für ältere (und vor allem finanzkräftigere) Leserinnen und Leser produziert. Alben der französisch-belgischen Comic-Szene, die in größerer Zahl erst Anfang der 1980er-Jahre in der Bundesrepublik übersetzt und verlegt wurden, sind es auch, welche oftmals geschichtliche Inhalte präsentieren. 1 | Comic-Hefte werden meist von einem ganzen Produktionsteam gefertigt. Mehrere Zeichner teilen sich die Arbeit, ebenso gestaltet ein Autorenteam die einzelnen Ausgaben. Beim Autorencomic ist das nicht der Fall. Hier arbeiten meist ein Comic-Zeichner und ein Autor zusammen, oder nur eine Person gestaltet den kompletten Comic. Jede erfolgreiche Serie in Comic-Heft-Format kann auch in Albenform angeboten werden, zum Beispiel als Liebhaberausgabe oder zu Jubiläumszwecken.
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In der deutschen Comic-Kultur stellte die Veröffentlichung des ersten Teils von Art Spiegelmans Maus 1989 eine Zäsur dar. Der Comic erzählt die Biografie von Vladek Spiegelman, Art Spiegelmans Vater, der als polnischer Jude von den Nationalsozialisten verfolgt wurde und schließlich den Holocaust im Vernichtungslager Auschwitz überlebte. Maus ist ebenso eine Autobiografie, denn Art Spiegelman zeichnet sich selbst immer wieder im Comic in Gesprächen mit seinem Vater und mit seiner Frau Françoise Mouly. Neben der hier erzählten Geschichte ist das besondere des Comics zweifelsohne seine Form, denn Art Spiegelman stellt Juden als Mäuse und Deutsche als Katzen dar und greift somit ästhetisch eine Grundideologie der nationalsozialistischen Propaganda auf. Der Comic thematisierte ein für die deutsche Geschichtspolitik hochsensibles Thema und forderte damit eine Revision des Vorurteils, Comics seien lustig und/ oder nur etwas für Kinder und Jugendliche. Durch das Erscheinen von Maus wurde in Deutschland die diskursive Grundlage gelegt für ein intensives Nachdenken über den Einsatz von Comics und Graphic Novels im Geschichtsunterricht (Mounajed 2008; Semel 1999; Pandel 1994). Abbildung 1: Art Spiegelmans Maus entzündet eine Kontroverse in den deutschen Feuilletons
Quelle: Spiegelman (1989: Cover)
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In Asien, vor allem in Japan, das mit den Manga vor fast drei Jahrzehnten den europäischen Comic-Markt eroberte und mittlerweile den deutschen Comic-Markt beherrscht,2 entwickelte sich das Medium in anderen Bahnen: Manga wurden für Mädchen und Jungen produziert (besonders erfolgreich waren und sind hier Comic-Magazine, die einzelne Kapitel von beliebten Comic-Serien enthalten), dennoch entwickelte sich das Medium nicht zu einem primären Element einer Kinderkultur.3 Seit den 1950er-Jahren wurden in Japan in großen Massen erscheinende Manga für Erwachsene produziert, die mit Gewalt und Sex freizügiger umgingen, teilweise auf einen realeren Zeichenstil zurückgriffen und durchaus aktuelle Fragen zu Gesellschaft und Politik aufgriffen.4 Die Manga für Erwachsene bekamen ein eigenes Format (A5), um sie besser von den Kinder-Manga abgrenzen zu können. Ein reichhaltiges Repertoire an Manga-Genres für Erwachsene konnte sich so entwickeln, so zum Beispiel die „jidaigeki“, die historischen Dramen. Nur wenige von diesen sind bis jetzt aus dem Japanischen ins Deutsche oder Englische übersetzt worden.5 Heute gibt es kein Thema und kein Genre, das dem Medium Comic verschlossen wäre: Sach- und Fachbücher in verschiedensten Wissensgebieten sind genauso zu finden wie Romane, Biografien, Autobiografien, Historiografien und Reportagen, rein ästhetische Werke und immer wieder 2 | Im Carlsen Verlag belief sich allein 2003 der Anteil von Manga am Gesamtvolumen des Verkaufs auf 85%. Vgl. Joachim Kaps in einem Interview mit Peter: Ein Besuch beim Carlsen Verlag, in: MangasZene (2003: 48). Dieser Trend ist erst seit wenigen Jahren leicht rückläufig. Durch die Comic-Verfilmungen steigt auch der Umsatz der Comic-Hefte und -Alben. Vgl. Pannor (2009). 3 | In Japan haben sich relativ schnell Angebote für Jungen und Mädchen entwickelt, die jeweils intern spezifische Genres ausgebildet haben. Das erste Mädchen-Manga-Magazin Shojo Kai wurde laut Paul Gravett bereits 1912 publiziert (Gravett 2004: 74). Das Magazin Shonen-Club ist eines der ersten Magazine mit Manga für Jungen. Es wird seit 1931 produziert und kann auch heute noch als eines der erfolgreichsten Manga-Magazine in Japan gelten. 4 | Die „take off“-Phase der Manga für Erwachsene setzte erst Ende der 1960er-Jahre ein, basierend auf dem politischen Radikalismus der 1960er-Jahre (Kinsella 2000: 10). 5 | Über Neuerscheinungen in deutscher Übersetzung informieren Internetportale wie: http://www.graphicnovel.de, http://www.comic-check.ch, http://www. comic.de/rezensor/rezensionen oder http://www.comic-guide.de.
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neue hybride Formen. Der Comic bietet damit ein ebenso vielfältiges Angebot für die Geschichtskultur wie jedes andere Medium. Auf dem deutschsprachigen Comic-Markt zeigt sich in den letzten Jahren ein starker Trend zum Sachcomic und zur Comic-Biografie. Neben Werken über Goethe, Schiller, Martin Luther King und Anne Frank erfreuen sich zum Beispiel die biografischen Comics von Willi Blöß über Künstler wie Andy Warhol, Joseph Beuys oder Frieda Kahlo größerer Beliebtheit.6 Musikalische Größen wie Elvis Presley oder Johnny Cash wurden bereits im Comic porträtiert (Kleist 2006; Kleist/Ackermann u.a. 2007). Abzuzeichnen scheint sich auch ein Trend zu Comic-Versionen bereits publizierter belletristischer Texte: So erschien 2007 die Comic-Adaption von Morton Rhues Die Welle und ein Jahr darauf eine Comic-Adaption von Gudrun Pausewangs Die Wolke im Manga-Style. Daneben wurden ganz „klassische“ Epen in Comic-Form neu erzählt, wie Robert Crumbs Genesis eindrucksvoll belegt (Crumb 2009). Im Comic-Journalismus, einem Genre, welches durch die Arbeit von Joe Sacco und Emmanuel Guibert begründet wurde, sind ebenfalls neue Akzente gesetzt worden. So reichen die Arbeiten von Reportagen über Kriege und Krisen bis hin zu Momentaufnahmen Kulturreisender.7 Schließlich sind in den letzten Jahren mehrere Publikationen entstanden, deren Autoren und/oder Herausgeber ihre Werke ganz gezielt für die politisch-historische Bildung geschaffen haben. So wurde die Andi-Reihe vom nordrhein-westfälischen Innenministerium für die Aufklärung über rechts- und linkspolitischen Radikalismus und Islamismus herausgegeben, in Jetzt re(i)chts in Sachsnitz wird das jugendliche Zielpublikum über alltäglichen Rechtsradikalismus und die Schwierigkeiten von Asylbewe-
6 | Vgl. Horus (2005); Bedürftig/von Eckartsberg/von Kummant (2007); Colon/ Jacobson (2010); Anderson (2008). Von Willi Blöß sind u.a. im gleichnamigen Verlag in Aachen seit 1998 Werke zu Joseph Beuys (1998), Pablo Picasso (2003), Frida Kahlo (2004), Keith Haring (2004), Salvador Dalí (2005), Egon Schiele (2005), Nam Jun Paik (2006), Hieronymus Bosch (2006), Der blaue Reiter (2007), Caspar David Friedrich und William Turner (2009) erschienen. Neben diesen Biografien setzen Meisterwerke wie Robert Crumbs Kafka-Biografie besondere Akzente. 7 | Vgl. Sacco (2001); Sacco (2004); Guibert/Lefèvre/Lemercier (2008–2009); Ulrich (2005); Modan/Feindt u.a. (2010).
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bern informiert.8 Die größte Beachtung in der deutschen Bildungslandschaft fand jedoch das Pilotprojekt des Anne-Frank-Zentrums in Berlin: Mit dem Comic Die Suche wurde ab 2008 ein Comic über den Holocaust (in den Niederlanden) als Unterrichtsmaterial in deutschen Schulen angeboten (Anne Frank Zentrum 2009). Abbildung 2: Die Suche: Ein Lerncomic für den deutschen Geschichtsunterricht?
Quelle: Heuvel u.a. (2007: Cover)
In den letzten Jahren sind Comics verstärkt in Museen und Gedenkstätten wahrgenommen worden. So waren im Jüdischen Museum in Frankfurt und im Jüdischen Museum Berlin Ausstellungen zu jüdischen Comic-
8 | Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (2005, 2007, 2009). In seinem aktuellsten Sachcomic klärt Peter Schaaff über THC-Konsum auf: Kriminalpräventiver Rat der Stadt Düsseldorf http://www.schaaff.de/data/praevention_ cannabis.pdf; AKuBiZ e.V. (2008).
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Künstlern zu sehen.9 2009 stellte die französische Botschaft eine kleine Comic-Geschichte ihres Landes vor.10 Auch die Gedenkstätten Sachsenhausen und Auschwitz arbeiten seit mehreren Jahren mit Comics, ebenso wie die Gedenkstätte Berliner Mauer. 11 Die Situation in den öffentlichen Bibliotheken Deutschlands bleibt jedoch weiterhin unverändert schlecht: Fast nirgendwo sind heute systematische Sammlungen zu finden (Harbeck 2009), was die Nutzung von Comics für die historisch-politische Bildung jenseits der Universitätsstädte durchaus zur Herausforderung werden lässt. Auf einen Trend sei noch verwiesen. In den letzten Jahren werden in Film- und Fernsehproduktionen und im Internet vermehrt hybride Formen eingesetzt, bei denen Comic-Elemente genutzt werden, um historische Situationen darzustellen.12 Gerade diese Entwicklung verweist auf die Notwendigkeit von Medienkompetenz, die bei der Arbeit mit Comics immer mit gefördert werden sollte.
9 | Vom 18. Dezember 2008 bis 22. März 2009 zeigte das Jüdische Museum Frankfurt die Ausstellung „Superman und Golem – Der Comic als Medium jüdischer Erinnerung“, im Jüdischen Museum Berlin war die Ausstellung „Helden, Freaks und Superrabbis – die jüdische Farbe des Comics“ vom 30. April bis 8. August 2010 zu sehen. 10 | Die Ausstellung „Comic-Kunst: aus Frankreich“ wurde vom 16. Juni bis 16. August 2009 in der französischen Botschaft in Berlin und im Institut Français gezeigt. 11 | Seit 2008 führt die Gedenkstätte Sachsenhausen Comic-Workshops durch. Vgl. Bildungsverbund: Comic09 – ein deutsch-polnisches Begegnungsprojekt, http://www.bildungsverbund.net/kre_pdf/comic09dt_ _pl_ _KonzeptNEU.pdf; Felsch (2010: 68). Für die pädagogische Arbeit in der Gedenkstätte Auschwitz ist der mehrteilige Comic Episoden aus Auschwitz seit 2009 entstanden, vgl. http://shop.klpress.pl/lista/komiksy-historyczne.html. Die Gedenkstätte Berliner Mauer hingegen arbeitet mit Ausschnitten aus dem Band Flix (2009). 12 | Vgl. Disney: They spoke out: American voices against the Holocaust, http:// dep.disney.go.com/theyspokeout/; Prins, Marcel/Steenhuis, Henk: Versteckt wie Anne Frank, http://www.verstecktwieannefrank.de.
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Comics sind ganz unabhängig von ihrem Inhalt ein Teil der Kultur einer Gesellschaft. Sie konservieren den Zeitgeist, Meinungen, Verhaltensregeln, Selbstdarstellungen und Deutungen von Ereigniszusammenhängen. Weil das so ist, ist es sinnvoll, nicht ausschließlich Comics mit historischem Inhalt (Geschichtscomics) als Teil der Geschichtskultur einer Gesellschaft wahrzunehmen, sondern Comics mit nicht spezifisch historischen Inhalten (hier Quellencomics genannt) zumindest auf ihre geschichtskulturelle Bedeutung zu hinterfragen. Für Deutschland ist es insofern schwierig, Aussagen über die geschichtskulturelle Bedeutung von Comics zu machen, da das Medium anders als in Japan oder Frankreich für lange Zeit als kulturell nicht bedeutsam, ja teilweise als Produkt einer Un-Kultur galt. Das ist unter anderem auf die Anti-Comic-Kampagnen der 1950er-Jahre zurückzuführen. Durch diese Kampagnen blieb das Medium für die Öffentlichkeit lange Zeit eines für Kinder, ohne dass man die Vielfalt des Comics und dessen inhaltliche Seriosität wahrnahm. Die Forschungen im Bereich der Kinderkultur haben das Medium jedoch seit Ende der 1970er-Jahre vernachlässigt.13 Breite Untersuchungen zum Leseverhalten jugendlicher oder erwachsener Comic-Leserinnen und -Leser wurden ebenso wenig angestrebt. Wir wissen heute sehr wenig über den kulturellen Einfluss von Geschichtscomics und Quellencomics auf unsere Gesellschaft oder auch nur auf jugendliche Leserinnen und Leser. Auch die moderne Forschung zum Thema Geschichtskultur hat den Comic erst seit wenigen Jahren entdeckt. Unabhängig von diesem Informationsstand hält sich die Auffassung, Comics würden auch im Facebook-Zeitalter immer noch und hauptsächlich von Kindern und Jugendlichen konsumiert – und sie seien beliebter als Bücher ohne pikturale Anteile. Comics seien daher gerade für bildungsfernere Jugendliche gut zur Animierung in Lehr- und Lernprozessen geeignet. Bis heute ist diese Aussage nicht durch empirisch aussagekräftige Studien überprüft worden.
13 | Zu den Anti-Comic-Kampagnen vgl. Vähling (2004). Zu den Folgen für die Forschung vgl.: Franzmann (1993); Schwender (1989). In Standardwerken zur Kinderkultur der 1980er-Jahre fehlen Comics bereits, vgl. Deutsches Jugendinstitut (1994).
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Abbildung 3: Will Eisner: Stereotype
Quelle: Eisner (1998: 24)
Abbildung 4: Will Eisner: Symbolismus der Gegenstände
Quelle: Eisner (1998: 27)
Dass wir unabhängig von empirischem Wissen über psychologische Prägungs- und Lernvorgänge beim Comic-Konsum von einer Beeinflussung und damit von einer möglichen positiven Stimulation des Geschichtsbewusstseins durch Comics ausgehen können, liegt an den narrativen Eigenschaften des Mediums: Comics erzählen Geschichten und bieten damit eine Sinnbildung, einen Deutungszusammenhang an. Das Besondere ist hierbei, dass diese Erzählung einer Geschichte im Comic emotional kodiert geschieht. Ein Comic löst beim Lesen selbst Emotionen aus, die Geschichte wird so zum individuellen Erlebnis. Diese Emotionalisierung können Comic-Zeichner und -Zeichnerinnen über verschiedene Techniken gezielt auslösen.14 Neben dem Einsatz von Farbe, dem gewählten Zeichenstil, Perspektiven und Schnitttechniken nehmen hier die verwendeten Symbole eine besondere Rolle ein, wie die 14 | Eine Einführung zu den Funktionsmechanismen des Comics ist zu finden in: Gundermann (2007: 58–72). Als Standardwerke zur Einführung in die Comic Theorie seien hier die Arbeiten von Scott McCloud (1995) und Will Eisner (1998) empfohlen.
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Abbildungen 3 und 4 zeigen. Werden Personen im Comic dargestellt, geschieht dies meist durch einen Rückgriff auf Stereotype – solche symbolhaften Darstellungen führen die Lesenden nicht nur schnell in den (vermeintlichen) Charakter einer Person ein, sondern lösen auch Werturteile aus und damit eine emotionale Einstellung zum gezeichneten Charakter. Schließlich sind im Comic nicht nur Personen, sondern auch Gegenstände Träger solcher gezeichneter Werturteile, wie Will Eisner zeigt (Abb. 4). Die emotionalen Codes können besonders gut bei den Lesenden wirken, da diese – um aus den in Panels jeweils angebotenen narrativen Fragmenten eine Geschichte zu formen – von Panel zu Panel eine Induktion vollziehen müssen (Abb. 5). Was die Lesenden dabei als Fakt oder Fragment nicht (er)kennen, füllen sie durch ihre Imagination aus. Ist der Comic entsprechend gut gezeichnet, werden bei dieser Induktion nicht nur die optischen Sinne angesprochen, sondern die Lesenden denken im Sinne einer Synästhesie auch ggf. Geräusche und Gerüche mit. Das Lesen eines Comics kann also eine sehr aktive und – bei einer entsprechenden Gestaltung des Comics – eine sehr emotionalisierende Angelegenheit sein. Daraus folgt auch, dass auf diese Art und Weise leicht Werturteile der Comic-Zeichner und -Autoren übernommen werden können. Abbildung 5: Induktion bei Scott McCloud
Quelle: McCloud (1995: 76)
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In der Geschichtsdidaktik ist es heute ein Konsens, dass moderner Unterricht das Ziel eines reflektierten Geschichtsbewusstseins hat und damit den Lernenden die Kompetenz vermitteln soll, sich mit Deutungsangeboten in verschiedensten Medien kritisch auseinanderzusetzen (vgl. Schreiber/Körber 2006). Daher verlangt die Bildungsarbeit mit Comics immer eine Förderung von Medienkompetenz. Diese Stärkung einer Medienkompetenz bedeutet bei der Arbeit mit Comics ganz konkret, dass sich Lehrende und Lernende mit den Bestandteilen und Funktionsmechanismen von Comics auseinandersetzen, ihre narrative Struktur analysieren und interpretieren lernen – und nach den Authentizitätsangeboten im Comic fragen können (Gundermann 2007: 58–72). Letzteres ist besonders wichtig, wenn ein Geschichtscomic historische Fakten anzubieten scheint. Genau genommen ist die Arbeit mit Comics im Geschichtsunterricht nicht einfacher, sondern erfordert von Lehrenden und Lernenden eine intensive und reflektierte Beschäftigung mit dem Medium an sich und der darin präsentierten Geschichte. Um hier eine erste Orientierung zu ermöglichen, ist die Einteilung der Geschichtscomics nach dem Grad ihrer Authentizität sinnvoll. So kann man – in den Authentizitätsgraden aufsteigend – zwischen Geschichtsparodie, der Abenteuerimagination, dem Epos, der Nacherzählung (hier zählen auch Biografien hinzu), der Autobiografie und dem Comic-Journalismus unterscheiden (ebd.: 87–96). Ein den geschichtswissenschaftlichen Standards entsprechender Comic wird darüber hinaus nachvollziehbare und damit überprüfbare Quellenverweise angeben.15 Bei der Einteilung der Geschichtscomics können nicht nur Rezensionen über Neuerscheinungen, sondern bereits auch vorhandene Auflistungen helfen, die zusätzlich eine erste Orientierung über das vielfältige Angebot der Geschichtscomics bieten (Munier 2000: 122–143; Gundermann 2007: 186–205; Mounajed 2009: 203–274).16 Dennoch bleibt es die Aufgabe der Lehrenden, sich bei der Auswahl der Comics über die tatsächlichen Authentizitätsformen des Werkes oder der ausge15 | Das ist auch bzw. gerade bei den historischen Lerncomics immer noch ein Problem. Im Comic Die Suche z. B. haben sich die Verfasser gegen eine solche Überprüfbarkeit entschieden. Erst im dazugehörigen Lehrmaterial werden entsprechende Informationen geliefert. Ein hervorragendes Beispiel für eine gelungene Historiografie in Comicform ist hingegen Will Eisners Das Komplott (2005). 16 | Über aktuelle Neuerscheinungen geben Internetforen wie http://www. graphicnovel.de, http://www.comic.de oder http://www.comicguide.de Auskunft.
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wählten Abschnitte zu informieren, nicht zuletzt weil viele Geschichtscomics Mischformen verschiedener Authentizitätsgrade anbieten. Auch wenn Comics als Lehrmaterialien angeboten werden, erübrigt sich die Frage nach den Authentizitätsgraden – der quellenbasierten Triftigkeit der erzählten Geschichte – nicht. Hier sollte zusätzlich nach der geschichtspolitischen Positionierung des Comics gefragt werden: Wer hat den Comic mit welcher Absicht herausgegeben? Welche Geschichte wird im Comic erzählt und wie fügt sich diese in einen Lehrplan oder aktuelle geschichtspolitische Debatten zum Thema ein? Der Comic muss in dieser Phase als Quelle der aktuellen Geschichtskultur wahrgenommen und – zumindest vom Lehrenden – entsprechend untersucht werden. Wenn zum Beispiel in deutschen Schulen mit dem Comic Die Suche gearbeitet werden soll, müssen sich Lehrende darüber im Klaren sein, dass hier eine niederländische Perspektive des Holocaust erzählt wird, die dementsprechend spezifische Schwerpunkte und Interpretationen setzt. So wird der Vernichtungskrieg im Osten so marginal dargestellt, dass im deutschen Geschichtsunterricht der Comic allein keine ausreichende Aufklärung über den Holocaust bieten würde (vgl. Gundermann 2011). Das bedeutet nicht, dass der Comic ein schlechtes Unterrichtsmaterial sei, ganz im Gegenteil; aber das in ihm angebotene Narrativ muss von den Lehrenden in ein multiperspektivisches Gesamtbild eingefügt werden. Die Arbeit mit Comics im Geschichtsunterricht kann einen reflektierten Zugang zu diesem Teil der Geschichtskultur schaffen. Geschichtskulturelle Kompetenz zu fördern, bedeutet hier ganz konkret, Medienkompetenz zu fördern: Denn wer die Funktionsmechanismen des Mediums, seine Emotionalisierung und seinen Erlebnischarakter versteht, wer die angebotene Sinnbildung kritisch hinterfragen kann, der ist in der Lage, Geschichtskultur bewusst wahrzunehmen und aktiv mit ihr umzugehen.
Z UM E INSATZ VON C OMICS IN DER POLITISCH - HISTORISCHEN B ILDUNG Der Konsum von Geschichtscomics prägt das Geschichtsbewusstsein von Schülerinnen und Schülern – und zwar vollkommen unabhängig davon, ob diese Geschichte wissenschaftlich abgesichert ist oder nicht. Deswegen ist es sinnvoll, als Ausgangsbasis für die Arbeit mit Comics im Geschichtsunterricht folgende These zu bedenken: Comic-Leserinnen und -Leser ver-
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fügen über „kulturelles Kapital“ (vgl. Brown 1997)! Je mehr Comics Schülerinnen und Schüler gelesen haben, desto besser kennen sie den heimischen Comic-Markt und sind in der Lage, über Qualitäten, Entstehungssituationen, Entwicklungen innerhalb einer Serie, Erwerbungsmöglichkeiten und Fankulturen etc. zu urteilen – und Auskunft zu geben. Welche Serien und Alben werden regelmäßig gelesen? Welche dieser Comics weisen historische Bezüge auf? Die Antworten auf diese Fragen können einen lebensnahen Zugriff auf Geschichtskultur und einen ersten Anknüpfungspunkt für die Arbeit mit Comics im Geschichtsunterricht bieten. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, den Comic als Sachcomic zu nutzen. In diesem Fall stehen ausschließlich Comics, die als Lehrmaterial und/oder als Historiografie konzipiert wurden, im Fokus des Interesses. Diese Genres bilden nur einen sehr kleinen Teil des Angebots unserer Comic-Kultur ab. Im Rahmen historischer Lernprozesse sollte der Comic nicht ausschließlich als Sachcomic oder gar als „Schulbuchersatz“ genutzt werden. Denn damit historisches Lernen mit Comics gelingen kann, müssen die Schülerinnen und Schüler lernen, mit dem Medium selbst umzugehen, seine Funktionsmechanismen und narrativen Strategien zu verstehen und zu hinterfragen. Weil Comics mit emotionalen Codes arbeiten und damit Werturteile durch eine erzählte Geschichte fördern, ist die Ausprägung von Medienkompetenz ein unablässiger Bestandteil der Arbeit mit Comics – unabhängig davon, ob der Comic als Quelle oder Sachcomic eingesetzt werden soll. Folgende Fragen können für Lehrende als Orientierung für die Arbeit mit Comics im Geschichtsunterricht dienen: a) Welche Informationen gibt es über die Verbreitung des Comics? Diese Frage nach Auflagenzahlen, Auflagen, Veröffentlichungsformen (Originale, Best-of-Alben, Werkausgaben etc.) ermöglicht eine Diskussion über die Popularität des geschichtlichen Themas und seiner Deutungen. Das ist wichtig, wenn der Comic stellvertretend für einen Trend in der Geschichtskultur untersucht werden soll. b) Welche geschichtlichen und comicspezifischen Wissensanforderungen stellt der Comic? Können sich die Schülerinnen und Schüler den Comic selbst erschließen, oder sollten noch zusätzliche Informationsangebote vom Lehrer bereitgestellt werden? Ebenfalls ist zu überprüfen, welche comicspezifischen und ästhetischen Leseanforderungen der Comic stellt.
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Hier kann es nicht nur notwendig sein, einzelne oder mehrere Panels einer Bildinterpretation zu unterziehen, ebenfalls kann ein Blick in die Geschichte des Mediums selbst nötig sein, um die Grundaussage des Comics zu verstehen. Zum Beispiel verwendet Art Spiegelman in In the Shadow of No Towers in Form von Zitaten Comic-Figuren aus fast 100 Jahren Comic-Geschichte. c) Werden eine oder mehrere Perspektiven eines Sachverhaltes durch den Comic beleuchtet? Hier wird nach der Multiperspektivität des Comics gefragt. Aussagen zur Geschichte hängen im Comic von den jeweils angebotenen Perspektiven und deren Interpretation in Form von Narrativen ab. Die folgende Frage schließt sich daher logisch an: d) Welche Sinnbildungen von Ereignissen werden im Comic oder von einzelnen Protagonisten des Comics über ein geschichtliches Ereignis angeboten? e) Wie werden das dargestellte Ereignis und seine Deutung sinnlich und emotional konkretisiert? Geschichtskultur tritt als Präsentation von Geschichte meist als Erlebnis in die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. In Comics wird diese Erlebniswirkung durch eine Emotionalisierung und die synästhetischen Funktionsmechanismen des Mediums erreicht. Nach diesen Strategien der Emotionalisierung muss deshalb gezielt gefragt werden. Dies bedeutet für die Lehrenden auch, einzuschätzen, inwieweit nach dem Lesen des Comics eine Auswertungs- und Reflexionsphase notwendig ist, damit die Schülerinnen und Schüler die erfahrenen Emotionen ggf. ausreichend verarbeiten und reflektieren können. Spätestens hier zeigt sich, dass auch für die Frage nach Geschichtskultur der Comic immer auch als Medium selbst, seine Funktionsmechanismen und seine Geschichte besprochen werden sollte. Die folgende Frage kann daher durchaus obligatorisch verstanden werden: f ) Auf welche Art und Weise soll das Medium vorgestellt werden? Selbst geübte Leserinnen und Leser sind nicht automatisch in der Lage, einzelne Bestandteile des Comics und zum Beispiel synästhetische Funktionsmechanismen konkret zu benennen und zu analysieren. Ein grundlegendes Fachvokabular ist eine Voraussetzung für eine gelingende Kommunikation über Comic-Interpretationen im Unterricht.
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g) Welche Authentizitätstypen weist der gewählte Comic-Abschnitt auf? Geschichtskultur ist nicht auf wissenschaftlich verifizierte Daten angewiesen. Um einen Comic als Teil dieser Kultur einzuschätzen, ist daher auch die Frage nach der Authentizität des Comics notwendig. Da in den meisten Comics mehrere Authentizitätstypen zu finden sind, empfiehlt sich eine genaue Analyse der Authentizität nur abschnittweise. Hier sollte nach von den Künstlern verwendeten schriftlichen und bildlichen Quellen gefragt werden, ebenso wie nach verwendeter und angegebener Sekundärliteratur. Eventuell formuliert der Comic-Autor auch in einem Vorwort oder Epilog Aussagen zum Wahrheits- und Fiktionsgehalt seiner Darstellung. Auch diese sollten in der Lerngruppe kritisch diskutiert werden. h) Welche geschichtspolitische Position wird im Comic vertreten? Welchem Orientierungsbedürfnis soll hier genügt werden? Geschichtskultur als Inszenierung von Vergangenheitsdeutung vermittelt auch im Comic politische und gesellschaftliche Orientierungen, denen nachgegangen werden sollte. Anhand dieser Fragen lassen sich Comics für die Arbeit in der politischhistorischen Bildung begründet auswählen und in den Lehr- und Lernprozess einbinden. Lern- und Sachcomics sollten nicht Lernkonzepte oder Lehrbücher ersetzen, sondern einen wichtigen Baustein beim historischpolitischen Lernen bilden, über den Lehrende und Lernende diskutieren und reflektieren können.
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Sowjetpropaganda und Animationsfilme Ulrich Schmid
Animationsfilme eignen sich besonders gut zur Implementierung bestimmter Kulturtechniken, die von jeder normativen Ideologie dringend benötigt werden. Alle Diktaturen müssen ihre eigene Ideologie inszenieren, um überhaupt ein Gesicht zu haben. Herfried Münkler hat die überzeugende These vertreten, dass die autoritäre politische Machtausübung über einen höheren unsichtbaren Anteil verfüge als die Demokratie. Deshalb müsse ein autoritärer Herrscher zu weitreichenden Visualisierungsstrategien greifen, sobald seine Sichtbarkeitsreserven aufgebraucht seien (Münkler 1995: 213–230). Ohne dauernde Visualisierung der Herrschaftsideologie droht sich die öffentliche Sphäre zu verselbstständigen – und in diesem Fall kann die autoritär definierte Wirklichkeitsdeutung zerfallen. Zygmunt Bauman (1995) hat den Hauptzweck der Modernisierungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts in der Herstellung von „Eindeutigkeit“ erblickt. Allerdings ist dieses Ziel kaum je in einer Reinform erreicht worden. In der konkreten Ausgestaltung der Visualisierung von Herrschaft schleichen sich immer wieder subversive Tendenzen ein. Diese These lässt sich exemplarisch an der sowjetischen Animationsfilmproduktion belegen. Die offizielle Sowjetkultur war lange Zeit von einer dichotomischen Weltsicht geprägt. Besonders deutlich lässt sich diese ideologische Grundlage an der ersten Verfassung der Sowjetunion aus dem Jahre 1923 ablesen (Schmid 2010: 431–451). Hier wird die paradiesische Sowjetunion den depravierten kapitalistischen Ländern gegenübergestellt: Seit der Bildung der Sowjetrepubliken haben sich die Staaten der Welt in zwei Lager gespalten: das Lager des Kapitalismus und das Lager des Sozialismus.
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Dort, im Lager des Kapitalismus, herrschen nationale Feindschaft und Ungleichheit, Kolonialsklaverei und Chauvinismus, nationale Unterdrückung und Pogrome, imperialistische Grausamkeiten und Kriege. Hier, im Lager des Sozialismus, herrschen gegenseitiges Vertrauen und Friede, nationale Freiheit und Gleichheit, friedliches Zusammenleben und brüderliche Zusammenarbeit der Völker (Istorija sovetskoj konstitucii 1917–1957: 226).
Bereits Lenin hatte den Film als die wichtigste aller Künste für die Bolschewiki bezeichnet (Gak 1973). Sobald der technische Fortschritt es erlaubte, setzte die Sowjetführung ab 1928 mobile Kinoanlagen ein, die auch die ländliche Bevölkerung erreichen sollten. Seit 1932 war auch ein Kinozug unterwegs, der in verschiedenen Provinzstädten Halt machte und die neusten Produktionen der jungen sowjetischen Filmindustrie zeigte (Nembach 2001: 79, 183). Im Juni 1936 wurde in Moskau das erste staatliche Animationsfilmstudio „Sojuzmul’tfil’m“ gegründet. Die meisten Animationsfilme gehören zum Genre des Märchens und weisen eine mehr oder weniger ausgeprägte politische Dimension auf. Das Märchen eignet sich wegen seiner starken moralischen Aufladung, der prototypischen Struktur und der eindimensionalen Charaktere gut für die narrative Umsetzung von Propaganda. Stalin war ein begeisterter Kinoliebhaber und schenkte der Filmproduktion große Aufmerksamkeit. In seinen letzten Lebensjahren gab er die Devise aus, in der ganzen Sowjetunion nur noch vier bis sechs Spielfilme pro Jahr zu drehen, dafür aber mit höchster Qualität (Shaw/Youngblood 2010: 41). Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in der Sowjetunion eine xenophobe Atmosphäre, die sich auch in den Filmsujets niederschlug (Graffy 2008: 27–46, 27). Wie wichtig die Filmindustrie war, zeigt die Tatsache, dass von 1946 bis 1953 ein eigenes Kinematografie-Ministerium existierte, das allerdings nach Stalins Tod direkt in ein neu gegründetes Kulturministerium überführt wurde. In den 1960er-Jahren profitierte die sowjetische Kinoindustrie vom Tauwetter und brachte auch gesellschaftskritische Filme hervor. In den 1970er- und frühen 1980er-Jahren verschärfte sich das ideologische Klima wieder – emblematisch für diese Entwicklung ist der bizarre Spielfilm Flug 222 (1985) von Sergej Mikaėljan: Ein sowjetischer Balletttänzer springt während einer Tournee in New York ab, ohne seiner Frau etwas zu sagen. Diese und alle übrigen Passagiere im sowjetischen Flugzeug, das den Tänzer nach Hause bringen sollte, wollen jedoch nicht in den USA bleiben, sondern ins Arbeiterparadies zurückkehren. Die
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US-amerikanischen Behörden schikanieren die Menschen im Flugzeug, können jedoch den Sowjetpatriotismus nicht brechen. Animationsfilme nehmen in der sowjetischen Kinoproduktion eine Sonderstellung ein. Hier überwiegt das satirische Genre, weil sich in Animationsfilmen groteske Körperdeformationen sehr gut darstellen lassen. Diese Eigenschaft kommt auch der ideologischen Indoktrination zugute: Durch die Karikierung der Figuren wird die Sympathie der Zuschauer eindeutig in eine bestimmte Richtung gelenkt. In den 1940er- und 1950er-Jahren wurde die sowjetische Animationsfilmproduktion sehr stark von Walt Disney beeinflusst. Wie das amerikanische Vorbild setzte „Sojuzmul’tfil’m“ eine plastische Bildsprache ein, in der die beiden Hauptkunstgriffe „stretching“ und „squeezing“ dominierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte der ideologische Kampf gegen die „Disneevščina“ („Disneytum“) ein, der bald darauf zu neuen Techniken wie etwa der Collage führte. Damit änderte sich auch das Genre: Neben dem dramatischen Kampf zwischen Gut und Böse waren nun auch tragische Sujets möglich, die für die Umsetzung ihrer ideologischen Absicht eine Goya-Ästhetik einsetzen. Die erste „Sojuzmul’tfil’m“-Produktion, In Afrika ist es heiß (1936), visualisiert einen zentralen Pfeiler der Sowjetideologie, die Völkerfreundschaft. Tiere des Südens und des Nordens tauschen Geschenke (Speiseeis und Bananen) aus und stellen so ihre Verbundenheit unter Beweis. Der Animationsfilm Hier wird nicht gebissen (1937) warnt in allegorischer Form vor Volksfeinden: Alle Tiere laufen Schlittschuh auf einem gefrorenen Weiher, der Wolf stellt sich freundlich und lädt die Häsin zu einem Spaziergang ein. Als der Wolf die Häsin angreift, sind zum Glück alle Tiere da und verjagen den Wolf mit Pauken und Trompeten. In diesem Sujet greift der Animationsfilm das stalinistische Paradigma der „Aufmerksamkeit“ auf: Jeder Sowjetbürger war verpflichtet, Saboteure, Schädlinge und Diversanten zu erkennen und zu denunzieren. Der Jäger Fëdor (1938) basiert auf einem burjatischen Märchen, das am 9. September 1937 in der Pravda“ abgedruckt worden war: Ein kleiner Junge verjagt die imperialistischen Japaner, die Sowjetrussland angreifen. Die Ausbeutung eines Jungen durch einen reichen Großgrundbesitzer im Film Das Märchen vom guten Umar (1938) weist bereits eine Paradoxie auf. Der kleine Umar wird von einem bösen Baj übervorteilt, Umar erhält für seine Herzensgüte einen Wunschring, mit dessen Hilfe er sich einen Palast wünscht. In der Exposition dieses Films gilt noch die klassische marxistische Gegenüberstellung von Ausbeutern und Proletariern. Am Ende wird der positive Held jedoch
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selbst reich und darf die Früchte seiner Arbeit genießen. An dieser Handlungsführung lässt sich die Verbürgerlichung der Sowjetkultur in den 1930er-Jahren ablesen. Es war Stalin selbst, der sich in einer programmatischen Rede aus dem Jahr 1931 verächtlich gegen die „Gleichmacherei“ wandte und eine leistungsabhängige Entlöhnung der Staatsangestellten forderte (Mehnert 1958). Konsequenterweise musste auch das Eigentum geschützt werden: Artikel 10 der Stalinverfassung von 1936 garantierte das persönliche Eigentum und sogar das Erbrecht: Das Recht des persönlichen Eigentums der Bürger an ihren selbst erarbeiteten Einkünften und Ersparnissen, am Wohnhaus und an der häuslichen Nebenwirtschaft, an den Gegenständen der Hauswirtschaft und des Haushalts, an Gegenständen des persönlichen Bedarfs und Komforts ebenso wie das Erbrecht am persönlichen Eigentum der Bürger, werden durch das Gesetz geschützt (Istorija sovetskoj konstitucii 1957: 341).
Während des Zweiten Weltkriegs wurden Animationsfilme als animierte Poster eingesetzt. In Mikrosujets wurde den sowjetischen Zuschauern gezeigt, was bei einer Eroberung der Sowjetunion durch Hitler geschehen würde. Auch hier mussten die Regisseure einen schwierigen Spagat bewältigen. Auf der einen Seite musste Hitler als gefährlicher Gegner porträtiert werden, auf der anderen Seite durfte kein Zweifel an einem sowjetischen Sieg aufkommen. Im Jahr 1941, nach dem deutschen Überfall auf die verbündete Sowjetunion, produzierte „Sojuzmul’tfil’m“ eine eigene Wochenschau mit sogenannten „Politplakaten“. Die Darstellung Hitlers folgte ziemlich genau politischen Karikaturen aus der Printpresse. Der Film Was Hitler will präsentiert sich als Verfilmung eines TASS-Fensters, die ein wichtiges Instrument der Kriegspropaganda darstellten. Die TASS-Fenster waren politische Cartoons, die zentrale politische Aussagen auf einen einfachen grafischen Nenner brachten. Was Hitler will war ein Plakat (1941) von Michail Čeremnych mit sechs einfachen Szenen, in denen die Nazi-Aggression angeprangert wurde (Waschik/Baburina 2003: 211). Der Film griff diesen Plot auf und zitierte in seiner visuellen Umsetzung bekannte Gemälde aus der russischen Kunstgeschichte. So besteigt etwa Hitler einen Berg von Totenschädeln, der bereits ein prominentes Motiv in Vasilij Vereščagins Gemälde Apotheose des Kriegs (1871) darstellt.
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Abbildung 1: Hitler auf einem Berg von Schädeln seiner Opfer
Quelle: Was Hitler will (1941: 8’:03“)
Abbildung 2: Vasilij Vereščagin: Apotheose des Kriegs (1871)
Quelle: Verešeagin (1871)
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Der Krieg stellte nach dem Zeugnis von Joseph Brodsky für viele Künstler und Schriftsteller fast eine Erleichterung dar, weil man endlich menschliches Leiden und negative Erscheinungen benennen konnte und nicht ausschließlich den staatlich verordneten Aufbauoptimismus predigen musste (Brodsky 1985: 543–544). Nach dem Krieg verschärfte Stalin die Gangart jedoch wieder. Die veränderte ideologische Situation spiegelte sich etwa im Animationsfilm Fedja Zajcev (1947). Der kleine Fedja malt in seinem Klassenzimmer ein Männchen an die Wand. Er traut sich jedoch nicht, seinen Fehltritt zu gestehen und schiebt die Schuld auf einen Klassenkameraden ab. Zu Hause wenden sich alle Spielzeuge und die Helden seiner Lieblingsbücher von ihm ab. Fedja gesteht seine Schuld. Dieser Film stellt eine deutliche Visualisierung stalinistischer Bekenntnispraktiken dar. Jedes Parteimitglied hatte das Verfahren von Kritik und Selbstkritik zu durchlaufen. Schlimmer noch als mögliche Fehler war dabei das Verschweigen eines Fehlers. Im Film Die fremde Stimme (1949) wird der zwar attraktive, aber verderbliche Einfluss des Westens dargestellt: Die Tiere im Wald lauschen dem Gesang der Nachtigall. Da taucht eine Elster auf, die aus dem Ausland nach Russland geflogen ist. Sie erklärt den Nachtigallengesang für veraltet und gibt ein Konzert. Die Tiere sind zunächst fasziniert vom unbekannten Gesang der Elster, merken aber schließlich, dass dies nichts für sie ist. Nach Stalins Tod verschiebt sich der ideologische Akzent auf den Gegensatz Kommunismus–Kapitalismus. Die goldene Antilope (1954) basiert auf einem indischen Märchen und erzählt die Geschichte eines Waisenjungen, der eine fliehende Antilope vor Jägern rettet. Die Antilope kann mit ihren Hufen Gold erzeugen. Als ein reicher Raja davon erfährt, nimmt er den Waisenjungen gefangen, der aber bald von der Antilope befreit wird. Der ideologische Witz der Handlung besteht darin, dass der Junge das Gold der Antilope gar nicht braucht, während der Raja die unendliche Kapitalakkumulation als Selbstwert betrachtet. Er sagt zur Antilope: „Dummes Tier! Gold kann es nie genug geben!“ In ironischer Umkehrung dieses Credos kommt der Raja schließlich in einer Flut von Goldmünzen um.
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Abbildung 3: Die goldene Antilope (1954)
Quelle: Atamanov (1954: 29’:02“)
In den 1960er-Jahren kommt es in der Sowjetunion zu einer Reihe von Literaturadaptionen, die Gegenstücke zu einer Disney-Verfilmung bilden. 1967 wurde die erste Serie Rakša der insgesamt fünfteiligen Maugli-Verfilmung (1967–1971) von Roman Davydov produziert. Während Disneys Dschungelbuch (1967) ganz als Musikkomödie aufgebaut ist, folgt die sowjetische Version dem Original von Rudyard Kipling deutlicher. Maugli ist ein Held, der sich einer feindlichen Umwelt stellen und um sein Leben kämpfen muss. 1969 folgte eine sowjetische Verfilmung von Alan Alexander Milnes Winnie the Pooh. Damit nahm die Sowjetunion ein Erfolgsrezept auf, dass die Disney- Studios mit dem Kurzfilm Winnie the Pooh and the Honey Tree (1966) begonnen hatten. 1968 erhielt die Fortsetzung Winnie the Pooh and the Blustery Day sogar einen Oscar. 1974 erschien Winnie the Pooh and Tigger, too!, 1977 wurde sogar ein abendfüllender Animationsfilm mit dem Titel The Many Adventures of Winnie the Pooh produziert. Im Gegensatz zur Disney-Version stattete der Regisseur Fëdor Chitruk seinen Protagonisten mit einem komplexen Charakter aus, der sowje-
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tische „Vinni Puch“ kann auch traurig sein und sich von seinen Freunden zurückziehen. Eine weitere Veränderung betrifft Christopher Robin, der in der sowjetischen Version konsequent durch Piglet ersetzt wird. Chitruks Verfilmung erreicht eine höhere ästhetische Autonomie, weil sich alle Abenteuer innerhalb der Tierwelt von Vinni Puch abspielen. Ein „stand in“ für den kindlichen Zuschauer, wie ihn Christopher Robin darstellt, fehlt – der Junge wurde als Gesprächspartner für den Bären konsequent durch „Piglet/Pjatačok“ ersetzt. Der erste Vinni Puch-Film war so erfolgreich, dass in den Jahren 1971 und 1972 zwei weitere Filme folgten. Sowohl Maugli als auch Vinni Puch haben keine explizite politische Aussage. Maugli folgt jedoch den Stilprinzipien des sozialistischen Realismus und zeigt einen positiven Helden, der sich gegen negative Figuren durchsetzen muss. Dabei folgt die Handlung dem prototypischen Plot, wie ihn Katerina Clark für den Produktionsroman beschrieben hat: Der Held kommt in einem Mikrokosmos an, erhält dort eine Aufgabe, muss verschiedene Prüfungen bestehen, scheitert beinahe, erhält während eines Treffens mit einem Mentor neue Kräfte, durchlebt eine Initiation und erfüllt schließlich seine Aufgabe (Clark 2000: 251–266). 1968 entstand die politische Parabel Die Glasorgel, die allerdings von der Zensur zurückgehalten wurde. Der Film arbeitet mit zahlreichen Anspielungen auf klassische Kunstwerke (im Abspann wird mit einem Zwischentitel sogar explizit auf diese Besonderheit hingewiesen). In einer utopischen Stadt regiert der gelbe Teufel, das Geld. Ein Künstler besitzt eine Glasorgel, die alle Menschen glücklich macht und in ihnen edle Gefühle weckt. Allerdings wird der Künstler verhaftet, seine Glasorgel wird zerstört. Die Vertreter der Macht sind Melonenträger im Stil René Magrittes oder gesichtslose Schergen, die den entindividualisierten Bauern im Spätwerk von Kazimir Malevič ähneln. Darauf verwandeln sich die Bewohner der Stadt in Monster und Raubtiere, die Gestalten von Hieronymus Bosch, Francisco Goya, Giuseppe Arcimboldo und Pieter Breughel nachempfunden sind. Einem jungen Mann gelingt es, eine neue Glasorgel zu beschaffen – darauf verwandelt sich die graue Gefängnissiedlung in eine Renaissancestadt mit Figuren aus dem Werk von Albrecht Dürer, Pinturicchio und El Greco.
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Abbildung 4: Der junge Künstler aus Die Glasorgel (1968)
Quelle: Chržanovskij (1968: 10’:07“)
Abbildung 5: Der goldene Teufel aus Die Glasorgel (1968)
Quelle: Chržanovskij (1968: 6’:16“)
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Die Stadt befindet sich unter dem Fluch des „gelben Teufels“ – hier kommt die übliche antikapitalistische Kritik zum Tragen. Der Animationsfilm ist nicht frei von antisemitischen Untertönen – die Fratze des geldgierigen Bösewichts folgt den Darstellungskonventionen jüdischer Hassfiguren. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Film über das Verhältnis von Macht und Kunst die Musik, die von Alfred Schnittke komponiert wurde. Das Leitmotiv der Glasorgel besteht aus der Tonfolge B-A-C-H, die auch von Johann Sebastian Bach als musikalische Signatur in seinen Werken eingesetzt wurde. 1968 war ein schwieriges Jahr in der sowjetischen Kulturpolitik – nach dem Tauwetter der frühen 1960er-Jahre, das etwa auch die Publikation von Aleksandr Solženicyns Lagererzählung Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič ermöglicht hatte, kühlte sich das Klima nach dem Sturz Chruščevs deutlich ab. 1966 wurden die Schriftsteller Andrej Sinjavskij und Julij Daniėl’ zu mehrjährigen Lagerstrafen verurteilt. Auch um Solženicyn zog sich die Schlinge zu – er konnte nicht mehr publizieren; das Romanmanuskript Der erste Kreis der Hölle wurde beschlagnahmt. Die Produzenten der Glasorgel mussten deshalb zu Beginn des Films auf einem Zwischentitel eine ideologische Erklärung einschalten: „Obwohl der Film einen fantastischen Charakter trägt, wollten die Autoren an die hemmungslose Unpersönlichkeit, die polizeiliche Willkür, die Vereinzelung und Verwilderung der Menschen in der heutigen bourgeoisen Gesellschaft erinnern.“ Allerdings verhalf auch diese aufgesetzte Interpretation dem Film nicht zu einer öffentlichen Präsentation. In den 1970er-Jahren experimentierte „Sojuzmul’tfil’m“ mit einer neuen Ästhetik, die vor allem von der US-amerikanischen Pop-Art inspiriert war. Interessant ist der Animationsfilm Ave Marija aus dem Jahr 1972, in dem der Vietnamkrieg angeprangert wird. Der Film ist mit Schuberts Kunstlied unterlegt und zeigt in erstaunlicher Vorwegnahme einer Schlüsselszene aus Francis Ford Coppolas Apocalypse Now (1979) den Helikopterangriff auf ein vietnamesisches Dorf. Dabei kommen Frauen und Kinder gewaltsam ums Leben. (Bei Francis Ford Coppola ist diese Szene mit Richard Wagners Walkürenritt unterlegt.)
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Abbildung 6: Der Angriff der Helikopter in Ave Marija (1972)
Quelle: Ivanov-Vano: Ave Marija (1972: 2’:38“)
Abbildung 7: Der arbeitslose Amerikaner in Shooting Range (1979)
Quelle: Tarasov (1979: 3’:58“)
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1979 entstand Tir (The Shooting Range), der das angeblich menschenverachtende Leben in den USA anprangert. Ein junger Arbeitsloser wird von einem skrupellosen Kapitalisten als lebendiges Ziel in einem New Yorker Schießstand engagiert. Der Junge verliebt sich in eine Leidensgenossin; sie bekommen ein Kind – der Schießbudenbesitzer kündigt darauf als besondere Attraktion ein Kind als Zielscheibe an. Der Animationsfilm ist ganz in der US-amerikanischen Pop-Ästhetik gehalten, die als künstlerischer Stil gleichzeitig kritisiert und instrumentalisiert wird. Dasselbe gilt für die musikalische Untermalung, die während der Titelszene aus schrillen Jazzklängen besteht. Später verwandelt sich die Musikbegleitung in anspruchsvollen Jazz. Damit gelingt es dem Regisseur Vladimir Tarasov, eine in der Sowjetunion verpönte Musikrichtung auf politisch korrekte Weise in seinen Film zu integrieren: Zu Beginn wird die musikalische Falschheit des Jazz programmatisch signalisiert, später kann die Musik ihre ästhetische Autonomie entfalten. Der Film beginnt mit einem visuellen Zitat – er zeigt eine schematische Luftaufnahme von New York, die ganz in Rosa getaucht ist. Damit verweist Tarasov auf die Ouvertüre von Robert Wises und Jerome Robbins’ Verfilmung der West Side Story (1961), in der die Wolkenkratzer von Manhattan in einer monochrom wechselnden Verfremdung gezeigt werden. Auch die Figuren aus Walt Disneys Animationsfilmen sind in Tarasovs Film vertreten. Die Glücksvision der beiden Liebenden wird durch den Einsatz des Elefanten Dumbo, der sieben Zwerge und des Hasen aus Bambi visualisiert. Die Darstellung der Freundin des Protagonisten zitiert ebenfalls ein prominentes Vorbild: die weiblichen Porträts von Roy Lichtenstein.
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Abbildung 8: Eingangssequenz von West Side Story (1961)
Quelle: Wise/Robbins (1961: 0’:30“)
Abbildung 9: Die Freundin in The Shooting Range (1979)
Quelle: Tarasov (1979: 9’:54“)
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Auch die Ästhetik von Keith Haring ist in Tarasovs Animationsfilm präsent: Abbildung 10: Die tanzenden Liebenden in The Shooting Range (1979)
Quelle: Tarasov (1979: 11’:32“)
Schließlich greift Tarasov jedoch auch auf den klassischen sowjetischen Fundus der Kapitalismuskarikatur zurück. Der Bösewicht befindet sich völlig außerhalb der dominanten Pop-Ästhetik des Films:
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Abbildung 11: Der Ausbeuter in The Shooting Range (1979)
Quelle: Tarasov (1979: 4’:06“)
Tarasovs Tir zeigt deutlich, dass die Herstellung von „Eindeutigkeit“ in Baumans Sinn in der späten Sowjetzeit höchstens noch ein Oberflächenphänomen darstellt. Die Visualisierung des US-amerikanischen Kapitalismus folgt den veralteten Modellen der Sowjetkarikatur aus den 1920erund 1930er-Jahren. Die Darstellung der amerikanischen Jugendkultur hingegen bedient sich der Bildsprache der Pop-Ästhetik. Die jungen, arbeitslosen Amerikaner, die Opfer der Kapitalisten werden, sind in Tarasovs Film Sympathieträger, mithin ist auch die zitierte Ästhetik positiv konnotiert. Letztlich stellt Tir den interessanten Versuch dar, eine neue, moderne Visualisierung für eine alte Kapitalismuskritik zu finden. Die sowjetischen Animationsfilme bemühten sich zumindest oberflächlich, ideologische Eindeutigkeit herzustellen. Eine traditionell marxistische Kapitalismuskritik findet sich in den meisten Filmen. Allerdings gerät die Visualisierung der Ideologie bereits bei der Darstellung der Bösewichte in ein Dilemma. Sehr oft zeichnet sich der Ausbeuter in den Animationsfilmen durch hohe Gewaltbereitschaft und Zynismus aus – damit rückt er in der Wahrnehmung der sowjetischen Zuschauer schnell in die Nähe der Parteinomenklatura. Möglicherweise liegt in dieser Besonderheit der Grund für die häufige Wahl exotischer Settings: Wenn das Böse in einer ganz anderen Kultur (Deutschland, Indien, USA oder einer Fantasiewelt) angesiedelt ist, kann das vertraute sowjetrussische Herrschaftsgefüge
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nicht direkt damit identifiziert werden. Diktatur und Ausbeutung sind dann fremde Phänomene in einer konstruierten Welt, die auf dramatische Weise erst zum sozialistischen Glück finden muss, das dem Anspruch nach bereits in der UdSSR vorhanden ist – noch 1961 versprach Nikita Chruščev vollmundig, dass der Kommunismus im Jahr 1980 in der Sowjetunion erbaut sein werde (Tompson 1997: 238). Die starke Popularität der Animationsfilme in der Sowjetunion lässt indes darauf schließen, dass sich das breite Publikum von solchen ideologischen Volten nicht beirren ließ. Die satirisch überzeichnete Welt der Animationsfilme hatte einen höheren Wirklichkeitsgehalt als die sozrealistischen Filme, die angeblich die Lebenswelt der Sowjetbürger auf gültige Weise nachzeichneten. Die Absurdität und die Entmündigung der individuellen Existenz in der Sowjetunion konnte viel besser durch die „Märchen für Erwachsene“ in den Animationsfilmen eingefangen werden als durch offizielle Kunstprodukte. Außerdem verzichteten viele Zeichentrickfilme in den späten Sowjetjahren auf Dialoge, um nicht mit der Zensur in Konflikt zu geraten. Deshalb befinden sich Animationsfilme in der Hierarchie der Künste bis heute in Russland viel höher als im Westen. Eine zusätzliche Konsekration erfuhren einige sowjetische Zeichentrickfilme durch die Mitarbeit berühmter Komponisten wie Dmitrij Šostakovič oder Alfred Schnittke. Die visuelle Kultur der sowjetischen Animationsfilme emanzipierte sich am Ende der Stalinzeit von der Disney-Ästhetik und vollzog die Wende zu einer autonomen künstlerischen Existenz, die sich an der prominenten Kinderbuchproduktion sowjetischer Zeichenkünstler orientiert. Damit kommt den Animationsfilmen im Kontext der komplexen Sowjetkultur nicht nur eine wichtige ideologiekritische, sondern auch innovative ästhetische Funktion zu.
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L ITER ATURVERZEICHNIS Bauman, Zygmunt (1995): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag. Brodsky, Joseph (1985): „Literature and War. A Symposium: The Soviet Union“, in: The Times Literary Supplement vom 17.5.1985. Clark, Katerina (2000): The Soviet Novel. History as Ritual. Bloomington: Indiana Univ. Press. Gak, Aleksandr Mikhaĭlovich (Hg.) (1973): Samoe važnoe iz vsech iskusstv. Lenin o kino. Sbornik dokumentov i materialov, Moskva. Graffy, Julian (2008): „Scant Sign of Thaw. Fear and Anxiety in the Representation of Foreigners in the Soviet Films of the Khrushchev Years“, in: Stephen Hutchings: Russia and its Other(s) on Film. Screening Intercultural Dialogue. New York: Basingstoke, S. 27–46. Istorija sovetskoj konstitucii. Sbornik dokumentov 1917–1957 (1957). Moskva. Nembach, Eberhard (2001): Stalins Filmpolitik. Die Reorganisation der sowjetischen Filmindustrie 1929–1938. Von liberaler Marktökonomie und kreativer Vielfalt zur zentral und monopolistisch gesteuerten Propagandamaschinerie. Diss. Bonn. Mehnert, Klaus (1958): Der Sowjetmensch. Versuch eines Porträts nach zwölf Reisen in die Sowjetunion 1929–1957, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Münkler, Herfried (1995): Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung, in: Gerhard Göhler (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 213–231. Schmid, Ulrich (2010): „Constitution and narrative. Peculiarities of rhetoric and genre in the foundational laws of the USSR and the Russian federation“, in: Studies in East European Thought 62, S. 431–451. Shaw, Tony/Youngblood Denise (2010): Cinematic Cold War. The American and Soviet Struggle for Hearts and Minds. Kansas: University Press of Kansas. Tompson, William J. (1997): Khrushchev: A Political Life, New York: St. Martin’s Press. Waschik, Klaus/Baburina, Nina (2003): Werben für die Utopie. Russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts. Bietigheim-Bissingen: edition tertium.
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A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Was Hitler will (1941). (http://www.youtube.com/watch?v=FRcBt904OJ0). Abb. 2: Vereščagin, Vasilij (1871): Apotheose des Kriegs. (http://ru.wikipedia.org/wiki/Ɏɚɣɥ:Apotheosis.jpg). Abb. 3: Atamanov, Lev (1954): Die goldene Antilope. (http://www.youtube.com/watch?v=dqTdus3smg0). Abb. 4 und 5: Chržanovskij, Andrej (1968): Die Glasorgel. (http://www.youtube.com/watch?v=dYz0xck_NYQ). Abb. 6: : Ivanov-Vano, Ivan (1972): Ave Marija. (http://www.youtube.com/watch?v=dl43n87kS7Q). Abb. 7, 9, 10 und 11: Tarasov, Vladimir (1979): Tir. (http://www.youtube.com/watch?v=N9uPQH_L9L4). Abb. 8: Wise, Robbins (1961): West Side Story. (http://www.youtube.com/watch?v=upHdYC6qWJo). Die Videos wurden am 25.07.2012 zuletzt abgerufen.
Von Reflexion bis Persuasion – wenn der Sachcomic mehr will als informieren Resultate einer Begleitstudie zu Hotnights Dorothea Oechslin
Im Rahmen eines nationalen Präventionsprogramms zum Thema HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen bringt die Stiftung Sexuelle Gesundheit Schweiz einen Comic zu Jugendsexualität heraus. Mit diesem Sachcomic sollen Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren auf das Thema sexuell übertragbare Krankheiten aufmerksam werden. Das Ziel war nicht, den Mahnfinger hochzuhalten oder detailliertes Wissen zum Thema zu vermitteln; die Idee war, eine Geschichte zu erzählen, die den Boden für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität und sexuelle Gesundheit ebnet. Um dieses Ziel zu erreichen und ein auf die Jugendlichen angepasstes „Informationsmedium“ zu gestalten, fand eine enge Zusammenarbeit zwischen den Auftraggebern (Stiftung), den Comic-Schaffenden (Autor und Zeichner) sowie der Hochschule Luzern – Design & Kunst statt, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Angewandte Narration: Sachcomics“ die Entstehung des Comics begleitete. Die Auftraggeber hatten eine bestimmte Vision vor Augen, die sie, bei der Auswahl des Kommunikationsmittels, zur Form des Comics greifen ließ. Es ging darum, nicht Aufklärung im klassischen Sinne zu betreiben, sondern die eigene Auseinandersetzung der jugendlichen Zielgruppe mit dem Thema anhand einer Geschichte zu ermöglichen. Der Comic beginnt nicht mit einer unmittelbaren Botschaft oder einem Signal, sondern hüpft geradewegs mitten in die Geschichte, nimmt einen der dramatischen Höhepunkte vorweg, ohne diese Szene aber an dieser Stelle bereits aufzulösen, um dann in einer nächsten Szene die Figuren und ihr Vorhaben in Ruhe
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einzuführen. Sechs Jugendliche verbringen gemeinsam ein Wochenende am Openair-Festival „Hotnights“: Das frisch verliebte Paar Malou und Tobias, das sich vor zwei Wochen kennen lernte, erlebt sein „erstes Mal“. Weiter gibt es den Draufgänger Jonas, den homosexuellen Marc, der die wahre Liebe sucht, und ein befreundetes Pärchen. Auch am Openair sind die Punks Pam und Samuel. Sie interessieren sich weniger für die Musik, sind aber immer auf der „Pirsch“, um andere Leute in kompromittierenden Situationen zu erwischen und die Handy-Bilder auf Facebook zu stellen. Die Liebes- und Flirtgeschichten erzählen von Missverständnissen, Verunsicherungen und Ängsten der Jugendlichen und sorgen so für Spannung und dramatische Höhepunkte. Doch funktioniert eine solche, nicht offensichtlich belehrende Kommunikation mittels Comic? Und wenn ja, auf welche Weise funktioniert sie? Eine begleitende Untersuchung sollte genau diese Fragen beantworten. Durch eine enge Zusammenarbeit in der Entwicklungsphase des Comics, durch gezieltes Nachfragen bei der Zielgruppe, sollten mögliche Auslöser für Abwehrmechanismen erkannt und vermieden sowie positive Wirkungsfaktoren gewonnen werden. Die Resultate der Untersuchung gelangten als Feedbacks zurück in den Produktionsprozess und führten zu neuen Ideen und Abweichungen des Geplanten oder bestärkten die Comic-Schaffenden in ihrer Art der Umsetzung. Die Untersuchung beinhaltete eine Vorabklärung der rein visuellen Attraktivität sowie eine Typeneinschätzung der gezeichneten Figuren, die im Comic agieren sollen. Diese Einschätzungen und Meinungen wurden anhand von reingezeichneten Darstellungen der Hauptfiguren mittels eines Fragebogens erfasst. Aufgrund dieser Zeichnungen (Leadsheets) konnten sowohl der Zeichenstil wie auch die Attraktivität oder einfach die Wirkung der Figuren getestet werden. Die Geschichte war den Rezipienten zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt. In einem weiteren Schritt wurden die Funktionalität, Attraktivität und Verständlichkeit der Narration sowie die durch die Geschichte herausgebildeten Charakteren der einzelnen Figuren erhoben. Anhand eines Entwurfs des Comics (Scribble) konnten die Geschichte und ihre visuelle Umsetzung getestet werden. Das Scribble machte es möglich, Kritik und Änderungsvorschläge der Jugendlichen berücksichtigen zu können und in die Endform, den reingezeichneten Comic, einfließen zu lassen. Die Evaluation der Figuren und der Geschichte wurde bei der 13- bis 18-jährigen Zielgruppe in Form von zwei Fragebogen mit offenen und geschlossenen Fragen erhoben. Um die Ergebnisse zu kon-
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textualisieren und vertiefte Einblicke in die Meinungen der Jugendlichen zu erhalten, wurden parallel vier Gruppendiskussionen (Focus Groups) in unterschiedlichen Alterskategorien mit je sechs bis acht Teilnehmenden durchgeführt. Insgesamt nahmen 105 Jugendliche aus fünf Schulklassen unterschiedlichen schulischen Anforderungsniveaus und Alters teil. Der folgende Beitrag präsentiert die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit. Abbildung 1: Die Figuren Malou und Tobias am Openair-Konzert
Quelle: Entwurf (Scribble) Konzertszene aus Hotnights
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Eine solche Untersuchung kann nicht ohne geeigneten theoretischen Rahmen unternommen werden. Der theoretische Ansatz der persuasiven Kommunikation schien uns in der Diskussion von präventiven Sachcomics und ihrer Funktion die passende Grundlage zu bieten, um die Entwicklung des Sachcomics zu verfolgen und den Weg dahin zu beschreiben. Bei der persuasiven Kommunikation geht es nicht nur um die Informationsvermittlung oder Verständigung, sondern auch um die Be-
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einflussung von Überzeugungen und Verhaltensweisen des Rezipienten. Es ist der tägliche Versuch von Werbe-, Wahl-, aber auch Präventionskampagnen, Botschaften, Überzeugungen und Wissen in bestmöglicher Weise zu übermitteln und zu vermitteln, um die Zielgruppe vom präsentierten Inhalt zu überzeugen. Dies soll aber nicht im negativen Sinne einer Manipulation verstanden werden. Das Ziel dieser Kommunikation ist, den Rezipienten mit guten Argumenten zu einem bestimmten Verhalten zu animieren. Mehr noch gilt es, durch die Kommunikation die Einstellungen und Überzeugungen gegenüber einem Thema nachhaltig zu beeinflussen und so auch das Verhalten der Rezipienten in die „gewünschte“ Richtung zu lenken. „Persuasion“ kommt so im vorliegenden Comic vor allem hinsichtlich der Initiierung einer offenen und informierten Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität zum Tragen. Der hier zum Zuge kommende theoretische Rahmen, das Elaboration Likelihood Model (ELM) von Petty und Cacioppo (1986), erläutert die Wirkungsprozesse persuasiver Kommunikation und beschreibt den Prozess der Informationsverarbeitung und worauf die Intensität dieser beruht. Während der Beeinflussungssituation können gemäß ELM zwei Wege der Informationsverarbeitung auftreten: Die zentrale Verarbeitung tritt dann auf, wenn der Rezipient motiviert und fähig ist, sich intensiv mit den präsentierten Inhalten zu befassen. Fehlt dem Rezipienten die Motivation und/oder Fähigkeit zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Präsentierten, so verarbeitet er peripher, d. h. er orientiert sich an oberflächlichen Kriterien wie beispielsweise schnell interpretierbaren Bildern. Wie hoch die Verarbeitungsintensität des Rezipienten schlussendlich ausfällt, ist durch die Motivation und Fähigkeit (beispielsweise die Comic-Sprache zu verstehen) determiniert (Petty/Wegener 1999: 52). Durch eine intensive Verarbeitung von Informationen integriert der Rezipient neue Inhalte in die Wissensstruktur. Eine intensive Verarbeitung garantiert aber nicht, dass die Informationen unbedingt rational verarbeitet werden. Besitzt der Rezipient bereits eine klare Meinung zu einem Thema, und ist dies von persönlicher Bedeutsamkeit für ihn, so findet oft eine verzerrte, voreingenommene Verarbeitung statt. Der Rezipient generiert bestimmte Gedanken, um die eigene Meinung zu verteidigen (Petty/Cacioppo 1986). Diese verzerrte Verarbeitung fördert auch eine selektive Wahrnehmung. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Einstellung und Akzeptanz dem Medium gegenüber. Diese
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Faktoren bestimmen die Bereitschaft, sich überhaupt mit dem Medium und den dadurch vermittelten Botschaften intensiv auseinanderzusetzen. Diese Grundidee der persuasiven Kommunikation ist auch auf den Comic übertragbar: „Attitudinal instruction comics“ nennt Eisner (2008) die Untergruppe von Sachcomics, deren Funktion darin besteht, die Einstellungs- und Verhaltensänderung des Rezipienten zu bewirken, zu der sich auch präventive Sachcomics zählen lassen. Er beschreibt dies wie folgt: Another instructional function of sequential art is conditioning an attitude toward a task. The relationship or the identification evoked by the acting out or dramatization in a sequence of pictures is in itself instructional. People learn by imitation and the reader in this instance can easily supply the intermediate or connecting action from his or her own experience (Eisner 2008: 153—154).
Präventive Sachcomics unterbreiten durch das Agieren ihrer Hauptfiguren oftmals das „passende“ oder „unpassende“ Verhalten in der jeweiligen Situation, woraus der Leser als Beobachter Lehren ziehen kann. Diese Botschaften werden Comic-spezifisch in Bild- und Textinformationen vermittelt. Aber auf welche Weise wird die Botschaft verarbeitet? Das ELM bietet hierzu einen Interpretations- und Untersuchungsrahmen. Das Ziel bei der Kommunikation mittels präventiver Sachcomics ist es also, eine objektive intensive Verarbeitung der Inhalte beim Rezipienten zu fördern und negative Impulse zu verhindern. Das didaktische Potenzial eines Comics wird eben nicht nur durch die Form und ihren Inhalt bestimmt, sondern vor allen durch den Kommunikationsprozess selbst. Gerade persuasive Botschaften, die der Rezipient als solche erkennt, aktivieren dabei schnell Abwehrmechanismen (vgl. auch Grünewald 1982: 56).
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Es gibt einige Eigenschaften des Rezipienten, die in der Beeinflussungssituation relevant sein können: Dies sind einmal die Einstellung und das Wissen zum Thema, dann aber auch die soziodemografischen Merkmale wie das Alter, das Geschlecht und die Bildung. Als wichtigste direkte Merkmale für die Aufnahme und Verarbeitung der Botschaft erweist sich aber die Fähigkeit, den Comic und seine Sprache richtig interpretieren zu können,
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und die Motivation zur Lektüre. Diese direkte Abhängigkeit der Wirkungsmöglichkeiten des Comics auf den Rezipienten legt nahe, dass der präventive Sachcomic schlussendlich immer nur so gut und wirksam ist, wie er mit seiner Zielgruppe korrespondiert. Die Eigenschaften des Comics, also der Stil, das Genre, die Figuren und ihr Identifikationspotenzial, aber auch die Anschaulichkeit, Attraktivität, Verständlichkeit und Glaubwürdigkeit müssen für die Zielgruppe passend sein. Diese Merkmale beeinflussen die Art und Weise wie der Comic wahrgenommen, verstanden, aufgenommen und akzeptiert wird (vgl. auch Jüngst 2010: 68 ff.). Es stellt sich also die Frage, welche Aspekte des Comics und seiner Botschaft, wie auf den einzelnen Rezipienten wirken und wie aufmerksam er, dem Comic als Ganzes gegenüber, ist. Es stellt sich ebenso die Frage, mit welcher Intensität der Leser sich aufgrund seiner Motivation und Fähigkeit dem Inhalt, aber auch dem Spezifischen des Comics, seiner (Bild-) Sprache, seiner Art des Erzählens widmet. Besitzt der Inhalt des Comics (das Thema, die Geschichte) eine persönliche Relevanz für den Rezipienten, so beschreibt die Größe der Relevanz die intrinsische Bedeutsamkeit des Themas für den Rezipienten. Das Ausmaß dieser Betroffenheit beeinflusst die Motivation und somit die Verarbeitungsintensität (Petty/Cacioppo 1986). Der Comic Hotnights bietet verschiedene Anknüpfungspunkte, die für die Zielgruppe bedeutsam sein könnten: Verhütung, das erste Mal, Blind Dates, Bloßstellungen auf Facebook, Liebeskummer. Situationen also, die mit Unsicherheiten und Ängsten verbunden sein können, in denen das Beobachten von anderen eine willkommene Informationsquelle darstellt. Es sind Themen, mit denen sich der Rezipient aufgrund ihrer Relevanz womöglich bereits beschäftigt hat und eine eigene feste Meinung vertritt, die auch verteidigt wird. Diese Meinung lässt unter Umständen eine objektive Verarbeitung des Themas nicht mehr vollumfänglich zu. (vgl. Kapitel zu Zielgruppenunterschieden weiter hinten). Die Lust, den Comic zu lesen, kann aber auch einfach durch seine Attraktivität (den Stil der Zeichnungen) geweckt werden. Für eine erfolgreiche Rezeption und Verarbeitung der Informationen muss neben der Bereitschaft, sich dem Thema und dem Medium widmen zu wollen, auch die Fähigkeit vorhanden sein, die Inhalte entschlüsseln und interpretieren zu können. Die Eigenschaften des Comics und seiner Sprache verlangen vom Rezipienten Lesekompetenz und ein Wissen um die Deutung seiner Merkmale. Diese erworbene Fähigkeit benötigt der Rezipient, um den Comic und seine Eigenheit zu verstehen, lesen und richtig
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interpretieren zu können. Beispielsweise ist die Erzählweise des Comics nicht an die Konventionen der Schriftsprache gebunden: Sie besitzt ihren eigenen Ausdruck, der auf dem Zusammenwirken von unterschiedlichen Zeichen (Bild- und Schriftzeichen) beruht, deren Lesereihenfolge nicht vorgegeben ist. Nur in der Anordnung der Panels findet sich dieses vorgegebene Nacheinander der Zeichen wieder, wie dies bei der Schrift der Fall ist (Hein 2002: 54). Sprech- und Denkblasen werden zwar wie ein Text gelesen, sind aber als Teil des Bildes zu sehen und müssen in Beziehung mit ihm gelesen werden und funktionieren. Sie sind die typischsten Ausdrucksformen der Comic-Sprache. Nicht nur durch ihren Inhalt, sondern durch ihre Gestalt bekommt der Leser auch paraverbale Informationen der Sprache mit, die ihn näher an die Intention der Rede und die Gefühlsebene der sprechenden Figur heranführen. So können die Artikulation und die Lautstärke genau interpretiert werden: gestrichelte und gepunktete Linien verweisen auf eine leise Rede oder Flüstern, gezackte Sprechblasen hingegen drücken einen lauten, auch aggressiven Tonfall aus. Denkblasen sind durch kleine runde Blasen mit der Figur verbunden (Mahne 2007: 50). Auch die nonverbale Kommunikation – Mimik, Gestik, Körpersprache und Haltung – ist gut vermittelbar. Sie offenbart die Gefühle und Emotionen, also das Innenleben der Figur. Des Weiteren gibt es Merkmale wie beispielsweise Bewegungslinien, Onomatopöien oder grafische Symbole, die Emotionen signalisieren (Herzchen, Rauchwölkchen). All diese Botschaften müssen ebenfalls verstanden und mitgelesen werden (vgl. auch Mahne 2007: 48–53). Nicht nur das Lesen eines Panels, sondern vor allem das Zusammenfassen der Panels zu einer Aussage erfordert Eigenleistung des Lesers. Die Anordnung der Panels zeigt die Chronologie und führt den Leser durch die Geschichte des Comics. Die kognitive Leistung, die Lücken zwischen den einzelnen Panels mit Sinn zu füllen, die Panels zu einer Handlung, einer Bewegung zu einer zeitlich ablaufenden Sequenz oder Geschichte im Kopf zusammenzuführen, erbringt der aktive Leser selbst (McCloud 2001: 73 ff.). Diese nicht gezeigten Momente, die Zeit, die zwischen dem Gezeigten liegt, sind ein typisches Merkmal der Kommunikation mittels Comics, und sie stellen elementare Bestandteile der Erzählweise dar. Diese aktive Leistung unserer Fantasie, einzelne Bilder zu einem Gedanken zusammenzuführen, kann je nach Stil und Erzählweise eine große kognitive Herausforderung und Leistung sein, die der Leser womöglich nur mit dieser erlernten Comic-Lesekompetenz erbringen kann.
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D IE B EDEUTUNG
DES FRÜHEREN
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Wie der Comic Hotnights verstanden und gelesen wird, ist konsequenterweise stark abhängig von den Erfahrungen, welche die Jugendlichen mit dem Medium bereits besitzen. Wie das Modell erwarten lässt, ist die Fähigkeit, den Comic richtig zu rezipieren, eine Voraussetzung für eine intensive Verarbeitung der transportierten Botschaft. Türen für den Inhalt des Comics können sich bereits durch die Vertrautheit mit dem Medium öffnen, die oft im Einklang mit einer positiven Einstellung dem Medium gegenüber steht. Dies bestätigen die folgenden Resultate: Es zeigte sich in der Befragung zunächst, dass 63% der jugendlichen Testpersonen in ihrer Kindheit Comics lasen; diese Zahl reduzierte sich aber merklich im Jugendalter. Gerade noch 27% lesen heute Comics in ihrer Freizeit. Dabei weisen die männlichen Testpersonen signifikant größere Erfahrungen mit dem Medium Comic auf als ihre weiblichen Altersgenossinnen. Diese Lektüreerfahrung erwarben sie in ihrer Kindheit. Die fehlende Vertrautheit mit dem Medium und dessen Lesbarkeit wirkt sich auf das Resultat der persönlichen Einschätzung der allgemeinen Verständlichkeit des Comics aus. Sie wird von den weiblichen Rezipienten als problematischer eingeschätzt.1 Auch sind deutliche Auswirkungen des früheren Comic-Konsums auf die aktuelle Bereitschaft, diesen Comic in der Freizeit zu lesen, erkennbar: Jugendliche, die in ihrer Kindheit Comics lasen, sind zu 70% bereit, diesen Comic in ihrer Freizeit zu lesen oder stellen zumindest in Aussicht, dies zu tun. Die unerfahrenen Jugendlichen, die keine oder nur selten Comics lasen, geben dagegen gerade Gegenteiliges an. 68% würden den Comic in der Freizeit nicht lesen (vgl. Tabelle 1). Entsprechendes zeigte sich beim Verständnis des Comics: 75% der Jugendlichen, die sich als Comic-Leser bezeichnen, glauben, die Geschichte verstanden zu haben. Nicht-Comic-Leser hingegen gehen eher davon aus (56%), die Geschichte nicht nachvollziehen zu können. Auch der Wissensgewinn durch den Comic zum Thema Sexualität wird von den Comic-Lesern zu 59% positiv 1 | Es werden hier nur statistisch signifikante Zusammenhänge präsentiert, d. h. Zusammenhänge, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zufällig sind. Technisch gesprochen sind dies Zusammenhänge mit einem Signifikanzniveau von p=16
Die Figuren sprechen wie Jugendliche in meinem Alter.
37% n=11
64% n=22
94% n=18
80% n=15
Kontingenzkoeffizient: 0.40; sign.= 0.006
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Es zeigten sich (vgl. Tabelle 2) aber altersspezifische Unterschiede bei der Einschätzung der Sprache: Die Hauptzielgruppe, die 14- bis 16-Jährigen, beurteilt die Sprache als die ihre, dies gilt aber nicht für die 13-Jährigen, die altersmäßig auch nicht den Hauptfiguren des Comics entsprechen. Der Zusammenhang zwischen der Einschätzung der Sprache und der Glaubwürdigkeit der Figuren erwies sich als überaus deutlich: Wurde die Sprache als alterskonform bewertet, so wirkte sich dies auf die Glaubwürdigkeit wie auf das emotionale Mitleben mit den Figuren aus. Die einzelnen Antworten der Jugendlichen verweisen auf ganz unterschiedlich große Sprachakzeptanz, womöglich abhängig von der Sprachvarietät des Einzelnen und seines sozialen Umfeldes. So kann die sogenannte „Jugendsprache“ als passend, kindisch, komisch, vulgär bis pervers oder einfach als zu nett empfunden werden. Sie reden sozusagen Jugendsprache. Das finde ich toll. (15, m) Ich finde, es ist so geschrieben, wie heute gesprochen wird. (15, m) Sie spreche, als ob sie jünger wären! Sie gebrauchen seltsame Ausdrücke. (17, w) Die Umgangssprache ist zu nett im Gegensatz zur Realität. (14, m) Es wird im Allgemeinen sehr pervers gesprochen. (15, w) Deutliche Zusammenhänge zeigten sich zwischen der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Figuren und der Bewertung der Geschichte. Für 83% der Rezipienten, welche die Geschichte als spannend und interessant empfanden, wirken die Figuren authentisch und glaubwürdig. Konnte die Geschichte jedoch nicht richtig überzeugen, so wird auch die Glaubwürdigkeit der Figuren kritischer betrachtet (43%). Ebenso ist bei 83% der Rezipienten mit positivem Interesse an den Figuren und ihrem Erleben dies mit einer hohen Glaubwürdigkeit der Figuren gleichzusetzen, wohingegen bei geringem Interesse für die Figuren auch deren Glaubwürdigkeit tiefer eingeschätzt wurde (52%). So können weder eine gute Geschichte, die im realen Leben spielen soll, ohne authentische Figuren, noch authentische Figuren ohne die passende Geschichte einen positiven Effekt auf die Rezipienten ausüben. Leser haben sofort ein Gefühl dafür, ob Botschaften, Kommunikatoren,
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Medien für sie als glaubwürdig erscheinen. Die Art der Kommunikation muss in erster Linie auf die Zielgruppe passen, um eine Beeinflussung möglich zu machen. So spielt es keine Rolle, ob Erwachsene die Figuren und deren Sprache als jugendlich empfinden, wenn die Jugendlichen diese als plump und anbiedernd wahrnehmen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Sowohl der Stil der Zeichnungen, die Art der Narration, der Kontext, in dem sich die Figuren bewegen, wie auch die Figuren selbst sind wichtige Dimensionen, die für die Glaubwürdigkeit des Comics als Ganzes sprechen. Kommen diese Merkmale bei der Zielgruppe gut an, so erhöhen sie die Verarbeitungsintensität der Rezipienten.
D IE Z IELGRUPPE UND DIE SUBJEK TIV Z IELGRUPPENZUGEHÖRIGKEIT
WAHRGENOMMENE
Die Wirkungsmöglichkeiten des Comics sind, wie gezeigt, von vielen verschiedenen Faktoren abhängig. Der präventive Sachcomic ist nur dann wirksam, so legen die obigen Ergebnisse nahe, wenn er der Zielgruppe entspricht. Diese bestimmt auch ganz alleine, welche Modelle für sie Ausstrahlung besitzen oder glaubwürdig und damit normgebend sind (Mosler 2000: 30). Aber nicht nur die Darstellung und die Figuren, vor allem auch die persönliche Relevanz des Themas bestimmt, ob der Rezipient sich selbst zur Zielgruppe dazuzählt und wie er die Informationen verarbeitet, ob intensiv oder oberflächlich, objektiv oder vorurteilsbeladen. Tabelle 3: Einschätzung des Alters der Zielgruppe Alter der Befragten
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>=16
Anteil, die sich als Zielgruppe des Comics einschätzt
43% n=11
47% n=22
70% n=18
63% n=16
Kontingenzkoeffizient: 0.47; sign. = 0.01
So interessierte es auch, ob die Jugendlichen sich selbst als Zielgruppe des Comics wahrnehmen, und ob dies wiederum einen Einfluss auf die Wahrnehmung und Bewertung hat. Hier zeigten sich Unterschiede zwischen den Altersklassen: Die Einschätzung, ob die Leser sich als Zielpublikum wahrnehmen, verändert sich innerhalb von zwei Jahren Altersdifferenz
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deutlich. So schätzen sich die 13-Jährigen zu 57% als zu jung ein, die 14-Jährigen sehen sich gerade zu 47% als die angesprochene Zielgruppe, bei den älteren Jugendlichen ist es die Mehrheit, die sich angesprochen fühlt.4 Auf die Frage, was genau die Aussage des Comics beinhaltet und ob diese verstanden wurde, zeigten die Jugendlichen, die sich selbst als Zielgruppe wahrnehmen, ein besseres Verständnis für den Inhalt und konnten diesen auch besser beschreiben. 88% der Jugendlichen, die angaben, den Comic nicht verstanden zu haben, schätzen sich selbst auch nicht als Zielgruppe ein. Genauso konnten sich 75%, die sich als Zielgruppe ansehen, mit dem Verhalten der Figuren identifizieren, und 83%, die sich als zu jung für den Comic einschätzen, sehen keine Gemeinsamkeiten im Verhalten. Fühlt der Leser sich der Zielgruppe angehörig und ist das Thema für ihn relevant, so ist er motiviert, den Inhalt konzentriert und kritisch zu studieren.
Z IELGRUPPENUNTERSCHIEDE DIE V ER ARBEITUNG
UND IHRE
A USWIRKUNG
AUF
In den Fokus-Gruppen wie in der Befragung zeigte sich bei den älteren Jugendlichen, vor allem bei den Schülerinnen, eine tendenziell große Sensibilität gegenüber der Sprache und dem Verhalten der Figuren. Die Kritik bezog sich beispielsweise auf die nicht glaubwürdigen Gefühle der zwei sich liebenden Teenagern. Die wahre Liebe konnte in den Augen dieser Jugendlichen nicht transportiert werden. Es zeigte sich, dass für die Befragten die Liebe im Dialog zu wenig ausgedrückt bzw. ausdrücklich bestätigt wird: Die Gefühle des Liebespaares sollten sprachlich sichtbarer und hörbar sein, damit das Paar als glaubwürdig und authentisch wahrgenommen wird von der angesprochenen Altersgruppe: Ja vielleicht liegt es daran, an diesen kleinen Sachen, die viel ausmachen, es sind nicht große Sachen, die stören. (16, w)
4 | Der höchste Wert (85%) zeigte sich bei den 16-Jährigen. Bei den 17-Jährigen nimmt der Wert bereits wieder ab. Die Altersgruppen >=16 wurden zusammengefasst aufgrund einer zu niedrigen Probandenzahl.
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Also mit so Ausdrücken kann man schon viel herausholen, viel erreichen. Also wenn so steht ‚wir sind seit zwei Wochen am Rummachen‘. Dann ist klar, das ist nicht die große Liebe. (17, w) Ja, wenn es ernst ist, müssten sie sagen: ‚Ja, seit wir uns kennengelernt haben und uns so toll lieben‘. (17, w) Sie müsste erwähnen, wie sie es schön findet mit ihm, oder so was. Dann wird einem auch während der Geschichte bewusst, dass die sich wirklich lieben. (16, w) Die älteren Schülerinnen kritisierten auch eine Dominanz des Themas Sex gegenüber dem Thema Beziehung und Liebe im Comic. Die Themen „echte Liebe“ und „Beziehung“ kämen zu wenig zum Tragen: Es zeigt das Falsche, einfach das Wilde, so bohh, ich bin an einem Openair und muss möglichst viel erleben und möglichst schnell, und du musst nach zwei Wochen schon mit deinem Freund schlafen. (18, w) Wir wissen, dass es nicht nur um Sex geht (in der Beziehung), und dann kommt das komisch rüber. Hier geht es zu stark nur um Sex, Beziehung ist mehr als das. (16, w) Also wenn man jünger ist, gibt das ein falsches Bild. Wir wissen mehr und von uns steht bestimmt keine auf One-Night-Stands. Vielleicht ist es das Alter unter uns, 15-Jährige, die das anspricht, die finden das vielleicht cool. (17, w) Diese Meinung teilten die jüngeren Rezipientinnen nicht unbedingt. Sie beschrieben die Liebesgeschichte als romantisch und schön und nahmen keine Dominanz des Themas Sex in der Narration wahr. Dies zeigt, wie unterschiedlich ein und derselbe Inhalt aufgrund der eigenen Einstellung/ Meinung wahrgenommen und interpretiert werden kann. Die persönliche Relevanz des Themas ist mutmaßlich bei den 16- bis 18-Jährigen höher bzw. das Thema tangiert das eigene Leben bereits aktiv. Diese Bedeutsamkeit des Themas beeinflusst nicht nur die Verarbeitungsintensität, die ein konzentriertes Lesen und Verarbeiten ermöglicht, sie legt auch den Grundstein für ein kritisches Lesen sowie für ein schnelles Wahrnehmen von Ungereimtheiten und Störfaktoren. Die eigene Erfah-
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rung und die bereits gebildete Einstellung dem Thema gegenüber beeinflusst maßgeblich die Interpretation des Gelesenen mit. So haben die Schülerinnen eine klare Vorstellung davon, wie solche Szenen ablaufen sollten und welches Verhalten sie und ihre Freunde an den Tag legen würden. In diesem Sinne wird alles Nicht-Konforme sofort entdeckt und als störend empfunden. Die eigene Einstellung kann zu einer selektiven voreingenommenen Verarbeitung führen, die das nicht Einstellungskonforme dominanter erscheinen lässt, da der Blick darauf fokussiert liest. Diese Fokussierung beruht auf der im ELM beschriebenen Verteidigungsmotivation für die eigene Einstellung. Sie führt zu einer gerichteten Verzerrung der Verarbeitung, konsistent mit den vorhandenen Selbstüberzeugungen. Diese Beispiele zeigen erneut und diesmal aufgrund der Gruppenzugehörigkeit, wie aktiv der Rezipient als Person mit seiner Motivation und Einstellung und seinen Vorlieben die Verarbeitung und Wirkung des Comic-Inhaltes mitbestimmt. Es zeigt auch, wie wichtig es ist, sich bei der Produktion eines Comics mit der Zielgruppe auseinanderzusetzen und wenn möglich diese gar in den Entstehungsprozess mit einzubeziehen. Die Einbindung der Jugendlichen zeigte den Forschenden wie den Comic-Schaffenden doch immer wieder, wie unterschiedlich Interpretationen und Wahrnehmungen von Bildern und Texten ausfallen können. Oft liegt der Fokus des jugendlichen Betrachters aus Sicht der Erwachsenen auf nebensächlichen Details, denen ursprünglich keine Bedeutung geschenkt wurde, die nun aber plötzlich zu Diskussionsmittelpunkten avancierten. Diese nahe Begleitung und die offenen Ohren in den Diskussionen gewährten Einblicke in die Wahrnehmung und Interpretation von visuellen und textbasierten Botschaften und lieferten deutliche Hinweise darauf, was in der Umsetzung beachtet werden sollte, um eine hohe Akzeptanz des Comics zu erlangen und positive Verarbeitungsmechanismen zu fördern. Eine erfolgreiche Kommunikationssituation mittels Comics sollte dahingehend optimiert werden, um das Schicksal des Comics Synthetic Biology, das im folgenden Beitrag thematisiert wird, nicht teilen zu müssen. Er zeigt, was sich ereignen kann, wenn der Comic nicht auf sein Zielpublikum passt, und wie sensibel visuelle und textbasierte Botschaften vom Lesepublikum wahrgenommen werden.
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L ITER ATURVERZEICHNIS Blank, Juliane (2010): „Alles ist zeigbar? Der Comic als Medium der Wissensvermittlung nach dem icon turn“, in: KulturPoetik. Journal for Cultural Poetics 10 (2), S. 214–233. Cialdini, Robert B./Trost, Melanie R. (1998): „Social influence. Social norms, conformity and compliance“, in: Daniel T. Gilbert/Susan T. Fiske/Gardner Lindzey (Hg.), The handbook of social psychology, New York: Oxford University Press, S. 151–192. Dittmar, Jakob F. (2008): Comic-Analyse, Konstanz: UVK. Eisner, Will (2008): Comics and Sequential Art. Principles and practices from the legendary cartoonist, New York: W.W. Norton & Company, Inc. Felser, Georg (1997): Werbe- und Konsumentenpsychologie: Eine Einführung, Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Fischer, Lorenz/Wiswede, Günter (1997): Grundlagen der Sozialpsychologie, München: Oldenbourg. Grünewald, Dietrich (1982): Comics – Kitsch oder Kunst? Die Bildgeschichte in Analyse und Unterricht. Ein Handbuch zur Comic-Didaktik, Weinheim und Basel: Beltz. Hein, Michael (2002): „Zwischen Panel und Strip“, in: Michael Hein/ Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.), Ästhetik des Comic, Berlin: Erich Schmidt, S. 51–58. Jüngst, Heike E. (2010). Information Comics. Knowledge Transfer in a Popular Format, Frankfurt a. M.: Lang. Koeppler, Karlfritz (2000): Strategien erfolgreicher Kommunikation. Lehrund Handbuch, München: Oldenbourg. Mahne, Nicole (2007): Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. McCloud, Scott (2001): Comics richtig lesen, Hamburg: Carlsen. Mosler, Hans-Joachim (2000): Computersimulation sozialpsychologischer Theorien, Weinheim: Beltz. Nisbett, Richard/Borgida, Eugene/Crandall, Rick/Reed, Harvey (1976): „Popular induction. Information is not necessarily informative“, in: Daniel Kahneman/Paul Slovic/Amos Tversky (Hg.), Judgement under uncertainty. Heuristics and biases, New York: Cambridge University Press, S. 101–116.
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A BBILDUNGSNACHWEIS Alle Abbildungen entstammen den Vorarbeiten zum Comic Hotnights von Diego Balli und Urs Plüss, gezeichnet von Diego Balli (Entwürfe, Vorzeichnungen, Reinzeichnungen, kolorierte Bilder der Figuren). Der Sachcomic erschien 2012 im Schulverlag plus, Bern.
Das Abenteuer der Synthetic Biology Klippen und Fallen eines Sachcomics 1 Felix Keller, Dorothea Oechslin
Inwiefern lassen sich Comics zur Einführung von Neuem und Überraschendem verwenden – beispielsweise zur Einführung einer entstehenden, hochkomplexen Wissenschaft? Die Synthetic Biology stellt eine junge Wissenschaft in diesem Sinn dar, deren Konzepte außer für wenige Experten noch vollständig fremd klingen. Synthetic Biology manipuliert nicht nur genetische Informationen, wie es die bereits bekannte Biotechnologie vollzieht, sie nimmt für sich auch in Anspruch, neue biologische Entitäten durch eine Kombination aus Chemie, Biologie und Ingenieurstechniken zu erzeugen (Nature 2004). Noch vor wenigen Jahren hätten diese Möglichkeiten der Synthetic Biology nach futuristischen Technikfantasien geklungen. Entsprechend stehen die Promotoren der neuen Wissenschaft vor der Aufgabe, Fantasien und Befürchtungen, die mit dieser Wissenschaft verbunden werden, zu überwinden und die Öffentlichkeit von ihren Möglichkeiten zu überzeugen. Lassen sich neue wissenschaftliche Erkenntnisse, ihre Chancen und Risiken in der suggestiven Kraft der Comic-Sprache formulieren oder werden dann die Informationen von der Comic-Symbolik eigentlich „überrumpelt“? Das Forum Genforschung der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (im Folgenden SCNAT), eine Institution, die sich zum Ziel gesetzt 1 | Dieser Text beruht auf einem Artikel, der in Robert G. Weiner/Carrye Syma (Hg.): Essays on Graphic Novels, Comics and Education (McFarland & Company, Jefferson) erscheinen wird und auf einem Referat für die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz. Die Forschung wurde vom Schweizerischen Nationalfonds und der SCNAT mitfinanziert.
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hat, den Dialog zwischen Wissenschaften und Öffentlichkeit zu fördern, suchte nach Wegen, einer eher skeptischen Bevölkerung die neue Wissenschaft auf positive Weise zu vermitteln, um gerade auch Widerstände wie jene gegenüber der Gentechnologie zu verhindern. SCNAT stieß dabei auf einen Comic aus den USA. Er führt Studierende der Life Sciences in die Synthetic Biology ein und hatte in den USA große Aufmerksamkeit erhalten. Sein Titel ist Programm: Adventures in Synthetic Biology (Endy 2005). In den USA ist das Experimentieren mit wissenschaftlichen Comics zur Vermittlung komplexer Sachverhalte wie auch von wissenschaftlichem Wissen keineswegs unbekannt, wie selbst Nature in einem Artikel mit dem Titel Superheroes make physics fun. Comic books impart common sense and critical thinking schreibt: „Students are so busy enjoying their superhero ice-cream sundae that they don’t notice that I’m sneakily getting them to lower their guard and eat their spinach at the same time.“ (Gerstner 2003). Adventures in Synthetic Biology erhielt große Aufmerksamkeit auch weit über die USA hinaus und exzellente Kritiken als ein innovatives Projekt zur Vermittlung von naturwissenschaftlichem Wissen. Doch die Veröffentlichung und der geplante Einsatz des Comics im deutschschweizerischen Kontext führte zu harscher öffentlicher Kritik, die sogar zur Einstellung des Projekts führte, nachdem der Comic bereits übersetzt und gedruckt war. Diese gescheiterte Einführung eines Sachcomics bot Anlass zu einer Untersuchung der Rezeptionsweise von Sachcomics und den Klippen und Fallen, die bei der Wissensvermittlung via Comic lauern.
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Die kritische Aufnahme des Comics in der Schweiz erstaunt um so mehr, als dass die MIT Synthetic Biology Working Group um den Biologen Drew Endy viel Zeit und Mühe darauf verwendete, bessere Methoden zu finden, um Informationen über Synthetic Biology in einer einfach zu verstehenden Form zu kommunizieren. Das anvisierte Publikum der Initiative stellten zwar vornehmlich Life Sciences-Studierende dar, doch geplant war, dass der Comic allen an der Wissenschaft Interessierten die Methoden und das Potenzial der Synthetic Biology vorstellen sollte. Die Initianten des Comics versuchten dabei, traditionelle wissenschaftliche Repräsentationen umzugestalten. Denn klassische grafische Konzepte zur Einführung von Konzepten wie „common signal carriers“ (vgl. Abb. 1) zeigten schnell die
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Grenzen des Versteh- und Nachvollziehbaren auf, zumindest für Außenstehende. So visualisierten beispielsweise die MIT-Wissenschaftler einen genetischen Konverter, entscheidender Bestandteil der Synthetic Biology, wie in Bild 1 dargestellt, um alsbald zu erkennen, dass ihnen das Publikum bei dieser Abbildung nicht zu folgen vermochte. Abbildung 1: „Abstract depiction of genetic inverter“
Quelle: http://openwetware.org/wiki/Adventure_Background
Bei der Diskussion der Frage einer besseren Visualisierung der Synthetic Biology tauchte die Idee auf, nicht nur auf statistische Bilder oder Schautafeln zurückzugreifen, sondern auch ein Narrativ einzuführen. Die Möglichkeit der Kombination von Visuellem und Narrativem ließe sich am ehesten durch einen Comic verwirklichen, so lautete die Idee. Drew Endy selbst erstellte die erste Skizze von Adventures in Synthetic Biology, die dann von ihm, Isadora Deese und dem Comic-Zeichner Chuck Wadey weiterentwickelt wurde. Chuck Wadey empfahl auch, ein einführendes Kapitel hinzuzufügen, um Studierenden und interessierten Laien darüber hinaus Grundgehalte der Wissenschaft zu vermitteln.2 Letztendlich entstand ein handgezeichneter Sachcomic im Stile eines konventionellen amerikanischen Abenteuercomics, mit Sprechblasen, Onomatopöien und allen anderen typischen Comic-Elementen. Ungeachtet der Tatsache, dass sein primäres Ziel den Wissenstransfer darstellt, enthält er auch fiktionale 2 | Die Geschichte und der Hintergrund des Sachcomics sind auf: http://open wetware.org/wiki/Adventure_Background dargestellt.
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Elemente. Der Comic erzählt die Geschichte eines wissbegierigen Jungen namens Dude (mit Gesichtszügen von Drew Endy), der sich für Synthetic Biology interessiert, aber noch nichts über die neue Wissenschaft weiß. Unter den kritischen Augen einer erfahrenen Wissenschaftlerin beginnt er, mit den neuen Techniken zu experimentieren. Die mütterlich wirkende Mentorin erklärt ihm den Hintergrund seiner Experimente, erläutert die Prinzipien eines genetischen Konverters, zeigt ihm, wie genetische Module korrekt gekoppelt werden, führt ihn in die Kunst des DNA-Programmierens ein. Die ersten Experimente gehen allerdings schief, die produzierten Gegenstände explodieren, aber allmählich begreift Dude die Prinzipien der Wissenschaft, und er enthüllt seine Fähigkeiten als talentierter Wissenschaftler. Schlussendlich erzeugt er eine Art genetisch betriebenen Ballon, der sein Gas selbst produzieren kann. Diese neue Lebensform stellt, so erfahren die Lesenden, nur einen ersten Schritt hin zu künstlichen Organismen dar, die der Menschheit dienen können, wie etwa insulinproduzierende Zellen für zuckerkranke Menschen. Abbildung 2: Die Mentorin unterstützt Dude beim Lernen
Quelle: Endy et al. (2007: 3/8)
Die Geschichte wie die visuellen Darstellungen leben von Comic-spezifischen Überzeichnungen: Bakterien erscheinen als große Tiere, über-
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mächtige Spritzen gelangen zur Verwendung, eine Reise ins Zellinnere wird gezeigt, ein Knabe findet als wissenschaftlicher Superhero den Schlüssel zu einer neuen Wissenschaft, welche die Menschheit vorwärtsbringen wird. Die Idee dahinter war, dass Studierende der Life Sciences Zugang zur neuen Wissenschaft durch diesen Comic erhielten. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten: Das Projekt erregte schnell über die engere Fachwelt hinaus Aufmerksamkeit. Der Comic wurde in Nature Nr. 238 (2005) ausgiebig vorgestellt und erhielt dort einen Ehrenplatz auf der Titelseite (Endy 2005). So wurde auch die SCNAT auf den Comic aufmerksam. Die Akademie sucht nach Wegen, das weitgehend unbekannte3 „Thema Synthetic Biology gegenüber der Öffentlichkeit bekannt machen zu können“, so ein Vertreter von SCNAT4, „und eines unserer wichtigsten Zielpublikum sind die Jungen. Es ist eine neue Entwicklung und die Jungen werden sich damit auseinandersetzen müssen.“ Der Comic erschien in der Vorstellungswelt der Wissenschaftler unmittelbar einleuchtend als das geeignete Medium: „[…], bei dem man davon ausgehen kann, dass diese Zielgruppe, die 16- bis 25-Jährigen, in erster Linie mal sehr stark auf dieses Medium anspringen wird, also dass man eine Hemmschwelle überschreiten kann, um sich mit diesem Thema auseinandersetzen zu können.“ Ungeachtet seines ursprünglichen Verwendungskontextes im universitären Unterricht erachtete die SCNAT es als Chance, die neue Wissenschaft in der Schweiz einem breiteren Publikum vorzustellen. Dabei sollte der Sachcomic telquel übernommen werden, ohne visuelle oder erzählerische Modifikationen – wahrscheinlich gerade aufgrund des großen Renommees, das die Publikation durch die Adelung einer ausführlichen Präsentation in Nature erhalten hatte. Allerdings sprachen auch mögliche Friktionen mit dem Copyright gegen eine Modifikation des ursprünglichen Comics. Lediglich der Comic-Text wurde vom amerikanischen Englisch ins Deutsche und Französische übersetzt. An einem Medienevent im Rahmen einer Tagung
3 | In einer Befragung der europäischen Bevölkerung antworteten ganze 83 Prozent, dass sie noch nichts von Synthetic Biology gehört hätten; 8 Prozent gaben an, dass sie den Begriff immerhin kennen, und lediglich 8 Prozent meinten, dass sie sich schon damit befasst hätten (Gaskell 2010: 29). 4 | Interview mit Stefan Nussbaum, Forum Genforschung der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) vom 26.06.2009.
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zur Synthetic Biology an der ETH in Zürich wurden die Abenteuer im Reich der Synthetic Biology einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt.
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Freilich, ganz entgegen den Erwartungen der Schweizer Initianten, ließ sich der Erfolg des Comics in der Schweiz nicht replizieren. Vielmehr wurde Abenteuer im Reich der Synthetic Biology zwar von den Medien sehr wohl wahrgenommen, aber keineswegs freundlich aufgenommen, sondern teils sogar harsch kritisiert (Hofmann 2008). Die Schweizer Wochenzeitung WOZ, die ein linkes, progressives Publikum anspricht, kritisierte die Naivität, mit der mit künstlichem Leben experimentiert wird. Der Comic töne die Gefahren der Biotechnologie nicht einmal an. Der Artikel vergleicht den Comic mit Goethes Zauberlehrlingsballaden, der ein positives Ende aufgepflanzt worden sei. Die systematischen Gefahren der neuen Wissenschaft würden so mit „kaltschnäuziger Nonchalance“ negiert (Hänggi 2007). Selbst die etablierte, bürgerliche Tageszeitung Der Bund, die dem Comic im Ressort „Wissen“ einen prominent aufgemachten Artikel widmete, sprach klare Worte: „Dieser Versuch ist fehlgeschlagen“ eröffnete sie ihren Artikel über den Comic. Es komme angesichts des Comics „Unbehagen“ auf gegenüber der neuen Wissenschaft. Die Zeitung spricht von einem „unbedarften Umgang“ mit der Thematik, mit dem Bild „lustiger Forschung“, das der Comic vermittle, habe die SCNAT das Ziel klar verfehlt: Der Autor erachtete es als höchst unglücklich, auf diese Weise eine Diskussion über einen solch „heiklen“ Gegenstand zu eröffnen, das heißt wohl auch, solche komplexen und ernstzunehmenden wissenschaftlichen Fragen überhaupt durch einen Comic und seine Sprachmittel zu thematisieren und zu visualisieren (Imhasly 2007). Diese Kritik wurde eigentlich übertroffen durch die Boulevardzeitung Blick (Kohler 2007). In fetten Headlines wurde angekündigt: „GenForscher werben mit Monstern: Der Gentech-Comic: Am Schluss platzt das Monster – und der Traum vom witzigen Umgang mit dem Thema auch“. Es wird ein Sprecher von Greenpeace zitiert, der meint, dass ihn dieser Comic „völlig ratlos“ zurücklasse, der Comic mache sich eigentlich über die „berechtigten Ängste der Leute vor der Gentechnik“ lustig.
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Angesichts der massiven öffentlichen Kritik an der Publikation des Comics beschloss die SCNAT, das Projekt abzubrechen, und das Heft nicht an die Zielgruppe, schweizerische Jugendliche in beiden großen Sprachregionen (deutsch- und französischsprachig), zu verteilen. Dafür sollten die Ursachen der – aus der Perspektive von SCNAT – erfolgten Fehlrezeption untersucht werden. Insbesondere stellte sich die Frage, ob die Wahrnehmung des Comics nur in den Medien negativ war oder in der Tat der Comic auch bei der Zielgruppe negativ aufgenommen würde, und was die genaueren Ursachen dieser Fehlkommunikation sein könnten. In diesem Sinne wurde eine Untersuchung in Auftrag gegeben, über die nachfolgend berichtet wird. Abbildung 3: Artikel der Tageszeitung Blick zu Abenteuer im Reich der Synthetic Biology (Ausschnitt)
Quelle: Blick vom 13. Juni 2007
E INIGE REZEP TIONSTHEORE TISCHE V ORÜBERLEGUNGEN ZUM S ACHCOMIC Dass Comics sich zur Informationsübermittlung einsetzen lassen, wird in diesem Sammelband mehrfach gezeigt und begründet. Selbst die Klassiker der Comic-Theorie verweisen auf die Potenziale des Comics in dieser Hin-
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sicht.5 Indem der Comic visuelle und textuelle Formen miteinander kombiniert, so Eisner, stellt der Comic aber nicht einfach weniger, sondern unter Umständen auch besonders hohe Anforderungen an das Interpretationsvermögen des Lesers (Eisner 2008: 2) respektive an seinen Willen, seine „Skills“ auch einzusetzen (vgl. den Beitrag von Oechslin). Damit verbunden ist auch die Frage, welche Interpretationskompetenzen die Rezipienten bei der Lektüre eines Sachcomics zur Dechiffrierung des darin enthaltenen Wissens einsetzen. Gerade hinsichtlich einer potenziell heiklen, politisch und moralisch aufgeladenen Thematik (Manipulation des Lebens im Falle der Synthetic Biology), erweist sich die Frage als zentral, wie die reichhaltigen Verweise, die Bildgeschichten enthalten, aufgenommen und von den Lesenden verarbeitet werden. Oder anders gesagt: Es stellt sich die Frage, welche Lektüreweisen gerade nicht unter der Kontrolle respektive nicht in der Vorhersehbarkeit der Autoren und Herausgeber liegen, so wie im vorliegenden Fall bei der öffentlichen Rezeption von Adventures in Synthetic Biology. Wie könnten diese Konflikte zwischen den Herausgebern (des Comics und ihrer Intention) und der Rezeptionsweise entstanden sein? Roland Barthes hat in seinem Text zur Rhetorik des Bildes auf die Bedeutung der sprachlichen Elemente in Bildern zur Fixierung von Bedeutung in Bildern, die stets instabil bleibt, hingewiesen (Barthes 1990: 34f.): Barthes sieht Bilder selten in reiner Form vorkommen; vielmehr läge meist eine hybride Bild-Text-Kombination vor. Bilder vermöchten dabei immense Informationsmengen zu speichern. Der Text verankere wiederum einerseits Bilder in einem bestehenden Bedeutungshorizont (nicht nur bei der Bilderunterschrift) und füge andererseits isolierte Bildbestände zu einem größeren Ganzen zusammen (Relay-Funktion, beispielsweise im Comic). Gerade der Comic liefere hier auch die Möglichkeit einer schnellen Lektüre: Die langweiligen Beschreibungen würden an das Bild delegiert, während der Text die Botschaft vorantreibe. Entscheidend ist für Barthes jedoch, dass Bildwissen und diskursives Wissen auf irgendeine Weise balanciert werden respektive die Komposition dieser Dimensionen selbst enorm hohe Gestaltungsansprüche stellt. Denn Verbindungen dieser Dimensionen ergeben keine bedeutungsmäßig fixierbare Einheit, viel5 | Vgl. McCloud mit seinen theoretischen Werken über Comics, die er als Sachcomics produzierte (Understanding Comics 1993; Reinventing Comics (2000); Making Comics (2006) sowie bspw. Eisner [2008: 151–155].
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mehr eröffneten sich verschiedene Bedeutungshorizonte durch verschiedene Lektüreweisen. Zudem beinhalte jede Lektüreweise einen Rest an Bedeutungsmöglichem, der in der aktuellen Lektüre nicht enthalten sei und in einer anderen Lektüre aufgegriffen werden könne. Aber diese unterschiedlichen Lektüreweisen seien keineswegs „anarchisch“, sondern hingen vielmehr „von den unterschiedlichen, auf das Bild angewendeten Wissensarten ab“ (Barthes 1990: 41). Das heißt auch hier, die Lesenden sind selbst aktive Rezipienten, welche die Bilder durch eine selbst konstruktive Tätigkeit zu einem Bedeutungshorizont zusammenfügen. Dabei besäße ein Individuum spezifische Wissensreservoire zur Interpretation der Bilder. Barthes nennt sie Lexiken. Sie vereinen Bedeutungen der Bilder, Bildelemente und Zeichen im Gedächtnis zu einem sinnhaften Zusammenhang (Comic-Sprache, Genforschung). Doch ein Individuum verfüge meist nicht nur über ein Lexikon zur Interpretation einzelner Symbole, sondern ein Individuum könne je nach Situation unterschiedliche Lexiken aktivieren und zur Interpretation derselben Bilder und Zeichen heranziehen. Ein Element im vorliegenden Sachcomic kann als spezifische Comic-Sprache interpretiert werden, wie sich zeigen wird, oder als Ausdruck des Umgangs der Gentechnik mit dem Leben, je nachdem welches Lexikon zur Verfügung steht oder aber herangezogen wird. Könnte es also sein, dass die Verbindung von textuellen Funktionen und Bildern im vorliegenden Fall gerade das Gegenteil bewirken, dass sie sich nicht zu einem stimmigen „Bedeutungsregime“ ergänzen, das reichhaltige Aussagenformen zulässt, sondern diese Dimensionen sich in ihrer Aussageleistung gegenseitig dekonstruieren, unter anderem weil sie verschiedene Lexiken aktivieren? Oder anders ausgedrückt: Welche Lexiken werden aktiviert, wenn Bilder in das Spannungsfeld von Wissenschaft, Ökonomie und Leben eingreifen, durch das „hindurch“ die Bilder zweifelsohne gesehen werden (Hall 1997).6 Und wie kommt es, dass so unterschiedliche Lexiken aktiviert werden, um die Informationen zu verarbeiten? Auf welche Weise entstehen Verstärkungen, Brüche, Kontradiktionen?
6 | Wie umstritten das Feld ist, zeigen nicht zuletzt die Ausführungen des Federal Ethics Committee on Non-Human Biotechnology ECNH: http://www.ekah.admin. ch/en/topics/synthetic-biology/index.html.
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Diese theoretischen Überlegungen, die auch an die Ausführungen in Oechslins Beitrag über den aktiven Rezipienten anschließen, lassen denn den Fokus der Untersuchung auf die Prozesse der Inhalte, der Konstruktion von Bezügen, der Aktivierung von Wissen bei der Lektüre-Arbeit richten. Weil dasselbe Bild oder dieselbe Bildsequenz unterschiedliche Lektüreweisen ermöglicht, zu einer Lektüre immer Alternativen vorstellbar sind, und weil gerade unterschiedliche Interpretationen zum Konflikt um den Comic führten, interessierten in der Untersuchung vornehmlich Unterschiede in den Lektüreweisen. Angesichts der medialen Rezeption fragt es sich konsequenterweise, weshalb der Comic in den amerikanischen Publikationen so anders aufgenommen wurde. Zudem lässt sich die Vermutung aufstellen, dass der Comic, an Life Sciences-Studierende gerichtet, eine Kluft in der Rezeptionsweise zwischen fachlich versierten Personen und Laien öffnet, die andere „Lexiken aktivieren“, oder aber eine Kluft zwischen jenen, die die spezifische Sprache des Comics realisieren und jenen, die es nicht tun. Um zu erfahren, woran die Kommunikation offensichtlich scheiterte, präzisierten wir die Fragen: 1.
Inwiefern stellt die kritische Darstellung in den Medien eine Variante der möglichen Rezeptionsweise des Comics dar? Welche Rezeptionsweisen sind bei einem jugendlichen Zielpublikum beobachtbar? Sind sie deckungsgleich? 2. Wie gestaltet sich die Lektüre im vorliegenden Comic bei Experten a) einerseits aus dem Bereich Visuelle Kommunikation/Graphic Design, und b) andererseits aus dem Bereich Naturwissenschaften? 3. Inwiefern bestehen kulturelle Unterschiede, die bei der Lektüre des Comics eine Rolle spielten, i. e. inwiefern lässt sich ein Unterschied zwischen Herkunftskultur des Comics und der deutschsprachigen Rezeption erkennen? Es ist wenig bekannt über die Wirkungsweise von Sachcomics. Wir konnten bei der Untersuchung dieser Fragen auf keine Forschung zurückgreifen, die sich in der Form schon mit diesen Aspekten auseinandergesetzt hat. Wir wollten deshalb in einem ersten Schritt die Prozesse
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verstehen, die überhaupt erst die Barrieren zur Wissensvermittlung durch Comics öffnen respektive versperren. Wir gingen aber nicht davon aus, dass diese Lektüreweise und die Aktivierung von Lexiken bei der Lektüre gegenwärtig sind, sondern sich teils erst artikulieren, wenn sie in Kontrast zu anderen möglichen Lektüreweisen stehen. Deshalb zogen wir eine traditionelle Methode der Kommunikations- und Sozialforschung heran, die Focus Groups (Gruppendiskussion), die sich dazu eignet, nicht unmittelbar Gegenwärtiges über eine Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven und Wahrnehmungen zu artikulieren. Bei der Gruppendiskussion handelt es sich um eine moderierte qualitative Datenerhebungsmethode, die durch Interaktionen ihrer Gruppenmitglieder Daten gewinnt (Lamnek 2005). Die Methode diente uns so als Instrument, ein möglichst großes Wahrnehmungs- und Einstellungsspektrum zu erheben. Focus Groups erschienen uns geeignet, weil sich Personen eher ihre Kritik und ihr Unverständnis zu formulieren getrauen, wenn sie erkennen, dass sie damit nicht alleine sind. Dies schien uns bei der vorliegenden Untersuchung einen unabdingbaren Vorteil darzustellen. Einzelinterviews versetzen die Interviewten in eine prüfungsähnliche Situation, die hier unbedingt zu vermeiden war, weil sie droht, Verständnisprobleme zu individualisieren, sie als persönliches Nichtverstehen zu deklarieren. Der Gruppendialog fördert auch die gegenseitige Anregung zu offenen Beiträgen, spontanen Äußerungen und Reaktionen auf bereits Gesagtes (Bloor et al. 2001; Schäffer 2005). Das Ziel war, Kommunikations- und Verständnisprobleme zu erheben, ohne auf unsere A-priori-Urteile über das Scheitern des Comic-Projekts zurückgreifen zu müssen, die beispielsweise bei der Fragebogenentwicklung standardisierter Interviews vonnöten gewesen wären. Wir wollten schlicht die Dimensionen des Wahrnehmens, der Informationsverarbeitung und der aktivierten Lexiken erkennen können. Die generelle Methode der Focus Groups musste aber zunächst an unsere Fragestellung angepasst werden. Die Auswahl der Focus Groups sollte, wie oben dargelegt, ein möglichst großes Feld von Einschätzungen und Wahrnehmungsmustern aufzeigen und nicht ein statistisches Abbild des Durchschnittsmenschen liefern. Aufgrund dieser Überlegungen wurden vier Focus Groups festgelegt, die sich in Bezug auf relevante Aspekte/ Merkmale zum zu untersuchenden Sachcomic unterscheiden, um die spezifischen Klippen und Fallen erkennen zu können. Zu den relevanten Dimensionen, die Wissensvermittlung ermöglichen oder aber Wahr-
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nehmungsbarrieren errichten, zählten wir einerseits die Qualitäten des Comics als Medium und zum anderen die Qualität des zu vermittelnden Sachwissens. Des Weiteren wurde unterschieden zwischen Zielgruppe mit verschiedenen Affinitäten und Experten in diesen Bereichen: So konnte die Wahrnehmung der Zielgruppe direkt beobachtet werden, während wir von der Expertengruppe erwarteten, dass sie Klippen und Fallen präzise und vor dem Hintergrund ihres Wissens auch zu artikulieren vermögen. Es ergab sich ein Untersuchungsdesign mit einer Matrix, die unterscheidet zwischen „Experte/Zielgruppe“ und „künstlerisch-grafisch und naturwissenschaftlich orientiert“. Tabelle 1: Zusammensetzung der vier Focus Groups Naturwissenschaften
Visuelle Medien/Grafik
Zielpublikum, 16bis 18-Jährige
Gymnasiasten mit Schwerpunkt Biologie/Chemie
Gymnasiasten mit Schwerpunkt Bildnerisches Gestalten
Experten
Biologen, Ingenieure
Grafiker, Werber
Kontrastgruppe
Studierende des Monterey Institute of International Studies in Kalifornien
Aus dieser Unterteilung resultierten folgende Interviewgruppen aus der deutschsprachigen Schweiz (vgl. Tabelle 1): a) Gymnasiasten (Zielgruppe) mit Schwerpunktfach Biologie/ Chemie b) Expertengruppe, bestehend aus Biologinnen und Ingenieuren; zeichnen sich durch ihr Vorwissen und ihr persönliches Interesse am Thema aus. c) Gymnasiasten (Zielgruppe) mit Schwerpunktfach Bildnerisches Gestalten d) Experten im Bereich visuelle Kommunikation/Gestaltung; zeichnen sich durch ihr fachlich-gestalterisches Wissen und das Interesse an visueller Kommunikation aus. Die Frage, inwiefern das Wissen der spezifischen visuellen Kultur in den USA, der dieser Sachcomic entstammt, ihn auch anders interpretieren und verstehen lässt, führte dazu, das Design mit einer US-amerikanischen Kontrastgruppe zu erweitern, um auch die Frage der spezifischen Rezep-
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tionskultur zu integrieren. Eine Kooperation mit dem Monterey Institute of International Studies in Kalifornien ermöglichte dies: Acht amerikanische männliche und weibliche Studierende mit unterschiedlichen Studienrichtungen diskutierten über die amerikanische Originalausgabe Adventures in Synthetic Biology. Die Größe der Focus Groups lag bei sechs bis neun Teilnehmern. Die Zahl der Diskutanten liegt idealerweise in diesem Bereich, damit sich alle Gruppenmitglieder noch angesprochen fühlen und motiviert bleiben mitzudiskutieren. Die Methode verlangt moderierte Diskussionen. Die Aufgabe des Moderators besteht darin, eine angenehme und freundliche Gesprächsatmosphäre zu schaffen, so dass die Diskutanten ungehemmt und offen ihre Meinungen einbringen und die künstliche Laborsituation in den Hintergrund tritt und eher die Mechanismen eines Alltagsgespräches zum Tragen kommen. Die Moderation sorgt auch dafür, dass zurückhaltende Teilnehmer zu Wort kommen oder Vielredner sich zurücknehmen müssen (Lamnek 2005: 141ff.). Der Moderator bringt einige wichtige Fragen/Aspekte in die Diskussion ein (gemäß einem Leitfadeninterview), um die Aussagen der Gruppen auch vergleichbar zu machen, lässt aber den Redefluss wenn möglich ungebrochen, so dass sich Fokusthemen generieren und Themenschwerpunkte frei bilden können. Gegen Ende der Diskussion können nochmals gezielt Fragen gestellt werden, die unbeantwortet blieben. Die Analyse erfolgte gemäß dem üblichen Vorgehen in der qualitativen Datenanalyse, orientiert an der grounded theory (Strauss/Corbin 1997). Dies bedeutet, dass wiederkehrende Argumente, Muster von Feststellungen, Erfahrungen, Einschätzungen, die in den Gesprächen geäußert werden, identifiziert und herausgehoben werden. Diesem Prozess des offenen Codierens folgt eine Phase des axialen Codierens, mittels dessen die hervorgetretenen ähnlichen Äußerungen zu umfassenderen, deutbaren Kategorien zusammengefasst werden. Es wird keine bestehende Theorie auf das Material angewandt (in diesem Fall, hinsichtlich der Rezeption von Sachcomic, existiert sie gar nicht), sondern es wird versucht, im Material begründet („grounded“) theoretische Aussagen herauszudestillieren, die einen allgemeineren Charakter haben als die einzelnen Äußerungen, und die helfen, die Erläuterungen der Personen zu verstehen. Zunächst soll aber auf die globale Einschätzung des Comics eingegangen werden.
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A LLGEMEINE E INSCHÄTZUNG :
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Bei der Arbeit am Material treten unter Umständen Dimensionen und Zusammenhänge hervor, die anhand des Materials nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind oder erwartet würden. Bilder beinhalten stets Bedeutungsreste, die nicht in der vorhergesehenen Wahrnehmung aufgehoben sind, wie mit Barthes schon gesagt wurde, Bedeutungsreste, die in anderen Lektüren unversehens relevant werden. Das folgende Beispiel zeigt eine solche für die Forschenden wie auch für die Herausgeber wohl unerwartete Interpretation respektive es zeigt, auf welche Weise dasselbe Signal unterschiedlich verarbeitet wird: Es handelt sich um die Brille, welche die mütterlich wirkende Mentorin trägt. Diese Brille stellte ein zentrales, stetig wiederkehrendes Moment der Wahrnehmung des Comics dar. Die Brille ist verspiegelt, was verhindert, dass man ihre Augen sieht. Zudem besitzt die Brille keine Bügel, es ist, als ob sie direkt mit dem Gesicht verbunden sei. Gerade diese Spiegelbrille, an sich ein bedeutungsloses Detail hinsichtlich der Vermittlung der Geschichte und des Wissens, beschäftigte jedoch die deutschsprachigen wie die amerikanischen Diskutierenden, Experten und Gymnasiasten. Hier einige Statements aus der amerikanischen Gruppe: And then her eyes. I didn’t even notice it. But first I thought they were glasses but they … (Julie, graduate student, U.S.) They’re glasses. (Jenny-Rose, graduate student, U.S.) No, they’re not. There’s no connection to her ears. (Julie, graduate student, U.S.) Abbildung 4: Die verspiegelte Brille als „Stein des Anstoßes“
Quelle: Endy et al (2007: 12/4)
Eine Teilnehmerin der Grafiker-Gruppe wundert sich:
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„Und sie hat irgend so Watterondellen oder sonst was auf den Augen, das weiss ich nicht, und ich versuche die ganze Zeit herauszufinden: Was spielt denn das eigentlich für eine Rolle da drin?“ (Anna, Grafikerin, CH) Desgleichen zeigt sich bei einer Gymnasiastin Verblüffung: Ja, dass die Frau eben nur so zwei weiße [Scheiben] eine Art wie Brillengläser hat, eigentlich mega komisch. Sonst würde sie viel netter aussehen. (Lisa, Gymnasiastin, Schwerpunkt Bildnerisches Gestalten, CH) Entscheidend ist, dass bereits diese Verwirrung über die Brille, das Unvermögen, ihr seltsam erscheinendes Äußeres deuten zu können, zu Formen der Ablehnung, ja Aversion gegenüber der Figur (und ihren Schöpfern) führen kann, wie folgende Ausschnitte der Gespräche zeigen. So wurden in der Experten-Gruppe der Biologen/Ingenieure folgende Statements geäußert. Auch die Brille zum Beispiel, die diese Frau an hat, warum kann man der nicht in die Augen schauen, das ist so … (Beatrice, Biologin, CH) Sie ist selber synthetisch, fast ein Roboter. (Claudia, Biologin, CH) Der Gesichtsausdruck von ihr auf Seite 9 unten, das ist dann eher wieder der böse Blick. (Stefanie, Biologin, CH) Dass man die Augen nicht sehe, befremde sie, die ganze Szene wirke dann „so anonym“ auf sie, sagte wiederum Heidi, eine Grafikerin, und eine Gymnasiastin meinte: Es kommt mir etwas negativ, ein bisschen bösartig rüber, das Ganze auch. Es hat auch, weil man bei dieser Frau jetzt keine Augen sieht. Ja, für mich hat es etwas Böses an sich. (Seline, Gymnasiastin, Schwerpunkt Bildnerisches Gestalten, CH) Doch die Irritation über die Brille, wie sie von der deutschsprachigen wie auch US-amerikanischen Gruppe wahrgenommen wurde, traf auf unterschiedliche Wissenshorizonte und wurde so unterschiedlich verarbeitet. Es zeigte sich erwartungsgemäß, dass, trotz der Rede von der globalen Sprache des Comics, in der US-Gruppe die Akzeptanz des Comics generell viel
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höher lag als bei den deutschsprachigen Untersuchungsteilnehmern. In der amerikanischen Gruppe wurde der Comic sogleich als Teil ihrer Kultur (Kulturgut) anerkannt: It’s a format that we’ll recognize, at least here in America, we recognize the format, we recognize the genre … I believe they are an integrated part of the American society, they are part of our culture. (Sesia, College-Student, U.S.) Und eine amerikanische Studentin, die mit elf Jahren aus dem Libanon in die U.S. immigrierte, bemerkte, dass sie aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes das Medium Comic und dessen Sprache nicht verinnerlicht hatte, im Unterschied zu den amerikanischen Jugendlichen. I never grew up with comics until I came to the U.S. and that’s when I was introduced to it. But I never got into it because I felt there was a gap between my cultural knowledge and the knowledge here. There would be jokes, and I would think, ‚Wait, that’s funny? I don’t get it.‘ That was a demotivating factor for me. So I just kind of never got into comics. But I’m a science person so when I saw the title I thought this should be interesting. (Meray, College-Studentin, U.S.) In den deutschsprachigen Gruppen schlug dem vorliegenden Comic viel mehr Skepsis entgegen, selbst wenn die Idee an sich positiv beurteilt wurde. Typische Statements lauteten etwa: Ich finde Comics … eine gute Art, um so komplexe Themen zu erklären, das finde ich jetzt einfach ein schlechtes Beispiel. (Beatrice, Biologin, CH) Ich glaube, dass das richtige Mittel gewählt wurde, aber nicht unbedingt die Sprache. (Réne, Werber) Hab sowieso das Gefühl, mit Comics kann man nicht wirklich was vermitteln, weil Comics ist einfach Freizeit, Spaß und Fiktion. (Pascal, Gymnasiast, Schwerpunkt Bildnerisches Gestalten, CH) Wesentlich ist nur, dass die unterschiedliche Einschätzung des Comics auch darauf Einfluss nahm, auf welche Weise das irritierende Bild der Brille weiterverarbeitet wurde. In der deutschsprachigen Gruppe wurde das Befremden unmittelbar auch auf die Person, auf den Comic übertra-
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gen. Dies galt aber nicht für die US-amerikanische Gruppe, welche die Brille eher als zeichentechnisches Malheur betrachtete, nicht aber daraus eine Aussage über die Figur der Mentorin oder gar des Comics ableitete. Dieses Beispiel, so lässt sich schließen, legt bereits zwei Einsichten nahe: Selbst kleine Details, denen beim Produktionsprozess kaum besondere Aufmerksamkeit zugemessen wurde, können ausschlaggebende Wirkung entfalten.7 Wie mit den irritierenden Informationen umgegangen wird, hängt auch von den Lexiken ab, die zur Verfügung stehen und auch bei der Lektürearbeit herangezogen werden, so lässt sich annehmen. Diese Evidenz unterstützt auch ein weiteres, hier vorgestelltes Ergebnis: die Generationen-Unterschiede. Bei den Generationenunterschieden zeigt sich ebenfalls deutlich, auf welche Weise die Interpretation einer Botschaftsebene einen aktiven Prozess darstellt, der von Lexiken abhängig ist, die den Lesenden zur Verfügung stehen, oder welche die Lesenden verwenden wollen. Gymnasiasten interpretieren diese Bilder in Bezug auf das Medium selbst; sie vermochten die Comic-spezifische Sprache zu erkennen und zu kontex7 | Die verspiegelte Brille wurde indes in einem anderen kulturellen Milieu, im Cyberpunk-Movement, geradezu zum Kult stilisiert. Eine Anthologie aus paradigmatischen Texten, zusammengestellt vom SF-Autor Bruce Sterling, integrierte dieses Icon sogar in den Titel eines Sammelbandes: Mirrorshades. The Cyberpunk Anthology; auf dem Cover des Buchs prangt ein Gesicht mit verspiegelter Brille (Sterling 1986). Das entscheidende Merkmal der Brille im Cyberpunk ist, dass sie nicht konventionell getragen wurde, sondern als Prothese mit dem Gesicht verwachsen war (die Person wird dadurch selbst zu einer neuen Lebensform, einem „Cyborg“). William Gibson, der das Motiv der verspiegelten Brille auf vielfältige Weise in seinen Romanen aufgenommen hatte, schrieb in einer Einleitung dazu: „Attention, academics: the city-avatars of City are probably the precursors both of sentient cyberspace and of the AIs in Neuromancer, and, yes, it certainly looks as though Molly’s [ein Hauptcharakter in Gibsons frühen Romanen] surgically-implanted silver shades were sampled from City’s, the temples of his growing seamlessly into skinstuff and skull (Shirley himself soon became the proud owner of a pair of gold-framed Bausch & Lomb prescription aviators: Ur-mirrorshades)“ (Gibson 2001:1). Mit anderen Worten gesagt: hier könnte ein Icon aus der Jugendkultur der Comic-Autoren eingeflossen sein, dessen Bedeutung nun nicht mehr erkannt wird und das statt als Kult nur noch als Fehlkonzeption erscheint.
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tualisieren, womöglich weil sie aufgrund ihrer Sozialisation sich schon eher mit der Comic-Welt auseinandergesetzt hatten und der jugendliche Konsum von Comics biografisch noch näher liegt. Handkehrum besteht die Möglichkeit, dass die erwachsenen Diskutanten das als jugendsprachlich erscheinende „Comic“-Lexikon, das sie selbst zwar internalisiert haben, angesichts des Gegenstandes schlicht nicht heranziehen wollten, weil die ernste Angelegenheit der Synthetic Biology ihrer Ansicht nach nicht in dieser Art dargestellt werden sollte (vgl. die Ergebnisse weiter unten). Von den Gymnasiasten wurden die Bilder dagegen als unterhaltend beschrieben. Die in den diskutierten Medienbeiträgen als brutal beschriebene Manipulation am Leben erachteten sie als eine Darstellungsform, die dem Medium Comic entspricht. Selbst das Bild mit dem explodierenden Bakterium, von dem seitens der SCNAT befürchtet wurde, dass es den Ausschlag gab für die Ablehnung des Comics und das in der Zeitung Blick gleichsam als visuelles Zeugnis der misslungenen Kommunikationsform herangezogen wurde, betrachteten die Jugendlichen als eine spezifische Ausdrucksweise des Comics. Ich finde auch, wenn es jetzt nicht wäre mit Platzen und so, dann wäre es noch langweiliger. (Lisa, Gymnasiastin, Schwerpunkt Bildnerisches Gestalten, CH) Einen Comic liest man ja auch, weil alles völlig maßlos übertrieben ist, deshalb hat es mich auch überhaupt nicht gestört, dass das jetzt hier platzt und so. (Luca, Gymnasiast, Schwerpunkt Bildnerisches Gestalten, CH) Die erwachsenen Schweizer Experten hingegen interpretierten die Bilder vor dem Hintergrund der in der Schweiz „aufgeladenen“ Thematik Genforschung: Die Bilder werden als bedrohlich und abschreckend bezeichnet. Das ist ja außerordentlich negativ, würde ich jetzt nie machen. Ich würde ja gern vom Thema ablenken und nicht noch aufblasen und platzen lassen. (Réne, Werber, CH) Diese Chromosomen-Spritze, die finde ich absolut abschreckend. (Stefanie, Biologin, CH) Die amerikanische Focus Group wiederum beurteilte die Bilder mehrheitlich rückbezogen auf das Medium und dessen Sprache, das heißt die
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Jugendlichen und die amerikanischen Rezipienten hatten die spezifische Kompetenz, das Medium und seine Sprache zu entziffern, internalisiert, was also eine Voraussetzung für eine geglückte Kommunikation mit dem Medium wäre. Mit anderen Worten: Die Focus Groups reagierten in unvorhergesehener Weise anders auf Symbole, Signale, Icons. Was für eine Gruppe noch ein positiv kulturelles Symbol darstellte, stiftete für andere Verwirrung, führte gar zu möglicher Ablehnung. Oder allgemeiner gesagt: Selbst kleine Details, die für die einen gar nicht auffallen, können zu negativen oder positiven Reaktionen führen, welche die Aufnahme von Wissen begünstigen oder aber zurückstellen. Inwiefern die Irritationen toleriert werden oder aber zu einer negativen Aussage über das Medium selbst erhoben werden, stellt aber erst die Frage, auf welche Weise die verschiedenen Bedeutungsdimensionen überhaupt gekoppelt werden. Dies erforderte noch eine genauere Betrachtung, auf welche Weise die Botschaften des Comics von einem „dispersen Publikum“8 verarbeitet werden.
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Die obigen Statements lassen sich als erste Indizien dafür interpretieren, dass der vorliegende Comic Barrieren aufbaute, welche die Wissenskommunikation behinderte. Wir suchten entsprechend nach den Dimensionen, aufgrund derer das Informationsangebot des vorliegenden Comics wahrgenommen und bewertet wurde, fragten uns, inwiefern sie über die einzelnen Statements hinaus generalisierbar sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Unsere Forschung verstehen wir erst als einen ersten Schritt auf der Suche nach Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsprozessen bei der Sachcomic-Lektüre. Doch traten für uns bereits deutlich unterscheidbare Aspekte der Rezeption des Sachcomics hervor, die sich bei allen Focus Groups beobachten ließen. 8 | In den 1960er-Jahren prägte bereits der Kommunikationswissenschaftler Gerhard Maletzke den Begriff des „dispersen Publikums“ (Maletzke 1963: 32): Moderne Gesellschaften sind durch eine Vielzahl unterschiedlichster Kulturen geprägt. Gerade deshalb organisieren sie sich auch über unterschiedliche Zeichenwelten, entwickeln unterschiedliche Kompetenzen und Aufmerksamkeiten, hinsichtlich dessen, was ihnen vorgelegt wird.
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Zusammengefasst lautet das Ergebnis, dass sich bei den Rezipienten im Wesentlichen drei verschiedene Arten von Botschaften in der Wahrnehmung des Sachcomics feststellen lassen: visuelle Botschaften, narrative Botschaften und sachliche Informationen, die sich in den Statements deutlich unterscheiden lassen. Diese drei Arten von Botschaften, die der Comic liefert, wurden von allen Gruppen immer wieder genannt und auch unterschieden, wenn es darum ging, den Comic und seine Wirkung und Akzeptanz zu beurteilen. Das Zusammenspiel dieser drei Dimensionen stellte ein entscheidendes Moment dar, das die Rezipienten dazu brachte, den vorliegenden spezifischen Comic als Medium, das ihnen Wissen vermitteln sollte, abzulehnen. Die erste Dimension von Eindrücken lässt sich unschwer den visuellen Signalen oder Botschaften des Comics zuschreiben: Gemeint sind die Bilder, die wahrgenommen werden, die bewertet, befragt werden, von denen sich die Rezipienten angezogen oder abgestoßen fühlen. Doch dann erzählt der Comic ja auch eine Geschichte, liefert eine Erzählung mit bestimmtem Figurenarsenal, mit einer spezifischen Dramaturgie. Diese zweite erzählerische Dimension des Comics begriffen wir als narrative Botschaften: Sie umfassen nicht nur die textuellen Elemente, sondern alle Elemente der Schilderung einer Geschichte, die auch über das Einfangen von Zeit in die bildnerische Dimension erfolgen kann. Letztendlich erscheint, Sachcomic-spezifisch, konsequenterweise auch die Dimension der Sachinformation als eigenständige Dimension, gemäß derer der Comic wahrgenommen und beurteilt wurde: Die Rezipienten müssen identifizieren können, welches Wissen ihnen angeboten wird, was sie lernen sollen. Diese Botschaften bezeichneten wir als sachliche Informationen, die durch den Comic vermittelt werden sollten. Die Bedeutung der visuellen Dimension zeigte sich in der Diskussion der Attraktivität der Bilder. Themen wie der Zeichenstil, die Ausarbeitung von Details und auch die Farben, durch die Stimmungen und Atmosphäre erzeugt werden, wurden als wichtige Elemente der Rhetorik der Bilder erwähnt (Barthes 1990: 41); in semiotischer Hinsicht kann man von der paradigmatischen Ebene des Comics sprechen. Sie zeigt sich deutlich als abgrenzbar von der Geschichte selbst: When I started to read and then I got into it because it’s pretty with these pictures. (Meray, College-Student, U.S.)
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Everybody here when you asked what we liked about the comic said, ‚Oh, pretty colors, pretty images.‘ I don’t think that they’re distracting because we still all read it. (Jenny-Rose, College-Student, U.S.) Vom Stil her find ich’s schrecklich. Mir gefällt’s total nicht. So Sachen wie die Finger, die Hände, wie es gezeichnet ist. (Markus, Grafiker, CH) Es sieht irgendwie alles so bedrohlich aus. Die Frau da auf Seite 8 mit dem explosiven Hintergrund und Seite 9 die Frau, die reinkommt, so atomreaktorgrün. (Manuel, Ingenieur; CH) Ungeachtet oder gerade wegen der unterschiedlichen Bewertung der Bilder tritt die Bedeutung der Bilderwelt als eigene Kommunikationsebene hervor, da Bilder und ihre Stimmung auch „ins Auge“ fallen, bevor der Text rezipiert wird (Schnierer 1999: 46). Freilich, weniger evident ist die Bedeutung der narrativen Dimension, die Geschichte, die der Comic erzählt. Sie droht angesichts der suggestiven Kraft des Visuellen vermeintlich hinter der Bildwelt zurückzutreten, hat aber, wie schon mit Barthes gezeigt, als syntagmatische Dimension des Comics eine wesentliche Funktion in der spezifischen Struktur des Comics. Die narrativen Botschaften erwiesen sich denn auch als ebenso relevant für die Einschätzung des Comics. Die erzählerische Dimension resultiert aus denselben dramaturgischen Elementen, die etwa in Literatur und auch im Film zum Zuge kommen: eine funktionierende Struktur mit Spannungsaufbau, Figuren, Ereignisse bzw. Wendungen, mit denen die Lesenden „mitleben“ können. Dabei erwiesen sich insbesondere die Schilderungen der Figuren und ihrer Rolle, die in der Geschichte agieren, als bedeutsam für die Attraktivität der Erzählung. Gemeint ist damit die Beziehung, die der Leser zu den Figuren und ihren Handlungen aufzubauen vermag, indem er sich darin „wiedererkennt“, sich für sie zu interessieren lernt und auf diese Weise mit ihnen die Geschichte miterleben kann. Indem sie auf Handeln und Rollen fokussiert, ist die Figurenschilderung so ein wesentliches Element der Erzählung, auch wenn die Handlungen beispielsweise visuell dargestellt werden. Die Bedeutung der erzählerischen Dimension äußerte sich indes in den Focus Groups vornehmlich darin, dass das Fehlen einer guten Geschichte bemängelt wurde. Offensichtlich bestand hier eine Schwierigkeit der Wahrnehmung der Story, die der Comic erzählt. Zwei Beispiele
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sollen erläutern, auf welche Weise sich Probleme ergeben können, wenn auf diese Dimension beispielsweise zugunsten der bildlichen Wirkung zu wenig geachtet wird: Also man müsste vielleicht irgendwie am Anfang des Comics die [Personen] vorstellen oder einfach einen Text dazu, sonst sind die irgendwie einfach und man hat keine Ahnung von denen, und dann ist es einem auch einfach egal. (Irina, Gymnasiastin, Schwerpunkt Bildnerisches Gestalten, CH) Wenn man sich interessiert für den Comic, dann identifiziert man sich ja auch mit den Figuren. Und hier war ja gar keine Einleitung drin, wer sind jetzt diese zwei Persönlichkeiten. Deshalb war es für mich auch schwer dann. Ich habe es einfach durchgelesen, aber ich habe gar nicht gewusst, worum es geht. (Eduard, Ingenieur, CH) Die dritte Dimension wiederum, die Sachinformation, ließ sich als eigenständiger Aspekt insbesondere dadurch erkennen, dass die Verständlichkeit der Informationen über die Synthetic Biology thematisiert wurde. Verständlichkeit schien als eine Art Gatekeeper dafür zu funktionieren, überhaupt weitere Informationen aufzunehmen (Petty/Wegener 1999: 55). They talk about ‚When the input signal is high, the repressor protein is kicked up and that turns off the output signal‘. I wasn’t sure, ‚What are you talking about input and output?‘ It didn’t seem connected to what was previously happening actually. (Julie, College-Student, U.S.) Dabei erstaunte vor allem, dass selbst die Expertinnen (Biologinnen) den dargestellten Sachinformationen nicht vollständig folgen konnten und das eigentlich Neue der Synthetic Biology gegenüber der Gentechnologie auch erst durch weitere Recherchen zu beantworten vermochten. Inverter, ja das kann man sich ja noch vorstellen mit Hoch und Tief und so, aber warum wir das jetzt brauchen, damit es nicht weiter wächst zum Beispiel, das habe ich nicht verstanden. Was das jetzt damit zu tun hat, damit wir nachher diese eingeführte Genaktivität zum Stoppen bringen. (Stefanie, Biologin, CH) Bemerkenswerterweise erwies sich die Frage der Darlegung des Sachwissens als die einzige Dimension der Rezeption, die nicht nur bei allen
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Gruppen zutage trat, sondern die bei allen Gruppen auch ähnlich negativ beurteilt wurde, selbst bei der amerikanischen Gruppe. Der Attraktivität der „leichten“ Lektüre, die ein Comic versprach, stand die Kompliziertheit der Inhalte gegenüber. Diese Evidenz führte zur Hypothese, dass das Zusammenspiel der Botschaftsdimensionen ein entscheidendes Merkmal einer gelingenden Kommunikation sein könnte. Abbildung 5: Dude erklärt seiner Mentorin neue Ideen
Quelle: Endy et al. (2007: 10)
Abbildung 6: Dude fängt ein Bakterium
Quelle: Endy et al. (2007: 1)
W AHRNEHMUNG EINER U NSTIMMIGKEIT Z WISCHEN S ACHINFORMATION UND B ILDBOTSCHAF T Unsere These, die sich aus der Untersuchung der Rezeption mittels der Focus Groups herausdestillierte, lautet: Nicht alleine die Qualität der einzelnen Botschaftsebenen ist entscheidend für das Funktionieren eines Sachcomics. Als wichtiges Ergebnis zeigte sich die Bedeutung des Zu-
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sammenwirkens der drei verschiedenen Dimensionen der Wissensvermittlung, die im Comic zum Tragen kommen. Oder anders ausgedrückt: Inwiefern die drei Ebenen des Mediums Sachcomic – das Visuelle, die Erzählung und die Sachinformation – als kohärent und stimmig empfunden werden, erwies sich als ebenso entscheidendes Kriterium der Rezeption und der Aufnahmebereitschaft von Wissen durch den Comic wie die Qualität der einzelnen Dimensionen selbst. Nehmen die Rezipienten die drei Botschaftsebenen als nicht kohärent wahr, evoziert dies Verwirrung oder eigentlich Widerstand, den Comic überhaupt als glaubwürdigen Wissensvermittler ernstzunehmen und zu akzeptieren. Dieser Zusammenhang wird aber erst in der Diskussion der einzelnen Gruppen deutlich. Dabei zeigten sich gruppenspezifische Unterschiede der Kohärenzwahrnehmung, sowohl auf der kulturellen Ebene zwischen schweizerischen und amerikanischen Rezipienten wie auch bezogen auf die Generationenunterschiede. Das heißt: Die Unstimmigkeit wird im Akt der Lektüre und durch die zur Verfügung stehenden und herangezogenen Lexiken produziert. So stellte für die Amerikaner, die dem Medium gegenüber generell positiv eingestellt waren, dieses Zusammenspiel der drei Dimensionen kein Thema dar, allfällige Friktionen waren offenbar aufgehoben in der Selbstverständlichkeit, mit welcher der Comic als Bestandteil der etablierten Medienkultur betrachtet wurde. Doch für alle vier deutschsprachigen Diskussionsgruppen bildete die mangelnde Kohärenz eine Quelle der Verwirrung und einen Gegenstand der Kritik. Oder anders ausgedrückt: Die sachliche Darlegung der Synthetic Biology enthält für die Diskutanten Aussagen, die mit der narrativen Botschaft und der Bildbotschaft nicht in Einklang gebracht werden können. Diese wahrgenommene Diskrepanz führt nicht nur zu Unklarheiten und Verwirrung, sie wirkt sich auch auf die Interpretation bzw. die Motivation aus, den Comic konzentriert zu lesen. Offensichtlich hängt die Diskrepanz-Wahrnehmung wiederum davon ab, wie stark sich die Rezipienten durch die unterschiedlichen Dimensionen (Bilder, Erzählung und Sachwissen) angesprochen fühlen: Von den Bildern her wäre es schon etwas so für die kleinen Kinder, aber von den Informationen her schon einfach für unsere Altersgruppe. (Irina, Gymnasiastin, Schwerpunkt Bildnerisches Gestalten, CH)
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Wenn ich’s anschaue: Es sollte sich eigentlich an Kinder richten, vom Visuellen her, und zwar an Kinder ab 10 bis 12 Jahre. Für die ist es eh zu schwierig. (Anna, Illustratorin, CH) Einfach das Wissen, das man vermitteln will, muss dann einfach auch auf das Niveau, Niveau der Bilder reduziert werden. Dieser Kontrast ist einfach zu groß zwischen Wissen und Bild. (Anita, Gymnasiastin, Schwerpunkt Bildnerisches Gestalten, CH) Abbildung 7: Die Mentorin erklärt Fachwissen
Quelle: Endy et al. (2007: 7)
Aufgrund dieser wahrgenommenen Unstimmigkeit zwischen vermitteltem Wissen und Bilderwelt stellten sich die Schweizer Rezipienten immer wieder die Frage, für wen dieser Sachcomic denn überhaupt produziert worden sei, wen er überhaupt ansprechen möchte. Das heißt, die Leser fühlten sich durch die Darstellungen nicht angesprochen, sogar herabgesetzt und bauten so offenbar auch Barrieren gegen das Wissen auf. Die Verwirrung über die hochkomplexenkognitiven Botschaften und über die gleichzeitig als kindlich erfahrene Darstellung des Inhalts führte bei den Lesern zu einem „Unlustgefühl“, was sich auch negativ auf die Akzeptanz und die Verarbeitung des Inhalts des Sachcomics auswirkt. Es standen also zwei Lexiken in Konflikt, aufgrund derer der Comic gelesen wurde: Das eine verbindet Comic-Sprache mit dem Vokabular der Literatur für Jugendliche, das andere verbindet die Sachinformation mit der Rhetorik „ernster“ Wissenschaft.
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U NSTIMMIGKEIT Z WISCHEN S ACHINFORMATION UND N ARR ATION – ODER DIE V ERMENGUNG VON F IK TION UND W IRKLICHKEIT Ebenso irritierte in den deutschsprachigen Gruppen die Diskrepanz zwischen der Sachebene, die exaktes Wissen vermitteln will, und der Erzählung, die sich beim Adventure- oder Science-Fiction-Genre bedient. Durch die enge Verknüpfung des Sachinhalts mit der fiktiven Geschichte ist die Zuordnung der Botschaften zu Fiktion oder Wirklichkeit für die Rezipienten, die nicht bereits Experten sind, nicht mehr möglich. Diese Unklarheit über den Wahrheitsgehalt des Gelesenen verunsichert, im Speziellen die Gymnasiasten, die täglich damit beschäftigt sind, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und als Wissen zu speichern: Man weiss gar nicht, was stimmt wirklich oder was ist nur Fiktion. Also ob das jetzt stimmt, was die da sagen, das müsste man nun in einem Buch nachlesen. (Pascal, Gymnasiast, Schwerpunkt Naturwissenschaften, CH) Wenn der Comic unrealistisch rüberkommt, dann meinst du auch, dass die Sachen, die da drin stehen, stimmen nicht. (Steffi, Gymnasiastin, Schwerpunkt Naturwissenschaften, CH) Als Laie fragt man sich dann, ob das erfundene Fachbegriffe sind. (Eduard, Ingenieur, CH) Das Genre Science-Fiction ist nicht passend für dieses Thema. Es verwirrt auch, was ist echt. Wirkt nicht seriös. (Patrick, Ingenieur, CH) Wie das letzte Statement zeigt, ist die Wahl des Genres nicht nur auf der Ebene der Wissensvermittlung der Kritik ausgesetzt, sondern wird auch in Verbindung mit dem Thema Genforschung als unpassend beschrieben. Das Genre Adventure (mit Science-Fiction-Elementen und starken Übertreibungen) verleiht der Wissenschaft Synthetic Biology bei den Schweizer Rezipienten damit fatalerweise den Nimbus des nicht Vertrauenswürdigen, der Gefährdung und sogar der Katastrophenandrohung. Experten aus der Grafikbranche zeigten sich verwundert über die Wahl des Genres, über die Art der Umsetzung:
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Ich find’s extrem seltsam irgendwie, diese Thematik und wie es umgesetzt ist. Das ist für mich total fremd. Fast ein bisschen unheimlich, dass man eine solche Thematik so kommuniziert, mit so einer Sprache … mit dieser Leichtigkeit, so wie man halt Comics liest, aber von der Thematik her geht es hier nicht um eine so leichte Kost. (Markus, Grafiker, CH) Wenn ich mir vorstelle, der Stil wäre eher auf seriös, Sachgrafik, dann hätte es eher die Seriosität wieder zurück. (Astrid, Werberin, CH) Abbildung 8: Die Wissenschaftler im Reich der DNA
Quelle: Endy et al. (2007: 10)
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Abbildung 9: Der missglückte Versuch – das Bakterium platzt.
Quelle: Endy (2007: 5)
Die Wahl des Genres, mit dem das Sachwissen vermittelt wird, kann sich somit negativ auf die Glaubwürdigkeit und Seriosität der Herausgeber auswirken (Hovland/Janis/Kelley 1953; Petty/Wegener 1998: 344). Negative Vorurteile des Rezipienten der Genforschung gegenüber können durch diese Art von Erzählung, mit fantastischen Elementen, bestätigt werden und eine negativ voreingenommene Verarbeitung und Sichtweise auf die neue Wissenschaft unterstützen (Petty/Wegener 1999; vgl. auch den Beitrag von Oechslin in diesem Band). Weshalb bildet gerade das Zusammenspiel verschiedener Signalebenen eine Falle für das Medium Sachcomic? Die Falle liegt darin, dass das Medium Comic zunächst augenfällig visuell zu sein scheint, und diese Botschaftsebene vordergründig als entscheidend gilt für einen wirkungsvollen bzw. gut akzeptierten Comic, der Wissen attraktiv vermitteln soll. Vielmehr ist aber maßgeblich – neben der Frage, ob der Sachcomic für die Zielgruppe überhaupt das richtige Medium darstellt –, dass Bilder, Erzählung und Sachwissen für die Rezipienten eine stimmige Einheit bilden, so dass die Lesenden sowohl von der Bildwelt wie auch der Erzählung gleichermaßen angesprochen werden. Erst so werden die Pforten der Wahrnehmung geöffnet, um das Sachwissen, das vermittelt werden soll, auch aufzunehmen und zu verarbeiten. Es kann sich fatal auswirken, sich ausschließlich auf eine Ebene, beispielsweise auf gute Bilder, zu konzentrieren, um die Darstellung des Wissens zu optimieren und das narrative
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Element zu vernachlässigen. Im vorliegenden Fall führte dies dazu, dass unterschätzt wurde, was es bedeutet, dass die Geschichte als zu fragwürdig erscheint. Wenn die Geschichte nicht glaubwürdig ist: Weshalb sollten die Lesenden sich dann mit dem vermittelten Wissen auseinandersetzen?
S CHLUSSFOLGERUNG Im Gegensatz zu Comics als Kunst und Unterhaltungsmedium hat der Sachcomic eine eindeutig definierte Funktion: Wissen zu vermitteln. Wird Comic als Kunst aufgefasst, so erscheint die Bedeutungsoffenheit, der Anspielungsreichtum ja gerade als faszinierender Bestandteil des Mediums. Im Bereich des Sachcomics hingegen bleiben Mehrdeutigkeit und Anspielungsreichtum, obwohl es den Comic vielleicht ansprechender werden lässt, mit vielen Gefährdungsmomenten verbunden: dass der Leser dadurch verwirrt wird, er nicht weiß, was ihm genau vermittelt werden soll, und er somit auch nicht bereit ist, sich mit dem dargebotenen Wissen auseinanderzusetzen. Ob ein Diktum, wie es etwa Edward Tufte (Tufte 1983) angesichts der Darstellung von Informationsgrafiken aufstellte, für den Sachcomic je Sinn ergeben wird, nämlich dass jedes „Pixel“ eine klare Bedeutung in der Informationsvermittlung aufweist, bleibt allerdings eher unwahrscheinlich. Das erzählende Moment fällt bei Informationsgrafiken beispielsweise idealerweise weg, weil es sich zu mehrdeutig interpretieren lässt. Das Einbetten von Wissen in eine visuelle Erzählung, die nicht nur der Unterhaltung dient oder einen Kunstanspruch stellt, sondern als ein Medium der Wissensvermittlung dienen soll, stellt dahingehend die eigentliche Schwierigkeit für das Medium Sachcomic dar. Sie zu bewältigen ist umso anspruchsvoller, je disperser sich das Zielpublikum erweist. Oder mit anderen Worten gesagt: Dass die Dimensionen des Mediums – Bilder, Erzählung und Sachinformation – sich im Comic als gleichermaßen zentral erweisen und in Balance gebracht werden müssen, darin besteht unserer Ansicht nach die besondere Herausforderung des Sachcomics. In der Ausbalancierung dieser drei Dimensionen stecken besondere Fallen. Das Wissen kann ansprechend visualisiert sein, wenn aber die Leser sich von der Erzählung nicht angesprochen oder sogar abgestoßen fühlen, wird auch das Wissen nicht adäquat aufgenommen. Mehr noch, die Hybridität des Mediums Sachcomic, an sich eine Chance, Bild und
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Narration in der Wissensvermittlung zu ergänzen, kann sich auch als dekonstruktiv erweisen, dann nämlich, wenn dem Medium gerechte Lexiken nicht zur Verfügung stehen. Ob diese Balance dabei geglückt ist, scheint nicht aus dem Medium heraus selbst prognostizierbar; schon kleine bildliche Elemente können bei den Lesenden eine unerwartete Wirkung hervorrufen, wie wir am Beispiel der verspiegelten Sonnenbrille zu zeigen versuchten. Das heißt auch: Der Erfolg der Vermittlung von Wissen durch Sachcomics ist mutmaßlich publikumsspezifischer als bei anderen Formen der Wissenskommunikation, zumindest solange Sachcomics nicht ein fester Bestandteil der Bildungskultur sind, die Comics als etablierte Form der Wissensvermittlung mit eigener visuellen Sprache tradiert.9
9 | Die Schwierigkeit, der sich Comic-Schaffende dahingehend ausgesetzt sehen, zeigt das Interview von Urs Hangartner mit Andrea Caprez und Christoph Schuler in diesem Band.
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E INLEITUNG – L ITER ATUR Wir leben in einer Welt, in der viele Texte nicht nur für den Gebrauch in einer einzigen Sprache produziert werden, sondern in der eine Übersetzung von vornherein vorgesehen ist oder sich im Nachhinein als notwendig oder nützlich erweist. Auch Comics wurden und werden übersetzt. Die oft postulierte sprachübergreifende Verständlichkeit der Comics durch den hohen Bildanteil wird weit überschätzt (siehe dazu besonders Dolle-Weinkauff 1991). Aber auch Comics ganz ohne Verbaltext können sehr kulturspezifisch gestaltet sein, so dass Leser außerhalb der Entstehungskultur sie nicht unbedingt richtig verstehen.1 Zum Thema Comic-Übersetzung findet man erst in den 1990er-Jahren eine Reihe von übersetzungswissenschaftlichen Fachartikeln. Früher entstandene Arbeiten zur Comic-Übersetzung sind Einzelphänomene. Hervorzuheben sind die einführenden Texte von Schmitt (1997 und 1998) sowie die literatursoziologisch orientierte Habilitationsschrift von Kaindl (2004). Schmitt erwähnt Sachcomics explizit, geht bei der Darstellung typischer Übersetzungsprobleme aber primär von Donald Duck-Comics aus. 2008 gab Zanettin einen Sammelband heraus, in dem auch der Vorläuferartikel zu diesem Beitrag zu finden ist (Zanettin 2008a, Jüngst 2008c). Besonderes Interesse im Bereich der Comic-Übersetzung zog in 1 | Packalén und Odoi (2003: 9) weisen darauf hin, dass Sachcomics für Entwicklungsländer am besten von ortsansässigen Künstlern gestaltet werden sollten, die ihre Zielgruppe genau kennen. Solche Comics sind nicht für eine Übersetzung vorgesehen.
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den 1990er -/2000er-Jahren die Übersetzung von Manga in ihren verschiedenen Spielarten auf sich (z. B. Kaindl 1999b und Jüngst 2004a). Sach-Manga in deutscher Fassung spielen bei Berndt (1995) eine Rolle sowie in Jüngst (2010). Eine wichtige Arbeit in diesem Bereich ist Fiedler (2006) zu verschiedenen Übersetzungen von Hadashi no Gen u.a. ins Esperanto. Im vorliegenden Band findet sich ein Beitrag zu Sach-Manga in deutscher Übersetzung (Dolle-Weinkauff ).
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Viele der in Deutschland erhältlichen bzw. jemals veröffentlichten Sachcomics sind Übersetzungen. Sie unterscheiden sich von den inländischen Produktionen im Zeichenstil und in der Verwendung von Comic-spezifischen Elementen. Hans Kirchmann weist in seinem Vorwort zu der ersten deutschen Übersetzung von Hadashi no Gen von 1982 explizit darauf hin, dass die niedlichen Darstellungen zu der furchtbaren Geschichte deutsche Leser irritieren könnten (Kirchmann 1982). Manga waren noch bis in die frühen 1990er-Jahre eine ausgeprägte Fremdheitserfahrung. Inzwischen hat die Manga-Euphorie ihren Zenit überschritten und Manga sind fester Bestandteil der deutschen Comic-Kultur geworden. Fremd bleibt die Kombination aus Niedlichkeit und Grausamkeit von Hadashi no Gen trotzdem insofern, als sie sich nicht als neues Stilmittel in der Zielkultur etabliert hat. Doch Fremdheit, zum Beispiel in Form bestimmter kultureller Elemente des Originals, kann auch reizvoll sein und ist eine typische Motivation für Übersetzer. Fremdheit kann aber auch im negativen Sinne irritieren. Oechslin und Keller führten ein Experiment durch, bei dem sich zeigte, dass typisch amerikanische Sachcomics von einem amerikanischen Publikum anders wahrgenommen werden als von einem deutschsprachigen Publikum (vgl. den Beitrag von Keller und Oechslin in diesem Band). Die große Menge an Comic-Übersetzungen im deutschsprachigen Raum steht vergleichsweise wenigen Eigenproduktionen entgegen. Ein eigener Comic-Stil hat sich nicht entwickelt. Die drei großen Comic-Stile (US-amerikanisch, Bande dessinée und Manga jeweils mit ihren Untergruppen) dominieren in den Läden. Leser, die noch nie einen Sachcomic gesehen haben, mögen fremde Stilelemente dem Typus Sachcomic zuordnen und nicht der Ausgangskul-
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tur. So ist Die Geschichte der Philosophie in Comics ein ursprünglich italienischer Fumetto mit sehr typischen, erwachsenen Zeichnungen. Die Zeichnungen passen gut zum Thema und bieten keine Assoziationsmöglichkeit zu den in Deutschland vertretenen „typischen“ Comics. Übersetzungen können also durch die Fremdheit motiviert sein, die der Übersetzer erhalten möchte. Solche Übersetzungen gehen auf Motivationen der literarischen Übersetzung zurück, wie bei dem oben genannten Schleiermacher. Übersetzungen können aber auch durch den Inhalt motiviert sein. Und schließlich kann das Einzelwerk, der einzelne, ganz besondere Sachcomic, die Motivation für die Übersetzung darstellen, wie es bei Hadashi no Gen der Fall war.
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Die meisten der angeführten Beiträge wurden von Translatologen für Translatologen geschrieben. Daher soll im Folgenden kurz skizziert werden, auf welche translatorischen Theorien im Normalfall zurückgegriffen wird und was dies für die Übersetzung von Sachcomics bedeutet. Sachcomics stehen, ähnlich wie erzählende Sachbücher, in einer Schnittmenge von schöner Literatur und Sachbuch. Der Übersetzer muss sachlich korrekt übersetzen und das der Zielgruppe angemessene Fachvokabular verwenden. Gleichzeitig muss er die literarische Qualität des Sachcomics, wie gering auch immer, beachten. Die Imitation gesprochener Sprache in den Sprechblasen sollte als solche auch in der Übersetzung zu erkennen sein. Sach- und Fachtexte werden als Gegenstand von Übersetzungen anders behandelt als literarische Texte. Bei Letzteren wird auf klassische Theorien der Literaturübersetzung zurückgegriffen, von Goethe über Humboldt bis Schleiermacher. Die Begriffe Annäherung und Fremdheit spielen hier eine wichtige Rolle. In Goethes Worten geht es darum, ob der Leser dem Text entgegenbewegt werden soll oder der Text dem Leser. Bei Comics stellt sich diese Frage in der Form, ob Inhalte (Verbaltext und Bilder) an den Kenntnisstand und die Erwartungshaltung der Zielgruppe angepasst werden sollen oder ob die Fremdheit des Originaltextes als Wert an sich angesehen wird, der belassen werden soll. Die Sachtextkomponente des Sachcomics ist ebenso wichtig. Bei Sachtexten werden andere Theorien und, damit zusammenhängend, andere
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Übersetzungsmethoden angewandt. Prägend für heutige Methoden der Sach- und Fachtextübersetzung ist die sogenannte pragmatische Wende der 1980er-Jahre. Die pragmatische Wende bindet Theorien wie die Lasswell-Formel (Who says what in which channel to whom with what effect?)2 und die Sprechakttheorie in übersetzerische Entscheidungen ein. Besonders einflussreich war und ist die Skopostheorie von Reiß / Vermeer (1984). In ihrer einfachsten Form besagt diese Theorie, dass der Zweck der Übersetzung darüber entscheidet, wie bei der Übersetzung vorgegangen wird und wie das fertige Produkt aussieht. Die Skopostheorie postuliert eine Abwendung von einem „heiligen Original“; Originaltreue ist nur dort von Wert, wo der Skopos dies ausdrücklich als sinnvolles Übersetzungsziel vorgibt. Die literarisch orientierten und die pragmatisch orientierten Theorien sind miteinander verknüpft. So könnte man sich einen Sachcomic aus einer sehr fremden Ausgangskultur vorstellen, der mit dem Skopos Text für wissenschaftliche Zwecke übersetzt wird. Die Funktion in der Zielkultur wird also darin bestehen, dass Wissenschaftler, die die Ausgangssprache nicht verstehen, den Comic in der Zielsprache lesen können. Mit diesem Skopos bleibt die Fremdheit erhalten, man könnte den Originaltext aber mit Anmerkungen und Erläuterungen ergänzen. Comics with an Attitude von Packalén /Odoi gehört in diese Kategorie. Es handelt sich um eine Handreichung für Sachcomic-Autoren mit Beispielen aus den unterschiedlichsten Kulturen. Am häufigsten dürfte jedoch der Skopos der kommunikativen Äquivalenz3 sein, wenn z. B. ein amerikanischer Sachcomic zum Thema AIDS für Teenager als Informationstext zum Thema AIDS für deutsche Teenager übersetzt wird. Das bedeutet nicht, dass Ausgangs- und Zieltext zu hundert Prozent übereinstimmen müssen. Falls schon vor der Erstellung des Sachcomics anschließende Übersetzungen geplant sind, ähnelt die Erstellung des Comics der mehrsprachigen Textproduktion, wie wir sie in der heutigen Technischen Dokumentation finden. Betriebsanleitungen, Wartungsanleitungen etc. werden als Produktbestandteile für den Export so konzipiert, dass sie möglichst problemlos (und damit kostengünstig) für möglichst viele Zielsprachen verwendet 2 | Diese Formel wurde bearbeitet von Nord in ihrer translationsorientierten Textanalyse (1988). 3 | Die Äquivalenzbegriffe der Leipziger Übersetzungswissenschaftlichen Schule werden zusammengefasst in Wotjak (2002: 7).
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werden können. Hier gibt es zwei grundlegende Methoden: Globalisierung und Lokalisierung.4 Bei der Globalisierung werden die Dokumente in der Ausgangssprache so erstellt, dass man für eine zielsprachliche Version möglichst nur Verbaltext übersetzen muss und alle nichtsprachlichen Bestandteile belassen kann. Bei der Lokalisierung hat man ein Ausgangsdokument mit kulturspezifischen Anbindungen. Diese werden im Zieldokument durch kulturspezifische Anbindungen der Zielkultur ersetzt. Ein beliebtes Beispiel sind Stecker und Steckdosen, die in Großbritannien, der Schweiz und dem restlichen Europa unterschiedlich aussehen. Bei der Übersetzung von Sachcomics kommen sowohl Globalisierung als auch Lokalisierung vor. Als Beispiel für eine geplant mehrsprachige Textproduktion mit Globalisierungselementen soll eine kleine Initiative vorgestellt werden, die mit selbst erstellten Sachcomics Informationen verteilte. Es handelt sich um das Projekt Bücherbabys der Stadtbibliothek Brilon in NordrheinWestfalen. In den Sachcomics werden kleine Kinder gezeigt, die klar unterschiedlichen Ethnien angehören. Die Bilder wurden daher für die Übersetzungen nicht neu angepasst, vielmehr blieb die Multikulturalität als zusätzliche Botschaft erhalten.5 Die übersetzten Fassungen ermöglichten es der Bibliothek, direkt mit Eltern mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund in Kontakt zu treten. Diese Entscheidung ist von einem Realitätssinn geprägt, der in Deutschland nicht immer zu finden ist. Die real existierende Mehrsprachigkeit wird hier einfach akzeptiert. Lokalisierung ist eine hochkomplexe Angelegeneheit. Der Grad der Anpassung an die jeweilige Zielkultur bzw. die enger umrissene Zielgruppe ist je nach Comic sehr unterschiedlich. Dabei kann die Anpassung den Verbaltext ebenso betreffen wie Bildelemente. Schmitt (1997) zeigt Beispiele für die Übersetzung US-amerikanischer Unterhaltungscomics wie Donald Duck, bei denen z. B. das Dollarzeichen durch das erfundene Talerzeichen ersetzt wurde. Eine Anpassung von Bildelementen ist selten, schon weil sie teuer ist. Bei einer ehrgeizigen Lokalisierung findet eine solche Anpassung jedoch statt. 4 | Zanettin (2008b) sieht die Übersetzung von Comics grundsätzlich als eine Form der Lokalisierung. 5 | In US-amerikanischen Sachcomics sind multikulturelle Kindergruppen sehr typisch, in den heutigen britischen Kindersachbüchern ebenfalls.
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Hier soll ein Beispiel aus den USA angeführt werden. Der Comic Let’s Talk About It! / ¡Hablemos! wurde von der American Psychiatric Association bei der CustomComicsCompany in Auftrag gegeben. Er soll Teenager dazu ermutigen, bei psychischen Störungen professionelle Hilfe zu suchen. Der Comic liegt auf Englisch und auf Spanisch vor. Angesichts der sprachlichen Zweiteilung der USA war die Entscheidung, den Comic sowohl auf Englisch als auch auf Spanisch zu publizieren, sinnvoll. Die Zielgruppen leben im gleichen Land, vermutlich in vergleichbaren Verhältnissen, haben aber unterschiedliche Erstsprachen. Die Übersetzung in die gewohnte Sprache soll die Berührungsangst dem Text gegenüber herabsetzen und die ursprüngliche Zielgruppe erweitern. Die Übersetzung enthält zwei typische Elemente der Lokalisierung: Namen und Abbildungen sind an die Zielgruppe angepasst. Die im Original englischen Namen der Hauptperson, ihrer Familie und ihrer Lehrer sind in der Übersetzung spanisch. Diese Entscheidung wirkt wenig durchdacht. So ist auch in den USA eine Schule, in der alle Lehrer und Lehrerinnen Latinos sind, sehr untypisch. Ganz befremdlich ist, dass die farbige Freundin der Heldin in dieser Fassung ebenfalls einen spanischen Namen hat (siehe Jüngst 2008: 190). Im Original hatte eine Lehrerin einen spanischen Namen; dieser fällt in der neuen Fassung nicht mehr auf. So kommt es zu der paradoxen Situation, dass bei der durch multikulturelle Sensibilität bedingten Anpassung an eine Ethnie die Multikulturalität des Originals verloren geht. Passend zu den neuen Namen erhalten die Figuren sämtlich dunkle Haare und eine olivbraune Haut. Alles andere bleibt erhalten. Die wenigen Privaträume, die man sieht, sind so leer, dass man sie keiner Kultur zuordnen kann; sie stellen also eher ein Element der oben erwähnten Globalisierung dar. Die Kleidung ist typisch für die 1980er-Jahre und bleibt ebenfalls erhalten. Schon bei diesen beiden Bildelementen fragt man sich, ob es nicht doch Vorlieben für Raumdekoration und Kleidung gibt, die typischer für Anglo-Saxons oder für Latinos sind (siehe Jüngst 2008: 190). Was jedoch bei dieser Art von gut gemeinter Lokalisierung die größten Probleme und damit die größte Unglaubwürdigkeit aufwirft, ist die Körpersprache. Hier weiß auch der Laie, dass die Körpersprache, die allgemeine Gestenhäufigkeit und besonders auch die Proxemik bei Anglo-Saxons und Latinos extrem unterschiedlich sind. Die Figuren wirken sehr steif, auch dort, wo sie nahe beieinander stehen. Wie gut man die typische Körpersprache von Latino-Frauen darstellen kann, sieht man in dem direkt auf Spanisch
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Abbildung 1: Anglo-Saxons als Zielgruppe
Quelle: Let’s Talk About It! (1990: 8)
Abbildung 2: Latinos als Zielgruppe
Quelle: ¡Hablemos! (1990: 8)
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verfassten Comic En tus manos, der sich an Wanderarbeiter in den USA richtet. Bei ¡Hablemos! hat man den Eindruck, mit Anglo-Saxons mit schwarzen Perücken konfrontiert zu sein. Es ist sehr fraglich, ob man so die angepeilte Zielgruppe wirklich gut erreicht.
P R AK TISCHE Ü BERSE T ZUNGSPROBLEME
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Die Übersetzung von Sachcomics unterliegt denselben formatbedingten Problemen wie die Übersetzung von Unterhaltungscomics. Diese Probleme existieren unabhängig von den zuvor angesprochenen Übersetzungstheorien. Aus der in der Einleitung angeführten Literatur lassen sich folgende, immer wieder genannte Probleme zusammenfassen: mangelnder Platz in den Sprechblasen, Sprechblasen sind vertikal statt horizontal (z. B. japanische Sprechblasen), kein professionelles Lettering im Zieltext, fremdartige und für den Zielkulturleser unverständliche Bildelemente oder Anspielungen und natürlich vor allem die ins Bild integrierten Onomatopöien. Dazu kommen die bereits genannten Übersetzungsprobleme, die durch die Mischung aus Sachtext und literarischem Text entstehen. Besondere Probleme boten frühe Sachmanga-Übersetzungen. Japan GmbH (Nihon Keizai Nyūmon) von Ishinomori Shōtarō war einer der ersten Manga, die ins Deutsche übersetzt wurden. Die deutsche Fassung stammt von 1989. Es gab noch keine allgemeinen Konventionen für Manga-Übersetzungen, wie sie sich heute herausgebildet haben. So spiegelt diese Übersetzung einige der Probleme und einige der typischen frühen Problemlösungen wider. Japan GmbH handelt von dem wirtschaftlichen Erfolg Japans in den 1980er-Jahren. Die Welt blickte damals auf das kleine japanische Land, das ein Wirtschaftswunder aus der Erde stampfte. Wirtschaftswissenschaftler waren sehr interessiert daran, die Geheimnisse des japanischen Erfolgs zu ergründen. Entsprechend wurde der Manga in Deutschland nicht in einem Comic-Verlag oder einem allgemeinen Publikumsverlag veröffentlicht, sondern in einem Verlag für Wirtschafts-Fachliteratur. Die Textsorte Manga war damals ausgesprochen fremd, zumal für wirtschaftliche Inhalte, und das Buch wirkte eher wie ein Kuriosum auf dem deutschen Büchermarkt. Der Text wurde gespiegelt, damit der Leser von links nach rechts lesen konnte. Dabei wurden die Onomatopöien einfach mitgespiegelt (Berndt 1995: 36; Abb. dort auf S. 35). Die japanischen Katakana-Zeichen blieben
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also erhalten. Jemand, der kein Japanisch kann, hat keine Chance, die Onomatopöien zu lesen und zu verstehen. Für den Leser, der etwas Japanisch kann und die einzelnen Silbenzeichen mit ihrer Lautgestalt verbinden könnte, sehen diese gespiegelten Zeichen falsch aus. Sie werden zu einem sonderbaren ästhetischen Element absoluter Fremdheit. Ein ähnliches Problem trat bei der Übersetzung des Mangas Einführung in die Teezeremonie auf, bei dem teils die Leserichtung verändert wurde, teils nicht (siehe Jüngst 2010: 109). Der Comic Les Eaux Blessées wurde als Auftragsarbeit für die EU geschrieben; die Originalsprache ist Französisch. Er richtet sich an Leser ab etwa zwölf Jahren, aber auch an Erwachsene. Thema sind die Aufgaben der unterschiedlichen EU-Gremien, eingebettet in eine Krimihandlung um ein Umweltverbrechen. Der Comic ist in einem erwachsenen Ligneclaire-Stil gezeichnet und in eher gedeckten Farben coloriert. Die Übersetzungen, die der Verfasserin zugänglich und verständlich waren, sind inhaltlich einwandfrei. Auch das Lettering ist jeweils ansprechend und passt stets gut in die Sprechblasen. Mit Les Eaux Blessées hat die EU ein Qualitätsprodukt geschaffen, das auch in der Presse damals Aufmerksamkeit erregte. Als EU-Dokument war der Comic von vornherein zur Übersetzung vorgesehen, so dass möglichst viele EU-Bürger ihn in der Muttersprache lesen konnten. Ein wichtiges Unterthema des Comics ist die Multikulturalität. Die agierenden Figuren stammen aus verschiedenen EU-Ländern und arbeiten reibungslos zusammen. Sie sind jung, gutaussehend, gebildet und offensichtlich auch mehrsprachig. Ihr Leben spielt sich zwischen Brüssel und Luxemburg ab. In einer Szene sieht man die typische Repräsentation der Multikulturalität innerhalb der EU schlechthin: Im Europäischen Parlament wird eine Rede gehalten und in die Zielsprachen verdolmetscht. Die Hauptfigur steht vor den Dolmetschkabinen, in den Sprechblasen wird der Kernsatz des Comics in verschiedenen Sprachen wiederholt: „Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern ein ererbtes Gut.“ Bei der Übersetzung wurde die Entscheidung getroffen, den Redner jeweils in der Zielsprache sprechen zu lassen, da seine Worte durch das Gesicht der Hauptfigur hervorgehoben sind, während die Sprechblasen der Dolmetscher ein Hintergrundgeräusch bilden. Man hätte sich auch dafür entscheiden können, diese Rede immer in der gleichen Sprachkombination darzustellen wie im Original, doch die getroffene Entscheidung ist sehr viel besser. Sie lenkt den Blick des Lesers, und wenn er dann noch
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Abbildung 3: Englisch als Zielsprache
Quelle: Troubled Waters (2002: 6)
Abbildung 4: Deutsch als Zielsprache
Quelle: Trübe Wasser (2002: 6)
einen oder zwei Sätze in den Sprechblasen versteht, prägt sich der Leitsatz hervorragend ein. Was beim Übersetzen jedoch passiert ist, ist eine Vermischung unterschiedlicher Letteringtechniken. Das französische Original ist in einem eckigen Stil handgelettert und verwendet nur Großbuchstaben. Die deutsche Übersetzung ist in Groß- und Kleinschreibung gehalten; es wird ein Maschinenlettering verwendet. Auch die englische Übersetzung verwendet ein Maschinenlettering, verzichtet aber auf Kleinbuchstaben. In der Dolmetschszene sieht man in übersetzten Fassungen zumindest zwei Letterings. In der englischen Fassung steht das englische Lettering in der ersten und der letzten Sprechblase, eben bei dem erwähnten Leitsatz. Die anderen Sprechblasen sind im französischen Lettering belassen, bis auf die eine, die im Original englisch und hier französisch ist. Sie befindet sich im zweiten oberen Panel von links. In der deutschsprachigen
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Sprechblase ist ein Schreibfehler. Solche Fehler sind relativ typisch, wenn die Letterer in einer Sprache arbeiten müssen, die sie nicht verstehen. In der deutschen Version sind dann drei Letterings zu sehen. Die Sprechblase, in der im Original ein deutscher Text steht, enthält einen französischen Text im englischen Lettering (zweites oberes Panel von rechts). Diese Mischung macht die Übersetzung nicht schlechter. Sie spart auch etwas Arbeit und Kosten. Die Lettering-Mischung wirkt in dem sonst so perfekt gemachten Comic sehr uneinheitlich. Andererseits kann man daran sehr schön Vorgänge beim Übersetzen von Comics sehen.6
M ÖGLICHE K ATEGORISIERUNG
DER
Ü BERSE TZUNGEN
Die Übersetzungen von Sachcomics kann man nach einer Reihe von Kategorien einteilen. Die meisten davon hängen mit dem Zweck zusammen, und dieser wiederum hat mit dem jeweiligen Auftraggeber zu tun. In diesem Abschnitt werden die Publikationsmethode, die Anpassung an die neue Zielgruppe und die Begründung für eine Übersetzung als mögliche Klassifikationskriterien aufgeführt. Unter Publikationsmethode wird hier verstanden, in welcher Form die Comics von wem vertrieben werden. Comics, die in einem Verlag erscheinen, sehen schon von der materiellen Beschaffenheit her anders aus als Comics, die von einer Institution bzw. Behörde herausgegeben werden. Bei den Verlagen ist wiederum zu unterscheiden zwischen Schulbuchverlagen /Fachverlagen, allgemeinen Verlagen und Comic-Verlagen. Wieder anders sehen Comics aus Selbstverlagen aus; sie scheinen allerdings auch zeitlich sehr stark an die 1970er -/ 1980er-Jahre gebunden zu sein, in denen die einzigen Möglichkeiten zur Vervielfältigung Matrizen oder Schwarz-Weiß-Fotokopien waren. Die All-Atomic Comics des US-amerikanischen Autors Leonard Rifas wurden gleich drei Mal unterschiedlich ins Deutsche übersetzt. Zwei der Übersetzungen stammen von Laiengruppen, eine dritte erschien bei Schwermetall. Die Begründungen für die Laienübersetzungen haben beide einen Bezug zum Inhalt, der Darstellung 6 | Eine Analyse dieser Panels mit Schwerpunkt auf der Problematik der Dolmetschdarstellung findet sich in Jüngst (2005); Anmerkungen zu diesem Beispiel auch in Jüngst (2008c).
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von Gefahren der atomaren Verseuchung. Die All Atomic Comics fanden daher in der deutschen Antiatombewegung begeisterte Leser, die es für nötig befanden, diese Comics ins Deutsche zu übersetzen. So entstanden die beiden Laienübersetzungen. Bei beiden ist die Sprache oft holperig, das Lettering ist mangelhaft. Es gibt zu diesem Comic aber auch eine Übersetzung durch einen Verlag. Hier ist das Lettering sehr gut; sprachlich ist diese Fassung aber nicht überzeugender. Interessant an diesem Fall ist, wie gut dieser Comic zu den Bedürfnissen einer eng umrissenen Zielgruppe gepasst hat. Bei der Übersetzung des Verbaltextes wurde oft lokalisiert, d. h., Angaben zu US-amerikanischen Kernkraftwerken wurden durch solche ersetzt, die sich auf deutsche Verhältnisse bezogen. Die Bilder wurden jedoch nicht retuschiert, allenfalls wurden Bildinschriften ersetzt (siehe ausführlich in Jüngst 2008c). Manche Museen (Augusta Raurica in der Schweiz oder das Fram Museum in Oslo) bieten Comics als ergänzende Texte zu den Ausstellungen an und haben daher meist Übersetzungen in gängige Touristensprachen im Angebot, zumindest ins Englische. Ein seltener Fall ist die Übersetzung des Comics Prisca und Silvanus ins Lateinische, bei der es nicht um ein Besser-Verständlich-Machen des ursprünglich deutschen Textes ging, sondern um die Schaffung eines Mehrwertes für interessierte Leser. Prisca und Silvanus wird im Museum von Augusta Raurica verkauft, einer römischen Ausgrabung in der Nähe von Basel. Von Prisca und Silvanus liegen inzwischen mehrere Bände vor, in denen wichtige Situationen aus der Geschichte der Siedlung dargestellt werden. Die Comics sind für Kinder und Jugendliche gedacht, die das Museum besuchen und die so einen emotional ausgerichteten Zugang zu den Ausgrabungen bekommen sollen. Interessant ist, dass die Comics eben nicht nur in den typischen Besuchersprachen Deutsch und Französisch vorliegen, sondern auch auf Lateinisch. Die Verwendung der lateinischen Sprache beinhaltet eine Mehrfachadressierung. Selbstverständlich gibt es Kinder, die sich für das antike Rom und die lateinische Sprache interessieren. Es gibt aber auch Erwachsene, die möchten, dass sich Kinder für diese Dinge interessieren und die diese Comics als geeignetes Vehikel dafür ansehen dürften. Das müssen nicht unbedingt Lateinlehrer sein. Aber auch für diese sind solche Comics eine willkommene Lektüre für die Schule. Die Produzenten von Prisca et Silvanus konnten sich also darauf verlassen, dass eine gemischte Zielgruppe für das Produkt existiert.
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Übersetzungen ins Lateinische können nach verschiedenen Methoden vorgenommen werden. Meist dürfte ein gut verständliches Schul-Latein verwendet werden, das allerdings die Züge einer künstlichen Sprache hat. Bei Prisca et Silvanus wurde ein anderer Weg gegangen: Der Text hält sich grundsätzlich ans klassische Latein. Die Wahl der Wörter und Formulierungen jedoch konnte nicht wie bei einer lebendigen Sprache aus der eigenen Alltagserfahrung … erfolgen. Deshalb haben die Spezialisten in den antiken Textquellen nach möglichst ähnlichen Szenen, Beschreibungen, Stimmungen und Konstellationen gesucht, wie sie in der Geschichte von Prisca und Silvanus vorkommen. Aus nahe liegenden Gründen wurden die Übersetzer, Bruno W. Häuptli … und Markus Clausen …, in erster Linie bei den römischen Komödiendichtern Plautus und Terenz, bei Fachschriftstellern wie dem älteren Plinius und nicht zuletzt in vielen inschriftlichen Texten fündig, und haben so eine lateinische Sprachform für unsere erfundene Geschichte ausgesucht, die dem sprachlichen Ausdruck in römischer Zeit möglichst nahe kommt (online; siehe dazu auch Jüngst 2008: 196).
Diese Entscheidung ist übersetzerisch interessant. Die Übersetzer haben sicher hervorragende Kenntnisse der lateinischen Sprache und hätten selbst einen schullateinischen Text schreiben können, ohne zu überprüfen, ob er dem antiken Sprachgebrauch nahe kommt. Ebenjener Sprachgebrauch war den Übersetzern aber überaus wichtig. Sie wollten nicht einfach nur Latein, sie wollten gutes und vor allem authentisches Latein. Auf diesem Wege hat die lateinische Übersetzung von Prisca und Silvanus einen echten Mehrwert erhalten. Dazu passt der Anspruch eines Museums, das einen Einblick in die Lebensweise der Menschen zur römischen Zeit geben will. Der Zusammenhang zwischen Publikationsmethode und Wahl der Zielsprache(n) ist jedoch nicht nur in diesem Fall offensichtlich. Schulund Fachbuchverlage bedienen Minderheitensprachen nur, wenn diese im betreffenden Land auch Unterrichtssprachen sind. In Deutschland liegen die wenigen Sachcomic-Übersetzungen in Schulbuch- und Fachbuchverlagen nur auf Deutsch vor. Behörden oder Institutionen wollen dagegen normalerweise auch Minderheiten erreichen und legen daher Wert auf eine Übersetzung. In den USA kann man fast nicht mehr davon sprechen, dass Spanisch eine Minderheitensprache ist, und eine Übersetzung ins Spanische erscheint als logischer Schritt, um eine gute Verteilung von Sachco-
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mics zu gewährleisten. Behörden und Institutionen in Deutschland geben Sachcomics manchmal auch auf Russisch und Türkisch heraus. Das unter Globalisierung angeführte Beispiel Babys lieben Bücher gehört in diese Gruppe ebenso wie das Lokalisierungsbeispiel Let’s Talk About It! Die Begründung, warum ein bestimmter Sachcomic übersetzt wird, hängt wiederum eng mit den bereits genannten Kategorien zusammen. Bei Comics in Schul- und Fachbuchverlagen wird generell der Neuheitswert als Kriterium genannt. Er scheint stärker betont als die Qualität der jeweiligen Comics (Die Geschichte der Musik in Comics, Die Geschichte der Philosophie in Comics, beide Klett-Schulbuchverlag; Japan GmbH bei Rentrop; Anselm Wüßtegern-Comics, früher bei Vieweg). Die Themen der Comics passen aber stets in das Verlagsprogramm. Japan GmbH erschien in einem Fachverlag für Wirtschaftswissenschaften, Anselm Wüßtegern bei einem Verlag, der vorrangig Fachliteratur für Physiker verlegt.7 Bei Selbstverlagen im weitesten Sinne spielen offensichtlich die Themen eine sehr große Rolle. Der erste Manga, der überhaupt ins Deutsche übersetzt wurde, gehört auch in die Gruppe von Comics, bei denen das Thema der Hauptgrund für eine Übersetzung war: Hadashi no Gen, Barfuß in Hiroshima, erschien 1982 im Imprint rororo aktuell. Die Übersetzer betonen im Vorwort den Wert des Buches als politischen Text und weisen die Leser auf den Fremdheitseffekt der typisch japanischen Zeichnungen hin. Das Lettering ist unprofessionell. 2005 erschien eine Neuübersetzung mit neuem Lettering im Carlsen Verlag. Das zeigt eine klare Umorientierung hinsichtlich der Zielgruppe: Nicht mehr die Leser politischer Literatur sollen angesprochen werden, sondern die Leser anspruchsvoller Comics. Sachcomics zu schreiben und zu übersetzen kann zur Berufung werden. Die bereits erwähnten Anselm Wüßtegern-Comics werden schon lange nicht mehr in Print vertrieben. Der Autor hat sie alle zum kostenfreien Download ins Internet gestellt. Unter www.savoir-sans-frontieres.com kann man zu mehr als dreißig Themen und in einer Auswahl an Sprachen Comics lesen und ausdrucken. Man kann sich aber auch aktiv an der Verbreitung dieser Comics beteiligen: Savoir sans frontières sucht ständig freiwillige Übersetzer für alle denkbaren Sprachen. Die freiwilligen Übersetzer bekommen, ähnlich wie bei Scanlations oder bei Übersetzungen für 7 | In diesem Verlag erschienen daher nur Bände, die mit Physik und Mathematik zu tun haben.
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Comic-Verlage, eine Vorlage mit leeren Sprechblasen zur Verfügung gestellt. Im Prinzip müssen die Übersetzer nicht den französischen Originaltext als Vorlage nutzen, sondern können eine bereits vorhandene Übersetzung als Ausgangstext wählen. Eine solche Relaisübersetzung hat Nachteile. Zum einen können sich bereits beim ersten Übersetzungsvorgang kleine, sprachbedingte Verschiebungen ergeben, die im zweiten Übersetzungsgang große Verschiebungen bedingen. Zum anderen werden Fehler in der ersten Übersetzung womöglich nicht bemerkt und in die zweite Übersetzung weiter verschleppt. Abbildung 5: Ausgangstext
Quelle: www.savoir-sans-frontieres.com. Le Trou Noir.
Abbildung 6: Leere Sprechblasen für den Übersetzer
Quelle: www.savoir-sans-frontieres.com. Le Trou Noir.
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C ONCLUSIO Hier konnte nur ein kleiner Einblick in das faszinierende Gebiet der Sachcomic-Übersetzung gegeben werden. Doch schon an diesen wenigen Beispielen konnte man sehen, wie Zielgruppen, Publikationsmethoden, Zielsprachen und die Besonderheiten des Comic-Formats die Übersetzungen beeinflussen und wie vielfältig die Resultate sind. Man kann daher auch keine Kategorien festlegen, wie Sachcomics am besten übersetzt werden sollten. Wenn die Übersetzung in der Zielkultur den angestrebten Zweck erfüllt, dann ist sie gelungen. Dafür muss sie nicht perfekt sein. Wichtiger ist, dass sie überhaupt existiert!
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L ITER ATURVERZEICHNIS Primärliteratur Die Primärtexte werden im Text nach Titel zitiert und sind daher entsprechend angeordnet. Die Abenteuer des Anselm Wüßtegern: Das Topologikon, Jean-Pierre Petit, Übersetzung: A. Pierre/A. Weber, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, 1995. The Adventures of Sananguaqatiit, Vol. 1, No. 1, Englisch und Inuktitut, Story und Ill.: Jennifer Ring, Übersetzung: Michael Haqpi, Nepean, Ontario: Inuit Art Foundation, n.y. [1993?] The Adventures of Sananguaqatiit, Vol. 1, No. 3, Englisch und Inuktitut, Story und Ill.: Jennifer Ring, Übersetzung: Simeonie Kunnuk, Nepean, Ontario: Inuit Art Foundation, 1993. The Adventures of Sananguaqatiit, Vol. 2, No. 2, Englisch und Inuktitut, Story und Ill.: Jennifer Ring, Übersetzung: Simeonie Kunnuk, Nepean, Ontario: Inuit Art Foundation, 1994. The Adventures of Sananguaqatiit: Close Call in the Quarry, Vol. 2, No. 3, Englisch und Inuktitut. Story und Ill.: Jennifer Ring, Übersetzung: Simeonie Kunnuk, Nepean, Ontario: Inuit Art Foundation. n.y. [1994?]. All-Atomic Comics, Leonard Rifas, San Francisco: EduComics, 1976. All-Atomic Comics, Leonard Rifas, San Francisco: EduComics, neue überarbeitete Auflage 1980. Atom-Comic, deutsche Fassung von All-Atomic Comics, Autor: Leonard Rifas. © für die deutsche Fassung: NEXUS Verlag, Frankfurt a. M. 1980. Atom-Comic, deutsche Fassung von All-Atomic Comics, Autor: Leonard Rifas, Übersetzung: Ulrike Breitschuh. Lübeck: Bürgerinitiative Lübeck gegen Kernenergiegefahren, 1978. Atom Comics, deutsche Fassung von All-Atomic Comics, Autor: Leonard Rifas, Übersetzung: Robert Lug, Lettering: Marianne Nuß, Linden: Volksverlag, 1981. U-Comix Extra. No. 11. Babys lieben Bücher, Eine Information für Erwachsene. © Stadtbibliothek Brilon. Ill.: Julika Fastabend. O. J. [2008]. Barfuß durch Hiroshima [Hadashi no Gen 1.], Übersetzung aus dem Englischen und Japanischen ins Deutsche von Hans Kirchmann und Kumiko Yasui, Reinbek: Rowohlt, 1982. Barfuß durch Hiroshima 1: Kinder des Krieges [Hadashi no Gen 1], Übersetzung: Nina Olligschläger, Hamburg: Carlsen, 2005.
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Bebekler Kitap Sever, © Stadtbibliothek Brilon. Ill.: Julika Fastabend. O. J. [2008]. Einführung in die Teezeremonie [Chakai Nyūmon], Sen Sōshi/Hiromi Yamasaki (Ill.). 1. Kapitel. Übersetzung: Christian Dunkel. Berlin: Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin, 2001. En tus manos está el problema y la solución. O. O., o. J. migrantclinician.org/ pdfs/en_tus_manos.pdf. Die Geschichte von der Wyhlmaus und anderen Menschen, Jari Pekka Cuypers (Ill.) und Wolfgang Hipp, Ö-Comic no. 1, Frankfurt a. M.: Verlag Jugend und Politik, 1978. Die Geschichte der Musik in Comics [Histoire de la musique en bandes dessinées], Bernard Deyriès/Denis Lemery/Michael Sadler, Übersetzung: Rainer Redies, Stuttgart: Thienemann, 1985 [und Stuttgart: Klett, 1980]. Geschichte der Philosophie in Comics. Das griechische Denken. Von den Anfängen bis zur Spätantike [Storia della filosofia], Domenico Casamassima/ Eugenio Fiorentini (Ill.)/Pino Casamassima (Scen.), Übersetzung: Helmut Schareika, Stuttgart etc.: Klett, 1994 [1989]. ¡Hablemos!, spanische Ausgabe von Let’s Talk About It!, Text: Scott Deschaine / Mike Benton, Glenside, PA: Custom Comic Services, 1990, verteilt über die American Psychiatric Association. Hallo Nicaragua [Compa Nicaragua], Rius [Eduardo del Rio], Übersetzung: Horst-Eckart Gross/Rainer Hachfeld, Dortmund: Weltkreis-Verlag, 1983. Japan GmbH [Nihon Keizai Nyūmon], Ishinomori Shōtarō, Übersetzung: Akiko-Elisabeth Burian, Bonn: Rentrop, 1989. Marx für Anfänger. [Marx para Principantes], Eduardo del Rio [Rius], Vom Englischen ins Deutsche übersetzt von Ludwig Moos, Reinbek: rororo, 1979. Maus. A Survivor’s Tale. I. My Father Bleeds History, Art Spiegelman, London etc.: Penguin, 1987. Maus. A Survivor’s Tale. II. And Here My Troubles Began, Art Spiegelman, London etc.: Penguin, 1992. Mom’s Cancer, Brian Fies, New York: Abram’s Image 2006. Deutsche Ausgabe: Mutter hat Krebs, Übersetzung: Wolfgang J. Fuchs, München: Knesebeck, 2006. Let’s Talk About It!; Text: Scott Deschaine/Mike Benton; Glenside, PA: Custom Comic Services, 1990, verteilt über die American Psychiatric Association.
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Prisca et Silvanus 1. Turbida Tempora Augustae Rauricae, Scenario: Dorothee Šimko, Ill: Roloff [Rolf Meier], in Latinum converterunt Bruno W. Häuptli et Marcus Clausen, Augster Museumshefte 17, Augst, CH: Römermuseum Augst, 1996. Prisca et Silvanus 2. Augusta Raurica Deleta, Scenario: Dorothee Šimko,. Ill: Roloff [Rolf Meier], in Latinum convertit Bruno W. Häuptli, Augster Museumshefte 20, Augst, CH: Römermuseum Augst, 1997. Prisca und Silvanus 2: Die Zerstörung von Augusta Raurica, Scenario: Dorothee Šimko, Ill: Roloff [Rolf Meier], Augster Museumshefte 18, Augst, CH: Römermuseum Augst, 1995. Troubled Waters [Les Eaux Blessées], Europäisches Parlament (Hg.), Konzept/Produktion: Concerto, Brüssel, Scenario und Text: Cristina Cuadra, Rudi Miel, Illustrationen: Dominique David, Farbe: Etienne Simon, Luxemburg: Amt für Amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 2002. Trübe Wasser [Les Eaux Blessées], Europäisches Parlament (Hg.), Konzept/ Produktion: Concerto, Brüssel, Scenario und Text: Cristina Cuadra, Rudi Miel, Illustrationen: Dominique David, Farbe: Etienne Simon, Luxemburg: Amt für Amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 2002. www.savoir-sans-frontieres.com stellt PDF-Dateien der folgenden Comics zur Verfügung: Le Géométricon, L’Aspirisouffle (Si on volait?), L’informagique, Tout est Relatif, Le Trou Noir, Big Bang, Le Mur du Silence, Energétiquement vôtre, Mille Milliards de Soleils, A quoi rêvent les Robots, Pour Quelques Ampères de Plus, Le Topologicon, Cosmic Story, Le Chronologicon, Le Logotron, Le Tour du Monde en Quatre Vingt Minutes, Le Spondyloscope, Joyeuse Apocalypse, Cendrillon 2000, Moneyback découvre l’informatique, Le Versant Obscur de l’Univers, La CAO sans peine, L’Electricité: riez, nous nous chargeons du reste, Les Enfants du Diable, Le mariage de la science de haut niveau avec l’Armée. Géométrie et Relativité, von JeanPierre Souriau, Structure des Systèmes Dynamiques, von Jean-Marie Souriau, La Passion Verticale, von J. P. Petit, Lien, Les Mille et une Nuits Scientifiques (21 octobre 2007).
Sekundärliteratur „Augusta Raurica – Publikationen: Zusammenfassungen …“, http:// www.bl.ch/docs/kultur/augustaraurica/publ/sum_hefte3.htm#d vom 15.12.2005.
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A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Anglo-Saxons als Zielgruppe: Let’s Talk About It!; Text: Scott Deschaine/Mike Benton; Glenside, PA: Custom Comic Services, 1990, verteilt über die American Psychiatric Association, S. 8. Abb. 2: Latinos als Zielgruppe: ¡Hablemos!, spanische Ausgabe von Let’s Talk About It!, Text: Scott Deschaine/Mike Benton, Glenside, PA: Custom Comic Services, 1990, verteilt über die American Psychiatric Association, S.8. Abb. 3: Englisch als Zielsprache: Troubled Waters [Les Eaux Blessées], Europäisches Parlament (Hg.), Konzept/Produktion: Concerto, Brüssel,
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Scenario und Text: Cristina Cuadra, Rudi Miel, Illustrationen: Dominique David, Farbe: Etienne Simon, Luxemburg: Amt für Amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 2002, S. 6. Abb. 4: Deutsch als Zielsprache: Trübe Wasser [Les Eaux Blessées], Europäisches Parlament (Hg.), Konzept/Produktion: Concerto, Brüssel, Scenario und Text: Cristina Cuadra, Rudi Miel, Illustrationen: Dominique David, Farbe: Etienne Simon, Luxemburg: Amt für Amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, 2002, S. 6. Abb. 5: Ausgangstext: www.savoir-sans-frontieres.com. Le Trou Noir. JeanPierre Petit, S. 7. Abb. 6: Leere Sprechblasen für den Übersetzer: www.savoir-sans-frontie res.com. Le Trou Noir. S. 7.
Potenziale der sequenziellen Kunst: Bildergeschichten und Comics im naturwissenschaftlichen Unterricht Markus Prechtl
„Ah, es gibt nichts Aufregenderes als Wissenschaft …“
„… Das Vergnügen, still zu sitzen, leise zu sein, Zahlen aufzuschreiben, aufzupassen. Wissenschaft hat alles.“ Dieser Auffassung, die Schulrektor Seymour Skinner in der Simpsons-Episode Barts Komet (Staffel 6) vertritt, würden wahrscheinlich nur wenige Kinder und Jugendliche zustimmen; ganz besonders Bart Simpson nicht, der den Prototyp des widerspenstigen Schülers verkörpert. Denn die sogenannten „harten Naturwissenschaften“ Chemie und Physik gelten gemeinhin als schwierig, abstrakt und rational. Beständig hält sich der Eindruck, ihnen sei das Subjekt und damit auch alles Emotionale abhandengekommen. Er bietet immerwährend Anlass, die Grenzziehung zwischen den literarisch-geisteswissenschaftlichen und den naturwissenschaftlich-technischen Kulturen aufrechtzuerhalten, die bereits Snow (1959, in Kreuzer 1969) in seinem autobiografisch gefärbten Vortrag beklagte. Comics und ihre Verwandten können diese Kluft überwinden. Sie transportieren Bilder von Wissenschaften und von Menschen, die sich mit ihnen beschäftigen, deren Motivationen, Emotionen, Verdienste und Verfehlungen.
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W ISSENSCHAF T IN C OMICS – C OMICS DER W ISSENSCHAF T
IN
Splitter naturwissenschaftlichen Denkens und Handelns begegnen uns in der Comic-Welt vielerorts: in Entenhausen, wo der stets hilfsbereite Erfinder Daniel Düsentrieb beheimatet ist oder in den dunklen Katakomben von Gotham City, Metropolis und NYC, wo verrückte Wissenschaftler skurrile Experimente durchführen (Abb. 1) und damit ihren tugendhaften Kontrahenten Batman, Superman und Spider-Man vielfältige Möglichkeiten bieten, die Welt vor unsäglichem Schaden zu bewahren. Mittlerweile interessieren sich zunehmend reale Wissenschaftler für das Wirken ihrer fiktionalen Kollegen und nehmen den Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Phänomene, die in Comics dargestellt werden, unter die Lupe – teils aus Freude am Aufspüren von Ungereimtheiten, teils didaktisch motiviert (z. B. Bernshausen/Kuhn 2010, Carter 1988 & 1989, Di Raddo 2006, Halpern 2008, Kakalios 2006, Kuhn/Bernshausen/Müller/Müller 2010, Roesky/Kennepohl 2008). Neben den Akteuren lenken auch fiktive Elemente und Verbindungen (Ober/Krebs 2009) die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Wissenschaft im Comic, so beispielsweise die vermeintliche Entdeckung einer Substanz, die Supermans Kräfte schwinden lässt: Kryptonit (vgl. Abb. 2). Ein dreiviertel Jahr nach der Premiere des Kinofilms Superman Returns (2006), der in der Szene des Museumsraubes die chemische Zusammensetzung von Kryptonit auf einem Exponatschild zeigt („sodium lithium boron silicate hydroxide with fluorine”), präsentierte das Natural History Museum in London ein Mineral (Jadarit) mit nahezu übereinstimmender Struktur. Die am 24. April 2007 geschaltete Pressemeldung (Reuters) „Kryptonite, which robbed Superman of his powers, is no longer the stuff of comic books and films“ wurde breit rezipiert und bescherte dem Museum einen hohen Zulauf. Der Fall zeigt, wie die Wissenschaft ihren Weg in den Comic und der Comic seinen Weg in die Wissenschaft findet. Dabei gewinnen beide auf ihre Weise die jungen Leser – für Comics und für die Wissenschaft. Der vorliegende Beitrag widmet sich dieser Win-win-Situation und insbesondere den Potenzialen der Verknüpfung von visueller Kunst und naturwissenschaftlichen Inhalten, von denen die Schulpraxis profitieren kann.
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Abbildung 1: Geheime Wissenschaft in Gotham City
Quelle: Kabatek (1981: 18)
Abbildung 2: Superman und Kryptonit
Quelle: O’Neil/Swan/Anderson (2009: 13)
Im Aufsatz möchte ich zeigen, dass die Potenziale des Comics im Unterricht zur Geltung kommen können, wenn die Schülerinnen und Schüler im Umgang mit visuellen Botschaften angeleitet werden, etwa über den Weg der eigenen Produktion von Bildsequenzen. Den nun folgenden allgemeinen Betrachtungen zur Rezeption visueller Botschaften schließt sich eine fachdidaktische Vertiefung zur Anwendung von Gestaltungsmöglichkeiten des Comics an.
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V ISUELLE B OTSCHAF TEN REZIPIEREN – S ACHINFORMATIONEN NUT ZEN Wann sagt ein Bild mehr als Worte? Im Vergleich zu Forschungsrichtungen, die sich mit der Verarbeitung von Texten befassen, steckt die empirische psychologische Analyse der Bildrezeption und -produktion noch in den Kinderschuhen. Obwohl sich in der angloamerikanischen Instruktionspsychologie die Idee des Bildüberlegenheitseffekts etablieren konnte und hier pragmatisch angewendet wird, z. B. in der Schulung mit Abbildern, die eine mnemotechnische Funktion erfüllen, wurde bislang nur unzureichend geklärt, welche Effekte Wort-BildKombinationen zu einer guten Basis für das Verstehen von Prozessen machen. Eine Schwierigkeit stellt die Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten korrespondierender Elemente schriftlicher und bildlicher Darstellungen sowie der Rezeptionsmöglichkeiten der Vertreter verschiedener Zielgruppen dar. Auch wenn das Sprichwort „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ für die Überlegenheit visueller Darstellungsformen wirbt, im didaktischen Kontext ist eine differenzierte Betrachtung angemessen. Die Ergänzung von Sachtexten mit Bildern, wie sie typischerweise in Schulbüchern geschieht, ist für sich genommen noch kein Erfolgsgarant für ein verbessertes Behalten und Verstehen von Informationen; einmal ungeachtet der Tatsache, dass Bilder Leser mitunter erst motivieren, sich einem Thema zuzuwenden. So konnte Weidenmann (1988) zeigen, dass Bilder nur flüchtig angeschaut und dementsprechend oberflächlich verarbeitet werden. Seine Feststellung stützen Befunde der Arbeitsgruppe von Sumfleth (1995) zur Wirksamkeit von Bildern für das Lernen chemischer Inhalte. Auch das Gros der Teilnehmer dieser Studie beschränkte sich bei der Vorgabe einer Bild-Text-Verknüpfung auf den geschriebenen Text und vernachlässigte das Bildmaterial. Dieses, argumentieren die Forscherinnen und Forscher, spiele für die Aufnahme von Informationen eine untergeordnete Rolle, da die Vertrautheit der Rezipienten im Umgang mit Texten im Vergleich zur Codierung von Bildern größer sei. Die Informationsaufnahme via Text erfolge vergleichsweise leichter und schneller. Die Befunde zeigen, dass die Qualität der Bildrezeption zum einen von den Fähigkeiten und Vorkenntnissen des Rezipienten abhängt. Zum anderen spielt eine Rolle, ob Bilder wahrnehmungspsychologisch geschickt eingesetzt werden: Mayer und Gallini (1990) verglichen vier Lerngruppen
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miteinander, denen ein Informationstext über ein technisches System separat oder in Kombination mit unterschiedlichen Bildinformationen vorgelegt wurde. Eine Gruppe erhielt ausschließlich den Text, die anderen Gruppen ergänzend hierzu entweder a) eine statische Abbildung des Systems, dessen Komponenten zusätzlich benannt wurden, b) die Abbildung samt Erläuterung der Arbeitsweise einzelner Systemkomponenten bzw. c) sogenannte Parts-and-steps-Abbildungen, die den komplexen Vorgang in einer mehrstufigen Abfolge, in Einzelschritte untergliedert, präsentierten. Die Probanden aus der letztgenannten Gruppe, insbesondere die leistungsschwächeren, erzielten beim Lösen von Aufgaben, die sich auf die Darstellung bezogen, signifikant bessere Ergebnisse. Sumfleth und Telgenbüscher (2000) bestätigten diese Befunde anhand von Aufgaben aus dem Chemieunterricht. Auch in dieser Untersuchung profitierten besonders leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler mit einem geringen Vorwissen von parts-and-steps-Abbildungen. Diese erleichterten die Generierung adäquater Denkmodelle und verbesserten die Qualität von Transferleistungen. Es ist anzunehmen, dass die schrittweise Aufschlüsselung die Komplexität der gesamten Information reduziert, sodass in der Folge deren Reorganisation strukturierter ablaufen kann. Für Lernende mit größerem Vorwissen spielte die Art der bildlichen Darstellung keine Rolle und beeinflusste auch nicht die Behaltensleistung (ebd.). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Qualität von Lernprozessen mit Bildmaterialien einerseits von der Aufbereitung und Darbietung der Bilder und andererseits von den Kompetenzen sowie von dem Vorwissen der Rezipienten abhängt. Der Einsatz von Bildern im Unterricht fördert damit nicht per se das Verständnis von Lerninhalten. Positive Effekte durch Bebilderung ergeben sich, wenn a) Informationen teil- und schrittweise dargeboten werden, wie in den genannten Partsand-steps-Abbildungen, die mit Bildsequenzen in Comics große Ähnlichkeit haben, und wenn b) die Lernenden im Umgang mit Bildern geschult werden.
Gebildet durch Bilder? Mitunter werden Sachinformationen bewusst und vermittels unterschiedlicher Strategien (vgl. Jüngst 2010: Kap. 5.4.4) in Abbildungen und Dialoge integriert, um die jungen Leser zu bilden, so auch in der Micky MausGeschichte Die Pyramide, die es gar nicht geben dürfte (Disney Enterprises
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2010: 291–340). Neben den in Abbildung 3 dargebotenen Informationen wird das Verzinken als Verfahren zum Schutz vor Korrosion vorgestellt. Abbildung 3: Sachinformationen zum chemischen Element Zink
Quelle: Disney Enterprises (2010: 300/301)
Mittlerweile bieten zahlreiche Sachcomics Einblicke in den Makro- und Mikrokosmos sowie in Modellvorstellungen der Naturwissenschaften, zum Teil auf hohem Niveau: Der französische Sachcomic Le Labo (Duhoo 2010) stellt prestigeträchtige Forschungsfelder des Landes vor, darunter komplexe Untersuchungsmethoden zum Spin-Konzept und zur elektromagnetischen Strahlung; Energie! – Entdecke, was die Welt bewegt! (Knigge/ Meise/Pluta 2008) ist ein deutschsprachiges Wissens- und Comicbuch, das das Themenfeld Energie didaktisch hervorragend illustriert; der japanische Manga Guide to Molecular Biology (Takemura/Sakura 2009) widmet sich biochemischen Inhalten. In der englischsprachigen Übersetzung heißt es zum enzymatischen Abbau von Alkohol in der Leber: „Drinkzilla’s
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claws [entspricht Ethanol; Anm. M.P.] are extremely toxic. The liver is in jeopardy if no one will help!“ (ebd.: 64). Hilfe naht in der Person eines Protagonisten, der seine geheim gehaltene Identität als „Enzyme Man“ offenbart und das Problem mit einen „Catalyst Kick“ löst (Abb. 4). Abbildung 4: „Catalyst Kick!“ – enzymatischer Abbau des Alkohols in der Leber
Quelle: Takemura/Sakura (2009: 65)
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Mit Concept Cartoons das Argumentieren lernen Befunde zum Einsatz von Concept Cartoons (Steininger/Lembens 2011, Stenzel/Eilks 2005, Naylor/Keogh 2000) zeigen, dass die Auseinandersetzung mit dieser Darstellungsform bei Jugendlichen die Bereitschaft fördert, eigene Vorstellungen zu formulieren. Concept Cartoons präsentieren eine Gruppe von Menschen, die miteinander über eine Sache diskutieren. Es handelt sich typischerweise um alltägliche Phänomene, etwa das Rosten von Gegenständen aus Eisen, die sich sowohl mit dem Alltagswissen als auch mit naturwissenschaftlichen Konzepten erklären lassen. Die dargestellten Personen äußern entsprechend unterschiedliche Meinungen. Da keine der Aussagen vollkommen zufriedenstellend ist, kommt den Schülerinnen und Schülern die Aufgabe zu, sich quasi an der Diskussion zu beteiligen. Sie nehmen zu den Aussagen Stellung und begründen ihre Zustimmung oder Ablehnung. Auf diese Weise verbessert sich ihre Argumentationsfähigkeit.
Mit Comics und Filmleisten Lesekompetenzen fördern Die Idee, Schülerinnen und Schüler aus sogenannten Risikogruppen mit geringem Leseinteresse und geringen Lesekompetenzen mit Comics und verwandten Methodenwerkzeugen für das Lesen zu gewinnen, stammt ursprünglich aus dem (fremd)sprachlichen Unterricht. Diesen Jugendlichen fällt es schwer, geschriebene Texte in ihren Aussagen bzw. ihrer Struktur zu verstehen und als Anleitung sachgerecht zu nutzen. Sie haben Probleme mit der logischen Verknüpfung von Informationen, besonders dann, wenn Handlungen nicht chronologisch verlaufen, sowie mit den Dimensionen Fiktionalität und Metaphorik (Hummelsberger 2008: 170). Vor diesem Hintergrund wird eine gezielte Förderung vorgeschlagen: Bei Schwierigkeiten mit der logischen und zeitlichen Abfolge sowie dem Verständnis von Texten auf der Handlungsebene helfe eine Visualisierung von chronologischen Abläufen mit Methodenwerkzeugen, die eine komplexe Handlung in einzelne Handlungsschritte aufgliedern (ebd.). Ein Beispiel hierfür ist die Filmleiste (Leisen 2003, Freiman/Schlieker 2001), die dem Betrachter einen Vorgang als Folge von Momentaufnahmen präsentiert. Sie ist eine gute Darstellungsform für fachliche Prozesse, die in einem chronologischen Zusammenhang stehen, wie Abläufe von Reaktionen, Versuchsaufbauten und Bedienungsanleitungen von Geräten. Dies ist anhand der
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Zeichnung einer Realschülerin der neunten Jahrgangsstufe zum Experiment Die Pharaoschlange, bei dem ein voluminöser Kohleschaum entsteht, nachvollziehbar (Abb. 5). Abbildung 5: Filmleiste zum Experiment „Die Pharaoschlange“
Quelle: Realschülerin der neunten Jahrgangsstufe (2006)/Archiv des Autors
Sachcomic = Lerncomic? – Zur Problematik diskrepanter Botschaften Auf der Grundlage seiner Problemanalyse empfiehlt Hummelsberger (2008: 170) weiterhin zur Schulung des Umgangs mit Fiktionalität bzw. Metaphorik in Texten, Parallelen zu Comics zu ziehen, da diese Dimensi-
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onen in dieser Textsorte leichter erkennbar seien. In einer Fußnote fügt er ergänzend an: Insbe sondere Comics eignen sich ideal dazu, den Schülerinnen und Schülern ein Gefühl dafür zu vermitteln, dass in Texten nicht alle Informationen explizit dargelegt sind, sondern erst vom Leser erschlossen werden müssen; schließlich muss gerade beim Comic die zwischen jeweils zwei Tableaus liegende Handlung auch indirekt erschlossen werden. Dies kann in Analogie zu anderen Medien gesetzt werden (Hummelsberger 2008: 170).
Bezogen auf die typischen Gestaltungsmerkmale des Comics ist dieser Argumentation zuzustimmen. Betrachtet man sie jedoch unter dem Aspekt der Forderung nach einer sachgerechten Wissensvermittlung, sind auch ambivalente Begründungen denkbar. Anhand von fünf Exempeln zum Gegenstand Atomzeitalter kann verdeutlicht werden, dass die jungen Leser bei ihrer Lektüre, je nach Kontext, auf wissenschaftskonforme bzw. fantastische Konstrukte oder auf Mischformen treffen: 1. Die Sonderausgabe The Atomic Age des Sachcomics Classic Illustrated liefert einen Abriss zur Genese der Kernforschung sowie Darstellungen zum Aufbau von Kernreaktoren und lobpreist deren Nutzen (vgl. Carter 1989). 2. In der Simpsons-Episode Frische Fische mit drei Augen (Staffel 2) taucht ein mutierter Fisch in der Nähe des Kernkraftwerkes auf. Die daraufhin eingeleitete Inspektion offenbart zahlreiche Sicherheitsmängel, etwa einen mit Kaugummi geflickten Riss im Kühlturm oder einen Brennstab, der als Briefbeschwerer verwendet wird (vgl. Halpern 2008: 42). 3. Der Manga Die Wolke (Hage 2011) setzt sich mit der Möglichkeit und den Konsequenzen eines Super-GAUs in Deutschland auseinander. Er schildert die Flucht der 15-jährigen Janna vor der radioaktiven Wolke, den Tod ihrer Familie, das Leiden ihrer Krebserkrankung und den Verlust ihrer Wünsche und Hoffnungen: „Und ich wollte irgendwann Kinder haben. Aber keine mit drei Augen!“ (ebd.: 146). 4. In den vier Bänden des vielfach ausgezeichneten Comics Barfuß durch Hiroshima dokumentiert Nakazawa (2004– 2005) autobiografisch gefärbt und in unerbitterlicher Direktheit das Trauma des Atombombenabwurfs. 5. Die Manga-Figur Astro Boy und der Superheld aus Bart Simpsons Lieblingscomic Radioactive Man verdanken ihre körperlichen Kräfte einem atomaren Antrieb bzw. der Verstrahlung durch eine Atombombenexplosion. Weitere Beispiele ließen sich anführen (vgl. Pannor 2011), die Quellen für Sachinformationen unterschied-
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lichster Provenienz und Qualität sind. Sie zeigen, dass das Spektrum von Publikationen reicht, die die Fachsystematik adäquat abbilden und eine didaktische Funktion erfüllen, bis zu Formen, die Inhalte ohne Anspruch auf eine wissenschaftskonforme Darstellung aufgreifen und eher mystische Muster bedienen. Ein Vertreter des letzteren Typs ist der Manga Fullmetal Alchemist (Arakawa 2002): Die Leser begleiten zwei neuzeitliche Alchemisten, die Elric-Brüder, bei ihrem Versuch, „[…] die Prinzipien, nach denen die Gegenstände in der Welt aufgebaut sind, zu ergründen“ (Bd. 1, Kap. 1): Unwissende glauben, dass Alchemie eine praktische Technik ist, mit der man einfach grenzenlos alles Mögliche erzeugen kann./Aber es gibt strenge Regeln./ Grob gesagt, die Gesetze der Massenerhaltung und der Vorsehung der Natur./ Manche in unserer Zunft legen auch die vier Elemente oder die drei Grundmaterialien zugrunde …/… Aber man kann aus einem Gegenstand nicht mehr erzeugen, als vorher da war … zum Beispiel, aus einem Gegenstand mit Wasser-Natur kann man nur einen anderen Gegenstand mit dieser Wasser-Natur erzeugen./ Das heißt, es gibt ein alche mistisches Grundprinzip: „Das Gesetz des äquivalenten Austausches“!! (Arakawa 2002, Bd. 1, Kap. 1).
Diese Aussagen und ähnliche Formulierungen wirken vordergründig vertraut, da die Fachsprache der Wissenschaft, wenn auch in abgewandelter Form, geschickt auf die fiktionale Folie appliziert wird. So verschwimmen die Grenzen der Zuständigkeitsbereiche. Comics sprechen Rezipienten auf verschiedenen Ebenen an: auf der visuellen Ebene (Bilder, Stil, Genre) und der narrativen Ebene, die ein Genre (z. B. Science-Fiction) bedient, sowie im Speziellen, im Fall von Sachcomics, auf der inhaltlichen Ebene, die exaktes Wissen vermitteln soll. Keller/Oechslin (in diesem Band) konnten anhand von Studien zur Akzeptanz des Sachcomics Abenteuer im Reich der Synthetic Biology zeigen, dass diskrepante Botschaften entstehen, wenn Sachinformationen in fiktive Handlungen eingebettet oder mit kindlicher Darstellung kombiniert werden. Die fehlende Kohärenz zwischen einzelnen Botschaftsebenen führt zur Verwirrung und verringert letztendlich die Bereitschaft, sich mit einem Inhalt auseinanderzusetzen. Vergleichbare Beschränkungen dürften für den oben angeführten Titel Die Pyramide, die es gar nicht geben dürfte, mit dem Schwerpunkt Verzinken, gelten. Denn die Handlung bietet
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neben wirklichkeitsgetreuen Informationen auch Begegnungen mit Raumschiffen und Außerirdischen. Lehrpersonen können mit Lernarrangements, die Schülerinnen und Schüler dazu anleiten, reflektiert mit Medien umzugehen, einen geeigneten Rahmen bieten, in dem sich die Potenziale der sequenziellen Kunst entfalten können, die hier, rekurrierend auf Schüwer (2005), in Schlagworten wiedergegeben werden: „motivieren“, „verschiedene Lerntypen ansprechen“, „mehrdimensionale Kommunikation bieten“, „Medienwechsel in den Unterricht bringen“, „Kreativität fördern“, „inhaltlich komplexe und dabei sprachlich zugängliche Texte bieten“ (ebd.). Das Niveau der Entwicklung der Fertigkeit, visuelle Botschaften kontextspezifisch zu interpretieren sowie bildhafte Sprache in verbale Sprache zu übersetzen et vice versa, hängt von reflektierten Erfahrungen mit visuellen Medien ab. Durch das Einbeziehen der Schülerinnen und Schüler in den Prozess der Produktion von Bildsequenzen und durch das Vertrautwerden mit für Comics typischen Gestaltungsprinzipien und Codes wird diese gefördert. Das folgende Kapitel liefert hierzu Anregungen.
V ISUELLE B OTSCHAF TEN ERZEUGEN – G ESTALTUNGSMÖGLICHKEITEN ANWENDEN In Comic-Projekten Erfahrungen sammeln und miteinander teilen Es werden Methoden vorgestellt, die im Rahmen von nachmittäglichen Kursen („Chemistry & Comic“) an Schulen erprobt wurden (Prechtl 2008a). Comic-Projekte bieten einen geeigneten Rahmen, die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten und der Lesarten der sequenziellen Kunst kennenzulernen (vgl. Bitz 2010, Dinter/Krottenthaler 2007, Sanladerer 2003). Hier erhalten die Jugendlichen Freiräume, die nötig sind, um sich in ein Thema versenken und um persönliche Bedeutsamkeit herstellen zu können. Indem sie ihre Worte in die Münder ihrer Comic-Charaktere legen, schreibt Bitz (2010: 88), fänden Lernende eine Stimme und somit ein Ventil für die Selbstdarstellung. Viele Bildergeschichten spiegelten Aspekte der Identität der jungen Zeichner wider und gewährten Einblicke in persönliche Ansichten und Empfindungen.
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In most after-school settings, learning is mandatory, but attendance is voluntary. Therefore, after-school educators have had to unearth ways of supporting academic and social development while enticing youths to participate. The young comic book creators want their commas and semicolons to be correct because the comic books are theirs – the comics represent their ideas, identities, fears, and dreams for the future. Even for those students who never exhibited any prior interest in comics, CBP [comic book project; Anm. M. P.] became a forum for self-expression and creative exploration (Bitz 2010: 23).
Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass allgemein eine hohe Motivation bei Kindern und Jugendlichen für das Lesen und Gestalten von Comics festzustellen ist.
Mit grafischen Gestaltungsmitteln das bewusste Beobachten lernen An dieser Stelle werden nun Übungen zur Förderung des bewussten Hinschauens und zur Schulung der Prägnanz zeichnerischer Darstellungen vorgestellt, die der Autor gemeinsam mit Jugendlichen entwickelt hat. Im Dreiminutentakt wurde eine grobe Skizze – ein Scribble – jeweils vor und nach einem kurzen theoretischen Einschub angefertigt. Nach diesem Verfahren wurden verschiedene Schwerpunkte erarbeitet, von denen nachstehend eine Auswahl vorgestellt wird: Aufgabe A („Licht“): Ein Tiegel wurde mit einer leicht entzündlichen Flüssigkeit beschickt und die brennbaren Dämpfe wurden entzündet. Nachdem die Schülerinnen und Schüler hieran den Eindruck einer Flamme beobachtet hatten, erstellten sie eine erste Skizze (Abb. 6.1). Anschließend wurde die Skizze einer kritischen Betrachtung unterzogen: „Sieht das wirklich wie eine Flamme aus?“ – „Würde jemand, der nicht weiß, worum es sich handelt, hierin eine Flamme erkennen?“. Für den direkten Vergleich wurde die Fotografie einer Flamme hinzugezogen (Abb. 6.2) und aufs Genaueste beschrieben: „An dieser Stelle entsteht das Licht.“ – „Im Umfeld ist Dunkelheit.“ usw. Dabei ging den Jugendlichen ein Licht auf: In sämtlichen Zeichnungen waren „hell“ und „dunkel“ invertiert. Daraufhin erstellten sie eine zweite Skizze (Abb. 6.3). Die Darstellung war diesmal deutlich prägnanter.
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Aufgabe B („Bewegung“): Als zu beobachtender Gegenstand diente das Experiment Teebeutelrakete, das mit einer Geschichte präsentiert werden kann.1 Dabei wird der entleerte und ausgebreitete Teebeutel, der an beiden Seiten offen ist, auf einer planen Fläche aufgestellt und am oberen Rand entzündet. (Hinweis: Dies gelingt nur, wenn es windstill ist.) Nach dem Entzünden wandert die Flamme im Zellstoffbeutel von oben nach unten. Wenn sie das letzte Drittel der Röhre erreicht, hebt diese ab und so entsteht der Eindruck eines Raketenstarts. Im Gespräch mit den Zeichnern wurde die erste Skizze (Abb. 6.4) kritisch betrachtet: „Entsteht hier wirklich der Eindruck von Bewegung?“ – „Würde jemand, der nicht weiß, worum es sich handelt, erkennen, in welche Richtung sich die Teebeutelrakete bewegt?“ Danach wurde mit Abbildungen aus dem vierten Kapitel aus McClouds Buch Comics richtig lesen (2001: 118–122) das grafische Mittel Speedline (Bewegungslinie) eingeführt (vgl. auch Abb. 6.5) und anschließend eine weitere Skizze erstellt. Anhand dieser (Abb. 6.6) ist zu erkennen, dass mit diesem Code Richtung und Intensität der Bewegung prägnanter dargestellt werden konnten.
1 | Ein narrativer Anker zum Experiment „Die Teebeutelrakete“: Während die NASA robuste Raketen mit Wasserstoffgasantrieb aus Metalllegierungen und modernen Keramiken konstru ierte, entwickelten Raketenforscher unserer kleinen Stadt eine simple, sparsame und weitaus effektivere Variante: die Teebeutelrakete (Teebeutel zeigen!). Bescheiden, wie unsere Forscher sind, entfernten sie zuerst das Preisschild der Rakete (Das Etikett am Ende der Schnur entfernen!). Es musste ja nicht jeder gleich wissen, wie viel Geld die Forschung verschlungen hatte. Außerdem wurden die Zündschnur und weitere Zündvorrichtungen entfernt (Die Schnur und die Klammer am Beutel entfernen!), da die Neuentwicklung höchst innovativ gestartet werden sollte. Um das Gewicht der Rakete weiter zu reduzieren, wurde der Proviant ausgeladen (Den Inhalt des Beutels, den Tee, ausschütten!). – Und nun ist der große Moment gekommen. Die Rakete muss nur noch sicher positioniert werden (Den Beutel entfalten und die Röhre aufrecht hinstellen!). Und mit der Zündung an der Spitze (Den Beutel am oberen Ende entzünden!) startet der Countdown: „10 – 9 – 8 – 7 – 6 …“
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Abbildung 6: Vorher-Nachher-Skizzen zur Schulung der Prägnanz von Darstellungen Schritt 1
Schritt 2
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Quelle: Realschülerin der neunten Jahrgangsstufe (2009)/ Archiv des Autors
Aufgabe C („Explosion“): Den Anlass zum Zeichnen bot eine kleine, kontrollierte Explosion, wie sie von Lehrpersonen im Unterricht durchgeführt werden darf (Beispiele: Zündung eines mit Wasserstoff gefüllten Luftballons; in diesem konkreten Fall wurde ein Feuerwerkskörper gezündet). Die zeichnerische Umsetzung ist anspruchsvoll, da die Reaktion in Sekundenbruchteilen abläuft und dabei mehrere Effekte (Licht, Ton, Wärme, Geruch) zugleich und in unterschiedlicher Intensität (z. B. Lautstärke, Timbre) auftreten. Die Schülerinnen und Schüler stellten mehrheitlich den Ausgangs- oder Endzustand dar, selten den Prozess. Deshalb wurde
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nach der Analyse der ersten Skizze (Abb. 6.7) das Konzept Soundwords (lautimitierende Wörter wie Splash!; Tuuut!; Knall!) als eine Möglichkeit vorgestellt, Sinneswahrnehmungen grafisch darzustellen (vgl. McCloud 2007: 146f.; Abb. 6.8). Die zeichnerische Umsetzung zeigt Abbildung 6.9.
Mit Chemie-Foto-Stor ys Lernprozesse abbilden und diagnostizieren Bei Chemie-Foto-Storys handelt es sich um gezeichnete, sequenziell angeordnete Bilder,2 welche die Situation eines Schülerexperiments zeigen und sich typischer Comic-Elemente, wie Sprech- und Denkblasen, Textboxen (Captions), Speedlines und Soundwords, bedienen (Abb. 7).3
2 | Prechtl 2011, 2008b, 2007; Exempel sind online verfügbar: Prechtl 2006: 211ff. 3 | Aus didaktischen Gründen ist es notwendig, eine Unterscheidung von gezeichneter Foto-Story und Comic vorzunehmen. Dies hat folgenden Grund: Viele Schülerinnen und Schüler charak terisieren Comics, d. h. die Fi gu ren (Superman) und die sozialen Um felder (Metropolis), die in Comics präsentiert werden, als „fik tional“. Im Unterricht sollen sie jedoch ihre „realen“ Erfahrungen wiedergeben. Damit keine fantastischen Szenarien entstehen, kann es in diesem speziellen Fall hilfreich sein, Assozia tio nen zu Comics zu vermeiden. Dies gelingt mit der Aufforderung: „Zeichne eine Foto-Story!“. Um den naturwissenschaftlichen Charakter der Geschichte zu betonen, spricht man von einer Chemie-FotoStory (entsprechend: Biologie-Foto-Story bzw. Physik-Foto-Story) (vgl. Prechtl 2008b). Sollte der Arbeitsauftrag Schwierigkeiten bei der Umsetzung bereiten, bietet sich die Option an, grafische Elemente aufzukleben (vgl. Sanladerer 2003: 617ff.). Hierzu werden Comic-Figuren ausgeschnitten, fotokopiert und dann innerhalb der eigenen Zeichnungen neu arrangiert. Dies erspart, die Figuren selbst zu zeichnen.
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Abbildung 7: Chemie-Foto-Story zum Experiment „Die Knallgasprobe“
Quelle: Realschülerin der siebten Jahrgangsstufe (2008)/ Archiv des Autors
So werden die Experimentatoren und deren Interaktionen, die ansonsten ausgeklammert werden, in die Zeichnungen integriert. Dadurch bieten sie neben der Rekapitulation des Experiments auch Einblicke in die handlungspraktischen und sozial-kommunikativen Aspekte von Lernprozessen. Hierin liegt ein didaktisches Potenzial des Methodenwerkzeugs: Es zeigt, wie die beteiligten Personen mit ihrer Aufgabe und miteinander um-
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gehen. In dieser Hinsicht können Lehrerinnen und Lehrer die Bildergeschichten für die Diagnose von Unterrichtsprozessen nutzen.
Diagnose handlungspraktischer- und sozial-kommunikativer Aspekte Anhand von Chemie-Foto-Storys können spezifische Aussagen für handlungspraktische Aspekte des Experimentierens getroffen werden, die das Abbilden (bzw. Auslassen) von Gegenständen betreffen oder bei denen es um die logische und zeitliche Reihenfolge der Handlungen geht (vgl. Prechtl 2011 & 2006, Tomcin/Reiners 2009). Anhand der Geschichten ist es möglich, sich zu vergewissern, ob vereinbarte Regeln, z. B. Sicherheitsaspekte oder methodische Vorgaben, eingehalten werden. In Abbildung 7 hat die Schülerin ihr langes Haar zusammengebunden, zudem werden Schutzbrillen getragen. Abbildung 8 deckt einen Experimentierfehler auf: Bei der Ermittlung der Siedetemperatur von Wasser wird das Thermometer aus der heißen Flüssigkeit herausgenommen und so das Messergebnis verfälscht. Auch sozial-kommunikative Aspekte lassen sich mit Bedacht aus dem Gesamteindruck heraus interpretieren (ebd.): Das Experimentieren zu zweit oder in der Gruppe erfordert sogenannte Soft Skills. Absprachen müssen getroffen, gemeinsam vereinbarte Regeln eingehalten, Rivalitäten überwunden und ein lernförderliches Klima hergestellt werden. Einige Bilder zeigen Situationen, in denen gestritten wird (Abb. 9), andere gelingende Kooperationen (Abb. 7). Überdies eröffnet die Auseinandersetzung mit Chemie-Foto-Storys die Möglichkeit, typische Akteurkonstellationen und Verhaltensskripts von Personen zu analysieren, beispielsweise um geschlechtsbezogene Interaktionsmuster zu entlarven. Ausgewählte Szenen stellen eine Folie für die Geschlechterordnung dar: Wer übernimmt den aktiven Part? Wer hat Zugriff auf Objekte? Wer hat das Sagen? Das zentrale Motiv des in Abbildung 10 dargestellten Ausschnitts einer Geschichte ist der sichere Umgang mit dem Gefahrenpotenzial von Experimenten. Die Charaktere führen ein Experiment zur Zündtemperatur von Zündhölzern durch, die in einem Reagenzglas erhitzt werden. Tim experimentiert ganz allein, während seine Mitschülerin Giovanna ihm dabei zuguckt. Die Bildunterschrift des ersten Bildes weist aus, dass sie eine Beteiligung wünscht. Die Abbildungen zeigen jedoch, dass nur Tim experimentiert.
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Abbildung 8 (links): Experimentierfehler beim Messen der Siedetemperatur von Wasser/Abbildung 9 (rechts): Kleine Streitigkeiten beim Experimentieren
Quelle (Abb. 8): Realschülerin der siebten Jahrgangsstufe/ Prechtl (2006: 227)/Quelle (Abb. 9): Realschüler der siebten Jahrgangsstufe/Prechtl (2006: 261)
Abbildung 10: „Lass mich auch mal halten!“ (Szene einer Chemie-Foto-Story)
Quelle: Realschülerin der siebten Jahrgangsstufe/Prechtl (2006: 259)
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Giovanna nimmt somit die Rolle der passiven Beobachterin ein. Dies unterstreicht fernerhin die Tatsache, dass ihre Hände in den ersten drei Abbildungen nicht zu sehen sind. Legitimiert wird diese Verhaltensweise mit dem Hinweis auf das fehlende Haargummi: Die langen Haare könnten in die Brennerflamme geraten und Feuer fangen. In dieser Szene wird, neben dem Umgang mit Risiken beim Experimentieren und den entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen, die angenommene Schutzbedürftigkeit des weiblichen Geschlechts inszeniert und, in enger Ankoppelung, eine geschlechtsklassenspezifische Weise von Höflichkeit als Part des männlichen Beschützers (vgl. Prechtl 2006: 207f.).
Kombination von Einzelbildanalyse und Interpretation von Bildfolgen In der Aneinanderreihung von Standbildern zeigt jedes Bild (Panel) einen Augenblick einer Handlung. Doch erst in der sequenziellen Abfolge verdichtet sich der Informationsgehalt. Folglich werde die Bildsequenz nicht als triviale Abbildung einer temporalen Sukzession „[…], sondern als Anatomie größerer ikonischer und propositionaler Gehalte gelesen“ (Packard 2006: 13; Hervorhebung i. O.). Im Wechselspiel von Einzelbild und Bildsequenz eröffnen sich Räume für individuelle Sinn-Konstitutionen. Bestimmte Elemente der Bild- und Textgestaltung sowie die Art der Verknüpfung der einzelnen Panels liefern Hinweise darauf, welche Aspekte den Zeichnern besonders wichtig erschienen. Eigene Praxiserfahrungen haben gezeigt, dass gewöhnlich wichtige Aspekte in den Mittelpunkt des Bildes gerückt und zudem Steuerungscodes (vgl. Weidemann 1993: 12 ff.) verwendet werden: optische Hervorhebungen, spezielle Hinweiszeichen (Pfeile, Symbolfarben) und Ausschnittsvergrößerungen, die Details zeigen bzw. Ausschnittsverkleinerungen, die Übersicht verschaffen. Handlungsabläufe werden überwiegend in der Frontalperspektive präsentiert, zuweilen erfolgt eine Vermischung mit der Vogelperspektive. Teilweise wird zwischen einer totalen und einer halb-nahen Ansicht (Medium Shot) gewechselt. Bei Letzterer werden die Personen von der Hüfte aufwärts mit dem Umfeld abgebildet, also in einer Distanz zwischen sich unterhaltenden Personen. Der Betrachter, so Dittmar (2008: 82f.), werde auf diese Weise quasi in die Interaktion involviert. Ein weiterer wichtiger Indikator für den Stellenwert einer Darstellung ist die sogenannte Bedeutungsgröße (Schuster 2010: 108f.): Dinge, die eine herausragende Bedeutung haben,
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die imponieren, werden vergrößert dargestellt. Besondere Aufmerksamkeit ist den Panel-Übergängen (McCloud 2001: 68ff.) zu schenken. Sie beeinflussen das Lesetempo und erfordern unterschiedliche Grade des induktiven Denkens. Die Art des Übergangs zwischen den Panels ist eine Möglichkeit, die Qualität einer Handlung hervorzuheben, und liefert dem Betrachter einen Hinweis darauf, welcher Stellenwert der abgebildeten Sache oder Situation eingeräumt wird. Wenn Aspekte komplex sind und detailliert oder stärker nuanciert dargestellt werden müssen, wird die Handlung in einer Reihe von aufeinanderfolgenden Momenten von Augenblick zu Augenblick dargestellt. Mehrere Bilder werden einem Aspekt gewidmet; dies erfordert nur wenig Induktion. Übergänge von Handlung zu Handlung werden besonders häufig verwendet, wenn die Geschichte, wie im Fall eines Schülerexperiments, handlungsorientiert ist. Wenn Handlungsabläufe als Skript festgelegt sind, z. B. die Inbetriebnahme eines Gasbrenners, können sie stark komprimiert dargestellt werden. Der Fragmentierung wird mit Induktion begegnet. Übergänge von Szene zu Szene treten auf, wenn räumliche oder zeitliche Sprünge vollzogen werden müssen.
Eine Schülerbefragung zum Konzept Chemie-Foto-Stor y Die Akzeptanz des Methodenwerkzeugs wurde in einer Umfrage erhoben, an der 223 Realschülerinnen und Realschüler der Jahrgangsstufen 7 bis 10 teilnahmen (vgl. Prechtl 2009). Die Fragestellung „Was denkst du über diese Art, ein Experiment darzustellen?“ wurde zusammen mit einer Abbildung (ebd.) dargeboten und nach Vor- und Nachteilen differenziert. Die Jugendlichen beantworteten ihre Fragen frei. Auf diese Weise wurde der Intention Rechnung getragen, Blickwinkel zu berücksichtigen, die in Multiple-Choice-Fragebögen nicht zur Geltung kommen. Ein Nachteil besteht darin, dass ein Teil der Ant worten keiner der generierten Kategorien zugeordnet werden konnte und unter Sonstiges subsumiert werden musste. Hierunter fallen Angaben wie: „Ich finde es gut, weil es gut ist.“ oder „K.P.“ [dies steht für ‚kein Plan‘; Anm. M.P.]. Die folgenden Daten sollten als Trend verstanden werden (dieser wurde allerdings durch eine weitere Befragung von Tomcin/Reiners [2009] bestätigt): Rund ein Drittel der Befragten sieht in den Bildergeschichten eine willkommene Abwechslung bzw. eine Möglichkeit, sich kreativ einzubringen oder spricht die Freude bei der Gestaltung von Chemie-Foto-Storys an (vgl. Tabelle 1). Ein weiteres
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Drittel der befragten Personen gibt an, der Ablauf des Experiments sei so besonders gut nachvollziehbar und die Darstellungsform steigere die Verständlichkeit bzw. Anschaulichkeit. Die Angaben zeugen davon, dass das schriftliche Protokollieren wenig attraktiv für Lernende zu sein scheint. Ein Wechsel der Darstellungsform könnte hier motivierend wirken und spricht verschiedene Lerntypen an. Zahlreiche Aussagen sprechen dafür, dass Bildergeschichten einen kreativen und ästhetischen Zugang zu den Naturwissenschaften eröffnen. Tabelle 1: „Das finde ich daran gut …“ – Aussagen zum Konzept Chemie-Foto-Story Prozent
Cluster
Exemplarische Aussagen
33%
willkommene Abwechslung (11%) kreative Gestaltungsmöglichkeiten (9%) Freude am Gestalten (13%)
„Das ist mal was anderes und ist lustig. Die normalen Protokolle sind so langweilig und es dauert auch lange, bis es fertig ist.“ (Schülerin, Jg. 8); „Ich finde es gut, weil man dann sehr kreativ sein kann.“ (Schülerin, Jg. 7)
33%
Verständlichkeit/ Anschaulichkeit (23%) Ablauf ist gut nachvollziehbar (10%)
„Man hat das Experiment bildlich vor Augen.“ (Schülerin, Jg. 8); „Wenn jemand krank ist, dann weiß er oder sie auch, wie der Versuch war.“ (Schüler, Jg. 7); „Ich finde, dass es viel besser veranschaulicht wird und man die Reaktion der Schüler sieht.“ (Schülerin, Jg. 9)
9%
Ablehnung
„nichts“ (Schüler, Jg. 8); „gar nichts ;-)“ (Schüler, Jg. 8)
25%
Sonstiges
„Ich würde es schlecht finden, wenn sie dafür Ärger bekommen hat.“ (Schülerin, Jg. 7); „Ich weiß nicht, ob man es so machen darf.“ (Schüler, Jg. 9); „?“ (Schülerin, Jg. 9)
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Beim Blick auf mögliche Kritikpunkte fällt zunächst einmal auf, dass annähernd die Hälfte der Befragten (46%) keine Angaben macht (vgl. Tabelle 2). Bemängelt wird die Tatsache, dass sich Menschen in ihren individuellen zeichnerischen Fähigkeiten unterscheiden und befürchtet wird, als Konsequenz könnten für einige Lernende Nachteile entstehen. Auch der Aufwand, der notwendig ist, um eine Chemie-Foto-Story zu erstellen, wird kritisiert. 17 Prozent der Aussagen beziehen sich ausdrücklich auf das Bild auf dem Fragebogen; so wird mokiert, die Darstellung sei nicht akkurat genug. Tabelle 2: „Das finde ich daran schlecht …“ – Aussagen zum Konzept Chemie-Foto-Story Prozent
Cluster
Exemplarische Aussagen
46%
keine Angabe bzw. die Angabe „nichts“
„gar nichts“ (Schüler, Jg. 8)
19%
fehlendes Talent (im Sinne von „Zeichnen können“) (9%) Zeitaufwand (10%)
„Ich finde schlecht, dass man für ein Comic zeichnen Mühe braucht und nicht jeder hat das Talent, Kunstwerke mit Personen zu zeichnen und es dauert zu lange.“ (Schüler, Jg. 7)
18%
Zweifel am Werkzeug („Kann ein Comic eine schriftliche Zusammenfassung ersetzen?“)
„Es ist schlecht wegen kleineren Details bei einem Versuch, die wichtig sein könnten.“ (Schülerin, Jg. 9); „Dass man nicht wichtige Dinge in ein Bild malen kann und man es vielleicht nicht so gut beschreiben kann.“ (Schülerin, Jg. 7)
17%
Die vorliegende Zeichnung wird kritisiert.
„Ich finde an dieser Zeichnung schlecht, dass sie nicht genauer beschrieben ist. Außerdem ist die Rechtschreibung nicht Richtig.“ (Schülerin, Jg. 7); „Könnte noch bisschen bunt sein und die Schrift kann man nicht so gut lesen.“ (Schülerin, Jg. 7)
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Den zeitlichen Aufwand für die Gestaltung einer Chemie-Foto-Story schätzen die befragten Schülerinnen und Schüler realistisch ein. Denn im direkten Vergleich mit einem schriftlich verfassten Protokoll ist dieser recht groß. Aus didaktischer Sicht steckt in diesem „Mehr“ an Zeitaufwand aber Potenzial. Nur wenn genügend Zeit verfügbar ist, gelingt es, sich in einen Lerninhalt zu versenken, zu einem Lerninhalt eine innere Beziehung aufzubauen und sinnstiftende Kontexte zu erschließen. Aufschlussreich ist die formulierte Sorge, es könnte unter Umständen zu einer Vernachlässigung des Textanteils kommen und damit zu einer Reduktion des Informationsgehaltes, die immerhin 18 Prozent der befragten Personen teilen. Konkret äußerte eine Schülerin, man sehe auf einem Bild nicht, wie konzentriert eine chemische Lösung ist. – Ein geübter Zeichner würde diese Information durch Heranzoomen auf das Etikett der Chemikalienflasche oder vermittels verbaler Äußerungen in einer Sprechblase transportieren. Einen erklärenden Hinweis bietet Sanladerer (2003), der ein höheres Vertrauen in schriftliche Erzählweisen an mündlichen Aussagen von Schülerinnen und Schülern feststellt, die Comics im Kunstunterricht gestaltet haben: „Schreiben kann ich besser!“ oder „Das [Schreiben; Anm. M.P.] geht doch viel schneller – es muss ja keiner lesen können außer mir!“ (ebd.: 848). Er führt dies auf die hohe Präsenz schriftlicher Ausdrucksweisen und die vergleichsweise spärliche Beschäftigung mit grafischen Elementen in der Unterrichtspraxis zurück: „[…] eine Bild-Wort-Sprache, deren Vokabeln und Grammatik man nicht genügend kennengelernt und geübt hat, spricht man nur unvollkommen, ungern oder gar nicht!“ (ebd.: 850). Diese Feststellung bietet Anlass, abschließend noch einmal die bereits formulierte Notwendigkeit zu bekräftigen, Schülerinnen und Schüler darin kompetent zu machen, Bildhaftes in verbale Sprache zu übersetzen und umgekehrt.
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F A ZIT Wenn naturwissenschaftliches Wissen via Bilderzählung vermittelt wird, werden wertvolle Potenziale der sequenziellen Kunst wirksam. Erstens: Die Textsorte Comic bietet kreative, affektive und ästhetische Zugänge zu Themen, die bisweilen als „nüchtern“ und „farblos“ erlebt werden, und motiviert somit verschiedene Lerntypen, sich mit neuen Informationen vertraut zu machen; zweitens: Die Komplexität von (Inter-)Aktionen wird vermittels schrittweiser Darbietung in Bildsequenzen reduziert. Hiervon profitieren insbesondere die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler; drittens: Bereichsspezifische Kompetenzen werden trainiert, d. h. spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit vielfältigen Lesarten, Gestaltungsmöglichkeiten und Darstellungscodes geschult sowie die Motivation gefördert, das erlernte Wissen und Können in bedeutungsvollen Situationen zum Einsatz zu bringen; viertens: Lehrkräfte können gezeichnete Bildergeschichten als Diagnoseinstrument nutzen und damit gänzlich individuelle Sichtweisen ihrer Schülerinnen und Schüler kennenlernen. Damit die Qualität des Lernens mit Comics gesichert und stetig verbessert wird, sollte beachtet werden, dass visuelle, narrative und inhaltliche Botschaften eine Symbiose bilden müssen und dass die Lernvoraussetzungen der Mitglieder einer Lerngruppe hinsichtlich des Vorwissens und vorhandener Kompetenzen (Visual Literacy) äußerst heterogen sein können. Dementsprechend darf der reflektierte Umgang mit Comics nicht vorausgesetzt, sondern sollte erlernt und geübt werden. In Anbetracht der aufgeführten Vorteile und unter Abwägung der Schwachpunkte scheint letztendlich die veränderte Variante des Eingangszitats zutreffend zu sein: Ah, es gibt nichts Aufregenderes als Comics. Comics haben alles.
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Abb. 9: Kleine Streitigkeiten beim Experimentieren, Realschülerin der siebten Jahrgangsstufe/Prechtl:http://kups.ub.uni-koeln.de/1825/, S. 261. Abb. 10: „Lass mich auch mal halten!“ (Szene einer Chemie-Foto-Story) Quelle: Realschülerin der siebten Jahrgangsstufe/Prechtl: http://kups. ub.uni-koeln.de/1825/, S. 259.
Die Vermittlung von Zusammenhängen und Handlungsfolgen mit Hilfe beweglicher Elemente Jakob F. Dittmar
Mit beweglichen Bildelementen lassen sich räumliche Zusammenhänge oder auch Bewegungsphasen im Medium Druck hervorragend veranschaulichen. Sowohl als selbstständig auftretende Illustration als auch eingebunden in den Erzählzusammenhang eines Comics oder eines illustrierten Textes. Im Folgenden werden die derzeit etablierten verschiedenen mechanischen Elemente, die in Printmedien integriert werden können, differenziert beschrieben. Dabei werden diese Erweiterungen des Mediums Druck im und über den zweidimensionalen Raum hinaus auf ihren Einsatz zur Wissensvermittlung diskutiert, denn gerade die Technik- und Wissenschaftsvermittlung kann von der Beweglichkeit dieser räumlichen Darstellungen profitieren, in denen sich einzelne Stärken des Lehrmodells (vgl. Dittmar 2005) mit den Stärken des Massenmediums Buchdruck (vgl. Dittmar 2011a: 19–21) verbinden. Aber auch für andere Genres, in denen mit Verbindungen von Bildern und Texten beschrieben, vermittelt und erzählt wird, besteht in diesen Darstellungstechniken erhebliches Entwicklungspotenzial. Comic-Sequenzen sind schon lange in technischen Beschreibungen integriert, man denke an Gebrauchs- und Montageanleitungen, die Handlungsfolgen, zum Beispiel die einzelnen Schritte einer Montage, bildlich aufzeigen. Wichtig ist, dass durch bewegliche Elemente eine eher filmische Sequenzialität in das Medium Buchdruck kommt, die komplett auf den Eigenschaften und Möglichkeiten bedruckten Papiers aufbaut, keinerlei Batterien oder Stromversorgung braucht und, soweit die Lagerbedin-
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gungen des bedruckten Mediums beachtet werden, unbegrenzt haltbar und aktivierbar bleibt: Dabei muss man gar nicht mal mit den Zeiträumen, die bei der Lagerung atomarer und anderer gefährlicher Abfälle bestehen, argumentieren, der Deep Time, sondern kann an vergleichsweise nahfristige beziehungsweise relativ dauerhafte Anwendungen denken, wie z. B. die Kommentierung permanenter Installationen im Tunnelbau oder die Vermittlung von Sicherheitshinweisen über kulturelle Grenzen hinweg, wie beispielsweise im heutigen Welthandel und der internationalen Seefahrt mit sehr heterogenen Besatzungen. Als Aufdruck auf entsprechend haltbaren Kunststoffflächen sind Informationen zu Behältern, Lagerorten, Maschinen bzw. Artefakten darstellbar, die deutlich über die Betriebszuverlässigkeit und Usability von Bildschirmmedien und dergleichen mehr hinausgehen. Aber auch in der schulischen und betrieblichen Lehre bieten entsprechende Medien, hier auf Papier- und Kartonträgern, eine hohe Veranschaulichung von Zusammenhängen und Abläufen, da Artefakte in ihre Bestandteile zerlegt dargestellt werden können, die per Papiermechanik zusammengefügt oder deren Teile im räumlichen Bezug aufeinander bewegt werden können. Aufgrund des hohen Aufwands bei der Planung und Produktion und der Ansprüche an das verwendete Trägermaterial, die zu verhältnismäßig hohen Stückpreisen führen, werden solche Pop-up-Elemente nur selten in Comics eingesetzt (vgl. Dittmar 2011b). Auch in traditionellen schulischen Lehrbüchern stellen sie ausgesprochene Ausnahmen dar, aber in Sach- und anderen Bilderbüchern sind sie inzwischen sehr verbreitet. Dabei zeigt der hier vorliegende Text selbst die Schwierigkeit der Beschreibung solcher Konstruktionen und die Vorteile der Darstellung von Zusammenhängen als Verbindung von Bild und Text: Die rein sprachliche Darstellung wird schnell komplex und ist je nach Vorwissen des Lesers oder der Leserin durch diese nur schwer nachzuvollziehen, wohingegen die Abbildung derselben Mechanismen in Bildsequenzen oder Einzeldarstellungen die Unklarheit des isolierten Beschreibungstexts sofort korrigiert. Dabei helfen die Abbildungen auch bei der Dokumentation der medialen Qualitäten, um diese wiederum preiswert zu vermitteln und zur Diskussion zu stellen: Bewegungen werden dabei wiederum in Bildsequenzen gebrochen, die durch benachbarte Darstellung der Einzelbilder selber Comics sind, aber dabei z. B. filmische Sequenzen in ihrer bildlichen Qualität und Bewegungsfolge verstehbar machen. Wichtig ist dabei
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jedoch, dass ohne die abstrahierende sprachliche Reflexion über die bildlich dargestellten Zusammenhänge die zusammenfassende Diskussion und Auswertung jedoch nur schwer möglich wäre.
B ESTANDSAUFNAHME : VON P OP - UPS
UND
L AMELLENBILDERN
Dreidimensionale Elemente nutzen die latente Räumlichkeit des Pop-up, das sich beim Aufblättern der jeweiligen Seiten oder Basisflächen aus flachen Polygonen zusammenschiebt und aufrichtet. Da jedes Objekt in zweidimensionale Teilflächen zerlegt werden kann, aus denen die Oberfläche bzw. die Form des dreidimensionalen Objekts zusammengesetzt wird, können auch mit Papier und anderen bedruckbaren Materialien entsprechende Gebilde angelegt werden, deren Grenzen allerdings in der mechanischen Belastbarkeit der Einzelteile und deren Bedarf an Schub- und Zugverbindungen für die Aufrichtung des Objekts gegeben sind. So ist die Pop-up-Darstellung der wesentlichen Bauteile des Teilchenbeschleunigers Large Hydron Collider, der vom CERN bei Genf betrieben wird, eine sehr komplexe Umsetzung, die die Grenzen des Pop-up auf Kartonbasis sehr klar verdeutlicht (vgl. Abb. 1). Abbildung 1: Erklärung eines komplexen physikalischen Versuchs, dargestellt mit den Mitteln des Pop-Up-Buchs: Das Large Hydron Collider’s ATLAS Experiment des CERN
Quelle: Saunders/Radevsky (2010: o.S)
Weniger komplex und ohne Faltvorgänge entsteht aus einlagigem geschnittenem oder gestanztem Material beim Blättern eine räumliche Verbindung, wenn die Endpunkte des geschnittenen Materials an vorherigen
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und folgenden Seiten fixiert sind. Z. B. spannt sich nur aufgrund von Schnitten in der einen Seite und einem Klebepunkt auf der Folgeseite in Marc-Antoine Mathieus Der Wirbel beim Umblättern die zuvor als gewöhnliche (d. h. zweidimensionale) Comic-Seite wahrgenommene spiralenartige Darstellung zu einer dreidimensionalen Spirale, die die gezeichnete und die fotografierte Erzählebenen des Comics verbindet (Mathieu 2008, 35–37). Dabei löst sich das Blatt mit der Spiralanordnung der Bilder in eine lineare Bildersequenz entlang des Bilderstreifens auf (vgl. Abb. 2). Abbildung 2: Eine räumliche Spirale als Verbindung der Erzählebenen in Marc-Antoine Mathieus Der Wirbel
Quelle: Mathieu (2008: 35–37), Fotos: Jakob Dittmar Durch das Aufblättern wird das Blatt mit der Bilderspirale in die lineare Sequenz des Bilderstreifens aufgelöst
Neben diesen beiden Möglichkeiten zur Schaffung von räumlichen Objekten in aufgeschlagenen Büchern und Drucksachen kann man bewegliche Bildelemente einsetzen, die keine dritte Dimension schaffen, diese aber – wie alle Illustrationen – aufzeigen können. Die Stärke dieser Gruppe beweglicher Bilder ist die Schaffung von Sequenzialität durch Überdeckung von Bildelementen auf der selben Druckseite, also demselben Hyperrahmen oder Meta-Panel: Es gibt klappbare Bildteile, die die Sicht auf ein verändertes Bilddetail freigeben, und es gibt schiebbare Bildteile, zum Teil dem Verschluss einer Kamera vergleichbar, durch deren Bewegung
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Bildteile durch andere überlagert werden, die zuvor verdeckt waren und durch die Bewegung sichtbar werden. Drehende Überlagerungen sind dabei dem Lamellenverschluss von Kameras ähnlich, wie sie zum Beispiel Sam Ita zur Darstellung der Pequod-Versenkung in seiner Moby Dick-Adaption (2009) anwendet (vgl. Abb. 3). Eine Variation dieser Technik ist die Verbindung sich überlagernder Bilder durch deren Aufteilung in Teilsegmente, die durch einzelne Schlitze geschoben werden – am ehesten einer Jalousie vergleichbar (vgl. Abb. 4). Abbildung 3: Drehscheibe in Sam Itas Moby Dick
Quelle: Ita (2009: o.S.), Fotos: Jakob Dittmar Die durch den Leser bewegt jeweils nur einen Zustand der beschriebenen Drehbewegung des Wals zeigen kann, die das Wrack und die schwimmende Mannschaft in die Tiefe zieht. Die Dynamik der erzählten Sequenz entsteht auch aufgrund der Drehbewegung, sie ist notwendiger Teil des Lesens
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Abbildung 4: Lamellenbild in Frauke Weldins und Sabine Pramls Weil du mein liebes Mäuschen bist
Quelle: Weldin/Praml (2008: o.S.), Fotos: Jakob Dittmar Zwar kommt es in der Bewegungsphase der Lamellen zu Mischungen der beiden übereinander platzierten Bilder, aber nur die beiden Endpunkte der Bewegung sind für die Erzählung wesentlich, zeigen also einen typischen Vorher-Nachher-Gegensatz. Dieses sowie das vorherige Bildbeispiel stellen exklusive bildliche Sequenzialität her und sind hierin dem Film näher als dem Comic
Pioniere des Films entwickelten Apparate wie das Zoëtrop (oder Zootrop), die bei entsprechend schneller Abfolge der Einzelbilder, die durch einen Sehschlitz betrachtet, in der Vorstellung des Betrachters als Bewegtbild zusammenfügt werden. Diese Technik verwendet Einzelbilder aus Momentfolgen, die entsprechend in zeitlicher Folge, aber nicht in räumlicher Nachbarschaft gezeigt werden. Rufus Butler Seder hat diese Methode aufgegriffen, als Scanimation bezeichnet und patentieren lassen. In Galopp! (2007) werden jedes Motiv und dessen Bewegungsablauf aus vier in Lamellen zerlegten Einzelbildern zusammensetzt. Die Streifen der einzelnen Bilder sind in direkter Folge nebeneinander auf derselben Trägerfolie aufgedruckt – also die jeweils aufeinander folgenden Streifen der Bilder 1,
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2, 3, 4, 1, 2, 3, 4 usf. (vgl. Abb. 5). Durch Aufblättern der Seite wird die Folie vor dem Hintergrund zur Seite gezogen. Je nach Geschwindigkeit beim Aufblättern der Seiten kann hier Bewegung sowohl in die einzelnen statischen Zuständen der Momente geteilt gesehen als auch als scheinbare Bewegung animiert werden. Beim Zuklappen der Seite, das sich mit dem Aufblättern der Folgeseite zwangsläufig ergänzt, wird die Bewegung entsprechend rückwärtslaufend animiert. Das ist möglich, weil der Betrachter die zusammengehörenden Bildstreifen vor regelmäßig angeordneten hellen Hintergrundstreifen sieht, deren schwarze Zwischenräume die anderen Bewegungsphasen unsichtbar werden lassen. Diese Anordnung funktioniert wie Schlitze, die jeweils nur die Bildlamellen freilegen, die zu einem der vier Bewegungszustände gehören. Die Abstände (die Schwarzstreifen) zwischen den einzelnen Sichtstreifen (der sichtbare Hintergrund, anstelle von Sehschlitzen) blendet der Betrachter dabei in seiner Wahrnehmung aus. Dabei sind bei diesen Verfahren die einzelnen Abbildungen zwar noch benachbart, aber nicht gleichzeitig nebeneinander zu sehen. Die einzelnen Bilder der Sequenz schließen sich vielmehr gegenseitig aus. Ohne physische Bewegung von Seiten oder Applikationen auf bzw. in einzelnen Seiten des Comics können die sequenziellen Abbildungen nicht in direkter Folge gesehen werden. Damit nähern sie sich filmischen Sequenzen an und stehen in Opposition zu Comic-Definitionen, die die gleichzeitige Sichtbarkeit benachbarter Bilder als elementar für Comics ansehen. Als schwacher Trost hilft hierbei auch nicht, dass Comics, die mit einem Bild pro Seite erzählen, durch diese Definitionen genau genommen ebenso ausgegrenzt sind, da sie das Umblättern für das Erkennen von Sequenzen dringend erfordern, wie es zum Beispiel der typische Image-Studio-Stil der 1990er-Jahre verlangt (Dittmar 2011a: 166). Während aber bei diesen Comics die Sequenz auf Folgeseiten benachbart abgebildet ist, ist sie in den hier thematisierten, auf Bewegung von Elementen oder Seitenhüllen angewiesenen Beispielen immer nur ausschnitthaft zu sehen.
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Abbildung 5: Rufus Butler Seders vom Zoëtrop und Seriegrafie abgewandelte Scanimation
Quelle: Seder (2007: o.S.), Fotos: Jakob Dittmar Bewegung kann hier je nach Bedienungsgeschwindigkeit sowohl in statischen Zuständen der einzelnen Momente gesehen werden als auch als scheinbare Bewegung animiert werden
E RZ ÄHL ZUSAMMENHÄNGE Es ist an dieser Stelle notwendig, auf den erzählerischen Zusammenhang einzugehen, in dem bewegliche Objekte, seien sie drei- oder zweidimensional, in Comics eingebunden sind. Dabei ergänzen sich inhaltliche und formale Bedingungen: Bei Ita betonen die bewn Elemente spezifische Zustände und Momente der Geschichte, wie es Splash Pages in konventionellen Comics tun. Sie interpunktieren die Entwicklung der Narration und stellen oft den Höhepunkt der jeweiligen Szene dar. Dies tun sie auch deshalb so deutlich, weil der gesamte Comic auf verhältnismäßig wenigen Seiten erzählt wird. Und dies wiederum ergibt sich aus der Aufmachung des Comics als Pop-up-Buch: Die Beschränkung des Umfangs von Pop-up-Büchern wirkt sich auf den Comic im Pop-up-Buch direkt aus, wenn jede Doppelseite die Möglichkeiten des Pop-up nutzen will und nicht zwischen den dreidimensionalen Seiten auch ausführlich als konventioneller Comic erzählt. Gerade bei Itas Moby Dick ist festzustellen,
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wie stark der Comic in erzählerischer und grafischer Umsetzung verdichtet oder vielmehr reduziert ist. Ein Vergleich mit der ausgesprochen intensiven Comic-Adaption von Bill Sienkiewicz (1990) ist radikal, verdeutlicht aber auch, dass die grafische Gestaltung des Comics, wenn eine stilistische Einheit mit den Pop-ups entstehen soll, entsprechend stark vereinfachen muss. Die extreme erzählerische Vereinfachung ist durch die Ausrichtung auf Pop-up-Comic jedoch nicht zu entschuldigen. Dieses Problem bzw. die Möglichkeit der Verkürzung der inhaltlichen Zusammenhänge ist bei Sachcomics ausgesprochen beschränkt, da die Darstellung von Abläufen und Zusammenhängen deren Aufteilung in spezifische Schritte verlangt, die sich um jeweilige Schlüsselmomente der Bewegungsabfolgen drehen müssen, wenn ihre Darstellung überhaupt verständlich sein will. In diesem Zusammenhang muss auf die wesentlichen Unterschiede im Bereich non-fiktionaler Comics eingegangen werden: Bernd Dolle-Weinkauff definiert Sachcomics als eine Gattung innerhalb der Sachliteratur, die nicht-fiktional Information zu verschiedensten Themen bietet (Dolle-Weinkauff 1990, 303–306, 332). Dazu sei verdeutlicht, dass alle Comics primär narrativ angelegt sind, eigentlich nicht der Begleitung eines technischen Artefakts oder als Montageanleitung dienen, dies aber durchaus können. Innerhalb der Sachcomics besteht die Notwendigkeit, zwischen technischer Dokumentation, Verhaltensanweisungen etc. und (non-)fiktionalen Comics zu unterscheiden. Dabei unterscheiden sich non-fiktionale Comics, die historische Zustände und Entwicklungen darstellen, zwar inhaltlich, aber nicht notwendigerweise formal von Comics zur Wissenschaftsvermittlung. Sie beziehen sich nicht auf ein Artefakt, das es zu erstellen, zu warten oder zu bedienen gilt, sondern zum Teil auf abstraktere wissenschaftliche oder soziale Zusammenhänge. Die von Scott McCloud eingeführte Unterscheidung zwischen „narrative non-fiction“ und „pure non-fiction“ (McCloud 2000: 41) trägt dem Unterschied zwischen diesen Sachcomics Rechnung und orientiert sich an der Art der inhaltlichen Aufbereitung von Sachinhalten, schränkt aber das Verständnis von Narration sehr ein. Denn beide Gruppen sind narrativ, alle Sachcomics erzählen, sowohl solche, die gezielt zur Wissensvermittlung von technischen oder naturwissenschaftlichen Funktionszusammenhängen auftreten, als auch solche (non-)fiktionalen Comics, die geschichtliche oder technische Entwicklungen und deren sozialen Kontext vermitteln wollen, wie dies z. B. in Darstellungen der Geschichte von Themen oder in Wissenschaftsbiografien geschieht. Handlungsanweisung für Notsituationen
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etc. stellen das in solchen Situationen gewünschte Verhalten zwar sachlich dar, verwenden aber je nach individuellem Stil durchaus dramatisierende Elemente. Solche Beispiele stehen entsprechend zwischen narrativen und reinen Sachcomics. Lediglich Montageanleitungen und dergleichen, die keinerlei Dramatisierung der inhaltlichen Entwicklung vornehmen, können aus der Gruppe der „erzählenden“ Comics ausgeschlossen werden, wenn man entsprechend davon ausgeht, dass Storytelling (also der Prozess des Erzählens) eine Dramatisierung mit Spannungsaufbau zwingend verlangt (vgl. Denward 2011: 53 f.). Für Sachcomics, die technisches oder naturwissenschaftliches Wissen vermitteln wollen, ist die Eindeutigkeit der Darstellungen das wesentliche Kriterium. Der Stil der Abbildungen und der Konstruktion der Narration ist entsprechend sachlich. In der Regel werden grundlegende Charakteristika verfolgt, die die hohe Lesbarkeit für ein möglichst heterogenes Publikum sicherstellen. Inhaltlich wird nur das zur Verdeutlichung der thematisierten Zusammenhänge Notwendige gezeigt. In dem Zusammenhang legen die raumgreifenden Eigenarten des Pop-up bzw. die Dynamik und Plastizität der Beweglichkeit von Bildelementen die Anwendung der jeweiligen Möglichkeiten vor allem zur Darstellung und Vermittlung vor allem räumlicher Zusammenhänge und Abfolgen nahe. Vor allem Ursache-Wirkung-Zusammenhänge bieten sich als Motive zur Umsetzung in bewegten Bildern an, aber dies ist keine zwangsläufige Beschränkung, denn andere Inhalte lassen sich, notfalls mit Hilfe entsprechender Übertragungen, Verdinglichungen bzw. Symbolisierungen ebenfalls gut darstellen und erklären.
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Wie bei allen Vermittlungsfragen bleibt die Verdeutlichung von komplexen Zusammenhängen und dergleichen mehr eine Frage der Visualisierung. Entsprechend ist auch aufgrund der hier thematisierten medialen Ausrichtung keine thematische Ausrichtung festzustellen, jedoch eine deutliche Orientierung bei der Motivauswahl. Das wird sofort deutlich, wenn man zwei mehr oder weniger konventionelle Sachcomic-Beispiele ansieht, die auch im Vergleich mit anderen Comics sehr erfolgreich waren und ohne animierte Ergänzungen erzäh-
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len: Jens Harders Alpha Directions (2009) und Apostolos Doxiadis’ und Christos Papadimitrious Logicomix (2010). Das zweite Beispiel zeigt an Ausschnitten aus der Biografie Bertrand Russells die historischen, philosophischen und mathematischen Hintergründe der Entwicklungsgeschichte der „Principia Mathematica“. Dabei ist der Erzählstil wenig komplex, die Grafik wenig avanciert und dem derzeitigen US-amerikanischen Mainstream sehr ähnlich, es wird aber gezielt eine Spannungskurve um die Entwicklung der dramatis personae aufgebaut und weitergetrieben. Der Comic widmet sich einem hochkomplexen Gegenstand, ohne dies auch auf der visuellen Ebene zu zeigen. Die Darstellung konzentriert sich auf Dialoge und Handlungsfolgen und ist enttäuschend bieder, da sie nicht einmal versucht, eine adäquate comicale Umsetzung für die Geschichte der „Principia Mathematica“ zu finden: Die gewählte Umsetzung erzählt Wissenschaftsgeschichte, ohne grafische oder gar mediale Innovationen auszulösen oder zu gebrauchen. Der Comic ist in der Unterteilung McClouds „narrative non-fiction“, und bietet entsprechend dessen Theorie in seiner Ausrichtung auf das Erzählen einen dichteren Bezug des Lesers zum Text als dies „pure non-fiction“ täte. Auch in Jens Harders Alpha Directions wird Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte erzählt. Dabei wird die Geschichte der Evolution vor allem als umfangreiche Bildergeschichte erzählt. Bildzitate konnotieren im Erzählzusammenhang die prähistorischen Ereignisse mit der menschlichen Kulturgeschichte. So wird das Lesen zur Freude für solche Leser, die über entsprechendes kunst- und kulturhistorisches Wissen – in Form des damit verbundenen Bildinventars – verfügen und den Zitierhumor des Werks würdigen können. Wer über dieses Hintergrundwissen nicht verfügt, kann den derzeitigen Stand des Wissens zur Geschichte der Evolution lernen, soweit sie dargestellt (und kapitelweise in schriftlichen Zusammenfassungen geboten wird) ist. Die kunst- und kulturhistorischen Verweise und andere Zusatzinhalte bleiben aber in der Regel unerklärt. Alpha Directions erzählt die Evolutionsgeschichte von 14 Milliarden Jahren auf 340 Seiten, immer wieder kommentieren Verweise auf andere Themen und Kontexte diese Darstellung. Die Darstellung der Entwicklung ist durchaus dramatisierend, auch wenn dies angesichts des Themas und der erzählten Zeit, also mit schnellem Wechsel der Hauptfiguren, vergleichsweise moderat gestaltet ist. Daher ist auch dieser Sachcomic zur Gruppe der „narrative non-fiction“ zu zählen, wobei die Beschreibung als „pure non-fiction“ je nach Auslegung der Definition ebenfalls möglich ist, denn
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wo die McCloud’sche Unterscheidung ihre Grenze zieht, bleibt unklar. Zumal die Frage danach, in welcher Erzählweise Dramatisierung beginnt, ist letztendlich von den subjektiven Interessen der Leser und von der Leseintention abhängig. Montageanleitungen dramatisieren die einzelnen Schritte des Zusammenbaus nicht, keine Spannungskurve entsteht innerhalb der Geschichte, auch ist das Happy End der Beschreibung vorausgesetzt. Aber im Bezug der Anleitung auf das zu montierende Artefakt entsteht beim Leser, der in diesem Fall auch Anwender ist, gegebenenfalls Spannung, denn unklar ist, ob die Montage gelingen wird, ob alle notwendigen Bauteile enthalten und brauchbar sind etc. Anders als beim Lesen von fiktionaler Literatur findet hierbei nicht nur ein den Text interpretierender Prozess statt, sondern ein dem Spielen vergleichbares Konfigurieren von Zuständen des Objekts, auf das sich die Anleitung, der Sachcomic selbst, bezieht (vgl. Denward 2011: 53 ff., die sich in diesem Zusammenhang vor allem auf Eskelinen 2001 stützt). Spannung entsteht dabei nicht aus der Darstellung im Sachcomic allein, sondern „multimedial“ im interaktiven Umgang mit Bildergeschichte und dem im Zusammenbau befindlichen Artefakt. Wenn man bereit ist, diese sehr eigene Art von Spannungsaufbau als dramatisierend zu werten, dann „erzählen“ alle Bilderstreifen, sogar Gebrauchsanleitungen.
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Beide zuvor beschriebenen Beispiele sind nach der eingeführten Definition als Sachcomics zu verstehen, wobei beide keine Technikdokumentation sind. Beide erzählen Geschichte: einmal Naturgeschichte, einmal Wissenschaftsgeschichte. Die Unterschiede zwischen ihnen sind dennoch bemerkenswert: Während Logicomix grafisch wenig anspruchsvoll erzählt, ist Alpha Directions anspielungsreich und mit erkennbarer Handschrift gestaltet. Beide stellen auf unterschiedliche Weise ihre Themen dar, die wesentlichen Punkte und Entwicklungen dieser Inhalte können erkannt und gelernt werden. Über diese Hauptausrichtung hinaus benennen oder erklären beide kaum ihre narrativen Auslassungen und verdeutlichen gar nicht mit Hilfe grafischer Traditionen der Wissensvermittlung neben der jeweils eigenen Erzähweise. Dazu muss aber angemerkt werden, dass bewegliche Elemente in Alpha Directions kaum zusätzliche Erkenntnisse bieten würden, sondern eher als die Erzählung unterbrechende Spielereien
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wirken könnten, die in der Darstellung des Stoffes Schwerpunkte setzen würden, die aufgrund ihrer Animiertheit eine andere erzählerische Ebene schafften. Dagegen wäre es vor allem bei Logicomix themenspezifisch möglich gewesen, mehr zu bieten: Der Reiz mathematischer und anderer Welten hätte deutlich gelungener in Bildern umgesetzt werden können. Erst recht, wenn man entsprechend räumliche Darstellungen ein- oder beigefügt hätte, denn dadurch wäre die Erklärung der Zusammenhänge und Prinzipien, die der Comic anspricht, deutlich anschaulicher und besser nachvollziehbar ausgefallen. Allerdings hätte sich auch die Ausrichtung des Comics, seine Erzählweise, Preisgestaltung und Zielgruppe verschoben. Ob dies seinen wirtschaftlichen Erfolg eingeschränkt hätte, muss hier Spekulation bleiben.
A USBLICK Die inhaltlichen und formalen Möglichkeiten der Wissensvermittlung mit Hilfe von Comics, wie immer nun deren Genres bezeichnet werden sollten, sind sehr groß. Wie alle Bereiche von Medienproduktion ist aber auch die Umsetzung von Lehrmaterialien mit beweglichen Elementen, innerhalb oder zusätzlich zu verwendeten Comic-Sequenzen, ein Kostenfaktor. Die Anwendungsabsicht ist entscheidend bei der Abwägung medialer Möglichkeiten und kostengünstiger Produktion von Informationsmaterialien: Bei besonderen Einsatzbedingungen, bei didaktischen Experimenten und bei Prestigeobjekten stehen in der Regel deutlich größere finanzielle Mittel zur Verfügung als für (manchmal auch nur scheinbar) alltägliche Informationsmedien. Wie die große Verbreitung der beschriebenen beweglichen Printmedien im Kinderbuch und das zunehmend eigenständige Segment Pop-up-Buch zeigen, sind die Produktionskosten und damit zusammenhängende Verkaufspreise aber kein Ausschlusskriterium. Der privatfinanzierte und -motivierte Einsatz dieser zum Teil rein unterhaltenden, zumeist aber lehrende und spielerische Aspekte verbindenden Druckprodukte ist fest etabliert, nicht zuletzt eben aufgrund der hohen Anschaulichkeit der Umsetzung komplexer Zusammenhänge in Pop-ups und beweglichen Elementen (vgl. Abb. 1). Ob und wie sich die Verwendung in öffentlich finanzierten Bereiche entwickelt, hängt auch von Weiterentwicklungen unter anderem der Lehre in Schule und Beruf ab. Darüber hinaus zeigt beispielsweise der sich stetig wandelnde Medieneinsatz bei
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Gesundheitsfragen, dass – zumeist ganz profan in Folgekostenabwägung – kostspielige Experimente durchaus möglich sind, um anders kaum systematisch zu informierende gesellschaftliche Teilgruppen zu erreichen. Aber auch Fachpublikum kann mit diesen Mitteln präzise informiert werden, so kann Scanimation Bewegungsabläufe wie z. B. die der Bestandteile des Schulter„gelenks“ oder aber Entwicklungen wie z. B. Zellwachstum verdeutlichen. Die im Text angesprochene gegenseitige Ausschließlichkeit der Definition von comic- und filmartiger Bewegungsdarstellung im Medium Druck ist vor allem medienwissenschaftlich interessant. Sie schränkt die Möglichkeiten nicht ein, erlaubt aber die Benennung der jeweiligen narrativen Vorgänge, die vor der systematischen Weiterbearbeitung steht. Bei der Planung und Entwicklung von Lehr- und anderen Narrationen steht zunächst die vermittelnde Qualität der jeweiligen visuellen Zeichen und deren Sequenzen im Mittelpunkt – und deren Kosten in der Produktion des jeweiligen Bildträgers und Mediums. Die formale Zuordnung der einzelnen kommunikativen Situationen erlaubt aber über den Einzelfall hinausgehend, auf entsprechend bestehendes theoretisches und anwendungsbezogenes Detailwissen zu spezifischen Sequenzformen aus Literaturwissenschaft oder Graphic Design, Theater- oder Filmwissenschaft zurückzugreifen. Die grafische Verdeutlichung von Zusammenhängen ist allgemein zugänglicher als in reiner Textform beschrieben, auch tragen Verbindungen von Bildern und Texten zur Lesemotivation bei (Bühring/Schwender 2007). Dass sich diese Elemente mit anderen Printmedien hervorragend verbinden lassen, ist deutlich. Entsprechend können zur Wissensvermittlung nicht nur Sachcomics, sondern auch entsprechende Hybride eingesetzt werden, eben weil um räumliche Elemente ergänzte Sachcomics komplexe Zusammenhänge auf der jeweils bestgeeigneten Ebene darstellen können, sei es in Bildsequenzen, als Text, am beweglichen Objekt oder als Mischung aus diesen.
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L ITER ATURVERZEICHNIS Primärliteratur Doxiadis, Apostolos/Papadimitrious, Christos (2009): Logicomix. An epic search for truth, London: Bloomsbury Publishing. Harder, Jens (2010): Alpha Directions. Hamburg: Carlsen. Ita, Sam (2009): Moby Dick. Ein Pop-up-Buch, München: Knesebeck. Mathieu, Marc-Antoine (2008): Der Wirbel. Julius Corentin Acquefacques, Gefangener der Träume, Berlin: Reprodukt. Saunders, Emma/Radevsky, Anton (2010): A Voyage to the Heart of Matter: The ATLAS Experiment at CERN. 2. ed., London and Winterbourne: Papadakis. Seder, Rufus Butler (2007): Galopp! New York: Workman Publishing. Sienkiewicz, Bill (1990): Classics Illustrated #4 – Herman Melville: Moby Dick, Berkley/First Publishing. Weldin, Frauke/Praml, Sabine (2008): Weil du mein liebes Mäuschen bist, Hamburg: Oetinger.
Sekundärliteratur Bühring, Ulrich/Schwender, Clemens (2007): Lust auf Lesen. Die lesemotivierende Gestaltung von Technischer Dokumentation (= tekom Hochschulschriften, Bd. 15), Lübeck: Schmidt-Römhild. Carter, David. A./Diaz, James (2009): Das Pop-up-Handbuch, Berlin: Jacoby & Stuart. Dittmar, Jakob F. (2005): Modell als Objekt – Objekt als Modell. Technikvermittlung und Dokumentation an Artefakten, in: Clemens Schwender/Jakob Dittmar/Hans Prengel (Hg.), Abbild – Modell – Simulation, Frankfurt: Peter Lang, S. 39–72. ders. (2011a): Comic-Analyse. 2. erw. Aufl. Konstanz: UVK. ders. (2011b): „Grenzüberschreitungen: Technikdokumentation und dreidimensionale Bilder in fiktionalen Comics“, in: Thomas Becker (Hg.), Comic: Intermedialität und Legitimität eines popkulturellen Mediums, Bochum: Bachmann, S. 147–158. Denward, Marie (2011): Pretend that it is real!: Convergence culture in practice, Malmö: Malmö University. Dolle-Weinkauff, Bernd (1990): Comics. Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945. Unter Mitwirkung von Klaus
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Doderer, Christiane Körner, Helmut Müller, Katja Ott, Weinheim und Basel: Beltz. Eskelinen, Markku (2001): „The gaming situation“ in: Game Studies, The International Journal of Computer Game Research 1 (1) http://www. gamestudies.org/0101/eskelinen/ vom 23. 11. 2012. Kleta, Henry G. (2005): „Marching Triangles“, in: Clemens Schwender/ Jakob Dittmar/Hans Prengel (Hg.), Abbild – Modell – Simulation, Frankfurt: Peter Lang, S. 137–154. McCloud, Scott (2000): Reinventing Comics, New York: Harper Collins. Montanaro, Ann R. (2000): Pop-Up and movable Books, Supplement 1, 1991–1997, Lanham, MD: Scarecrow Press, 2000.
A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Saunders, Emma/Radevsky, Anton (2010): A Voyage to the Heart of Matter: The ATLAS Experiment at CERN. 2. ed. London and Winterbourne: Papadakis. Fotos: © The ATLAS experiment at CERN. Abb. 2: Mathieu, Marc-Antoine (2008): Der Wirbel. Julius Corentin Acquefacques, Gefangener der Träume. Berlin: Reprodukt. Fotos: Jakob Dittmar. Abb. 3: Ita, Sam (2009): Moby Dick. Ein Pop-up-Buch. München: Knesebeck. Fotos: Jakob Dittmar. Abb. 4: Weldin, Frauke/Praml, Sabine (2008): Weil du mein liebes Mäuschen bist. Hamburg: Oetinger. Fotos: Jakob Dittmar. Abb. 5: Seder, Rufus Butler (2007): Galopp! New York: Workman Publishing. Fotos: Jakob Dittmar.
Bericht aus der Praxis: Out of Somalia Ein Comic-Projekt im Auftrag von Médecins Sans Frontières Urs Hangartner
Das Flüchtlingslager Dagahaley, nahe der Ortschaft Dadaab im Osten Kenias an der Grenze zu Somalia in Ostafrika gelegen, ist eines der größten und ältesten Flüchtlingslager überhaupt: Rund eine halbe Million Menschen lebt hier, einige seit mehr als 20 Jahren. Médecins Sans Frontières (MSF) startete ihren Einsatz im Lager Dagahaley im Jahr 2009, die medizinische Versorgung beinhaltet u.a. Chirurgie und Geburtshilfe in einem Spital; dazu kommen Gesundheitsposten für Impfungen, vorgeburtliche Beratung und psychologische Betreuung. Die beiden Zürcher Comic-Schaffenden Andrea Caprez und Christoph Schuler weilten 2011 für zwei Wochen im Lager, um im Auftrag von MSF eine Comic-Reportage zu gestalten. Das Comic-Projekt wurde im März 2011 auf www.msf.ch als Blog von Christoph Schuler und Andrea Caprez in Tagebuchform (Text und Bild) nach dem Afrika-Aufenthalt öffentlich gemacht. Die fertiggestellte Arbeit wurde im Sommer 2011 online gestellt. Im März 2012 folgte die Buchausgabe von Out of Somalia. Dagahaley – ein Flüchtlingslager in Kenia (weitere Ausgaben erscheinen auf Englisch und Französisch). Wie kamen Sie zu diesem Auftrag von Médecins Sans Frontières (MSF)? Caprez: Eigentlich wollte MSF den erfahrenen Westschweizer ComicReporter Patrick Chappatte für den Auftrag gewinnen, doch musste er aus terminlichen Gründen absagen. So kam die Anfrage schließlich an uns. Wir hatten schon Erfahrungen mit dokumentarischen Comics oder
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Comic-Reportagen, etwa mit einem Projekt in Indien oder in den Schweizer Alpen. Welches war die Zielvorgabe, wie war der Auftrag im Voraus formuliert? Caprez: Der Auftrag war, eine sachliche und respektvolle Beschreibung der Zustände im Flüchtlingslager Dagahaley unter Berücksichtigung der Flüchtlingsschicksale und der Tätigkeit von Médecins Sans Frontières MSF abzuliefern. Schuler: Weil die Verantwortlichen bei MSF so begeistert gewesen waren vom Erfolg des Comic-Albums Der Fotograf (siehe auch Beitrag von Hillenbach in diesem Band), wollten sie wiederum einen Comic, aber konkrete Vorstellungen oder ein Wissen darüber, was es in Sachen Comic-Reportagen aktuell gibt, existierten bei MSF nicht. Caprez: Wir haben verschiedene Konzeptvorschläge skizziert, verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, was realisierbar wäre. Dies auf dem Hintergrund dessen, was wir an Comic-Reportagen kannten (Texter Christoph Schuler hat u.a. die beiden Alben Gaza und Bosnien von Joe Sacco ins Abbildung 1: Hüttenbau-Sequenz (aus dem Kapitel „Neu angekommene Flüchtlinge“)
Quelle: Caprez/Schuler (2012: 13)
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Deutsche übersetzt – Anm. U.H.). Wir wussten nicht recht, was die Leute von MSF genau wollten, und sie wussten es eigentlich auch nicht. Mit diffusen Gefühlen sind wir schließlich nach Afrika gereist. Wir dachten uns: Wir gehen mal da hin, schauen und entscheiden uns dann, was wir konkret aus dem Material machen. Umfangmäßig war auch nichts vorbestimmt? Schuler: Nein. Es war zu Beginn ja lediglich geplant gewesen, die Arbeit auf der Homepage von MSF ins Netz zu stellen. Als klar war, dass es nach Kenia gehen sollte: Wie viel Vorwissen bestand auf Ihrer Seite? Schuler: MSF dokumentierte uns mit reichlich Informationsmaterial, dazu machten wir uns auch im Internet kundig. Da finden sich sogar kleine Filme über das Lager auf Youtube: So wussten wir einigermaßen, was uns erwartet. Mussten Sie vor Ort Ihre Vorstellungen revidieren? Schuler: Wenn man ein Youtube-Video schaut oder MSF-Broschüren studiert, dann liegt da der Schwerpunkt auf Elend, Horror, schlechte Versorgung usw. Vor Ort aber wartet man auf den nächsten Jeep, der einen irgendwohin fahren soll, man versucht Termine festzumachen, man wartet, man langweilt sich. Man ist überrascht, wie wenige der Situationen man antrifft, die man in den Informationsbroschüren gesehen hat. Nur selten ist man mit unterernährten Kindern konfrontiert, es gibt keine Menschen, die unmittelbar am Verhungern sind. Die Neuankömmlinge sehen relativ gesund aus. Caprez: Erstaunlich ist auch, wie schnell sich die Flüchtlinge bei der Ankunft zu organisieren wissen. Schuler: Kaum angekommen, stecken sie sich ein Geviert aus mit Dornengestrüpp, einen Claim, in dem sie gleich mit dem Bau einer Hütte aus Ästen und Tüchern beginnen. Bald darauf erscheinen Vertreter von Hilfsorganisationen, die die Flüchtlinge manchmal an Orte im Lager umsiedeln, an denen es eine bessere Wasserversorgung oder ein Ambulatorium gibt. Caprez: Das wahre Elend der Flüchtlinge liegt in der Perspektivlosigkeit. Es gibt Menschen in Dagahaley, die sind seit 20 Jahren da. Der Übersetzer, der uns von MSF zur Seite gestellt wurde, war im Alter von zwei
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Jahren ins Lager gekommen. Jetzt ist er 22 Jahre alt und steckt fest. Er kann nicht zurück und nicht vorwärts. Das schien uns eigentlich die größte Tragik. Andere, die schon lange dort sind oder bereits als Erwachsene ins Lager kamen, haben sich eingerichtet. Schuler: Im Lager leben sie besser als beispielsweise in den Ruinen von Mogadischu. Jene, die in den letzten Dürrejahren beinahe verdurstet sind mitsamt ihrem Vieh, die leben im Lager ganz sicher besser. Selbst wenn Frieden wäre, bestünde für sie kein großer Anreiz zurück zu gehen. Dagahaley ist eine große, gut funktionierende Stadt. Und wer unbedingt will, kann das Lager auch verlassen, auch wenn die kenianischen Behörden dies nicht gerne sehen. Halb Nairobi ist voll von somalischen Flüchtlingen. Andere ziehen durch die Steppe nach Norden, bis nach Libyen, und dann mit dem Schiff nach Europa. Abbildung 2: Ein Panoramabild und ein Text (aus dem Kapitel „Krankenhaus“)
Quelle: Caprez/Schuler (2012: 19)
Hatten Sie viele Kontakte zu Flüchtlingen? Caprez: Die meiste Zeit in Dagahaley verbrachten wir mit MSF-Leuten, da wir mit ihnen im selben „Compound“ lebten, einer Art ummauerter Festung für die Mitarbeiter von MSF. Mit den „Expats“, den meist aus Nordamerika und Europa stammenden Leuten von MSF, hatten wir schnell Kontakt, mit den „Nationals“, den kenianischen Ärzten, Pflegerin-
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nen und sonstigem Personal, erst später, als ich anlässlich einer Party in ihre Unterkünfte eingeladen wurde, um ihnen auf der Gitarre ein paar Lieder vorzutragen. Schuler: Wir machten viele Interviews mit neu eingetroffenen Flüchtlingen, mit anderen, die seit Jahren in Dagahaley leben, mit somalischen und kenianischen Pflegerinnen und Pflegern im Spital, mit jungen Burschen, die im Ambulatorium herumhängten, mit Ladenbesitzern am Markt, mit psychisch Kranken und ihren Familien. Auch sprachen wir mehrere Stunden mit dem Bürgermeister und der Bürgermeisterin, beides Flüchtlinge, die seit vielen Jahren im Lager leben, doch waren diese Gespräche nicht sehr erhellend, weil die beiden in einem eingeschliffenen Polit-Jargon kommunizierten. Caprez: Wie man in unserer Arbeit sieht, gab es einige Gelegenheiten, den Menschen näher zu kommen. Zum Beispiel, als wir in verschiedene Hütten eingeladen wurden und mit den dort lebenden Familien sprechen konnnten. Hat man Ihnen vorgeschrieben, worüber Sie berichten sollen? Caprez: Es war so, dass die Einsatzleitungen sowohl in Genf als auch später in Nairobi vorgaben, welche Orte besucht werden müssen und worüber berichtet werden darf. In Nairobi wurden wir von der dortigen MSF-Chefin, der sogenannten „Head of Mission“, detailliert gebrieft, worüber wir schreiben bzw. was wir zeichnen sollten. Weitere Instruktionen erteilte uns das sogenannte „Desk“, die Einsatzleitung in Genf. Hatten Sie schon während des Aufenthalts in Dagahaley eine Art Filter im Kopf, der Sie daran hinderte, bei der Arbeit mit Skizzenblock, Notizblock und Fotoapparat gewisses Material überhaupt aufzunehmen? Schuler: Wir haben eigentlich tagtäglich und breitestmöglich alles dokumentiert, was wir sahen und hörten. Der Filter kam später. Caprez: Ich erachtete es persönlich als Problem, dass das Konzept zu jenem Zeitpunkt, als wir dort waren, so schwammig war. Wenn es beispielsweise klar gewesen wäre, dass wir das Lager aus einer persönlichen Perspektive beschreiben sollten, dann hätte ich mich besser auf etwas Bestimmtes fokussieren können. Schuler: Es gab anfangs keinen klaren Schwerpunkt. Ich versuchte, möglichst viel Material zu sammeln, damit ich sowohl für eine Reportage als auch für Porträts gut ausgestattet wäre. Viele Interviews, die ich ge-
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macht habe, fanden später keinen Platz im fertigen Buch. Auch notierte ich atmosphärische Beschreibungen und persönliche Eindrücke, ebenfalls Spannungen zwischen dem Zeichner und mir. Erst nach den beiden Wochen im Lager, bei der Sichtung und ersten Auslegung unserer Materialien in einem Hotel auf der Insel Lamu, hat sich herausgestellt, was MSF tatsächlich wollte. Erst dann, als der Kommunikationsverantwortliche einen Teil unseres Material gesehen hatte, konnte er zumindest sagen, was er bzw. seine Vorgesetzten bei MSF nicht wollten. Da wurde uns klar, dass von uns eigentlich eine übliche MSF-Broschüre erwartet wurde, mit den üblichen Reportagen über das Lager. Schon meine Texte für das Tagebuch gingen ihnen zu weit. Allzu detaillierte Beschreibungen von uns und von MSF-Mitarbeitern wollten sie definitiv nicht. Sie wollten nichts Persönliches, sondern möglichst Objektives, da dies ihrer Meinung nach von Sponsoren und Spendern gewünscht werde. Caprez: Als der Kommunikationsverantwortliche von MSF die ersten Texte gelesen hatte, die wir ihm noch von Lamu aus zuschickten, fand er, sie würden zu viel Angriffsfläche bieten. Schuler: Er war der Mittelsmann zwischen dem „Desk“ und uns und musste immer deren Maximen vermitteln und umgekehrt. Die Entscheidungen lagen nicht bei ihm, was die Kommunikation unglaublich schwierig und langsam machte. Es ist natürlich verständlich, dass Namen von Patienten oder von MSF-Mitarbeitenden aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden dürfen. Mit dem Vorwand von Sicherheitsbestimmungen versuchten sie aber, auch anderes zu kippen. Mit anderen Worten: Es war, was die Produktionsumstände angeht, für den gestalterischen Prozess extrem hemmend und behindernd? Caprez: Eindeutig. Einerseits ist es schon mal grundsätzlich sehr anspruchsvoll, sich mit einem solchen Thema auseinanderzusetzen. Obwohl wir beide schon so lange zusammenarbeiten, sind wir auch nicht unbedingt die Routiniers, was Comic-Reportagen in der Dritten Welt anbelangt. Das finde ich eine Herausforderung an und für sich. Gekoppelt mit solch restriktiven Auflagen wurde alles noch viel schwieriger. Schade auch, dass MSF ganz klar nichts Erzählerisches wollte. Würden Sie das vorliegende Buch Out of Somalia nun als Comic-Reportage bezeichnen? Welche anderen Formen hätten Sie sich noch vorstellen können?
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Schuler: Am Anfang war ja nicht die Rede von einer Buchausgabe. Wir gingen also von einer Anwendung im Internet aus. Wir skizzierten vorab eine mögliche Idee, die wir „Kaleidoskop“ nannten: Man wirft ganz verschiedene Sachen zusammen, Fotos, Illustrationen, Texte, Tonaufnahmen, kleine Filme – am Ende hat man eine „Wolke“ von Dingen, und man kann sich da durchklicken – eine interaktive „Wolke“, durch die sich der Leser selbst navigiert. Dann wurde immer klarer, dass es mehr einer „klassischen“ Reportage gleichen sollte. Wir wären lieber etwas mehr in Richtung der Werke von Joe Sacco gegangen, der sich in seinen Comic-Reportagen als Autor und Protagonist selber mit einbringt. So sind all die lustigen, zuweilen absurden Situationen, die wir erlebt haben, sei es mit Flüchtlingen oder mit MSF-Mitarbeitenden innerhalb des „Compounds“, weggefallen, dabei waren sie ein wichtiger Teil unseres Aufenthalts. Abbildung 3: Sequenz zur Arbeit der Hebamme im Lager (aus dem Kapitel „Krankenhaus“)
Quelle: Caprez/Schuler (2012: 31)
Wie gingen Sie bei der Sichtung und Auswertung des Materials vor? Caprez: Erst machten wir eine Liste mit den Situationen, die wir unbedingt beschreiben wollten, dann besprachen wir die Bildgestaltung, inklusive der Platzierung der Texte. In den zwei Wochen auf Lamu, nach dem Aufenthalt in Dagahaley, skizzierte ich jede Seite auf sehr dünnes
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Afrika-Papier. Bei früheren Gemeinschaftsarbeiten haben wir nie so intensiv gemeinsam an einer Geschichte gearbeitet. Schuler: Es ging auch darum festzulegen, wie die Verteilung von grösseren Bildern mit Textblock, Bildsequenzen und Panoramabildern aussehen sollte. Diese Arbeit fand noch in Kenia statt. Es gibt in der fertiggestellten Arbeit beides: beschreibende Texte, die als eine Art Legenden zu den Bildern funktionieren, und Sequenzen, die sich selber erklären. Caprez: Diese Bilder mit Texten, die etwas über das Bild, aber auch noch etwas darüberhinaus erzählen, waren schon immer unser Stil. Schuler: Bei Out of Somalia durften wir leider keine Experimente machen. Letztlich könnte man sagen: Es hätte auch alles fotografiert sein können. Es unterscheidet sich nicht groß von den bestehenden Info-Broschüren von MSF über Dagahaley oder ein anderes Flüchtlingslager. Es gibt wenige Momente, wo eine Spannung entsteht zwischen Bild und Text. Wirklich zufrieden bin ich mit der Arbeit nicht, denn wir hätten sie genauso auch vor 20 Jahren machen können; unsere Erfahrung als ComicMacher ist hier nicht drin, sie war nicht gefragt, genausowenig wie Spielereien mit dem Medium Comic. Schade und ärgerlich ist auch, dass unser leider nie sehr professionell handelnder Kontaktmann bei MSF in Genf im letzten Augenblick eigenmächtig einen der Texte kürzte und ihn damit unverständlich machte. Welchen Erkenntniswert für welches Lesepublikum hat Out of Somalia nach Ihrer Einschätzung? Schuler: Es ist im besten Fall ein attraktives Give-away für MSF. Caprez: Inspiriert vom Welterfolg der drei Bände von Der Fotograf, die ja unabhängig realisiert und erst im Nachhinein durch MSF unterstützt wurden, wollte MSF ein ähnliches Produkt, das über den Kreis ihrer bisherigen Sympathisanten und Spender hinaus wirken würde. Leider sahen die Verantwortlichen bei MSF nicht ein, dass so etwas nur möglich ist, wenn man den Autoren die entsprechende künstlerische Freiheit lässt. Für alle Beteiligten am besten wäre es gewesen, wenn sie uns gesagt hätten: „Macht, was ihr für richtig hält! Ihr habt einen Namen, wir bekommen von euch etwas, das einen Wert hat.“
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Man muss also sagen: Chance vertan. Caprez: Eindeutig. Wir kennen das Medium besser als sie, wir wissen, dass auch für MSF mehr möglich gewesen wäre. Das vorliegende Produkt ist vom Fokus her unklar, das ist das Problem. Schuler: Die Leute von MSF sehen das nicht so. Offenbar entspricht es ihren Ideen. Sie sind zufrieden. Was müsste man anders machen aufgrund der Erfahrungen? Caprez: Man müsste die Möglichkeiten des Mediums besser nutzen. Mich hätte es gereizt, etwas Semi-Fiktionales zu machen. Dass man sich zuerst gut informiert, dann mit den Flüchtlingen spricht und versucht, aus ihren Erzählungen eine Geschichte zu bauen, deren „Leitplanken“ faktisch sind. Schuler: Ich würde sehr gerne irgendwohin gehen und etwas machen, wie Guy Deslisle das mit seinen Alben über Nordkorea oder Birma gemacht hat (in Pjöng jang und Aufzeichnungen aus Birma). Etwas, das sich aus dem Zwang befreit, für einen klaren Auftraggeber etwas zu machen. Etwas, das auch abschweifen kann von den sogenannt wichtigen Themen, das sich in Details verlieren kann. Sind Sie gegenüber dem Medium Comic-Reportage nun desillusioniert nach den gemachten Erfahrungen mit Out of Somalia? Caprez: Desillusioniert keineswegs. Die Möglichkeiten des Mediums sind einfach in unserem Fall nicht genutzt und ausgeschöpft worden.
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Zeichner Andrea Caprez widmet sich in seiner Master-Arbeit zum Abschluss seines Studiums an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK den Erfahrungen mit dem Projekt Out of Somalia. Er dokumentiert das Projekt, analysiert es kritisch und reflektiert die Möglichkeiten des Mediums im Kontext einer Auftragsarbeit (Caprez 2012). Zusätzlich zur schriftlichen Arbeit präsentiert Caprez eine Gegenüberstellung des Buchprodukts Out of Somalia mit einer collagehaften Installation unter dem Titel Die Zeichnung als Zeuge. „Ist es nun PR, Journalismus oder Kunst? Was würde ich beim nächsten Mal anders machen?“ fragt er sich in der Installation. Damit versucht er, die Erfahrungen und Erkenntnisse von seiner schriftli-
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chen Arbeit, im Medium des zeichnerischen Erzählens, „in ein neues Format zu transformieren, das sich von den Zwängen des Reportage-Comics, der Auftragsarbeit und der Schere im eigenen Kopf zu befreien vermag“ (Ausstellungstext 2012). „Wichtig sind mir dabei Themen wie die Überfülle von Eindrücken und Informationen, die Frage, nach welchen Kriterien etwas ins Bild gesetzt wird, meine Rolle als zeichnender Reporter im Feld sowie meine Perspektive als Betrachter und deren Auswirkungen auf die Bildsprache“ (ebd.). In der Installation aus Zeichnungen, nachträglich gefertigten Piktogramm-Darstellungen, Fotos und Texten sind auch private Gedanken und Erlebnisse festgehalten. „Was kommt ins Bild? Wer wählt aus?“ – „Wir können uns kaum verständigen. Wie kommt man so auf Augenhöhe?“ – „Ich zeichne wie wild, aber ich kann nichts verstehen.“ Abbildung 4: Nachbereitung des Projekts Out of Somalia in Form einer Installation (Ausschnitt)
Quelle: Caprez: „Die Zeichnung als Zeuge“ (2012)
Auf dem Hintergrund seines Erfahrungsschatzes im Zusammenhang mit Out of Somalia formuliert Caprez unter anderem die Thesen: „Eine im Auftragsverhältnis erarbeitete Reportage verharrt in den Grenzen der NGO-Kommunikation. – Eine Zusammenarbeit, welche die künstlerischen Freiheiten respektiert, würde eine größere Wirkung über den Sympathisantenkreis der NGO hinaus erzielen“ (Caprez 2012: 13).
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Zusammenfassend führt Caprez in seiner Arbeit eine Reihe von Schlussfolgerungen an. Er schreibt: „Die Kompetenz der Künstler liegt nicht in der exakten Umsetzung von PR-Vorgaben, sondern in der eigenständigen Umsetzung von Inhalten.“ – „Übt der Auftraggeber zu viel Einfluss auf die künstlerischen Werke aus, hat dies zur Folge, dass die Publikationen fast nur von dem Auftraggeber nahestehenden Leuten wahrgenommen werden.“ – „Die Kommunikationsabteilung sollte bei den Entscheidungsträgern Überzeugungsarbeit leisten hinsichtlich des Mehrwerts eigenständiger künstlerischer Arbeiten für die Organisation. Das Beispiel des Erfolgs von Emmanuel Guiberts Der Fotograf belegt diese These.“ – „Künstler sollten, nach einer gründlichen Einführung seitens MSF in ihre Tätigkeit vor Ort, die Recherchekriterien selbst bestimmen können, soweit sie dadurch weder sich noch andere gefährden“ (Caprez 2012: 80). Andrea Caprez und Christoph Schuler (beide Jahrgang 1954) bilden seit Mitte der 1980er-Jahre ein Kreativ-Gespann in den Bereichen Comic, Bildergeschichte, Animationsfilm und Musik. Ab den frühen 1990er-Jahren wirkte Schuler als Songtexter für die Band The Jellyfish Kiss (mit Caprez als Sänger und Gitarrist; drei Alben zwischen 1992 und 1998). Seit 1990 sind mehrere Comic-Arbeiten mit Schuler als Texter und Caprez als Zeichner entstanden.
Das Gespräch mit Andrea Caprez und Christoph Schuler fand am 8. Juni 2012 in Zürich statt.
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L ITER ATURVERZEICHNIS Caprez, Andrea/Schuler, Christoph (2012): Out of Somalia. Dagahaley – ein Flüchtlingslager in Kenia, Médecins Sans Frontières/Edition Moderne: Zürich. Online-Version von Out of Somalia findet sich unter folgendem Link: http://dadaabcomics.msf.ch/de/ vom 1.8.2012. Caprez, Andrea (2012): Das Projekt „Out of Somalia“. Eine Comicreportage zwischen Auftragsarbeit und Kunst, Masterthesis, Master of Arts, Transdisziplinarität in den Künsten, Departement Kulturanalyse und Vermittlung, Zürich: Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Ausstellungstext (2012): Die Zeichnung als Zeuge. Installation an der Hochschule der Künste Zürich ZHdK, Juni 2012. Tagebuch Out of Somalia auf der Homepage von MSF, http://www.msf. ch/de/news/briefe-vom-feld/detail/kenia/un-camp-de-refugies-soma liens-vu-par-deux-auteurs-de-bd-3/vom 1.8.2012.
A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Caprez, Andrea/Schuler, Christoph (2012): Out of Somalia. Dagahaley – ein Flüchtlingslager in Kenia. Médecins Sans Frontières MSF: Zürich, S. 13. Abb. 2: ebd., S. 29. Abb. 3: ebd., S. 31. Abb. 4: Caprez, Andrea (2012): Die Zeichnung als Zeuge. Installation an der Hochschule der Künste Zürich ZHdK, Juni 2012 (Foto Urs Hangartner).
Autorinnen und Autoren
Dittmar, Jakob F., war Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Medienwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Arbeitet seit 2011 als Lecturer an der Malmö Högskola in Schweden. Dolle-Weinkauff, Bernd , seit 1983 wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit 1989 Kustos des Instituts für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität Frankfurt. Gründungsmitglied der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz (GKJF) und der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor). Seit 2011 Honorarprofessor der Gesamthochschule Kecskemét (Ungarn). Gundermann, Christine, arbeitet seit 2005 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin im Arbeitsbereich Neuere Geschichte/Zeitgeschichte. Seit 2008 koordiniert sie dort den Master-Studiengang Public History. Hangartner, Urs , lebt als Kulturjournalist und Comic-Forscher in Luzern. Mitarbeiter des Forschungsprojekts „Angewandte Narration: Sachcomics“ des Schweizerischen Nationalfonds 2009/10 und 2011/2012, Hochschule Luzern – Design & Kunst; zahlreiche Buch- und Katalogbeiträge zum Thema Comics, u.a.: „Von Bildern und Büchern. Comics und Literatur – ComicLiteratur“, in: Text+Kritik. Sonderband Comics, Mangas, Graphic Novels, München 2009.
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W ISSEN
DURCH
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Hillenbach, Anne , ist wissenschaftliche Referentin an der Internationalen Graduiertenakademie der Universität Freiburg. Ihre Dissertationsschrift behandelt das intermediale Verhältnis von Literatur und Fotografie. Jüngst, Heike Elisabeth, ist Professorin im Studiengang Fachübersetzen an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt und Jurorin in der Sparte Sachbuch für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Ihre Fachgebiete sind Filmübersetzung, Terminologielehre, Kindersachbücher und die Popularisierung wissenschaftlicher Inhalte. Keller, Felix , arbeitet als Assistenzprofessor für Soziologie an der Universität St. Gallen. Er lehrte und forschte nach dem Studium der Soziologie und politischen Philosophie an den Universitäten Zürich, Lausanne, Luzern und Fribourg. Er beschäftigt sich mit wissenssoziologischen Fragestellungen der Erzählung, Vermessung und Sichtbarmachung gesellschaftlicher Realitäten. Oechslin, Dorothea, ist Sozialpsychologin und arbeitet seit 2009 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Luzern – Design & Kunst; Mitarbeiterin des Forschungsprojekts „Angewandte Narration: Sachcomics“ des Schweizerischen Nationalfonds. Prechtl, Markus , ist Studienrat im Hochschuldienst an der Universität Siegen, wo er angehende Lehrerinnen und Lehrer ausbildet. 2011/2012 war er Gastprofessor für Gender & Diversity an der Leibniz Universität Hannover. Er beschäftigt sich vornehmlich mit den Verknüpfungen „Gender & Chemieunterricht“ sowie „Comics & Chemieunterricht“. Schmid, Ulrich , Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Seine Forschungsinteressen gelten dem Nationalismus in Osteuropa, der russischen Populärkultur und dem Verhältnis zwischen Medien und Politik. Vogel, Matthias, Dozent an der Hochschule der Künste Zürich (ZHdK), und Fernuniversität Schweiz, Privatdozent an der Universität Basel. Projektleiter am ith (Institut für Theorie) und ICS (Institute for Cultural Studies in the Arts) zu Forschungen über den Gebrauch, die Wirkung und Rezeption von Bildern.
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien November 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung März 2013, 176 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0
Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung Dezember 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Januar 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
Kai Mitschele, Sabine Scharff (Hg.) Werkbegriff Nachhaltigkeit Resonanzen eines Leitbildes Oktober 2013, 226 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2422-9
Hermann Parzinger, Stefan Aue, Günter Stock (Hg.) ArteFakte: Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen Reflexionen und Praktiken wissenschaftlich-künstlerischer Begegnungen Februar 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2450-2
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Kultur- und Medientheorie Michael Andreas, Natascha Frankenberg (Hg.) Im Netz der Eindeutigkeiten Unbestimmte Figuren und die Irritation von Identität Juli 2013, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2196-9
Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik Januar 2014, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2160-0
Tanja Carstensen, Christina Schachtner, Heidi Schelhowe, Raphael Beer (Hg.) Digitale Subjekte Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart Dezember 2013, ca. 250 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2252-2
Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten
Beate Flath (Hg.) Musik/Medien/Kunst Wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven Oktober 2013, 198 Seiten, kart., 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2346-8
Jan Henschen Die RAF-Erzählung Eine mediale Historiographie des Terrorismus September 2013, 276 Seiten, kart., 33,90 €, ISBN 978-3-8376-2390-1
Marcus S. Kleiner, Holger Schulze (Hg.) SABOTAGE! Pop als dysfunktionale Internationale Juli 2013, 256 Seiten, kart., zahlr. z.T. farbige Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2210-2
Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Künstlerinszenierungen Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2215-7
Dezember 2013, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2330-7
Özkan Ezli, Andreas Langenohl, Valentin Rauer, Claudia Marion Voigtmann (Hg.) Die Integrationsdebatte zwischen Assimilation und Diversität Grenzziehungen in Theorie, Kunst und Gesellschaft September 2013, 376 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1888-4
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Nacim Ghanbari, Marcus Hahn (Hg.)
Reinigungsarbeit Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2013
Juni 2013, 216 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2353-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 13 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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»Die Zukunft hat schon begonnen.« Robert Jungk
»Die Zukunft kann nicht beginnen.« Niklas Luhmann
»Die Zukunft hat schon aufgehört.« Jürg Laederach
Magazine for the Next Society heft
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oktober 2012
Dritte Orte
Die revue°0DJD]LQHIRUWKH1H[W6RFLHW\ZLUIWHLQHQYHUVSLHOWHQHWKQRJUD½VFKLQVSLULHUWHQ Blick auf die Vorboten einer Zukunft, die längst begonnen hat, unseren Alltag umzukrempeln. Wir blicken auf Grenzgänger und überraschende Nachbarschaften, auf all die sozialen Neuerungen, die gleichzeitig Treiber und Ergebnis einer digitalen Transformation unseres Zusammenlebens und Arbeitens sind. Die revue erscheint zweimal jährlich (März und September) und liegt bundesweit sowie in Österreich im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel aus. Bestellung und weitere Informationen unter www.revue-magazine.net.