Undisziplinierte Bilder: Fotografie als dialogische Struktur [1. Aufl.] 9783839414910

Die 'Undisziplin' von Fotografien, ihre Nicht-Zugehörigkeit zu nur einer Forschungsdisziplin, führt zur Überwi

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German Pages 354 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Undisziplinierte Bilder. Fotografie als dialogische Struktur. Skizze eines gemeinsamen Denkraums
Undisziplinierte Bilder I: Interpretationsoptionen/Analyseperspektiven
Zum epistemischen und methodischen Status von Fotografien in der empirischen Sozialforschung
Disziplinierte Zugänge zum undisziplinierten Bild: die Dokumentarische Methode
Der Widerstand der Bilder
Disziplinierung der Bilder, (De-)Stabilisierung der Praxis. Zur Rekonfiguration fotografischer Agencypositionen
Bilder auf Reisen. Zur Transmedialität von Fotografie
Undisziplinierte Bilder II: Fotografische Bildkultur(en)
Optogramme
Blickmaschine Fotoautomat: Staatliche, künstlerische und Laien-Strategien
Ordnungen des Fotoblogs – Kanalisierungsweisen (in) einer undisziplinierten Bildersammlung
Undisziplinierte Bilder III: Fotografien als dialogische Strukturen
»Always Luck, Always Accident«
Objektivität führt zu Entfremdung
Unter Fittichen
Undisziplinierte Bilder IV: Ein Ausstellungsprojekt
Undisziplinierte Bilder: Zweifeln, Verrücken, Neupositionieren
Über die Autoren
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Undisziplinierte Bilder: Fotografie als dialogische Struktur [1. Aufl.]
 9783839414910

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Thomas Abel, Martin Roman Deppner (Hg.) Undisziplinierte Bilder

Image | Band 7

Thomas Abel, Martin Roman Deppner (Hg.)

Undisziplinierte Bilder Fotografie als dialogische Struktur

Gefördert mit Mitteln des Forschungsschwerpunkts Fotografie und Medien der Fachhochschule Bielefeld

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Katharina Wilke (2009), Ohne Titel (Ausschnitt) Lektorat: Thomas Abel, Petra Frank Satz: Sascha Fronczek, Sven Lindhorst-Emme Fonts: Academica, Katarine ISBN 978-3-8376-1491-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung THOMAS ABEL/MARTIN ROMAN DEPPNER

9

Undisziplinierte Bilder. Fotografie als dialogische Struktur. Skizze eines gemeinsamen Denkraums Undisziplinierte Bilder I: Interpretationsoptionen/Analyseperspektiven VOLKER DREIER

29

Zum epistemischen und methodischen Status von Fotografien in der empirischen Sozialforschung RALF BOHNSACK

61

Disziplinierte Zugänge zum undisziplinierten Bild: die Dokumentarische Methode BURKARD MICHEL

105

Der Widerstand der Bilder JAN-HENDRIK PASSOTH

129

Disziplinierung der Bilder, (De-)Stabilisierung der Praxis. Zur Rekonfiguration fotografischer Agencypositionen ATTHIAS VOGEL / ULRICH BINDER

151

Bilder auf Reisen. Zur Transmedialität von Fotografie

INHALT

Undisziplinierte Bilder II: Fotografische Bildkultur(en) BERND STIEGLER

179

Optogramme SUSANNE REGENER

197

Blickmaschine Fotoautomat: Staatliche, künstlerische und Laien-Strategien SUSANNE HOLSCHBACH

221

Ordnungen des Fotoblogs – Kanalisierungsweisen (in) einer undisziplinierten Bildersammlung

Undisziplinierte Bilder III: Fotografien als dialogische Strukturen BERTIEN VAN MANEN

235

»Always Luck, Always Accident« MICHAEL SCHMIDT

257

Objektivität führt zu Entfremdung OLAF UNVERZART

287

Unter Fittichen

Undisziplinierte Bilder IV: Ein Ausstellungsprojekt EMANUEL RAAB/SUSE WIEGAND

319

Undisziplinierte Bilder: Zweifeln, Verrücken, Neupositionieren

Über die Autoren

UNDISZIPLINIERTE BILDER

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Einleitung

Anmerkung der Herausgeber: Die vorliegende Publikation umfasst Beiträge von Referenten unterschiedlicher Bilddisziplinen und richtet sich an Fotografieinteressierte unterschiedlicher Professionen. Durch die Buchgestaltung soll das Verständnis der Texte unterstützt und positiv beeinflusst werden. Vier typografische Auszeichnungsformate finden Anwendung: Wörtliche Zitate werden in doppelte Anführungszeichen gesetzt, Betonungen, Hervorhebungen, Fachbegriffe, feststehende Begrifflichkeiten, Titel und Eigennamen kursiv. Umgangssprachliches und Ironisches steht in einfachen Anführungszeichen und Namen in Versalien. Darüber hinaus ist in diesem Band mit der Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

»Der große Vorzug der Visuellen Kultur als Konzept besteht darin, dass sie ihrer Tendenz nach eine Undisziplin ist; sie benennt eher eine Problematik als einen klar definierten theoretischen Gegenstand.« MITCHELL 2008: 268 [Herv. i.O.].

Thomas Abel/Martin Roman Deppner

Undisziplinierte Bilder. Fotografie als dialogische Struktur. Skizze eines gemeinsamen Denkraums Können Bilder undiszipliniert sein, wie es der tel des vorliegenden Bandes suggeriert, und wenn ja, wie ist diese Undisziplin zu verstehen? Grenzt man die Fragestellung auf das Medium Fotografie ein, will eine Verbindung zwischen fotografischen Bildern und Undisziplin nicht recht gelingen. Werden Fotografien als Abbilder, als apparative Wiedergaben erlebter Wirklichkeiten verstanden, erscheinen sie eher diszipliniert als undiszipliniert. Visuelle Evidenz, unmittelbare Zeugenscha, Detailtreue und der Nimbus des Authentischen hat die Fotografie seit jeher begleitet und in vielfältige Verwendungszusammenhänge geführt – von den Ordnungsbereichen in Wissenscha und Öffentlichkeit bis in die Archive des Privaten. Die Eigenscha der Fotografie, scheinbar objektiv aufzuzeichnen und reproduzierfähig zu sein, förderte ihre Popularität und macht sie bis heute zu der meist gebräuchlichen Form der Bilderzeugung und Bildverbreitung. So wäre zu schlussfolgern, dass es sich bei der Fotografie um ein Bildgebungsverfahren handelt, welches visuelle Phänomene in eine überaus disziplinierte Bildform und Sichtbarkeitsordnung (Geimer

) überführt und verflacht zur Darstellung bringt. Genau für diese Eigenscha der Bildprägnanz wurden und werden Fotografien geschätzt. Bestenfalls seit der möglich gewordenen digitalen Erstellung und Umformatierung könnte der Fotografie ein undiszipliniertes Moment unterstellt werden. Im Zeitalter des Digitalen stehen die visuell erlebbaren Ausschnitte und Augenblicke auf Fotografien zur Disposition. Das einst mittels chemischer Prozesse nebst Lichteinfall auf dafür emp-

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findlichem Papier materialisierte Bild des Apparates wird als digitale, manipulierbare Bildinstanz erkannt und neu bewertet. In diesem Sinne könnte man argumentieren, die scheinbar so disziplinierte Fotografie sei in Wirklichkeit undiszipliniert, weil sie als digital veränderbares Datum Täuschungspotenziale besitze und Realitätsversprechen postuliere, welche sie womöglich heimlich unterlaufe. Dabei ist der Täuschungsvorwurf an die Fotografie aber kein genuin digitales Problem, denn die fotografische Technik hat Bildproduzenten schon in analoger Zeit zu Bildveränderungen und Bildmanipulationen animiert, angefangen bei der Wahl des Ausschnitts und der Augenblicklichkeit bis hin zu Bildbearbeitungstechniken im Fotolabor. Und erst durch gezielt eingreifende Bildpraktiken wurde die Fotografie zum Medium der Reflexion im Bereich der Kunst, zum visuell bereinigten und persuasiven Bildbeweis in der Wissenscha und zu einer eigenständigen visuellen Wissensform. Die Undisziplin der Fotografie zu behaupten argumentiert somit nicht mit einem verkürzten Blickwinkel auf das Medium als ontologische Bildinstanz. Sie soll nicht als Negativkonnotation in einer Abbildungs-/Sinnbildungsdebatte verstanden werden. Auch wird keine Disziplinierung, Maßregelung, und Domestizierung fotografischer Bilder gefordert. Einem fotografischen Ikonoklasmus oder fotografischer Bildskepsis soll an dieser Stelle ebenfalls nicht das Wort geredet werden. Es geht nicht um die Ordnung fotografischer Bild-Unordnungen, nicht um eine Unterwerfung fotografischer Bilder oder deren Transformation und Übersetzung in andere Medienformate, etwa Schri oder Sprache. Es geht auch nicht darum, Fotografien zu bändigen, nicht um ein Hineinzwängen fotografischer Bilder in autoritäre Konzepte, wie sie aus der Pädagogik oder der militärischen Gehorsamkeitsproduktion bekannt sind. Vielmehr soll in diesem Band zu einer positiven Lesart der Undisziplin fotografischer Bilder aufgerufen werden. Die Vielseitigkeit des bildgebenden Mediums Fotografie zergliedert den Fokus auf fotografische Bilder und macht sie zu mehrdimensionalen Ereignissen. Diese Mehrdimensionalität bildet die Grundlage eines undisziplinierten Fotografie-Dialogs, der Mehrwert für alle beteiligten visuellen Forscher, Professionen und Disziplinen verspricht (vgl. Mitchell

: ).1 Der 1 Schaut man sich in dieser Einstellung das Cover-Motiv des vorliegenden Bandes an, so werden

in der Gestaltung inhaltliche und formale Formen von Undisziplin angedeutet. Es bieten sich verschiedene Lesarten des Bildmotivs an, die allesamt aber ambivalent und ungewiss bleiben: das niedliche Hündchen, der böse Kampfhund, die nach dem Hund ausgestreckte Hand, die den (lieben) Hund streicheln möchte, die Hand, die im nächsten Moment durch einen Biss des Hundes verletzt wird, die Hand des Herrchens, der den Hund ergreifen will, die Hand des Hundefängers, der den verängstigten Hund einfangen und zu Tierversuchen an ein Labor verkaufen möchte, der

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UNDISZIPLINIERTE BILDER – EINLEITUNG

Mehrwert besteht in der Überwindung monodisziplinärer Sichtweisen und Deutungshoheiten zugunsten einer sich aus dem Medium Fotografie, seiner eorie, seiner Praxis und seiner Bildwelten ergebenden Gesamtbetrachtung, um neue Bilderkenntnisse zu erlangen. Mitchell beschreibt die Dynamik dieses Prozesses, wenn er ausführt: »Mein wirkliches Interesse galt […] Formen der ›Undiszipliniertheit‹, den Turbulenzen und Inkohärenzen an den inneren und äußeren Grenzen der Disziplinen […] ein Moment der Erschütterung und des Bruchs, in dem die Kontinuität gestört und die Praxis in Frage gestellt wird […] [ein] Moment des Chaos und des Staunens, in dem sich eine Disziplin […] zwangha in ihrer Unangemessenheit offenbart« (Mitchell

: f. [Herv. i.O.]). Überträgt man Mitchells Ausführungen auf die Fotografie, so sollte das Interesse einer undisziplinierten Fotografieforschung darin liegen, Momente des Chaos und des Staunens zu evozieren, die sich im gemeinsamen Dialog über Fotografien ergeben und sich konstruktiv wenden lassen (Mitchell, s.o.). 2

Fotografie – Soziologie – Geschichtswissenschaft Dialog und Austausch über Fotografiefragen und fotografische Gesamtbetrachtungen scheinen heute mehr denn je angebracht und notwendig zu sein, denn fotografische Bilder haben sich als integrale Bestandteile unserer Lebenswelt(en) etabliert. Sie sind Teil der Alltags-, Kommunikations- und Unterhaltungskultur sowie Werkzeug der Wissensproduktion und Wissensvermittlung. Angesichts einer sich immer weiter ausformenden fotografischen Gesellscha scheint die Befragung und Reflexion fotografischer Bildpotenziale und fotografischer Sachverstand zu sozialen Schlüsselkompetenzen zu avancieren. Dies gilt einerseits für die Mitglieder (natives) fotografischer Gesellschaen und ihre fotografischen Denk- und Handlungsweisen. Andererseits gehört es zu den Aufgaben sozial- und geschichtswissendesillusionierte Hund, der sich mit leerem Blick in sein Schicksal fügt etc. Ambivalenz ergibt sich auch auf formaler Ebene: Handelt es sich bei dem Bild um eine Malerei, um eine Fotografie, um eine Stickerei? Handelt es sich um einen Bildausschnitt oder eine so hergestellte Bildkomposition? Sowohl inhaltlich als auch formal ergeben sich eher Fragen als Antworten. Genau dieser Effekt der Vielgestalt und Verwirrung ist erwünscht. 2 Vgl. zur These von der Undisziplin fotografischer Bilder auch den Beitrag zum 30. Bielefelder Fo -

tosymposium mit dem Titel »Undisziplinierte Bilder« (ABEL 2010) in der von GOTTFRIED JÄGER und MARTIN ROMAN DEPPNER anlässlich der Tagung herausgegebenen Publikation Denkprozesse der Fotografie. Beiträge zur Bildtheorie (DEPPNER/JÄGER 2010).

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schalicher Forschung, Fotografien als Erscheinungsweisen einer Gesellscha in ihrem Vorkommen und ihrem Wandel hinsichtlich ihrer Kulturbedeutung und -bedingtheit zu beschreiben und zu verstehen (vgl. Müller-Doohm :  ). Folgerichtig geraten fotografische Bilder in den Sozial- und Geschichtswissenschaen verstärkt in den Blick, wird mehr und mehr mit und an ihnen gearbeitet, was auch mit einer durch den Visual Turn einhergehenden Neubewertung von Visualität und Bildlichkeit im Allgemeinen zu tun haben mag. Aber im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die fotografische Verfahren selbstverständlich (und in diesem Sinne teilweise unreflektiert) im Rahmen ihrer Forschungsarbeit einsetzen und nutzen und die Vorteile/Potenziale der fotografischen Bildgebung für ihren Erkenntnisgewinn und die Kommunikation wissenschalicher Ergebnisse nutzen, verfolgen die Sozial- und Geschichtswissenschaen eine andere Strategie. Ihr Schwerpunkt liegt auf der fotografischen Bildbetrachtung und -bewertung und auf einer kritischen Reflexion und differenzierten Expertise soziokultureller Fotografievorkommen. Sie interessiert sich für (die immer stärkere) Durchdringung des Alltags mit Fotografien sowie den Wandel gesellschalicher Strukturen und Wissenskulturen durch fotografische Bilder als Bilder des Sozialen3. Rollen und Funktionen von Fotografie(n) in historischen und aktuellen sozialen und kommunikativen (Alltags-) Kontexten und gesellschalichen Teilsystemen stehen im Fokus der Analyse. Dazu zählen Gebrauchs-, Verwendungs- und Repräsentationsweisen, Formen der Sinnbildung, Identitätsstiung und (kultureller) Selbstverständigung, fotografische Objektivierungsweisen und Wissensordnungen sowie weitere Qualitäten fotografischer »Abbildung« und »Sinnbildung« (vgl. Jäger, G.

).4,5 In jüngster Zeit 3 Vgl. dazu den Titel einer Tagung an der TU Berlin im April 2011: Visualisierung von Wissen

und Bilder des Sozialen: Soziale Praktiken, Herstellungsprozesse und Deutungen – Aktuelle Entwicklungen in der visuellen Soziologie. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/ id=15094 (22.03.2011). Eine Publikation mit Beiträgen der Tagung ist 2012 erschienen. 4 Vgl. als Überblick zu Forschungsansätzen der Sozial- und Geschichtswissenschaft zum fotogra-

fischen Bild die Beiträge von ANDREAS SCHELSKE (SCHELSKE 2005) und JENS JÄGER (JÄGER, J. 2005) im Sammelband Bildwissenschaft von KLAUS SACHS-HOMBACH (SACHS-HOMBACH 2005), für die Historische Bildforschung u.a. JÄGER 2000 und JÄGER/KNAUER 2009, für eine visuelle Wissenssoziologie RAAB, J. 2008 und für eine Soziologie des Visuellen BURRI 2008b. Zum Gebrauch und Nutzen von Fotografien und anderer bildgebender Verfahren in den (Natur-) Wissenschaften vgl. u.a. HEINTZ/HUBER 2001; GEIMER 2002; HESSLER 2006, 2009 und ADELMANN et al. 2009. 5 Vgl. zu medienorientierten und rezipientenorientierten Ansätzen der Bildforschung in den Sozi-

alwissenschaften u.a. ENGLISCH 1991; MÜLLER-DOOHM 1993, 1997; TALKENBERGER 1994; BOHNSACK 2001 und MICHEL 2006 und zur Fotografie als historische Quelle BURKE 2003.

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werden deshalb klassische Fotografieforschungsansätze wie die Bildinhaltsanalyse oder die Bildrezeptionsforschung – ausgehend von erweiterten Sichtweisen auf das Soziale und auf Geschichte – durch neue Bildperspektiven ergänzt. Diese thematisieren Fotopraktiken und die Agency von Fotografien als Bildakte (Bredekamp ) sowie Phänomene fotografischer Netzwerkbildung und Viskurse (KnorrCetina

) in performativen Kulturen.6 Daneben etablieren sich innerhalb einer Visuellen Soziologie und Visual History Forschungsansätze, die über die Beschäigung mit Fotografievorkommen, -praktiken und -professionen anderer hinausgehen. Sie nutzen die Fotografie, fotografische Bilder und fotografische Bildbearbeitungstechniken aktiv als Teil ihrer Forschungskonzepte und -methodologien zur Beschreibung gesellschalicher Phänomene, setzen sie als Instrumente wissenschalicher Forschung ein. Sie erweitern das Forschungs- und Methodenrepertoire der Sozial- und Geschichtswissenschaen um eigene empirisch-fotografische Bildpraktiken, um Erkenntnisse über soziokulturelle und historische Fotografiefragen zu erhalten. Letztlich geht es darum, mit und durch Fotografie Wissenscha zu betreiben, mit und durch Fotografie Bild-Erkenntnisse als sozial- und geschichtswissenschaliche Erkenntnisse in Bildform zu formulieren. 7

Fotografie und empirische Bildpraxis Fotografieren als aktive, empirische Bildpraxis, wie es in den Sozialund Geschichtswissenschaen in Anfängen und Teilbereichen zu beobachten ist, bildet seit jeher eine Form des konzeptionell-gestalterischen Umgangs mit Fotografie(n). Zu untersuchende soziokulturelle Phänomene werden fotografisch bearbeitet, um (Bild-)Erkenntnisse zu erlangen. eorien fotografischer Bilddeutung und Bildkritik sowie Analysen geisteswissenschalicher Disziplinen bezüglich eines zu 6 Vgl. zur Untersuchung von Bildpraktiken in der Medizin bspw. BURRI 2008a und zur Performa-

tivität der Fotografie DEPPNER 2009. 7 Vgl. zu empirischen Arbeiten u.a. HARPER 2001; CHAPLIN 2005; PINK 2006 und zur fotoprak-

tischen Analyse mittels Segmentierung und fotografischer Verdichtung BRECKNER 2010. Einen aktiven Umgang mit Bildern in den Geschichtswissenschaften beschreibt bspw. PAUL 2006 und stellt dies umfassend an Bildbeispielen aus den letzten einhundert Jahren vor (vgl. PAUL 2008, 2009). Auch der Bielefelder Historiker REINHART KOSELLECK, dessen Nachlass derzeit u.a. durch das Fotorarchiv Marburg aufgearbeitet wird, umfasst viele eigenhändige und teils aus anderen Quellen bezogene Fotografien und dazugehörige Notizen zur Geschichte und Verbreitung des Kriegs- und Reiterdenkmals vorzugsweise in Europa. Dies unterstreicht, dass KOSELLECK die eigens hergestellte Fotografie in ihrer »politischen Aussage- und Gestaltungskraft im Sinne einer Politischen Ikonologie« ernst nahm (vgl. URL: http://www.http://www.fotomarburg.de/aktuelles/events/koselleck (01.03.2012).

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bearbeitenden Forschungsthemas bilden die Grundlage der praktischen Bildarbeit. In forschender Bildpraxis werden sie unter Rückgriff auf konzeptionell-gestalterische Visualisierungskonzepte zu Bildsequenzen und Bild-Text-Kombinationen verarbeitet und zur Anschauung gebracht. Die Verbindung von eorie und Praxis, Problem und Aufgabenstellung in »einer Kombination aus wissenschalicher und künstlerisch-gestalterischer Methodik« bildet das Grundgerüst empirisch-fotografischen Arbeitens und Darstellens (vgl. Fütterer  : ).8 Die konzeptionell-gestalterische Bildpraxis agiert dabei im Verbund mit methodischen Konzepten der Bildforschung, wie sie in der Kunstgeschichte und Kunstwissenscha erprobt sind, und prü sie auf ihre Gültigkeit für die Fotografie. Dies betrifft insbesondere ikonografische und ikonologische Bildpotenziale und die Verwendung kulturell geprägter Pathosformeln, deren Symbol und Deutungsgehalt. Des Weiteren geht es um Fragen der Formanalyse mit den Parametern Form, Struktur und Stil, um einen sozialgeschichtlichen Ansatz mit Blick auf gesellschaliche Dimension fotografischer Bilder sowie die semiotische Methode und damit verbunden die Auffassung des fotografischen Bildes als Zeichen und Text (vgl. Friedrich!Schweppenhäuser

). Ferner werden Strategien des Betrachtens unter dem Aspekt einer rezeptionsästhetischen Methode in die empirische, fotografische Bildpraxis einbezogen und andere Ansätze wie etwa die Geschlechterforschung oder Fragen nach psychischen Energien im Bild einschließlich neuronaler Erkenntnisse (vgl. Belting et al. ). Der gegenwärtige Diskurs über fotografische Bilder, der sich inzwischen auf deren eigenständige und besondere Wirkkra konzentriert, sucht Wege zu begründen, die sich von Sichtweisen auf andere (Bild-) Medien unterscheiden. Diesbezüglich tritt die suggestive Wirkung von Fotografien in den Vordergrund. Diese stützt sich nicht nur auf die Simultaneität unterschiedlicher Bildaspekte, worin sich Fotografien von Medien einer sukzessiv verlaufenden Rezeption unterscheiden, sondern vor allem auf deren epistemische Kra, auf eine bereits in alten Kulturen als magisch verstandene Wirkung von Bildern. Mitchell formuliert dazu: 8 Das Konzept einer konzeptionellen Gestaltung findet seit über dreißig Jahren in der fotoaka-

demischen Lehre und Ausbildung der Studienrichtung Fotografie und Medien des Fachbereichs Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld Anwendung. Der 1979 gegründete Forschungsschwerpunkt (FSP) Fotografie und Medien und das seit 1979 jährlich stattfindende Bielefelder Fotosymposium stehen stellvertretend für dieses Konzept und haben zum großen Renommee Bielefelds als Standort akademischer Fotografieausbildung und -forschung im nationalen und internationalen Kontext beigetragen.

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»Was ist an visuellen Bildern dran, dass Menschen sie zerstören, sie anbeten oder für sie sterben wollen? Warum leben archaische visuelle Perversionen wie Fetischismus, Totemismus und Idolatrie in der modernen säkularen Welt ungebrochen fort?« (Mitchell

$: % [Herv. i.O.]). Dass Fotografien epistemische Kräe oder, neutraler ausgedrückt, epistemische Potenziale besitzen, indem sie Unsichtbares sichtbar machen, zeigen nicht nur frühe Mikro- und Chronofotografien, sondern gerade mithilfe neuer fototechnischer Apparate und Medien möglich gewordene Sichtbarkeiten sowie Untersuchungen zur Informationsvisualisierung (vgl. Wagner

%). Fotografien werden als Sinn erzeugende, nicht allein wiedergebende Konzentrationen verstanden, die mehr generieren, als sie zeigen, als ihre Sichtbarkeit zu erkennen gibt (vgl. Boehm

). An diesem Punkt ist eine Stufe fotografischer Bildwirkung beschrieben, die neuartige sozial- und geschichtswissenschaliche Formen des Bilderdenkens fördert. Wenn beispielsweise Sozialität erweitert als Netzwerk von Aktanten verstanden wird (vgl. Latour

), geraten Fotografien als hybride Wesen zwischen Bild und Gestalt, ausgestattet mit Akteursstatus und bildlicher Wirkmacht in den Fokus. Ähnlich verhält es sich mit Fotografien als historische Zeugnisse. Fotografien sind in erster Linie Ausdruck ihrer Zeit und haben unter Umständen Funktionen übernommen, die in der Retrospektion nicht (mehr) erkennbar sind.9 Insofern müssen sie als Dispositive verstanden werden. Dies bedeutet nach Praktiken und Regeln ihrer Nutzung zu fragen und Erwartungen und Bedürfnisse an Fotografien zu analysieren. Gleichzeitig müssen sie in ihrer Materialität und ihrer Verarbeitung ernst genommen werden. Mit Augenmerk auf ihre sozialen Rollen ergeben sich Erkenntnisse über den Stellenwert von Fotografien als visuelle Sinnerzeugungen zu einer bestimmten Zeit.10 Schließlich ist auch bei der konzeptionellen Bildgestaltung davon auszugehen, dass bestimmte Bildpotenziale von Fotografien die Rezeption über das vermeintlich sichtbare Bildgeschehen zu überschreiten vermögen und

9 So kann bspw. keine Auskunft darüber gegeben werden, über welche (alternativen) Potenti-

ale fotografische Bilder womöglich einst verfügten, wenn diese nicht stabilisiert, zum Beispiel schriftlich dokumentiert wurden, oder bis in die Gegenwart durch Bildpraktiken stabil gehalten werden. 10 Vgl. den Beitrag von JENS JÄGER zur Tagung Methoden der Bildanalyse in den Sozial- und

Geschichtswissenschaften, 20.01.2007–21.01.2007, Konstanz, in: H-Soz-u-Kult, 14.02.2007, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1488 (07.03.2012).

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dass immer eine Diskrepanz zwischen Bildintentionen und Bildmitteilungen besteht.

Fotografie als gemeinsamer Denkraum Auch wenn sich, wie am Beispiel fotografischer Sinnerzeugung und Wirkkra gezeigt wurde, viele interessante Fragen im Dialog zwischen sozial-/geschichtswissenschalicher Bildforschung und fotokonzeptioneller Gestaltung formulieren lassen, wurde diesem undisziplinierten Dialog in der Vergangenheit nur wenig Beachtung geschenkt. Die verschiedenen Schulen sind sich bis heute wenn überhaupt nur fragmentarisch begegnet.11 Dabei gibt es, wie ausgeführt wurde, gute Gründe, die für eine verstärkte Annäherung der verschiedenen disziplinären Forschungsansätze sprechen. 12 So können sich eine sozial- und geschichtswissenschaliche Fotografieforschung und eine konzeptionell-gestalterische Fotopraxis sowohl in theoretischer als auch in forschungspraktischer Sicht gegenseitig bereichern. Die konzeptionell-gestalterische Fotopraxis bringt ihr Bildwissen über Fotografien und fotografische Bildkulturen in den Diskurs ein und erweitert damit den o sehr eng gefassten Begriff »Fotografie« in der Sozial- und Geschichtswissenscha. Sie kann verständlich machen, was Fotografie und fotografieren jenseits von Abbilden und sozialen Gebrauchsweisen noch bedeutet und wie das Medium in Anbetracht konkreter Forschungsvorhaben genutzt werden kann. Ihre Vertrautheit im praktischen Umgang mit dem Fotoapparat als Forschungsinstrument und -methodologie, mit Variationen des Editierens, Gestaltens und visuellen Argumentierens kann sie ebenfalls weitergeben. Schließlich verfügt sie über eine Fototheorie, die sich aus dem Medium Fotografie und der konzeptionellen Gestaltung ergibt, und kann diese im gemeinsamen Diskurs darlegen, um sie anschlussfähig zu machen. 11 Von verschiedenen Schulen zu sprechen, scheint gerade im Fall Bielefelds angemessen zu

sein – nicht nur durch die gegebenen Örtlichkeiten und Strukturen am Hochschulstandort (Fachhochschule versus Universität), sondern aufgrund der Tatsache, dass neben dem Begriff »Bielefelder Schule« in der Geschichtswissenschaft und in der Soziologie (vgl. ASAL/SCHLAK 2009) ein solcher Begriff auch für die Fotografie in Bielefeld existiert (vgl. DEPPNER/JÄGER 2010). 12 Als gute Gründe wären in diesem Zusammenhang auch gemeinsame Traditionen und Verflech-

tungen von empirischer Sozialforschung, Historiografie und fotografischer Praxis zu nennen: für die Sozialwissenschaften etwa die sozialdokumentarische Fotografie, Arbeiten einer Visual Sociology und Social Anthropology (vor allem in den USA) und die Visuelle Ethnografie. In der Geschichtswissenschaft wäre die empirische Archiv- und Dokumentationspraxis zu nennen, für die auch fotografische Bilder als Quelle erstellt werden, sowie die Realienkunde, in der die Fotografie als Hilfsinstrument dient.

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Die sozial- und geschichtswissenschaliche Fotografieforschung bietet im Gegenzug Regelwerke und systematische Begrifflichkeiten wissenschalicher Analyse, eine Vielzahl von Fallstudien und Reflexionen zu historischen und aktuellen fotografischen Gesellschasphänomenen sowie eigene fotografische Bildbestände des Sozialen. Sozial- und geschichtswissenschaliche Begrifflichkeiten können der empirischen fotografischen Bildarbeit als Rahmung, Arbeitsheuristik und Korrektiv dienen, sowohl was den Gegenstandsbereich betrifft als auch das Medium Fotografie und die Position des Fotografen, seine Beobachtungen und fotomedialen Praktiken. Darüber hinaus bilden die Fallstudien sozial- und geschichtswissenschaliche Fotografieinteressen ab. Ihre Fotografiekonvolute fungieren schließlich als Alternativbildwelten, die auf Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Interessensschwerpunkte zu konzeptionell-gestalterischen Fotoarbeiten zu befragen sind. Durch Abgleich und Ergänzung unterschiedlicher Fotoprofessionen, -wissensbestände und -interessen in eorie und Praxis kann sich nach und nach ein gemeinsamer Denkraum ausformen und gemeinsame fotografische Denk- und Handlungspraktiken in Form undisziplinierter Forschungsprojekte.13 Folglich möchte der vorliegende Band an der Leerstelle zwischen historischer, sozialwissenschalicher und konzeptionell-gestalterischer Fotografieforschung mit ihren jeweiligen fotografischen Forschungspraktiken ansetzen und die verschiedenen Bild-Professionen miteinander bekannt machen. Auf Grundlage der ese Mitchells von der Undisziplin fotografischer Bilder (s.o.) sollen dialogische Strukturen, das heißt Wechselbeziehungen der Betrachtung und des Austauschs zwischen historischen, sozialwissenschalichen und konzeptionellgestalterischen Fotografiepraktiken erörtert werden. Die Undisziplin der Fotografie – verstanden als Nicht-Zugehörigkeit zu nur einer Disziplin – bietet die Möglichkeit, einen gemeinsamen Denk- und Praxisraum über eorien und Praktiken fotografischer Bildherstellung, -verwendung, -auswertung und -deutung/-rezeption zu eröffnen. In diesem Sinne ist die Undisziplin der Fotografie im vorliegenden Band zu verstehen. 13 So wäre es bspw. reizvoll, konzeptionell-gestalterische Forschungsprojekte von Mitgliedern

des FSP Fotografie und Medien, etwa zur Industriearbeit im Ruhrgebiet (vgl. BOSTRÖM et al. 2010), zur Architektur der Ostmoderne (vgl. BEZJAK 2011) oder zum Topos »Heimat« (vgl. RAAB, E. 2000), im Verbund mit entsprechenden Forschungen der Sozial- und Geschichtswissenschaften (Arbeitssoziologie, Workplace Studies, Stadt- und Raumsoziologie, Technik- und Mediensoziologie, Biografieforschung, Geschichte moderner Gesellschaften, Zeitgeschichte, Wirtschaftsgeschichte etc.) zu diskutieren.

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Zentrales Anliegen der in diesem Band versammelten Beiträge von Bildwissenschalern und -experten unterschiedlicher Disziplinen mit sozial-/geschichtswissenschalichem und fotokonzeptionellem Schwerpunkt soll es sein, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Bewertung der Fotografie als Forschungsgegenstand und -instrument auszutauschen und sich von den jeweils anderen Sichtweisen inspirieren zu lassen. Dementsprechend weit ist das emenfeld der Beiträge gefasst: Im ersten Teil des Bandes werden verschiedene Interpretationsoptionen und Analyseperspektiven der Beschäigung mit Fotografie(n) vorgestellt. Der zweite Teil widmet sich der Betrachtung von Vorkommen fotografischer Bilder als Phänomene visueller Kultur. Schließlich werden in einem dritten Teil empirische fotografische Arbeiten zu unterschiedlichen emen vorgestellt. Der vierte Teil stellt abschließend eine Reihe bildlicher Assoziationen zum Begriff »Undisziplinierte Bilder« einer gleichnamigen Ausstellung vor. Ziel des Bandes ist es, durch die direkte Gegenüberstellung historischer, sozialwissenschalicher und konzeptionell-gestalterischer Bilderfahrungen Anregungen für die eigene Forschungspraxis und für etwaige interdisziplinäre/undisziplinierte Forschungsprojekte zu erhalten. Die Erschütterung disziplinärer Grenzen im Sinne Mitchells durch Fotografie(n) (s.o.) führt dabei zu einer Neubewertung sozialwissenschalicher, geschichtswissenschalicher und konzeptionell-gestalterischer Fotopraktiken. Als gemeinsame Zugänge eines übergeordneten und verbindenden Interesses an der Fotografie in ihrer Sozialität, Medialität, Kulturalität, eorie und Praxis entstehen im Dialog neue Sichtweisen auf das Bildmedium. Damit trägt der Dialog zu einer weiteren Etablierung der Bildwissenscha bei und fokussiert diese auf den Bildtyp Fotografie. Die durch die Auswahl der Beiträge vorgenommene Akzentuierung der Bild-Debatte auf sozial-/geschichtswissenschaliche und bildpraktische Fotografiefragen führt dabei nicht nur zu einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Fototheorie und Fotopraxis. Damit verbunden ist auch der Wunsch nach einer neuen Austauschqualität zwischen Wissenscha und Kunst.

Zu den einzelnen Beiträgen in diesem Band Der vorliegende Band ist in vier Kapitel unterteilt (Undisziplinierte Bilder I–IV). Jedes Kapitel bildet einen Schwerpunkt der Beschäigung mit der Undisziplin der Fotografie und fotografischer Bilder. Die einzelnen Beiträge der Kapitel ergänzen sich dabei zu einem breiten inhaltlichen Spektrum.

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Das erste Kapitel – Undisziplinierte Bilder I – widmet sich verschiedenen Interpretationsoptionen und Analyseperspektiven der Beschäigung mit Fotografie und fotografischen Bildern: Volker Dreier beschäigt sich in seinem Beitrag grundlegend mit dem epistemischen und methodischen Status von Fotografien in der empirischen Sozialforschung. Einer Visuellen Soziologie als empirisch ausgerichteten praxeologischen Ansatz mittels Fotografie(n) kommt dabei besondere Bedeutung zu. Anhand theoretischer Überlegungen und praktischer Beispiele wird die grundsätzliche Eignung von Fotografien als Methodologie und Gegenstand empirischer Sozialforschung herausgestellt. In einem Überblick werden darüber hinaus verschiedene Möglichkeiten der Verwendung von Fotografien skizziert und deren Status als Daten, Träger von Daten oder Stimuli zur Konstruktion von Daten klassifiziert. Ralf Bohnsack nimmt in seinem Beitrag eine medienorientierte Perspektive der Beschäigung mit (künstlerisch) hergestellten Bildern ein und erläutert anhand der Dokumentarischen Methode, inwiefern sich genuine Eigenschaen, Ambiguitäten und Eigensinnigkeiten artifizieller Bilder im Rahmen einer systematischen Bildinterpretation kontrolliert auswerten lassen. Dabei wird auf die Ikonologie, implizite Wissensstrukturen und den Habitus ebenso Bezug genommen wie auf Kompositionsvarianten, Polysemien und Vieldeutigkeiten im Bild eingegangen. Ziel ist es, intersubjektiv verständliche Aussagen bezüglich von Bildgehalten und -inhalten treffen zu können, die auch auf die Fotoanalyse anwendbar sind. Burkard Michel wechselt in seinem Beitrag von einer medien- in eine rezipientenorientierte Analyseperspektive. Ausgehend von der ese einer gewissen Widerständigkeit von Fotografien wird diese Argumentation in Bezug auf die Bildproduktion, intendierte kommunikative Absichten und die Rezeption fotografischer Bilder ausgeführt. Dabei zeigt sich, dass Fotorezeption eine (kommunikative) Praxis ist, bei der Leerstellen im Bild geschlossen und persönliche Lesarten gebildet werden, um Bildverstehen, um Bildsinn zu ermöglichen. Statt von einem (festen) Bildsinn sollte deshalb eher von verschiedenen ›Bildsinnen‹ gesprochen werden. Jan-Hendrik Passoth beschäigt sich in seinem Beitrag mit fotografischen Bildern als Resultate von Praktiken in Agency-Konstellationen – Prozesse ständiger Disziplinierung, Stabilisierung und Destabilisierung. Dies gilt sowohl für die analoge Fotopraxis zwischen Fotograf, Apparat und Modell als auch für digitale fotografische Praktiken in verteilten Rollen und Handlungsträgerschaften. Die Auswirkungen technischer Innovationen auf Fotopraktiken werden

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dabei ebenso thematisiert wie der Wandel von Subjektkulturen. Am Beispiel des Interestingness-Algorithmus der Foto-Internet-Plattform Flickr wird darüber hinaus die Rolle und Funktion von Algorithmen für das Gefüge von Agencyformen verdeutlicht. Ulrich Binder und Matthias Vogel folgen in ihrem Beitrag ausgewählten Fotografien und beleuchten deren Genese und Karrieren, die durch verschiedenste Formen der Verschiebung gekennzeichnet sind. Durch das Auauchen ein und desselben fotografischen Bildes in verschiedenen Kontexten kommt es unweigerlich zu Umdeutungen, die Teil von Bildgeschichten werden. Anhand verschiedener Beispiele aus dem Kontext von Ausstellungen wird das Phänomen des Bedeutungstransfers durch Foto-Migration deutlich gemacht. Dabei zeigt sich, dass sich nur wenige Fotografien einer ständigen Neubewertung und -kontextualisierung entziehen können, jedoch desto besser, je mehr undiszipliniertes und anarchisches Potenzial sie aufweisen. Das zweite Kapitel – Undisziplinierte Bilder II – befasst sich mit verschiedenen historischen und zeitgenössischen Phänomenen fotografischer Bildkultur und deren Bildwelten: Bernd Stiegler widmet sich am Beispiel von Optogrammen der Idee, Fotografien als realgetreue Abbildungen der Welt und Beweisbilder zu beschreiben. Dabei ist das Phänomen der Optogramme nicht nur aus wissenschashistorischer Sicht interessant. Vielmehr wird eine Denkweise präsentiert, bei der das Auge als fotografieanaloges Organ des menschlichen Subjekts vorgestellt wird, das Objektivität garantiert und bei der Suche nach Augenzeugenscha und Evidenz dienlich sein kann. Fotografische Abbildungen werden dabei zu Barrieren zwischen Glauben und Wissen, Sichtbarem und Unsichtbarem und zur Möglichkeit der Darstellung unsichtbarer Bildwelten. Susanne Regener beschäigt sich in ihrem Beitrag mit der Blickmaschine Fotoautomat und präsentiert staatliche, künstlerische und Laien-Strategien der Nutzung von Passbildautomaten und Passbildern. Das automatisierte Porträt ist dabei einerseits standardisiert und fungiert im Kontext eines gouvernemental beglaubigten Dokuments als Kontrollbild von Herrschastechnik und als Identitätsmarker des Rechtssubjekts. Andererseits wird es sowohl im Zeitalter der analogen Fotografie und vor allem im digitalen Fotografiezeitalter als formenreiches, zuweilen wildes Spaßfoto, als visuelle Selbsttechnik eingesetzt. Gerade im Kontext der künstlerischen Praxis scheint es dabei zu Umdeutungen zu kommen, die visuelle Daten produzieren, die der ursprünglichen apparativen Logik nicht mehr gehorchen.

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Susanne Holschbach führt in ihrer Untersuchung des Internet-Portals Flickr aus, inwiefern sich sowohl die Praxis des Fotografierens als auch die Interessenlagen an fotografischen Bildern durch Photo-Sharing-Plattformen verändern und ausweiten. Dabei ist zum einen von Bedeutung, welche Art(en) von Bildern in Fotoblogs zu finden sind, wie sie präsentiert und nach welchen Kriterien sie geordnet werden. Darüber hinaus präsentiert sich die Plattform Flickr als effektive Verschaltung von Anbieter- und Prosumer-Interessen, Programmfunktionen und Steuerungen durch die User. Photo-Sharing gestaltet sich als eine kulturelle Praxis, die Fotografie im Zeitalter ihrer Digitalisierung populärer und lebendiger macht als je zuvor. Das dritte Kapitel – Undisziplinierte Bilder III – stellt verschiedene konzeptionell-gestalterische Fotoprojekte in Form von Werkschauen vor: Bertien van Manen stellt Auszüge aus ihren Arbeiten A Hundred Summers, A Hundred Winters (%), East Wind West Wind (

) und Give Me Your Image (

) vor. Im Gespräch geht die Fotografin auf ihre Arbeitsweise ein. Es zeigt sich, dass es der Fotografin in ihrer Bildarbeit darum geht, möglichst nah an die Phänomene, die beschrieben werden sollen, heranzukommen – sowohl räumlich als auch inhaltlich. Fotografieren ergibt sich dabei omals als spontane Handlung aus der Situation heraus: als Reaktion auf eine interessante Beobachtung oder im Affekt zwischen glücklicher Fügung und versehentlichem Unfall. In großer Nähe zu zu untersuchenden Phänomenen, durch die Spontaneität des fotografischen Zugriffs und eine offene Darstellung entstehen Erfahrungsbilder aus unterschiedlichsten Lebenswelten. Die Motivwerdung verdankt sich dem Vermögen zur Einfühlung, einer gezielten Beobachtung und engagierter Praxis im Feld. Michael Schmidt stellt Auszüge aus seinen Arbeiten EIN-HEIT () und Irgendwo (

) vor. Im Gespräch mit dem Fotografen wird deutlich, dass seine Praxis der Bildherstellung einerseits stark konzeptionell und möglichst objektiv ausgerichtet, andererseits aber auch subjektiv geprägt ist. Dieser scheinbare Widerspruch ergibt sich aus der praktischen Bilderfahrung des Fotografen und seiner Lesart des Dokumentarischen. Dokumentarisch bedeutet sowohl Kalkulation als auch Spontaneität – einer ematik mit gezieltem Interesse, aber trotzdem offen gegenüberzutreten und sich von den eigenen Bildern überraschen zu lassen. Dementsprechend geht es Schmidt in seiner fotografischen Praxis mehr um die Herstellung von Bezügen zwischen Bildern, um Fragen statt um Antworten, um bildliche Bruch-

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stücke und Fragmente untersuchter Phänomene und weniger um die Vollständigkeit visueller Narrative. Olaf Unverzart beschäigt sich im theoretischen Teil seines Beitrags mit Funktionsweisen von Fotografien. Zu unterscheiden sind dabei solche Fotografien, die in Disziplinen funktionieren, und solche, die auch ohne sein können. Als erstere gelten diejenigen fotografischen Bilder, die für einen bestimmten vorgesehenen Zweck geeignet sind, die in Kontexten Sinn ergeben, die Teil von Messages sind. Anhand der Fotografie Gas Station von Robert Frank wird im Kontrast dazu das Potenzial eines ›guten‹ fotografischen Bildes erläutert. Für die fotografische Praxis des Fotografen bedeutet dies, nicht nach festgefahrenen Konzepten und Typologien zu arbeiten oder statisch zu agieren. Vielmehr geht es um die Herstellung von Bildwelten, die mehr als Erwartetes bieten, Definitions- zu Sinnfragen machen und selbstständig funktionieren. Dieses (Gestaltungs-)Konzept des Fotografen wird anhand von Auszügen seiner Arbeiten Kür () und Loving Area (

$) verdeutlicht. Das vierte Kapitel – Undisziplinierte Bilder IV – stellt Ausschnitte von Arbeiten vor, die im Rahmen des Seminars Undisziplinierte Bilder am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld entstanden sind und die sich mit dem gleichnamigen ema künstlerisch-gestalterisch auseinandersetzen. Die Arbeiten stehen als bildliche Ergänzungen der Beiträge des Sammelbandes und bilden ein Spektrum möglicher bildlicher Assoziationsmöglichkeiten und praktischer Herangehensweisen an die ematik in konzeptioneller Foto- und Bildpraxis. Die beteiligten Künstler sind: Anna Baumgart, Marcel Degen, Philipp Gätz, Karsten Kaiser, Joscha Kirchknopf, Cem Kozcuer, Ele Krekeler, Verena Knuck, Stefan Müller, Philipp Neumann, Nicolai Rapp, Olaf Rössler, Stefan Sängerlaub, Johanna Saxen, Anja Schäfer, Anja Scholte, Ina Schoof, Melanie Vogel, Katharina Wilke. Eingeleitet wird die Werkschau mit einem Vorwort der Initiatoren und betreuenden Professoren des Projekts, Prof. Emanuel Raab und Prof.’in Suse Wiegand.

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Dank Wir freuen uns, dass es gelungen ist, diese besondere, da disziplinübergreifende Publikation zum ema Fotografie realisieren zu können. Voraussetzung für die Umsetzung unserer Idee war die Begegnung der in diesem Band vertretenen Autoren auf dem $ . Bielefelder Fotosymposium

 und deren Bereitscha, die im Rahmen der Veranstaltung gehaltenen Vorträge für die Publikation auszuarbeiten. Zu danken ist in diesem Zusammenhang dem Kooperationspartner des $ . Bielefelder Fotosymposiums, der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS) an der Universität Bielefeld, ohne deren großzügige und wohlwollende Unterstützung die Tagung nicht hätte realisiert werden können. Die kollegiale Offenheit der Verantwortlichen und das uns entgegengebrachte große Vertrauen in die Veranstaltung über Disziplin- und Hochschulgrenzen hinweg haben uns in unserer Arbeit sehr bestärkt. Es zeigt nicht nur die Wichtigkeit der Fotografie über Fachgrenzen hinaus, sondern spricht auch für das Konzept der Graduiertenschule, die Forschungsinteressen und Initiativen ihrer Doktoranden zu unterstützen. An dieser Stelle sei weiterhin allen Mitarbeitern und Studierenden des Fachbereichs sowie allen Helfern des Symposiums-Teams gedankt, die zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen haben. Namentlich erwähnt seien Luisa Zanzani (Organisation/Webdesign), Rasmus Bruning, Till Zettelmeier, Thomas Grützner (Corporate Design; Publikation Denkprozesse der Fotografie), Prof. Dirk Fütterer (Grafische Beratung), Florian Daldrup und Niklas Tessmer (Programmhe), Benjamin Rohde und Carsten Gude (Technik), Jann van Husen, Moritz Hamburger und Tatjana Neiwert (Video), Dr. Enno Kaufhold, Prof. Roman Bezjak und Prof. Axel Grünewald (Moderation). Dank gilt ebenso Prof.’in Suse Wiegand und Prof. Emanuel Raab sowie Studierenden des Fachbereichs Gestaltung, die die Ausstellung Undisziplinierte Bilder zum Symposium realisiert haben. Unser Dank gilt weiter den Mitgliedern des FSP Fotografie und Medien, die dem Tagungsthema, der Kooperation mit der BGHS und der vorliegenden Publikation sehr wohlwollend gegenüberstanden. Die Kollegen haben ihre kompetente Expertise in fachlichen und organisatorischen Fragen eingebracht – gerade auch bei der Suche nach geeigneten Referenten aus dem Bereich der fotografischen Praxis. Des Weiteren hat der FSP die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt, um die Publikation in der vorliegenden Form zu verwirklichen.

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Unser ganz besonderer Dank gilt schließlich allen, die an der vorliegenden Buchpublikation mitgearbeitet haben und mit Rat und Tat zur Seite standen. Rasmus Bruning, Till Zettelmeier, Thomas Grützner (Grafische Vorlage), Sascha Fronczek und Sven Lindhorst-Emme (Grafik/Satz), Jennifer Lambertz-Abel (Transkript/ Übersetzung), Petra Frank (Lektorat), Jörg Burkhard (transcriptVerlag), Angelika Stockfisch (Verwaltung) und Philipp Ottendörfer (Beratung). Bielefeld, im September  Thomas Abel und Martin Roman Deppner

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Undisziplinierte Bilder I: Interpretationsoptionen/Analyseperspektiven

Volker Dreier

Zum epistemischen und methodischen Status von Fotografien in der empirischen Sozialforschung 1 Einführung Betrachten wir diachron die Beziehungen zwischen den Sozialwissenschaen (hier speziell der Soziologie) und der Fotografie, so sehen wir uns mit einem überraschend ambivalenten Umstand konfrontiert. Sowohl die Soziologie in der Traditionslinie von Auguste Comte als auch die Fotografie, wenn wir Henri Daguerre als einen ihrer maßgeblichen Erfinder ansehen, entstanden in der Mitte des . Jahrhunderts, ungefähr % . Beiden gemeinsam war von Beginn an das Bestreben, die Gesellscha zu erforschen, wie es der Soziologe Howard S. Becker in seinem programmatischen Aufsatz Sociology and Photography anführt (vgl. Becker %: $). So gesehen mag es auch nicht verwundern, dass Fotografien zunächst ein elementarer Bestandteil von soziologischen Artikeln in dieser Zeit waren. Clarice Stasz beispielsweise weist in ihrer Analyse der  gegründeten soziologischen Zeitschri e American Journal of Sociology im Zeitraum von  bis  insgesamt $ Artikel nach, in denen %% Fotografien zu finden sind (vgl. Stasz :  ). Ab % finden sich in den Beiträgen der Zeitschri, abgesehen von einer Serie von Artikeln über Chicagoer Wohnverhältnisse, keine Fotografien mehr. Neben ökonomischen Gründen ist dies nach Stasz primär auf die Politik des Herausgebers Albion Small zurückzuführen. Bereits in seinem   publizierten Rückblick auf zehn Jahre Soziologie attestierte er dieser eine zunehmende und konsensual getragene Vereinheitlichung in der methodischen Bearbeitung sozialer Tatbestände:

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»At all events, there is no doubt worth mention that the viewpoint from which the technical sociologists observe social facts has already become essentially one and the same« (Small  : %). »In other words, the attitude of the sociologists toward their problems is precisely that of chemist, or physicist, or physiologist toward his. In either case the problem is to discover the particular relations of cause and effect involved in a given situation« (ebd.). Für die Soziologie bedeutet dies nach Small auch eine Abwendung vom Amateurhaen oder gar von der Scharlatanerie hin zu einer verantwortlichen wissenschalichen Vorgehensweise (vgl. Small  : $). Eine solche wissenschaliche Vorgehensweise ist der Erklärung sozialer Tatbestände in Form von Kausalrelationen verpflichtet und nicht dem bloßen Fotografieren weiter Felder von unerklärten Ereignissen im Sinne von Beschreibungen (vgl. Small  : ). Dieses Beispiel zeigt, wenn auch exemplarisch, mögliche Gründe dafür auf, warum Fotografien aus soziologischen Fachzeitschrien verschwanden und an ihre Stelle Abbildungen und Tabellen traten. 1 Das Verschwinden der Fotografie aus der Frühphase der universitären Etablierung der Disziplin Soziologie bedeutet jedoch nicht, dass Fotografie nicht weiter dazu benutzt wurde, soziale Missstände zu dokumentieren, wie die Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie eindrucksvoll zeigt (vgl. dazu z.B. Stumberger

). Inwieweit diese jedoch einen Beitrag zur Soziologie geleistet haben, ist weiterhin ungeklärt (vgl. Henry : ). Als problematisch ist sicher der Umstand anzusehen, dass die Fotografen der Sozialdokumentation zu persönlich in das ema verwickelt waren, von einem ideologischen Standpunkt aus fotografierten oder um soziale Missstände anzuprangern. Dies mag auch erklären, warum etwa die Fotoarbeiten von Jacob Riis und anderen eher der nichtwissenschalichen Fotodokumentation zugeschrieben und nicht als soziologische Studien anerkannt wurden (vgl. Prosser :  ). Erst in den  er Jahren wiederentdeckten insbesondere amerikanische Soziologen das Instrumentarium der Fotografie für den soziologischen Forschungsprozess (vgl. dazu Harper : ). Eine prominente Ausnahme aus Europa mag hier der französische Soziologe

1 In der für Deutschland renommiertesten Fachzeitschrift für Soziologie, der Kölner Zeitschrift

für Soziologie und Sozialpsychologie, wurden in sechzig Jahrgängen (1948–2008) nur eine Fotografie, aber 3742 Tabellen und 1549 Abbildungen abgedruckt. Die abgedruckte Fotografie selbst ist bezeichnenderweise ›nur‹ eine Porträtfotografie.

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Pierre Bourdieu sein, der die Fotografie in der Zeit von  bis  für seine Feldstudien in Algerien einsetzte (vgl. Bourdieu

). Ab Mitte der  er Jahre verstärkte sich bei Soziologen die Hinwendung zur Nutzbarmachung von Fotografien für die empirische Sozialforschung, was nicht nur zu einer Vielzahl von Studien und methodischen Ansätzen führte2, sondern auch zu einer allmählichen Etablierung einer Visuellen Soziologie durch die Gründung der International Visual Sociology Association (IVSA) in Toronto  (vgl. Curry ) und ihrer Zeitschri Visual Studies im Jahre . Wenn wir in der wissenschalichen Gemeinscha der visuell orientierten Soziologen eine analytische Unterscheidung treffen wollen, so lassen sich zwei Lager ausmachen: zum einen das Lager der visuellen Soziologen, die sich wie in der Frühphase der Soziologie mit ihrer Arbeit dem Ziel sozialer Reformen verpflichtet fühlen. Zum anderen das Lager von visuellen Soziologen, die sich der Fotokamera als einem einfachen Messgerät bedienen, ohne bestimmte sozialpolitische Ziele zu verfolgen (vgl. Henry : %). Wenn wir die Fotokamera als ein einfaches Messgerät des visuellen Soziologen betrachten, dann können wir Fotografien, analog oder digital, als Ergebnisse des Einsatzes dieses Messgeräts ansehen. Eine Möglichkeit, wie diese Ergebnisse in Form von Fotografien im empirischen Forschungsprozess des Soziologen Verwendung finden können, ist, sie als empirische Daten anzusehen. So argumentiert Schelske in seinem Beitrag zur Soziologie für den Sammelband Bildwissenscha in Bezug auf die Visuelle Soziologie wie folgt: »Dieser empirische Ansatz der qualitativen Sozialforschung setzt Bilder als ›datenproduzierende‹ Methode ein, indem der Untersuchungsgegenstand mittels Fotografien oder Filmen bildha erhoben wird. Unter definierten Randbedingungen sollen Fotografien als empirische Daten betrachtet werden, die mit komplementären, narrativen und numerischen Erhebungsergebnissen kombiniert werden können« (Schelske

:  [Herv. i.O.]). Als den entscheidenden Punkt in diesem Zitat betrachten wir die Phrase »[…] sollen Fotografien als empirische Daten betrachtet werden […]«. Anhand dieser Äußerung lassen sich für die weitere Analyse folgende Fragen aufwerfen: Können wir Fotografien als empirische Daten betrachten? Und wenn ja, besitzen sie den gleichen epistemischen 2 Siehe dazu u.a. PETERS/MERGEN 1977; WAGNER 1979; CHAPLIN 1994; CAULFIELD 1996;

EMMISON/SMITH 2000; POLE 2004; BANKS 2007; STANCZAK 2007 und GRADY 2008.

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(und methodischen) Status wie empirische Daten in der konventionellen, quantitativ orientierten empirischen Sozialforschung? Um diese Fragen zu beantworten ist es hilfreich, von einem metatheoretischen Standpunkt aus zunächst den epistemischen Status von empirischen Daten in der konventionellen empirischen Sozialforschung zu analysieren (vgl. auch Dreier

a), an dessen Ergebnis sich ein Für und Wider von Fotografien als empirischen Daten letztendlich orientiert.

2 Zum Konzept »empirisches Datum« in der empirischen Sozialforschung 2.1 Was sind empirische Daten? Eine Antwort auf die Frage zu geben, was empirische Daten sind, mag auf den ersten Blick sehr einfach und wohl auch trivial sein. »Daten sind im allgemeinen Sinne«, so zu finden im Lexikon der Politik, »Tatsachen, Sinneserfahrungen und Informationen« und weiter: »In der Sozial- und Politikwissenscha sind Daten im weiteren Sinn Informationen über qualitative und quantitative Aspekte gesellschalicher beziehungsweise politischer Sachverhalte und Prozesse« (Schmidt %: ). Die gleichen Definitionen finden wir auch im Methodenlexikon von Kriz/ Lisch (vgl. dies. : ) und im Lexikon zur Soziologie (vgl. Fuchs et al. : $). So gesehen mag wohl innerhalb der sozialwissenschalichen Gemeinscha ein Konsens darüber bestehen, was Daten sind (vgl. Wakenhut : ). Betrachten wir den Begriff der »Daten« oder spezieller den Begriff des »Datums« jedoch unter mehr analytischen Gesichtspunkten, dann beinhalten die oben genannten Definitionen von Daten mehr Qualitäten, als wir Daten eigentlich, rein analytisch betrachtet, zunächst zusprechen können. Denn Daten sind in erster Linie einmal nur »öffentliche«, das heißt kommunizierbare und dokumentierbare Sachverhalte, die Merkmalsträgern als Elemente von Merkmalsmengen zugeschrieben werden (vgl. Stachowiak et al.  : ). Sie sind als Ergebnisse dieser Zuschreibung, welche wir auch als »Messung in einem weiteren Sinne« bezeichnen können, isolierte und uninterpretierte Fakten und Kennwerte der Realitätsbeschreibung, welche in Form von Wörtern, Texten, Bildern oder Zahlenwerten vorliegen können (vgl. Kent :

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). Daten oder Datensätze allein besitzen folglich auch nur geringe Relevanz und keine eigene, ihnen inhärente Bedeutung. Um Daten als Informationen über die Realität auffassen zu können, müssen diese verknüp und mit Bedeutung versehen werden. Informationen sind folglich verknüpe und mit Bedeutung versehene Daten und somit mehr als nur Daten. Wir kommen auf diese eminent wichtige Feststellung noch einmal ausführlicher unter Punkt . zu sprechen. Wird ein Datum als Ergebnis einer Messung bestimmt, so kann es streng genommen auch nicht als etwas unmittelbar Gegebenes betrachtet werden, sondern als ein Etwas, das über den Akt der Messung erst konstruiert wird. Ziehen wir zu dieser Feststellung für empirische Daten noch den Sachverhalt hinzu, dass Daten als Ergebnisse einer systematisch vorgenommenen Beobachtung oder Interpretation konfigurieren, das heißt Ergebnisse eines gezielt vorgenommenen Such- oder Interpretationsprozesses sind, so wird der Konstruktionscharakter von Daten noch offensichtlicher. Der Ausdruck »Datensammlung«, wie er noch teilweise verwendet wird (Endruweit :  ), ist deshalb auch höchst ungenau oder falsch, da wir ja Daten gerade nicht sammeln, sondern erst konstruieren (vgl. Bateson %: ). Daten sind deshalb auch keine Entitäten, die bereits immer schon vorliegen und nur entdeckt werden müssen, wie dies beispielsweise Marcus Banks für die quantitative Sozialforschung anführt und gegen den konstruktiv-prozessualen Charakter interpretativer Daten in der qualitativen Sozialforschung abgrenzt: Daten sind a priori konstruktiven Charakters, das heißt gemacht (vgl. Banks

:  ).

2.2 Der epistemische Status von empirischen Daten Wenn wir Daten als Entitäten bestimmen, die über einen Messprozess und im Kontext eines systematischen Suchprozesses konstruiert werden, so schließt sich an eine solche Festlegung die Frage an, ob wir Daten als absolut auszeichnen können. Das heißt in anderen Worten: Können Daten als ausgezeichnete Grundlage der eoriebildung und -überprüfung dienen, die keine eorie voraussetzt? Im Logischen Empirismus, bekanntermaßen das wissenschastheoretische und methodische Fundament der quantitativ orientierten empirischen Sozialforschung, wurde die Frage des absoluten Datums unter anderem im Zusammenhang mit Rudolf Carnaps beziehungsweise Otto Neuraths Protokollsätzen ($ /$$) diskutiert. Das Ergebnis dieser und der nachfolgenden Diskussionen blieb letztendlich aber bis heute negativ. Es zeigte sich, dass jeglicher Umgang mit Daten so-

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wohl Sprache als auch sprachliche Konventionen voraussetzt. Sehr prägnant kommt dieses Argument in Poppers Explikation des Basissatz-Problems zum Ausdruck (vgl. Popper

: Kap. V). Gegen den absoluten Charakter von Daten können drei grundlegende Argumente vorgebracht werden (vgl. Balzer

: $ff.). Das erste Argument gegen absolute Daten ist sprachlicher Natur. Gehen wir davon aus, dass Daten Sachverhalte ausdrücken, so ist nicht gewährleistet, dass Sachverhalte in allen natürlichen Sprachen die gleiche Form annehmen. Denn es kann durchaus der Fall sein, dass die Übersetzung eines atomaren Satzes (eines Datums) wie »Hans macht Claire den Hof« in eine ›exotische‹ Sprache unter Umständen zu einer nichtatomaren Form führt, da in der Zielsprache dafür kein entsprechendes Verb existiert. Dies widerspricht jedoch der Auszeichnung absoluter Daten, denn diese sollten in allen Sprachen atomare Form besitzen. Bleiben wir bei den rein sprachlichen Argumenten, so spricht gegen absolute Daten auch der Umstand, dass Daten, die Sachverhalte beschreiben, auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus angesiedelt sein können. So drücken zwar »Hans wirbt um Claire« und »Hans lädt Claire zum Abendessen ein, um ihr seine Liebe zu gestehen« den gleichen Sachverhalt aus, der jedoch als Datum jeweils unterschiedlich wiedergegeben wird. Es kann daraus der Schluss gezogen werden, dass Sachverhalte nicht besonders objektiv und sprachinvariant sind. Gerade aber absolute Daten sollten von solch einer Rivalität frei sein. Das zweite Argument gegen absolute Daten gründet in dem Umstand, dass Daten vielfach erst durch eorien geschaffen werden oder aber zumindest durch eorien in ihrer zugeschriebenen Bedeutung determiniert werden. Innerhalb der Wissenschastheorie wird dies als eoriebeladenheit der Beobachtungssprache bezeichnet. 3 So hatten beispielsweise Begriffe wie »Neurose« oder »legitimationsorientiertes Rollenverhalten« vor Einführung ihrer eorie wenig Sinn. Auch bei weniger theoretischen Begriffen wie beispielsweise »Machtausübung« oder »Güterverteilung« gilt diese Feststellung. Betrachten wir die eoriebeladenheit der Beobachtungssprache etwas differenzierter, so kann diese in eine perzeptive, eine kontextuelle und in eine messtheoretische unterteilt werden (vgl. Carrier :  ). Die perzeptive eoriebeladenheit der Beobachtungssprache setzt beim Wahrnehmungsapparat des Menschen selbst an. Ausgehend von Untersuchungsergebnissen der Kognitiven Wahrnehmungspsychologie besitzt die menschliche Wahrnehmung die Struktur eines Urteilsprozesses. Dies bedeutet, dass Beobachtungen durch theoretische Über3 Siehe hierzu insbesondere HANSON 1958; KUHN 1981; FEYERABEND 1960/1978 und ADAM 2002.

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zeugungen beeinflusst werden können, da diese einen Teil der begrifflichen Ordnungsmuster für äußere Sinnesreize bereitstellen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Bei der Betrachtung eines Sonnenaufgangs weisen Tycho Brahe (Vertreter eines helio-geozentrischen Weltbildes) und Johannes Kepler (Vertreter eines heliozentrischen Weltbildes) wohl gleiche Netzhauteindrücke auf, doch sind ihre visuellen Erfahrungen verschieden. Brahe sieht den Aufstieg der Sonne, Kepler jedoch das Fallen des irdischen Horizontes (vgl. Hanson : $). Eine schwächere Form der eoriebeladenheit der Beobachtungssprache stellt die eoriebeladenheit im kontextuellen Sinne dar. Ihr Hauptargument besagt, dass in die Datengrundlage von eorien und damit implizit in die Anwendungsbedingungen für Beobachtungsbegriffe selbst wieder eorien eingehen. Der Sinn wissenschalicher Begriffe wird folglich durch den theoretischen Zusammenhang bestimmt, in dem sie aureten. Nach Hanson ist so das begriffliche Muster der eorie implizit in jedem ihrer Ausdrücke enthalten. Das heißt, dass auch die Intension von Beobachtungsbegriffen und eo ipso die Bedeutung der entsprechenden Beobachtungssätze (Daten) von ihrem jeweiligen theoretischen Umfeld abhängen (vgl. Hanson ). eoriebeladenheit in einem messtheoretischen Sinne besagt schließlich, dass sich die Beobachtungsverfahren und Messprozeduren vielfach selbst wieder auf eorien stützen. So sind beispielsweise kognitive, affektive und evaluative Einstellungen gegenüber der Politik Teil der empirischen Basis des politikwissenschalichen Forschungskonzepts »Politische Kultur«, können jedoch ihrerseits nur mithilfe einer eorie der Beobachtung (eorie der wissenschalichen Beobachtung in einem engeren Sinne oder einer eorie des Fragebogens) zuverlässig ermittelt werden. Der eorie des Fragebogens etwa kommt hier somit der Status einer Beobachtungstheorie relativ zum erklärenden (theoretischen) Konzept »Politische Kultur« zu. Eine Modifikation oder Ersetzung der Beobachtungstheorie hat in der Regel dann eine Änderung der Beobachtungsbasis des erklärenden (theoretischen) Konzepts »Politische Kultur« zur Folge (vgl. Dreier

$). Mit der eoriebeladenheit im messtheoretischen Sinne ist auch das dritte Argument gegen absolute Daten assoziiert. Es besteht in erster Linie darin, dass eine strenge Unterscheidung von Beobachtungsund theoretischer Sprache, wie noch von Carnap vorgenommen, nicht möglich ist ﹙vgl. Carnap %). Es kann nicht angegeben werden, wo genau das eoretische beginnt und das Empirische endet. Neben diesen im Kern negativen Argumenten gegen die Möglichkeit der Existenz absoluter Daten, können jedoch auch methodisch be-

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deutsame Argumente für die Verwendung theorierelativer Daten angeführt werden. Wir gehen davon aus, dass eorien die kleinsten sinnstienden Einheiten sind, die Daten mit Bedeutung füllen. Daten sind erforderlich, um eorien aufstellen zu können als auch diese dahingehend zu überprüfen, ob sie mit der Realität übereinstimmen, das heißt zu kontrollieren, inwieweit sie die Forderung der Passung erfüllen. Wenn wir Daten auf die Sprache einer gegebenen eorie hin relativieren, dann könnte jedoch auch der Eindruck entstehen, dass eorien gegenüber Daten eine Priorität zukomme. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn wir bedenken, dass mit unserer Bestimmung von Daten als eorierelativen diese ja selbst ein Bestandteil der eorie sind. Das Verhältnis von eorie und Daten ist so analog zu dem von Henne und Ei.

2.3 Der methodische Status von Daten Kondensieren wir die vorgetragenen Überlegungen zum Konzept von Daten, so stellen sich uns diese als höchst theoretisch bestimmte Entitäten dar, die immer als theorierelativ oder als relativ zur überprüfenden eorie aufzufassen sind. Der Vorstellung absoluter Daten kann vor diesem Hintergrund deshalb aus wissenschastheoretischen Gesichtspunkten eine Absage erteilt werden. Betrachten wir Daten als theorierelativ oder relativ zur überprüfenden eorie, so stehen uns im Prozess der eorieüberprüfung zwei Möglichkeiten offen: Sind Daten theorierelativ zur zu überprüfenden eorie, so kann streng genommen keine Entscheidung darüber gefällt werden, ob zwischen eorie und Daten ein Passungsverhältnis existiert oder nicht, denn es wird immer bestehen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma kann darin gesehen werden, zunächst zu untersuchen, ob bestimmte theorierelative Daten als t-theoretisch ausgezeichnet werden können. Ein Datum ist t-theoretisch, wenn für seine Messung die erfolgreiche Anwendung der eorie T vorausgesetzt werden muss. Das Datum wird sozusagen positiv von der eorie T herkommend bestimmt und nicht negativ in Abgrenzung zum Kriterium der Beobachtbarkeit. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt das, dass ein Datum t-theoretisch ist, wenn es in jeder Anwendung von T in t-abhängiger Weise bestimmt wird, also die Gültigkeit der eorie T voraussetzt, in der es vorkommt (vgl. Dreier

: $ ). eorierelative Daten, die nicht t-theoretisch sind, könnten dann aus anderen eorien, in denen sie möglicherweise für diese t-theoretisch sind, zur Prüfung übernommen werden. Dies wäre eine mögli-

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che Gangart der eorieprüfung, wie sie im strukturalistischen eorieprogramm vorgenommen wird (vgl. Balzer et al. ). Betrachten wir die eorieüberprüfung mittels Daten in dem für uns konventionellen Sinne, so befinden wir uns in der klassischen empiristischen Tradition. Betrachten wir weiter die Tatsache, dass Daten immer theoretisch präformiert sind und damit eine sichere empirische Basis als Fundament der Erkenntnis illusionär ist, als gegeben an, so ist auch vor diesem Hintergrund die Prüfung von eorien im klassischen Sinn nicht obsolet geworden. Abstrahieren wir von dieser Datenrelativität, so können wir uns dennoch immer noch einer Beantwortung der Frage zuwenden: Wofür sprechen Daten? Als Feststellung und Resultat haben wir eingangs festgehalten, dass Daten oder Datensätze für sich genommen zunächst einmal für nichts sprechen. Das heißt in anderen Worten, dass Daten für sich genommen weder für noch gegen eine eorie sprechen. Diese ese widerspricht zunächst einmal natürlich der klassischen empiristischen Ansicht, derzufolge schon die Daten allein für oder gegen eine bestimmte eorie sprechen. Dass diese klassische empiristische Ansicht jedoch ein zu verwerfendes Dogma darstellt, kann mit der Duhem-Quine-Unterbestimmtheitsthese begründet werden (Quine ). Die Duhem-Quine-ese besagt, dass eine eorie und die sie belegenden Daten nie eindeutig verknüp sein können. Es lässt sich im Prinzip für jeden belegenden Datensatz zu einer eorie eine dieser widersprechende, aber empirisch äquivalente zweite oder gar dritte eorie formulieren (vgl. Psillos : %). Empirisch äquivalent bedeutet in diesem Fall, dass die Daten aus beiden eorien gleichermaßen als Beobachtungskonsequenzen folgen und demnach eine Entscheidung zwischen beiden eorien aufgrund der Daten nicht getroffen werden kann. Ein klassisches Beispiel hierfür sind die Kosmologien von Ptolomäus, Tycho Brahe und Kopernikus beziehungsweise Kepler. Sehen wir von der Entwicklung der Optik zur Präzisierung von Messergebnissen ab, so rekurrieren alle drei Kosmologien auf den im Kern gleichen Datenbestand. Allein aufgrund der Daten kann zunächst keine Entscheidung darüber getroffen werden, welche der drei Kosmologien die Realität am zutreffendsten beschreibt. Die Daten passen sowohl zum geozentrischen (Ptolomäus) als auch zum geo-heliozentrischen (Brahe) und zum heliozentrischen Weltbild (Kopernikus). In diesem Beispiel stehen sich nun jedoch nicht einzelne Überzeugungen gegenüber, sondern ganze Weltbilder oder in der Terminologie von Thomas Kuhn zu sprechen sogenannte Paradigmen (Kuhn ). Im Fall von Konflikten mit der Erfahrung ist dann nicht festgelegt,

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welche unserer Überzeugungen wir aufgeben sollten. Obwohl diese ese das empiristische Dogma erschüttert, sind die methodischen Konsequenzen daraus für die empirische Forschung wohl eher nicht praktikabel, das heißt, die mögliche Gültigkeit der ese hil uns im Prozess der eorieüberprüfung kaum weiter. Es stellt sich deshalb die Frage: Wie kann vor dem Hintergrund der Gültigkeit dieser ese dennoch eine eorieprüfung vorgenommen werden? Thomas Bartelborth hat hierzu einen Vorschlag unterbreitet, demzufolge die Rechtfertigung einer eorie nicht zweistellig ist (eorie – Daten), sondern dreistellig (eorie – Hintergrundwissen – Daten) ﹙vgl. Bartelborth

%). Betrachten wir zunächst ein einfaches Beispiel: Wieso sprechen etwa Fingerabdrücke am Tatort gegen einen Verdächtigen? Weil wir wissen, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass verschiedene Personen die gleichen Fingerabdrücke besitzen, sehr gering ist. Ebenso aber auch, weil wir sie gut identifizieren können und sie nicht leicht zu fälschen sind. Dies alles zusammen, unser Hintergrundwissen, spricht dafür, dass der Verdächtige am Tatort war. Solches Hintergrundwissen leitet uns auch in der empirischen Sozialforschung in der eorieprüfung, sei es explizit oder auch nur implizit angewandt. Es leitet uns in der Klärung der Frage, welches Messverfahren angewendet werden soll, aber auch, welche Größen man auswählt, wie man sie misst und welche Annahmen dabei wieder eingehen. Betrachten wir die Funktion des Hintergrundwissens in der Trias eorie – Hintergrundwissen – Daten etwas genauer und formulieren wir es im Imperativ. Um Schlüsse aus einer empirischen eorie ziehen zu können, die dann als empirischer Test der eorie dienen kann, sind wir auf Hilfsannahmen aus unserem Hintergrundwissen angewiesen. Diese Hilfsannahmen sollten in erster Linie als plausibel gelten, doch darüber hat wiederum unser Hintergrundwissen zu entscheiden. Das Hintergrundwissen stellt die Verbindung zwischen eorie und Daten her. Daneben sollte auch die eorie selbst bereits eine gewisse Plausibilität mitbringen, also zu unseren anderen eorien passen. Jedenfalls beeinflusst die Vorher-Plausibilität zusammen mit unseren empirischen Daten unsere Entscheidung, ob wir die eorie akzeptieren oder für gut begründet halten. Weiterhin sind die Daten selbst zu bewerten, ob es sich nicht um Messfehler, Ausreißer oder Konfusionen verschiedener Wirkungen handeln könnte. Grundsätzlich ist zu bemerken, dass Daten für sich genommen stumm bleiben und letztendlich erst durch ergänzende Annahmen aus unse-

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rem Hintergrundwissen zum Reden gebracht werden können und als Kandidaten für eorientests heranzuziehen sind. Dies bedeutet natürlich auch, dass wir für die Bewertungsverfahren von eorien mittels Daten diese Verfahren ergänzen müssen. Beispielha sind hier die weit verbreiteten statistischen Verfahren wie Signifikanztests anzuführen, an denen dieses Problem deutlich wird. Ihre Ergebnisse beruhen wesentlich auf impliziten Hintergrundannahmen; sie müssten mit anderem Hintergrundwissen (quantitativ und auch qualitativ) und den Ergebnissen anderer statistischer Tests zu einer Gesamtbewertung sozusagen »zusammengerechnet« werden, so Bartelborth (vgl. ders.

%: $). Denn es lassen sich schnell irgendwelche Daten konstruieren, und anhand von Signifikanztests wird sich immer auch eine Hypothese finden lassen, die durch diese Daten als signifikant ausgezeichnet werden kann.

2.4 Information und Daten Als ein wesentliches Charakteristikum von Daten haben wir festgehalten, dass diesen allein keine ihnen inhärente Bedeutung zukommt oder zugesprochen werden kann. Daten werden für uns erst dann zu Informationen, wenn wir sie mit Bedeutung versehen. Nichtsdestotrotz stellen Daten eine Voraussetzung für Information dar. Innerhalb der verschiedenen Ansätze dazu, was unter dem Phänomen »Information« verstanden werden kann, besteht eine Einigkeit darüber, dass dieses Phänomen eng mit den Konzepten »Signal«, »Zeichen« und »Daten« verbunden ist (vgl. Ott

%: ). Grundlegend ist zunächst der Begriff des Signals. Unter einem Signal wollen wir mit Wersig »ein zeitabhängiges, physikalisches Ereignis« verstehen, »das von einer Signalquelle ausgesandt oder von einem Signalempfänger empfangen wird« (Wersig %: ). Ein Signal wird zum Zeichen, wenn es einen Begriff repräsentiert, das heißt, ein Signal ist als ein Zeichen dann anzusehen, wenn zwischen dem Sender und dem Empfänger eine Übereinkun darüber besteht, welche Bedeutung das Signal besitzt. Ob aus Signalen Daten werden, hängt somit entscheidend vom Auswahlprozess des Empfängers ab. Ein potenzieller Empfänger von Signalen ist nicht in der Lage, alle Signale seiner Umgebung wahrzunehmen oder zu erkennen. Er wird einige Klassen von Signalen aus der mehr oder weniger unendlichen Menge von Signalen auswählen. Dieser Akt der Auswahl kann als eine Transformation von Signalen in Daten angesehen werden. Signale für sich werden jetzt zu Daten an sich (vgl. Fenzl et al. : ). Ott deutet diesen Sachverhalt wie folgt:

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»Daten stellen somit auf dem Weg zum Verständnis von Signalen eine Vorstufe vor den Zeichen dar und entsprechen korrekt empfangenen Signalen, deren Verständnis im Sinne eines Zeichens aber ohne die Kenntnis der zugehörigen Übereinkun nicht gelingt« (Ott

%: ). Streng genommen repräsentieren diese Daten jedoch keine Information, sondern nur mögliche Information. Wie Fenzl und seine Mitautoren unter Bezug auf die semiotischen Elemente »Syntax – Semantik – Pragmatik« dazu ausführen, können Daten als syntaktische Träger von Information bezeichnet werden (vgl. Fenzl et al. ). Zu einer Information wird ein Datum erst im semantischen Prozess der Informationsbildung, das heißt wenn die Festlegung einer Beziehung zwischen einem Zeichen und seiner Bedeutung getroffen wird. Genauer ausgedrückt: Die Daten werden vom Empfänger mit einem selbst generierten Symbol verbunden, das die Bedeutung des Datums repräsentiert. Auf der pragmatischen Stufe des Informationsprozesses dienen die mit Bedeutung versehenen Daten als Anleitung für spezifisches Handeln; im Kontext der empirischen Sozialforschung beispielsweise zur eoriegenerierung oder eorieüberprüfung. Wichtig ist in diesem Modell des Informationsprozesses der Hinweis, dass diese drei Ebenen hierarchisch aufgebaut sind, jede der drei Ebenen jedoch mit der ihr, wenn gegeben, unteren und der ihr oberen in einem Interak- Abb. 1 : Die Ebenen des Informationsprozesses ( FENZL et al. 1996: 275) tionsprozess steht (vgl. Abb. ).

3 Fotografien als empirische Daten (und weitere Verwendungsweisen) Wie wir in Punkt  ausgeführt haben, sind empirische Daten in ihrer Grundform nur syntaktische potenzielle Träger von Information und das heißt, ohne eine ihnen inhärente Bedeutung. Sie werden erst dann zu Information, wenn wir sie mit Bedeutung belegen. Dann und nur dann können wir sie als Grundlage zur Generierung oder Überprüfung von empirischen eorien heranziehen. Der Akt der Bedeutungszuschreibung selbst ist hierbei jedoch kein neutraler, sondern abhängig von einem Bündel von Faktoren. Prinzipiell anzuführen sind insbesondere die Formen der eoriebeladenheit von

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Beobachtungen, die jegliche Annahme einer sicheren empirischen Basis bereits von vornherein unmöglich machen. Dass wir als empirische Forscher »Realität« nicht in Form einer Einszu-eins-Abbildung in unseren eorien zu repräsentieren in der Lage sind, zeigen zudem auch die folgenden wissenschastheoretischen Befunde: () Empirische eorien, unabhängig von der metatheoretischen Bestimmung ihrer logischen Struktur, sind immer Idealisierungen eines gewählten Ausschnitts der Realität (vgl. dazu Dreier $: Kap. .$). ( ) Die bis heute fortdauernde wissenschastheoretische Debatte über den Realismus zeigt, dass sowohl die Entität »Realität« nicht eindeutig und allgemeinverbindlich bestimmt werden kann als auch Aussagen über sie nicht eindeutig und voraussetzungslos mit dem Anspruch auf Wahrheit versehen werden können; 4 zumal wir hier auch noch hinzufügen müssen, dass das Konzept »Wahrheit« selbst bis heute noch nicht eindeutig bestimmt werden konnte (vgl. dazu z. B. Janich ). Kommen wir vor diesem Hintergrund auf Fotografien zurück, so ist deren Zurückweisung als Kandidaten für empirische Daten aus dem empirischen Forschungsprozess, zumindest von einem erkenntnis- und wissenschastheoretischen Standpunkt aus gesehen, mehr als fragwürdig.

3.1 Der epistemische Status von Fotografien Beginnen wir einleitend mit der Untersuchung der ese, derzufolge Fotografien polysem, also mehr- und vieldeutig seien, wie beispielsweise Roland Barthes argumentiert, wenn er konstatiert: »[…] ist jedes Bild polysemisch, es impliziert eine unterschwellig in seinen Signifikanten vorhandene ›fluktuierende Kette‹ von Signifikaten, aus denen der Leser manche auswählen und die übrigen ignorieren kann« (Barthes %: $% [Herv. i.O.]). Was kann damit gemeint sein? Zum einen wohl, dass wir ein und dieselbe Fotografie unterschiedlich interpretieren können. Wie wir letztendlich eine Fotografie jedoch interpretieren, ist durch den Gebrauch der Fotografie durch den Interpreten bestimmt. Es sind die unterschiedlichen Möglichkeiten des Gebrauchs der Fotografie, die leicht zu der Annahme verleiten, dass Fotografien mehr- und vieldeutig seien. Wenn etwa John Berger von der »Vieldeutigkeit der Photographie« 4 Siehe zusammenfassend DREIER 2009b: 2.3.2 und detaillierter HALBIG/SUHM 2004 sowie SUHM 2005.

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spricht (vgl. Berger %: ff.), so bezieht sich diese auch nicht auf den Augenblick der Aufnahme, sondern auf den Augenblick des Anschauens der Fotografie oder wie Susan Sontag konstatiert: »Eine Fotografie verändert sich mit dem Zusammenhang, in dem sie gesehen wird« ﹙Sontag  :  %). Beim Anschauen einer Fotografie erlangt sie Sinn, das heißt eine Zweckdienlichkeit. Streng genommen ist deshalb eine Fotografie selbst weder mehr- und vieldeutig noch eindeutig, sondern, um einen Neologismus zu gebrauchen, sie ist nicht-deutig. Fotografien an sich sind folglich ohne eine ihnen inhärente Bedeutung (vgl. Sekula  ; Krauss : % –; Jäger

: ; Keppler

: ; Hall

$: ), sie sind nichts weiter als »rohe sinnliche Präsenz« (Rancière

: ). Bedeutung erlangen sie nur über die Praxis ihrer Herstellung und Interpretation (vgl. Seel :  ). Unter Bezug auf Wittgenstein können wir auch sagen, dass jede Fotografie für sich allein tot ist und sie allein durch ihren Gebrauch lebt: Die Bedeutung einer Fotografie ist ihr Gebrauch oder der Atem der Fotografie ist ihr Gebrauch (vgl. Wittgenstein  ).5 Der Gebrauch der Fotografie beinhaltet zwei Tätigkeiten: zum einen das zweckgebundene Herstellen von Fotografien, um ein Etwas zu repräsentieren; zum anderen, wie bereits angeführt, die Interpretation von Fotografien, das heißt die zweckgebundene Interpretation des Repräsentierten. Beide Tätigkeiten können isoliert oder eng miteinander verknüp aureten. Ein Auragsfotograf fotografiert beispielsweise etwas vom Auraggeber Gefordertes, ohne es im Nachhinein zu interpretieren, ein Besucher einer Fotografieausstellung interpretiert die ausgestellten Fotografien, ohne sie hergestellt zu haben, oder ein Vater fotografiert sein Kind beim Geburtstag, um sich über die Fotografien später an dieses Ereignis erinnern zu können. Der Gebrauch von Fotografien ist somit letztendlich pragmatischer Natur und umfasst sowohl ihre zweckgebundene Herstellung als auch ihre zweckgebundene Interpretation. Bas van Fraassen drückt dies in seiner neuesten Monografie über wissenschaliche Repräsentationen in Bezug auf Fotografien in aller Kürze wie folgt aus: »Z gebraucht X um Y als F darzustellen« (van Fraassen

: ). Das Feld der Gebrauchsweisen der Fotografie, sowohl in der Praxis der Herstellung als auch in der Interpretation, ist vielfältig. Kursorisch anzuführen sind etwa die sozialen Gebrauchsweisen, wie sie von Bourdieu und Mitarbeitern (vgl. Bourdieu et al.

) untersucht wurden, wissenschaliche Gebrauchsweisen, wie in den Natur- und Sozialwissenschaen, 5 Bei WITTGENSTEIN heißt es in Bezug auf Zeichen: »Jedes Zeichen scheint allein tot. Was

gibt ihm das Leben? – Im Gebrauch lebt es. Hat es da den lebenden Atem in sich? – Oder ist der Gebrauch sein Atem?« (WITTGENSTEIN 1982: 201, 431).

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künstlerische Gebrauchsweisen, politische Gebrauchsweisen und so weiter.6 In diesem Sinne ist auch die Bemerkung von Abigail Solomon-Godeau anzuführen, derzufolge die Geschichte der Fotografie weder die Geschichte bemerkenswerter Männer (Fotografen) ist noch eine diachrone Abfolge bemerkenswerter Bilder, sondern die Geschichte fotografischer Gebrauchsweisen (vgl. Solomon-Godeau %: xxiv). Des Weiteren ist auf John Tagg hinzuweisen, nach dem die Fotografie das materielle Produkt eines materiellen Apparates für die Arbeit in speziellen Kontexten durch bestimmte Akteure für mehr oder weniger definierte Zwecke ist und ohne diese nur »leer« sein kann (vgl. Tagg $: $). Fotografie kann zunächst und prinzipiell auch nur als Technologie begriffen werden (Maynard ). Eine Fotografie selbst ist, und dies soll hier deshalb noch einmal betont werden, jenseits ihrer Gebrauchsweisen zunächst und zuallererst nur eine Entität, die ohne eine ihr innewohnende Bedeutung vorliegt, wiewohl sie dennoch auf eine Realität verweist: »Sobald ein durch fotografische Apparate erzeugtes visuelles Muster in die Funktion eines Bildes eintritt, verweist es auf eine Wirklichkeit, die den Prozessen seiner Deutung vorausliegt« (Seel :  ). Eine ähnliche Argumentation finden wir auch bei Philippe Dubois, demzufolge das Spezifische der Fotografie in dem »Moment der natürlichen Einschreibung der Welt auf die [licht]empfindliche Fläche« liegt, während das Davor und das Danach von Codes und Modellen bestimmt ist (vgl. Dubois :  [Herv. i.O.]), das heißt von Gebrauchsweisen. Es ist dieser kurze Augenblick, in der das Foto in der Tat eine »Botscha ohne Code« ist (Barthes : $). Diese Charakterisierungen der Fotografie von Seel und Dubois mögen für diesen kurzen Moment zwischen einem Davor und einem Danach sicherlich zutreffend sein, doch ist dies auch der Fall, wenn das Foto vorliegt, sei es als Abzug vom Negativ oder digital am Bildschirm? Wir denken ja, wenn wir versuchen, bei der Betrachtung einer Fotografie jegliche (inhaltliche) Interpretation im Sinne einer bestimmten Gebrauchsweise zu vermeiden. Denn was wir dann sehen, was die Fotografie benennt, ist doch letztendlich nur eine bestimmte Anordnung von Dingen. Wobei unter Rückgriff auf Seel darauf hinzuweisen ist, dass die Dinge, deren Anordnung eine Fotografie benennt, nicht »als 6 BERND STIEGLER spricht in diesem Zusammenhang auch von »einer epistemologischen Va-

rianz der Fotografie« und weiter »je nach dem epistemologischen Feld, in dem die Fotografie Verwendung findet, gelten unterschiedliche Regeln ihrer Produktion, aber auch Rezeption« (STIEGLER 2009: 22).

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Inbegriff aller Dinge, die vor Ort (sichtbar) da gewesen sind«, zu verstehen ist, sondern als »alle die in der Betrachtung des Fotos unterscheidbaren Objekte« (Seel :  [Herv. i.O.]). Damit besitzen Fotografien einen Wirklichkeitsbezug, der unabhängig von ihren Gebrauchsweisen dennoch interpretierbar ist. Daraus lassen sich weitere epistemologische Merkmale von Fotografien konkretisieren. Zum einen, dass eine Fotografie in einer kausalen Relation zu ihrem Subjekt steht und dieses repräsentiert, indem es seine Erscheinung reproduziert (vgl. Scruton

: %), das heißt, das Subjekt muss da gewesen sein, um über eine Fotografie reproduktiv präsentiert werden zu können. Wie die Fotografie gesehen wird, ist streng genommen unabhängig von den Intentionen des Fotografen, denn die Fotografie ist keine Interpretation der Realität, sondern nur eine Präsentation dessen, wie jemand etwas gesehen hat. Zum anderen wird deutlich, dass das, was wir auf einer Fotografie sehen, nämlich zunächst nur eine Anordnung von Dingen, nichtsdestoweniger in seiner Struktur bestimmt werden kann. Unter einer Struktur wollen wir ein Tupel von Mengen von Objekten (Dingen) (M) und zwischen ihnen bestehende Relationen (R) verstehen (vgl. Balzer : $$), welche formal wie folgt angegeben werden kann: x ist eine Struktur, genau dann, wenn es M, …, Mn und R, …, Rk gibt, so dass Folgendes gilt: (1) x = < M, …, Mn; R, …, Rk>, (2) M, …, Mn sind nicht-leere Mengen, (3) für alle i Element {, …, k} gilt: R i ist eine Relation über M, …, Mn, das heißt eine Teilmenge des kartesischen Produkts irgendwelcher M i. Auf der Grundlage dieses Strukturbegriffs können wir die Anordnung von Dingen in einer Fotografie und die zwischen ihnen bestehenden Relationen nach metrischen, ordinalen und nominalen Gesichtspunkten bestimmen (vgl. Maynard

:  f.). So können wir beispielsweise die Struktur der Anordnung von Dingen in einer Fotografie nach metrischen Gesichtspunkten identifizieren: Ein Ding ist näher zu einem zweiten und weiter zu einem dritten angeordnet; nach ordinalen Gesichtspunkten: oben/unten, rechts/links, im Vordergrund/ im Hintergrund et cetera; und nach nominalen Gesichtspunkten: ähnliche Dinge. Die Bestimmung der Struktur eines fotografischen Inhalts, das heißt die spezifische Anordnung der Dinge in einer Fotografie, ist analog zu unserem »Syntaktischen Sehen-wie« im Alltag (vgl. Schürmann

).

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Auch hier richtet sich das Sehen zunächst und zuerst einmal nur auf die formalen Strukturelemente der sichtbaren Welt. Die optische Präsenz der Gegenstände ist durch Sichtbarkeitswerte wie Formen, Farben, Richtungswerte und Massen organisiert. Wir sehen zunächst nur syntaktisch, ohne dass wir dem Gesehenen eine Bedeutung zuschreiben, das heißt, wir nehmen das »Wie« des Sichtbarseins eines Gegenstandes wahr, zunächst mehr aber auch nicht (vgl. ebd.: –). Anzumerken ist in diesem Zusammenhang jedoch auch noch eine Einschränkung: Die identifizierte Struktur eines fotografischen Inhalts ist nicht isomorph mit der realen Struktur der fotografierten natürlichen oder künstlichen Originale.7 Eine Fotografie kann deshalb auch als ein gestaltähnliches Modell bezeichnet werden, das einem Verkürzungsmerkmal unterliegt (vgl. Stachowiak $: $ ), denn wie Modelle erfassen auch Fotografien nicht alle Attribute des durch sie repräsentierten Originals. In einer Landschasfotografie etwa wird die Landscha »[…] auf ihren rein visuellen Aspekt beschränkt und unter Verlust der efendimension zu einem bestimmten Zeitpunkt festgehalten. Mannigfache Farben, Schattierungen und Feinstrukturen, die man aus guter Kenntnis dem Original zugeschrieben hat, werden lediglich grob schematisierend wiedergegeben, durch nur bis zu einer bald erreichten Grenze sensorisch auflösbare Punkte-Komplexe« (Stachowiak $:  f.). Das heißt in anderen Worten, dass in einer Fotografie wesentliche physikalische, chemische, biologische, kulturelle, soziale und weitere Eigenschaen nicht abgebildet sind. Wenn wir vor diesem Hintergrund die Struktur eines fotografischen Inhalts bestimmen, so muss damit immer mitgedacht werden, dass diese Struktur nicht mit der Struktur des Originals isomorph ist. Es ist deshalb, unter wissenschastheoretischen Gesichtspunkten betrachtet, angemessener, anstatt von einer Struktur eines fotografischen Inhalts von einer Partialstruktur des fotografischen Inhalts auszugehen.8 Fassen wir Fotografien als Modelle auf, so stehen uns grundsätzlich zwei Möglichkeiten offen: Wir können Fotografien als Modelle nach 7 Mit STANLEY CAVELL können wir diese nicht vorhandene Isomorphie auch als das »photogra-

phische Geheimnis« bezeichnen, das nach ihm darin besteht, »daß man sowohl die Erscheinungsform als auch die Realität kennen kann, daß aber dennoch die eine sich nicht aus der anderen prognostizieren läßt« (CAVELL 1982: 461). 8 Siehe dazu beispielsweise DA COSTA/FRENCH 2003.

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einer syntaktischen Sichtweise oder aber nach einer semantischen Sichtweise betrachten.9 Bestimmen wir sie nach der syntaktischen Sichtweise, so erfolgt ihre Interpretation, das heißt Zuschreibung von Bedeutung, durch den Gebrauch. Im Rahmen einer spezifischen Gebrauchsweise stellt eine Fotografie dann eine richtige oder falsche Beschreibung relativ zum Gebrauchsrahmen dar. Eine solche Beschreibung erfolgt über Sprache, das heißt, die Fotografie wird als ein Text gelesen (vgl. Beck

$).10 Die Fotografie ist sozusagen eine Interpretation der Elemente des jeweiligen Gebrauchsrahmens und nicht umgekehrt. Damit handeln wir uns aber eventuell das Problem ein, dass ein und dieselbe Fotografie in bereits zwei unterschiedlichen Sprachen beschrieben, als Text aufgefasst, zwei unterschiedliche Fotografien meint. Um solche, an dieser Stelle sicherlich sehr spitzfindigen Konsequenzen zu vermeiden, erscheint es sinnvoller, Fotografien als Modelle nicht mit ihren (sprachlichen) Formulierungen (Beschreibungen), das heißt Texten gleichzusetzen, sondern prinzipiell als außerlinguistische Entitäten aufzufassen, welche durch eine Menge unterschiedlicher linguistischer Formulierungen beschrieben oder charakterisiert, letztendlich gebraucht werden können (semantische Sichtweise). Legen wir den wenn auch hier nur ansatzweise unter verschiedenen Aspekten dargelegten epistemischen Status von Fotografien zugrunde, dann sind Fotografien, analytisch betrachtet, als Daten im vorher genannten Sinn (Kapitel ) aufzufassen, das heißt als syntaktische Träger von potenzieller Information ( .%) aber auch nicht mehr. Für unsere weiteren Ausführungen ist folgende Differenzierung zu treffen: Zum einen lassen sich Fotografien direkt als empirische Daten bestimmen (eine Fotografie ist das Datum); zum anderen aber auch in Analogie zu sozialwissenschalichen Befragungen als Fälle, das heißt als Untersuchungsobjekte, an denen wir Merkmalsausprägungen von uns bestimmter Variablen identifizieren können und so Daten über Fotografien generieren (die Fotografie ist ein Träger von potenziellen

9 In der Unterscheidung dieser beiden Sichtweisen von Modellen orientieren wir uns an der in der

Wissenschaftstheorie diskutierten Strukturauffassung wissenschaftlicher Theorien. In ihr wird allgemein zwischen einer syntaktischen Sichtweise oder Aussagen-Konzeption und einer semantischen Sichtweise oder Nicht-Aussagen-Konzeption wissenschaftlicher Theorien unterschieden (siehe u.a. SUPPES 1967, 2002; SUPPE 1972, 1977, 1989, 2000; FRENCH 2008; PORTIDES 2008). 10 Fotografien wie Texte zu lesen, überhaupt die Annahme, dass wir Fotografien ›lesen‹ könn-

ten, ist jedoch im Kern bereits fragwürdig (vgl. dazu etwa KALKOFEN 2007 und grundlegender WORTH 1975).

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Daten). Darüber hinaus können Fotografien auch als Stimuli zur Generierung von empirischen Daten verwendet werden. 11 Betrachten wir diese drei wenn auch nicht erschöpfenden Formen der methodischen Verwendungsweise von Fotografien in der empirischen Sozialforschung strukturiert in einem Überblick (vgl. Abb. ):

Abb. 2: Der methodische Status von Fotografien in der empirischen Sozialforschung (Darstellung des Autors)

3.2 Fotografien als empirische (sozialwissenschaliche) Daten Der amerikanische Soziologe Douglas Harper hat in einem Handbuch zur qualitativen Forschung explizit einen Beitrag mit dem tel Fotografien als sozialwissenschaliche Daten verfasst (vgl. Harper

). Folgen wir kommentierend einigen seiner Ausführungen. Für ihn ist die Fotografie empirisch, denn sie zeichnet auf, was unsere Augen wahrgenommen haben (vgl. Harper

: % $). In diesem Sinne beinhaltet eine Fotografie, wie auch die Wahrnehmung selbst, eine infinite Menge von potenziellen Beobachtungsaussagen der Form: x hat zum Zeitpunkt t am Ort o yi beobachtet. Wir können auch sagen, dass eine Fotografie eine infinite Menge von potenziellen Beobachtungen protokolliert. (Dass in diesem Fall eine Fotografie zweidimensional ist und nur einen rechteckig strukturierten Ausschnitt von etwas präsentiert und nicht wie unsere menschliche Wahrnehmung dreidimensional und im Sehfeld weniger eingeschränkt, erscheint uns nicht 11 Siehe dazu für einen Überblick auch ROSE 2007: Kap. 11.

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als eine spezifische Einschränkung von Fotografien gegenüber protokollierten Beobachtungsaussagen. Denn auch Beobachtungsaussagen sind mittels der Sprache theoretisch präformierte Abstraktionen des Beobachteten). Ist eine Fotografie vor diesem Hintergrund jetzt mehr- und vieldeutig, weil sie eine prinzipiell infinite Menge von potenziellen Beobachtungsaussagen enthält? Wir haben in Punkt . festgehalten, dass Fotografien nur über die Praxis ihrer Herstellung und Interpretation Bedeutung erhalten. Vergleichen wir dazu die sozialwissenschaliche Methode der Beobachtung zur Konstruktion von Daten, das heißt von Beobachtungsaussagen im oben genannten Sinn. Zunächst ist eine wissenschaliche Beobachtung im Gegensatz zu einer Alltagsbeobachtung eine zielgerichtete und methodisch kontrollierte Wahrnehmung von konkreten Entitäten, Ereignissen oder Prozessen (vgl. Bunge : Kap.  ). Jede Beobachtung erfordert ein Beobachtungsschema, welches den Rahmen einer Beobachtung fixiert und die Struktur der Protokollierung vorgibt. Das heißt, es wird vor dem Prozess der Beobachtung festgelegt, was und wie am Untersuchungsobjekt in Abhängigkeit von der Forschungsfrage beobachtet und protokolliert werden soll. Damit wird bereits im Vorfeld der Beobachtung aus der Mannigfaltigkeit möglicher Beobachtungen und zu gewinnender Beobachtungsaussagen eine bestimmte Menge ausgewählt. Diese kann im Extremfall auch nur eine Beobachtung und eine Beobachtungsaussage als zu protokollierendes Datum enthalten. Verwenden wir Fotografien im Sinne von protokollierten Beobachtungsaussagen in den Sozialwissenschaen, so kann der Prozess ihrer nicht-technischen Erstellung, also das Fotografieren als Forschungshandlung, analog zu der Methode der Beobachtung bestimmt werden. Wir müssen folglich zum einen kontrolliert fotografieren, das heißt, wir müssen zuvor festlegen, mit welcher Ausrüstung (Kamera, Objektiv, Stativ, Blitz etc.) und welchen technischen Einstellungen (Brennweite, Blende, Zeit etc.) wir fotografieren. Zum anderen müssen wir gemäß einem zuvor festgelegten Schema analog zum Beobachtungsschema fotografieren. Dieses Schema beinhaltet in Abhängigkeit von unserer Forschungsfrage auch die Entscheidung darüber, was wir wie und wann explizit fotografieren und damit fotografisch als Datum protokollieren wollen. Genau mit dieser Entscheidung legen wir die Menge der Beobachtungsaussagen fest, die wir fotografisch als Datum oder Daten konstruieren wollen. Wir wählen folglich wie bei der Beobachtung aus der infiniten Menge aller möglichen Beobachtungen eine Teilmenge aus, die im Extremfall ebenso nur eine Beobachtung enthalten kann. Konstruieren wir gemäß dieser Vorentscheidungen Fo-

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tografien, so lassen sie sich ebenso wie konventionelle Daten vergleichen und analysieren. Ein instruktives Beispiel dazu liefert Harper selbst. In seiner Untersuchung der Umwelt landwirtschalicher Milchviehbetriebe (vgl. Harper ) verwendete er Luaufnahmen der Betriebe und konnte in der Analyse der Fotografien Unterschiede in der Struktur von traditionellen Milchviehbetrieben (vgl. Abb. $a, b) und industriellen Milchviehbetrieben (vgl. Abb. %a–c) entdecken – etwas, das ihm bei der am Boden gemachten Beobachtung nicht auffiel, hier waren alle Betriebe einander sehr ähnlich.12

Luftaufnahmen landwirtschaftlicher Milchviehbetriebe: Abb. 3a, b: traditionelle Betriebe, Abb. 4a–c: industrielle Betriebe (HARPER 1997: 65f.)

Doch nicht diese Feststellung ist hier von Interesse, sondern die Fotografien selbst als protokollierte Beobachtungsaussagen (Daten), die es ermöglichten, eine zuvor getroffene Hypothese (Gleichartigkeit der Betriebe) zu modifizieren. Abstrahieren wir vom Herstellungsprozess der Fotografien, also von der Forschungshandlung des Fotografierens in Bezug auf eine bestimmte Forschungsfrage, dann sind die Fotografien für sich selbst wiederum als reine Daten zu charakterisieren, als syntaktische Träger poten12 Die Abbildungen 3a, b und 4a–c dürfen in diesem Artikel mit freundlicher Genehmigung von

DOUGLAS HARPER verwendet werden.

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zieller Information. Das heißt, das Lubild eines Milchviehbetriebes zeigt uns nicht von vornherein einen Milchviehbetrieb, sondern nur eine bestimmte Anordnung von Dingen. Erst der vom Fotografen intendierte Herstellungsprozess (das Davor) und die Interpretation der Fotografien (das Danach) schreiben den Fotografien eine bestimmte Bedeutung zu, machen sie zu einer Information. Die pragmatische Verwendungsweise als dritte Stufe des Informationsprozesses findet in der Konfrontation der Sichtweise der Milchviehbetriebe am Boden mit den Fotografien der Milchviehbetriebe aus der Lu statt. Hier wird wiederum deutlich, dass die Gebrauchsweisen der Fotografien ihre Bedeutung bestimmen, nicht aber die Fotografien selbst. Fotografien sind so wie protokollierte Beobachtungsaussagen auch zunächst nur Daten ohne eine ihnen inhärente Bedeutung wie etwa die Zeigeranzeige »%« bei einem technischen Messgerät.

3.3 Fotografien als Träger von empirischen Daten Neben der Verwendung von Fotografien selbst als empirische Daten können Fotografien auch als Träger von empirischen Daten verwendet werden. In diesem Fall betrachten wir Fotografien als Untersuchungsfälle, an denen wir empirische Daten konstruieren. Fotografien als Untersuchungsfälle können sowohl () vom Forscher selbst hergestellt werden als auch ( ) von anderen Akteuren übernommen werden (Fotosammlungen, fotografische Bildbände, Fotoalben, Familienfotos, Zusendungen nach Anfragen, Selbsteinstellungen von Fotos in das Internet etc.).13 Bei Letzterem liegen omals keine Kontextinformationen sowohl zur Fotografie als auch zum Abgebildeten vor. Das heißt, dass wir über keine Informationen der soziodemografischen Daten der einzelnen im Vergleich zu analysierenden Fotografien als Fälle verfügen und über keine Informationen über die in der Fotografie repräsentierten oder präsentierten Objekte, seien diese Dinge oder Personen.14 Im Falle von fotografischen Bildbänden mögen diese Kontextinformationen sicherlich vorliegen, doch hier kann der Datenkonstrukteur den Auswahlprozess der Fotografien für die Bildbände in der Regel weder rekonstruieren noch einschätzen, inwiefern sie für ihre Zeit typisch sind, wie das folgende, beliebig herausge13 Siehe dazu beispielhaft etwa für Fotoalben WALKER/MOULTON 1989, für Familienbilder

BOERDAM/MARTINIUS 1980 oder für Selbsteinstellungen von Fotos in das Internet SCHNUPP 2008. 14 Dass die Bestimmung der soziodemografischen Daten von Fotografien sehr schwierig, aber

prinzipiell möglich ist, zeigt STARL 2009.

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griffene Beispiel eines Tagungsbeitrags

 in Crimmitschau zum ema Arbeit und Fotografie zeigt (vgl. Dreier

c). Die Referentin Miriam Halwani (Hamburg/Berlin) untersuchte in ihrem Beitrag die Ästhetisierung von Arbeit in fotografischen Bildbänden in dem Zeitkontinuum von   bis . Anhand von drei in Deutschland erschienenen Bildbänden, Deutsche Arbeit ($ , E.O. Hoppé), Arbeit! ($, Paul Wolff) und Deutschland arbeitet. Mensch und Werk (%, Kuno Ockhardt) ging sie der Frage nach, inwieweit die Visualisierung von Arbeit unter ästhetischen Gesichtspunkten über verschiedene politische Ideologien hinweg kontinuierlich oder in Brüchen verläu. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die (ausgewählten) Bildbände darin Kontinuitäten aufweisen, dass sie letztendlich immer ideologisch sind, wenn man sie in der Relation von Bild und Text analysiert. Betrachtet man die Fotografien jedoch ohne Text, dann ist eine ideologisch-bestimmte Verortung kaum zu erkennen. Vielmehr ist den Aufnahmen eine am neusachlichen Stil orientierte Grundausrichtung gemeinsam. Inhaltlich betrachtet herrscht in den Fotografien der Bildbände eine Maschinenästhetik vor; es wird weniger der arbeitende Mensch gezeigt, sondern die Schönheit technischer Artefakte in einer gefilterten, menschenleeren Industriekulisse. Sehr deutlich kommt der fehlende Mensch in Deutsche Arbeit ($ ) zum Ausdruck, während in Arbeit! ($) der arbeitende Mensch omals nur durch extreme Nahsichten von arbeitenden Händen präsentiert wird und in Deutschland arbeitet. Mensch und Werk (%) das ästhetische Moment der Reihung und der Strukturen im Vordergrund steht. Inwieweit diese drei Bildbände jedoch in ihrer Visualisierung von Arbeit über den untersuchten Zeitraum als repräsentativ im Sinne von typisch angesehen werden können, bleibt ungeklärt und auch zweifelha, wenn wir zu diesen Bänden etwa den $% erschienenen Bildband Deutschland arbeitet. Ein Bildbuch zum Kampf um die Arbeit (Eugen Diesel) heranziehen. In ihm werden arbeitende Menschen ohne Unterordnung unter eine Maschinenästhetik oder verklärende Romantik gezeigt. Dieser Umstand beeinträchtigt bei der Analyse der konstruierten Daten die Evaluierung ihrer Reliabilität und Validität. Werden Fotografien vom Forscher selbst im Rahmen eines kontrollierten Designs und auf der Grundlage theoretischer Vorüberlegungen erstellt, dann können diese Fotografien als Fälle angesehen und bezüglich forschungsrelevanter Variablen analysiert werden. Das heißt, dass die jeweiligen Merkmalsausprägungen der im Forschungsinteresse oder in der Forschungshypothese festgelegten Variablen als Daten identifiziert werden können. Fotografien sind in diesem Fall Träger von empirischen Merkmalen (Daten), die qualitativ oder quanti-

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tativ vorliegen und dementsprechend analysiert werden können. Erstellt ein Forscher beispielsweise im Rahmen einer Zufallsauswahl Fotografien von Hochzeitspaaren am Trauort, so kann er diese bezüglich ausgewählter Variablen wie Kleidung, Haltung, Schmuck et cetera beobachten. Unter Hinzuziehung soziodemografischer Informationen der Fotografierten können etwa schichtspezifische Unterschiede in der Präsentation der Paare vor dem Traualtar festgestellt werden. Eine weitere Form der methodischen Verwendung von Fotografien als Träger von empirischen Daten stellen Fotoserien im Sinne der Repeat Photography dar. Darunter sind in bestimmten Zeitabständen wiederholte Fotografien von Plätzen, sozialen Gruppen oder anderen sozialen Phänomenen zu verstehen. Sie eignen sich, unter soziologischen Gesichtspunkten betrachtet, etwa zur Analyse von sozialem Wandel (vgl. Rieger ) oder der Größenveränderungen von Gruppen an Straßenplätzen, Märkten, Einkaufsgeschäen, städtischen Parks oder Bushaltestellen (vgl. Whyte  ), also teilweise typischen Nicht-Orten (Augé %). Dass diese Form des Einsatzes der Fotografie in den Sozialwissenschaen kaum bewusst genutzt wird, erstaunt, wenn man ihren Einsatz in anderen Disziplinen betrachtet. 15 In der Repeat Photography werden Fotografien zu einem bestimmten ema an aufeinander folgenden Zeitpunkten angefertigt, wobei der zeitlichen Dauer zwischen den Aufnahmen methodisch eine besondere Aufmerksamkeit zukommt. Werden die Zeiträume zu kurz gefasst, sind in der Regel kaum nennenswerte Veränderungen zu beobachten. Werden die Zeiträume zu weit gefasst, sind sicherlich Veränderungen feststellbar, der kontinuierliche Prozess der Veränderung jedoch nicht mehr fassbar. Es kann beispielsweise nicht mehr festgestellt werden, ob ein Veränderungsprozess linear oder kurvilinear erfolgte. Für eine methodisch angemessene Durchführung ist es bei diesem Vorgehen erforderlich, dass zu den verschiedenen Zeitpunkten immer der gleiche Kamerastandpunkt eingenommen, mit gleicher Objektiv-Brennweite und Belichtungszeit sowie zu jeweils gleichen Uhrzeiten an einem der Zeitpunkte fotografiert wird.

3.4 Fotografien als Stimuli zur Konstruktion von empirischen Daten Eine insbesondere in der qualitativ orientierten Sozialforschung verbreitete Methode, in der Fotografien verwendet werden, ist die Fotobefragung. Unter dem Begriff »Photo Elicitation« wurde diese Methode bereits in der Visuellen Ethnologie verwendet (vgl. Collier , 15 So beispielsweise in der Anthropologie (vgl. SMITH 2007) oder in den Umweltwissenschaften

(ROGERS 1982; ROGERS et al. 1984).

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). In der Soziologie hat insbesondere Douglas Harper dazu beigetragen, sie populär zu machen (Harper ,

,

). In dieser Methode dienen Fotografien, vom Forscher oder den Probanden erstellt, als Stimuli in Interviews zur Generierung von empirischen Daten, wobei diese sowohl quantitativer als auch qualitativer Natur sein können. Eine andere Form der Fotobefragung in der Soziologie wenden Pape, Rössel und Solga in einer Untersuchung über die Wahrnehmbarkeit sozialer Ungleichheit an. In einem Experiment werden dazu Probanden nicht von den Forschern erstellte Fotografien von Hochzeitspaaren aus den  er,  er und  er Jahren vorgelegt. Die Probanden sollen die Hochzeitspaare auf den Fotografien in soziale Schichten einteilen (vgl. Pape/Rössel/Solga

). Mit diesem Experiment überprüfen die Autoren die Hypothese, derzufolge bei gleichbleibenden Ungleichheitsstrukturen deren Relevanz für das soziale Handeln, die soziale Identität und die soziale Wahrnehmung abgenommen habe. Bei einem Zutreffen der Hypothese müssten die durch die Probanden vorgenommenen Schichteinteilungen im Zeitverlauf immer unzutreffender werden. Die Ergebnisse des Experiments zeigen jedoch eine Konstanz in der richtigen Schichteinteilung der Hochzeitspaare über diese Zeitperiode und bewähren die Hypothese nicht. Interessant für unsere Darstellung ist an diesem Beispiel weniger die Zurückweisung oder Infragestellung der geprüen Hypothese als die Verwendung von Fotografien, die nicht von den Autoren erstellt wurden: Fotografien als Fälle von Dritten. Als Daten können in diesem Zusammenhang die Schichteinstufungen der Hochzeitspaare durch die Probanden angesehen werden.

4 Resümee Ohne den Anspruch zu erheben, den epistemischen und methodischen Status von Fotografien in der empirischen Sozialforschung an dieser Stelle erschöpfend behandelt zu haben, lassen sich aus unseren Überlegungen einige konkrete Schlussfolgerungen über den Umgang mit Fotografien in der empirischen Sozialforschung ziehen. Zunächst gilt es festzuhalten, dass Fotografien als empirische Daten verwendet werden können, ohne dass wir dazu von einem wissenschastheoretischen Standpunkt aus den Begriff des empirischen Datums einer Revision unterziehen müssten. In einer näheren Analyse der postulierten Analogie von Fotografien mit Beobachtungsaussagen zeigt sich, dass Fotografien in Bezug auf ihren epistemischen Status den gleichen Restriktionen unterliegen wie Beobachtungsaussa-

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gen. Wie in Punkt  dargelegt, können Beobachtungsaussagen nicht als absolut angesehen werden. Vielmehr sind sie mit dem Faktum einer mehrteiligen eorienbeladenheit behaet. Darüber hinaus sind Daten im konventionellen Sinne zwar potenzielle Träger von Information, selbst jedoch keine Information. Diese erlangen sie erst durch eine Zuschreibung von Bedeutung. Mit Fotografien als Daten verhält es sich nicht anders. Auch sie erhalten ihre Bedeutung erst über eine Zuschreibung im Rahmen ihrer Erstellung und/ oder ihrer Verwendung (Interpretation). So gesehen sind Fotografien wie Daten oder als Daten zunächst einmal nicht-deutig. Es sind die jeweiligen Gebrauchsweisen von Fotografien im Davor und Danach, die sie mit Bedeutung füllen. Daten im konventionellen Sinne und Fotografien als Daten ist ebenso die Tatsache gemein, dass sie für sich genommen stumm sind und erst durch ergänzende Annahmen aus unserem Hintergrundwissen zum Reden gebracht werden können. Dies mag als Resümee unserer Ausführungen zwar bescheiden klingen, besitzt jedoch für die Verwendung von Fotografien als Daten in der empirischen Sozialforschung weitreichende erkenntnistheoretische Konsequenzen: Sowohl empirische Daten als auch Fotografien als empirische Daten können in ihren Gebrauchsweisen nicht objektiv sein, denn im Erkenntnisprozess des Menschen liegt immer eine Subjekt-Objekt-Relation vor. Es ist der Mensch als Subjekt, das ein Objekt als Objekt erkennt, sei es durch reine, über Sprache oder über einen Apparat vermittelte Beobachtung. Der Erkenntnisprozess kann deshalb auch nur als subjektiv-objektiv gedacht werden. Das Subjekt erkennt und wiedererkennt nicht passiv und voraussetzungslos, sondern aktiv, denn die Wirklichkeit wird nicht abgebildet, sondern denkend geordnet. Diese denkende Ordnung ist sozial und kulturell präformiert – unabhängig davon, ob wir dafür Konzepte wie den Habitus (Pierre Bourdieu), Diskurse (Michel Foucault) oder Denkstile (Ludwik Fleck) zur Analyse heranziehen.

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Anmerkung der Herausgeber: Bei dem folgenden Text handelt es sich um die modifizierte Fassung eines Teilstücks aus RALF BOHNSACKS Buch: Qualitative Bild- und Videointerpretation. Die dokumentarische Methode (vgl. BOHNSACK 2009).

Ralf Bohnsack

Disziplinierte Zugänge zum undisziplinierten Bild: die Dokumentarische Methode Im Bereich der sozialwissenschalichen empirischen Forschungsmethoden und auch in demjenigen der qualitativen Methodik kommt der Bildinterpretation trotz aller Bewegungen der letzten Jahre weiterhin eine lediglich marginale Bedeutung zu. Einer der Gründe dafür liegt – wie ich zu Beginn meiner Ausführungen darlegen werde – darin, dass die qualitative sozialwissenschaliche Methodik insbesondere in ihrer fortgeschrittenen Variante am Modell der Textinterpretation entwickelt worden ist. Das Bild fügt sich der auf dieser Grundlage entwickelten methodischen Disziplinierung nicht so ohne Weiteres und erscheint schon aus diesem Grunde undiszipliniert. Es stellt sich die Frage, wie es möglich ist, eine sozialwissenschaliche Methode zu entwickeln, der es gelingt, »Bilder nicht mehr mit Texten zu erklären, sondern von Texten zu unterscheiden«, wie Hans Belting dies mit Bezug auf William J.T. Mitchell formuliert hat (Belting

: ). Dabei bedarf es – wie zu zeigen sein wird – bei der Bildinterpretation in ganz besonderer Weise eines disziplinierten, das heißt methodisch kontrollierten Umgangs mit dem sprachlichtextlichen Vor-Wissen. Während im Bereich der Geisteswissenschaen, insbesondere der Philosophie und Kunstgeschichte, und auch der Kunst wesentliche Vorarbeiten in der Auseinandersetzung mit dem Bild geleistet worden sind, steht die sozialwissenschaliche Analyse, die ja grundlegend eine empirisch fundierte zu sein hat, noch ganz am Anfang. Ich möchte zeigen, dass es für die Sozialwissenschaen sinnvoll und notwendig ist, insbesondere an Methoden und eorien der Kunstgeschichte

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und an Reflexionen der Semiotik und Philosophie anzuschließen. Wie im Anschluss an William T. Mitchell im Einleitungstext zum . Bielefelder Fotosymposium von Deppner/Abel ausgeführt, ist das Bild einer »monodisziplinären Deutungshoheit« nicht zugänglich (Mitchell

: ; Deppner/Abel

: ). Aufgrund des notwendigerweise transzdisziplinären Charakters der Bildinterpretation liegt das Bild somit quer zur disziplinären Ordnung und vermittelt somit auch in diesem Sinne den Eindruck der Undiszipliniertheit. Bei dem notwendigerweise transdisziplinären Projekt der Bildinterpretation kann der Dokumentarischen Methode, die auf den Wissenssoziologen Karl Mannheim zurückgeht, eine Schlüsselrolle zukommen. Dies hat seinen Grund unter anderem darin, dass diese sozialwissenschaliche Methode bereits in ihren Ursprüngen in den  er Jahren in enger Wechselwirkung mit Methoden der Kunstgeschichte – insbesondere der Ikonologie von Erwin Panofsky – entwickelt worden ist.

Die Marginalisierung des Bildes in den Methoden empirischer Sozialforschung Es herrscht weitgehend Übereinstimmung unter Vertretern qualitativer Sozialforschung, dass – in deutlichem Kontrast zur gesellschalichen Bedeutung des Bildes – der Stellenwert, welcher ihm in der Praxis qualitativer Forschung zukommt, gegenüber dem des Textes ein marginaler ist. Allerdings hat diese Einsicht, welche in den letzten Jahren zunehmend artikuliert worden ist, bisher kaum Konsequenzen gehabt. Dies lässt vermuten, dass die Gründe für diese Marginalisierung tiefer liegender Art sind, dass sie im Kernbereich der methodologischen Grundlagen sozialwissenschalicher Empirie selbst zu suchen sind – und hier erstaunlicherweise gerade auch in den methodologischen Grundlagen qualitativer Forschung. Mindestens vier Gründe sind für diese Marginalisierung geltend zu machen: Zunächst ist hier jene Entwicklung in Philosophie, Erkenntnistheorie und sozialwissenschalicher Handlungstheorie und Empirie zu nennen, die (zuerst von Richard Rorty) als linguistic turn bezeichnet wurde (Rorty ). Welche Bedeutung diese Entwicklung für die methodische Marginalisierung des Bildes hatte, ist spätestens deutlich geworden, als dieser sprachwissenschalich fundierten Wende die Antizipation eines pictorial turn (Mitchell %, ) entgegengehalten wurde. Zu wenig beachtet wurde in der hier geführten Diskussion allerdings, dass diese sprachwissenschaliche Wende nicht nur philo-

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sophisch-erkenntnistheoretisch (vgl. u.a. Ricoeur  ) und sozialphilosophisch-handlungstheoretisch (vgl. u.a. Habermas ), sondern auch empirisch-rekonstruktiv – zuerst durch die ethnomethodologische Konversationsanalyse (vgl. Sacks ) – eingeläutet worden ist. Die Renaissance der qualitativen Methoden in den  er Jahren wurde entscheidend durch den empirisch-rekonstruktiv fundierten linguistic turn mitgetragen. Methodologische Reflexionen und methodische Verfeinerungen sind seitdem fast ausschließlich im Medium der Textinterpretation fortentwickelt worden. Allerdings ist diese Dominanz des Modells der Textinterpretation in den qualitativen Methoden nicht allein vom linguistic turn her zu plausibilisieren. Vielmehr ist – zweitens – ein weiterer Grund geltend zu machen, welcher schon vorher beziehungsweise unabhängig vom linguistic turn die sozialwissenschaliche Methodologie geprägt hat und auch als Voraussetzung dafür anzusehen ist, dass der linguistic turn derart nachhaltige Konsequenzen im Bereich der sozialwissenschalichen Empirie haben konnte. Unabhängig von ihrer spezifischen Ausrichtung gilt für alle sozial- und naturwissenschalichen Methoden und Methodologien die (zuerst von Karl Popper  umfassend ausformulierte) Prämisse, dass soziale Wirklichkeit, wenn sie wissenschaliche Relevanz gewinnen will, in Form von Beobachtungssätzen oder »Protokollsätzen«, also in Form von Texten, vorliegen muss (vgl. Popper ). Die qualitative oder rekonstruktive Sozialforschung ist dem gefolgt: Als letzte – nicht mehr hintergehbare – Grundlage des wissenschalichen Zugangs zur Wirklichkeit gelten auch hier Texte. Jegliche Beobachtung, die wissenschalich relevant werden soll, muss also durch das Nadelöhr des Textes hindurch. Hieran anschließend ist dann – drittens – im Bereich der qualitativen Sozialforschung die Argumentation zugunsten des Textes in folgender Weise weitergeführt worden: Wenn alles, was wissenschalich relevant werden soll, durch das Nadelöhr des Textes muss, dann sollte man als Grunddaten der Analyse auch die Originaltexte heranziehen: also jene Texte, die von den Erforschten selbst produziert werden – im Unterschied zu jenen Texten, die als Beobachtungsprotokolle oder Interpretationstexte von den Forschern verfasst worden sind. Nur diese Art von Ursprungsdaten kann unmittelbar zu Grunddaten der Analyse werden. Aus dem Rahmen derartiger erkenntnistheoretischer Grenzziehungen fällt das Bild von vornherein heraus und muss schon in dieser Hinsicht als undiszipliniert erscheinen. Und es erscheint insbesondere dort unerlässlich, auf die Texte der Erforschten, also deren Originaläußerungen, zurückzugreifen, wo die

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Analyse über die oberflächliche oder manifeste Ebene der Bedeutungen von Äußerungen auf die eher impliziten oder latenten Bedeutungsgehalte hinausgreifen will, für deren Interpretation Nuancen des Ausdrucks und die genaue Kon-Textuierung entscheidend sind. Vor dem Hintergrund derartiger Überlegungen ist dann eine Fixierung auf das Paradigma der Textinterpretation in den qualitativen Methoden entstanden. Bildinterpretationen mussten von vornherein weniger valide erscheinen. Denn Bilder sind, wenn sie wissenschalich relevant werden sollen, grundsätzlich erst einmal in Beobachtungssätze beziehungsweise -texte umzuformulieren. Im Fahrwasser dieser Argumentation ist (auf den ersten Blick o unbemerkt) dann – viertens – noch eine ganz andere Bedeutung von Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit in die methodologische Begründung qualitativer Methoden eingebracht worden: Nicht mehr nur allein die wissenschalich relevante Wirklichkeit sollte textförmig sein. Vielmehr wurde – vor allem vonseiten der Objektiven Hermeneutik – schließlich die Sprach- und somit auch die Textförmigkeit jeglicher Verständigung behauptet, also auch der alltäglichen, der außerwissenschalichen Verständigung. Damit wird das Bild beziehungsweise die Bildhaigkeit, die Ikonizität, als ein Medium der Verständigung in seiner Eigenlogik und Eigensinnigkeit gegenüber dem Text dann grundsätzlich infrage gestellt.1 Die im Zusammenhang des linguistic turn entstehende Orientierung am Paradigma der Textinterpretation hat insbesondere seit Ende der  er Jahre zu einer enormen Präzisierung der Standards und der forschungspraktischen Verfahrensweisen geführt. Einer der Gründe für diese Erfolge kann darin gesehen werden, dass – als methodologisches Prinzip – Texte im Zusammenhang mit dem linguistic turn als selbstreferenzielle Systeme betrachtet worden sind. Eine Vorreiterrolle hat hier die Konversationsanalyse gespielt. Harvey Sacks hat dies schon in den  er Jahren auf die Formel gebracht: 1 Vertreter anderer Schulen qualitativer Forschung haben diese Prämisse kritisiert. Für den Be-

reich der Bildinterpretation bestreitet JO REICHERTZ als Verfechter einer »hermeneutischen Wissenssoziologie« in Abgrenzung gegenüber der Objektiven Hermeneutik, »dass die Welt nichts außer Text sei – auch wenn Oevermann die Welt gerne so sieht« (REICHERTZ 1992: 142). Allerdings begrenzt auch REICHERTZ die Bedeutung und die Reichweite der Ikonizität in entscheidender Weise, wenn er betont: »Will man sich über die Wahrnehmung und den Eindruck des Fotos mit anderen verständigen, muss man ein Protokoll des privaten Ereignisses herstellen, es in einen intersubjektiven Code übersetzen« (ebd.: 143). Wenn – in der Perspektive der hermeneutischen Wissenssoziologie – lediglich ein »privates«, also ein individuelles oder monologisches Verstehen im Medium des Bildes möglich ist, impliziert dies aber den Ausschluss einer intersubjektiven Verständigung in diesem Medium. Letztere ist wiederum auf Sprache und Texte angewiesen. Zu den Unterschieden der Dokumentarischen Methode zur Objektiven Hermeneutik und hermeneutischen Wissenssoziologie siehe auch BOHNSACK 2003b.

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»Wenn wir so etwas wie eine Soziologie des Gesprächs betreiben, dann geht es um die Frage, was das System selbst als Grundlagen, Motive, oder was auch immer, zur Verfügung stellt, um etwas Wesentliches für das System zu tun« (Sacks : $).2 Dieses Prinzip oder diese Analyseeinstellung, Gespräche und Texte ganz allgemein als selbstreferenzielle Systeme zu betrachten, ist im Folgenden auch von anderen Methodologien der Textinterpretation im Bereich der qualitativen Methoden übernommen worden. Bis heute hat diese jedoch keinerlei Anwendung oder Relevanz im Bereich der Bildinterpretation gewonnen. Wenn wir Bildern den Status von selbstreferenziellen Systemen zuerkennen, so hat dies auch Konsequenzen für die Art und Weise des Verständnisses von Bildern als Medien der Kommunikation. Und zwar lassen sich zwei sehr unterschiedliche Arten der bildhaen Verständigung differenzieren. Es gilt, eine Verständigung über das Bild zu unterscheiden von einer Verständigung durch das Bild, wie ich dies formulieren möchte. Eine intersubjektive Verständigung durch das Bild, also im Medium des Bildes und somit jenseits des Mediums von Sprache und Text, bleibt stillschweigend beziehungsweise ohne weiter greifende Begründung aus der Methodologie und auch aus der Handlungstheorie ausgeschlossen. In den Blick gerät lediglich die im Medium von Sprache und Text sich vollziehende Verständigung über das Bild.

Implizites Wissen, Ikonologie und Habitus In dieser Unterscheidung zwischen einer Verständigung durch das Bild von jener über das Bild sind Annahmen über unser alltägliches Verstehen und Handeln impliziert, die weit in die Handlungs-, Zeichen-, Wissens- und Erkenntnistheorien hineingreifen. Dass wir uns im Alltag durch Bilder verständigen, bedeutet, dass es sich bei unserer gesellschalichen Wirklichkeit um eine Welt handelt, »die durch Bilder nicht nur repräsentiert, sondern durch die Herstellung von Bildern tatsächlich konstituiert und zur Existenz gebracht wird« (Mitchell %: %). Dabei kann die Herstellung der Welt durch Bilder allerdings wiederum in mindestens zweifacher Hinsicht verstanden werden. Das eine Verständnis geht dahin, dass lediglich die Deutung der Welt sich wesentlich im Medium der Ikonizität vollzieht. Ein darüber hinaus2 Zitate aus nicht deutschsprachiger Literatur sind dort, wo der nicht deutschsprachige Titel

zitiert wird, vom Autor des Artikels selbst übersetzt worden – mit Ausnahme der Zitate in den Anmerkungen, die in der Originalsprache belassen sind.

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gehendes, weiter greifendes Verständnis einer Konstitution der Welt durch das Medium des Bildes umfasst auch die handlungsleitende Qualität der Bilder. In der sozialwissenschalichen Handlungs-, Kommunikations- und Bildungstheorie bleibt letzterer Aspekt, nämlich derjenige, dass Bilder auf einer ganz fundamentalen Ebene der Verständigung und des Lernens, der Sozialisation und der Bildung (auch außerhalb der Massenmedien) Medium alltäglicher Verständigung und alltäglichen Handelns sind, systematisch unbeachtet. Dies gilt insbesondere in der Hinsicht, dass soziale Situationen oder Szenerien in Form von mentalen Bildern gelernt werden, dass sie unter anderem im Medium des Bildes erinnert werden, in wesentlicher Hinsicht bildha im Gedächtnis sedimentiert sind.3 So verfüge ich über typenhae mentale Bilder, die mir Aufschluss über die Bedeutung von Mimik und Gestik meiner jeweiligen Interaktionsgegenüber vermitteln. Wir sind ständig gefordert, Gesichtsausdruck und Körperhaltung der relevanten Anderen in adäquater Weise zu interpretieren, um Handlungssicherheit gewinnen zu können. Als Voraussetzung dafür müssen wir aber bereits über mentale Bilder, über bildhae, also ikonische Schemata verfügen, durch die Mimik und Körperhaltung für uns erst zu sinnvollen Zeichen werden. Mehr noch sind in jeder Art von Zeichen oder Bedeutungssystemen Bilder impliziert. Das zu jedem Signifikant (einem Wort beispielsweise) gehörende Signifikat ist nicht ein Ding, sondern ein mentales oder »psychisches« Bild: »Das Signifikat des Wortes Ochs ist nicht das er Ochs, sondern sein psychisches Bild« (vgl. Barthes $: $). Nach Alfred Schütz basiert jegliche Symbol- beziehungsweise genauer Typenbildung auf einer »Imagination hypothetischer Sinnesvorstellungen« (Schütz : %). Und Cornelius Castoriadis nimmt in dieser Hinsicht Bezug auf die »imaginäre Komponente jedes Symbols« (Castoriadis %: ). Eine derartige mentale Bildhaigkeit, das »Imaginäre« (Wulf : $$$f.), in dem auch die Bildhaigkeit sozialer Orientierungen fundiert ist, stellt also nicht nur die Grundlagen für die Produktion von Ikonizität, von äußeren Bildern dar, sondern ist auch der Symbolik der Sprache vorgeordnet. Auch kreative Entwürfe sozialer Handlungen und Szenerien vollziehen sich im Medium mentaler Bilder und Imaginationen.

3 Dazu heißt es bei ASSMANN: »So abstrakt es beim Denken zugehen mag, so konkret verfährt

die Erinnerung. Ideen müssen versinnlicht werden, bevor sie als Gegenstände im Gedächtnis Einlaß finden können. Dabei kommt es zu einer unauflöslichen Verschmelzung von Begriff und Bild« (ASSMANN 1997: 37f.).

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Die Verständigung im Medium des Bildes, das heißt im Medium von mentalen Bildern, ist weitgehend eine vorreflexive, eine implizite. Es handelt sich um eine Verständigung, die sich unterhalb der begrifflich-sprachlichen Explizierbarkeit vollzieht. Die bildhae Verständigung ist eingelassen in die stillschweigenden oder »atheoretischen« Wissensbestände, wie sie bei Karl Mannheim genannt werden (vgl. Mannheim  ). Diese Wissensbestände strukturieren vor allem das habituelle, das routinemäßige Handeln und werden ganz wesentlich erlernt im Modus der Verinnerlichung beziehungsweise der »mimetischen« Aneignung (vgl. Wulf ) von sozialen Szenerien, von Gebärden, Gestik und Mimik. Dieses Wissen wird einerseits in Form von Erzählungen und Beschreibungen vermittelt, das heißt in Form von Metaphern, von metaphorischen, also von bildhaen textlichen Darstellungen sozialer Szenerien, andererseits – und ganz wesentlich – im Medium des Bildes selbst, im Medium der Ikonizität. Das Medium der Vermittlung des atheoretischen Wissens ist also ganz allgemein dasjenige der »Bildlichkeit«, wenn wir den Begriff der Bildlichkeit mit Gottfried Boehm so fassen, dass »Bild und Sprache an einer gemeinsamen Ebene der ›Bildlichkeit‹ partizipieren« (Boehm : %% [Herv. i.O.]). Und diese Ebene der Bildlichkeit ist diejenige des impliziten oder atheoretischen Wissens. Vor diesem Hintergrund wird dann aber auch deutlich, dass nur solche sozialwissenschalichen Methodologien den empirisch-methodischen Zugang zur Sinnstruktur des Bildes zu eröffnen vermögen, die über einen grundlagentheoretischen Zugang zu derartigen atheoretischen oder impliziten Wissensbeständen verfügen. Der Wechsel von der Ebene des expliziten Wissens, der Ebene von Common-Sense-eorien, hin zum impliziten oder atheoretischen Wissen ist bei Erwin Panofsky derjenige von der Ikonografie zur Ikonologie (vgl. Panofsky $ , ). Panofsky ist ganz wesentlich durch die sozialwissenschaliche Diskussion beeinflusst worden, insbesondere durch seinen Zeitgenossen Karl Mannheim und dessen Dokumentarische Methode. Dem Wechsel von der Ikonografie zur Ikonologie entspricht der Wechsel vom immanenten zum dokumentarischen Sinngehalt bei Karl Mannheim (vgl. Mannheim %). Hieran anknüpfend sowie im Anschluss an Martin Heidegger und Niklas Luhmann lässt sich dieser Wechsel der Analyseeinstellung als derjenige vom Was zum Wie bezeichnen. Es geht um den Wechsel von der Frage, was kulturelle oder gesellschaliche Phänomene oder Tatsachen sind, zur Frage, wie diese hergestellt werden (vgl. Heidegger ; Luhmann  ).

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Bei Panofsky umfasst die Frage nach dem Was aber nicht nur die Ebene der Ikonografie, sondern auch die vor-ikonografische Ebene. Die sozialwissenschaliche Relevanz dieser Unterscheidung wird vor allem dort deutlich, wo Panofsky die von ihm entworfenen Interpretationsschritte nicht im Bereich der Kunst, sondern des »Alltagslebens« und dort am Beispiel der Gebärde eines Bekannten erläutert. Diese Gebärde, die auf der vor-ikonografischen Ebene zunächst als »Hutziehen« identifizierbar ist, kann im Sinne von Panofsky erst auf der ikonografischen Ebene als ein »Grüßen« analysiert werden (vgl. Panofsky : $). In sozialwissenschalicher Fortentwicklung der Argumentation von Panofsky lässt sich dieser Schritt der Interpretation als derjenige der Unterstellung von »Um-zu-Motiven« charakterisieren: Der Bekannte zieht seinen Hut, um zu grüßen (ebd.). Wir begeben uns – wie wir dies auch im Common-Sense tun – auf die Suche nach den subjektiven Intentionen. Die Ikonografie bleibt methodisch ungesichert, da sie auf Introspektion und Unterstellungen basiert. Im Unterschied zur ikonografischen vollzieht die ikonologische Analyse-Einstellung den »Bruch mit den Vorannahmen des common sense«, wie man mit Bourdieu sagen könnte (Bourdieu : ). Sie unterscheidet sich radikal von der Frage nach dem Was und fragt nach dem Wie, nach dem modus operandi der Herstellung beziehungsweise Entstehung einer Gebärde. Nach Panofsky erschließt sich auf diese Weise »die eigentliche Bedeutung« oder der »Gehalt« einer Gebärde (Panofsky : % ), der »Wesenssinn« oder eben »Dokumentsinn« (ders. $ : , ) – ein Begriff, mit dem Panofsky sich explizit auf Karl Mannheim und dessen Dokumentarische Methode bezieht (vgl. Mannheim %). Auf dem Wege der ikonologischen Interpretation werden wir an der Gebärde den »Eindruck einer ganz bestimmten Wesensart erhalten können [...], die sich in der Grußhandlung ebenso klar und ebenso unabhängig vom Willen und Wissen des Grüßenden ›dokumentiert‹, wie sie sich in jeder anderen Lebensäußerung des betreffenden Menschen dokumentieren würde« (Panofsky : f. [Herv. i.O.]). Es ist eben dieser sich hier dokumentierende »Wesenssinn«, der ikonologische Sinngehalt, welchen Panofsky auch als »Habitus« bezeichnet hat (vgl. Panofsky ). Der ikonologische Sinngehalt »wird erfaßt, indem man jene zugrundeliegenden Prinzipien ermittelt, die die Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, ei-

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ner religiösen oder philosophischen Überzeugung enthüllen« (Panofsky : % ). Die Frage nach dem ikonologischen Sinngehalt zielt im Sinne von Panofsky also auf den Habitus der Bildproduzenten. Allerdings erscheint es an dieser Stelle insbesondere im Bereich der Fotografie notwendig, grundsätzlich zwei Dimensionen oder Arten von Bildproduzenten zu unterscheiden: Auf der einen Seite haben wir die (wie ich es nennen möchte) abbildenden Bildproduzenten, also unter anderem Fotografen oder Künstler sowie alle diejenigen, die als Akteure, als Produzenten hinter der Kamera und noch nach der fotografischen Aufzeichnung an der Bildproduktion beteiligt sind. Auf der anderen Seite haben wir die abgebildeten Bildproduzenten, also die Personen, Wesen oder sozialen Szenerien, die zum Sujet des Bildes gehören beziehungsweise vor der Kamera agieren. Die sich aus der komplexen Relation dieser beiden unterschiedlichen Arten von Bildproduzenten ergebenden methodischen Probleme sind dann leicht zu bewältigen, wenn beide zu demselben Erfahrungsraum, das heißt zum selben Milieu, gehören. Dies ist beispielsweise dort der Fall, wo ein Angehöriger der Familie ein Familienfoto produziert oder wenn (wie im Falle historischer Gemälde, die mir Aufschluss über eine historische Epoche zu geben vermögen) der Maler ebenso wie die Modelle oder die abgebildeten Szenerien zur selben Epoche gehören. Denn bei der ikonologischen Interpretation geht es darum, einen Zugang zum Erfahrungsraum der Bildproduzenten zu finden, dessen zentrales Element der individuelle oder kollektive Habitus darstellt. Methodisch komplexer wird das Problem dort, wo der Habitus der abgebildeten Bildproduzenten mit demjenigen der abbildenden, also der Fotografen oder Maler, nicht so ohne Weiteres in Übereinstimmung zu bringen ist (als Beispiel siehe: Bohnsack

c: %– ). Die besondere Leistung der Ikonologie von Panofsky, die abgesehen von den Arbeiten Bourdieus und einigen anderen Ausnahmen (vgl. dazu: Pilarczyk/Mietzner

,

 sowie Michel

,

) in den Sozialwissenschaen bisher kaum Beachtung gefunden hat, ist darin zu sehen, dass er den Habitus beziehungsweise den Wesenssinn oder Dokumentsinn (beispielsweise einer Epoche wie der Renaissance) aus den Analogien oder Homologien unterschiedlicher Medien, unterschiedlicher Darstellungsgattungen oder Kunstgattungen (von der Literatur über die Malerei und Architektur bis zur Musik) dieser Epoche hervortreten lässt. Für Max Imdahl ist aber gerade diese besondere Leistung Panofskys Ausgangspunkt für die zentrale Frage danach, wo dann noch das Besondere des Mediums Bild in den Inter-

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pretationen von Panofsky zu finden sei (vgl. Imdahl %, a). Panofsky ist nicht primär an jenen Sinngehalten interessiert, die nur durch das Bild, sondern an jenen, die unter anderem auch durch das Bild zu vermitteln sind.

Die Eigensinnigkeit des Bildes und die Suspendierung des textlichen Vorwissens In diesem Zusammenhang kritisiert Max Imdahl auch die reduzierte Bedeutung von »Formen« und »Kompositionen« bei Panofsky (Imdahl a: ff.). Formen und Kompositionen würden auf die Funktion reduziert, die (natürlichen) Gegenständlichkeiten des Bildes und die ikonografischen Narrationen (z.B. der biblischen oder heilsgeschichtlichen Texte) wiedererkennbar zu gestalten. Dieser Reduktion auf das »wiedererkennende Sehen« stellt Imdahl das »sehende Sehen« gegenüber, welches nicht von den einzelnen Gegenständlichkeiten ausgeht, sondern von der Gesamtkomposition und der Ganzheitlichkeit des Bildes (ebd.:  ). Im Unterschied zur Ikonologie von Panofsky, die auf der Ikonografie und damit auf dem textlich-narrativen Vorwissen au_aut, setzt Imdahl mit seinem methodischen Zugang, den er als ikonische Interpretation oder Ikonik bezeichnet, bereits auf der vor-ikonografischen Ebene an − vor allem aber bei der formalen Komposition des Bildes: »Der ikonischen Betrachtungsweise oder eben der Ikonik wird das Bild zugänglich als ein Phänomen, in welchem gegenständliches, wiedererkennendes Sehen und formales, sehendes Sehen sich ineinander vermitteln zur Anschauung einer höheren, die praktische Seherfahrung sowohl einschließenden als auch prinzipiell überbietenden Ordnung und Sinntotalität« (Imdahl a:  ).4 Die ikonische Interpretation kann sich nach Imdahl vom ikonografischen Vorwissen oder von ikonografischen Sinnzuschreibungen weitgehend freihalten. Sie kann »von der Wahrnehmung des literarischen oder szenischen Bildinhalts absehen, ja sie ist o besonders erfolgreich gerade dann, wenn die Kenntnis des dargestellten Sujets sozusagen methodisch verdrängt wird« (Imdahl b: %$). 4 Für den Kunsthistoriker und Kunstwissenschaftler STEFFEN BOGEN stellt die Ikonik von MAX IMDAHL »einen kaum zu überbietenden Höhepunkt dar, künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten im Medium des Einzelbildes anschaulich und analytisch nachzuvollziehen« (BOGEN 2005: 57).

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Eine derartige Suspendierung erscheint methodisch geboten, wenn wir das Bild im Sinne von Imdahl als »ein nach immanenten Gesetzen konstruiertes und in seiner Eigengesetzlichkeit evidentes System« (Imdahl :  ) erfassen wollen.5 Hinsichtlich dieser Suspendierung des ikonografischen Vor-Wissens zeigen sich gewisse Parallelen zur Semiotik mit ihren beiden prominenten Vertretern Umberto Eco und Roland Barthes, die (unabhängig von den Unterschieden zwischen ihnen) dahingehend übereinstimmen, dass wir – um zur Besonderheit und Eigensinnigkeit des Bildes vorzudringen – unterhalb der konnotativen Ebene anzusetzen haben. Die konnotative Ebene lässt sich aber – und dies wird bei Eco auch explizit hervorgehoben – in mancher Hinsicht analog zur ikonografischen Ebene bei Panofsky verstehen (vgl. Eco %: %$). Die Besonderheit und Eigensinnigkeit des Bildes im Unterschied zum Text, das heißt die besondere Botscha der bildhaen, der ikonischen Zeichen, entscheidet sich also auf der vor-ikonografischen oder denotativen Ebene.6 Bei der Entschlüsselung dieser Botscha müssen wir allerdings immer zuerst durch die darüber gelagerte Ebene des ikonografischen oder konnotativen Codes hindurch, der sich uns gleichsam aufdrängt. So neigen wir im Common-Sense beispielsweise immer dazu, nicht-abstrakte Bilder zunächst in der Weise zu interpretieren, dass wir Handlungen und Geschichten gedanklich entwerfen, die sich auf dem Bild abspielen könnten. Die Entschlüsselung der Botscha des Bildes »entledigt« sich aber, wie es bei Roland Barthes 5 Dieses methodische Postulat hat in der Rezeption der Methode dokumentarischer Bildinterpre-

tation zu Missverständnissen geführt. So heißt es bei FUHS: »Ein solches Vorgehen der asketischen Interpretation formaler Bildkompositionen geht unausgesprochen davon aus, dass der Alltagssinn und das intuitive Verstehen von Bildern nicht nur keinen Beitrag zum ikonischen Verständnis der Weltsymbolik eines Bildes liefert, sondern dass die Alltagsinterpretation sogar den eigentlichen Sinn des Bildes verstellt« (FUHS 2006: 211). Dies trifft insofern nicht zu, als die Dokumentarische Methode sich eben gerade als Methode der Explikation intuitiven, das heißt atheoretischen, also impliziten oder inkorporierten Alltagswissens versteht, welches allerdings vom theoretischen Wissen, den Common-Sense-Theorien unterschieden wird. Dies habe ich immer wieder betont (siehe u.a. BOHNSACK 2008d: 194ff.), ebenso wie auch die erkenntnistheoretische Distanz der Dokumentarischen Methode von einer »Hierarchisierung des Besserwissens«, wie ich dies mit Bezug auf LUHMANN genannt habe (vgl. dazu ausführlicher: BOHNSACK 2010b: Kap. 7), also die Distanz gegenüber dem Anspruch eines sozialwissenschaftlichen Zugangs, der das Privileg einer höheren Rationalität in Anspruch nimmt. Die Dokumentarische Methode beansprucht lediglich einen anderen Zugang, einen Wechsel der Analyseeinstellung. Demgegenüber schreibt FUHS: »Es wird auch eine Hierarchie des Verstehens und Interpretierens postuliert« (FUHS 2006: 210). 6 Übereinstimmungen zeigen sich in dieser Hinsicht in einigen Punkten auch zu der von ERVING

GOFFMAN vorgelegten Fotointerpretation. Denn auch GOFFMAN setzt ganz wesentlich auf der vor-ikonografischen Sinnebene an. Zentraler Gegenstand seiner Bildinterpretation sind die Gebärden, die er – unterhalb der Ebene einer Interpretation von Handlungen – als »small behaviors« bezeichnet (GOFFMAN 1979: 24).

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heißt, der Konnotationen und ist somit »eine Restbotscha, die aus dem besteht, was vom Bild übrig bleibt, wenn man (geistig) die Konnotationszeichen ausgelöscht hat« (Barthes  : $ [Herv. i.O.]).

Abb. 1: DIEGO VELÁZQUEZ, Las Meninas, 1656, Madrid, Museo del Prado (GREUB 2001: 295)

Hier zeigen sich auch Parallelen zu Michel Foucaults Bildinterpretation am Beispiel Diego Velásquez’ Gemälde Las Meninas (vgl. Abb. ). Foucault betont dort: »Man muß also so tun, als wisse man nicht« (Foucault : $). Dabei geht es im Sinne von Foucault nicht so sehr darum, das institutionalisierte Wissen auszuklammern (also das Wissen darum, dass es sich hier im Rahmen der Institution des Hofes um Hofdamen und -fräulein, um Höflinge und Zwerge handelt). Vielmehr geht es darum, dass wir die »Eigennamen auslöschen« müssen (wie er sagt), also das Wissen um die je fall- oder auch milieuspezifische Besonderheit des Dargestellten und seiner konkreten Geschichte, wenn man »die Beziehung der Sprache und des Sichtbaren offenhalten will, wenn man nicht gegen, sondern ausgehend von ihrer Unvereinbarkeit sprechen will« (vgl. ebd.: $).

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Die Differenzierung des ikonografischen Vor-Wissens: kommunikatives und konjunktives Wissen Foucault betont also, dass nicht alle sprachlichen Vorbegrifflichkeiten, nicht alle Namen ausgelöscht werden sollten, sondern lediglich die Eigennamen (vgl. ebd.). Am Beispiel eines Familienfotos bedeutet dieses Auslöschen von Eigennamen, dass wir zwar aufgrund gesicherter Informationen oder aufgrund von Vermutungen davon ausgehen können oder müssen, dass es sich bei den abgebildeten Personen um eine Familie handelt und wir somit unser entsprechendes Wissen um die Institution Familie aktualisieren. Sofern wir aber auch wissen oder vermuten, dass es sich um die Familie Meier handelt, sollten wir das, was wir über diese Familie mit ihrer konkreten Familienbiografie wissen, weitestmöglich suspendieren. Diese beiden Arten des Wissens lassen sich im Rahmen der Dokumentarischen Methode als kommunikatives Wissen einerseits und konjunktives Wissen andererseits bezeichnen. Bei kommunikativem Wissen handelt es sich um generalisierte und weitgehend stereotypisierte, genauer gesagt, um institutionalisierte Wissensbestände. Institutionen finden wir im Sinne von Berger! Luckmann dort, wo »habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden« (Berger/Luckmann : ). Dieses Wissen betrifft das Rollengefüge der Gesellscha, beispielsweise die Institution Familie. Davon zu unterscheiden ist das konjunktive Wissen als eines, welches sich hinter den Eigennamen verbirgt, ein Wissen um die Familie Meier in ihrer je individuellen, fallspezifischen Besonderheit einerseits und in ihrem milieutypischen Charakter andererseits. Auch dort, wo wir über ein valides familienbiografisches Vorwissen in sprachlich-textlicher Form verfügen (etwa auf der Basis von Interviews oder Gesprächsanalysen), sollten wir dieses im Zuge der Bildinterpretation suspendieren. Es zeichnen sich also gewisse Übereinstimmungen zwischen prominenten Ansätzen und Traditionen in der Bildinterpretation ab. Diese gehen dahin, dass spezifische Sinngehalte auf der konnotativen oder ikonografischen Ebene, welche in besonderer Weise durch (sprachliche) Narrationen, also durch unser textförmiges Wissen, geprägt sind, gleichsam suspendiert werden müssen, um auf diese Weise das (Spannungs-)Verhältnis von Bild und Sprache beziehungsweise Text »offen halten« zu können (vgl. Foucault : $) und somit das Bild der sprachlich-textlichen Logik nicht von vornherein unterzuordnen.

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Dem ist bisher im Bereich der qualitativen Methoden nicht Rechnung getragen worden. Im Bereich der Semiotik hat Roland Barthes einige beispielhae Interpretationen vorgelegt, die der skizzierten Suspendierung folgen, die also einsetzen, nachdem »man (geistig) die Konnotationszeichen ausgelöscht hat« (Barthes  : $ [Herv. i.O.]). Er hat jene Sinnebene, die das Resultat dieser Interpretationen darstellt, als »stumpfen Sinn« (»sens obtue«) bezeichnet (ebd.: %). Die Signifikanz dieser Sinnebene lässt sich in sprachlich-textlicher Form allenfalls in Gegensätzlichkeiten und Ambiguitäten fassen. So zeigt Barthes an Fotos aus dem Film Der Panzerkreuzer Potemkin von Eisenstein, dass beispielsweise die Mimik einer weinenden alten Frau weder im schlichten Sinne eine tragische Mimik ist noch in eine Komik umkippt (vgl. Barthes  : $f.).

Die essenzielle Ambiguität des Bildes: die Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen Roland Barthes unterscheidet den »stumpfen Sinn« von dem wesentlich weniger komplexen »entgegenkommenden Sinn«, welcher – ähnlich dem ikonografischen Sinngehalt – an stereotypisierenden Sinnzuschreibungen haet. Den stumpfen Sinn beschreibt Barthes in Kategorien der Widersprüchlichkeit, als »eine Schichtung von Sinn, die den vorhergehenden Sinn immer bestehen läßt, wie in einer geologischen Konstruktion; das Gegenteil sagen, ohne auf das Widersprochene zu verzichten« (Barthes  : %). Ein evidentes Merkmal des stumpfen Sinnes ist also dessen Widersprüchlichkeit. In ähnlicher Weise charakterisiert Eco jene Botscha, welche die Ebene der Konnotationen überschreitet und die er als »ästhetische Botscha« bezeichnet, durch ihre »produktive Ambiguität« (Eco %: %ff.). Aufgrund dieser Ambiguität »beginne ich zu beobachten, um zu sehen, wie sie gemacht ist« (ebd.: %). Es stellt sich hier also – analog zur ikonologischen Sinnebene bei Panofsky – im Zuge einer tiefer gehenden semantischen Analyse die Frage nach der Herstellung dieser Botscha, nach dem modus operandi des Herstellungsprozesses, die Frage nach dem Wie. Vielleicht kann man auch sagen: Während die konnotative Botscha oder (im Sinne von Barthes) der entgegenkommende Sinn stereotypisiert, bricht die ästhetische Botscha beziehungsweise der stumpfe Sinn diese Stereotypisierungen durch Ambiguitäten, Widersprüchlichkeiten oder Gegensätzlichkeiten auf.

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In ähnlicher Weise sieht Imdahl das Spezifische des ikonischen Sinnes in einer (wie er es nennt) »Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen« (Imdahl a:  ). Imdahl erläutert am Beispiel des Fresko Die Gefangennahme von Giotto (vgl. Abb. ), dass »vermöge besonderer Bildkomposition Jesus sowohl als der Unterlegene wie auch als

Abb. 2: GIOTTO, Gefangennahme, um 1305 Padua, Arena-Kapelle (IMDAHL 1996a: Abb. 45)

der Überlegene erscheint« (Imdahl %: $ ). Diese Sinnkomplexität basiert ganz wesentlich auf der planimetrischen Komposition, der Komposition des Bildes in der Fläche (genauer dazu weiter unten). In diesem Fall ist es die Schräge, die nach Imdahl die Komposition des Bildes entscheidend bestimmt. Diese Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen ist sprachlich nur schwer fassbar, und ihre sprachliche, intersubjektiv verständliche Vermittlung gelingt nur im direkten Verweis auf das Bild.7 Das Bild fügt sich also den binären Schematismen, dem EntwederOder, Ja oder Nein der Sprache nicht so ohne Weiteres und muss vom Standpunkt der in Sprache und Text fundierten sozialwissenschalichen Disziplinen in diesem Sinne undiszipliniert erscheinen. Der eigenlogischen Sinnstruktur des Bildes werden wir allerdings nur gerecht, wenn wir uns selbst bei der Interpretation diszipliniert verhalten. Wir müssen, wie oben dargelegt, unser sprachlich-textliches Vor-Wissen auf der ikonografischen oder konnotativen Ebene kontrollieren oder suspendieren.

7 Die Schräge wurde vom Autor (RB) nach IMDAHL 1996a, Abb. 45, eingezeichnet.

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In einem Forschungsprojekt zum familialen Habitus wurden dazu Familienfotos sowie schgespräche und Gruppendiskussionen ausgewertet (ausführlich: Bohnsack

: Kap. %.$). Dabei zeigte sich, dass wesentliche Elemente des Familienmilieus, des familialen Erfahrungsraums, ihren unmittelbaren Ausdruck in adäquater Weise lediglich in Übergegensätzlichkeiten, in Ambiguitäten finden konnten. Und zwar beispielsweise in der Relation beziehungsweise im Spannungsverhältnis zwischen dem Charakter des Provisorischen und Ungesicherten und der (sozialen) Isolation der abgebildeten Gruppe einerseits und der Rigidität und Strenge (in der planimetrischen Gesamtkomposition, aber auch in Mimik, Gestik und Körperhaltung) andererseits, welche die zentrale Stimmung des Bildes ausmacht. Der Habitus dieser Familie ließe sich somit formulieren als derjenige der Rigidität und Strenge im Kontext des Provisorisch-Ungesicherten. Der Zugang zu dieser Übergegensätzlichkeit hat sich dabei erst über das Bild erschlossen. Die eigengesetzliche Sinnstruktur des Bildes eröffnet dabei einen systematischen Zugang zur Eigengesetzlichkeit des Erfahrungsraums der Bildproduzenten, hier also zu demjenigen der Familie. Ein anderes Beispiel für eine derartige Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen findet sich bei Werbefotos. So zeigt die genaue Interpretation eines Werbefotos der (Bekleidungs-)Firma Burberry (dazu ausführlich: Bohnsack

: Kap. %. ), dass der Burberry-Style in einer Weise präsentiert wird, die nahelegt, dass es mit ihm gelingt, zugleich Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit und somit Gemeinschalichkeit zu erfahren und dennoch die Individualität zu wahren. Dabei wird in diesem Foto aber auch eine andere – für das Medium Werbefoto generell gültige – Übergegensätzlichkeit deutlich: Da die Werbung nur die Pose zur Verfügung hat (vgl. dazu Bohnsack

b; Imdahl d), steht sie vor dem (paradoxen) Problem, Individualität auf dem Wege des Posierens, also durch Stereotype darzustellen. In diesem Werbefoto geschieht dies – bezogen auf die bildinternen sozialen Relationen – in der Widersprüchlichkeit von (körperlicher) Nähe einerseits und Abwendung des Blicks andererseits. Genauer beziehungsweise von der formalen Komposition her betrachtet, handelt es sich darum, dass durch die planimetrische Komposition (also durch die für die ikonische Interpretation wesentlichste Dimension formaler Komposition) eine Zugehörigkeit der Personen untereinander hergestellt wird, die dann durch das Fehlen beziehungsweise die Verweigerung des Blickkontakts wieder negiert oder eingeschränkt wird. In der genauen Analyse eines Fotos der Zigarettenwerbung der Firma West (vgl. Bohnsack

b) zeigt sich, dass sich in der auf dem Foto abgebildeten Person der Sennerin (»Heidi«) eine ausgesprochen tra-

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ditionelle Rolle und Lebenswelt mit einem unkonventionellen Habitus zu einer Sinnkomplexität nach Art einer Hybridisierung von Stilelementen verbindet. Die ikonologische oder ikonische Interpretation hat es also unter anderem zu leisten, diese Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen auf den Begriff zu bringen. Während es bei Imdahl keineswegs aussichtslos erscheint, diese zu verbalisieren, beharrt Roland Barthes darauf, dass man den stumpfen Sinn »theoretisch situieren, aber nicht beschreiben kann« (Barthes  : $). »Der stumpfe Sinn ist nicht in der Sprache« (ebd.: ). Die Semiologie von Barthes wie die Semiotik von Eco tun sich gleichermaßen schwer, die Transzendenz der konnotativen Botscha in systematischer Weise mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kategorien zu erfassen. Eines der Probleme besteht sicherlich darin, dass der stumpfe Sinn (bei Barthes) beziehungsweise die ästhetische Botscha (bei Eco) nicht – wie der entgegenkommende oder konnotative Sinngehalt – an einzelnen Bildgegenständlichkeiten festgemacht werden kann, wie Roland Barthes dies versucht (was insbesondere am Beispiel des »punctum« evident wird; vgl. Barthes ). Vielmehr erschließt die tiefer gehende Semantik sich erst auf dem Weg über die Rekonstruktion der Gesamt-Komposition, die – wie weiter unten darlegt werden soll – wiederum an die Rekonstruktion der Formalkomposition des Bildes gebunden ist.

Zur Rekonstruktion der Formalstruktur des Bildes Mit Max Imdahl können wir drei Dimensionen der Formalstruktur, des formalen kompositionalen Au_aus des Bildes unterscheiden: die »planimetrische Ganzheitsstruktur«, die »szenische Choreographie« und die »perspektivische Projektion« (Imdahl a: ). Durch die perspektivische Projektion, durch die je unterschiedliche Herstellung von Perspektivität, werden in der bildspezifischen Art und Weise Räumlichkeit und Körperlichkeit konstruiert. Es wird damit eine Gesetzmäßigkeit in das Bild hineingetragen, die im wahrsten Sinne Einblicke in die Perspektive der abbildenden Bildproduzenten und ihre Weltanschauung, ihren Habitus eröffnet. So hat Panofsky den für die jeweilige Epoche typischen Modus von Perspektivität – insbesondere die Einführung zunächst der Achsen- und dann der Zentralperspektive in der Früh- und Hochrenaissance – als das zentrale Dokument für die Unterschiede zwischen der mittelalterlichen Weltanschauung und derjenigen der Renaissance herausgear-

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beitet (vgl. Panofsky %a,

a) (vgl. dazu auch Edgerton

sowie Bohnsack

: Kap. .%). Indem die Perspektivität dazu dient, Gegenstände in ihrer Räumlichkeit und Körperlichkeit identifizierbar zu machen, ist sie an den Gesetzmäßigkeiten der im Bild dargestellten Außen- oder Umwelt des Bildes orientiert. Im Rahmen empirischer sozialwissenschalicher Forschung ist die Rekonstruktion der Perspektivität dort sinnvoll, wo nicht (nur) das Produkt, sondern (auch) der Bildproduzent (der Maler oder Fotograf) Gegenstand der Untersuchung ist. Im Bereich der sozialwissenschalichen Foto-Interpretation haben wir es grundsätzlich mit der Zentralperspektive zu tun, und auf dieser Grundlage gewinnt die Rekonstruktion der Perspektivität ihre Bedeutung vor allem durch die Beantwortung der Frage, welche Personen und sozialen Szenerien durch den abbildenden Bildproduzenten, durch das ›Kameraauge‹ in Form des Fluchtpunktes und der Horizontlinie fokussiert und somit ins Zentrum des (sozialen) Geschehens gerückt werden und welche Ausprägung, welcher Modus der Zentralperspektive (beispielsweise: Frontal-, Übereck-, Froschperspektive) gewählt wird (dazu auch Bohnsack

: Kap. .%). Die szenische Choreografie des Bildes ist bei Imdahl definiert als »die szenische Konstellation der in bestimmter Weise handelnden oder sich verhaltenden Figuren in ihrem Verhältnis zueinander« (Imdahl a: ), also als deren soziale Bezogenheit. Dies betrifft die Bewegungen der abgebildeten Bildproduzenten, ihre räumliche Positionierung zueinander ebenso wie den Bezug ihrer Gebärden, aber auch Blicke, aufeinander. Die sozialwissenschaliche Bedeutung dieser Ebene der Formalstruktur des Bildes ist offensichtlich (vgl. dazu auch: Bohnsack

 Kap. .%). Allerdings stellt eine begriffliche Charakterisierung der körperlichen Positionierung der abgebildeten Bildproduzenten und ihrer Blicke sowie Gebärden auf einer Ebene unterhalb von Ikonografie und Ikonologie, also auf der vor-ikonografischen Ebene, hohe Anforderungen an eine Beschreibungssprache (vgl. dazu auch Bohnsack

: Kap. .%. ). Die Grundbegrifflichkeit vorliegender sozialwissenschalicher Handlungstheorien ist diesen Anforderungen kaum gewachsen. Zugleich wird deutlich, dass die Rekonstruktion der szenischen Choreografie im Sinne von Imdahl hinsichtlich ihrer Möglichkeiten der Formalisierung hinter die beiden anderen Dimensionen – Perspektivität und auch Planimetrie – weit zurücktritt. Sie lässt sich weniger als die anderen Dimensionen geometrisch und mathematisierbar formalisieren. Die Rekonstruktion der planimetrischen Komposition bezieht sich auf die formale Konstruktion des Bildes in der Fläche. Da das Bild selbst

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eine Fläche ist, ist es die planimetrische Position, welche das Bild in der ihm eigentümlichen Gesetzlichkeit bestimmt. Die Rekonstruktion der planimetrischen Komposition oder »planimetrischen Ganzheitsstruktur« führt uns das Bild als »ein nach immanenten Gesetzen konstruiertes und in seiner Eigengesetzlichkeit evidentes System« vor Augen (vgl. Imdahl :  ). Diese Dimension der Bildkomposition ist von besonderer Bedeutung für die ikonische Interpretation, da sie die entscheidende Grundlage für das sehende Sehen darstellt, welches Imdahl, wie dargelegt, vom wiedererkennenden Sehen (das heißt Gegenstände identifizierenden) unterscheidet. Die beiden anderen Dimensionen, die »perspektivische Projektion und die szenische Choreographie erfordern ein wiedererkennendes, auf die gegenständliche Außenwelt bezogenes Sehen [...]. Dagegen geht die planimetrische Komposition, insofern sie bildbezogen ist, nicht von der vorgegebenen Außenwelt, sondern vom Bildfeld aus, welches sie selbst setzt« (Imdahl a: ). Während also die perspektivische Projektion sich auf die Körperlichkeiten und Räumlichkeiten der Außenwelt oder Umwelt des Bildes bezieht, dort ihren Maßstab hat und in deren Wiedererkennen fundiert ist und für die szenische Choreographie das Gleiche in Bezug auf soziale Beziehungen und Konstellationen der Umwelt gilt, schafft die planimetrische Komposition ihre eigenen Gesetzlichkeiten, ihre eigene formale Ganzheitsstruktur im Sinne einer Totalität, eines selbstreferenziellen Systems sozusagen: »Das Ganze ist von vornherein in Totalpräsenz gegeben und als das sinnfällige Bezugssystem in jedem einzelnen kopräsent, wann immer jedes einzelne in den Blick genommen wird« (Imdahl a: $). Dies hat zweierlei Konsequenzen hinsichtlich der Bedeutung der Rekonstruktion der planimetrischen Komposition. Diese ist somit wesentliche Grundlage für eine dem Medium des Bildes beziehungsweise des Bildhaen überhaupt angemessene Interpretation, da diese nicht durch die Interpretationen anderer Darstellungsgattungen (vor allem ein sprachlich-textliches Vorwissen um die abgebildeten Gegenständlichkeiten) vorgeprägt ist. Zum anderen lenkt die Rekonstruktion der planimetrischen Komposition in ihrer systemischen Eigengesetzlichkeit die Analyseeinstellung auf die Totalität des im Bild Dargestellten.

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Der planimetrischen Kompositionsvariation kommt also für die ikonische Interpretation die entscheidende Bedeutung zu. Die Rekonstruktion der planimetrischen Komposition oder Koordination sollte somit im Zuge einer Bildinterpretation den ersten Schritt darstellen und unabhängig von der Ikonografie geleistet werden. In der abstrakten Malerei ist – wenn wir Gehlen folgen – beginnend mit dem Impressionismus eine zunehmende Hinwendung zur Planimetrie, zur »Verflächung des Darstellungsraumes und der dargestellten Gegenstände« zu beobachten (Gehlen : %): »Die entscheidende Erfindung bestand in der Zweischichtigkeit des Bildes, nämlich in seiner Verselbständigung zu einer Reizfläche eigenen Rechts bei dennoch festgehaltener Gegenständlichkeit« (ebd.: % [Herv. i.O.]). Die in der modernen Malerei zu beobachtende Verflächung des Bildes kann man im Sinne von Imdahl als Hinwendung zum Primat der planimetrischen Komposition des Bildes verstehen und somit als eine zunehmende Hinwendung zum »sehenden Sehen« (Imdahl

$: $). Allerdings ist – so möchte ich hier einwenden – nicht die Zweischichtigkeit des Bildes als solche als eine Erfindung des Impressionismus und der modernen Malerei anzusehen, sondern die Betonung des Primats der Fläche und ihres kompositionalen Au_aus gegenüber der Reproduktion von Gegenständlichkeit und Räumlichkeit. Auch in der Fotografie finden wir bereits diese Zweischichtigkeit. Wobei – aufgrund der vorgegebenen Zentralperspektive – die Orientierung an Gegenständlichkeit und Räumlichkeit nicht grundlegend zu hintergehen ist. Gleichwohl oder gerade deswegen ist die Ausdruckskra und Ästhetik des Fotos im Sinne der dem Bild eigentümlichen systemischen Eigengesetzlichkeit von der Gestaltungsleistung (der abbildenden wie abgebildeten Bildproduzenten) im Bereich der planimetrischen Komposition abhängig. Was die Interpretation des Bildes betrifft, so zwingt die Rekonstruktion der formalen, insbesondere der planimetrischen Komposition gewissermaßen dazu, die Einzelelemente des Bildes nicht isoliert, sondern grundsätzlich immer im Ensemble der anderen Elemente zu interpretieren, wohingegen wir im Common-Sense dazu neigen, einzelne Elemente des Bildes herauszugreifen. Wenn es uns – unter anderem mithilfe der Formalstruktur und gegebenenfalls auch der Farbkomposition (vgl. Imdahl

$) – gelingt, einen Zugang zum Bild als eigengesetzlichem oder selbst-referenziellem System zu erschließen, dann eröffnet sich uns auf diese Weise auch

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ein systematischer Zugang zur Eigengesetzlichkeit des Erfahrungsraums der Bildproduzenten, beispielsweise zum Erfahrungsraum einer Familie mit ihrem spezifischen familialen Habitus. Die Vorschläge zur Rekonstruktion der Formalstruktur des Bildes von Imdahl bieten erste Hinweise für die Entfaltung formaler Analysen im Bereich qualitativer Bildinterpretation, die es nun aufzugreifen gilt. Ansätze dazu sind im Bereich der dokumentarischen Bildinterpretation forschungspraktisch entwickelt worden (vgl. u.a.: Bohnsack

$a,

b,

a, b, d,

c,

,  b; Nohl

; Selke

 und andere Beiträge in: Fetzner!Selke

: Teil I; NentwigGesemann

,

; Dörner

; te Heesen

; Schäffer  ; Liebel ; Wopfner  ). Auch im Bereich der Textinterpretation hat sich die qualitative Methodik auf die Rekonstruktion der formalen Strukturen gestützt, um auf diese Weise den von den Textproduzenten selbst hergestellten (Gesamt-)Kontexten Rechnung tragen zu können. So kommen wir beispielsweise der Semantik offener Interviews dann auf die Spur, wenn wir rekonstruieren, wie die Interviews in sich durch unterschiedliche »Textsorten« strukturiert sind (vgl. Schütze ; Nohl

). Analog stellt im Bereich der Gesprächsanalyse und des Gruppendiskussionsverfahrens unter anderem die genaue Charakterisierung der Art der interaktiven Bezugnahme der Beteiligten aufeinander im Sinne der Analyse der »Diskursorganisation« (vgl. Bohnsack/Przyborski

) die Voraussetzung für tiefer greifende semantische Interpretationen dar. Für die sozialwissenschaliche Methodik der Bildinterpretation erscheint es in analoger Weise sinnvoll, sich der umfangreichen Vorarbeiten zur formalen Ästhetik im Bereich der Kunstgeschichte zu vergewissern. So hat Klaus Mollenhauer betont, »daß bereits die nur formalästhetischen Charakteristika inhaltliche Hinweise enthalten. In linguistischer Metapher gesprochen: Die BildSyntax zeigt schon der Bildsemantik ihren Weg« (Mollenhauer $: ). Derartige wie hier von Mollenhauer in »bildungstheoretischer Absicht« vorgelegte Arbeiten (ebd.: ), die auf eine »ästhetische Bildung durch Bilder« oder ein »Sich bilden durch Bilder« zielen (Schäffer

: f.), lassen sich zugleich zu einem Teil auch als Anregungen für die Entwicklung von qualitativen Methoden der Bildinterpretation lesen. Umgekehrt betrachtet ist die Systematisierung und Verfeinerung von intuitiven Kompetenzen der Rekonstruktion formaler

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Strukturen der Darstellung und der Interpretation nicht nur Grundlage für die Methoden-Entwicklung und die Ausbildung in Methoden. Vielmehr lässt sich die Vermittlung dieser intuitiven Kompetenzen (im Bereich der Fotointerpretation bis hin zur Gesprächsanalyse) auch als Beitrag zur ästhetischen Bildung verstehen – indem der Blick geschär wird für die ästhetischen Grundlagen profaner, alltäglicher Darstellung und Kommunikation.

Sequenzanalyse versus Kompositionsvariation Die Berücksichtigung der formalen Bildkomposition ist also entscheidende Voraussetzung eines Zugangs zu jener Sinnebene, die durch den Text und unser textförmiges Vor-Wissen, also das ikonografische Wissen, nicht zu vermitteln ist. Ein textförmiges Wissen und somit auch ein textförmiger Zugang zum Bild ist vor allem durch seine Sequenzialität, durch eine am zeitlichen Nacheinander orientierte Ordnung, charakterisiert. Diese findet unter anderem auch in der Narrativität sprachlicher Darstellungen ihren Ausdruck. Eine solche Bindung an Sequenzialität und Narrativität, an das (narrative) Nacheinander, kritisiert Imdahl an den konventionellen Interpretationsverfahren der Kunstgeschichte. Demgegenüber sei für das Bild die »Simultanstruktur« konstitutiv, ein »kompositionsbedingtes, selbst sinnstiendes Zugleich«, bei der das »Ganze [...] von vornherein in Totalpräsenz gegeben ist« (vgl. Imdahl a: $).8 Demzufolge ist ein Interpretationsverfahren, welches der Eigensinnigkeit der Bildhaigkeit gerecht werden will, mit einer sequenziellen oder sequenzanalytischen Vorgehensweise unvereinbar, steht ihr diametral entgegen. Indem (wie dargelegt) die erheblichen Erkenntnisfortschritte der qualitativen Methoden in den letzten zwanzig Jahren im Bereich der Textinterpretation gewonnen wurden, stellt für alle neueren qualitativen Methoden die Sequenzanalyse ein zentrales, bisweilen sogar das zentrale methodische Prinzip dar. Sobald wir allerdings – wie dies beispielsweise in der Objektiven Hermeneutik versucht worden ist 9 – die8 Vgl. dazu auch die Unterscheidung von diskursiven und visuellen Formen bei SUSANNE LANGER: Visuelle Formen »bieten ihre Bestandteile nicht nacheinander, sondern gleichzeitig dar, weshalb die Beziehungen, die eine visuelle Struktur bestimmen, in einem Akt des Sehens erfasst werden« (LANGER 1984: 99). 9 So geht THOMAS LOER, der sich selbst der Methodologie der Objektiven Hermeneutik verpflich-

tet sieht, zum einen von der Unterstellung aus, dass der Malprozess, der Prozess der Herstellung des Bildes, einem sogenannten »ikonischen Pfad« folgt, welcher sequenziell strukturiert ist. Und zum anderen muss dann unterstellt werden, dass dieser Pfad beziehungsweise mehrere mögliche Pfade für den Bildinterpreten sequenziell rekonstruierbar sind (vgl. LOER 1994).

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ses Prinzip direkt auf das Bild zu übertragen suchen, zielen wir an der Eigensinnigkeit des Bildes vorbei. Erfolg versprechender erscheint es, prinzipieller anzusetzen und die Frage zu stellen, in welchem generelleren methodischen Prinzip die Sequenzanalyse ihrerseits fundiert ist, um dann von dieser prinzipielleren Ebene her Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Bild- und Textinterpretation zu begründen. Dieses generellere Prinzip ist dasjenige der Operation mit Vergleichshorizonten: das Prinzip der komparativen Analyse. Die Sequenzanalyse stellt nur eine der möglichen Ausprägungen der Erkenntnis generierenden Methodik einer Operation mit Vergleichshorizonten dar (vgl. auch: Bohnsack

d: ff.). Die Bedeutung der komparativen Analyse für das Feld der Textinterpretation zeigt sich beispielsweise darin, dass sich mir das, was den Sinngehalt eines spezifischen Diskurses ausmacht, dadurch erschließt, dass ich dagegenhalte, wie dasselbe (oder ein vergleichbares) ema auch in anderer Weise, in einem anderen Diskurs hätte behandelt werden können oder (besser noch) bereits behandelt worden ist (vgl. dazu u.a.: Bohnsack

). Diese Vergleichshorizonte, die ich im Zuge der Interpretation des Diskurses an ihn herantrage, können also imaginativer Art oder in empirischen Vergleichsfällen fundiert sein. Auch im Medium der Bildinterpretation ist der Interpret als Beobachter in unterschiedlicher Weise und auf unterschiedlichen Ebenen auf Vergleichshorizonte angewiesen, die zunächst implizit bleiben. Dies gilt auch bereits auf der Ebene der Rekonstruktion der formalen Komposition eines Bildes. So vollzieht sich bereits deren Wahrnehmung vor dem Vergleichshorizont (intuitiv vollzogener) anderer, kontingenter Kompositionen. Imdahl hat die je spezifische Komposition eines Bildes – beispielsweise diejenige der mittelalterlichen Miniatur Der Hauptmann von Kapernaum – in experimenteller Weise verändert und konnte auf diese Weise zeigen, dass der Sinn einer verbildlichten Szene direkt mit der formalen Komposition variiert (vgl. u.a. Imdahl %: $ ff.). Diese experimentelle Veränderung der Komposition wie auch das Heranziehen von empirischen Vergleichsfällen, die sich durch systematische Variationen der Komposition voneinander unterscheiden, habe ich als Kompositionsvariation bezeichnet (vgl. Bohnsack

$a,

a). Auch an den (ikonologischen beziehungsweise dokumentarischen) Interpretationen Panofskys lassen sich (unbeschadet der Einsicht, dass das Besondere der Ikonizität bei Panofsky in systematischer Weise unberücksichtigt bleibt) die Prinzipien der komparativen Analyse und der Kompositionsvariation im Rahmen ausgewählter Fall-

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analysen in komplexer Weise rekonstruieren (vgl. Panofsky

a). Beispielha sind hier seine Untersuchungen zur Entstehung innovativer Stilelemente im italienischen Trecento, wie sie etwa in dem um $  entstandenen Abendmahl von Giotto in der Cappella dell’Arena ihren Ausdruck finden. Indem er die formale Komposition dieses Werkes (hier insbesondere die bahnbrechenden Innovationen im Bereich der Räumlichkeit und Perspektivität betreffend) einer komparativen Analyse mit Werken der Vorläuferperiode (also des $. Jahrhunderts) unterzieht, gelingt es ihm aufzuweisen, dass einzelne Elemente oder Merkmale dieser Komposition in diesen früheren Werken bereits entfaltet worden waren, diese Merkmale aber isoliert voneinander blieben, da sie in unabhängigen Strömungen dieser Vorläuferperiode anzutreffen waren: in der nordeuropäischen Hochgotik einerseits und der südeuropäischen byzantinischen Tradition andererseits. Erst im %. Jahrhundert, im Trecento, gelangten wesentliche Elemente dieser beiden Strömungen zu einer Synthese, so dass »der ›moderne‹ Raum in dem Moment geboren wurde, als der von Skulptur und Architektur genährte hochgotische Sinn für Volumen und Kohärenz auf jene illusionistische Tradition zu wirken begann, die in der byzantinischen und byzantisierenden Malerei fortgelebt hatte – mit anderen Worten: im italienischen Trecento.« (Panofsky

a: % [Herv. i.O.]). Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel einer komparativen Analyse findet sich dort, wo sich Panofsky der europäischen Malerei des . Jahrhunderts auf dem Wege des Vergleichs zweier ihrer zentralen »beinahe gleichzeitigen und relativ vergleichbaren« Werke der italienischen Malerei einerseits und der niederländischen Malerei andererseits nähert: Jan van Eyks Doppelbildnis des Giovanni Arnolfine und seiner Frau von %$% und Masolino da Panicanes Tod des Heiligen Ambrosius um %$ (vgl. Panofsky

a:  ). Indem er die Unterschiede und zugleich Gemeinsamkeiten der italienischen und flämischen Malerei an diesen beiden Fällen herausarbeitet und seine Interpretation somit einem Prinzip folgt, welches ich (ursprünglich: Bohnsack : Kap. %. sowie u.a. Bohnsack  a) als dasjenige des »Kontrasts in der Gemeinsamkeit« bezeichnet habe, gelingt es ihm, allein an diesen beiden ausgewählten Fällen den Stil der Malerei des Quattrocento und die für ihn konstitutiven Polarisierungen zu rekonstruieren und zu belegen.

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Während sich Panofsky von den drei Dimensionen der formalen Komposition des Bildes – Perspektivität, szenische Choreographie und planimetrische Komposition – in seinen komparativen Analysen beziehungsweise Kompositionsvariationen vor allem auf die formale Konstruktion von Perspektivität und Räumlichkeit stützt, stellt Max Imdahl, dem wir aus den dargelegten Gründen in der dokumentarischen Bildinterpretation folgen, die planimetrische Komposition, also die rein flächenhae Komposition, ins Zentrum der Kompositionsvariation. Die Methodisierung der Bildinterpretation bedarf also der Rekonstruktion der Formalstruktur des Bildes und – wie dargelegt – der Suspendierung des ikonografischen beziehungsweise konnotativen Sinngehalts, also des sprach- und textförmigen Vorwissens. Im Bereich sozialwissenschalicher Bildinterpretationen erscheint dies besonders notwendig, weil hier die Ikonografien, also die kommunikativen Wissensbestände, nicht in kodifizierter Form vorliegen – wie wir dies in der Kunstgeschichte beispielsweise in Form von Bibeltexten finden.

Zum Problem der Polysemie: die Vieldeutigkeit des Bildes Genauer betrachtet, ist es, wie dargelegt, nur die eine Dimension innerhalb der ikonografischen Sinnebene, die der Suspendierung bedarf, nämlich diejenige des konjunktiven Wissens im Unterschied zum kommunikativen Wissen. Bei letzterem handelt es sich um gesamtgesellschalich geteiltes, um institutionalisiertes Wissen (beispielsweise: »Auf dem Bild ist eine Familie – Mutter, Vater, drei Kinder – abgebildet«). Die Interpretationen oder Sinnzuschreibungen sind hier also relativ eindeutig, eben nicht vieldeutig oder »polysem«, wie es bei Roland Barthes heißt (Barthes  : $%). Demgegenüber ist auf der Ebene des konjunktiven Wissens, also im Hinblick auf die je besondere Geschichte, welche ›das Bild erzählt‹, eine nahezu unendliche Polysemie möglich, wenn der Interpret sein eigenes standortgebundenes Wissen in naiver Weise an das Bild heranträgt.10 Das Problem der Polysemie ist somit eine Variante jener Problematik des Verstehens und Interpretierens, auf die ich an anderer Stelle mit dem Problem der Standort- oder Seinsverbundenheit

10 Das bestätigt sich in den Analysen und auch methodischen Ausführungen derjenigen, die

daran festhalten, Bildanalyse als Narrationsanalyse zu betreiben. So heißt es bei MAROTZKI/ STOETZER, deren Forschungsprogramm auf »die Geschichten hinter den Bildern« zielt (dies. 2007: 15), »dass das Bild selbst nur in wenigen Fällen eine eindeutige Sinnstruktur entfaltet. Es kommt gerade darauf an, die Vielfältigkeit zur Geltung zu bringen« (ebd.: 23).

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beziehungsweise der Seinsgebundenheit der Interpretation eingegangen bin (vgl. u.a. Bohnsack

a: Kap.  ,  a). 11 Solange der Interpret diese Standortgebundenheit nicht reflektiert, nimmt er das Bild in den eigenen (milieu-, generations-, geschlechtsspezifischen) Erfahrungsraum hinein. Wir sprechen hier mit einem Begriff von Joachim Matthes auch von »Nostrifizierung« (vgl. Matthes  ). Diese interpretative Beliebigkeit könnte durch den Rückgriff auf textgebundenes Kontextwissen bewältigt werden. Dann aber würden wir uns, wie dargelegt, den Zugang zu den aus der Eigenlogik des Bildes zu erschließenden Sinnstrukturen durch das textliche Vorwissen verstellen. Hierin liegt einer der Gründe dafür, das konjunktive Vor-Wissen weitestmöglich zu suspendieren. Die Differenzierung des ikonografischen Vor-Wissens in ein kommunikatives und ein konjunktives Wissen eröffnet also neue Perspektiven auf das Problem der Polysemie und dessen Bewältigung. Weiterhin ist nun aber auch die Polysemie auf der Ebene des ikonografischen (respektive konjunktiven) Vor-Wissens von derjenigen auf der ikonologischen Ebene zu differenzieren (die Roland Barthes allerdings nicht systematisch herausgearbeitet hat, allenfalls ansatzweise mit dem »stumpfen Sinn«; vgl. ders.  : %). Der Unterschied zwischen der ikonografischen respektive konnotativen und der ikonologischen Ebene besteht, wie dargelegt, in einem fundamentalen Wechsel der Analyseeinstellung. Auf der ikonografischen Ebene frage ich danach, was dargestellt wird im Sinne der ematik, des Sujets des Bildes. Auf der ikonologischen Ebene frage ich nach dem Wie, nach dem modus operandi der Herstellung der Darstellung. Hier kann ich auf ein Kontextwissen vollständig verzichten. Allerdings ist die Beobachtung des modus operandi abhängig von meinen Vergleichshorizonten: Wenn ich den auf einem Familienfoto sich dokumentierenden Habitus als durch »Starrheit« und »Rigidität« gekennzeichnet identifiziere (vgl. das Beispiel in Bohnsack

: Kap. %.$.), rekurriere ich zunächst auf Vergleichshorizonte, welche sich auf der Grundlage meiner mentalen Bilder konstituieren. Diese sind das Produkt meiner je individuellen oder kollektiven Sozialisationsgeschichte und Element meines je spezifischen Erfahrungsraums, der sich in unterschiedliche kollektive oder konjunktive 11 Im Bereich der Kunstgeschichte wird diese Problematik – wenn wir GOTTFRIED BOEHM fol-

gen – traditionellerweise kaum in angemessener Weise methodologisch reflektiert. Es dominieren hier objektivistische Zugänge: »Das Pathos historischer Objektivität lebt von der – nicht selten undurchschauten – Überzeugung, daß sich zwar alles unter der Sonne historisch betrachten lasse, daß alles einen historischen Index trägt, außer dem einen: der wissenschaftlichen Einstellung des Forschers selbst. Nur sie vermag auch jenen objektiven, der Zeit enthobenen Anspruch auf Richtigkeit und Wahrheit zu garantieren« (BOEHM 1985: 124).

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(u.a. milieu-, geschlechts- und generationsspezifische) Erfahrungsräume differenzieren lässt. Jene derart fundierten Vergleichshorizonte, welche ich in der alltäglichen Interpretation intuitiv an das Bild herantrage, lassen sich allerdings methodisch-empirisch kontrollieren. Dies gelingt insoweit, als an die Stelle imaginativer Vergleichshorizonte solche treten, die empirisch fundiert sind, uns also in Form jener Art von Bildern vorliegen, die in die empirische Analyse einbezogen werden, die selbst Gegenstand empirischer Analyse sind. Wir sprechen in diesem Fall wie bereits erwähnt von komparativer Analyse (vgl. u.a. Bohnsack ,

d: ff.; Nohl

; als Forschungsbeispiel: Bohnsack

: Kap. %.$). Auf dem Wege der komparativen Analyse wird die Mehrdeutigkeit nicht eliminiert, sondern methodisch kontrolliert. Auf diese Weise wird der Blick auf die Mehrdimensionalität des Bildes eröffnet. Je nach Vergleichshorizont geraten unterschiedliche – einander aber nicht ausschließende – Dimensionen oder Erfahrungsräume des Bildes in den Blick. In der Dokumentarischen Methode wird diesem Umstand (auch im Bereich des Textes) mit der Mehrdimensionalität der Sinn- und Typenbildung Rechnung getragen (vgl. Bohnsack

c u.  a). Um es an einem Beispiel zu erläutern: Wenn wir das Foto einer Kommunionsfeier Anfang der  er Jahre in der DDR (vgl. Bohnsack

: Kap.$) vor dem Vergleichshorizont eines Fotos einer Kommunionsfeier aus der BRD der gleichen zeitgeschichtlichen Phase interpretieren, geraten uns kulturtypische Merkmale in den Blick, also Unterschiede des kulturtypischen Habitus der DDR zu demjenigen der BRD. Interpretieren wir dieses Foto einer Kommunionsfeier vor dem Vergleichshorizont eines anderen Kommunion-Fotos oder eines Fotos einer Jugendweihe, welches ebenfalls aus der DDR und aus derselben zeitgeschichtlichen Phase stammt (vgl. ebd. Kap. %.$), so geraten Milieudifferenzen in den Blick: beispielsweise kleinbürgerlicher versus proletarischer Habitus. Vergleichen wir innerhalb desselben Milieus und innerhalb derselben Kultur Fotos mit ähnlicher ematik, also ähnlichem Motiv oder Sujet, aus unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Phasen, geraten uns Differenzen generationsspezifischer Habitus in den Blick. Die methodisch kontrollierte Bewältigung des Problems der Polysemie, des Problems der (beliebigen) Vieldeutigkeit des Bildes, ist also an die Operation mit empirisch fundierten Vergleichshorizonten, an die komparative Analyse, gebunden. Im Bereich der Bildinterpretation sind wir – ebenso wie auch in demjenigen der Textinterpreta-

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tion – nicht erst auf der Stufe einer mehrdimensionalen Typenbildung auf Vergleichshorizonte angewiesen. Vielmehr erschließt sich uns, wie Imdahl gezeigt hat, bereits die formale Komposition eines Bildes in ihrer Besonderheit erst vor dem Vergleichshorizont anderer, kontingenter Kompositionsmöglichkeiten (vgl. Imdahl %). Im Unterschied zur Sequenzanalyse im Bereich der Textinterpretation gelingt der Zugang zur Eigenlogik des Bildes allerdings nur dann, wenn wir, wie Imdahl betont, dessen »Simultanstruktur« auf der Grundlage der formalen Komposition erfassen, als ein »kompositionsbedingtes, selbst sinnstiendes Zugleich«, bei der das »Ganze [...] von vornherein in Totalpräsenz gegeben ist« (vgl. Imdahl a: $). Sobald wir das Prinzip der Sequenzanalyse direkt auf das Bild zu übertragen suchen, zielen wir an dessen Eigengesetzlichkeit im Sinne von Imdahl vorbei. Die Sinnstruktur des Bildes bietet sich uns nicht, wie in Sprache und Text, im geordneten Nacheinander dar. Da wir aber im Rahmen der sozialwissenschalichen Disziplinen nicht umhin können, uns dem Bild im Medium von Sprache und Text interpretierend zu nähern, erscheinen die Bilder auch in dieser Hinsicht zunächst einmal undiszipliniert.

Simultaneität, Synchronizität und Sequenzialität Um die Differenz zwischen einer Sequenzanalyse und einer Analyse auf der Basis der Simultaneität zu präzisieren, ist es zunächst notwendig, den Begriff der Simultaneität von demjenigen der Synchronizität zu unterscheiden. Bei letzterem handelt es sich (entsprechend dem griechischen Wortstamm) um das gleichzeitige Zusammentreffen nicht zusammenhängender Ereignisabläufe, also unterschiedlicher Sequenzen. Der Begriff der Synchronizität bezieht sich also ausschließlich auf die zeitliche Dimension. Der Begriff der Simultaneität umfasst (entsprechend dem lateinischen Wortstamm) demgegenüber nicht allein die zeitliche Dimension, also die »Gleichzeitigkeit«, sondern auch weitergehende »Gemeinsamkeiten« (Duden  :  ). In einer spezifischeren Bedeutung meint Simultaneität laut Duden »die Darstellung von zeitlich od. räumlich auseinander liegenden Ereignissen auf einem Bild« (ebd. [Herv. i.O.]). Es ist eben genau diese Bedeutung, die bei Imdahl im Zentrum steht. Es soll deshalb der Begriff der Simultaneität als Obergriff zu dem – spezifischeren, weil rein zeitlichen – der Synchronizität verwendet werden. Die Simultaneität ist nach Imdahl wesentliches Element der Eigenlogik des Bildes »als eine solche Vermittlung von Sinn, die durch nichts anderes zu ersetzen ist« (Imdahl %: $

). In dem Potenzial

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zu einer (in diesem Sinne verstandenen) Simultaneität des Bildes ist dann auch ganz wesentlich die dem Bild eigentümliche »Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen« (Imdahl a:  ) verankert.

Simultaneität in der Fotografie Auf den ersten Blick scheint es, als sei die Simultaneität in diesem Sinne eine Besonderheit der Malerei, auf die der Begriff bei Imdahl zunächst ja auch bezogen ist, und wäre somit auf die (nicht-montierte) Fotografie nicht zu übertragen. Denn nach Imdahl ist es nicht nur so, dass das, was wir auf dem Gemälde oder der Zeichnung sehen, nicht »durch sprachliche Narration ersetzt werden kann«. Vielmehr hat es auch nicht »in der Empirie eines Geschehens ein Vorkommen« (Imdahl %: $ ). Mit anderen Worten: Es ist nicht schlicht die Abbildung des empirisch Beobachtbaren. Würden wir die Fotografie als die ›reine Abbildung‹ des empirisch Beobachtbaren verstehen, so träfen die von Imdahl geltend gemachten spezifischen Gestaltungs- und Kompositionsleistungen des Bildes, an denen er besonders die Simultanstruktur hervorhebt, auf sie nicht zu. Wir würden die Fotografie dann in der Sprache von Roland Barthes als »reine Denotation« begreifen, was dieser als »Mythos« bezeichnet, also als eine in den Selbstverständlichkeiten des Common-Sense verwurzelte Unterstellung oder Vorstellung (vgl. Barthes  : %). Weder im Sinne von Barthes noch im Sinne von Eco, auf deren unterschiedliche Argumentationen ich hier nicht eingehen kann, ist das Foto als reine Abbildung zu verstehen. Im Sinne von Eco haben wir es auch auf der denotativen Ebene mit einem »Code« zu tun. Dieser beruht zwar nicht auf verbalem Vor-Wissen, aber auf »Konventionen«, und zwar »viel mehr als in der verbalen Sprache« (Eco %: %%). Das Spiel mit derartigen Konventionen und die daraus resultierenden Gestaltungs- und Kompositionsmöglichkeiten, in denen sich die Habitus der abbildenden und abgebildeten Bildproduzenten dokumentieren, sind aber nicht allein konstitutiv für die Malerei, sondern auch bereits für die Fotografie – und auch dort, wo diese nicht montiert ist. Somit ist auch eine auf der Simultaneität basierende Sinnkomplexität des Bildes nicht allein für die Malerei, sondern auch für die Fotografie konstitutiv. Auch Bourdieu können wir so interpretieren, dass derartige Gestaltungsmöglichkeiten der Fotografie – und auch der Amateurfotografie – offenstehen beziehungsweise untrennbar mit ihr verbunden sind.

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Danach »wählt, jedenfalls innerhalb der theoretischen Unendlichkeit aller Photographien, die ihr technisch möglich sind, jede Gruppe praktisch ein endliches und bestimmtes Sortiment möglicher Gegenstände, Genres und Kompositionen aus […] so daß noch die unbedeutendste Photographie neben den expliziten Intentionen ihres Produzenten das System der Schemata des Denkens, der Wahrnehmung und der Vorlieben zum Ausdruck bringt, die einer Gruppe gemeinsam sind« (Bourdieu $a: ). Die hier getroffene Wahl ist also keineswegs auf die expliziten Intentionen der Produzenten zu reduzieren – und zwar ebensowenig wie dies im Bereich der Kunst der Fall ist.12 Ebenso wie der » ›Habitus‹ […] den Künstler mit der Kollektivität und seinem Zeitalter verbindet und, ohne dass dieser es merkte, seinen anscheinend noch so einzigartigen Projekten Richtung und Ziel weist« (vgl. Bourdieu  : $ ), gilt dies auch für die Amateurfotografen – auch wenn deren Projekte nicht unbedingt als »einzigartig« erscheinen (vgl. ebd): »Diese objektive Intention, die sich niemals auf die bewusste Absicht des Künstlers beschränkt, ist eine Funktion der Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die der Künstler seiner Zugehörigkeit einer bestimmten Gesellscha oder Klasse verdankt« (ebd.: %), also einem spezifischen Milieu oder konjunktiven Erfahrungsraum. Wenn wir (wie dargelegt) vom Foto als gemeinsamen Produkt der abbildenden und abgebildeten Bildproduzenten ausgehen, so ist der Schnappschuss nicht lediglich als Akt des Registrierens der vorgefundenen, das heißt durch die abgebildeten Bildproduzenten hergestellten Simultaneität zu verstehen. Vielmehr wird aus der Fülle von Möglichkeiten gegebener Simultaneitäten durch die abbildenden Bildproduzenten – gemäß ihrer Schemata von Präferenzen, gemäß ihrem Habitus – eine spezifische ausgewählt. Anders formuliert: Die mit der Fotografie verbundene code- oder habitusspezifische Transformation oder Konstruktion umfasst – so ist weiterführend zu argumentieren – 12 PANOFSKY erläutert das Verhältnis zur Intentionalität mit Bezug auf den von ALOIS RIEGL

stammenden Begriff des »Kunstwollens«, welcher »die Summe oder Einheit der in demselben [dem Kunstwerk; RB] zum Ausdruck gelangenden, es formal wie inhaltlich von innen heraus organisierenden schöpferischen Kräfte bezeichnen sollte« (PANOFSKY 1964b: 30). Er grenzt diese Bestimmung des Begriffes »Kunstwollen« von der »missverständlichen Deutung« des Begriffes ab, welche »die künstlerische Absicht, das künstlerische Wollen, als den psychologischen Akt des historisch greifbaren Subjektes ›Künstler‹ betrachtet« (ebd.: 31 [Herv. i.O.]).

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nicht allein die Selektivität der Herstellung des Arrangements oder der Komposition, sondern auch die Selektivität in der Situationsauswahl der Ablichtung gegebener Arrangements, vorgefundener Kompositionen. Es geht also nicht allein darum, wie die Bildgegenständlichkeiten durch die abbildenden und gegebenenfalls auch durch die abgebildeten Bildproduzenten zueinander komponiert und somit in ein Verhältnis der (zeitlichen und sachlichen) Simultaneität zueinandergebracht werden. Vielmehr geht es auch darum, dass (aufgrund der Entscheidung im Sinne der intentionslosen Intention der abbildenden, aber durchaus auch der abgebildeten Bildproduzenten) gerade diese Situation abgelichtet wurde, in der die Bildgegenständlichkeiten sich in einem so und nicht anders gearteten Verhältnis der Simultaneität zueinander befanden. Bei Bourdieu heißt es dazu: »In Wirklichkeit hält die Photographie einen Aspekt der Realität fest, das heißt das Ergebnis einer willkürlichen Wahl und somit einer Bearbeitung: Von den Eigenschaen eines Gegenstandes werden nur jene erfasst, die in einem besonderen Augenblick und unter einem besonderen Blickwinkel hervortreten« (Bourdieu $b: ). Diese Selektivität, welche die Bildgegenständlichkeiten in ein je spezifisches Verhältnis der Simultaneität zueinanderbringt, ist Ausdruck der Alltagsästhetik und deren stilistischer Präferenzen. Deren Rekonstruktion bietet die Möglichkeit, Ausführungen der Kunstgeschichte, die auf die ästhetischen Grundlagen der Kunst zielen, sowie auch die Standards und die Methodik kunstgeschichtlicher Interpretation sozialwissenschalich auch für die profane Fotografie relevant werden zu lassen. So betont auch Jürgen Wittpoth in Bezug auf die Unterscheidung in » ›einfache‹ Fotos (Schnappschüsse), die Ausschnitte der Wirklichkeit so aufnehmen/abbilden, wie wir sie vorfinden« und den »professionellen« und »künstlerischen« Fotografien: »Mittlerweile denke ich, dass diese Unterscheidung weniger von der Sache als vielmehr von der besonderen Art der wissenschalichen Arbeiten nahegelegt wird, die wir zur Fotografie vorfinden« (Wittpoth

$: ). Die Frage, inwieweit die Methoden der Kunstgeschichte auf die profane Fotografie übertragbar sind, ist bei Bourdieu schon im tel seines Buches zur Fotografie beantwortet: Eine illegitime Kunst oder – im Original – Un art moyen (vgl. Bourdieu et al. , $a, b). Zum an-

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deren ist diese Frage bei Bourdieu (implizit) bereits dort beantwortet worden, wo er die Ikonologie von Panofsky in ihrer Relevanz für die sozialwissenschaliche Methodik herausgearbeitet hat (vgl. Bourdieu  :  ff.). Im Bereich der qualitativen oder rekonstruktiven Textinterpretation sind wir es inzwischen gewohnt, die Texte mit ähnlicher Sorgfalt und Systematik zu behandeln, welche die Literaturwissenscha künstlerisch anerkannten Produkten angedeihen lässt. Wir machen dabei immer wieder die – für manche immer noch erstaunliche – Entdeckung, dass auch diese alltäglichen Produkte in einer Weise durchkomponiert und organisiert sind, die man ihnen zunächst nicht ansieht. Das, was uns im Bereich der Textinterpretation selbstverständlich erscheint, stößt im Bereich der Bildinterpretation nun wiederum auf eben jene Vorbehalte, wie wir sie im Bereich der Textinterpretation insbesondere aus den  er Jahren kennen: Die elaborierten Verfahren, wie sie in Anlehnung an jene der Kunstgeschichte entwickelt werden, seien für nicht-professionelle Produkte und spontane Schnappschüsse nicht geeignet. Aber gerade beim spontanen Schnappschuss dokumentieren sich in der Selektivität der Auswahl des Bildausschnittes, also der Kadrierung, der perspektivischen Fokussierung und des Arrangements der Bildgegenständlichkeiten in ihrer je spezifischen Simultaneität, die Stile, die stilistischen Präferenzen der abbildenden und (teilweise auch) der abgebildeten Bildproduzenten.13 Durch die intuitive Wahl des Bildausschnitts, der Kadrierung, wird spontan unter anderem auch über die planimetrische Komposition des Schnappschusses und damit in besonderer Weise über die eigenlogische Struktur des Bildes als selbstreferenzielles System entschieden. »Kadrierung ist die Kunst, Teile aller Art für ein Ensemble auszuwählen. Dieses Ensemble ist ein relativ und künstlich geschlossenes System« (Deleuze : $). Somit finden beim Schnappschuss, insbesondere auch in der Kadrierung, Stil und Habitus der Bildproduzenten ihren Ausdruck. In der Praxis des Forschungsprozesses können wir dann – im Zuge der notwendigen Auswahl der Fotos, die dann schließlich interpretiert werden – den stilistischen Präferenzen der Bildproduzenten in ihrer eigentümlichen Selektivität noch einmal in verdichteter Form zum Ausdruck verhelfen, wenn wir ihnen (also beispielsweise den Familienan-

13 Dies weist Analogien auf zur Bedeutung der Stegreiferzählung, also der spontanen erzähleri-

schen Darstellung in der Methodologie des narrativen Interviews (vgl. SCHÜTZE 1987) oder der Bedeutung der Generierung von Selbstläufigkeit in der Methodologie von Gruppendiskussionen (vgl. BOHNSACK 2008a: Kap. 12.1).

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gehörigen) die Auswahl jener Schnappschüsse (aus ihrem Fotoalbum) überlassen, die sie uns für eine Interpretation zur Verfügung stellen. Wenn wir also ein Familienfoto interpretieren, so hat dies mehrere Etappen der Selektivität im Rahmen des familienspezifischen Erfahrungsraums durchlaufen: die Selektivität im Moment der Ablichtung und durch die Wahl dieses Moments, gegebenenfalls die technische Bearbeitung durch die familialen Amateurfotografen nach der Ablichtung sowie die Auswahl der Fotos durch Angehörige der Familie für die Forscher. Die in der Selektivität im Moment der Ablichtung in ihrer je spezifischen Simultaneität hergestellte Komposition und die sich darin dokumentierenden stilistischen Präferenzen der abbildenden und (teilweise auch) der abgebildeten Bildproduzenten werden dadurch sozusagen authentisiert oder auch verworfen oder korrigiert. Und eine derartige Authentisierung als letzter Selektionsfilter ist auch im Bereich der Kunst von zentraler Bedeutung, wie Ernst Gombrich betont: »Es ist nicht wichtig, ob man vorhersehen konnte, wo das Papier, aus dem Picassos unheimliche Maske entstand, reißen würde. Wichtig ist nur, warum er es au_ewahrt hat« (Gombrich : $ ).

Simultaneität und Synchronizität Verhältnisse der Gleichzeitigkeit finden wir auch in anderen Bereichen der Darstellung als derjenigen des Bildes: so beispielsweise im synchronen Verhältnis von sprachlich-textlichem Ausdruck zu den sprachbegleitenden Äußerungen vokaler Art wie Intonation einerseits oder körpergebundenen Ausdrucksformen wie Gestik und Mimik andererseits. In allen diesen Fällen handelt es sich aber um (synchrone) Relationen zwischen unterschiedlichen Darstellungsmedien. Im Sprachgebrauch der qualitativen Methoden kann man auch sagen, dass das eine Medium (z.B. der körperliche Ausdruck) den Kontext für das andere Medium (z.B. den sprachlichen Ausdruck) darstellt beziehungsweise, dass die Medien wechselseitig füreinander Kontexte bilden. Die Besonderheit des Mediums der Ikonizität, des ikonischen Codes, liegt aber offensichtlich darin, dass hier die Gleichzeitigkeit, die ich mit Imdahl als Simultanstruktur oder Simultaneität bezeichne, innerhalb desselben Mediums möglich und konstitutiv für die Eigenlogik und Eigensinnigkeit dieses Mediums ist, wohingegen dies im Medium der Sprache und des Textes eher die Ausnahme beziehungsweise – wie dies in der Konversationsanalyse (vgl. Sacks ) verstanden wird – die Abweichung darstellt.

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Simultaneität der Bewegungen der abgebildeten Bildproduzenten Konstitutiv ist die Simultaneität für die Eigenlogik des Mediums Bild und Fotografie nicht nur dort, wo sie eine Leistung der abbildenden Bildproduzenten, insbesondere der Fotografen, darstellt, sondern auch im Hinblick auf den verstehenden und den methodischen Zugang zur Semantik der Bewegungen der abgebildeten Bildproduzenten (siehe ausführlich dazu: Bohnsack

: Kap. .). Der Klassiker der Bewegungsanalyse Ray Birdwhistell hat in seinen empirischen Analysen gezeigt, dass sich der Sinngehalt von Gebärden, den sogenannten Kinemorphemen, erst aus der genauen Rekonstruktion der sie konstituierenden Elemente, der Kineme, erschließen lässt. Hiermit ist zunächst das simultane Zusammenspiel innerhalb abgegrenzter Bereiche des Körpers gemeint (vgl. Birdwhistell  : ). Idealerweise umfasst die Rekonstruktion des simultanen Zusammenspiels aber den gesamten Körper, orientiert sich an der » ›whole body‹ conception«, wie Birdwhistell betont (ebd.:  [Herv. i.O.]). Für eine Videoanalyse im Gegensatz zu einer Bildanalyse bedeutet dies, dass sich wesentliche Bereiche der Semantik von Gebärden in valider Weise erst auf der Grundlage von ›eingefrorenen‹ Bildern, von Standbildern, stills oder Fotogrammen erschließen, worauf auch bereits Roland Barthes nachdrücklich hingewiesen hat (vgl. Barthes  : %). Für den Bereich der Aktionskunst betont Elisabeth Jappe, dass sich Film und Video »nicht bewährt« hätten: »Eher hat sich das eigentlich viel statischere Photo durchgesetzt – zumindest, wenn eine geeignete Person am Auslöser war« (Jappe $: ).

Simultaneität und Rezeptionsprozess Die bisherigen Ausführungen zur Simultaneität betrafen den Bereich der Bildinterpretation als Produktinterpretation. Davon zu unterscheiden ist die Simultaneität im Bereich der Rezeption (welche der derart produzierten Simultaneität allerdings gerecht zu werden hat). Susanne Langer betont dabei wie bereits erwähnt, »daß visuelle Formen nicht diskursiv sind. Sie bieten ihre Bestandteile nicht nacheinander, sondern gleichzeitig dar, weshalb die Beziehungen, die eine visuelle Struktur bestimmen, in einem Akt des Sehens erfaßt werden« (Langer %: ). Unter »Sehen« wird hier jedoch sowohl die sinnliche Wahrnehmung als auch die Interpretation, die interpretative Sinnbildung, also die Se-

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mantik des Visuellen, verstanden. Die Frage der Simultaneität im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung ist als ein wahrnehmungspsychologisches Problem für unsere Betrachtung von sekundärer Bedeutung. Uns geht es um die Prozesse der interpretativen Sinnbildung, der Semantik. Der Zugang zur Simultaneität ist hier Voraussetzung für die Erfassung von Ganzheitlichkeit. Die Erfassung von Ganzheitlichkeit auf dem Wege der Simultaneität findet ihren Ausdruck auch im hermeneutischen Zirkel, in dem zirkelhaen Oszillieren zwischen Teil und Ganzem. Den Zugang zur Ganzheitlichkeit auf dem Wege der Simultaneität muss man sich aber in der Regel erst erarbeiten. Dabei kann der Weg hin zu einer die Totalität des Bildes erfassenden Simultaneität durchaus sukzessive vonstattengehen. Der Unterschied von Bild- und Textinterpretation besteht aber wohl darin, dass es – aufgrund der essenziellen Simultaneität der Semantik des Bildes – nicht gelingt, diese Semantik an Teilen oder Abschnitten des Bildes festzumachen, so wie wir dies beispielsweise bei der Auswahl von Passagen aus Gesprächen tun. Das Bild ist mit den Worten von Max Imdahl eine »in seiner Ganzheitlichkeit invariable und notwendige, das heißt alles auf alles und alles aufs Ganze beziehende Simultanstruktur. Diese erzwingt keineswegs ein starres Hinsehen auf das Bildganze, wohl aber eröffnet sie ein Sehen simul und singulariter: Das Ganze ist von vornherein in Totalpräsenz gegeben und als das sinnfällige Bezugssystem in jedem Einzelnen kopräsent, wann immer jedes Einzelne in den Blick genommen wird« (Imdahl a: $). Sofern wir es mit gegenständlichen Bildern zu tun haben, kommt den abgebildeten Objekten zwar ihre je zeichenhae Bedeutung zu. Für die Identifikation des ikonischen (oder ikonologischen) Sinngehalts, für den ein »sehendes Sehen« (Imdahl

$: $) konstitutiv ist, stellen diese Objekt- oder Gegenstandsbedeutungen, wie ein »wiedererkennendes Sehen« (ebd.) sie identifiziert, jedoch nicht die entscheidenden Elemente dar. Sie führen den Betrachter, der an jenen Sinngehalten interessiert ist, wie sie nur durch das Bild zu vermitteln sind, eher auf Ab- oder Nebenwege. Vielmehr geht es im Bereich der ikonologischen oder ikonischen Bildinterpretation darum, dass »das wiedererkennende Sehen und das sehende Sehen zu den ungeahnten oder unvordenklichen Erfahrungen eines erkennenden Sehens zusammenwirken« (Imdahl a:  ).

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Schluss Fortschritte im Bereich disziplinierter, das heißt empirisch-methodisch fundierter Zugänge zum Bild setzen eine Transdisziplinarität insbesondere zwischen den Sozialwissenschaen und Geisteswissenschaften voraus. Hier liegt und lag schon immer die wesentliche Leistung der qualitativen Methoden: nämlich in der Vermittlung moderner sozialwissenschalicher Empirie mit anspruchsvoller eoriebildung und insbesondere den geisteswissenschalichen Traditionen (dazu auch: Bohnsack

a). Bei der Bildinterpretation ist es im Bereich der letzteren neben der Philosophie vor allem die Kunstgeschichte, die uns Zugänge zum Bild in seiner Eigenlogik und Eigensinnigkeit eröffnet. So kommt denn auch W.J.T. Mitchell, der den Begriff des »pictorial turn« geprägt hat (Mitchell %: , : ), zu dem Ergebnis: »Wenn sich tatsächlich ein pictorial turn in den Humanwissenschaften ereignet, so könnte sich die theoretische Marginalität der Kunstgeschichte durchaus in eine Position des intellektuellen Zentrums wandeln, indem nämlich die Humanwissenschaen von ihr eine Erklärung ihres grundlegenden theoretischen Gegenstandes erwarten« (Mitchell : ). Zugleich betont Mitchell die hervorragende Stellung der Ikonologie Panofskys in diesem Zusammenhang, wie auch Horst Bredekamp feststellt, der die Arbeiten von Mitchell als Versuch interpretiert, »Erwin Panofskys Ikonologie zu aktualisieren«14 (Bredekamp

%: ). Und Panofsky selbst hat, wie erwähnt, explizit gemacht, in welch grundlegender Weise seine Ikonologie durch die Dokumentarische Methode von Karl Mannheim beeinflusst wurde. Damit hat er in seiner Ikonologie auch von vornherein die Brücke zur sozialwissenschalichen Methodologie und Methodik geschlagen. Das Bild wird zum Dokument für die Weltanschauung, genauer: für den Habitus einer Epoche oder eines Milieus. Allerdings konnte, wenn wir vor allem der Kritik von Max Imdahl folgen, Panofsky dem Bild in seiner Eigenlogik und Eigensinnigkeit 14 MITCHELL bezeichnet die Ikonologie von PANOFSKY als »inevitable model and starting point

for any general account of what is called ›visual culture‹ « (MITCHELL 1994: 16 [Herv. i.O.]). Seine gleichwohl artikulierte Kritik an PANOFSKY zeigt gewisse Parallelen zu IMDAHL, indem MITCHELL bezweifelt, ob PANOFSKY den Zugang zur Eigensinnigkeit der Ikonik gefunden habe: »Panofsky’s is an iconology in which the ›icon‹ is thoroughly absorbed by the ›logos‹, understood as a rhetorical, literary, or even (less convicingly) a scientific discourse« (ebd.: 28 [Herv. i.O.]).

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letztlich nicht umfassend gerecht werden. Erst wenn auch Bilder als selbst-referenzielle Systeme zum Gegentand der Analyse werden, wie sich dies im Bereich der qualitativen Methoden im Zusammenhang mit dem linguistic turn auf dem Wege der Textinterpretation durchzusetzen vermochte, werden wir hier ähnliche Fortschritte zu verzeichnen haben wie im Bereich der Textinterpretation, sodass wir dann dem viel beschworenen iconic turn auch in der qualitativen respektive rekonstruktiven Sozialforschung zumindest in Ansätzen näherkommen werden. Dabei geht es insbesondere auch um einen Wechsel in der Analyseeinstellung, der eine vom sprachlich-textlichen Vor-Wissen in kontrollierter Weise weitgehend unabhängige Interpretation des Bildes ermöglicht. Beinahe gleich wichtig ist es jedoch, gemeinsame Standards oder methodologische Prinzipien zu entwickeln (vgl. auch: Bohnsack

a), die gleichermaßen für die Text- wie für die Bildinterpretation ihre Gültigkeit haben. Als Beispiele für derartige gemeinsame Standards lassen sich – neben dem Prinzip der Behandlung von Texten ebenso wie Bildern als selbstreferenziellen Systemen – wie bereits erwähnt der Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie nennen sowie die Rekonstruktion der Formalstruktur von Bildern wie auch von Texten, um auf diese Weise die Einzelelemente eines Bildes oder Textes in den übergreifenden Kontext integrieren zu können, und – nicht zuletzt – die komparative Analyse. Die Anwendung oder Realisierung dieser gemeinsamen Standards und dieser methodologischen Analyseeinstellung im Bereich der Interpretation von Bildern ist allerdings nachhaltig zu unterscheiden von deren Realisierung in der Textinterpretation, wenn es darum gehen soll, der Ikonizität, dem Bild, in seiner ihm eigentümlichen Sinnstruktur gerecht zu werden. In diesem Sinne habe ich mit Bezug auf Semiotik, Philosophie und Kunstgeschichte zu zeigen versucht, dass es bei der Entwicklung von Methoden der Bildinterpretation darum gehen muss, »Bilder nicht mehr mit Texten zu erklären, sondern von Texten zu unterscheiden« (Belting

: ). Im Bereich der sozialwissenschalichen Disziplinen tun wir uns deshalb besonders schwer mit diesem Anspruch, weil wir nicht umhinkönnen, alle unsere Bemühungen um den verstehenden Zugang zum Bild letztlich wieder in Interpretationen, also in begrifflich-sprachlichen Explikationen, resultieren zu lassen, gemessen an deren Gewohnheiten die Sinnstruktur des Bildes zunächst immer erst einmal undiszipliniert erscheinen muss.

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Burkard Michel

Der Widerstand der Bilder Undisziplinierte Bilder. Fotografie als dialogische Struktur lautet der tel, der die einzelnen Beiträge dieses Bandes inspiriert hat. Es ist dies die Verdichtung eines Satzes von W.J.T. Mitchell. Bilder und das Konzept der visuellen Kultur sind nach Ansicht Mitchells nicht einer bestimmten wissenschalichen Disziplin zuzuordnen (vgl. Mitchell

: ), sondern an den Rändern unterschiedlicher Disziplinen angesiedelt, wo sie für Turbulenzen und Inkohärenzen sorgen (vgl. ebd.). Das Gebiet der visuellen Kultur sei daher eher eine »Undisziplin« (ebd.:  [Herv. i.O.]), deren unterschiedliche Formen der Undiszipliniertheit es zu untersuchen gelte (vgl. ebd.: ). Die Undiszipliniertheit der Bilder lässt sich jedoch auch ganz wörtlich verstehen: Bilder lassen sich nicht nur schwer disziplinär verorten, sie leisten auch selbst Widerstand. Als undiszipliniert und schwer zu domestizieren erscheint in dieser Perspektive insbesondere der Bildsinn, auf den die Frage nach der Undisziplin zugespitzt werden soll (wohl wissend, dass Bilder nicht nur als sinnhae Bedeutungsträger zu verstehen, sondern auch als sinnlich anschaubare Bildflächen erlebbar sind – „diesseits der Hermeneutik“ (vgl. Gumbrecht

%) und unsematisch). Das widerständige Potenzial des Bildsinns soll anhand seiner Auflehnung gegenüber zwei Instanzen der Disziplinierung diskutiert werden: Die erste Disziplinargewalt, die am Sinn der Bilder scheitert, sind die Bildproduzenten, wenn sie Bilder intentional zur Erreichung kommunikativer Ziele einsetzen. Die zweite Instanz, die den Bildsinn zu bändigen versucht, ist die Sprache. Sie kann – im

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Gegensatz zur ersten Instanz – eher auf der Seite der Bildrezipienten angesiedelt werden.

1 Der Widerstand der Bilder gegen ihre Urheber Am Beginn der Bildsemiotik steht ein Satz von Roland Barthes – quasi in Stein gemeißelt: »Jedes Bild [ist] polysemisch« (Barthes  : $%). Bilder sind demnach grundsätzlich vieldeutig. Hierin kann ein anarchisches Element gesehen werden, das sich gegen zielgerichtete Kommunikationsabsichten von Bildproduzenten auflehnt und sich dagegen wehrt, zur Erfüllung ihrer Zwecke eingespannt zu werden. Denn wenn »jedes« Bild offen für eine Vielzahl von Sinnbildungen ist (s.o.), dann entzieht sich die Sinnbildung der semantischen Steuerung und Kontrolle durch den Bildproduzenten. Angesichts einer Pluralität möglicher Lesarten ein und desselben Bildes kann er nicht eine bestimmte Lesart als die intendierte durchsetzen, die Sinnbildung entgleitet seiner Macht. Diese ese stellt einerseits eine Provokation gegen das ›Urheberrecht‹ der Bildproduzenten dar, andererseits aber auch gegen den gesunden Menschenverstand: Gibt es etwas Eindeutigeres als ein Bild? Was soll zum Beispiel die Abbildung eines Kühlschranks bei ebay (vgl. Abb. ) anderes bedeuten als das entsprechende Gerät? Zwar mag es Bilder geben, die erhebliche Interpretationsprobleme stellen und insofern zu einer Vielzahl an Sinnbildungen führen können – aber gilt dies wirklich für »jedes Bild«, wie Barthes apodiktisch formuliert hat? Spricht nicht auch die Schnelligkeit, mit der Bilder verstanden werden können (vgl. Schierl

: ), gegen die Annahme einer prinzipiellen Vieldeutigkeit? Müsste hinsichtlich der pauschalen Polysemie-Unterstellung nicht differenziert werden zwischen so unterschiedlichen Bildern wie beispielsweise einem Kühlschrank-Bild (vgl. Abb. )1 und einer Fotografie des USamerikanischen Fotografen Eugene Richards (vgl. Abb. )2? Die Frage, ob beide Bilder polysemisch sind, ließe sich empirisch untersuchen, indem man die Bilder jeweils unterschiedlichen Rezipierenden vorlegen und deren Sinnbildungen erfassen würde. Um jedoch nicht nur singuläre Bilder in dieser Weise abzutesten, stellt sich die grundsätzlichere Frage, ob sich der geahnte Unterschied zwischen den beiden Bildern nicht auch begrifflich-analytisch anhand von Strukturmerkmalen des Bildes dingfest machen lässt. Mit anderen Worten: 1 Quelle: URL: http://shop.12v-kuehlgeraete.de/popup_image.php?pID=347&osCsid=0daaf497

6742cfcb57ed73f0cd4aff21 (11.07.2012). 2 Quelle: URL: http://shutterbug.com/images/archivesart/1105eugenei04.jpg (11.07.2012).

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Lassen sich die beiden Bilder strukturell als Vertreter unterschiedlicher Bildtypen beschreiben, von denen der eine Typ Anlass zu Polysemie bietet, während sich der andere Typ als eindeutig erweist? Da Bilder ›zwischen den Disziplinen‹ angesiedelt sind (vgl. Mitchell, s.o.), ist es legitim, zur Klärung von Bilderfragen Anleihen bei unterschiedlichen Fachrichtungen zu machen. Gedanken über strukturelle Abb. 1: Foto eines Kühlschranks bei ebay

Abb. 2: Mann mit Waffen (Foto: E. RICHARDS)

Voraussetzungen und unterschiedliche Potenziale von Medientexten zur Polysemie hat sich auch die Literaturwissenscha gemacht – unter anderem die Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik. 3 Wolfgang Iser, einer ihrer prominentesten Protagonisten, sah – wie vor ihm auch schon Umberto Eco (vgl. Eco : $$) – den Beitrag des Lesers als konstitutiv für die Sinnbildung eines literarischen Textes an (vgl. Iser a: ). Die Teilhabe der Leser am literarischen Unternehmen der Sinnbildung ist das Korrelat zur Entmachtung der bislang als autoritär gedachten Autoren eines Textes: Der undisziplinierte Sinn, der sich von der Kontroll- und Steuerungsmacht des Autors befreit hat, wird im Rezeptionsprozess von den Verstehensstra3 Mit dem Ausprobieren literaturwissenschaftlicher Begrifflichkeiten auf Bilder soll keineswegs

eine ›Textförmigkeit‹ oder Sprachlichkeit von Bildern unterstellt werden. Zu den unaufhebbaren Unterschieden zwischen Bild und Sprache vgl. MICHEL 2006: 55ff. sowie den zweiten Teil dieses Aufsatzes.

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tegien der Leser ›an die Leine‹ genommen und gebändigt. Für den Leser selbst erscheint der Sinn dann schlüssig und abgeschlossen – also keineswegs undiszipliniert. Aus der Aktivität des Lesers ergibt sich eine weiterreichende Konsequenz: »Generiert der Leser die Bedeutung eines Textes, so ist es nur zwangsläufig, wenn diese in einer je individuellen Gestalt erscheint« (ebd.: ). Das bedeutet zweierlei: zum einen, dass die Sinnbildung auf die je spezifische Individualität einer Leserpersönlichkeit verweist und deren Spuren trägt. Zum anderen, dass es bei einer Vielzahl an Leserpersönlichkeiten zu einer Vielzahl an Sinnbildungen kommt. Diese Vielzahl an Sinnbildungen in Abhängigkeit von unterschiedlichen Lesern kann aus der Perspektive des Textproduzenten als Entmachtung beziehungsweise als Undiszipliniertheit des Sinns gegenüber seinen Steuerungsabsichten gedacht werden. Sie wird für den einzelnen Rezipierenden gar nicht sichtbar, sondern nur aus einer Art Hubschrauberperspektive, wenn mehrere Lesarten nebeneinander betrachtet werden. Damit der Leser aber überhaupt einen Beitrag zur Sinnbildung leisten kann, müssen nach Ansicht Isers auf der Seite des Textes strukturelle Voraussetzungen gegeben sein. Iser spricht von »Leerstellen«, die ein Text aufweisen muss, damit der Leser mit ihm interagieren kann. Er versteht darunter »ausgesparte Beziehungen« (Iser : %) zwischen Elementen eines Textes, sodass die einzelnen »Textsegmente unvermittelt aneinanderstoßen« und »die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen« (ebd.: $ ). Aus diesen Bestimmungslücken im Text erwächst daher »ein wichtiger Antrieb der Konstitutionsaktivität des Lesers« (ebd.). »Indem die Leerstellen eine ausgesparte Beziehung anzeigen, geben sie die Beziehbarkeit der bezeichneten Positionen für die Vorstellungsakte des Lesers frei; sie ›verschwinden‹, wenn eine solche Beziehung vorgestellt wird« (Iser : % [Herv. i.O.]). Lässt sich das Konzept der Leerstellen, der »ausgesparten Beziehungen« (Iser, s.o.) auch auf Fotografien übertragen? Lässt sich mit diesem Konzept der Unterschied zwischen dem Kühlschrank-Bild und der Fotografie von Eugene Richards begrifflich fassen? Das Kühlschrank-Bild scheint keine ausgesparten Beziehungen zwischen einzelnen Bildelementen aufzuweisen – nichts scheint die »erwartbare Geordnetheit« (Iser ) der Abbildung eines Kühlschranks zu unterbrechen: »ein Kühlschrank ist ein Kühlschrank ist ein Kühlschrank« (vgl. Abb. ). Ganz anders präsentiert sich das Vergleichsbild (vgl. Abb. ): Die meisten Bildelemente sind auf Anhieb klar zu

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erkennen und auch recht eindeutig zu benennen: Eine Pistole, zwei (Waffen-)Gürtel, mehrere Taschen, eine Bierflasche, ein gefüllter Aschenbecher, ein Streichholzbriefchen, Handschellen, zwei Schuhe – all dies auf einem mit Zeitungspapier ausgelegten sch. Hinter dem sch stehen zwei Stühle mit rustikaler Lehne, auf einem sitzt ein junger Mann in dunkler Jacke, der sich eine Hand vor den Mund hält. Im Hintergrund sieht man Fenster, eine Tür sowie weitere Einrichtungsgegenstände. Was das Bild rätselha, wenn nicht gar beunruhigend macht, sind die Relationen zwischen den Bildelementen. Es fällt schwer, die einzelnen Elemente aufeinander zu beziehen, sie in einen sinnvollen Erzählzusammenhang zu bringen. Einige subjektive Impressionen, die aber vermutlich auf intersubjektive Zustimmung durch andere Betrachter des Bildes stoßen, sollen dies verdeutlichen: So wirkt der Raum mit den rustikalen Stühlen wie eine private Wohnung, in der sich die Waffenutensilien jedoch irritierend und bedrohlich ausnehmen. Das ordentliche Arrangement der Utensilien auf dem sch steht in merkwürdigem Kontrast zu dem Eindruck von Unaufgeräumtheit, der sich durch das Handtuch auf der Stuhllehne, das Sammelsurium am Ende des sches (in der linken oberen Bildecke) und die Kombination der Waffen mit der Bierflasche und dem Aschenbecher ergibt. Rätsel gibt schließlich das Verhältnis des Mannes zu seiner Umgebung auf. Dazu trägt auch die Schwierigkeit bei, seinen Gesichtsausdruck und damit seine Stimmungslage zu deuten. Die Interpretationsprobleme ergeben sich somit weniger durch die einzelnen Bildelemente an sich, als vielmehr durch ihre Zusammenstellung, ihre Relation. Zwischen den einzelnen, gut erkennbaren Bild elementen scheinen semantische Lücken zu klaffen, die Verbindungen bleiben unklar, es lässt sich keine konsistente Story erzählen, die alle Bildelemente in sich aufnehmen könnte – mit anderen Worten: Es gibt Leerstellen. Diese Beziehungslücken zwischen den gegebenen Bildelementen lösen nach Ansicht Isers die Aktivität der Rezipierenden aus und führen dazu, dass sie ihre »individuellen Dispositionen […], [ihre] […] Bewusstseinsinhalte, [ihre] […] epochalen, schichtenspezifisch bedingten Anschauungen sowie [ihre] […] eigene [n] Erfahrungsgeschichte [n] in mehr oder minder massiver Weise mit den Zeichen des Textes zu einer Sinnkonfiguration« zusammenschließen (vgl. Iser b: %). Mit anderen Worten: Die Betrachter werden durch die Leerstellen animiert, mit dem Bild in Interaktion (oder in einen Dialog) zu treten und die ausgesparte Beziehung durch eigene Vermutungen und Gedanken zu schließen. Die ausgesparten Beziehungen werden geschlossen, indem eine Geschichte erzählt wird, die die vorhandenen

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Bildelemente sinnvoll miteinander verbindet. Auf diese Weise entsteht der Sinn beziehungsweise viele Sinne, wenn man die Rezeptionsergebnisse vieler Betrachter miteinander vergleicht. Das Bild erweist sich aufgrund seiner Leerstellenstruktur als polysem beziehungsweise als offen für eine Vielzahl an Sinnzuschreibungen4 – die Sinnbildung entgleitet der Kontrollmacht durch den Bildproduzenten.

Exkurs: Aktivität statt Kontrolle Der durch textuelle Offenheit ausgelöste Kontrollverlust erweist sich vor allem in Kommunikationszusammenhängen als Problem, in denen eine ganz bestimmte Botscha vermittelt werden soll – beispielsweise im Bereich der Werbung: Wenn nicht sichergestellt werden kann, wie ein Werbemittel verstanden wird, steht nicht nur der Sinn des Werbemittels infrage, sondern die Sinnhaigkeit des gesamten Werbeunterfangens. Aus dieser Not wird verschiedentlich versucht, eine Tugend zu machen: Wenn die Absender einer Werbebotscha schon nicht die Kontrolle über den Sinnbildungsprozess haben können, dann könnten sie sich das zunutze machen, was sich aus der Offenheit der Medienbotscha ergibt: die Aktivität der Rezipierenden. Sie wird ausgelöst durch die Notwendigkeit, die Leerstellen durch die »eigene Erfahrungsgeschichte« (vgl. Iser ) des Betrachters zu schließen. Angesichts der Lethargie und Passivität, die bei der Rezeption von Werbemitteln meist üblich ist (vgl. Schnettler!Wendt

$:  ff.), stellt die Möglichkeit einer aktiven Auseinandersetzung mit einer Werbebotscha einen attraktiven Ersatz für die nicht zu erreichende Kontrolle dar. Ein Motiv aus einer Werbekampagne, an der Eugene Richards als Fotograf beteiligt war, soll dieses Prinzip verdeutlichen (vgl. Abb. $)5. Um zunächst einen Eindruck vom Bild allein zu vermitteln, wurden ergänzende Anzeigenelemente wie Headline, Logo und Produktabbildung cachiert. Das Bild zeigt eine Frau in einer Art OP-Hemd auf einem ärztlichen Behandlungsstuhl. Um sie herum befinden sich weitere Gerätschaen einer Arztpraxis. Eine Beziehungslücke besteht wohl für die meisten Betrachter zwischen dem Inventar einer Arztpraxis 4 Die Unterscheidung von offenen versus geschlossenen Medientexten bildet eine zentrale Me-

tapher in den Medienwissenschaften. Sie lässt sich unter anderem bis auf den Kunsthistoriker HEINRICH WÖLFFLIN zurückführen, der 1915 zwischen der offenen und geschlossenen Form von Kunstwerken unterschied (vgl. WÖLFFLIN 1963). Maßgeblich für die aktuelle Verwendung der Unterscheidung dürfte aber UMBERTO ECOS Das offene Kunstwerk von 1962 sein (vgl. ECO 1977). 5 Quelle: URL: http://www.chayden.net/Runs/Adidas/index.htm (11.07.2012).

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Abb. 3: Bildmotiv Runner (cachierte Version, BM) (Foto: EUGENE RICHARDS)

und der Wanddekoration, die aus gerahmten, zunächst nicht näher zu bestimmenden, drei- bis fünfstelligen Nummern besteht. Diese Nummernbilder gehören nicht zum erwartbaren Inventar einer Arztpraxis, zwischen ihnen und der übrigen Bildsituation tut sich eine Leerstelle auf. Betont wird sie durch die ostentative Hinwendung der Frau zum Wandschmuck, durch die dessen Besonderheit unterstrichen wird. Wie die Leerstelle im Einzelfall geschlossen werden mag, bleibt hier dem Selbstversuch des Lesers überlassen. Zu viel Freiheit wollte die Werbeagentur dem Betrachter der Anzeige jedoch nicht zubilligen. Denn die Anzeige zeigte nicht nur das Bild im ›Reinzustand‹, sondern ergänzt es um weitere Elemente, die für den Ersteindruck im Rahmen dieses Beitrags cachiert wurden (vgl. Abb. %)6. Sie haben die Funktion, die Sinnbildung trotz der Leerstellen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Es handelt sich dabei um begleitende Sprachtexte, also Headline, Claim (beziehungsweise Slogan), Copytext und Absenderangabe sowie eine Produktabbildung. Die Technik der semantischen Steuerung durch einen begleitenden Sprachtext hat Roland Barthes in seiner Rhetorik des Bildes als eine »Art Schraubstock« (Barthes  : $) bezeichnet, der den Sinn »dar-

Abb. 4: Bildmotiv Runner (nicht cachierte Version) (Foto: EUGENE RICHARDS )

6 Quelle: URL: http://www.chayden.net/Runs/Adidas/index.htm (11.07.2012).

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an hindert, entweder in allzu individuelle Regionen auszuschwärmen […] oder in dysphorische Werte« (ebd.). Dem Absender adidas, der Produktabbildung und dem Kampagnenclaim »Runners, Yeah, we’re different« kann der Rezipient Hinweise zum Schließen der Leerstelle entnehmen. Als »Vorzugslesart« (vgl. Hall ) lässt sich daher folgende Deutung entwickeln: Offenbar handelt es sich bei der Wanddekoration um eine Kollektion von Trikotnummern, die von unterschiedlichen (Marathon-)Läufen stammen. Der Besitzer dieser Trophäensammlung ist vermutlich zugleich der Besitzer des Untersuchungszimmers, also der Arzt, bei dem es sich offenbar um einen passionierten (Hobby-)Läufer handelt. Die Konturen der Leerstelle lassen sich somit genauer bestimmen: Was die Irritation der Patientin auslöst, ist die Sammlung von Laurikots in einem ärztlichen Behandlungszimmer. Damit ist die Leerstelle jedoch noch keineswegs geschlossen, sondern nur in ihren Konturen präziser definiert: Die Frage, welche die Schema-Inkongruenz dem Betrachter zur aktiven Beantwortung aufgibt, lässt sich jetzt so formulieren: Wie ist es zu erklären, dass ein Arzt seine Praxis mit Laurikots schmückt? Was für eine Art Mensch, was für ein Typ ist der Arzt? Damit ist das fehlende Element benannt, das zu einer semantischen Schließung der Leerstelle beitragen könnte: die Person des Arztes. Er bildet das missing link zwischen der Situation einer Arztpraxis und dem Wandschmuck. Außer seinem Beruf kennen wir nur sein Hobby: Er ist Läufer. Die (Ziel-)Gruppe der Läufer wird auch durch den Kampagnenclaim »Runners. Yeah, we’re different« ins Zentrum gerückt (und nicht etwa das Produkt). Durch die Leerstelle und die Aussage über Läufer (von denen keiner im Bild zu sehen ist) wird die sinnkonstruierende Aktivität der Betrachter auf die Persönlichkeit des Arztes gelenkt und zu Spekulationen über seine Charaktermerkmale angeregt. Offenkundig ist er erfolgreich in beruflicher (Arzt) und sportlicher (viele Trikots) Hinsicht. Die Pointe scheint aber die Vermischung dieser beiden Sphären zu sein: Es handelt sich offenbar um einen leidenschalichen beziehungsweise ›besessenen‹ Läufer, der nicht mehr zwischen Beruf und Hobby unterscheidet. Die Dechiffrierung eines (nicht abgebildeten) Läufers als unkonventionell wird auch durch den Kampagnenclaim nahegelegt: »Läufer sind anders als herkömmliche Menschen«. Da diese durch Schließung der Leerstelle sich ergebende Botscha mit einer Werbeanzeige für Laufschuhe vermittelt wird, ist klar, dass das ›abweichende Verhalten‹ – des speziellen Läufers wie von Läufern generell – positiv zu bewerten ist. Unterstützt wird die positive Bewertung durch das stolz-bekenntnishae »Yeah« im Claim.

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Die Leerstelle, die sich aus der »ausgesparten Beziehung« (Iser, s.o.) zwischen dem Inventar einer Arztpraxis und der Trikotsammlung ergibt und dadurch »die erwartbare Geordnetheit« (Iser, s.o.) des Bildes unterbricht, lässt sich somit durch eine Erzählung schließen, die Läufer ironisch als hingebungsvolle, aber leicht skurrile ›Freaks‹ stilisiert.7 Ob jeder Betrachter die Leerstelle in dieser, vermutlich der intendierten Lesart schließt, muss einer empirischen Rezeptionsstudie vorbehalten bleiben. Es scheint jedoch plausibel, dass die Konturen der Leerstelle (wozu auch die Textelemente gehören) eine erhebliche Steuerungsfunktion haben mit dem Ziel, die Fülle an möglichen Sinnbildungen zu beschränken. Die Konturen der Leerstelle üben somit eine disziplinierende Funktion aus, durch die die Polysemie möglicherweise begrenzt wird. Im Extremfall erwächst aus den Konturen einer Leerstelle eine genaue Anweisung, wie die Leerstelle zu schließen ist – wie bei einem Puzzlespiel, bei dem eine ausgesparte Lücke nur durch ein ganz bestimmtes Puzzlestück geschlossen werden kann, sodass sich das Gesamtbild über die Konturen der Lücke hinweg konsistent fortsetzt. In diesem Fall erfordert die Leerstelle zwar eine aktive Mitwirkung des Rezipienten, bietet aber nicht unbedingt das Potenzial zu einer Vielfalt an Sinnbildungen.

Leerstellen als Konstruktionen der Betrachter Nachdem somit das Potenzial von Leerstellen zur Freisetzung von Polysemie wider Erwarten skeptisch beurteilt werden muss, soll nun auch eine zweite vermeintliche Gewissheit in Bezug auf Leerstellen infrage gestellt werden – nämlich die Annahme, sie seien als objektives Strukturmerkmal in eindeutiger Weise im Medientext zu identifizieren. Nach Ansicht Isers treten Leerstellen hervor, sobald »Ordnungserwartungen« durch einen Medientext unterlaufen werden (Iser, s.o.). Erwartungen an einen Text sind aber keine textimmanenten Strukturmerkmale, sondern werden von außen, das heißt von den Lesern an einen Text herangetragen. Leerstellen sind somit relational auf die sich wandelnden Erwartungshorizonte unterschiedlicher Leser bezogen: Wo für den einen Leser die Ordnung des Textes noch lange nicht gestört ist, herrscht für einen anderen schon heilloses Chaos (vgl. auch Eco : %). Je nach Hintergrundwissen aufseiten des Betrachters verschwinden Leerstellen oder tun sich neue Leerstellen auf: Für ei7 Durch die Schließung der Leerstelle und die damit einhergehende Integration der zuvor dis-

paraten Bildelemente in eine übergreifende Geschichte gelingt ein Wechsel von der vor-ikonographischen zur ikonographischen Interpretationsebene gemäß PANOFSKYS weithin bekanntem Modell zur Interpretation von Bildern (vgl. PANOFSKY 1987).

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nen Teilnehmer der in Abbildung  gezeigten Szene, das heißt für eine Person, die in den sozialen Kontext der abgebildeten Situation eingebunden war, ist der Zusammenhang zwischen der abgebildeten Person, ihrer Mimik, den Waffen auf dem sch und der Location möglicherweise vollkommen geklärt, sodass auch die Abbildung der Szene für diese Person keine Bestimmungslücken aufweist. Vor einem Erwartungshorizont, der Sporttrophäen in Arztpraxen als üblich voraussetzt, erscheint Abbildung  vermutlich ebenfalls als konsistent und leerstellenfrei. Ein Mediziner dagegen würde möglicherweise Inkonsistenzen bei der Zusammenstellung der ärztlichen Gerätschaen im Bild wahrnehmen und dadurch den Eindruck einer (ganz anders gearteten) Leerstelle haben. Sie würde ihn dazu verleiten, nach einer Story zu fahnden, die für ihn die Zusammenstellung der Bildelemente plausibel machen könnte. Leerstellen sind somit keine objektiven Strukturmerkmale eines Medientextes, sondern vom Hintergrundwissen des jeweiligen Betrachters abhängig. Zudem üben die ›Ränder‹ einer Leerstelle, das heißt die vorhandenen Bildelemente, zwischen denen sich (für einen bestimmten Betrachter) eine Bestimmungslücke auut, eine Steuerungsfunktion für die Sinnbildung aus: Sie lenken die Sinnbildungsaktivität des Rezipienten auf diese Lücke hin und verhindern damit (zumindest partiell), dass seine Aufmerksamkeit frei im Bild herumschwei.8 Die Leerstelle als eine vermeintliche Voraussetzung für die Emanzipation der Sinnbildung von den Disziplinierungsmaßnahmen des Bildproduzenten kann sich somit als ein Mechanismus zur Kontrolle der Sinnbildung erweisen. Diese Bändigung der Sinnbildung gelingt aber nur, wenn der Bildproduzent die Wissensbestände aufseiten der Rezipierenden insoweit vorausahnen kann, dass er weiß, wo sich für sie im Bild eine Leerstelle auun wird. Dass aber auch das Vorhanden- oder Nicht-Vorhandensein von Leerstellen vom Betrachter abhängt (und kein vom Bildproduzenten der Bildtextur ›einzuschraubendes‹ Strukturmerkmal ist), ist wiederum eine Manifestation der Undisziplin des Bildsinns gegenüber dem Bildproduzenten. Wenn aber fraglich ist, ob ein Bild Leerstellen aufweist oder nicht, dann ist das Kriterium Leerstelle auch nicht geeignet, um polyseme von nicht-polysemen Bildern zu unterscheiden. So verlockend die Unterscheidung von »offenen« versus »geschlossenen« Medientexten auf den ersten Blick erscheinen mag (vgl. Eco ), so wenig trägt sie zur Lösung der Frage nach einer Differenzierung der Polysemie von 8 Empirische Rezeptionsstudien belegen diese Annahme, dass eine wahrgenommene Leerstelle die Sinnbildung zur Auseinandersetzung mit ihrer semantischen Lücke geradezu erzwingt (vgl. MICHEL 2003: 235 ff.).

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Bildern bei. Dass aber auch das vermeintlich eindeutige KühlschrankBild sehr wohl unterschiedlich verstanden werden kann, macht Umberto Eco deutlich: »Für einen Mailänder Bankangestellten mag die Kühlschrankwerbung im Fernsehen einen Kaufanreiz darstellen, für einen arbeitslosen Landarbeiter in Kalabrien bedeutet dasselbe Bild die Anklage einer Wohlstandswelt, der er nicht angehört und die er sich erobern muss« (Eco :  ). Wieder ändert sich die Bedeutung eines Bildes in Abhängigkeit vom Betrachter – dieses Mal jedoch nicht, weil Leerstellen unterschiedlich geschlossen und dadurch verschiedene Erzählzusammenhänge gestiet werden, sondern – so könnte man formulieren – durch unterschiedliche Rahmungen des Bildes. Nicht durch verschiedene bildinterne Relationen, sondern durch unterschiedliche bildexterne Relationen kommt es zu Bedeutungsvariationen. Je nach lebensweltlicher Rahmung erscheint der Kühlschrank als erschwingliches Konsumgut oder als unerreichbares Luxusgut. Je nachdem, womit ein Betrachter das Kühlschrank-Bild in Beziehung setzt, ändert sich seine Bedeutung: Als triviales Haushaltsgerät mag ein Kühlschrank erscheinen, wenn man ihn mit einem hochauflösenden Plasma-Fernseher, einem Smartphone oder einer hochwertigen Espresso-Maschine vergleicht. Als Inbegriff von Komfort und Luxus wirkt der Kühlschrank dagegen, wenn man ihn mit anderen Möglichkeiten des Kühlens von Lebensmitteln kontrastiert – beispielsweise einer Wanne mit Wasser, einem Erdloch oder einem feuchten Lappen. Als unverantwortlichen ›Klimakiller‹ nimmt man den spezifischen Kühlschrank wahr, wenn man ihn mit energieeffizienteren Kühlschränken vergleicht, und möglicherweise als Ausbund an Hässlichkeit, wenn er in eine Reihe mit Designerkühlschränken oder als ›kultig‹ angesehenen Kühlschränken aus den  er Jahren gestellt wird. Diese Bedeutungsvariationen sind nicht im Bild selbst angelegt, sondern ergeben sich durch die wechselnden Bezugssysteme, die die Betrachtenden an das Bild von außen herantragen. Auch hierin kann ein widerständiges Potenzial des Bildsinns gegenüber etwaigen Mitteilungsabsichten vonseiten des Bildproduzenten gesehen werden. Eine quasi neutrale Betrachtungsweise, die das Bild in gar keinem Bezugssystem verortet, ist dabei nur schwer vorstellbar. Diese Rahmung von außen ist jedoch kein bildspezifisches Phänomen. Sie prägt vielmehr, wie Umberto Eco feststellt, »jeden Augenblick unserer Erkenntniserfahrung« (Eco : ). Dem einzelnen Betrachter mag

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sein Bezugssystem als vollkommen selbstverständlich und alternativlos erscheinen, eine Vielfalt an Bedeutungszuweisungen wird nur in der Zusammenschau mehrerer externer Rahmungen für einen Beobachter zweiter Ordnung sichtbar. Da diese, vom Betrachter hinzugedachten externen Rahmungen bei allen Bildern – selbst den vermeintlich trivialsten – aureten, muss an dieser Stelle Roland Barthes abschließend zugestimmt werden: Wirklich jedes Bild ist polysemisch. Denn jedes Bild lässt sich in unterschiedlichen Bezugssystemen verorten und dadurch in unterschiedlicher Weise mit Sinn anreichern.

Syntagma versus Paradigma Wenn es somit nicht gelungen ist, am ron des ›Gottvaters‹ der Bildsemiotik zu kratzen, so sollen die hier angestellten Überlegungen wenigstens zu einer begrifflichen Differenzierung beitragen: Zwar sind alle Bilder polysem, aber in unterschiedlicher Weise: Je nach Erwartungshorizont und Normalitätserwartungen von sozial und historisch unterschiedlich situierten Rezipierenden kann ein Bild bildinterne Bestimmungslücken zwischen vorhandenen Bildelementen aufweisen (Leerstellen) – oder auch nicht. Die unterschiedlichen Strategien zu ihrer semantischen Bestimmung beziehungsweise Schließung führen zu unterschiedlichen Sinnkonstruktionen bei ein und demselben Bild. Unabhängig davon erfolgt die bildexterne Rahmung eines Bildes, das heißt seine Positionierung in einem Bezugssystem, das von den Betrachtern ›von außen‹ an das Bild herangetragen und aus einer Reihe von Alternativen besteht, mit dem das Bild verglichen wird. Je nach Bezugssystem ändert sich die Bedeutung des Bildes. Um diese beiden Quellen von Polysemie begrifflich zu fassen, bietet sich die auf Ferdinand de Saussure zurückgehende Unterscheidung von Syntagma und Paradigma an (vgl. Saussure ).9 Nach Ansicht Saussures ruht die Bedeutung eines Zeichens nicht in ihm selbst, sondern ist relational definiert – durch seine Beziehung, die es mit anderen Zeichen unterhält. Saussure unterscheidet dabei zwei Achsen, auf denen ein gegebenes Zeichen in Beziehung mit anderen Zeichen treten kann und dadurch seine Bedeutung erlangt: Die syntagmatische und die paradigmatische Achse. 10 Die syntagmatische Achse ist die Achse des Textes: Hier sind die Zeichen in praesentia mitein9 Abermals soll darauf hingewiesen werden, dass mit der Anwendung linguistischer Begrifflich-

keiten auf Bilder keinesfalls deren Sprachförmigkeit behauptet oder der Sprache die Rolle eines Leitmodells für alle anderen Zeichensysteme zugewiesen werden soll. 10 Der Begriff »paradigmatisch« wurde von SAUSSURE nicht verwendet, sondern erst von LOU-

IS HJELMSLEV eingeführt (vgl. HOLENSTEIN 1975: 142).

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ander verbunden. Aus der vorhandenen Kombination gegebener Zeichen erlangt das einzelne Zeichen seine semantische Bestimmung. So wird die Bedeutung von Mimik und Gestik der Person auf Abbildung  stark von den auf dem sch liegenden Waffen geprägt – ersetzt man die Waffen gedankenexperimentell durch einen Stapel Aktenordner oder durch verdorbene Speisen, dann ergeben sich vermutlich andere Deutungen der gleichen Mimik und Gestik der Person. Die Interpretation der Waffen würde vermutlich anders ausfallen, wenn die Raumausstattung mehr an ein Polizeirevier erinnern würde  – auch hier beeinflusst die Zusammenstellung, das Syntagma der Bildelemente die Bedeutung jedes einzelnen Bildelements.11 Die zweite, die paradigmatische Achse steht quasi senkrecht auf der syntagmatischen Achse: Auf ihr unterhält ein vorhandenes Zeichenelement Beziehungen mit anderen Zeichenelementen, die ihrerseits nicht gegeben, sondern in absentia mit dem vorhandenen Zeichenelement verbunden werden, das heißt, sie werden durch den Betrachter hinzugedacht. Saussure spricht daher von einer »assoziative[n] Beziehung […] einer möglichen Gedächtnisreihe« (Saussure : %). Diese Bedeutungsbestimmung wurde oben als Rahmung beschrieben, bei der ein und dasselbe Bild mit unterschiedlichen Objekten assoziiert wurde und dadurch seine Bedeutung veränderte – vom Kühlschrank als trivialem Alltagsgegenstand (wenn er auf eine paradigmatische Achse mit ›spannenderen‹ Geräten gestellt wird) über den Kühlschrank als hässlichem Objekt (wenn er in einer Gedächtnisreihe mit Designerkühlschränken steht) bis hin zum Kühlschrank als Luxusgut (wenn das Paradigma aus primitiven Formen der Kühlung von Lebensmitteln besteht). Der Pool an alternativen Zeichenelementen, mit denen das vorhandene Zeichen gedanklich in Verbindung gebracht wird, ist das Paradigma. Entscheidend ist, dass das Paradigma durch das vorhandene Zeichen nicht determiniert wird, sondern vom Betrachter hinzugedacht wird. Entsprechend ändern sich mit dem Betrachter auch die »im Geist« (Saussure :  ) assoziierten Paradigmen. Zu ein und demselben Zeichen lassen sich unterschiedliche Paradigmen hinzudenken. Die daraus resultierende Bedeutungsvielfalt wurde von Eco als »fundamentale Offenheit« bezeichnet (s.o.), die jeden Moment unserer Wirklichkeitserfahrung prägt. Sie soll als paradigmatische Offenheit bezeichnet werden, die immer gegeben ist und dazu führt, dass jedes Bild polysemisch ist. Während eine paradig11 Empirisch untersucht wurde die semantische Wechselwirkung unterschiedlicher Bildelemente

am Beispiel der filmischen Montage, das heißt anhand eines in der Zeit ausgedehnten Syntagmas. Bereits in den 1920er Jahren wurde in experimentellen Rezeptionsstudien der sogenannte Kuleschow-Effekt festgestellt (vgl. MONACO 1990:355f.).

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matische Geschlossenheit von Medientexten daher nicht vorstellbar ist, sieht die Situation bei der zweiten, der syntagmatischen Achse anders aus: Auch auf dieser Achse wurde eine Quelle für Polysemie ausfindig gemacht – die Leerstellen. Als »ausgesparte Beziehungen« (Iser, s.o.) sind sie zwischen gegebenen Bildelementen, das heißt im Syntagma angesiedelt. Durch unterschiedliche Möglichkeiten, sie semantisch zu bestimmen, sind auch die Leerstellen eine mögliche Quelle von Polysemie – sie soll daher syntagmatische Offenheit genannt werden. Doch während eine paradigmatische Geschlossenheit nicht denkbar ist, sind durchaus Bilder vorstellbar, bei denen in den Augen ihrer Betrachter alle bildinternen Relationen semantisch geklärt sind, das heißt, die syntagmatisch geschlossen sind. Ein weiterer Unterschied zwischen Syntagma und Paradigma besteht darin, dass eine syntagmatische Offenheit von Beobachtern erster Ordnung als Irritation beziehungsweise als Bestimmungslücke erlebt wird (vgl. Michel

$: $), während die paradigmatische Offenheit meist nur von einem Beobachter zweiter Ordnung im Vergleich mehrerer Sinnbildungsprozesse erster Ordnung wahrgenommen wird. Denn den Beobachtern erster Ordnung erscheinen ihre paradigmatischen Rahmungen eines Bildes vermutlich als selbstverständlich und alternativlos – dass auch eine ganz andere Gedächtnisreihe mitassoziiert werden könnte, erschließt sich erst in einem reflexiven Prozess, bei dem eine Beobachtungsebene zweiter Ordnung eingenommen wird. Die syntagmatische und mehr noch die paradigmatische Offenheit führen zur Polysemie von Bildern, durch die sich der Bildsinn der Kontrollmacht der Bildproduzenten entzieht. Die Rezipierenden mit ihren sozial und historisch unterschiedlichen Wissensbeständen sind konstitutiver Bestandteil des Sinnbildungsprozesses.

2 Der Widerstand der Bilder gegen die Sprache Der Bildsinn entsteht erst in der Interaktion von Bild und Rezipierenden  – gegenüber den Mitteilungsabsichten des Bildproduzenten erweist sich der Bildsinn als unkontrollierbar. Dies war die erste Form von Undiszipliniertheit, die hier diskutiert wurde. Daraus könnte man die Konsequenz ableiten, Fragen nach dem Sinn von Bildern grundsätzlich nur noch im Durchgang durch das subjektive Erleben der Rezipierenden zu untersuchen, das heißt als empirische Rezeptionsforschung. Doch dabei wird eine zweite Form von Undiszipliniertheit, die Bilder aufweisen, zum Problem: ihr Widerstand gegen die Sprache. Denn nahezu alle Ansätze der empirischen Rezeptionsforschung beruhen darauf, dass Bildbetrachter ihre Rezeptionserlebnisse sprach-

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lich explizieren und sie so einer Untersuchung überhaupt erst zugänglich machen. Der Möglichkeit einer Versprachlichung von Bildern im Sinne einer Eins-zu-eins-Transformation widersprechen aber der pictorial beziehungsweise der iconic turn, die die Eigenlogik beziehungsweise die Eigensinnigkeit von Bildern gegenüber der Sprache betonen. Diese ›turns‹ sind daher auch als Emanzipationsbewegung der Bilder gegen das Leitmedium der Sprache zu verstehen, wobei bemerkenswerterweise nicht nur das Bild an sich im Zentrum der Überlegungen steht, sondern ganz wesentlich auch der Umgang mit dem Bild, das heißt die unterschiedlichen Arten des Betrachtens, Rezipierens und Sinnbildens. Die visuelle Wende kann somit auch als eine Hinwendung zur Rezeption verstanden werden, die über eine reine Produktanalyse hinausgeht. Beide Aspekte – die Emanzipation von der Sprache und die Hinwendung zur Rezeption – verbindet auch W.J.T. Mitchell mit dem pictorial turn, wenn er feststellt, »dass visuelle Erfahrung oder ›die visuelle Fähigkeit zu lesen‹ nicht zur Gänze nach dem Modell der Textualität erklärbar sein düren« (Mitchell

:   [Herv. i.O.]). Der rezeptive Umgang mit Bildern, das Sehen, ist auch nach Meinung Gottfried Boehms im Zuge der von ihm konstatierten »ikonischen Wende« ins »Zentrum der Philosophie gerückt« (vgl. Boehm : f.). Dabei grenzt er das Sehen von der Sprache ab, da das Sehen einen »Zugang zur Wirklichkeit« gestalte, ohne sich »dem Begriff zu unterwerfen« (ebd.: ). Dieser nicht-sprachliche Zugang kann dabei aber auch als sinnha gedacht werden, wie Boehm weiter ausführt: »Das Auge erschließt sich eine prae- oder non-verbale Sinnwelt, deren Reichtum nur unvollkommen in Sprache übersetzt werden kann« (ebd. [Herv. i.O.]). Damit wird im Zuge der ›visuellen Wende‹ für eine Art der Sinnbildung sensibilisiert, die sich jenseits von Sprache und Begriff, jenseits vom diskursiven Denken vollzieht. Zu der in diesem Beitrag verfolgten Lesart der ›Undisziplin‹ der Bilder passt das rhetorische Muster, welches die Gegenüberstellung der beiden Arten der Sinnbildung als revolutionären Akt beschreibt. Dabei kommt der Sprache beziehungsweise »dem Begriff« (s.o.) die Rolle der bislang hegemonialen Unterdrückungsmacht zu und den Bildern die Rolle des bislang unterdrückten, nun aber au_egehrenden (undisziplinierten) Paria. Als Akt der Befreiung beschreibt Karl Pawek den Beginn des »optischen Zeitalters« in den frühen  er Jahren. Er spricht von einem »Aufstand […] gegen die Begriffs-Diktatur«, der durch die Fotografie bewirkt werde und eine neue Form der »Wirklichkeitserfahrung« ermögliche (vgl. Pawek $: ). Betrachtet man die Rhetorik von

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der Befreiung der Bilder genauer, dann stellt sich zum einen die Frage, was der Zugewinn der neuen Freiheit ist, und zum anderen, inwiefern er der bisherigen Unterdrückungsmacht der Sprache abgerungen wird, das heißt, inwiefern die Eigenlogik von Bildern (vgl. Boehm

: $%) nicht nur anders als die sprachliche Logik ist, sondern auch gegen sie gerichtet, wie es die revolutionäre Rhetorik nahelegt. In Abgrenzung von der Sprache beschreibt Gottfried Boehm die genuin bildliche Logik als »nicht-prädikativ, das heißt nicht nach dem Muster des Satzes oder anderer Sprachformen gebildet« (Boehm

: $%). Unter »Logik« versteht er dabei die »konsistente Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln« (ebd.). Prädikation bedeutet die Subsumtion eines konkreten Einzelfalls unter einen allgemeinen Begriff: »Das ist ein Kühlschrank« (vgl. Bussmann  : $; Bätschmann  : f.), wobei sich das deiktische »Das« auf einen konkreten Gegenstand bezieht, der im prädikativen Urteil dem Allgemeinbegriff (Kühlschrank) zu- beziehungsweise untergeordnet wird (vgl. dazu auch Schütz : $). Dieser Subsumtionslogik der Sprache – ihrer »Begriffs-Diktatur« (s.o.) – widersetzt sich die bildliche Logik, indem sie dem konkreten Einzelfall in seiner singulären und sinnlichen Anschaulichkeit zum Ausgangspunkt der Sinnbildung macht. In dieser Weise ist Karl Pawek zu verstehen, wenn er feststellt, dass die neue Denkweise des optischen Zeitalters »vom Besonderen und vom Ereignis (und nicht mehr bloß vom Allgemeinen und vom Gedanken)« ausgeht (vgl. Pawek $: $ ) und ihr die traditionelle Denkweise des ›vor-optischen‹ Zeitalters gegenüberstellt: »Seit zweieinhalbtausend Jahren sucht der abendländische Denker in der Wirklichkeit nur das Gedankending (logoi, noemata, ideai, eidos, species, forma, universale, Begriff, idea, Apriori, Gesetz …), und hat er sich dieses beschafft, kann er die sinnliche Wirklichkeit fahrenlassen, denn sie ist für ihn dann nur mehr Abfall, Müll, ausgelaugter Stoff seines philosophischen Laboratoriums. Das, was die Augen sehen können, das einzelne Ding, ist nicht Gegenstand der Wissenscha. Erst das Generelle ist es« (Pawek $: ). Demgegenüber verhelfe insbesondere die Fotografie dem »Spezifischen, Konkreten, Individuellen, Besonderen« (ebd.: %) zur Geltung. Der »Reichtum« dieser »prae- oder non-verbalen Sinnwelt« (Boehm, s.o.), die durch das Bild vermittelt wird, insbesondere aber auch ihre Widersetzlichkeit gegenüber dem Subsumtionsraster der Sprache wird an folgendem empirischen Beispiel deutlich. Es handelt sich um die Transkription eines Rezeptionsprotokolls, das die Erstreaktion einer

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Gruppe von drei jungen Erwachsenen (Aw, Bm, Cw) auf das Bild Shantytown von Eugene Richards wiedergibt (Abb. ). Abb. 5: EUGENE RICHARDS, Shantytown, 1987

SA 618-636 Bm: Mir sind net sozialkritisch … Aw: Uuuups ! Cheerio ! Bm: … (unverständlich) rausfinden. Bushmills? Aw: Oahne: Des sin üble … B/C: (Laut, unverständlich durcheinander) Cw: ((jauchzend)) … der Dschieses …! Bm: ((jauchzend)) im Hintergrund ! … der is klasse ! ((Jauchzer)) … im Bildmittelpunkt! B/C: (durcheinander, unverständlich) Cw: … Schwarzafrika Aw: Oah: Des isn Schwarzer !!! Bm: Ja, und … Cw: Gut. Alle: ((Lachen)) Cw: Woran hast des gemerkt? Und so schnell … Bm: ((Lachen)) Cw: Wahnsinn. Aw: Oaaah: Der sieht aus wie aus Carwash … ((singt:)) The Carwash titlit, ((wieder normal:)) der hat so … Cw: Sin des Soulsänger ? Ne, glaub’ ich net … Geradezu eruptiv und stark assoziativ ›ballert‹ die Gruppe ihre Erstreaktionen heraus. Die Äußerungen sind stark paraverbal begleitet und hochgradig indexikalisch aufgeladen, das heißt, sie verweisen auf Assoziationshöfe, die nur für Insider offen sind, für Außenstehende aber unverständlich bleiben (zum Beispiel »mir sind net sozialkritisch«,

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»Bushmills«, »Dschieses«, »Carwash«). Auffallend sind die Vergleiche mithilfe von anderen, nicht-sprachlichen Medien (dem Film Carwash und einer Gesangseinlage). Die Sinnbildung erfolgt nicht deskriptiv und nur an einer Stelle explizit subsumtionslogisch als prädikativer Akt (»Des isn Schwarzer«). Dieser Akt wird jedoch im weiteren Diskursverlauf ironisiert und vermutlich als Trivialität markiert (»Ja, und …«; »Gut.«; ((Lachen)) »Woran hast des gemerkt? Und so schnell …« ((Lachen)) »Wahnsinn.«). Aber nicht nur die vorsprachlichen Äußerungen sind bemerkenswert, sondern auch die hohe interaktive Dichte und die Lebhaigkeit der Inszenierung – dies alles gehört zur Bildrezeption, die somit weit mehr (und anderes) ist als ein Lesen oder gar ein Dechiffrieren eines Bildtextes. Erlebbar wird an dieser Passage der anschauliche Sinnüberschuss, der über rein prädikative Akte der Motivbenennung hinausgeht – wenn er auch nicht unmittelbar nachzuvollziehen ist. Diese Form des nicht-prädikativen Rezeptionshandelns und der vorbegrifflichen Sinnbildung lässt sich in handlungstheoretischer Hinsicht mithilfe von Pierre Bourdieus Habitustheorie konzeptualisieren. Mit dem Habitus ist nach Ansicht Bourdieus eine Form des »praktischen Erkennens« verbunden (Bourdieu : $ ). Die praktische Erkenntnis auf Basis des Habitus ermöglicht ein unausdrückliches Erkennen und unmittelbares Verstehen jenseits von Sprache und diskursivem Denken. Quasi hinter dem Rücken der Akteure (also ohne ihr bewusstes Wissen und Zutun) ereignet sich die Sinnbildung. Bourdieu führt die praktische Erkenntnis gegen einen weitverbreiteten »intellektualistischen Fehler« (ders.

b:  %) ins Feld, der dazu neige, »jedes Verstehen, auch das praktische, als Interpretation aufzufassen, das heißt als seiner selbst bewussten Akt der Entzifferung (deren Paradigma die Übersetzung ist)« (ders.

a:  [Herv. i.O.]). Das praktische Verstehen operiert dagegen nicht nach dem Modell des Sprachverstehens. Es ist daher abzugrenzen von allen Vorstellungen des textlichen Lesens, philologistischen Entzifferns, intellektualistischen Dechiffrierens oder scholastischen Decodierens. Auch das Verstehen von Bildern auf Basis des Habitus ist daher eher als eine Form »ursprüngliche(r) Wahrnehmung« und als »theorie- und begriffslose Praxis« (vgl. Bourdieu : % ) zu begreifen. Als praktisches Handeln auf Basis des Habitus sind diese Sinnbildungsprozesse aber nicht nur »jenseits von Bewusstsein und diskursivem Denken« (Bourdieu : $ ) angesiedelt, sie haben darüber hinaus auch eine körperliche Komponente. Dass die Betrachtung von Bildern eine Form des praktischen Handelns mit körperlicher Dimension sein kann, wird am nächsten Beispiel deutlich. Eine andere Gruppe

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junger Erwachsener resümiert ihren Eindruck vom Bild Shantytown. Eine sprachlich-begriffliche Sinnbildung ist ihr zuvor nicht gelungen: ND 1263-1276 Aw: Weils einfach n’ Durcheinander is in dem Bild … Bm: ja. Aw: … in dem Bild weiß ma nich, wo was sein soll … und was was is oder, oder wie ma …. wie ma die Situation deuten soll … des is n’ganz komisches Bild Bm: ((gleichzeitig mit Aw)) n’ unangenehmes … einfach n’unangenehmes Bild Aw: ((gleichzeitig mit Bm Ĺ)) (in dem Raum … in dem Raum) genau Bm: … mir persönlich unangenehm … kann nicht genau sagen, wieso, aber Aw: ja, ich find … Bm: … würd ich mir nicht unbedingt anschaun ((lacht)) Aw: ((lacht)) ja, ich würd mir sowas auch nicht angucken … also s’wär n’Bild, wenn ich sowas in die Hand krieg, würd ich gleich weglegen … Bm: … ich würd’s überblättern … Aw: ja. Bm: … wenn ich jetzt da des als Album seh – würd ich’s überblättern … ((6)) Auf reflexiv-sprachlicher Ebene gelingt der Gruppe keine Sinnbildung  – es bleibt alles ein Durcheinander. Aber praktisch-handelnd weiß die Gruppe durchaus, wie sie mit dem Bild zu interagieren hat: Sie würde es weglegen. Bereits in der Diskussion zuvor konnte die Gruppe ihre Empfindung in einer handlungsorientierten »Fokussierungsmetapher« (Bohnsack

: $$) bündeln: »Wenn ich jetzt die Tür aufmachen würde und würde des sehen – ich würd’ nicht reingehen.« Während der Geist angesichts des Bildes ratlos zurückbleibt, ›weiß‹ der Körper eine angemessene Reaktionsform: Er würde sich dem Bild durch Weglegen entziehen oder – noch körperlicher – durch Nicht-Hineingehen, wenn sich die abgebildete Szene physisch präsentieren würde (statt nur medial repräsentiert zu sein). Eine andere Form des handelnden Umgangs mit Bildern zeigt sich bei der ersten Gruppe. Sie betrachtet das Bild nicht als Blick auf eine reale Szene, der man sich durch Türeschließen entziehen kann, sondern als mediales ›Bild-Ding‹: SA 743-759 Aw: Aber … ähm … da fällt mir jetzt grad kein Titel ein grad … mm … mm Bm: Der liebe Gott sieht alles … Aw: Ja, irgendwas mit dem Jesus hätt’ ich jetzt irgendwie au …

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Bm: Aw: Bm: Aw: Bm: Aw: Bm: Aw: Bm: Aw: Bm. Aw: Bm:

(Ne: des der eigentliche Gag an) ne: s is klasse aufg’nommen … … Holy … Der eigentliche Gag an dem Bild is echt, daß er da hinten zuguckt … … holy water oder so ähnlich … The water of life … … mhm ja … … is von den Dire Straights ((2)) Walk of life heißt des! … des is der Titel von der, aber irgendwo singen’se auch water of life … ähem Brothers in Arms? Ich werd’s … ich werd’s raussuchen, ich hab’ die Dinger im Augenblick nimmer so ganz im Kopf … was hab ich überhaupt im Kopf ? ((Gähnen)) … mmm Hm.

Trotz des anderen Wirklichkeitsstatus’ des Bildes (real versus medial) setzt sich auch diese Gruppe handelnd mit dem Bild auseinander: Sie sucht nach einem passenden »tel«, den man dem Bild beigeben könnte. Das Bild wird somit nicht als Fenster zur Welt (beziehungsweise als »Tür« zur Welt) betrachtet, sondern als zweidimensionales Objekt, das man mit einem begleitenden Text versehen kann. Bei dieser handelnden Auseinandersetzung mit dem Bild kommt es zu einer Art intermedialem Surfen, bei der die Gruppe umstandslos vom Bildmedium zu einem Musikmedium übergeht, nämlich einem tel von den Dire Straights. Auch hier findet sich wieder das Muster der nichtsprachlichen Sinnbildung: Das Bild wird nicht durch prädikative Akte der Motivbenennung unter das Begriffsraster der Sprache subsumiert. Diese praktischen Dimensionen der Sinnbildung können als Symptome des Habitus interpretiert werden, ihre Unterschiede verweisen auf die jeweilige soziale Herkun der Gruppen, die in sich jeweils sehr homogen, untereinander aber sehr heterogen sind. Unterschiede zeigen sich aber nicht nur hinsichtlich des Wirklichkeitsstatus’, der dem Bild von den Gruppen zugewiesen wird, und den sich daraus ergebenden unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Bild, sondern auch in der Intensität und Ausprägung des emotionalen Engagements: Während die eine Gruppe das Bild als »unangenehm« erlebt, feiert die andere Gruppe das Bild begeistert (»klasse aufg’nommen«). Dabei scheint die eine Gruppe geradezu existenziell mit dem Bild verstrickt zu sein (»mir persönlich unangenehm«), während die andere Gruppe dem Bild mit ästhetischer Distanz begegnet, die in einen leicht dekadenten Ennui (Gähnen) übergeht. Diese un-

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terschiedlichen Handlungsstile lassen sich vor dem Hintergrund der Habitustheorie nicht nur milieutheoretisch interpretieren (vgl. Michel!Wittpoth

%), sie verweisen auch auf die erste hier diskutierte Form von Undiszipliniertheit: Die Polysemie von Bildern, wodurch ein und dasselbe Bild für eine Gruppe zum Anlass existenzieller Erschütterung werden kann und für eine andere Gruppe zum Gegenstand ästhetischer Begeisterung. Fragen der praktischen Sinnbildung sind Gegenstand einer »praxeologischen Rezeptionsforschung« (vgl. Michel

). Sie untersucht Sinnbildungsprozesse auf Basis des Habitus. Methodologisch schließt die praxeologische Rezeptionsforschung an die Dokumentarische Methode Ralf Bohnsacks an (vgl. z.B. Bohnsack

). Sie liefert das adäquate Rüstzeug, um die vorsprachliche und habitusspezifische Dimension von Äußerungen zu rekonstruieren und zu interpretieren. Um einen empirischen Zugang zu dieser genuin kollektiven (da milieuspezifischen) Form der Sinnbildung zu erlangen, stützt sich die praxeologische Rezeptionsforschung ebenfalls im Anschluss an Ralf Bohnsack auf eine spezielle Form des Gruppendiskussionsverfahrens (Bohnsack!Przyborski!Schäffer

 sowie Loos!Schäffer

), bei dem im Gruppendiskurs habitusspezifische Sinngehalte zur Artikulation kommen. Die Paradoxie besteht darin, dass man nur sprachvermittelt Zugang auch zu vorsprachlichen Sinngehalten erlangt. Aber sowohl das Erhebungs- als auch das Interpretationsverfahren der Dokumentarischen Methode erweisen sich als hochgradig sensibel für vor- und parasprachliche sowie für bildhae Äußerungen der Gruppenmitglieder: Gerade in diesen metaphorischen Umschreibungen, szenischen Darstellungen, intermedialen Bezügen, Handlungsentwürfen, Vergleichen, diskursdramaturgischen Steigerungen und skizzenhaen Andeutungen zeigt sich jener »prae- und non-verbale Reichtum« (Boehm, s.o), den sich das Auge bei der Betrachtung von Bildern erschließt und der sich der »Begriffs-Diktatur« (Pawek, s.o.) entzieht. Die Nicht-Steuerbarkeit des Bildsinns durch ihre Urheber und ihre nicht vollständige Subsumierbarkeit unter das Raster der Sprache stellen zwei Momente der Undiszipliniertheit von Bildern dar. Vom Betrachter hängt es ab, diese Formen der Undisziplin als Emanzipation oder als Anarchie zu begreifen.

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Jan-Hendrik Passoth

Disziplinierung der Bilder, (De-)Stabilisierung der Praxis. Zur Rekonfiguration fotografischer Agencypositionen Von disziplinierten und undisziplinierten Bildern lässt sich auf vielerlei Weise sprechen, zumindest aber in zwei sehr unterschiedlichen Formen. Auf der einen Seite lässt sich im Anschluss an Fiske und die Cultural Studies von der Polysemie der Bilder sprechen, von den unterschiedlichen Vielfältigkeiten der Eröffnung und Schließung von Bedeutungsofferten und von den kreativen, subversiven und latent immer ausbrechenden Möglichkeiten ihrer Rezeption (vgl. u.a. Fiske , ). Disziplinierung und Undisziplinierung bezieht sich hier auf die Unmengen an Zusatzeinrichtungen, mit denen bestimmte Lesarten gefestigt und mit denen neue eröffnet werden. Auf der anderen Seite aber lässt sich auch auf die sehr spezifischen medientechnischen Arrangements verweisen, deren Zusammenwirken sehr unterschiedliche Bilder hervorbringen, verbreiten und verarbeiten lassen. Der folgende Beitrag geht diesen Weg. Statt allerdings technizistisch oder gar mediendeterministisch zu argumentieren (vgl. Passoth

), dass die technischen Bedingungen der Erzeugung, Bearbeitung und Distribution von Bildern nicht nur sie selbst, sondern die Anschlusswahrscheinlichkeiten, die Rezeptionsformen und die mit ihnen verbundenen Deutungen bestimmt, soll mit einer zweiteiligen Ausgangsthese gestartet werden, deren Bedingungen und Konsequenzen im ersten Teil des Beitrags dargelegt werden. Sie lautet: »Disziplinierun-

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gen von Bildern sind (De-)Stabilisierungen von Praxis – Umbauten an Apparaten, Settings und Formaten sind Rekonfigurationen von Sozialität.« Begründen lässt sie sich innerhalb einer Heuristik einer symmetrischen Praxistheorie, deren Umrisse im ersten Teil des Beitrags skizziert werden. Im zweiten Teil des Beitrags werden die Konsequenzen dieser ese anhand eines bestimmten Falls von Sozialität exemplarisch beschrieben, ohne damit sagen zu wollen, dass damit die zentralste Form von Sozialität thematisiert ist. Welche Möglichkeiten der Adressierung, der Ansprache, der Einbeziehung und der Ermöglichung und Realisierung von Handlungsoptionen – kurz also: welche Form der Verortung und Positionierung von Agency1 eröffnet und limitiert werden, wird im Fall des Fotografierens durch Praxisformen bestimmt, zu deren Stabilisierung und Destabilisierung Fotoapparate einen wichtigen Beitrag leisten. In drei Schritten werden deshalb einige der Rekonfigurationen von Akteuren durch verschiedene Formen des Einbindens von Fotoapparaten und -techniken beschrieben. Im ersten Schritt geht es um Benjamins klassische Analyse der Rolle der Apparate im Kunstwerkaufsatz (vgl. Benjamin $), im zweiten Schritt um Latours Analyse zu Clic clac, merci Kodak (vgl. Latour ) und im dritten Schritt um Ergebnisse einer empirischen Analyse zu digitalen Fotografien und zu Vorschlagsdiensten auf Fotoplattformen. Das Material der Analyse besteht aus den öffentlichen Patentschriften zum Interestingness-Algorithmus, der Nutzern der Internet-Plattform Flickr entsprechend ihrer Produktions- und Rezeptionsbiografien unbekannte Bilder anderer Nutzer zeigt. Dabei werden die Transformationen von Agenypositionen in einen Zusammenhang mit der von Reckwitz analysierten Verschiebung moderner Subjektkulturen gesetzt (vgl. u.a. Reckwitz

a, b). Auf diese Weise wird versucht, die Verkopplung von Subjektkulturen und Agenypositionen zu beleuchten, um auf diese Weise die Hervorbringung, Aufrechterhaltung und Veränderung der Homologien von Praxisformen, die das hybride Subjekt ausmachen, genauer zu spezifizieren.

1 In Ermangelung einer guten deutschen Übersetzung des Begriffs »Agency« ist immer wieder

Unterschiedliches vorgeschlagen worden: Handlung, Handlungsträgerschaft, Handlungsfähigkeit und vieles mehr. Akteursschaft ist ein ebenso ungelenker Vorschlag, wegen seiner fehlenden Eleganz soll in der theoretischen Auseinandersetzung das englische Original beibehalten werden (vgl. zur aktuellen Diskussion etwa FULLER 1994; JONES 1996; JEPPERSON/MEYER 2000; FUCHS 2001; LOYAL/BARNES 2001; MARTIN 2005; DÉPELTEAU 2008).

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Zur Heuristik: Elemente einer symmetrischen Praxistheorie »Disziplinierungen von Bildern sind (De-)Stabilisierungen von Praxis – Umbauten an Apparaten, Settings und Formaten sind Rekonfigurationen von Sozialität«, so lautet die Grundannahme dieses Beitrags. Wie zu Beginn angekündigt, sollen ihre Bedingungen und Konsequenzen unter Rückgriff auf Elemente einer symmetrischen Praxistheorie skizziert werden. Da eben dieser Rückgriff aber als ein Rückgriff auf eine Heuristik bezeichnet werden kann, ergibt sich ein scheinbarer Widerspruch, den es zuerst aufzulösen gilt. Von einer Heuristik wird hier aus zwei Gründen gesprochen: Zuerst aus Gründen der Bescheidenheit und Korrektheit, da die hier skizzierte Reihe von Annahmen und konzeptionellen Entscheidungen alles andere als eine eorie im strengen Sinne ist, denn ihre Ausformulierung und die Arbeit an ihrer Systematisierung ist im Rahmen eines solchen Textabschnittes nicht zu leisten. Zweitens ist es aber auch eine Heuristik aus forschungspraktischen Gründen: Eine der Grundannahmen jeder Form von Praxistheorie ist die Fundierung jeglicher Form von Sozialität in einer sich ständig verändernden Praxis, sodass auch die Phänomene, über die Annahmen und konzeptionelle Entscheidungen formuliert werden, immer nur vorläufig und immer wieder aufs Neue anders in und durch Praxis realisiert werden. Eine Analysestrategie zur Beschreibung und Interpretation von Sozialität kann daher zwar anstreben, theoretisch streng in ihren epistemologischen und ontologischen Annahmen zu sein, muss aber notwendig in ihren substanziellen Annahmen auf beständige Revision eingestellt sein. Auch eine ausformulierte symmetrische Praxistheorie bleibt daher in großen Teilen immer Heuristik. In Bezug auf ihre Grundannahmen fußen die hier skizzierten Elemente einer symmetrischen Praxistheorie gleichermaßen auf den sogenannten »neoklassischen« Praxistheorien (vgl. Schatzki ,

; Reckwitz

,

$,

%; Turner

), der ActorNetwork-eory (Latour!Woolgar ; Callon , ,

; Latour ,

; Law  ) und der soziologischen Systemtheorie (Luhmann %, ). Ausgehend vom Problem der Materialität sozialer Praxis präferiert diese Perspektive die Beibehaltung des Praxisbegriffs als Grundbegriff, weil er sich in besonderem Maße dazu eignet, die Annahme umzusetzen, dass sich große und kleine Formen von Sozialität – Mikro- und Makrophänomene – nicht prinzipiell, sondern durch Komplexität unterscheiden. Ökonomische Praktiken und die Praxis des Tauschs zum Beispiel sind strukturhomolog, sie unterscheiden sich vor allem durch die Heterogenität und Stabilität der sie realisierenden Relationen von Körpern und Artefakten.

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Eine Beibehaltung aber macht eine Neudefinition des Praxisbegriffes erforderlich. Angeschlossen wird dazu weniger an das ungleiche französisch-britische Doppel Bourdieu und Giddens (vgl. Bourdieu ,  , ; Giddens , ), sondern vielmehr an jene Variante post-strukturalistisch gewendeter Praxistheorie, wie sie auf unterschiedliche Weise in der neo-wittgensteinischen Sozialtheorie (vgl. Schatzki ,

; Knorr-Cetina et al.

), in den post-humanistischen Genderanalysen (vgl. Haraway ) und in den post-konstruktivistischen Technikanalysen (vgl. Latour!Woolgar ; Latour ) formuliert worden ist. Mit dem Begriff der Praxen und der – durchaus gewollten – Konnotation der Unterscheidung von eorie und Praxis haben schon Giddens und Bourdieu jene Charakteristik sozialen Geschehens thematisiert, die der Alternativbegriff der Handlung systematisch ausblendet. Dieser verweist schließlich, darauf haben ganz unterschiedliche Autoren – Luhmann beispielsweise auch – hingewiesen, immer auf eine Handelnde, die mit ihrem Handeln selbst irgendeinen eigenen Sinn verbindet. Dass dieser eigene – klassisch mit Weber (vgl. Weber  ): subjektiv gemeinte – Sinn beständig an den eigentlich soziologisch spannenden Phänomenen vorbeiläu, nämlich an denjenigen Phänomenen, die systematisch das überschreiten, was sich die Beteiligten dabei denken, ist bekanntlich einer der Kerne der Luhmannschen Kritik am Handlungsbegriff (vgl. Luhmann %). Giddens und Bourdieu nun – je auf eigene Weise – interpretieren dieses systematische Überschreiten so, dass es verkörperlichte, objektivierte Routinen, dinghae Ressourcen und habitualisierte Körper sind, die Dispositionen für Praxen produzieren, die sich dem reflektierten Wissen der Beteiligten entziehen. In Schatzkis neo-wittgensteinischer Praxiskonzeption (vgl. Schatzki ,

) und in der Aktantkonzeption posthumanistischer eorien (vgl. Callon ) wird die poststrukturalistische Dezentrierung des Subjektes (vgl. Deleuze!Guattari ; Foucault

%) schließlich in den sozialtheoretischen Grundbegriff direkt überführt. Das bewusste und reflektierte Wissen, Wollen und Können der Beteiligten, das cogito, aus dessen alleiniger Faktizität Descartes das Sein seines Ego schloss, wird aus seiner ungerechtfertigten Zentralstellung als treibendes und bestimmendes Element herausgelöst und zu einem neben anderen, deren Verwebung Praxis ausmacht. Nimmt man an dieser Stelle die Argumente der Actor-Network-eory zur Generalisierung des Bloorschen Symmetriekonzeptes (vgl. Bloor ) ernst, dann sind diese anderen Elemente nicht nur die habitualisierten Körper anderer Menschen, sondern ebenso die vielen Dinge und Artefakte, ohne die Praxis nicht

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zu realisieren wäre. Praxis ist daher sozusagen Handeln ohne vorgängige Handelnde. Praxis ist jene Assemblage, die durch Relationierung von Körpern und Artefakten weitere Praxis ermöglicht oder beschränkt. Praxis ist das Ergebnis vollzogener Zusammenhänge körperlicher oder dinglicher Aktivität und Passivität. Im Anschluss an die Actor-Network-eory wird als besonderes Merkmal der zu analysierenden Phänomene begriffen, dass es sich bei ihnen um heterogene Assemblagen handelt, nur, dass nicht Akteure (oder Aktanten) im Mittelpunkt der Beschreibungen stehen, sondern Praxen. Damit wird die Analyse von Praxis zur Untersuchung der operativen Herstellung heterogener Stabilisierungs- und Destabilisierungprojekte. Diese Annahme wird der soziologischen Systemtheorie Luhmanns entlehnt, für die die in Wahrscheinlichkeit transformierten Unwahrscheinlichkeiten der Kommunikation (Anschluss, Adressierung, Erfolg) den Ausgangspunkt aller Untersuchungen von Erwartungsstrukturen bildet. In dieser Hinsicht – und in einigen anderen auch – sind sich Praxistheorien und Systemtheorie recht einig, betrachtet doch auch diese die unit of analysis – verkettete kommunikative Operationen (vgl. Luhmann ), also im je neu prozessierten Verstehen aktualisierte Unterscheidungen von Information und Mitteilung – als instabile und flüchtige Basis jeglicher Form von Systembildung. Praxis als Assemblage von Körpern und Artefakten wird genauso instabil gedacht wie die Verkettung kommunikativer Operationen. An die Stelle der sich dann autopoietisch fortsetzenden Emergenz sozialer Systeme aber stellen Praxistheorien die Annahme, dass mittels desselben Prozesses der Einbindung weiterer Körper und Artefakte Praxen stabilisiert und destabilisiert werden. Auf der Ebene unterschiedlicher Möglichkeiten für Stabilisierungen siedelt eine solche Praxistheorie neben Routinisierungen, das heißt der Übersetzung  – im Sinne Serres und Callons (vgl. Callons ; Serres  ) – von Praxisformen in habitualisierte Körper auch Diskursivierungen, das heißt die Übersetzung in sprachlich-lautliche und textualisierte Zeichenordnungen sowie Technisierungen (vgl. Latour ), also die Übersetzung in kausale Simplifikationen an. Trotzdem sie zu den, zumindest unter kontemporären Bedingungen, besonders wirksamen Möglichkeiten der Stabilisierung (und auch Destabilisierung) zählen, sind Routinisierung, Diskursivierung und Technisierung selbst wiederum nicht abstrakte, essenzielle oder a priori kategorial unterscheidbare Stabilisierungstypen, sondern stabilisierte Praxisformen, selbst also wieder Assemblagen von Körpern und Artefakten.

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Rekonfigurationen von Agencypositionen Im Folgenden soll die oben skizzierte Heuristik zur Analyse eines spezifischen sozialen Phänomens in einem ganz bestimmten empirischen Feld genutzt werden: der Rekonfiguration von Agencypositionen im Bereich der Fotografie, die durch das Einbinden neuer Artefakt-Konstellationen ermöglicht und realisiert werden. Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Artefakte allein die Agencypositionen bestimmen  – damit wäre die Analyse nach einem komplizierten Umweg durch Praxis- und Techniktheorien wieder bei einer technizistischen oder mediendeterministischen Erklärung angekommen. Ebenfalls rekonfigurierend wirkt sich die Habitualisierung von Fotografenund Fotografiertenkörper aus, was sich an der Praxis des aufgeforderten Lächelns (»Say Cheese«) oder an der entgegengestellten Praxis des Aus-der-Hüe-Fotografierens geübter Handyfotografen untersuchen ließe. Doch es sind nicht nur Agencypositionen, die rekonfiguriert werden: Ebenso auf dem Spiel stehen Normalisierung, Standardisierung und Professionalisierung von Wissensformen oder rechtliche und kommerzielle Praxisstabilisierungen, denen die Aktivitäten und Passivitäten der hinzugetretenen Artefaktkonstellationen Striche durch Rechnungen und Urteile machen. Am Beispiel der Agencypositionen aber lässt sich recht gut erkennen, welche zentralen Kategorien im Wandel sind, wenn sich Praxisformen durch das Hinzutreten, Verändern und Verschwinden von Artefakten und Körpern verändern. In Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (vgl. Benjamin $) wird vornehmlich die Veränderung der Kunst und ihre Rolle durch die Veränderungen der Produktionsmittel vor allem im Bereich Fotografie und Film thematisiert. So ist der Text – abgesehen von der ihn umgebenden Klammer, in der die Beobachtungen gesellschasanalytisch in den marxistischen Rahmen rückgebettet werden und in der die ese von der Bindung der Kunst an die Politik stark gemacht wird – in zwei größere Teile gegliedert. Im ersten Teil (Kapitel I–VI) findet sich das wohl meistrezipierte Element des Benjaminschen Ansatzes, der Verfall der Aura als Abkopplung von Hier-und-Jetzt des Werkes durch die Unmöglichkeit, Originale und Reproduktionen zu bestimmen. Im zweiten Teil (Kapitel VII–XV) zur visuellen Kultur der Moderne aber finden sich einige interessante, in der Debatte aber viel weniger beachtete Passagen, die darauf schließen lassen, dass Benjamin die Rekonfiguration von Produktions- und Rezeptionsverhältnissen und damit der spezifischen Agencypositionen auf beiden Seiten des Apparates durchaus vor Augen hatte. »Das Publikum fühlt sich in den Darsteller nur ein, in-

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dem es sich in den Apparat einfühlt. Es übernimmt also dessen Haltung: es testet« (Benjamin $:  [Herv. i.O.]) schreibt Benjamin über die veränderte Praxis der Kunstrezeption, in der nicht mehr der Künstler, seine Intentionen, seine Leidenschaen und Wünsche, sein Willen und Wollen einerseits, nicht die spezifischen Rezeptionsumstände (das Ritual) in seiner einzigartigen Erlebniswelt andererseits im Mittelpunkt stehen, sondern die in der Technologie des Fotoapparates eingeschriebene Haltung einer Praxis des Testens. Aber nicht nur das: »Das Eigentümliche an der Aufnahme im Filmatelier aber besteht darin, dass sie an die Stelle des Publikums die Apparatur setzt« (ebd.: ). Auch auf der Seite der Produzenten der Bilder, die im Übrigen auch nicht als einzelne Künstler identifizierbar sind (was gar nicht so neu ist, denkt man an die hochgradig organisierten Künstlerwerkstätten vor der Erfindung der Fotografie), sondern arbeitsteilig Inhalt, Form, Schnitt und Entwicklung der Bilder übernehmen, steht nicht mehr der Rezipient auf der anderen Seite des Bildes, sondern ebenfalls die an seine Stelle getretene Apparatur. Auf sie stellen sich beide  – Rezipient und Produzent ein – obgleich gerade sie es ist, die im Bild und im Film sich gerade ständig versteckt: »Im Filmatelier ist die Apparatur derart tief in die Wirklichkeit eingedrungen, dass deren reiner, vom Fremdkörper der Apparatur freier Aspekt das Ergebnis einer besonderen Prozedur, nämlich der Aufnahme durch den eigens eingestellten photographischen Apparat und ihrer Montierung mit anderen Aufnahmen von der gleichen Art ist« (ebd.: $). Was Benjamin beschreibt, ist die technische Re-Stabilisierung einer diskursiven Praxis. Im Gegensatz zu anderen sind technische Stabilisierungen durch eine besondere Eigenart geprägt, der Luhmann schon mit seiner Formulierung funktionierende Simplifikation und Latour mit seinen black boxes auf der Spur waren. Indem Techniken eingerichtet werden, werden die Prozesse, Regeln, Schemata und Bedingungen, die in Hard-, So- und Wetware eingebaut werden, quasi versteckt. Wenn Technik funktioniert, dann braucht es den Blick in die ›schwarze Kiste‹ nicht. Wird eine technische Stabilisierung implementiert, de- und restabilisiert das andere Praxisformen. In diesem Fall die – diskursive, semiotische Artefakte sprachlicher und nichtsprachlicher Form realisierende – Praxis der Produktion und Rezeption von Kunst. Destabilisierung zeigt sich im Verlust der Aura, restabilisiert wird diskursiv durch die Bindung an Politik, habituell durch die Veränderung der Rezeptionshaltung von der Kontemplation und

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Versenkung zur flüchtigen Aufmerksamkeit und zum Choc. Das Dazwischentreten des Apparates rekonfiguriert so die Agencypositionen: Aus Künstler und Betrachter werden Darsteller, Operateure und Publikum. Aber es passiert noch sehr viel mehr: Folgt man Latours Re-Interpretation der Arbeit von Jenkins (vgl. Jenkins ) in Science in Action (vgl. Latour ) und in Technology is Society made durable (vgl. Latour ), dass mit der Erfindung der Kodak-Kamera, besser noch mit der Browie-Kamera ab 

nicht nur eine neue Technologie auf den Markt kam, sondern Fotografie als Praxis neu definiert wurde, dann lässt sich eine weitere Differenzierung der Agencypositionen ausmachen. »You press the button, we do the rest« (im Französischen: »Clic clac, merci Kodak«) – völlig unmöglich ohne das gleichzeitige Ablaufen eines Prozesses der Problematisierung und des Interessement (vgl. Callon ). Neben der billigen Kamera (die Kamera kostete  $ inklusive eines eingelegten Filmes), die technisch kompliziert genug ist, müssen Vertriebswege, Rücksendungen und die massenhae Erstellung von Abzügen organisiert werden. Viel wichtiger aber ist es, die Fotografen neu zu bestimmen: Waren es doch zuvor auf sich selbst gestellte Hobbyisten und Handwerker, die ihre Platten selbst herstellten, ihre Entwicklungen selbst machten und in beidem ähnlich eigene Expertise entwickelten wie in der eigentlichen Praxis der Fotografie, so sind Fotografen nach Kodak zwischen  und  Jahre alt und benötigen wenig mehr als ein Interesse an Bildern (und eine komplexe, heterogene Infrastruktur, die aus Interesse Bilder macht). Im Gegensatz zu dem, was Benjamin beschreibt – eine De- und Restabilierung von Praxis durch den Einbau einer Technik – werden hier eine ganze Reihe von noch nicht wirklich stabilen Praxisformen zusammengebunden. Ein technisches Stabilisierungsprojekt (die Kodak-Kamera) bindet ein heterogenes Netz anderer stabilisierter (und noch nicht stabilisierter) Projekte zusammen. Weder die Hobbyfotografie noch das professionelle Fotografieren, weder die industrielle Fertigung von Fotoplatten noch die Herstellung von Papierabzügen waren zum Zeitpunkt der Einführung der Kamera hinreichend stabilisiert, die Projekte ihrer Festigung ließen eine ganze Reihe von Optionen, inklusive ihres baldigen Verschwindens, offen. Die Kamera wird in diese Konfiguration von Körpern und Artefakten eingebunden, zusätzlich werden alle anderen Praxisformen auf sie ausgerichtet. Callon würde von der Einrichtung eines obligatorischen Passagepunktes sprechen. Und wieder werden Agencypositionen rekonfiguriert: Aus professionellen Foto-Handwerkern werden Amateurfotografen, Dienstleister und Künstler.

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Ein Jahrhundert später sind Digitalfotografie und Fotoplattformen wie flickr.com an die Stelle von Rollenfilm und Einsendelabor getreten – nicht vollständig, aber doch merkbar. »%% uploads in the last minute ·   things tagged with fresco · , million things geotagged this month« schreibt ein Algorithmus am Dienstag, den %..  um :$ Uhr auf die Startseite von flickr.com. Die Unmengen verfügbarer, ansehbarer und auswertbarer Bilder, die auf den Servern des Bilderdienstes der Firma von Yahoo lagern, erlauben nicht nur das Teilen und Versenden von Schnappschüssen an Freunde und Bekannte, sie erlauben ebenfalls eine maschinelle Weiterverarbeitung der Inhalte, der Zusatzinformationen, der Diskussionen über die Bilder, der Klassifikation durch Tag-Systeme und der Reihenfolge, der Häufigkeit und der Dauer von Seh-Akten. Unter dem Web-.-Schlagwort »Usergenerated Content« eröffnen sich neue Optionen der Nutzerbeteiligung, aber auch der Nutzungsverrechnung und -weiterverwertung. Tags und Beschreibungen werden zu komplexen Klassifikationssystemen aggregiert, Meta-Informationen – etwa sogenannte Geo-Tags, die den geografischen Standort bezeichnen, an dem ein Bild gemacht wurde (oder zumindest: zu dem es zugeordnet ist), Informationen über Belichtung, Blende, Aufnahmezeitpunkt (zumindest, wenn die Uhr der Kamera nicht verstellt ist, weil der Akku vorher leer war) – lassen sich zu Karten, Schaubildern und Zeitachsen zusammenstellen. Und zuletzt: Auf ihrer Basis können Nutzern automatisch Vorschläge gemacht werden, welche der Unmengen von Bildern für sie aufgrund von Ähnlichkeiten vielleicht interessant sein könnten, an welchen Diskussionen über Bilder sie vielleicht gerne teilhaben wollen würden oder welche Bilder sie vielleicht aufgrund ihres spezifischen Vorwissens und ihrer Blickhistorie bewerten, verschlagworten oder einordnen wollen würden. Solche Vorschlagsdienste haben überall im Internet Prominenz erlangt: Amazon.com schlägt Bücher und Produkte vor, Last.fm Musiktitel, Facebook.com Freude, Nachrichtenseiten zusätzliche Lektüren. Der Vorschlagsdienst, der auf der Seite von flickr.com arbeitet, heißt Interestingness. Er liefert auf der Seite http://flickr.com/explore regelmäßig neue Bilder aus den unendlichen Archiven des Dienstes. Vorschlagsdienste arbeiten zwar mit unterschiedlichen Algorithmen, aber dennoch mit ähnlichem Prinzip: Sie errechnen auf der Basis von unterschiedlichen Merkmalen Ränge, die sie miteinander verbinden, zuweilen noch randomisieren (bei gleichem Rang). Anschließend liefern sie das Objekt mit dem höchsten Rang. Die Algorithmen selbst sind natürlich gut gehütet, ihre Patentschrien aber sind öffentlich zugänglich (zum Beispiel über die Webseite des US Patent & Trademark Of-

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fice unter http://www.uspto.gov). Sie bilden das Material für die folgenden Überlegungen. Das Material hat einen sehr speziellen Status, denn einerseits besteht es aus schrilichen Dokumenten, die nicht notwendigerweise den tatsächlich implementierten Funktionen entsprechen müssen. In der Implementierung können ganz andere Gewichtungen vorgenommen werden, bestimmte Daten können auch temporär ausgeschlossen sein, weil im Testlauf bemerkt wurde, dass keine guten Ergebnisse dabei herauskommen, oder andere Funktionen können implementiert sein, bei denen man dann das Risiko trägt, sie nicht vom Patent geschützt zu haben. Es kann auch durchaus sein, dass, gerade weil es sich um die Sicherung von Konzepten handelt, keine der Funktionen, die im Patent genannt sind, tatsächlich implementiert ist – wenn sie nur von der kommerziellen Nutzung durch andere dadurch ausgeschlossen ist. Im Fall des Interestingness-Patents könnte das gut der Fall sein: Seine Einreichung ist nach der Implementierung des Algorithmus erfolgt und es ist möglich, dass man auch explizit andere, gut funktionierende Ranking-Varianten für Konkurrenten ausschließen wollte. Die Interpretation im Folgenden, das muss quellenkritisch deshalb gesagt werden, bezieht sich auf die Potenziale, die das Patentdokument skizziert, und sie können nicht ohne Einschränkung als eine Interpretation der tatsächlichen Implementierung verstanden werden. Das Material hat eine sehr eigene Form. Der Text des Patentes sieht etwa wie folgt aus: » 1. An apparatus for determining an interestingness rank for at least one media object, comprising: logic for accepting at least one metadatum concerning the at least one media object from at least one user; and logic for ranking the at least one media object based at least in part on the quantity of user-entered metadata concerning the at least one media object. 2. The apparatus of claim 1, wherein the user-entered metadata comprises a member of the group consisting of: tags, comments and annotations. 3. The apparatus of claim 2, further comprising logic for determining relevance of at least one tag to the at least one media object based at least in part upon relevance input from at least one user, wherein the rank is based at least in part on the relevance of the at least one tag to the at least one media object. 4. The apparatus of claim 1, wherein the logic for ranking is further operable to rank a media object based at least in part on an access pattern related to the at least one media object. 5. The apparatus of claim 4, wherein the access pattern is based at least in part upon the number of click throughs of the at least one media object.

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6. The apparatus of claim 4, wherein the access pattern is based at least in part upon the number of views of the at least one media object.« Die Verschachtelung der Claims ineinander (»the apparatus of«) macht eine vereinfachende Darstellung unmöglich, da zu jedem Satz die Folge von Sätzen hinzugefügt werden müsste, die hinter dem eigentlich zitierten Text steht. Dies sind häufig jeweils mehr als drei, o auch mehr als fünf. Aus diesem Grund wird in der Darstellung auf wörtliche Zitate verzichtet – sie wären eher verdunkelnd als erhellend. Versucht man aber, die Möglichkeiten zu systematisieren, die flickr.com mit dem Interestingness-Algorithmus potenziell zur Verfügung stehen, um Ränge zu berechnen, dann zeigen sich darin eine ganze Reihe von Verschiebungen in den Konfigurationen der Praxis des Bilderproduzierens, -gebens, -nehmens und -schauens, die sich stark von den organisierten Formen der Kodak-Welt unterscheiden. Sie finden statt auf der Ebene der Zeitlichkeit (wie viel Zeit ist seit der Einstellung eines Bildes vergangen?), der sachlichen Einordnung (darf dieses Bild hier ein Bild sein, steht sein Inhalt also auf manuell oder maschinell gepflegten White- und Blacklisten?) – insbesondere aber auch auf der Ebene der potenziellen und miteinander konkurrierenden Agencypositionen. Da ist zum einen die Verrechnung des Rangs eines Objektes – eines Bildes, aber auch eines Videos – in Bezug auf die Quantität vorhandener Metadaten. Dazu gehören die Menge, noch nicht die Qualität oder die Inhalte von expliziten Verschlagwortungen, von Kommentaren, Anmerkungen, ebenso aber auch von solchen Merkmalen, die nur von der Plattform selbst, nicht von den Nutzern – oder besser, nicht von einzelnen Nutzern – beeinflusst werden können: also etwa Zugriffsstatistiken oder Wege, über die man zum Bild kommt (erst Tante Ernas Kaffeemaschine, dann Willis Blumengarten, dann Heides Cocker Spaniel). Zwei Optionen, ein Nutzer zu sein, werden damit eröffnet. Es ist möglich, passiver Konsument zu sein, der zur Verrechnung dieses Rangs nur durch Nutzung selbst beiträgt, indem seine Aktivitäten auf der Seite mitgeschrieben und ausgewertet werden. Es ist zudem möglich, aktiver Nutzer zu sein, der zur Verrechung dieses Rangs mittels eigener Tätigkeiten, also mittels Diskussion, Verschlagwortung oder Anmerkung beiträgt. Selbstverständlich kann man auch ein einsamer Nutzer sein und einer, der einer großen Zahl Gleichgesinnter angehört, ob man es weiß oder nicht. Das wird deutlich im zweiten Rang, der sich auf die Anzahl der Nutzer bezieht, die das Bild gesehen, angeklickt oder favorisiert haben. Die Tatsache, dass diese Aktivitäten nicht zusammen, sondern im Patent getrennt aufgeführt wer-

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den, lässt darauf schließen, dass sie als unterschiedlich zu gewichtende Tätigkeiten angesehen werden, deren Zählung zu ganz unterschiedlichen Klassifikationen führt. Aber auch zwischen den einzelnen Nutzern werden Relationen betrachtet. So hat jeder Nutzer die Möglichkeit, der Plattform in Bezug auf andere Nutzer mitzuteilen, wie beide zueinander stehen. So lassen sich Freunde, Bekannte, Familie festlegen, auch um Zugriffsrechte für die einzelnen Bilder festzulegen. Auch aus diesen Merkmalen wird im Interestingness-Algorithmus ein Rang erzeugt, der sich auf die explizite Beziehung des Aufrufenden zum Einsteller des Bildes ergibt. Über Reihenfolgen sagt die Patentschri im Übrigen nichts: Ob also die Katzenfotos des Onkels öer oder gerade seltener erscheinen, darüber lässt das Patent im Unklaren. Beides wäre denkbar. Interessant, obgleich einleuchtend aber ist, dass die Beziehung zum Einsteller zentral ist, nicht die zum Hersteller des Bildes. Die Plattform kennt den Fotografen ja nicht, und wenn doch, dann weiß sie nicht, dass der Nutzer, den sie kennt, auch tatsächlich Fotos machen kann. Bekannt ist nur, wer das Bild eingestellt hat. Das kann jemand mit einer benennbaren Beziehung zum Fotografen sein oder jemand, der das Bild auf dem Flohmarkt auf einer Speicherkarte erstanden hat. Weil Einsteller und Hersteller des Bildes nicht identisch sein müssen, kann es sogar sein, dass sich der Fotograf unter den Nutzern befindet, die in expliziter Beziehung zum Einsteller stehen: etwa, wenn ein Freund des Fotografen ein analoges Bild digitalisiert und eingestellt hat. Möglicherweise aber war das gar kein Freund, sondern ein Dienstleister, dessen explizite Beziehung zu den Aufrufern sich nicht in die Klassifikationsmuster der Flickr-Beziehungen (Freunde oder Familie) einordnen lässt. Dessen andere Bilder, die der Interestingness-Algorithmus aufgrund des aus den expliziten Beziehungen zwischen Einsteller und Aufrufer erstellten Rangs anzeigen würde, sind aber möglicherweise überhaupt nicht interessant. Die einfache Idee »Wenn meine Freunde es gemacht haben, dann wird es mich interessieren« liefert formalisiert nur in bestimmten Fällen nützliche Ergebnisse. Deshalb berechnet der Algorithmus zusätzlich noch eine Reihe anderer Ränge, die explizite Nutzerbeziehungen untereinander (also nicht zwischen Einsteller und Nutzer, sondern zwischen verschiedenen Nutzern) zur Grundlage nehmen, aber auch eine Reihe von Rängen, deren Grundlage eine von der Plattform selbst erstellte Einschätzung dieser Beziehung darstellt. Flickr nennt diese Einschätzungen implizite Beziehungen und diese werden erstellt aus den in den Metadaten abgelegten Ortsangaben. Dabei handelt es sich zum Beispiel um die angegebenen Wohnorte in den Profilen der Nutzer, ebenso aber auch

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um GPS-Tags, die bei einigen Kameras, insbesondere bei Mobiltelefonen, beim Drücken des Auslösers vom Apparat in der Datei abgelegt werden oder die vom Einsteller dem Bild nachträglich hinzugefügt werden. In den gleichen Rang aber werden auch Ortsangaben von ganz anderen Bildern miteinbezogen, die Einsteller und unterschiedliche Nutzer zuvor zu ihren Favoriten erklärt haben. Auf ein und dieselbe Stufe also werden die Angaben über die Orte gestellt, an denen Einsteller und Nutzer (vorgeblich) wohnen, an denen die Bilder (vorgeblich) gemacht wurden und die (vorgeblich) auf Bildern zu sehen sind, die Einsteller und Nutzer vorher angesehen und gemocht haben. Für die Errechnung dessen, was den aktuellen Nutzer interessieren könnte, kann sich der Algorithmus nicht auf die selbst gemachten Angaben der Einsteller und Nutzer verlassen: Er muss Daten, die während der alltäglichen Nutzung der Plattform mitprotokolliert werden, auf der gleichen Ebene mit einbeziehen. Das wird noch deutlicher an dem letzten Typ von Rängen, der auf die impliziten Beziehungen des Aufrufers zum Einsteller und zu anderen Aufrufern verweist, die aus deren Verschlagwortungen, deren Kommentaren und deren Aufrufstatistiken ganz anderer Bilder auf der Plattform berechnet werden. Hierbei handelt es sich nun eindeutig nicht mehr um Angaben, die irgendetwas mit einer präferenzbasierten Auswahl zu tun haben – alle diese Angaben entstammen regulären Nutzungen der Plattform, von denen weder Einsteller noch Nutzer in der Regel annehmen, dass sie auf das ihnen präsentierte Angebot zurückwirken. Nutzer, Einsteller, Hersteller – für die Plattform sehr unterschiedliche und gewissermaßen diffuse Zurechnungsmöglichkeiten. An die Stelle der Zweiteilung in Fotograf und Betrachter, die der oberflächliche Blick auf die Praxis der Fotografie liefert, ist unter den Bedingungen der Digtalfotografie und der Netzplattformen ein diffuses, wenn auch hochgradig strukturiertes Gefüge von Agencypositionen getreten. Es bezieht seine Ordnung aber nicht aus den Positionen vor und hinter der Kamera, sondern aus dem, was das Bild in den Metadaten als Spuren seiner Herstellung, Präsentation und Nutzung mit sich trägt und was die Plattform an Details über die Protagonisten seiner Einstellung und Nutzungen zusammentragen kann. Aus dem Gefüge der möglichen Positionen ist der Fotograf vollständig verschwunden, er muss sich als gewöhnlicher Nutzer seiner eigenen Bilder entweder als Einsteller oder als Aufrufer klassifizieren lassen neben anderen Einstellern und Aufrufern, die keine Fotografen sind, sondern im radikalsten Fall auch aus Soware bestehen können: Bildsuchmaschinen, die Plattformen absuchen und indizieren, sind ebenfalls Aufrufer, manchmal, wenn sie Bilder von einer Plattform auf die andere kopieren, so-

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gar Einsteller. Ein neuer Akteur hingegen wird in diesem Gefüge der Agencypositionen an eine besondere Stelle gehoben. Die Kamera liefert sozusagen unbestechliche Metadaten: Während den Angaben der Nutzer nur bis zu einem gewissen Maß geglaubt werden kann, teilt die Kamera sehr eindeutig mit, wo sie gewesen ist, welche Belichtung und welche Einstellungen zu dem Bild geführt haben. Ihre Angaben werden gleichwertig behandelt, für den Auswahl-Akt neuer Bilder ist ihr Beitrag zumindest auf der gleichen Ebene wie die der Nutzer angesiedelt. Man kann in der Deutung sogar noch einen Schritt weiter gehen: Ihre Aussagen gelten individuell und werden als zurechenbare Angaben behandelt, während die Nutzer, egal ob Einsteller oder Aufrufer, eben gerade nicht als individuelle Fotointeressierte behandelt werden, sondern als beobachtete, typisierte und klassifizierte Elemente von taxonomischen Kollektiven (vgl. Wehner

). Akteure werden durch und in Apparaturen konfiguriert. Schon Benjamin musste feststellen, dass aus Künstler und Betrachter eines Kunstwerkes im Zeitalter seiner technischen Reproduktion Darsteller, Operateure und Publikum werden. Aus einem zweistelligen Gefüge von Agencypositionen, die in der künstlerisch-bildnerischen Praxis realisiert werden, wird mit dem Dazwischentreten der Kamera ein zumindest dreistelliges mit ungleich verteilten Optionen. Mit der Kodak-Kamera wird das dreistellige Gefüge wieder vereinfacht und so weiter asymmetrisiert: Amateure, Künstler und Dienstleister werden zusammengefügt zur zweistelligen und massenmedial prominenten Struktur von Produzenten und Konsumenten von Bildern. Am Interestingness-Algorithmus schließlich lässt sich beobachten, was Digitalfotografie und Web . für das Agencygefüge der Fotografie bedeuten. Lange schon steht die ese im Raum, dass sich ein neuer Typus des Prosumers der neuen Mitmachoptionen des Netzes problemlos bedient. Tatsächlich aber wird das asymmetrische binäre Gefüge der Agencypositionen der alten Medien (hier: Fotograf und Publikum) in ein diffuses und im Fluss befindliches Gefüge überführt, in der vor allem eines für die Sicherung einer gewissen Ordnung zuständig ist: die Algorithmen der Apparaturen.

Agencypositionen und Subjektkulturen Auch das kontemporäre Selbst ist zu verstehen als ein Bündel von Selbstpraktiken. Und die Formen moderner Subjektkulturen sind, wie Reckwitz materialreich gezeigt hat, durch je spezifische Öffnungen und Schließungen von Kontingenzen sowie durch je bestimmte Hybridisierungen geprägt (vgl. Reckwitz

a, b): also durch un-

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terschiedliche Stabilisierungen und Destabilisierungen von Assemblagen von Körpern und Artefakten sowie durch das Einbinden von so stabilisierten Praxen in das Gefüge je kontemporärer Selbstpraxen. Die Verschiebung des analytischen Rasters der Subjekt- und Selbstformenanalyse von Fragen der Sozialisiation individueller handlungsfähiger Subjekte einerseits, von anthropologisch-philosophischen Subjektkonzeptionen andererseits hin zu den historisch-konkreten Praxen, die – gebündelt – moderne Selbstmöglichkeiten erst hervorbringen, führt in Konsequenz dazu, nicht nach den Eigenarten moderner Subjekte und nach den Begründungen für neuzeitliche Identitäten zu fragen: also nach den Bedingungen für moralische Integrität, Innerlichkeit, Other-Directed-Ness oder postmoderne Fragmentierung. Stattdessen sind es Praxen der Erzeugung von Integrität (die Beichte, das Tagebuchschreiben oder die öffentliche Stellungnahme), der Innerlichkeit (das Einrichten von Wohnräumen oder das Verfassen von Gedichten), der Other-Directed-Ness (das Tragen von Anzügen und das Mittragen von Vereinen) oder von postmoderner Fragmentierung (das Arbeiten in instabilen Projekten und die ästhetisierte Körperlichkeit), die die soziologische Analyse interessieren. Denn es ist ihre Zusammenwebung, die  – diskursiv mit legitimierenden und analysierenden Texten gestützt  – jene scheinbar so klar bestimmbaren Eigenarten moderner Selbstverhältnisse ergeben. Auf die sich verändernden Körperverhältnisse moderner Subjektkulturen ist bereits vielfach hingewiesen worden: Studien zur Geschichte der Hygiene, der Sexualität oder zum Sport legen deren Transformationen deutlich dar. Dass es zudem moderne Rechtsdiskurse sind, in denen – neben anderen – das moderne Selbst verhandelt wurde, hat die Rechtsphilosophie immer schon betont und die Rechtssoziologie empirisch beschrieben. Von Hobbes an sind Einzelne erst durch ihre Selbstbindung an das Recht (und den dadurch gesetzten Souverän) Subjekte, »vorher nur Körper, die töten und getötet werden« (Luhmann $: , $: %). Dass es hingegen auch Technologien, konkret materielle wie abstrakt formale Apparaturen und Installationen sind, mit deren wie selbstverständlicher Nutzung das moderne Selbst sich unterschiedlich erzeugte, ist erst in der letzten Zeit in den Blick gekommen. Dabei sind es auch mediale Techniken mit ihren hegemonialen wie subversiven Nutzungspraxen (vgl. Reckwitz

), deren Veränderungen auch Transformationen moderner Subjektkulturen mit hervorbringen, die so wieder Bestandteil je kontemporärer Selbstverhältnisse werden. Das autobiografische Bewusstsein und die reflexive wie rationalisierende Haltung zur Welt der bürgerlichen Subjektkultur hängen eng mit der Praxis des Tagebuchschreibens und den

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mit dem Buchdruck verbundenen Praktiken bürgerlichen Lesens zusammen, wie ebenso die Außenorientierung und die ästhetische Orientierung an Oberflächen des nach-bürgerlichen Subjekts der organisierten Moderne verbunden ist mit der Einübung cinematischer Performanzen und visuell-taxiernder looked-at-ness oder wie die kreative Expressivität und die Authentizität betonende Self-Growth-Orientierung des postmodernen Explorativsubjektes in engem Zusammenhang mit dem click-Fetischismus und der spielerischen Nutzung von Computern stehen. In diesem Sinne lassen sich die aktuellen medientechnischen Entwicklungen jenseits der allseits geführten Interaktivitäts-, Konvergenzund Konnektivitätsdebatten über das Neue neuer Medien soziologisch beschreiben. Was neben den Überlegungen zu virtuellen Gemeinschaen, digitalen Dörfern und netzgestützter Vollinklusion die digitalen Technologien ausmacht, ist ihre Tendenz, Unmengen von Daten auch über ihre Nutzung anzuhäufen. Websites protokollieren Nutzungen und Zugriffe, Online-Shop-Portale generieren User-Profile, Soziale Netzwerke wie XING oder Facebook generieren Ähnlichkeitsprofile und Web- . -Mashups aggregieren Geo-Daten, semantische Tags, Life-Feeds und Werbeschaltungen zu hochfluiden medialen Formaten. Zugleich aber steigt die Tendenz, all diese Daten nicht zu zentralisieren, sondern im Netz zu verteilen, weil damit die Kapazitäten mittels Cluster- und Grid-Computing in unermessliche Größen ansteigen. Ein einziger Nutzungsakt: das Versenden einer E-Mail, der Druck auf den -Click-Buy-Knopf des Online-Buchhändlers, das Abschicken einer Google-Anfrage oder eben das Hochladen eines Bildes auf eine Plattform wie Flickr erzeugt eine Unmenge an Datenspuren. Und an diversen Orten kann (und wird) mit diesen Daten automatisch wie nutzergebunden alles Mögliche passieren. Einer der Server, der die Mail weiterleitet, kann maschinell mitlesen oder gar den Text verändern. Der -Click-Buy-Button kann zu einem Phishing-Gateway führen, der Konto- und Zahlungsdaten mitschreibt. Die GoogleAnfrage wird zur Errechnung der eigenen wie auch anderer Suchergebnisse genutzt und das Bild auf Flickr kann von anderen Teilnehmern, aber auch von automatischen Bots getaggt, kommentiert und verunglimp werden. So sehr das auch nach ungeplanten oder ungewollten Nebeneffekten aussehen mag: Es sind nur die sichtbaren Formen der Implementierung medialer Technologien, die nicht wie der Buchdruck gleiche Kopien ein und desselben Inhalts liefern, nicht wie die Kamera, das Kino und das Fernsehen die massenhae und kontinuierliche »Choc-Wirkung« technisch reproduzierbarer Bilder liefert (vgl. Benjamin $), sondern die Veränderlichkeit der Formate, die

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Anpassung der Inhalte durch die Rezipienten und die Variabilität der Produktions- und Rezeptionsweisen geradezu zu ihrem Prinzip erheben. Was digital vorliegt, kann und wird verändert werden – ob sichtbar wie bei der Manipulation von Texten und Bildern an der Oberfläche oder ohne sichtbare Effekte wie bei der Codierung in unterschiedliche Datentypen, bei der Kompression von Tönen und Videos und bei der Verrechnung und Clusterung von Nutzungsdaten zur automatischen Anpassung von Inhalten. Wenn zur bürgerlichen Subjektkultur gehört, an linearen, mehr oder weniger konsistenten, in jedem Fall aber perspektivischen Texten ein diszipliniertes, moralisch integeres und individuell reflektiertes, also ein die eigene Perspektive mit der der anderen in Texten vergleichendes Selbst zu trainieren; wenn es zur spätmodernen Subjektkultur gehört, an cineastischen Bilderwelten und visuell typisierten Charakteren, Plots und Erzählformaten ein außenorientiertes, an Oberflächen der anderen sich spiegelndes Selbst zu formen; wenn es zur postmodernen Subjektkultur schließlich gehört, im Spiel mit Computern und Videos ein exploratives und expressives Selbst auf den Markt der Identitätsofferten zu werfen, dann gehört es zur kontemporären Subjektkultur – wie auch immer man sie plakativ nennen mag – mit sich beständig und in Echtzeit aufgrund der Eingriffe von anderen – körperlichen wie maschinellen anderen – verändernden Inhalten, Formaten, Interfaces und Plattformen – ein Selbst zu erzeugen, zu dem die Beiträge eines einzelnen identifizierbaren körperlichen Akteurs nur eine beteiligte, nicht aber die zentrale Rolle spielen. Jeder Versuch der individuellen Regulierung wird ja ebenso beständig mitgeschrieben oder ist über den Vergleich mit archivierten Daten auf anderen Systemen als Regulierung sichtbar. Ein solcherart verteiltes Selbst entzieht sich in seiner medientechnischen Realisation beständig irgendeiner auch nur vorstellbaren individuellen Kontrolle – ohne dass es dabei au€ört, ein Selbst zu sein. Nun muss man aus dieser paradoxen Situation: einerseits wird im Gefüge medientechnisch realisierter Agencypositionen beständig und vermehrt eine Subjektkultur etabliert, die verteilte, vernetzte und in Echtzeit durch den Beitrag von Anderen – Menschen wie Maschinen – Selbstpraxen und damit fragmentierte Selbstverhältnisse hervorbringen hil – andererseits aber werden diskursiv – zum Beispiel in Rechtsdiskursen – gerade jene Selbstpraxen als präferiert ausgeflaggt, die auf individuelle und selbstbestimmte, Einheitlichkeit und Identität herstellende setzen – nicht den Schluss einer dialektischen Situation ziehen, die nun nach Auflösung drängt. Vielmehr ist es gerade diese Agonalität zwischen Fragmentierung und Identitätsbeto-

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nung, in dessen Spannungsfeld kontemporäre Selbstverhältnisse entstehen. Reckwitz hat darauf hingewiesen, dass in der Geschichte der modernen Subjektkulturen eigentlich immer Agonalitäten produktiv geworden sind, dass also die Paradoxien moderner Selbstverhältnisse zumeist entfaltet und nicht aufgelöst worden sind. Das bürgerliche Selbstverhältnis war durch die Verwebung von Moralitätspräferenz und Innerlichkeit, das nachbürgerliche Selbstverhältnis durch die von Normierungspräferenz und Äußerlichkeit, das postmoderne Selbstverhältnis durch die von Marktförmigkeit und Instabilität geprägt. Unter kontemporären Bedingungen scheinen sich die Selbstverhältnisse im Zusammenhang mit einer Subjektkultur der Verwebung von Identitätspräferenz und Fragmentierung zu realisieren. So wird ein Selbstverhältnis realisiert, das bislang ein relativ konsequenzloses Avantgardemodell der urbanen Creative Class (Florida

) war: umfassende Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Dezentrierung des Selbst.

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Anmerkung der Herausgeber: Der folgende Text hat zwei Autoren. Der Wunsch der Verfasser war es, die jeweiligen Textabschnitte entsprechend kenntlich zu machen. Somit wird den Textpassagen von MATTHIAS VOGEL die Signatur [MV] vorangestellt. Die Textteile von ULRICH BINDER werden mit [UB] gekennzeichnet.

Matthias Vogel/Ulrich Binder

Bilder auf Reisen. Zur Transmedialität von Fotografie [MV]1 Jede Fotografie besitzt eine eigene Erscheinung, eine individuelle Geschichte, die sie – sich anpassend an bestehende Kodizes oder ausbrechend aus vorgegebenen Bahnen – mitbestimmt. Will sie bei aller Eigenständigkeit über den Moment hinaus Orientierung liefern, muss sie sich auch zu Mustern fügen, Anschluss suchen an die Historie ihres Mediums, an diejenige der Bilder schlechthin. Im steten Wechsel von Individualität und Typenbildung, Besonderem und Allgemeinem öffnen die technischen Repräsentationen den Blick auf uns und die Welt. Aufmerksamkeit in der Gegenwart wird der heterogenen Fotografie, die ›aus der Reihe tanzt‹, zuteil, Wirksamkeit in der Zukun der homogenen, die dem Ornament innerer Bilder – sei es vom Einzelnen oder von einem Kollektiv entworfen – entspricht. Beide Ziele sind nur erreichbar, wenn ein Bild den Mittelweg zwischen Ausbruch und Anpassung, Maskerade und Integrität findet. Der tel dieses Beitrags, Extrakt eines größeren Forschungsprojekts, dass in einer Publikation dokumentiert wurde (vgl. Binder!Vogel

), suggeriert einerseits den passiven Charakter fotografischer Bilder, ihre leichte Transportierbarkeit innerhalb der verschiedenen Medien und ihrer jeweiligen Diskurse; dann nämlich, wenn sie auf Reisen geschickt werden. Er soll aber andererseits auch das aktive Rollenspiel der Bilder andeuten, ihre Veränderbarkeit in unterschiedlichen Situationen, mit der sie die Betrachter zu irritieren wissen. Sie gehen aus dieser Perspektive von sich aus auf Reisen. In Adaption einer 1 Die Textteile von MATTHIAS VOGEL werden mit der Signatur [MV] gekennzeichnet.

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Denkfigur von Albrecht Wellmer könnte man sagen, dass der Ort der »gelungenen« Fotografie irgendwie zwischen einem »Subjekt« und einem »Objekt« liegen muss (vgl. Wellmer

:  ). In dem vagen Irgendwie steckt ein Problem, das wir an dieser Stelle nicht lösen können. Nur soviel sei angedeutet: Die Verfassung der Fotografie kommt der Prozessualität der ästhetischen Erfahrung als einem Erkenntnisvermögen, das lustvoll zwischen Einbildungskra und Verstand hin und her pendelt, entgegen. Die Fotografie ist, mehr noch als andere Bilder, vor allem prozessual und erst dann »gegenständlich« verfasst (ebd.). Deshalb fließt dieselbe Aufnahme scheinbar unbeschadet in die verschiedensten Medien ein, deshalb taucht sie in unterschiedlichsten Kontexten auf, sodass sie spätestens hier Dasselbe und ein Anderes ist, sich demnach die Identitätsfrage stellt. Die Medien, in denen die Bilder veröffentlicht werden, sind ähnlich aktiv wie die Fotografien. Sie besitzen ein innovatives Potenzial, das im mehr oder weniger beabsichtigten Fort- und Überschreiben der Bildinhalte und -ästhetiken ihren Ausdruck findet. Der konkrete ästhetische Prozess im Auge der Betrachter vollzieht sich dann vor allem im Verhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen, so wie Adorno im Anschluss an die abendländische eorie bemerkt hat (vgl. Adorno  : ). Prozessual ist das fotografische Bild aber auch, weil es ständig zwischen Ding und Zeichen, materieller Konfiguration und Text changiert. Daraus folgt auch der allfällige Rätselcharakter, in dem Sinnsuggestion und Sinnentzug ineinandergreifen, sich das Bild, indem es sich zeigt, gleich wieder verbirgt. Die Bedeutung einzelner »gelungener« Fotografien (s.o.) ist demnach in ihrer Unerschöpflichkeit durch den einzelnen Interpreten uneinholbar. Jeder mediale Gebrauch eines solchen Bildes, dem immer ein Verständnis oder eine Auslegung vorausgeht, wird somit nur eine beschränkte Zahl an Bedeutungen abdecken. Dieser Horizont kann in einigen Fällen eng bleiben, in anderen mag er sich ständig ausweiten – wir werden darauf in der Folge noch genauer eingehen. Wenn Adorno bemerkt: »Kein Kunstwerk hat sich selbst zum Gegenstand« (Adorno  : %), dann meint er unter anderem, dass es nicht mit seiner ursprünglichen Erscheinungsform identisch bleibt. Besonders im Fall der Pressefotografie, aber auch bei Amateuraufnahmen und anderen Fotogenres, erschließt sich ihr materielles und semantisches Potenzial nicht im Augenblick ihres ersten medialen Auritts, sondern es enthüllt sich, sofern sie nicht in Archiven begraben liegt, in ihrem geschichtlichen Weiterleben, »in ihrem Eintreten in neue Kontexte der Rezeption« (Wellmer

:  ).

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Nur das gelungene Bild, das bei jedem Auritt neu und unbekannt wirkt und beim Betrachter ein Reflexionskontinuum in Gang setzt, kann uns in Zeiten anhaltender Bilderfluten vor Anästhetik oder ikonoklastischer Wut bewahren. Es sind die gleichen Bilder, die einerseits zur medialen Selbstreflexion einladen, andererseits mit dem Referenten und seiner Erwartungshaltung spielen. Dadurch verweisen sie in einer Art Befreiungsgeste nicht mehr in erster Linie auf ihn und die Welt. Eine solche Emanzipation, das wissen wir aus der Geschichte der Moderne, birgt jedoch Gefahren. Dort, wo der visuelle Wirklichkeitsbezug zu stark infrage gestellt wird, lässt er sich notfalls nur durch die Sprache wiederherstellen. Umso schwieriger wird es für die Fotografie, sich danach den begrifflichen Vorgaben wieder zu entziehen. Das erneute Aufleben einer Fotografie kann recht unspektakulär vonstatten gehen. Schon eine schlichte Reproduktion, im Bemühen um Originaltreue hergestellt, vermag eine bestehende Bildbotscha erheblich zu verschieben. Materialität und Bedeutung von zum Beispiel Reportagefotografien machen nach dem Verlassen des Archivs nicht selten Metamorphosen durch. Sie erhalten für ihre Repräsentation in den verschiedenen Medien, seien es nun Zeitungen oder Zeitschriften, Bücher oder Ausstellungen, das Fernsehen oder das Internet, eine je eigene Erscheinung. Vieles bei diesem Transformationsprozess ist Zufall, denn nur wenige Bildnutzer stellen sich ihrer Rolle als Interpreten und streben aus dem Wissen über die bisherige Aufführungspraxis eine Neukonzipierung an. Von bewusster Neuinterpretation, wie sie etwa in anderen Künsten gepflegt wird, kann daher kaum die Rede sein, aber man kann die Autorlosigkeit dieser medialen Prozesse grundsätzlich akzeptieren und in ihrer strukturierenden Auswirkung trotzdem beobachten. Weil sich Fotografien unterschiedlich reproduzieren und mit wechselnden geschriebenen Texten kombinieren lassen, haben sie die Tendenz, sich aus ihrem ursprünglichen Kontext zu lösen und an unerwarteten und inkongruenten Orten aufzutauchen (vgl. Howarth

: ). Und wenn sie dies tun, wird ihre Bedeutung jeweils durch das Rahmenwerk, das sie umgibt, beeinflusst. Sofern sie tatsächlich das visuelle Gedächtnis kleinerer oder größerer Gemeinschaen bewahren wollen, wird es Aufgabe der Archive sein, zumindest wichtige Prägungen zu bewahren. Erst so wird das ›Leben der Bilder‹ als erstaunliche Reise, als ein Wechsel von Auauchen und Verschwinden sowie von steten Umwandlungen grei_ar. Dabei spielt der Einschluss in bedeutende Ausstellungen und Publikationen eine entscheidende Rolle. Einzelne Fotografien können ganz unterschiedliche Karrieren

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machen, sie können konsistent sein und sie selbst bleiben oder sie können flexibel sein und sich fremd werden, sie können auf überraschende Weise neu interpretiert werden oder dem Missverständnis anheimfallen. Die Abfolge unterschiedlicher Gebrauchs- und Reproduktionsweisen einer Fotografie ergibt je eine eigene Geschichte – manchmal gradlinig und eintönig, manchmal voller Brüche und Wandlungen. In jedem Fall kann man von Bildbiografien sprechen, denen wir im Artikel punktuell, in der Publikation ausführlicher nachgehen. Voraussetzung dafür, dass Bilder die wichtigen Funktionen der Vergegenwärtigung des Vergangenen und das Senden von Botschaften aus einer immer schon vergangenen Gegenwart erfüllen können, ist ein Archiv, das ihre Geburt beziehungsweise Herstellung, das erste Aureten in der Öffentlichkeit und ihre weiteren wichtigen Lebensstationen bis hin zum allfälligen Tod, dem Herausfallen aus einer aktiven Praxis, festhält. Was bei Texten oder Musikstücken üblich ist, eine historisch-kritische Aufarbeitung und ein Wissen über die Aufführungspraxis, existiert bei Gebrauchsbildern bis heute noch nicht. Ein Ideal des Erinnerungsspeichers Fotografie, des Archivs schlechthin, besagt, dass gegenwärtige Objekte und Ereignisse möglichst vollständig abgebildet werden sollten, damit das Vorhandene nicht für immer vergangen und abwesend sein möge. Jacques Derrida entwickelte die Vorstellung eines »unmittelbaren Archivs«, in dem sich die jeweilige Gegenwart durch ihr eigenes Gedächtnis reproduziert und bewahrt. Dies wäre dann eine Form der »Selbstbewahrung«, bei der – mehr noch als beim individuellen Gedächtnis – vieles von einem Ereignis aufgehoben wäre, nur weniges verloren ginge (vgl. Derrida

:  ). Wenn Fotografie tatsächlich so prozessual und performativ ist, wie in diesem Artikel postuliert, müssten bei jeder Vergegenwärtigung auch Erinnerungspartikel abfallen, müssten die Verschiebungen und Verwandlungen zumindest in visueller Form archiviert sein und sich zeigen. Hier wird das Sich-Zeigen durchaus im emphatischen Sinn der »Deixis« verstanden (vgl. Boehm

: ). Der Vorteil eines solch selbstbewahrenden Systems – meist in der Art einer Bilderfolge – liegen auf der Hand: Es wäre gleichsam spontan und nicht durch die Wertmaßstäbe und die Sprache distanzierter »Archonten« gefiltert. Im Weiteren träten Alterungsspuren, wie bei der Porträtfolge desselben Menschen, auch bei der geschichtlichen Reihung ein und derselben Fotografie auf. Auch könnte eine Fotografie nach Jahren der Archiv-Existenz in einem bestimmten Zusammenhang frischer und unverbrauchter auauchen und wirken als bei ihrem Entstehen. Aber vor allem eines wäre eine solche Galerie des scheinbar immer Gleichen imstande zu verdeutlichen: Weder der ori-

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ginäre noch der aktuelle Zustand einer Fotografie ist ihre ganze Wahrheit. Um dieser nahezukommen, braucht es die überlieferten historischen Erscheinungsweisen eines Bildes (vgl. Gadamer : $). Im Weiteren kann man sich nur mithilfe einer visuellen Bildbiografie darüber klar werden, wie eine Fotografie in einzelnen Etappen zu dem geworden ist, was sie im Augenblick darstellt. Dann lassen sich auch Veränderungen leichter tolerieren, denn der Wunsch, einen Originalzustand zu rekonstruieren, muss in der Regel scheitern. Groß ist in einzelnen Fällen das Bedürfnis, all den Ballast und all die Geschichten, die ein Bild im Laufe seiner Biografie angesammelt hat, zu verdrängen. Im Fall der Fotografie ist das Beharren auf der ursprünglichen Materialität immer auch ein Verlust. Erfahrene Restauratoren wissen heute, dass die Wiederbelebung eines ursprünglichen Zustandes nicht nur ein eitles Unterfangen ist, sondern etliche Schichten, die mittlerweile auch Teil des Bildes sind, entfernt. Fotografische Texte lassen sich besonders leicht überschreiben und in »uns geläufigere Diskurse einschreiben« (Hall

$:  ). Alle Bilder sind in irgendeiner Form Palimpsest, werden jedoch als homogene, undurchlässige Oberfläche behandelt. Das gilt für Bilder, die auf weitgehend glatten Trägern erscheinen, wie Fotografien, in besonderem Maße. Jede Schicht hat ihre Daseinsberechtigung und ist Teil des Bildes, deshalb ist die Suche nach der eigentlichen und originären Materialität sowie Bedeutung eine Spielerei für Historiografen. Ein anderes Problem ist, dass manchmal eine neue Schicht so undurchlässig sein kann, dass sie alle früheren unter sich begräbt und dadurch auslöscht. Das Wissen um tiefere Schichten und dort abgelagerte Wissensbestände kann plötzlich oder allmählich verloren gehen. [UB]2 Doch nach wie vor verleitet die Detailtreue von Fotografien, aber auch der Umstand, dass sie von mechanischen Apparaturen ›geschossen‹ werden, zur Annahme, dass die Bilder damit auch definitiv festgelegt sind. Anhand von zwei Fallbeispielen soll hier im Folgenden darlegt werden, wie dem nicht ganz so ist. Fotografische Bilder lassen sich nur schwer disziplinieren, das heißt auf eine bleibende Erscheinung festlegen. Diese variiert mit jedem neuen Auritt, mit dem Alter und insbesondere nach einem medialen Wechsel. O ist diese Veränderung unbeabsichtigt, manchmal ist sie Teil einer künstlerischen Strategie. Das erste Fallbeispiel handelt von Fotografien von Peter Ammon. Ammon hat Anfang der  er Jahre Schweizer Bergbauern und Hand2 Die Textteile von ULRICH BINDER werden mit der Signatur [UB] gekennzeichnet.

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werker fotografiert, wie es damals im Zuge der Geistigen Landesverteidigung nicht unüblich war. Was aus heutiger Perspektive leicht inszeniert wirkt, die aufgeputzten Trachten bei der Arbeit etwa, das Arrangement der Figuren um einen Mittelpunkt oder das Episodenhae einiger Aufnahmen, mag durchaus dem Selbstbild der fotografierten Menschen entsprochen haben. Was seine Bilder jedoch auszeichnet ist nicht der Duktus einer inszenierten Dokumentarfotografie, sondern ihre Farbe. Als einer der ersten machte er mit seiner Plattenkamera farbige Diapositive, und im Rückblick erscheint es gar so, als hätte er das Kolorit der Landscha und ihrer Bewohner erst eigentlich entdeckt. Als Entdeckung wurde dann jedenfalls die Neuauflage der Fotostudie durch seinen Sohn Emanuel Ammon im Jahr

 aufgenommen. Obwohl die Fotografien schon zu ihrer Entstehungszeit über Kalender eine weite Verbreitung fanden und gerade bei der Bergbevölkerung beliebt waren, war das Konvolut von rund

Diapositiven um die Jahrtausendwende weitgehend vergessen. Selbst der Fotograf, der seit längerem in Südfrankreich lebt, hielt die Aufnahmen für verloren, weil die Originaldias heute einen erheblichen Rotstich aufweisen (vgl. Abb. ). Mit der Technologie des Computers wurde es dann aber möglich, die Bilder zu korrigieren, die Frage ist allerdings wie: Es existierten keine Referenzabzüge, einzig ein paar frühe Drucke in Kalendern, die ihrerseits aber einem Kolorit der Zeit verpflichtet beziehungsweise von den jeweiligen technischen Möglichkeiten geprägt sind und ebenso einem Alterungsprozess unterliegen. Abb. 1: PETER AMMON, Gebet Die Frage fand eine praktische Antwort. Mit vor der Kartoffelernte im Lötschental, um 1950 (Diapositiv, der Buch-Vernissage des Bandes: Peter Am- 4×5 inch) mon, Bergleben um   ging eine kleine Ausstellung einher. Dabei wurde vor allem ein Bild durch seine Verwendung in diversen Werbemitteln gleichsam zur Erkennungsmarke des Fotokünstlers Peter Ammon: Das Gebet vor der Kartoffelernte im Lötschental. Dieses Bild bietet uns die Gelegenheit diverse materielle und koloristische Verschiebungen in ihren Auswirkungen zu beobachten: die verschiedenen Träger des Bildes mit ihren Oberflächenqualitäten, die unterschiedlichen Druck- und Printverfahren und ihre Folgen für die Bilderscheinung, die Ausschnitte und Behandlung der Ränder, die diversen Rezeptionsumgebungen und nicht zuletzt die minimalen und doch signifikanten Veränderungen im Kolorit.

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Bei der Präsentation der folgenden Beispiele ist eine erneute Umformatierung unumgänglich und es besteht das Risiko, dass sich beim Druck dieses Buches genau jene Erscheinung erneut verändert, die im Text als semantisch wirksame beschrieben ist. Dennoch erscheint es unverzichtbar, die genannten Bilder zu zeigen, um das Gesagte zumindest der Überprü_arkeit auszusetzen: Abb.  zeigt die Einladungskarte der AusstelAbb. 2: Einladungskarte zur lung und Buch-Vernissage im Ausstellungs- Ausstellung, 2006 raum Höfli in Stans von

. Sie ist auf ein einseitig gestrichenes zirka  -grämmiges Papier im DIN-A-Format gedruckt, mattglänzend. Das Diapositiv ist leicht vergrößert und vollständig wiedergegeben, das belegt der schwarze Filmrand mit Einkerbungen. Die Verletzungen des Dias in den oberen Ecken – mutmaßlich von Stecknadeln herrührend – sind nicht korrigiert. Die Signatur unterhalb des Bildes weist den Fotografen als Künstler aus. Am Gebäude, das Abb. 3: Ausstellungsplakat am nicht nur die Ausstellungsräumlichkeiten, Höfli in Stans ( Foto : AMMON ) sondern noch weitere Nutzungen beherbergt, hängt das Bild als großformatiges Aushängeplakat (vgl. Abb.  $). Die Bildplache erreicht die Höhe eines Geschosses, die Figuren werden in der Folge beinahe lebensgroß. Das Bild verdeckt einen Bogen des Laubengangs, wird aber dadurch auch auf seiner Rückseite sichtbar. Auf Abbildung  ist die Fotografie als Ausstellungsobjekt in ei- Abb. 4: Im Ausstellungsraum nem der beiden Ausstellungs- ( Foto : U. BINDER ) räume zu sehen. Es ist ein Inkjet-Print auf hochglänzendem Fotopapier, von einem Passepartout und einem lasierten Holzrahmen eingefasst. Der Neuabzug setzt die Digitalisierung und die Korrektur des originalen Bildträgers voraus. Verschiedene Lichtquellen beleuchten Raum und Bilder und spiegeln sich im Glas des Rahmens. Bei-

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gestellt ist die Sinar-Fachkamera, mit der die Aufnahme gefertigt wurde. Abb. zeigt den Schutzumschlag des Buches. Das Bild ist beschnitten und mit einem wachsartigen Laminat überzogen, sodass die Figuren eine leicht diffuse Erscheinung erhalten. tel und Signatur sind ins Bild eingefügt und werden gleichsam von Köpfen der Hauptfiguren getragen. Ein kleinformatiges Werbe-Booklet übernimmt dann diese Vorlage (vgl. Abb. ). Abb. 5: Buchumschlag: PETER Es ist ein Offsetdruck auf halbglänzendem AMMON, Schweizer Bergleben um 1950, Luzern 2006 Papier, das Motiv ist leicht nach unten gerückt und in helleren Farben und deutlicheren Kontrasten wiedergegeben. Auf dem Online-Portal der Fotoagentur Aura, die den Fotografen vertritt, ist wiederum das ganze Format mit eingekerbtem Rand zu sehen (vgl. Abb. ). Diese Einkerbungen dienten dem Fotografen als Orientierung beim Einlegen des Films im Dunkeln. Sie können als Hinweis auf die Herkun des Bildes gelesen werden. Als Pressebild dient die Vorlage zur IlAbb. 6: Werbe-Booklet des lustration von Berichten in Zeitungen und Aura-Verlags, Luzern 2006 Magazinen (vgl. Abb. , ). Je nach Größe der Abbildung und Qualität des Papiers wirkt sich dabei das Raster auf die Dichte der Bildschicht aus. Die Fotografie wird schließlich als Fine-Art-Print editiert (vgl. Abb.  ). Die digitale Vorlage wird mit pigmentierter nte auf ein ungestrichenes Büttenpapier geplottet. Die Oberfläche des Papiers bleibt vollkommen matt und fein strukturiert, die Farbe erhält eine für die Fotografie ungewohnte efe. Diese Farbdrucke sollen im Unter- Abb. 7: Digitalisierte Fotograschied zu bisherigen C-Prints über  Jahre fie, Onlineportal Fotoagentur Aura unverändert haltbar sein, entsprechend werden sie als Kunstdrucke in limitierter Auflage herausgegeben und vom Autor signiert. Im Erlebnis der Anmutung sind die verschiedenen medial bedingten Faktoren nicht scharf voneinander zu trennen. Dennoch soll hier kurz auf die Farbe fokussiert werden, gerade weil das Kolorit einer Fotografie sich nicht notwendigerweise mit dem Medienwechsel verändern

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müsste. Im direkten Vergleich erkennen wir unmittelbar die Unterschiede in der Farbatmosphäre, hellere oder dunklere Bildräume, ein Mehr an Grün-, Blau- oder Rot-Anteilen oder Unterschiede in der Sattheit der Töne. Obwohl die Tages- und Jahreszeit wie auch die Temperatur im Bildraum durch Bildzeichen wie die Abb. 8: Abdruck in Walliser Bote, 21. November 2006 Bekleidung der Bauersleute und den Raureif im Gras in etwa festgelegt sind, verändert sich mit der Farbbalance die Bildwärme doch beträchtlich – und mit ihr die Härte oder Beweglichkeit der Gegenstände und die efe des Bildraumes. So verflacht er sich deutlich im dunkelkühlen Buchumschlag (vgl. Abb. ) und die Fi- Abb. 9: Abdruck in Schweizer Familie, guren scheinen unverrückbar in 44/2006 die Bildordnung eingefügt. Auf der Einladungskarte (vgl. Abb. ) hingegen scheint sich die KaltWarm-Scheide mit der Trennung von Vorder- und Hintergrund zu überlagern, sodass die efenwirkung erheblich gesteigert wird. Die Figuren stehen hier in einem Raum, in dem sie sich auch tatsächlich bewegen könnten und ihr Innehalten bekommt eine andere Bedeutung. Sowohl die Deh- Abb. 10: Fine-Art-Print auf Crane Museonung des Bildraumes wie auch Papier, 35×44 cm ( Foto : U. BINDER ) die Konsistenz von Figuren und Gegenständen wirken sich direkt auf das narrative Dispositiv eines Bildes aus. Und dieses ist insofern von besonderer Bedeutung in einer Fotografie, als ihre wesentliche mediale Eigenheit darin besteht, Weltstücke stillzustellen und zu verflachen. Es wirkt auch deshalb wie eine programmatische Anmerkung, wenn die zentrale Figur im Bild – das Mädchen im roten Pullover – ganz schnell noch etwas in den Korb wir, während sich die Eltern bewegungslos auf Gott und den Fotografen einstellen.

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Zwischen der Referenz auf ein tatsächlich vorhandenes oder eben nicht vorhandenes fotografisches Original und der Anpassung an zeitgenössisches Kolorit beziehungsweise an die heutige Fotolandscha gibt es eine bildinterne Logik, aus der heraus eine Entscheidung über die Farbatmosphäre getroffen werden kann. Interessanterweise werden diese Entscheidungen mit jedem Medienwechsel von der Fotografie oder vom Fotografen neu eingefordert. Die Farbstimmung wird so zum Gestaltungsmittel, und mit ihr verändert sich die synästhetische Wahrnehmung, die Atmosphäre eines dargestellten Raumes: die Verteilung von hell und dunkel, seine Wärme und Durchlässigkeit, die taktilen Qualitäten seiner Oberflächen und seine Akustik. Die Farben bleiben bei der Rezeption eines Bildraumes nicht an Gegenstände gebunden, sondern lösen sich von den Oberflächen, verschmelzen im Kolorit und werden Teil eines Mediums, das den Bildraum erfüllt und alle Wahrnehmungen fast unmerklich einstimmt. Auf diese Weise werden kleinste Farbveränderungen überraschend wirksam, selbst wenn – oder gerade weil – sich die Wahrnehmung auf die Bildgegenstände konzentriert. Das Schweizer Bergleben im Jahr

$ sieht dann beträchtlich anders aus. Das zweite Bildbeispiel stammt vom Fotografen und Künstler Jules Spinatsch und düre einigen bekannt sein (vgl. Abb. ).

Abb. 11: JULES SPINATSCH, Temporary Discomfort, Chapter IV, Pulver Gut , Davos, World Economic Forum (WEF), Januar 2003

Es ist in einer Winterlandscha aufgenommen und zeigt – dies hat gewiss zu seiner Bekanntheit beigetragen – das Kongresszentrum von Davos zum Zeitpunkt des World Economic Forum (WEF). Sein vollständiger tel lautet: Jules Spinatsch, Temporary Discomfort, Chapter IV, Pulver Gut, Davos World Economic Forum (WEF) Januar , Panorama_Camera A_Promenade, Congress Center, North and Middle Entry_ Still Shots__ h - h. Es ist die erste Aufnahme, die der Fotograf gemacht hat, ohne selber vor Ort, also in Davos, anwesend zu sein. Genau genommen sind es  Aufnahmen,

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die zwischen :$ Uhr und :$ Uhr durch eine digitale, mit einem starken Zoomobjektiv ausgerüstete Überwachungskamera vom Kongresszentrum gemacht worden sind. Die einzelnen Fotografien werden hier in Spalten aufgereiht und von links nach rechts aneinandergefügt, sodass der Tag-Nacht-Wechsel als vertikale Aueilung in Erscheinung tritt. Die Makrostruktur des Bildes entspricht seiner Mikrostruktur mit den Bildpixeln. Die leichte Auswölbung der einzelnen Rechtecke, die dem Bild eine wattierte Oberfläche verleihen, sind auf den Lichtabfall der Linse und die automatische Blendeneinstellung der Kamera zurückzuführen. Die Aufnahmen überlappen sich und werden zusammengerechnet, nachdem die Helligkeitsunterschiede zwischen den einzelnen Fotografien leicht ausgeglichen worden sind. Schnelle Bewegungen, wie sie im linken Bildteil auf der Straße stattfanden, werden mit diesem Aufnahmeverfahren fragmentiert und lassen nur mehr Indizien eines Ereignisses zurück. Das ganze Panorama zeigt, so aufsummiert, einen Schwenk von  Grad über das Gelände des WEF. Sie ist Teil eines Gesamtkonzeptes, in dem das Gelände von drei verschiedenen Standpunkten aus überwacht beziehungsweise erfasst wurde. Die beiden anderen Kameras erzeugten vergleichbare Bilder. Anlässlich der ersten Präsentation im Kunstraum Walcheturm in Zürich werden die Einzelbilder sofort nach ihrer Aufzeichnung von Davos nach Zürich übermittelt, mit einem Laserprinter auf DIN-A$-Blätter ausgedruckt und über fünf Tage hinweg – parallel zur Dauer des WEF – in der Galerie an eine

Meter lange und rund fünf Meter hohe Wand tapeziert (vgl. Abb.  ). Eine Live-Berichterstattung quasi, nur dass auf diesem Bild all das nicht zu sehen ist, was man von einer Reportage über das WEF erwarten würde: Demonstranten, Handshakes be- Abb. 12: Temporary Discomfort IV, Pulver Gut, Kunstraum Walcheturm, 23.01. – 13.02.2003 kannter Politiker, Gruppenfotos ( Foto : Walcheturm ) mit einzelnen Damen. Anlässlich der Finissage konnten die einzelnen Blätter nach freier Wahl für fünf Franken erworben werden. Mit den Käufen zersetzte sich das Bild des WEF, Kunstkonsum wurde mit Globalisierungskritik synchronisiert. In den folgenden Aufführungen an andern Orten verdichtet sich das Panorama auf kleinere Formate, die allerdings nicht unter fünf Meter liegen, wie der Fotograf betont, weil andernfalls die Wirkung des Im-Bild-Seins nicht mehr gegeben sei. Für die Ausstellung im Centre

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de la Photographie in Genf wird das Panorama auf fünf Bahnen HighQuality-Inkjet-Papier geprinted, laminiert und anschließend gerollt zum Ausstellungsort gebracht (vgl. Abb. $). Hier wird es präzise in die Architektur eingepasst und direkt an der Wand fixiert. Dasselbe Bild wird im kommenden Jahr in London nochmals ausgestellt (vgl. Abb.  %). Die Bahnen werden dabei mit Klett- Abb. 13: Temporary Discomfort IV, Centre band an der Wand befestigt. Die de la Photographie, Genf, 2003 ( Foto : J. leichte Spannung des Papiers, SPINATSCH ) aber auch die Differenz zwischen Wand- und Bildhöhe, verleihen dem Träger mehr Fragilität und Eigenständigkeit und beeinträchtigen mit Reflexen den Blick durch das Medium in die Landscha. Im Rahmen der Ausstellung In den Alpen im Kunsthaus Zürich wird die Museums- oder Sammlerversion von Pulver Gut prä- Abb. 14: REVOLUTION MARKETING, VTO Gallery, London, 2004 ( Foto : VTO Gallery ) sentiert (vgl. Abb. ). Der , mal , Meter große Print ist auf hochwertiges Inkjet-Papier ausgedruckt, laminiert und mit einem Holzrahmen versehen. Diese käufliche Fassung ist auf eine Auflage von fünf Exemplaren limitiert und auf der Rückseite signiert. Die Bildlegende ist im Bild mitausgedruckt und nennt – analog zum Täfelchen auf geschnitztem Goldrahmen – Ti- Abb. 15: In den Alpen, Kunsthaus Zürich, tel, Künstler, Anlass, Ort, Datum 2006: Sammlerversion, Inkjet auf Papier, 2,5 x 1,2 m, gerahmt ( Foto : FBM Studio ) und Technik. Interessanterweise war das den Kuratoren nicht genug und sie versahen auch dieses Bild mit einer zusätzlichen Bildlegende, als wären die gedruckten Angaben Bestandteil einer Darstellung. Tatsächlich hält die Museumsversion mit ihrem vergleichsweise kleinen Format nicht das eigentliche Bilderlebnis bereit, wie der

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Künstler einräumt, sondern kann nur als Dokumentation verstanden werden, vergleichbar mit Fotografien von Aktionen oder Happenings. Für die Ausstellung click doubleclick im Haus der Kunst in München (vgl. Abb. ) wird das Panorama in der Größe von , mal ,$ Meter auf HQ-Inkjet-Papier ausgedruckt, auf vier Paneele aufgezogen, laminiert, in eine Kiste verpackt und versandt. Dieses Verfahren garantiert eine hohe Qualität, das Bild ist halt- Abb. 16: Click doubleclick – das dokumentarische Moment, Haus der Kunst, München, bar, transportierbar, aber in der 2006 ( Foto : J. SPINATSCH ) Herstellung sehr teuer. Mit einem schmalen Abstand werden die Platten an die Wand montiert und bilden hier einen auffallenden Knick, der die Tag-Nacht-Umstellung im Tableau aufnimmt und beantwortet. Wiederum folgt das Bild also in einem installativen Gestus der Wand, gleichzeitig bringt es den eigenen Träger mit und signalisiert, dass es auch losgelöst von den Wänden bestehen könnte. Zusammen mit diesem Großformat sind links und rechts auch Sammlerversionen aus derselben Arbeit zu sehen. Die unterschiedlichen Perspektiven auf das WEF werden hier im Raum übernommen und gleichzeitig medial differiert. Dazu zählen auch die drei Monitore, auf denen in ruhiger Folge die Aufnahmen je eines Hotspots zu sehen sind, das heißt eines Bildbereichs zusammengerechnet aus zirka  Einzelaufnahmen. Das Tafelbild aus München wird dann in die Ausstellung Augenzeugen im Seedamm-Kulturzentrum im schweizerischen Pfäffikon übernommen (vgl. Abb. ). Wiederum eine Ecksituation, hier allerdings präsentiert sich das Panorama als Fläche, doch auch in Kombination mit anderen Medien, zum Beispiel einem Abb. 17: AUGENZEUGEN – Bilder von Krieg, Globalität & Blogs, Seedamm-Kulturzentrum, ganzen Stapel gedruckter Pres- 2007 ( Foto : U. BINDER ) sefotografien zum Mitnehmen. Der Betrachter wird zudem seinerseits von einer Überwachungskamera beobachtet (in der Ecke oben links). Sie ist nicht Teil des Werks, aber Teil der musealen Situation. Für die Ausstellung im Museum of Modern Art (MoMA) stellte der Künstler dann dasselbe Bild nochmals

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her (vgl. Abb. ), ließ es aber erst jenseits des Atlantiks aufziehen, im Wissen darum, dass es für die Sammlung angekau werden würde. Schließlich wird das Bild Pulver Gut im Rahmen der Ausstellung Spectacular City in zwei Städten gezeigt, im NAI 3 in Rotterdam und im NRW-Forum in Düsseldorf (vgl. Abb. ). Diesmal ist es sehr groß: ,$ Meter breit und $, Meter hoch. Mit InkjetVerfahren auf Outdoor-PlakatpaAbb. 18: NEW PHOTOGRAPHY 2006, MoMA pier geprinted, wird es wie eine New York, 2007 ( Foto : MoMA ) Tapete mit Kleister auf die Wand aufgezogen und mit dem Ende der Ausstellung bei der Abnahme zerstört. Fugenlos verbindet sich so das Bild mit der Institution, ohne jene Falten und Rümpfe zu bilden, die es noch in der ersten Live-Übertragung gegeben hatte. Ein Vergleich mit der Fototapete oder einem Wandgemälde Abb. 19: Spectacular City : Photographing the drängt sich auf. In beiden Fäl- Future, NRW-Forum Düsseldorf, 2007 len wird die Wand beziehungs- ( Foto : NRW-Forum ) weise das ganze Haus zum Träger des Bildes und verwandelt die Raster-Struktur, die heute so sehr mit dem digitalen Bild verknüp ist, zurück in die Materialität von Keramikplatten (Azulejos). Eine bisher letzte Neuaufführung erlebte das Bild anlässlich der Einzelausstellung von Jules Spinatsch Am Ende der Abb. 20: Am Ende der Sehnsucht, Kunsthaus Sehnsucht im Kunsthaus Zug Zug, 2009 ( Foto : U. BINDER) (vgl. Abb. ). Im Restaurant des Hauses wurden eher kleinformatige Arbeiten aus allen Schaffensphasen des Künstlers zu einer Mini-Retrospektive zusammengestellt. An der Stirnseite des Rau3 NAI (Netherlands Architectuurinstituut)

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mes in dunklem Holz gerahmt und verglast, hängt ein Fragment der ersten Präsentation von Pulver Gut im Kunstraum Walcheturm. Ein Sammler hat damals einen größeren Ausschnitt aus dem Panorama erworben. Die Laser-Prints bezeugen als echtes Fragment ein Ereignis, das rund um ein Bild der Ereignislosigkeit inszeniert worden ist. Es ist diesmal das Material, das Kontinuität garantiert, was nicht zuletzt darin bestätigt wird, dass auch diese Papierträger Falten bilden. Für die Betrachtung vielleicht störend, bereichern sie das Fragment mit der Aura des Überbleibsels, der Reliquie. Im Bild Pulver Gut überlagern sich verschiedene herkömmliche Bildrhetoriken – Schlachtenpanorama, Pressefoto und Überwachungsaufnahme – zu einer neuen Erscheinungsform. Der Automatismus der Aufnahmetechnik organisiert das Panorama als Landschas-Scan in einer eigentümlichen Narrativität, einer Landschaserzählung, die im Grunde ohne Ereignis auskommt, aber auf eine minimale Präsentationsgröße angewiesen ist. Denn nur wenn die Bildausmaße das Blickfeld des Betrachters übersteigen, ist er aufgefordert, auch seine Lektüre als Pfad zu organisieren und den Augpunkt im Bildfeld umherwandern zu lassen. Vom Bild Pulver Gut gibt es aber weiterhin kein Original im Sinne eines grei_aren Objektes. Es ist in seiner Materialität nicht festgelegt, alle seine Auritte verweisen auf eine elektronische Partitur, die ihrerseits einer sinnlichen Wahrnehmung entzogen bleibt. Das Bild verweigert sich einer Disziplinierung, indem es seinen ontologischen Status in einen performativen Modus überführt. Über die jeweiligen Ausmaße und die materielle Qualität des Trägers hinaus wird seine Bedeutung auch aus dem schmalen Zwischenraum heraus bestimmt, der zwischen ihm und der Wand liegt. Hier entscheidet sich, ob das Bild bloß ausgestellt ist oder sich mit dem Untergrund verbindet. Denn nur dann erweitert sich die Macht der Beobachtung um das Gewicht einer Institution. [MV] Die Teilnahme an einer Ausstellung bedeutet o eine Initiation in der Wirkungsgeschichte einer Fotografie. Die Bilder gelangen nicht nur in eine neue, weitgehend fremde Umgebung, sie müssen auch den Konzepten und Aussagen der Ausstellungsmacher zudienen. Zwangsläufig kommt es dabei zu Überschreibungen bestehender Sinnschichten und häufig auch zu einem Wechsel des bestehenden Fotogenres. Nur in kulturhistorischen Museen werden ursprüngliche Produktions- und Gebrauchszusammenhänge ausgestellter Fotografien zuweilen rekonstruiert. Ansonsten werden von Ausstellungsmachern die Intentionen von Fotografen in einem geringeren Maß berücksichtigt als die von anderen Bild- und Kunstproduzenten. Um die Bedeu-

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tung eines solchen Bildes für die Gegenwart unter Beweis zu stellen, wird das Bild aktualisiert, indem es in gegenwärtige Diskurse gestellt und der entsprechenden ästhetischen Erscheinungsweise angepasst wird (vgl. Abb. : Foto-Migrationsschema: verschiedene Möglichkeiten von Bildverschiebungen).

Abb. 21: Foto-Migrationsschema (vgl. BINDER/VOGEL 2009)

Der Vergleich von Bilddarstellungen mit eaterstücken liegt nahe. Auch dabei wird angenommen, dass das Weiterleben deren Inhalte nur gesichert ist, wenn man es den Bedürfnissen, den Seh- und Denkgewohnheiten der jeweiligen Gegenwart anpasst. Aber bei eaterstücken bleibt das Original beziehungsweise der Text als Referenzgröße bestehen und kann jederzeit konsultiert werden. Bei der Fotografie ist das Original, das Negativ oder der digitale Datensatz nicht publiziert und daher nur schwer zugänglich, im Archiv begraben oder ganz verloren. Letztlich ist weniger problematisch, dass frühere mediale Auritte selten in Ausstellungen nachgezeichnet werden. Problematisch ist, dass die Verschiebungsvorgänge während einer Schau kaum beachtet und deshalb nicht festgehalten oder gar archiviert werden. Hat eine Ausstellung Erfolg, bleibt in der Erinnerung vieler küniger Bildnutzer haen, wie die Fotografie zuletzt – im Museumsraum und den Be-

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gleitmedien – präsentiert wurde. Frühere Gebrauchsweisen geraten in den Hintergrund und werden, je nach Archivierungsart, schließlich ganz vergessen. Die Prägekra des Mediums Ausstellung ist so groß, dass die Fotografien neu positioniert, aber auch geschichtslos sind. Unter diesen Umständen, und nicht als reines und gut dokumentiertes Archivobjekt, lebt das Bild im bewussten Teil des kollektiven Gedächtnisses weiter. Und tatsächlich sehen die Ausstellungskuratoren ihre primäre Aufgabe darin, die Bilder durch eine neue Validierung und Aktualisierung im Bewusstsein einer Öffentlichkeit zu erhalten. Unser drittes Beispiel soll zeigen, dass auch Fotografien, die zunächst im Kunstkontext erscheinen, zum Spielball mehr oder weniger willkürlicher Einschreibungen werden können – ein Prozess, an dessen Ende nur noch das Reproduzierte zählt, nicht jedoch die Art der Reproduktion. Es handelt sich um die Aufnahme Motion on the Sun von Annelise Štrba aus dem Jahre

. Wie im Falle vieler stiller Bilder dieser Schweizer Foto- und Videokünstlerin steht zu Beginn eine Videoarbeit (Streetparade ), aus der einzelne Stills extrahiert werden. Die so entstandene Fotografie war für den Kunstkontext bestimmt und wurde zunächst auch dort rezipiert. Eine größere Transformation machte das Werk nach dem Ankauf durch das Schweizer Landesmuseum und die Integration in die Ausstellung ›preview‹: Streifzüge durch die Schweiz des . Jahrhunderts im Jahr

 durch. Das Schweizer Landesmuseum versteht sich als Hort des visuellen Gedächtnisses Helvetiens. Mit dem Sammeln, Archivieren und Ausstellen von Gegenständen, die für die Schweiz von Bedeutung sind, ist nicht nur ein historisierendes, sondern auch ein pragmatisches Konzept verbunden. Die Objekte und die Geschichten, die sie erzählen, sollen in Gegenwart und Zukun Orientierungshilfe bieten. In der erwähnten Schau wurden viele Fotografien unterschiedlichster Herkun – Amateur-, Werbe-, News-, Reportage- und Kunstfotografie – integriert, alle dienten einer homogenen Funktion: Sie sollten historische Dokumente sein. Das Prinzip Montage, bei dem zeitlich und räumlich Auseinanderliegendes zusammenkommt, fand konsequent Anwendung. Auf der Achse High–Low wurde eine Hierarchisierung und Differenzierung des Ausstellungsgutes vermieden. Man zwang den Aufnahmen die Erzählungszusammenhänge der Ausstellung und deren emenvorgaben auf. Sie erhielten zahlreiche neue Bedeutungszuschreibungen, die bestehenden Informationen wurden in der Ausstellung nicht aufgearbeitet. Das Bild Štrbas wurde in der letzten Sektion der Ausstellung, welche die Überschri »Massenkultur« trug, gezeigt, aufgezogen auf einer Tafel, auf der zudem der Begriff »Konsumkultur« angebracht war.

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Diese Tafel überschnitt in der Ausstellung die Vergrößerung eines schwarzweißen Pressebildes, das Zerstörungen nach einem Konzert der Rolling Stones von  im Zürcher Hallenstadion wiedergibt – darauf sieht man jedes Detail, jeden Holzsplitter. Ganz anders die Arbeit der Fotokünstlerin, die bunt und grobkörnig ist. Nicht einzelne Vorgänge, sondern etwas Atmosphärisches, Allgemeines soll festgehalten werden (vgl. Abb. ).

Abb. 22: Ausstellungsdokumentation ›preview‹, Schweizerisches Landesmuseum (Foto: DONAT STUPPAN)

Trotzdem wies die Bildlegende in der Ausstellung auf das Ereignis hin, an dem die Aufnahme entstand: Street Parade Zürich vom August 

. Es handelt sich dabei, ähnlich der Loveparade in Berlin, um eine der jährlichen Großveranstaltung der Jugendkultur der  er Jahre. Entsprechend dem Narrativ in der Ausstellung, das diesem TechnoEvent in Europa eher kritisch gegenüberstand, sollte die Fotografie wohl eher Vermassung und ungezügelten Konsum als das vibrierende Leben illustrieren. Zur Ausstellung erschien eine Broschüre, bewusst Abb. 23: Broschüre ›preview‹, Schweizerisches Landesals Begleitpublikation und nicht als Katalog museum, Zürich 2006

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konzipiert. Die Bilder sind darin auf mattem Papier gedruckt, Hell-Dunkel-Kontraste werden dadurch eher eingeebnet, Glanzlichter reduziert, jedoch sind die Farbwerte recht gut wiedergegeben. Motion on the Sun läu wie alle Fotografien in dieser Publikation gegen den Bund hin randlos aus und wird dort leicht beschnitten (vgl. Abb. $). Die gleiche Aufnahme erschien auch in der Ausgabe /

 der Zeitschri musée suisse. Kulturmagazin der Schweizerischen National- Abb. 24: musée suisse, 2/2006 museen (vgl. Abb. %). Wegen seines Kunstcharakters wird das Bild Motion on the Sun neben Varlins Die Völlerei und Hans Ernis Die Schweiz – das Ferienland der Völker als eines der Schlüsselobjekte der Sammlung des . Jahrhunderts angekündigt. Trotz des künstlerischen Anspruchs werden die wenigen eingeweihten Rezipienten – übrigens auch in der Ausstellung ›preview‹ – versuchen, die Aufnahme als Zeitdokument und nicht als Kunst zu lesen. Sie werden dann über den Informationsgehalt, der mehr im Auratischen als im Realistischen liegt, enttäuscht sein. In der im SeptemAbb. 25: Broschüre Neues Landesmuseum ber

 herausgegebenen Bro- Zürich: Für eine Schweiz im 21. Jahrhundert, schüre Neues Landesmuseum Zü- Zürich: Schweizerisches Landesmuseum, rich: Für die Schweiz im . Jahr- 2005 hundert ist Štrbas Aufnahme großformatig unter dem Slogan »Am Puls der Gegenwart« wiedergegeben. Sie soll diesmal, aus Gründen des Formats wieder beschnitten, unter Beweis stellen, dass das Neue Landesmuseum auch Objekte der Gegenwartskultur sammelt, um Fragen der Politik-, Wirtschas-, Sozial- und Kulturgeschichte der Schweiz im . und . Jahrhundert zu beantworten (vgl. Abb. ). Das halbseitige Bild von Štrba wird in der linken unteren Ecke durch eine viel kleinere Schwarzweißfotografie überschnitten, die den Demonstrationszug zum . Mai $ in Zürich zeigt. Durch diese Kontrastierung zweier Menschenzüge bekommt das Bild der Street Parade eine neuartige Bedeutung. Wurden früher die Menschen durch zukunsgerichtete politische Ziele auf die Straße getrieben, ist es heute der individuelle Vergnügungsrausch. Schließlich findet sich eine kleine Abbildung der Fotografie

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auch im Jahresbericht des Schweizerischen Landesmuseums von

 im Kapitel »Sammlung/Wissenscha Musée Suisse«. Sie gilt hier als Beleg dafür, dass der Ausbau der Sammlung im Bereich des . und . Jahrhunderts zügig voranschreitet und eine Neubespiegelung und Auslegung, wie sie der Plan Etappe vorsieht, in naher Zukun vorgenommen werden kann. Diesmal muss die kleinformatige Reproduktion ganz ohne Bildlegende auskommen. Man kann sich fragen, ob der inflationäre Gebrauch des fotografischen Werks Motion on the Sun in zahlreichen hauseigenen Publikationen des Schweizerischen Landesmuseums zu dessen Ikonisierung oder zum visuellen Verschleiß des Bildes beiträgt. Sicher ist, dass es als Beleg für die verschiedensten Aussagen dient. Auch kommt es zu Neuund Umschreibungen des Bildsinns, abhängig vom sprachlichen und visuellen Kontext. Die Teilnahme an der Ausstellung bedeutete eine Zäsur in der Wirkungsgeschichte der Fotografie. Im Bezug auf die gängige Bild-Hierarchie könnte man von einem Abstieg sprechen, da aus der Kunstfotografie ein historisches Dokument wurde. Dabei musste sie den Nimbus der Dauerhaigkeit zugunsten der Beschleunigung im Bereich der physischen Erscheinung und der Bedeutungszuschreibung ablegen. Im kulturhistorischen Museum, dies ein Unterschied zu vielen Kunstmuseen, sind Fotografien nicht stillgestellt. Die Intentionen der Bildproduzenten werden hier in einem viel geringeren Maß berücksichtigt als im Kunstraum, zumal sie bei Konzeption und Einrichtung selten beteiligt sind. Die Widerständigkeit der Fotografie beschränkt sich auf die Irritation der Rezipienten, die – trotz der Suggestionsversuche der Ausstellungsmacher – wenig Konkretes zu einem bestimmten ema aus einem solch polysemantischen Bild herauslesen können. Im Kunstmuseum oder der Kunsthalle lassen sich Ausstellungskonzepte den Fotografien dann leicht aufoktroyieren und damit ihre Sinnschichten dynamisieren, wenn die Bildproduzenten schon verstorben sind. Ein gutes Beispiel für diesen Befund ist die Ausstellung Werner Bischof: Bilder, die im Frühjahr

 im Helmhaus Zürich stattfand. Beim breiten Publikum ein großer Erfolg, stieß sie bei Fotografen und Fototheoretikern auf Ablehnung. Durch die Betonung des farbigen Œuvres, mittels eines aufwändigen Verfahrens auf Riesenformate aufgeblasen, wollten die Kuratoren Simone Maurer und Marco Bischof die Aktualität der Arbeiten Bischofs herausstellen. Indem die Ausstellung die künstlerischen Ambitionen von Werner Bischof in den Vordergrund rückte, wirkte sie aktiv an dessen Transformation vom Reportage- zum Kunstfotografen mit.

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Zumindest eine Arbeit widersetzte sich in der Ausstellung einer solchen Neubewertung recht erfolgreich – sie ließ sich nicht disziplinieren: Flötenspieler. Auf dem Weg nach Cuzco, %, eine der bekanntesten Fotografien von Werner Bischof und eine bedeutende Foto-Ikone des . Jahrhunderts veränderte sich auf der semantischen Ebene nur geringfügig. Es ist ein Exempel für ein Bild, dessen Narrativ so festgeschrieben ist, dass es sich kaum noch entwickeln Abb. 26: Ausstellungsdokukann. Jedoch läu eine Fotografie, die der mentation Helmhaus Zürich Über- und Fortschreibung Widerstand leis- (Foto: FBM Studio) tet, Gefahr zu erstarren. Die Vergrößerung befand sich an einem unspektakulären, aber symbolträchtigen Ort innerhalb der Ausstellung: einer quadratischen Fläche an der Rückseite des großen Treppenaufgangs zum ersten Ausstellungsstockwerk (vgl. Abb.   ). Da es dadurch im Rücken der Eintretenden hing, ist es gut möglich, dass der schwarzweiße Abzug erst beim Verlassen des Museums wahrgenommen wurde. Die Besucher konnten dieses Symbol für das Unterwegssein, sowohl des Fotografen Bischof wie der Menschheit schlechthin, auf ihren Gang durch den Stadtraum mitnehmen. Das Bild, eines der letzten vor dem Unfalltod Bischofs in den Schluchten der Anden, zeigt einen Indiojungen, der mit ausschreitendem Schritt zielgerichtet hoch oben über der fruchtbaren Ebene einen steinigen Weg unter die Füße nimmt, eine Last transportiert und gleichzeitig unverdrossen auf der Flöte bläst. Die Aufnahme wurde bald einmal als Symbolbild für Leben und Werk von Bischof begriffen. Der frühe Tod des Fotografen bedeutete demnach keinen jähen Abbruch, da der humanistische Ton, der in seinem gesamten Werk angestimmt wird, weiter wirkt. Es sind solche Aufnahmen, in denen nach Meinung seiner Mentoren das Vermächtnis des Fotografen eingeprägt ist, das auf eine kurze Formel gebracht werden kann: Dokumentarfotografie als Kunst und Kunst als Pädagogik. So schreibt Hans Fischli im Katalog zur Bischof-Ausstellung im Kunstgewerbemuseum Zürich von  lakonisch: »Für uns ist sein Werk: Kunst in der Fotografie« (Fischli : ). Das Bild des Flötenspielers gilt jedoch nicht nur inhaltlich als Zusammenfassung der Botscha Bischofs, auch formal scheint es die Quintessenz seines Schaffens zu sein, wie es seine Freunde ausdrückten, vom Hang zum Absoluten (vgl. Bischof : ). Im Fall des vorliegenden Bildes fällt die Isoliertheit der Kinderfigur auf. Ein prüfen-

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der Blick auf die Negative und Kontaktkopien verrät, dass der Flötenspieler tatsächlich Teil einer größeren Kindergruppe war und sich offenbar erst auf Geheiß des Fotografen daraus löste. Die auffallenden formalen Qualitäten der Fotografie sind jedoch nur zu einem kleinen Teil auf inszenierende Eingriffe zurückzuführen, sind: die einfache und ausbalancierte Komposition, die auf dem gleichschenkligen Dreieck basiert, weiche und doch deutlich markierte Binnenstrukturen, unaufdringliche Kontraste, wie die scharantigen Steine des Vordergrundes und die wellenförmig terrassierten Berghänge im Hintergrund, die bis an den Bildrand geführt sind. Kein Wunder, dass dieses Bild beim Wechsel in die verschiedenen Medienzusammenhänge manchmal als Einstieg, häufiger noch als Ausklang der Arbeiten von Bischof dient. Die von den Interpreten vorgegebene und von den Archiven konservierte Erzählung, dass es sich hier um die Summe einer intensiven engagierten Arbeit handelt, wird so tradiert und verfestigt. In der Regel treffen wir die Darstellung des Knaben erst auf der letzten Doppelseite einer Monographie; sei es, dass er auf der rech- Abb. 27: WERNER BISCHOF: Unterwegs, ten Seite platziert aus dem Buch Zürich: Arche, 1957 herausschreitet (vgl. Abb.  ), von links zum Anhang auf der gegenüberliegenden Seite (vgl. Abb. ), oder, was letztlich zum Prototyp wird, dass er von links gegen eine leere unbedruckte letzte Seite marschiert, die eine Offenheit zuküniger MöglichAbb. 28: NIKLAUS FLÜELER, Große keiten andeutet (vgl. Abb. ). Photographen unserer Zeit: Werner Bischof, Eine Aussage, die ohne große Luzern: Bucher 1973 Abstriche auch von der Hängung der Helmhaus-Ausstellung aufgenommen wurde. Auffallend ist, dass die Archivare von Bischofs Œuvre, die Bildagentur Magnum und die Nachlassverwalter des Bischof Estate, die die Bildrechte besitzen, ihre Abb. 29: Werner Bischof Bilder, Publikation Kontrolle über den inhaltlich zur Ausstellung im Helmhaus Zürich: Offizin 2006

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symbolischen Bereich des Bildes nicht auch auf seine ästhetische Erscheinung ausdehnen. In den meisten Medienzusammenhängen ist die Aufnahme des Flötenspielers, ursprünglich ein fast quadratisches Mittelformat, an beiden Seitenrändern stark beschnitten. Auch an der efenschärfe wird vonseiten der Bildnutzer o manipuliert. Mit dem Bedürfnis, den Fokus auf die Hauptfigur und ihre Tätigkeit zu richten, wird der landschaliche Mittel- und Hintergrund verschwommen wiedergegeben, obwohl sich das Original durch eine beachtliche efenschärfe auszeichnet. Solche formverändernden Eingriffe vonseiten der Bildnutzer beeinflussen zwangsläufig die Interpretation der Rezipienten. Die neue Sinngebung betrifft im Fall dieses Bildes allerdings immer nur Nuancen – die Bezeichnung eines konkreten Orts wird in Richtung des Allgemeinen verschoben. Die großen Erzählstränge, in denen es eingespannt ist und die um das naturverbundene Leben zwischen Beharrung und Fortschreiten kreisen, werden hingegen von den Nachlassverwaltern kontrolliert, indem sie die Anwendung des Archivguts steuern. Das führt dazu, dass sich gerade um die häufig benutzten Fotografien, die Foto-Ikonen, ein striktes Narrativ lagert. Es wird im analogen Archiv generiert und verwaltet und auch nach diversen Medientransfers nur unwesentlich modifiziert.

Schluss Die vier in diesem Artikel vorgestellten Beispiele stehen stellvertretend für andere, aus denen wir folgende Schlüsse gezogen haben: Die verbreitete Meinung, »internationale Fotografie« strebe nach Homogenität und führe im Zuge von Globalisierung und Digitalisierung zur Verwischung der Genres, der Stile und medialen Grenzen (vgl. Sachsse

: $), muss stark relativiert werden. Allerdings besitzen Fotografien verschiedenster Genres, die für bestimmte Gebrauchszusammenhänge und ihre Medien geschaffen wurden, die Tendenz zu emigrieren und anderenorts – häufig im Kunstbereich mit seinem ästhetischen Diskurs – wieder aufzutauchen. Wenn sie als Kunst rezipiert werden, was immer mehr auch für Aurags- und Gebrauchsfotografie gilt, kann es vorkommen, dass diese Bilder etwas zur Ruhe kommen oder gar ganz an Dynamik verlieren. Allerdings können »gelungene Bilder« (s.o), die wiederholt gezeigt werden, immer von neuem Energie tanken, denn sie reagieren am Ort ihrer Präsentation sehr empfindlich auf das symbolische Umfeld; so entfalten kleinste materielle Veränderungen zuweilen überraschende semantische Hebelwirkungen, die vor allem im Nebeneinander der verschiedenen Erscheinungsformen und ihrem Vergleich erkennbar und erlebbar werden.

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Die Folgen eines Transfers sind aber weder kontingent noch individuell, wie man leicht anzunehmen bereit ist, sondern lassen sich, das zeigt unsere ausführlichere Untersuchung, durchaus prognostizieren und systematisieren. Das skizzenhae Migrationsschema (vgl. Abb. ) beruht auf unsystematischen Erhebungen im Rahmen des eingangs erwähnten Forschungsprojekts (vgl. Binder!Vogel

) und den dort vorgenommenen Reihenuntersuchungen und Fallbeispielen. Die Zahl jener Fotografien, die über eine große Zeitspanne hinweg immer neu in das Bewusstsein einer Öffentlichkeit treten, ist im Vergleich zu den Archivbeständen relativ gering. Durch die Neukontextualisierung in unterschiedlichen Medien und Anpassungen im Bereich der Materialität und äußeren Erscheinung werden die Fotografien auf die veränderten Rezeptionsbedingungen eingestimmt. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass die meisten Bildanwender im Umgang mit Fotografien nicht zimperlich sind. Sie schreiben die Bilder in ihre jeweiligen Erzählungen und die aktuellen Diskurse ein, ohne auf den früheren Gebrauch und die bereits erfolgte Positionierung einzugehen. Die vorhandenen Bedeutungsschichten werden dabei o überschrieben. Im glücklichen Fall werden die Reibungsverluste im Bereich der konkreten Bildinformationen durch den Gewinn an symbolischem Gehalt aufgefangen. O können sich Fotografien dem herrischen Zugriff der Bildnutzer nur verweigern, indem sie am neuen Ort wenig Sinn machen. Ausstellungen spielen beim Prozess der Bildmigration als Katalysatoren eine Schlüsselrolle. Ein Anlass sorgt dafür, dass einzelne Bilder schlagartig in unterschiedlichsten medialen Formaten auauchen: als Plakat, Pressebild, Postkarte, im Internet und so weiter. Die Fotografien kehren nach einem solchen Auritt als Andere ins Archiv zurück; nun ist nicht nur die materielle Oberfläche, sondern auch der semantische Gehalt tangiert. Im Gedächtnis küniger Bildnutzer prägt sich häufig ein, wie die Fotografie zuletzt – in der Ausstellung und den Begleitmedien – präsentiert wurde. Dort entwickeln die an sich disparaten fotografischen Daten dank der verbalen Kodierung häufig eindeutige Botschaen. Je undisziplinierter sich die Bilder gebärden, desto rigoroser grei das Wort ein, um die auseinanderstrebenden kommunikativen Impulse und Angebote wieder zu fokussieren und zu vereinheitlichen. Frühere Gebrauchsweisen geraten in den Hintergrund und werden schließlich ganz aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen. Das Bild ist neu positioniert, aber auch geschichtslos. Seine unmittelbare Präsenz und

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evidente Aktualität wird durch das Eliminieren zahlreicher materieller und ideeller Dimensionen erkau. Die Vergangenheit der einzelnen Fotografien wird vergessen, bewahrt wird – im besten Fall – das anarchische und undisziplinierte Potenzial der Bilder, das es ihnen ermöglicht, sich dem diskursiven Diktat einer Ausstellung oder eines Archivs bis zu einem gewissen Grad zu entziehen und sich in anderen Medien unterschiedlichen Narrativen anzuschließen.

Literatur ADORNO, THEODOR W. (1970): Ästhetische Theorie, hrsg. von GRETEL ADORNO/ROLF TIEDEMANN, Frankfurt am Main: Suhrkamp. ADORNO, THEODOR W. (1982): »Moments. Musicaux«, in: ders., Gesammelte Werke , Bd. 17, Frankfurt am Main: Suhrkamp. BINDER, ULRICH/VOGEL, MATTHIAS (2009): Bilder, leicht verschoben. Zur Veränderung der Fotografie in den Medien, Zürich: Limmat Verlag. BISCHOF, WERNER (1957): Das fotografische Werk, Ausstellungskatalog, Zürich: Kunstgewerbemuseum. BOEHM, GOTTFRIED (2007): Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: Berlin University Press. DERRIDA, JACQUES [1992] (2006): »Die Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur (im Gespräch mit HUBERTUS V. AMELUNXEN und MICHAEL WETZEL)«, in: WOLFGANG KEMP/HUBERT V. AMELUNXEN (Hg.), Theorie der Fotographie I–IV, 1839–1995, Bd. IV, S. 279–296. FISCHLI, HANS (1957): Werner Bischof. Das fotografische Werk (Vorwort), Ausstellungskatalog, Zürich: Kunstgewerbemuseum. GADAMER, HANS GEORG (1975): »Wirkungsgeschichte und Applikation«, in: RAINER WARNING (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München: Fink, S. 113–125. HALL, STUART (2003): »Rekonstruktion«, in: HERTA WOLF (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, 2. Bd., Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 75–91. HOWARTH, SOPHIE (Hg.) (2005): Singular images. Essays on remarkable photographs, London: Tate Publishing. KEMP, WOLFGANG/AMELUNXEN, HUBERTUS V. (Hg.) (2006): Theorie der Fotographie I-IV, 1839-1995, München: Fink. IMDAHL, MAX (1987): Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München: Wilhelm Fink Verlag. SACHSSE, ROLF (2001): »Globale Bilder – lokales Sehen. Ist die Bildsprache international? Marginalien zu vermeintlichen Selbstverständlichkeiten«, in: db. Deutsche Bauzeitung 135, S. 36–39. WELLMER, ALBRECHT (2009): Versuch über Musik und Sprache, München: Hanser.

M AT T H I A S V O G E L / U L R I C H B I N D E R

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Undisziplinierte Bilder II: Fotografische Bildkultur(en)

Bernd Stiegler

Optogramme 1 Was ist ein Optogramm? Der Begriff Optogramm ist nicht Teil des allgemeinen Wortschatzes und in der Tat ist zudem das Phänomen, das er bezeichnet, ein höchst obskures, aber gleichwohl ein in vieler Hinsicht erhellendes. Wir haben den Vorteil, statt einer wissenschalichen Definition, die dann aber noch folgen wird, mit einer populärwissenschalichen Vision beginnen zu können, die aus dem Film e Invisible Ray aus dem Jahr $ stammt, in dem Bela Lugosi und Boris Karloff die Hauptrollen spielen. In diesem Film identifiziert Dr. Benet alias Bela Lugosi Dr. Janos Rukh alias Boris Karloff als Mörder eines Kollegen, indem er auf der Retina des Opfers ein letztes Bild – ein Bild Dr. Rukhs – entdeckt, ein Optogramm, das dort aufgezeichnet und festgehalten ist und nun mithilfe der Fotografie wieder extrahiert und sichtbar gemacht werden kann. Die Vorstellung, dass der Tod eines Menschen dessen Wahrnehmungsfilm arretiert und so das Material des Films, nämlich belichtete Fotografien, festhält, findet sich über einen Zeitraum von gut einem halben Jahrhundert in höchst unterschiedlichen epistemischen Feldern. e Invisible Ray zeigt uns aber nicht nur ein Optogramm, sondern blättert auch das Imaginarium auf, in dem sich diese Vorstellung eingenistet hat. Im Folgenden soll dieses Imaginarium anhand einiger filmischer und literarischer Beispiele näher untersucht und auf diese Weise verschiedene Funktionen und Rollen von Optogrammen sichtbar gemacht werden. e Invisible Ray bildet dabei den Ausgangs-

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Abb. 1: Close-Up, Filmstill The Invisible Ray, USA 1936 (Regie: LAMBERT HILLYER)

Abb. 2: Porträt im Auge, Filmstill The Invisible Ray, USA 1936 (Regie: LAMBERT HILLYER)

punkt der Betrachtung. Zum besseren Verständnis soll die Handlung des Filmklassikers kurz zusammengefasst werden: Der Film e Invisible Ray (vgl. Abb. , ) trägt seinen tel keineswegs durch einen unsichtbaren Strahl, der, so könnte man denken, ein Bild auf der Retina entstehen lässt, sondern aufgrund astrophysikalischer Experimente, die Dr. Janos Rukh in seiner Burg in den Karpaten (die nicht zuletzt durch die Dracula-Literatur ihre besondere Vorgeschichte erhalten hat) durchgeführt hat und mit denen er erfolgreich zeigen konnte, dass die Geschichte der Erde im Weltraum gespeichert vorliegt und mithilfe eines unsichtbaren Strahls (invisible ray) wieder sichtbar gemacht werden kann. Während ein Optogramm einen Film unterbricht, werden bei den astrophysikalischen Experimenten Rukhs in den Weltraum projizierte Bilder wieder in einen Film verwandelt und in das Atelier des Physikers projiziert. So kann Dr. Rukh die Vorgeschichte der Erde in einer Art Fernsehbildschirm wie in einem Zeitraffer betrachten, indem er den Strahl auffängt. Um die im Film sichtbar gewordene Geschichte der Erde verifizieren zu können, machen sich er und sein nach anfänglichem Zweifel vom Saulus zum Paulus mutierter Wissenschaskollege Dr. Benet mitsamt einer ganzen Expedition nach Nigeria auf, um dort nach einem riesigen Meteoriten zu suchen, dessen Einschlag der Weltraumfilm gezeigt hatte. Rukh gelingt es, die gezeigte Stelle zu finden und mit ihr eine strahlende Materie, die er »Radium-X« nennt. Von dieser Materie wird Dr. Rukh jedoch so stark kontaminiert, dass er nur mithilfe eines von Dr. Benet entwickelten Medikaments überleben kann. Während sich Rukh in die Karpaten zurückzieht und dort seiner blinden Mutter mit den Strahlen das Augenlicht zurückgibt, gelingt es Benet, in Paris ein Verfahren zu entwickeln, um die unsichtbaren Strahlen für die erapie einzusetzen. Eifersüchtig auf Erfolge Benets reist Rukh nach Paris und beginnt, einen Teilnehmer der Expedition nach dem anderen umzubringen, um nach erfolgter Tat eine

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der Figuren auf dem Dachfries der Kirche der sechs Heiligen mit den Radium-X-Strahlen zu zerstören.1 Am Ende des Films kommt Rukh zu Tode, nachdem seine Mutter das Antidot, das er seit seiner Kontamination täglich einnehmen muss, zerstört hat. e Invisible Ray ist ein Film über die Fantasmen, die die Errungenschaften der modernen Wissenschaen begleitet haben: Sämtliche Elemente, die er aufnimmt und in seine Geschichte einbaut, sind in der Wissenschasgeschichte insbesondere des ausgehenden . Jahrhunderts belegbar. Und viele finden ihre eigentümliche Fortsetzung in Kriminalerzählungen und der fantastischen Literatur aus eben dieser Zeit. Das Optogramm ist nur eine unter zahlreichen solcher wissenschalichen Narrative, die Fakten und Fiktion miteinander verknüpfen und zwischen beiden Bereichen oszillieren. Und weiterhin ist das etwas heteroklite narrative Gefüge, das e Invisible Ray ausbuchstabiert, seinerseits wiederum auch eine Folge der höchst divergierenden und somit letzten Endes unvereinbaren Grundannahmen, auf die der Film zurückgrei. Das gilt auch für das Optogramm, das für sich genommen widersprüchliche eorien in Bilder übersetzt. Konkret – und weiterhin dem Beispiel von e Invisible Ray folgend – gesprochen, lassen sich vier Vorstellungen ausmachen, die jene des Optogramms begleiten: I. II.

III.

IV.

Das Auge wird als fotografieanaloges Organ des menschlichen Subjekts vorgestellt, das Objektivität garantiert. Das Auge ist weiterhin ein wichtiges Element bei der Suche nach wahrer Augenzeugenscha, die die Sehnsucht nach Evidenz stillen soll und kann – allerdings erst im Moment des Todes, wenn nur noch die Bilder sprechen können. Das Optogramm ist zudem ein Beleg für die fließende Grenze zwischen Glauben und Wissen einerseits und jener zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem andererseits. Das Optogramm fügt sich nahtlos in die Vorstellung ein, dass es ein unentdecktes Archiv unsichtbarer Bilder gibt, das die Fotografie noch zu entbergen hat.

Diese vier emenfelder sollen folgend erkundet und dabei auf zahlreiche Quellen zurückgegriffen werden. Die Science-Fiction-Vision von e Invisible Ray ist dabei vor allem eines: eine Bricolage von Grundannahmen, die wissenschaliche Forschungen begleitet haben und 1 Das Set stammt noch aus dem Film Der Glöckner von Notre Dame und wurde hier wiederver-

wendet.

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die nicht zuletzt aufgrund ihrer fiktionalen Gestaltung sichtbar werden.

2 Physiologie versus Opthalmologie Ein zweites Optogramm (vgl. Abb. $): Es stammt aus der Revue photographique des hôpitaux de Paris, einer Zeitschri, die ähnlich der legendären Iconographie photographique de la Salpêtrière, der Georges Didi-Huberman ein ganzes Buch gewidmet hat (vgl. Didi-Huberman  ﹚, die Fotografie als regelrechtes Untersuchungsverfahren, aber auch als Mittel der Archivierung und der Unterweisung entdeckte. Auguste Vernois wurde  von der Société de Médécine Légale beauragt, die Versuche eines gewissen Dr. Abb. 3: Augenaufnahme, Bourion, eines Arztes aus der (vgl. VERNOIS 1870) Provinz, zu überprüfen, der behauptet hatte, er hätte auf der Retina einer ermordeten Frau und ihres Kindes das Bild ihres Mörders und seines Hundes entdeckt.2 In Vernois’ Überprüfung bleibt von dieser 2 Bei BOURION heißt es, dem Referat von VERNOIS folgend: »L'assassinat, dit-il, a été commis

le dimanche 14 juin 1868, entre midi et quatre heures du soir. L'extraction des yeux, hors les orbites, a été pratiquée le 16 juin, vers dix heures du matin. L'épreuve photographique a été obtenue le même jour, vers six heures du soir. J'ai opéré sur les deux yeux de l'enfant et sur les deux yeux de la mère. Les yeux de l'enfant n'ont rien donné autre chose que des nuages, ce à quoi je m'attendais, l'enfant étant restée pendant plusieurs heures, peut-être seulement pendant un laps de temps de moindre durée, dans la cave, mais toujours assez pour que, le regard porté de ci de là, dans l'obscurité, aucune image ne fùt transmise au cerveau, et, par conséquent, ne pùt étre empreinte sur la rétine et sur le corps vitré. Je dis sur ces deux parties de l'œil, car l'une est corrélative de l'autre, d'une manière absolue. La pièce anatomique a été soumise à l'opération photographique illico; à peine avais je terminé de poser la pièce anatomique sur son point d'appui, que le photographe opérait: quelques secondes de retard, et il n'y aurait pas eu d'image obtenue, le corps vitré s'affaissant. Ayant quatre yeux à ma disposition. J'ai d'abord opéré sur ceux de l'enfant, sur lesquels j'avais la certitude de ne rien trouver. J'ai fait une section circulaire, en arrière de l'iris, après avoir enlevé le cristallin. Le résultat a été rien. Sur la même oeil, j'ai fait sortir l'humeur vitrée, en maintenant la sclérotique écartée au moyen d'érignes. Pas de résultat plus satisfaisant, ou plutôt encore moins . Sur le deuxième œil du même sujet, j'ai opéré de la même manière pour arriver au même résultat. Sur l'œil gauche de la mère, même section, enlèvement du corps vitré j'ai obtenu une image à peine marquée; la téte du chien seule se présentait et d'une façon peu compréhensible; car ce n'a été qu'après avoir opéré sur œil du côté droit, et après avoir obtenu l'image dont vous avez une épreuve, que j'ai pu m'en rendre compte. Sur l'œil droit même

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Entdeckung wenig übrig: Er erblickt in diesen Bildern nicht mehr und nicht weniger als die fotografisch reproduzierten organischen Gegebenheiten, sprich den Augenhintergrund. Vernois wusste, als er die Untersuchung in Angriff nahm, dass es sich bei Bourions vermeintlicher Entdeckung um eine neuerliche Wiederholung einer bereits in den  er Jahren aufgekommenen Annahme handelte. Ein Beleg findet sich bereits im Photographischen Journal des Jahres . Unter dem tel Photographisches Bild im Auge eines Todten heißt es dort: »Die Entdeckung dieses Bildes im Auge eines Todten ist ganz dazu gemacht, uns zuerst staunen und dann etwas frösteln zu machen. […] Dr. Pollack, ein ausgezeichneter Arzt, veröffentlicht in der ›Democr. Press‹ seine Untersuchungen über diesen Gegenstand. Er hat gefunden, dass die ›Todesbilder‹ die letzten Eindrücke auf der Retina unter dem Mikroskop wunderbar zart, klar und genau sich darstellen« (Photographisches Journal :  [Herv.i.O.]). Auch hier wurde eine Überprüfung angeordnet, die allerdings im Gegensatz zu jener Vernois’ »die rohe, vorwärts gebeugte Gestalt eines Mannes in einem hellen Rocke, und neben ihm, gleichsam in der Lu aufgehangen oder schwebend einen Stein« erkennen ließ (ebd.). Das Photographische Journal begründet dies durch die offenkundige Analogie des fotografischen Verfahrens mit dem Sehvorgang: Während bei dem einen die Jodsilberschicht der Silberplatte – wir befinden uns noch in der Zeit der Daguerreotypie – durch das Licht affiziert wird, könne auch die Netzhaut »im Momente des Todes durch Zersetzung oder Ausscheidung eine gefärbte Flüssigkeit absetzen, welche das Bild ebenso sichtbar machen würde, wie der Dampf des Quecksilbers oder die Hervorrufungsflüssigkeit auf der Jodsilberschicht in der Photographie dies bewerkstelligt« (ebd.: ). Dieser Begründung folgend geht man davon aus, dass man bald auch, da der Mensch zwei Augen habe, stereoskopische Optogramme werden anfertigen können. Viele weitere Belege für diese Debatte wären anzuführen: Sie situieren sich sämtlich in dem bereits kartografierten Feld, dessen eine Grenze von der Annahme gebildet wird, Optosection. Mais en conservant le cristallin, j'ai serré ma pince un peu fortement, ce qui l'a brisée, et diverses parcelles ont été projetées sur le corps vitré et ont produit ces taches blanches dont trois forment, pour ainsi dire, échine au chien; trois autres, plus haut et plus à gauche, sont juste au niveau du coude de l'assassin.« (VERNOIS 1870: 74–75 [Herv. i.O.])

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gramme erhalten und auch verwenden zu können, während an dessen anderer zumindest deren Möglichkeit nicht gänzlich ausgeschlossen wird. Eine wichtige Etappe in dieser Debatte ist die Entdeckung des Sehpurpurs durch die Mediziner und Physiologen Franz Boll und Wilhelm Kühne, die Experimente mit Fröschen und Albinohasen durchführten. In Meyers Großem Konversations-Lexikon wird so das Optogramm bereits seit den  er Jahren lexikonfähig3: »Sehpurpur (Sehrot) […] ein purpurroter Farbstoff, der die Stäbchen der Netzhaut […] bei den meisten Wirbeltieren durchtränkt und ungemein lichtempfindlich ist. Der S. schwindet, sobald man das Auge einige Zeit hellem Licht aussetzt, bildet sich aber beim Aufenthalt im Dunkeln aufs neue. Durch partielle Belichtung der Netzhaut kann man photographische Bilder, Optogramme, erhalten, indem die Netzhaut nur so weit gebleicht wird, wie das Licht sie trifft, und mit einer so vollkommenen Abgrenzung der Wirkung, daß die von den brechenden Medien auf den Augenhintergrund entworfenen Bilder scharfe, helle Zeichnungen in der purpurnen Fläche der Stäbchenschicht hinterlassen, die sich durch %-stündiges Einlegen in eine % proz. Lösung von Kalialaun dauernd fixieren lassen« (Meyer  : ). Franz Boll und nach dessen Tod vor allem Wilhelm Kühne experimentierten auch mit Fotografien, die ihre Annahmen wissenschalich belegen und zugleich eine Evidenz des Dargelegten visuell herstellen sollten. So entstand ein Optogramm eines Albinohasen, den Kühne, bevor er ihn tötete, immobil mit künstlich weit geöffneten Augen vor einem Gitterfenster platziert Abb. 4: Rabbit Optogram hatte (vgl. Abb. %).4 Der Terminus »Optogramm« erscheint, um zu resümieren, zusammen mit jenem der »Optographie« ab  verstärkt in der medizinischen Literatur – und mitunter auch mit weiteren Abbildungen wie etwa 3 Ein Eintrag findet sich bereits in früheren Ausgaben um 1880. 4 Quelle: http://www.alamut.com/images/2003_misc/rabbitOptogram.jpg (11.07.2012).

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einer Mikrophotographie des aufrechten Netzhautbildes im Augenhintergrunde des Leuchtkäferchens in Sigmund Exners Die Physiologie der facettierten Augen von Krebsen und Insecten im Jahre . Das seinerzeit sensationelle Bild wurde an der Kaiserlich Königlichen Lehr- und Versuchsstation für Photographie und Reproduktionsverfahren in Wien aufgenommen (vgl. Abb. ). Exner schreibt nachgerade enthusiastisch, »dass dieses ier, soferne es sich um das Netzhautbild handelte, noch im Abb. 5: Mikrophotographie (EXNER 1891: Frontispiz) Stande wäre, Schilderschri in der Entfernung von einigen Metern zu lesen« (Exner : ). Einer solchen, von der Existenz des Optogramms überzeugten Auffassung sollten sich nun auch kritischere Wissenschaler anschließen. Zehn Jahre nach Vernois unternimmt Victor Tixié eine erneute kritische Bestandsaufnahme der Optografien, kommt aber, auch wenn er mit diesem eine dezidierte Skepsis an den vorgelegten Forschungen und ihren Bildern teilt, zu einer Conclusio voller Forschungsoptimismus: »Que l’on parvienne un jour à reconnaître les derniers optogrammes sur la rétine humaine, comme on cherche aujourd’hui à les découvrir ophtalmoscopiquement sur la rétine vivante, nous devons l’espérer plutôt qu’en nier la possibilité« (Tixié :  ). Viele weitere Belege wären hier anzuführen. Doch diese wären zum einen viel zu technisch, um für unsere Belange hier von Interesse zu sein, und zum anderen wären sie nur Varianten der bereits skizzierten Positionen. Festzuhalten ist, dass die Annahme des Optogramms sich von einer sensationalistischen Randnotiz in einer fotografischen Zeitschri im Laufe des Jahrhunderts in eine ernstzunehmende und recht breit dokumentierbare wissenschaliche Annahme verwandelt. Das sollte sie bis ins . Jahrhundert hinein bleiben. Anstatt diese Geschichte filigran nachzuzeichnen, soll folgend vielmehr versucht werden, das plötzliche, nahezu eruptive Auommen von

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Optogrammen in der medizinischen Literatur wissenschashistorisch zu verorten und so zu bewerten. Das kann leider nur sehr kursorisch geschehen. Erkenntnisleitende Annahme der vermeintlichen Entdeckung der Optogramme ist die strukturelle Verwandtscha des Auges mit einer Camera obscura, die unisono die gesamte Forschung konstatiert. Bekanntlich wird hier ein Vergleich aufgenommen, der sich bereits bei Francis Bacon und René Descartes findet und dort wie hier dazu dient, eine nahezu mathematisch rekonstruierbare Entsprechung der wahrgenommenen Wirklichkeit mit dem Wahrnehmungsbild zu garantieren. Diese ophtalmologische Annahme steht nun in eigentümlichem Konflikt mit der ebenfalls in der zweiten Häle des . Jahrhunderts mit aller Macht einsetzenden Erkenntnis der physiologischen Forschung, dass sich die Wahrnehmung mitnichten als Projektion eines Außen- (der wahrgenommenen Welt) in einen Innenraum (den des Auges) bestimmen lässt. An die Stelle einer mathematisch konstruierbaren Entsprechung oder der Logik einer Repräsentation tritt eine neuronale Vernetzung, durch die die Empfindungsaggregate, so der Begriff von Hermann von Helmholtz, überhaupt erst interpretierbar werden (vgl. Köhnen

). Der neuronale Mensch, von dem nun die Rede ist, nimmt seine Umwelt nicht dadurch wahr, dass Reiz-Reaktionsketten kalkulierbar und mathematisch rekonstruierbar ablaufen, sondern dass er imstande ist, Zeichensysteme zu deuten und hierfür Interpretations- und Navigationsregeln auszubilden. Mit anderen Worten: Die Entsprechung von Camera obscura und Auge ist ein Altbestand medizinischen Wissens, das angesichts des Forschungsstands in der zweiten Häle des . Jahrhunderts nur noch den ophtalmologischen Vorraum der Wahrnehmung, nicht aber ihr eigentliches neurophysiologisches Zustandekommen beschreiben kann. Die Optogramme sind Sinnbilder einer überkommenen Ordnung der Dinge, die, wie die Entdeckung des Sehpurpurs zeigt, gleichwohl die gegenwärtige Forschung höchst produktiv heimsuchen. Und zugleich transportieren sie ein okularzentristisches Fantasma, das visuelle Evidenz verspricht. Während die physiologische Forschung sich anschickt, dem Auge Stück für Stück seinen bis dahin selbstverständlichen Weltbezug zu entziehen, versuchen Annahmen wie jene des Optogramms umgekehrt die Innenwelt des Auges mit der wahrgenommenen Außenwelt wieder zu verknüpfen: Dekonnektion und Rekonnektion sind die beiden auseinanderlaufenden Tendenzen, die zeitgleich zu beobachten sind. Dass die Fotografie hier als Leitmedium fungiert, ist dabei keineswegs zufällig. Die vielleicht prägnanteste Metapher für die Verwendung der Fotografie in der Naturwissenscha im . Jahrhunderts ist jene der

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»Retina des Wissenschalers« (Didi-Huberman : % f.): »Die Photographie ist die wahre Netzhaut des Gelehrten«, formulierte der Astronom Jules Janssen und lieferte so zugleich ein Leitbild der Fotografie für die naturwissenschaliche Forschung (Janssen  /$ : ).5 Während auf der einen Seite die Physiologie das Sichtbare in ein »Aggregat farbiger Flächen im Gesichtsfelde« (Helmholtz : $ ) verwandelt und den neuronalen Prozessen überantwortet, synthetisiert es die Fotografie auf der anderen Seite wieder zu Bildern, deren Aufgabe es ist, Objektivität zu visualisieren. Während sich, mit anderen Worten, auf der einen Seite die Retina in eine Oberfläche verwandelt, auf der sich Zeichen materialisieren, deren Deutung wie Bedeutung zuallererst herzustellen ist, wird sie auf der anderen wiederum als Retina zu einem bildgebenden Verfahren, das visuelle Evidenz produzieren soll. Während die Welt auf der einen Seite in farbige Flächen, Flecken und Punkte zerfällt, wird sie auf der anderen in klar umrissene wohlcadrierte Bilder gebracht. Das Optogramm ist visuelles Emblem dieser Ambivalenz. Es ist ein subjektives Bild, das gleichwohl Objektivität garantieren soll.

3 Augenzeugen: die Sehnsucht nach Evidenz Erfüllt das Optogramm den Wunsch nach unabstreitbarer Augenzeugenscha? Auch hierzu ein Beispiel: Der englische Exzentriker Georges Ives hat Zeit seines Lebens Zeitschrienartikel gesammelt, die von bizarren Begebenheiten handeln, und mit diesen insgesamt % Scrapbooks gefüllt. In diesen findet sich unter anderem auch ein Artikel der Daily News aus dem Jahr  , der davon berichtet, dass im Mordprozess gegen Fritz Angerstein ein Optogramm als Beweismittel zugelassen werden könnte: Es zeigt angeblich Angerstein mit 5 »Ja, meine Herren«, so ruft JANSSEN seinen Forscherkollegen voller rhetorischer Emphase zu,

der photographische Film, »die sensibilisierte photographische Platte ist die wirkliche wissenschaftliche Retina, da sie all jene Eigenschaften aufweist, die die Wissenschaft erhoffen kann: Sie bewahrt treu die Bilder auf, die sich auf ihr abzeichnen, und reproduziert diese wenn erforderlich in unendlicher Zahl. Sie nimmt ein doppelt so großes Spektrum an Strahlungen wahr wie das Auge und bald wird sie vielleicht alle erkennen können; sie verfügt zudem über jene bewundernswerte Eigenschaft, komplexe Handlungen erkennen zu können, und während unsere Retina jeden Eindruck nach einer Zehntelsekunde wieder löscht, bewahrt die Photographie sie nahezu unendlich lange auf und speichert sie. Daher gibt es dank ihr kaum noch eine durch das Licht übertragene Erscheinung, wie flüchtig es auch sein mag, das sie nicht fixiert, keine Strahlung, wie fremd sie unserem Auge auch sein mag, das sie nicht aufzeichnen würde, keine Lichterscheinung, die sie nicht erhellen würde. Ja, meine Herren, die Photographie wird uns bald mit jenen mysteriösen Strahlungen in Verbindung bringen, die uns umgeben; sie ist die Manifestation der feinsten Kräfte, die auf die Materie und die physische Welt einwirken und dies auf ungleich effizientere und vollständigere Weise als es das fraglos bewundernswerte Organ vermöchte, mit dem die Natur uns ausgestattet hat« (JANSSEN 1929/30: 88).

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einer Axt. Der Angerstein-Fall war seinerzeit ein Sensationsprozess, über den auch Siegfried Kracauer berichtete (vgl. Kracauer  ; Mülder-Bach  ), und zugleich das wahrscheinlich letzte Beispiel, dass ein Optogramm in juridischen Zusammenhängen zum Einsatz kam ( ). So heißt es in einem Bericht aus einer amerikanischen Zeitschri: »e theory that a murder victim’s eye may hold the image of his slayer received scientific confirmation tonight from professor Doehne of Cologne University. e professor photographed the retinas of two of the victims of Fritz Angerstein, a merchant at Hagen, who killed eight persons the other day. e retina of one yielded a picture of Angerstein’s face. e other showed the same face, contorted with rage, and the blade of the axe with which the murders were commited« (Mencken  : $). In deutschen Zeitschrien wird der Fall etwas anders dargestellt: Vermutlich wurde das Optogramm keineswegs als Beweismittel zugelassen, sondern diente nur dazu, den Angeklagten Fritz Angerstein zu einem Geständnis zu nötigen. So berichtet etwa die Wiener Reichspost vom %. Dezember  %, dass der Oberstaatsanwalt Angerstein damit konfrontierte, dass der Sektionsbefund ergeben habe, dass Angerstein der Mörder sei, und ihn so zum Geständnis brachte. 6 Der Fall Angerstein ist nur der letzte in einer recht langen Reihe mit mindestens zwanzig überlieferten Belegen (Jay o.d.), von denen das prominenteste wohl die Sectio von Mary Kelly und Annie Chapman, zwei Opfern Jack the Rippers, war (Dew: $).7 Erste Zeugnisse einer forensischen Verwendung von Optogrammen finden sich jedoch bereits Mitte der  er Jahre in London: Der seinerzeit prominente Fotograf William H. Warner setzte sich – offenbar ohne Erfolg – dafür ein, zu eventuellen Mordopfern gelassen zu werden, um ihre Augen zu fotografieren und so zur Aulärung der Fälle beizutragen. Gleichwohl finden sich in dieser Zeit sowohl in Europa als 6 Vgl. Wiener Reichspost (1924): »Die Schreckenstat bei Haiger«, vom 04.12.1924, S. 9. URL:

http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?apm=0&aid=rpt&datum=19241204&seite=9&zo om=2 (11.07.2012). 7 1888 fand WALTER DEW MARY KELLY, eines der Opfer JACK THE RIPPERS: »Seven photo-

graphs of the eyes were taken by expert photographers with the latest type cameras«, schreibt DEW in seiner Autobiografie, »in the forlorn hope that an image of her killer was retained on the retina.« Auch bei ANNIE CHAPMAN wurden wohl Aufnahmen angefertigt: Zumindest wurde der Polizeiinspektor DR. GEORGE BAGSTER PHILLIPS gefragt: »Was any photograph of the eyes of the deceased taken, in case they should retain any impression of the murderer?«

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auch in den Vereinigten Staaten und selbst in Russland eine Reihe von belegten Versuchen, bei denen auch immerhin so prominente Fotografen wie die Fratelli Alinari eine Rolle spielen: Sie fertigen am . August % Großaufnahmen der Retina von Emilia Spagnoli an, die Opfer eines Serienmörders geworden war. Es kam zu einer öffentlichen Debatte über solche Bilder, an deren Ende beschlossen wurde, in einer Florentiner Klinik weitere Experimente durchzuführen, mit der man jedoch einen anderen Fotografen beauragte. Im British Journal of Photography erschien schließlich  ein Brief der Alinaris, der deutlich machte, dass sie die ihnen entgegengebrachten Erwartungen leider enttäuschen müssen: »All that the public papers have related about the discovery effected by means of photograph respecting the eye of the Spagnoli is false as far as regards the result of it. We executed the photograph of it, and the enlargement also, but neither in the one nor in the other did we discover what is presumed it showed« (Jay o.d.). Doch auch diese nüchtern-ernüchternde Nachricht sollte nicht dazu führen, dass die Annahme der Optogramme gänzlich aus der Forensik verschwinden sollte. Zu verlockend war die Aussicht, das Auge als Zeugen gewinnen zu können und mit ihm zugleich die Objektivität der Fotografie. Bereits  schrieb der Korrespondent des Photographischen Journals: »Ist der Letzte, den der Todte sah, sein Mörder, so trägt das unglückliche Opfer das Daguerreotyp desselben auf seiner Netzhaut: ein entsetzlicher Blutzeuge gegen den Mörder« (ebd.: ). Wie groß die Verlockung war, zeigt der Fall des Physiologen Dr. Ayres, der im Atelier von Wilhelm Kühne arbeitete. Hier ließen Tausende von eren – und insbesondere Frösche und Hasen – ihr Leben, weil bewiesen werden sollte, dass ihre Augen imstande wären, ein besonderes Bild zu konservieren: ein Porträt von Hermann von Helmholtz, seinerzeit die Autorität der physiologischen Optik schlechthin. Deutlicher könnte die Frontstellung von Ophtalmologie und Physiologie kaum gemacht werden. Kühne hatte Ayres vorgeschlagen, Helmholtz ein optographisches Porträt zu schicken, um so zu belegen, dass Optogramme möglich seien. Gesagt getan: Die Hasen wurden über einen langen Zeitraum in dunklen Räumen gehalten, um sie dann vier Minuten lang vor einem Porträt des großen Physiologen zu platzieren. Ayres verwendete ein fotografisches Negativ, durch das er helles Licht schickte. Danach wurde die Retina entnommen und eine fotografische Vergrößerung angefertigt. Da die Ergebnisse bedauer-

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licherweise nicht recht befriedigen konnten – angeblich waren nur Teile des Kragens und die Nase zu erkennen – und sich Helmholtz in diesem Bild kaum wiedererkannt hätte, mussten zahlreiche weitere Albinohasen ihr Leben lassen – bis die Versuchsreihe schließlich abgebrochen wurde. Und wenn auch die Ergebnisse in der medizinisch-forensischen Literatur kaum befriedigen konnten und wenig Hoffnung gaben, an diesem Verfahren festzuhalten, so beflügelte es doch die Imagination der Schristeller8: In der Literatur des ausgehenden . und beginnenden . Jahrhunderts finden sich einige Texte, die, sämtlich auf einem Kriminalplot beruhend, das Optogramm einsetzen, um einen Täter zu überführen: Les Frères Kip, ein später Roman von Jules Verne ( ), gehört ebenso dazu wie die Kriminalerzählung L’accusateur von Jules Claretie (), Auguste Villiers de l’Isle-Adams lange Erzählung Claire Lenoire, die bereits  erschien, Rudyard Kiplings At the Ende of the Passage ( ) und schließlich Maurice Renards Erzählung L’Image au fond des yeux ( : – ). Diese Liste wäre fortzusetzen, da sich bis in die Gegenwartsliteratur hinein Belege für dieses Motiv finden, so etwa in Caleb Carrs e Alienist (%). Selbst in Joyces Ulysses () findet sich der Satz: »e murderer’s image in the eye of the murdered«.9 All diese Texte, die hier nur am Rande erwähnt seien, buchstabieren die fantastisch-fantasmatische Vorgabe aus und machen das Auge zum wahren, weil fotografisch objektiven Augenzeugen.

4 Der Glaube an die Bilder Dass es bei der Beschäigung mit der Augenzeugenscha nicht zuletzt um metaphysische Fragen, ja um den Glauben an die Fotografie geht, zeigt die Legende der Jungfrau von Guadelupe, die bis heute das wichtigste Ziel von mehreren Millionen christlichen Pilgern pro Jahr in Mexiko ist. Ihre Geschichte ist nicht nur mit der Christianisierung des Landes und der massenhaen Konversion im . Jahrhundert eng verknüp, sondern vereinigt Elemente einer Metaphysik der Fotogra8 Zu diesen Texten liegt eine recht umfängliche Literatur vor. Vgl. u.a. GROJNOWSKI 1999: 71–

83, 2000: 28–37; MERGENTHALER 2002; HAUPT 2003: 299–321 und GOULET 2005–2006: 107–120, 2006. 9 Vgl. JAMES JOYCES Ulysses [Hades Episode]: »They looked. Murderer's ground. It passed

darkly. Shuttered, tenantless, unweeded garden. Whole place gone to hell. Wrongfully condemned. Murder. The murderer's image in the eye of the murdered. They love reading about it. Man's head found in a garden. Her clothing consisted of. How she met her death. Recent outrage. The weapon used. Murderer is still at large. Clues. A shoelace. The body to be exhumed. Murder will out.«

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fie, die wiederum im Auge fotografieanaloge Bilder erblickt. Diese Geschichte beginnt am . Dezember $, als am Tag der unbefleckten Empfängnis Mariens dem einfachen Indio Juan Diego eine geheimnisvolle weibliche Gestalt erscheint und ihn bittet, eine Kirche zu ihren Ehren an der Stelle zu bauen, wo bisher ein Tempel stand. Auf die Bitte des Bischofs hin, ihm ein Zeichen zu geben, an das er glauben könne, öffnet Diego seine lma, einen Umhang aus Agavenfasern, und es erscheint dort ein Bild, das, wie es in einem Text heißt, der etwa ein Jahrhundert später von diesem Wunder berichtet (und zugleich im wahrsten Sinn des Wortes mythopoetisch ist), nicht von Menschenhand gemalt ist und die Gottesmutter zeigt. Damit ist zugleich jene Formel gefunden, die sich, nun auf die Fotografie übertragen, noch an der Schwelle zur digitalen Fotografie in Roland Barthes Schri Die helle Kammer findet, wo es heißt: »Vielleicht reicht dieses Erstaunen, dieses Beharren tief in die religiöse Substanz, aus der ich geformt bin; wie man es auch dreht und wendet: die PHOTOGRAPHIE hat etwas mit Auferstehung zu tun: kann man von ihr nicht dasselbe sagen, was die Byzantiner vom Antlitz Christi sagten, das sich auf dem Schweißtuch der Veronika abgedrückt hat, nämlich daß sie nicht von Menschenhand geschaffen sei, acheiropoietos?« (Barthes :  [Herv. i.O.]) Nun haben sowohl die Geschichte des Schweißtuchs der Veronika als auch jene der Heiligen Jungfrau von Guadalupe eine fotografische Pointe. In beiden Fällen ist die Fotografie das Medium einer weiteren Erscheinung, einer Offenbarung als fotografischer Belichtung. Beim Turiner Grabtuch ist es der Fotograf Secondo Pia, der  erst das Antlitz Christi entdeckte, das für das unbewaffnete Auge, wie man in der Frühzeit der Fotografie zu sagen pflegte, unsichtbar war, als er es fotografierte. Bei der Jungfrau von Guadalupe ist es gut dreißig Jahre später der Fotograf Alfons Gonzales, der  , als er Aufnahmen der Pupillen des Gnadenbildes vergrößert, dort menschliche Gesichter entdeckt. Das Auge der Jungfrau von Guadalupe hat seinerseits ein Optogramm aufgezeichnet: Es zeigt, so heißt es, die Szene der Enthüllung des Umhangs und hat diese wie eine Fotografie festgehalten. Die Fotografie ist eine regelrechte visuelle Offenbarung, die eine Überzeugung der Zweifelnden qua bildlicher Evidenz nachgerade inszeniert. Zwischen Tod und Auferstehung pendelt die Fotografie und findet hier zugleich das Bild, das sie über ihre Geschichte hin wie ein diskursives Schattenbild begleitet. Und zwischen diesen Reichen

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entspinnt sich ihre Geschichte so als sei diese ein Ausbuchstabieren dieses metaphysischen Erbes.

5 Das universale Archiv und die objektive Wirklichkeit Alfons Gonzales’ Fotografie entstand im Jahre  , also mitten in der Hochzeit des sogenannten Neuen Sehens. Auch wenn sie von der Avantgarde-Bewegung eine maximale Entfernung einzunehmen und zu bewahren scheint, verlaufen bei genauerem Hinsehen die Spuren des Optogramms bis hinein ins Herz der Avantgarde. Nicht nur, dass das Auge nun zu einem bevorzugten Darstellungsgegenstand wird, es wird zudem bei einigen eoretikern mit all jenen Attributen versehen, die dem Optogramm zugeschrieben wurden: Wie ein fotografisches Emblem bündelt etwa die folgende Aufnahme Dziga Vertovs seine filmtheoretischen Grundannahmen (vgl. Abb. ). Der Film wird hier stillgestellt, um in visueller Abbreviatur im Wortsinn vor Augen zu führen, was er zeigen soll. Das Auge hat sich inzwischen aus Abb. 6: SVILOVAS Auge mit VERTOVS Porträt (TODE/WURM 2006: 242) dem menschlichen Körper herausgelöst, um in neuer Gestalt als Kino-Auge visuelle Objektivität zu garantieren. Vertov erblickt im Objektiv der Kamera das neue Auge, das Kino-Auge, das Kinoglas, das eine visuelle Aulärung des Menschen, ja seine Neugestaltung und visuelle Umprogrammierung bewerkstelligen könne. In dem programmatischen Text Kinoki-Umsturz formuliert er bündig: »Bis auf den heutigen Tag haben wir die Kamera vergewaltigt und sie gezwungen, die Arbeit unseres Auges zu kopieren. Und je besser die Kopie war, desto besser wurde die Aufnahme bewertet. Von heute an werden wir die Kameras befreien und werden sie in entgegengesetzter Richtung arbeiten lassen, weit entfernt vom Kopieren. […] Alle Schwächen des menschlichen Auges an den Tag bringen! Wir treten ein für Kinoglas, das im Chaos der Bewegung die Resultante für die eigene Bewegung aufspürt; wir treten ein für Kinoglas in seiner Dimension von Zeit und Raum, wachsend in seiner Kra und in seinen Möglichkeiten bis zur Selbstbehauptung« (Vertov : ).

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Und weiter – nun mit der Stimme des Auges gesprochen: »Ich bin Kinoglas. Ich bin das mechanische Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie zu sehen imstande bin. […] Das ist mein Weg der Begründung einer neuen Wahrnehmung der Welt. Und so dechiffriere ich auf neue Weise die euch unbekannte Welt« (ebd. f.). Ein weiteres Mal wird das Optogramm – nun in Gestalt des Kinoglas, des Kino-Auges – beanspruchen, eine unsichtbare Welt aufzeichnen, in Bilder bannen und in visuelle Evidenz überführen zu können. Doch während der Film e Invisible Ray, mit dem dieser kleine Rundgang durch die Geschichte des Optogramms begonnen wurde, das Fantasma des . Jahrhunderts aufnimmt, dass die unendlichen Weiten des Weltraums zugleich ein unendliches Archiv unsichtbarer Bilder sind, dessen Schätze dank der Fotografie und des Films zu bergen sind, ist das Reich der Bilder nun von dieser Welt: Es zeigt sich einzig dem Kino-Auge, da nur es beanspruchen kann, die Wirklichkeit unverstellt durch die Tradition wahrnehmen und aufzeichnen zu können. Und durch diesen Durchgang durch das Objektiv in Objektivität verwandelt gibt sie dem Menschen die Welt zurück: als visuell neuorganisierte Konstruktion einer neuen Wirklichkeit, eines neuen Menschen in einer neuen Gesellscha. Reproduktion soll in Produktion umschlagen. Das ist die eine Seite der Transformationsgeschichte des Optogramms in der Avantgarde, zu der vieles zu ergänzen wäre. Die andere sieht für das Auge ein gänzlich anderes Schicksal vor: Nun geht der Schnitt des Neuen Sehens mitten durch die Retina hindurch. Louis Buñuels Chien Andalou ( ) hat hierfür die perfekte filmische Metapher gefunden (vgl. Abb. ). Das Auge wird nun im Wortsinn zu einer Schnittstelle zwischen Subjektivität und Objektivität. Wird sie durchtrennt, so eröffnet sich anderer Raum des Sichtbaren, der nicht länger auf der Retina Abb. 7: Schnitt durch die Retina (Filmstill), nach der kameragleichen visu- Chien Andalou, Frk. 1929 (Regie: LOUIS BUÑUEL) ellen Materialisation des Realen sucht, sondern den Blick nach innen wendet: blindness and insight. Und es beginnt eine andere Geschichte, die an der Metapher des Optogramms zwar festhält, aber das Gesehene vom Subjekt ablöst, ob-

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wohl das Auge im Körper verbleibt. Im Auge ist nun ein unendliches Bilderreich zu entdecken, das sich der Wahrnehmung des Menschen, obwohl es sich um sein eigenes Auge handelt, entzogen hat. Ein letztes filmisches Beispiel soll auch hier angeführt werden:

Abb. 8: Bilder im Auge (Filmstill): Babylon AD, USA 2008 (Regie: MATHIEU KASSOVITZ)

Abb. 9: Bildreview (Filmstill): Babylon AD, USA 2008 (Regie: MATHIEU KASSOVITZ)

In Mathieu Kassovitz’ – zugegeben ziemlich schlechten – Science Fiction-Film Babylon AD (Abb. , ) wird der Protagonist an ein Gerät angeschlossen, das es gestattet, das, was er nach seinem klinischen Tod gesehen hatte, ins Reich des Sichtbaren zurückzuholen. Und es entstehen neue Mythen: Bei Kassovitz ist es nicht der des unbefleckten Auges, sondern der unbefleckten Empfängnis, die hier maschineninduziert eine neue Religion stien soll, die längst an der Börse gehandelt wird. Doch das ist eine andere Geschichte.

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Babylon AD (2008) (USA, R.: MATHIEU KASSOVITZ) Chien Andalou (1929) (Frankreich, R: LOUIS BUÑUEL) The Invisible Ray (1936) (USA, R: LAMBERT HILLYER)

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Blickmaschine Fotoautomat: Staatliche, künstlerische und Laien-Strategien Der Fotoautomat (franz. Photomaton, engl. Photo Booth) ist Teil einer Blickkultur des . und des . Jahrhunderts, die sich durch unterschiedliche soziale Praxen und ästhetische Formen auszeichnet. Das automatisierte Porträt ist einerseits als standardisiertes Passfoto, andererseits als formenreiches, zuweilen wildes Spaßfoto weitreichend bekannt. Das eine Porträt fungiert im Kontext eines staatlich beglaubigten Dokuments als Identitätsmarker des Rechtssubjekts. Das andere Porträt wird in derselben Aufnahmekabine von Laien und Künstlern erstellt, um eine private oder eine künstlerische Sicht auf das Individuum festzuhalten. Als Identitätsmaschine besonderer Art entwickelte der Fotoautomat über einen Zeitraum von gut hundert Jahren Gesten der Selbstdarstellung, deren unterschiedliche Strategien und mediale Verwendungsweisen im Folgenden thematisiert werden. Zunächst werde ich das Phänomen der aktuellen Beliebtheit von Automatenfotos beschreiben und sowohl auf ästhetische Aspekte als auch auf Gebrauchsweisen eingehen. Im nächsten Schritt werden Automatenfotografien im Zusammenhang von staatlicher Identifizierung, von künstlerischer Bearbeitung und von alltagskultureller Erinnerungskultur vorgestellt.

Medienamateure heute und die historische Porträtmaschine Das Porträtfoto aus dem Fotoautomaten ist Teil eines nicht-professionellen Umgangs und einer amateurhaen Gebrauchsweise. Der Konsument begibt sich heute zur Bildherstellung dabei entweder in ei-

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nen jener bewährten Fotoautomaten aus den  er und  er Jahren, die mit analoger Technik und in schwarzweiß arbeiten, oder er besucht einen Fotofix-Automaten, der mittlerweile mit digitaler Technik für Farbfotos ausgestattet ist. Eine andere Möglichkeit, den Automaten-Effekt für das Porträt zu erzielen, bietet eine Photo-Booth-Soware aus dem Internet, mit der die Ästhetik von Automatenbildern simuliert werden kann (vgl. Abb. )1. Mittels Fernauslöser in mobilen Settings werden ferner Fotoautomaten-Atmosphären auf Hochzeiten oder anderen privaten Events von kommerziellen Anbietern inszeniert.2 Auf den verschiedenen (Interessens-) Plattformen im Internet (z.B. Flickr, MySpace, Facebook, You- Abb. 1: Screenshot, Ausschnitt, Demo für Tube, Sevenload) können Nutzer Party-Booth-Software die Fotos direkt in eigene Texte und Bildstrecken einfügen. Die analogen Fotostreifen kann man einscannen und auf entsprechenden Liebhaber-Homepages einstellen (vgl. Abb. ) 3. So liefert die Internetplattform Photoautomat.de nicht nur eine Galerie für Fotostreifen, sondern kartografiert auch die Standorte der alten Automaten, berichtet von ähnlichen Projekten des Wiedergebrauchs im In- und Ausland und bietet Vermietungen der Maschinen für Events an. Es scheint offenbar für die bastelnden Amateure in Zeiten des Web . ein besonderer Reiz Abb. 2: Screenshot, Ausschnitt, von den historischen Fotoka- www.photoautomat.de binen auszugehen, der in Internetforen immer wieder beschrieben wird. Im folgenden Zitat wird eine Beobachtung zum Gebrauch des 1 Quelle: URL: http://party-booth.softonic.de (11.07.2012); vgl. dazu auch iPhone-App Incre-

dibooth. 2 Vgl. beispielsweise URL: http://www.weddingphoto-riess.com/photo-booth.html (11.07.2012)

oder URL: http://www.party-photobooth-hire.co.uk (11.07.2012). 3 Quelle: URL: http://www.photoautomat.de/ (11.07.2012).

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Fotoautomaten an der Warschauer Straße in Berlin beschrieben (vgl. Abb. $): »Es rappelt und blitzt in der Box an der Warschauer Straße. Zwei Paar Turnschuhe schauen unter dem Vorhang hervor und drinnen wird gekichert. Ein kurzer Spaß – wenig später treten zwei Teenagerinnen in die Nacht heraus, werfen sich ihre Jacken über und warten. Vier Minuten Abb. 3: Fotoautomat Warschauer Straße, Berlin 2009 (Foto: SUSANNE REGENER) braucht ein Fotoautomat, um zu entwickeln, zu trocknen und die Aufnahmen auszuspucken. Neugierige Hände ziehen den schmalen Streifen mit vier Schwarz-Weiß-Fotos hervor und als die beiden Teenies ihre Köpfe glückselig zusammenstecken, wirkt es, als hätten sie hier in dieser tristen Baulücke eine Disco entdeckt. Das war’s, sie ziehen von dannen und die kleine Klickmaschine ist wieder betriebsbereit. Merkwürdig, es gibt so viele Kameras wie nie zuvor in Deutschland, und gerade Mädels in diesem Alter haben ihre Lieben längst auf dem Foto-Handy: Anna und ich auf dem Abi-Ball, mein blöder Bruder und die Eltern auf Langeoog, alles schon da und alles digital. Und dennoch hocken sie hier kichernd hinter dem Vorhang und werfen Euros in einen alten Automaten, den ein sibirischer Immigrant   in New York erfunden hat« (Onken

). Die alten Fotofix-Automaten sind Kult. Nicht nur allein, auch in Gruppen scheinen insbesondere junge Leute, so wird es im Zitat benannt, von den nostalgisch anmutenden Automaten angezogen zu werden. Im Zuge nächtlicher Stadtwanderungen, Party- oder Discothek-Besuchen werden Erinnerungsfotos aufgenommen, wie zahlreiche Weblog-Einträge bezeugen.4 Weil die Betreiber ihre Klientel sozial und altersmäßig verorten, stehen die Automaten in Stadtteilen mit Clubszene, alternativem Milieu und relativ junger Bevölkerung; in Berlin sind das die Stadtteile Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg. Eine empirische (Feld-)Studie könnte die aktuelle Gebrauchs4 Vgl. z.B.: Weblog für Alltagskultur, URL: http://boschblog.de/2010/02/19/fotoautomat

(11.07.2012), mehrere Kommentare zur Rubrik »Photoautomat«, »Sternschanze«, »Hamburg« auf der Seite der Online-Community Qype: URL: http://www.qype.com/place/171491-Photoautomat-Hamburg#review_598481 (11.07.2012), ein Blog für Mädchen, in dem ein Kölner Fotoautomat kommentiert wird: URL: http://www.lesmads.de/2009/07/sonntagsoutfit_und_fotoautomat.html (11.07.2012).

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weise der Fotoautomaten ermitteln. Dabei würde sich ergeben – so meine Hypothese, dass die Medienamateure der Gegenwart multimedial agieren, cross-mediale Verwendungen finden und die analogen Produkte sowohl in digitale verwandeln als auch in Scrapbooks oder Poesiealben einkleben. Hier manifestiert sich jugendliches Peer-Gruppenverhalten und Erinnerungskultur von Teenagern. Die Fotohistorikerin Nora Mathys hat Leitfadeninterviews mit fünf jugendlichen Mädchen und einem Jungen aus Bern unternommen, um der Verbindung von Fotoautomat und Freundschasfotos nachzugehen (vgl. Mathys

). Dabei wurde betont, dass es in erster Linie das Ereignis selbst ist – sich treffen, gemeinsame Inszenierung und Kommentierung des Ergebnisses, das den Reiz des Mediums ausmacht (ebd.: %f.). Auch das obige Zitat bestätigt diese Beobachtung, dass es nicht dieses eine Foto ist, das die Teenager noch nicht voneinander hätten, sondern vielmehr die Prozedur selbst zu einer besonderen Erfahrung wird, nachdem man mit Handy oder Digitalkamera schon alle Visualisierungsformen ausprobiert hat. Die vorliegende Studie will durch Vergleiche die Mehrdimensionalität des Automatenfotos aufzeigen, das sich zwischen Populärkultur, Kunst und Regierung (Verwaltung), zwischen Pass, Kunstwollen und Spaß bewegt. Dabei geht es um eine Deutung von Selbstdarstellungspraktiken in ihren je spezifischen Versuchen, Originalität, Identität und Rollenspiel zu visualisieren. Im Jahre

% haben der Kameramann Asger Doenst und der Drehbuchautor Ole Kretschmann gebrauchte Schwarzweiß-Fotoautomaten aus den  er und  er Jahren wieder gangbar gemacht und in Berlin aufgestellt; seitdem gibt es in vielen europäischen Großstädten einige Exemplare dieser Apparate. Auch in den USA boomt seit einigen Jahren die analoge Automatenfotografie, die man sogar in Kneipen und Bars benutzen kann, wie die Internetseite photobooth.net dokumentiert. Die Homepage der Berliner Aktivisten (photoautomat.de) lädt zur Teilnahme an der Ausstellung von Fotofix-Streifen im Internet ein. Eine solche User-Galerie hatte in der Anfangszeit des Web . eine andere Schnappschussgemeinde veranlasst: die Lomografie-Gesellscha. Die Anhänger des in Wien gegründeten und mittlerweile international arbeitenden Fotoprojektes streben ein LomoWorldarchive der Schnappschüsse an (vgl. www.lomo.de). Schnappschüsse, Knipserfotos (vgl. Starl ), »verpatzte Schnappschüsse« (Skrein

%: ) und sogenannte Spaßfotos finden also seit einigen Jahren eine Aufmerksamkeit, die durch private Sammler einerseits (vgl. ebd.) und sammelnde Amateure andererseits entsteht und insbesondere durch die Verge-

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sellschaungsformen des Internets auch Archivierungsorte gefunden haben. Die digitalen Fotofix-Automaten annoncieren neben biometrischen Passfotos auch Bewerbungsfotos und Spaß-Fotos (vgl. Abb. %). Allerdings scheinen heute nur die alten analogen, nun wieder gangbar gemachten Automaten wirklich als Kult angenommen zu werden. Auf der USamerikanischen Website photobooth.net wird versucht, eine Medien-Historiografie des Automatenbildes zu erstellen, inAbb. 4: Digitaler Fotofix-Automat, dem Filme, Kunstwerke sowie Literatur Flughafen Tegel, Berlin 2009 und Songtexte dokumentiert werden, in (Foto: SUSANNE REGENER) denen Fotoautomaten und ihre Erzeugnisse vorkommen. Vor diesem Hintergrund einer systematischen Spurensuche und Aufwertung des Automatenbildes in Kunst und Kultur kann die gegenwärtige Aneignung des Mediums Fotoautomat durch Amateure als Versuch gewertet werden, sich selbst mit diesen Bildern in eine Bedeutungsgeschichte einzuschreiben. Mediale Fankultur, die durch Aktionen wie photoautomat.de angeregt wird, ist in erster Linie mit einer Jugendkultur verbunden, die heute eine Sehnsucht nach dem Dilettantischen kennzeichnet. Gleichwohl ist diese Generation bereits mit einer optischen Überwachung im Alltag aufgewachsen, was möglicherweise Auswirkungen auf die Selbstdarstellung hat und die subversiv-spielerische Umdeutung des strengen Passbildes provoziert. Der Fotoautomat – ob nun mit analoger oder digitaler Technologie – hat immer schon beide Bilder produziert: das Passfoto/das Kontrollbild und das Porträt/das Spaßbild. Wenn im Folgenden auf die Geschichte des Fotoautomaten eingegangen wird, dann geschieht das unter zwei Schwerpunkten: erstens in Bezug auf eine staatlich verordnete Pass-Geschichte, mithin ein Format, das der identifikatorischen Idee dient und aus einem staatlichen Interesse entstanden ist, und zweitens in Bezug auf jene Bewegungen des Entzugs vor dem apparativen Dispositiv, die von Künstlern und Amateuren vorgenommen wurden. Eine erkenntnisleitende Frage, die sich aus den unterschiedlichen Apparateprogrammen ergibt, ist folgende: Verknüpfen sich Herrschastechniken (Passbild) mit Techniken des Selbst/der Selbstdarstellung? Oder sind es gerade die Umdeutungen des Formates Passautomat, die man unter dem Stichwort der Rekonfiguration

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der Subjektivität fassen kann: ein visuelles Ereignis, das der ursprünglichen apparativen Logik nicht mehr gehorcht.

Passfotografie und Fotoautomat Das Passfoto steht in engem Zusammenhang mit der Geschichte staatlichen Zugriffs auf ein Image, das zur Identifizierung einer Person dient (vgl. Abb. 5). Das Passfoto ist eingebunden in vielfältige technische und gesellschaspolitische Bedingungen und Hintergründe. Mit dem Passfoto soll Identität an ein visuelles Bild geknüp werden, und mit dem Passfoto wird das Porträt eines Menschen in den Rahmen staatlicher, öffentlicher Kontrolle gebracht. Das Passfoto ist visuelles Objekt zwischen Fotografie- Abb. 5: Passfoto in Aufentwider-Willen und freiwilliger Selbstdarstel- haltserlaubnis, Berlin 2000, lung. Diese Ambivalenz findet sich in der (Sammlung REGENER) Gebrauchsweise des Fotoautomaten wieder. Die frühen (mittelalterlichen) Passtypen waren eine Art Geleitbriefe, die von jeweiligen Machthabern für die Reise in ein anderes Machtgebiet vorgesehen waren. Mit der Ausweitung administrativer Ressourcen von Staaten entwickelt sich eine Regierungsmaschine, die Informationen über Bürger sammelt: Das Individuum soll identifiziert und registriert werden. Über eine lange Zeit, so beschreibt es der Historiker Valentin Gröbner für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit, waren Pässe eine Sache der Armenpolitik: Wer keine Papiere hatte, musste das Land verlassen (vgl. Gröbner

%a, b). Das Passwesen Ende des . Jahrhunderts bezog sich auf eine Idee der Unterscheidbarkeit von Bürgern in Unbescholtene und Vagabunden. Letztere bekamen kein Geleit – sie wurden mit polizeilichen Fahndungsblättern gesucht, die teilweise bereits Fotografien enthielten (vgl. Regener : $–). Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges konnte man faktisch ohne Pass und Restriktionen reisen. Man brauchte allgemein kein Identifikationsbild. Sowohl Jules Verne ($) als auch Stefan Zweig (%%) beschrieben diese relative Reisefreiheit in Europa ohne Untersuchungen zu Herkun, Rasse oder Religion (vgl. Burger

%). % dann wurden Pass und Staatsbürgerscha miteinander verbunden. 5 Abb. 5 mit freundlicher Genehmigung von C.B.

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Im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Wehrpflichtigen für den Krieg entstanden Restriktionen und die Erfassung des Individuums, die Passidentität (vgl. Østergaard

%). Die Polizei rekurriert auf die indexikalische Repräsentationsleistung des Mediums Fotografie, aufgrund derer man von einer Wiedererkennbarkeit ausgeht. Damit wird ein offizielles Rechtssubjekt über das Passbild konstituiert. In den  er Jahren setzte dann auch weltweit eine verstärkte Nutzung des Fotoautomaten für Passbilder ein (vgl. Goranin

). Schon aus dem letzten Drittel des . Jahrhunderts waren sogenannte Schnellfotos bekannt. Von Wanderfotografen wurden Porträts auf schwarz lackiertem Blech als Unikate innerhalb von zehn Minuten hergestellt, die auf Jahrmärkten und an Ausflugszielen angeboten wurden. Es war nun nicht mehr ausschließlich der Atelierraum, in dem das Porträt inszeniert wurde, sondern auch an Orten des Alltäglichen fand Selbstdarstellung statt. Direkter Vorläufer des Passbildautomaten war der Bosco-Pho- Abb. 6: toautomat (vgl. Abb. ), der  in Paris Bosco-Photoautomat, 1894, und auf der Weltausstellung in Hamburg Deutsches Museum, München vorgestellt wurde. Nach Einwurf eines Geldstückes wurde in einem mechanisierten Ablauf von Aufnahme und Entwicklung das Unikat einer Ferrotypie hergestellt. Ab % wurden diese Bosco-Automaten der Hamburger Firma Conrad Bernitt auf Jahrmärkten in Pa noptiken, in Biergärten und an Ausflugszielen aufgestellt (vgl. Häussler

%: %f.). Unter der Bezeichnung Photomaton setzte weltweit eine verstärkte kommerzielle Nutzung des Gerätes ein. Ab   hatte die in New York gegründete Photomaton-Gesellscha das Betriebsmonopol weltweit. In Deutschland waren nach Schätzungen   in  Städten Pho- Abb. 7: Filmstill aus Welcome Danger, USA tomatone aufgestellt; täglich 1929 (Regie: CLYDE BUCKMANN) sollen sich dort etwa 

Personen abgelichtet haben (vgl. Maas ; Frizot ). In den seinerzeit populären Stummfilmen wie Lonesome von Paul Fejos (USA  ) und Welcome Danger von Cly-

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de Bruckmann (USA  ) (vgl. Abb.  6) wurde der Photo-Booth als Blickmaschine vorgestellt und das Automatenfoto als Kommunikationsmittel, das die Liebe besiegelt, das Wiedererkennen erleichtert und die Erinnerung versüßt. Der Automat zeigte sich hier noch ohne Kabine. Das Foto aus der Maschine, die man selbst bediente, wurde als neues Selbstdarstellungsmedium gepriesen oder als Porträt ohne Aura und efgang verurteilt, wie das folgende Zitat aus den Erinnerungen von Gustav Janouch an ein Gespräch mit Franz Kafka Anfang der  er Jahre illustriert: »Im Frühling   wurden in Prag zwei vor kurzer Zeit im Ausland erfundene Lichtbild-Automaten aufgestellt […]. Als ich mit einer solchen Serie von Bildern zu Doktor Kaa kam, sagte ich gutgelaunt: ›Man kann sich für ein paar Kronen von den verschiedensten Seiten photographieren lassen. Der Apparat ist das mechanisierte Erkenne-dich-selbst.‹ ›Sie wollen sagen: Verkenne dich selbst!‹, meinte darauf Doktor Kaa mit einem feinen Lächeln. Ich protestierte: ›Wieso? Die Photographie lügt doch nicht!‹ ›Wer sagt Ihnen das?‹ Doktor Kaa neigte den Kopf zur Schulter: ›Die Photographie fesselt den Blick an die Oberfläche. […] Oder glauben Sie, daß man der abgrundtiefen Wirklichkeit, welcher während all der vorhergehenden Epochen ganze Legionen von Dichtern, Künstlern, Wissenschalern und anderen Zauberern voller banger Sehnsucht und Hoffnung gegenüberstanden, dass man dieser immer wieder zurückweichenden Wirklichkeit nun einfach durch das Niederdrücken der Köpfe einer billigen Apparatur erfolgreich beikommen kann? – Ich bezweifle es. – Dieser Lichtbild-Automat ist kein multipliziertes Menschenauge, sondern nur ein phantastisch vereinfachter Fliegenblick‹ « (Janouch : f. [Herv. i.O.]). Die Überlieferung zeichnet Kafka als jemanden, der an die Wahrheit der Darstellung allein durch die Kunst und Wissenscha glaubte und dem zeitgenössisch neumodischen Apparat nicht nur misstraute, sondern dem Produkt auch Authentizität absprach. Ähnlich reagierte auch Gisèle Freund in den $ er Jahren, die fotohistorisch die Porträtfotografie des Photomatons auf reine Technik reduzierte und darin ein Zeichen ihres ohnehin zunehmenden künstlerischen Verfalls sah (vgl. Freund : ). In Kunst, Populärkultur und Wissenscha wurde der Fotoautomat einerseits als privates Kommunikati6 Quelle: URL: http://www.photobooth.net/movies_tv/index.php?movieID=91 (11.07.2012).

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onsmittel gefeiert, und andererseits wurde das Medium vor einer sogenannten wahren und künstlerisch hochwertigen Fotografie abgewertet. Künstler späterer Epochen versuchten, dem Apparat wieder eine Aura zu verleihen.

Gouvernementale Geschichte des Automatenfotos Das Automatenfoto als Passfoto hat formal-ästhetisch wie zeichenhametaphorisch auch eine Verbindung zu Staat und Polizei. In der alltagssprachlichen Wendung vom Automatenfoto als Verbrecherfoto kommt scherzha zum Ausdruck, dass eine bestimmte Ästhetik entstanden ist, die man aus polizeilichen Fahndungskontexten kennt. Die Ähnlichkeiten im Ergebnis resultieren aus dem gleichen Standardisierungsprogramm, dessen Setting Abb. 8: Aufnahmeapparatur für die erkenbei der Polizei im letzten Drittel nungsdienstliche Fotografie nach A. BERTILdes . Jahrhunderts perfektio- LON (Anweisungen 1899) niert wurde. Bei der Polizei sieht diese Einrichtung folgendermaßen aus (vgl. Abb. ): In einem bestimmten und immer gleichen Abstand sind Aufnahmestuhl und Kamera zueinander positioniert. Körper und Kopf werden so arretiert, dass eine Stillstellung garantiert ist. Die Säule in der Mitte trägt einen Spiegel, in dem sich bei idealer Sitzposition der Blick des Delinquenten und der Abb. 9: Anthropometrische Karte mit der Fotografie von A. BERTILLON, 1892, University des Fotografen treffen sollen. College London, 1892 Ergebnis ist eine Fotografie des Erkennungsdienstes der Polizei (vgl. Abb. )7, die zusätzlich zu den anthropometrischen Vermessungen einen visuellen Eindruck der Person in der Form wiedergibt, dass das Bild mit anderen ähnlich hergestellten verglichen werden kann (vgl. Regener : %– ). Durch die normierte Aufnahmesituation, die ab 

weltweit bei der Polizei 7 Quelle: URL: http://www.eugenicsarchive.org (11.07.2012).

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Anwendung fand8, entstand ein Visiotyp, das als (ästhetisches) Zeichen für Verdachts- und Schuldzuschreibungen einer Person steht. Ein Visiotyp ist Bestandteil gesellschalicher Kommunikation: Wie die Stereotypisierung auf der Textebene ist Visiotypisierung auf der Bildebene von Standardisierung gekennzeichnet. Das Visiotyp aus einer Institution, wie der Polizei oder dem Gefängnis, ist den Praktiken des Regierens zuzuordnen (vgl. Marquard

; Pörksen

). Die erkennungsdienstliche Fotografie hat dieselben standardisierenden Parameter wie das Foto aus dem Automaten. Auch im Fotoautomaten sind der Abstand zur Linse und die Einstellung der Kop€öhe genormt. In den aktuellen Fotofix-Automaten wird der Kunde sogar via automatischer Stimme auf das geforderte Passformat hingewiesen. Die Kommunikation über die polizeilicherseits angefertigten Porträts erfolgte über verschiedene Wege: Als Fahndungsfotos oder Steckbriefe wurden und werden sie in Print- und Online-Medien veröffentlicht.9 In Westdeutschland waren ab  die umfassenden und zwei Jahrzehnte lang andauernden Plakatierungen von gesuchten Mitgliedern der Rote Armee Fraktion (vgl. Abb.  10) ein Beispiel für die Vermischung von erkennungsdienstlichen Fotografien und Passbildfotos aus dem Automaten. Letztere waren aus privaten Zusammenhängen in die Fahndungspraxis gewandert (vgl. Regener

). Prominenten-Mugshots werden heute gesammelt, in Internet-Communities diskutiert und sogar im Auktionshaus Christie’s verkau (vgl. Abb. 11). Celebrities sind bereits durch Presse und Bildmedien eine eigene Marke, die im Falle einer polizeili- Abb. 10: RAF-Fahndungsplakat des Bundeskriminalamts aus chen Erfassung gebrochen wird: Hier kann dem Jahr 1983 (Sammlung REGENER)

8 Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Form der fotografischen Erfassung bereits im anthropo-

logischen Zusammenhang der Vermessung von fremden Völkern durch Ethnographen und Kolonialisten im 19. Jahrhundert quasi erfunden wurde (REGENER 1999: 149f.). 9 Das US-amerikanische Federal Bureau of Investigation (FBI) etwa veröffentlicht aktuelle aber

auch historische Steckbriefe zu Kriminalfällen unter: URL: http://www.fbi.gov/wanted.htm (11.07.2012). 10 Abb. 10 mit freundlicher Genehmigung des Bundeskriminalamts (BKA). 11 Quelle: URL: http://www.christies.com/LotFinder/lot_details.aspx?intObjectID=4417802

(11.07.2012), weitere Mugshots unter: URL: http://mredsmugshots2.blogspot.com (11.07.2012).

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der Angriff auf das Image besonders gut nachvollzogen werden. Die Blickmaschine der Polizei steht für eine andere, nämlich eine regierungstechnische Blickkultur. Was im Falle der Polizeifotografien von Prominenten zur Erheiterung beiträgt, kann aber auch als Indiz für eine visuelle Zurichtung des Abb. 11: Mugshots JANIS JOPLIN, Tampa Individuums durch die Institu- Police Department, Florida 1969 tion des Staates gedeutet werden. Schließlich kann man mit seinem Bild durch Bilderwanderungen in unliebsame Zusammenhänge geraten (vgl. Regener

).12 Bilderwanderungen (in Akten der Justiz, in Presse/Medien, in wissenschaliche Untersuchungen) müssen nach wissenschalich abgestützten Taktiken politischen Agierens befragt werden, die mit Michel Foucault unter Gouvernementalität gefasst werden (vgl. Foucault –). Grundlage für das Verstehen der damit verbundenen Blickkultur ist, dass wir mit einem Subjekt rechnen können, das nicht nur jenes, den Machtverhältnissen unterworfene Subjekt ist, sondern auch eines, das die Möglichkeit zum Selbstentwurf enthält (vgl. Uphoff

%/ ). Das biometrische Foto für den neuen biometrischen Ausweis gehört auch zu disziplinarischen Maßnahmen. Hatten sich die Regierten früher noch mehr oder weniger den deutlichen Vorgaben für das Passfoto entziehen können, die lautete »Dreiviertelprofil einnehmen, ein Ohr sichtbar werden lassen«, so ist heute eine sehr strenge schablonisierende Aufnahmeprozedur vorgesehen. Die Vorgaben für das biometrische Foto (vgl. Abb.  ) betreffen das Format, die Kopfposition, den Gesichtsausdruck, die Augen- und Blickrichtung, die Schärfe und den Kontrast des Fotos, die Ausleuchtung der Person sowie den Hintergrund; Brille und Kop_e- Abb. 12: Biometrische Fotografie, Ausschnitt deckung dürfen nicht auf dem der Foto-Mustertafel des BMI, 2007 12 Vgl. zum Thema Kontextverschiebung und Bildwanderung auch den Beitrag von BINDER/VO-

GEL in diesem Band [Anm. der Herausgeber].

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Passfoto erscheinen. Das heißt, der Staat hat eine bestimmte Vorstellung davon, wie er das Individuum als identifizierbares sichtbar machen kann, ähnlich, wie sie Alphons Bertillon im . Jahrhundert hatte. Es ist das Diktat der Sicherheit, in dessen Namen die Standardisierung eingeführt wurde. Man kann sagen, der Blick der Polizei weitet sich auf die zivilen Porträtfotografien für den Zweck des Identitätsnachweises aus. Der Pass hat eine maschinelle Dimension, indem er das Augenblickliche einer Person mit einer Repräsentation der staatsbürgerlichen Identität verbindet (vgl. Carnera

%: $). Das heißt, alles, was an einem Gesicht mehrdeutig, beweglich, zufällig ist, wird eliminiert, wenn das Bild durch die Maschine Photomaton/Fotoautomat hergestellt wird. Mit dem biometrischen Passfoto rückt uns die Blicktechnik der Disziplinarmacht auf den Leib. Das Bundesministerium des Innern (BMI) hat Richtlinien aufgestellt, welche die Atelierfotografen beachten müssen. Fotoautomaten wurden mit Schablonen der Gesichtseinpassung und textlicher wie auditiver Anleitung versehen. Diese visuelle Identität, die durch eine Fremdführung von außen hervorgebracht wird, ist im Bildergebnis zumeist eine, die uns kränkt: Mit diesem Ausdruck fühlen wir uns nicht angemessen repräsentiert, was umgangssprachlich mit »Verbrecherfoto« zum Ausdruck gebracht wird.13 Verschiedene kritische visuelle Strategien, insbesondere durch Künstler, aber auch durch Amateure lassen neben dem notwendigen offiziellen Porträt im Fotoautomaten ein anderes, ein selbstbestimmtes Porträt entstehen, das eine Undiszipliniertheit vorweisen will. Die Aneignung des Fotoautomaten durch Laien und Künstler zielt auf eine Rekonfiguration des Subjektes, mithin eine Selbstführung von innen. Abbildung  zeigt die verschiedenen Aneignungsformen und Bezugnahmen auf unterschiedliche Gebrauchskontexte: Der Mann nimmt zunächst Positionen ein, die für ein Passfoto infrage kommen. Er testet Profile, Halbprofile rechts und links und die Einstellung von vorne. Die sichtbare Kleidung ist of- Abb. 13: Porträts aus dem Fotoautomaten, fiziell: weißes Hemd, Krawatte 1930er Jahre, privat H.K., Sammlung REGENER 13 Vgl. z.B. die Diskussion zu den ePass -Fotos in verschiedenen Blogs: URL: http://winfuture.de/

news-kommentare,55868.html (11.07.2012); BIRGIT SCHIEFENEDER, Unmut über ›Verbrecherfotos‹, in: URL: http://www.merkur-online.de/lokales/nachrichten/unmut-ueber-verbrecherfotos-228507.html (11.07.2012).

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und dunkle Anzugjacke. Offenbar in gleicher Absicht war der zweite Mann am Automaten, denn auch er ist mit einem Anzug bekleidet. Die beiden letzten Einstellungen werden zu Freundschasfotos: Der eine Mann legt den Arm um den anderen und rückt mit dem Gesicht nah an das des anderen heran, damit beide auf dem kleinen genormten Bildausschnitt erscheinen können. Diese Geste der aneinandergeschmiegten Gesichter wiederholt sich in der Automatenfotografie bis in die Gegenwart.14 Der Fotoautomat ist eine Maschine für die Anlage zweier Blickkulturen: jene, die Identität im Sinne einer Vergleichbarkeit, eines Typus sucht, und jene, die den individuellen Ausdruck, im Sinne einer subjektiven Authentizität sucht. Bei der Polizei und anderen staatlichen Institutionen (Erkennungsdienst, Passwesen, Meldeamt, Führerschein) hält man an der Repräsentation des Gesichtes im offiziellen Dokument fest, obwohl der Fingerabdruck als Identifizierungsmittel seit der Wende zum . Jahrhundert erwiesenermaßen das verlässlichere Instrument ist (vgl. Regener : %%f.). In dieser Geste der Unterwerfung durch die biometrische Fotografie wird man an das »Phantasma der Physiognomik« (Schmölders : ) erinnert, das in einer langen Tradition seit dem . Jahrhundert für eine Kulturtechnik steht, die den äußeren Formen des Gesichtes eine Charakteristik und ein Seelenleben einzuschreiben bemüht ist. Im Passbild kommt offenbar ein historisch verankerter Glaube an das Gesicht zum Ausdruck.

Strategien von Künstlern und Laien Künstler, aber auch Laien/Amateure sind daran beteiligt, ein Gesicht und damit auch Subjektivität zu produzieren oder in eine neue Konfiguration zu bringen. Wie sieht diese Selbstführung aus? Im Folgenden werden anhand einiger Beispiele aus der internationalen Kunst und zeitgenössischen Amateurproduktionen Versuche aufgezeigt, wie mit dem Fotoautomaten kreativ umgegangen wird. »Apparate sind Teil einer Kultur«, schreibt der Philosoph Vilém Flusser, »folglich kann man diese Kultur an ihnen erkennen« (Flusser  : ). Die physiognomische Arbeit, die im Falle der Passfotografie die Fremdführung darstellt und im Fotoautomat gleichsam programmiert ist, kann – auch das ist in der Apparate-Idee von Flusser vorgesehen –

14 Vgl. zu Beispielen amerikanischer Fotografien aus dem Photobooth von den 1920ern bis in die 1960er Jahre GORANIN 2008.

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Abb. 14: Automatenfotos von ARNULF RAINER 1969, je 5,8 x 4,3 cm

zu einer anderen Möglichkeit führen. Ein Künstler wie Arnulf Rainer forderte auf besondere Weise den Apparat heraus (vgl. Abb. %15). Der Fotoautomat war, nachdem er in den  er Jahren von einer Kabine umgeben worden war (vgl. Goranin

), auch Rückzugsort – eine Kabine von der Größe , mal , mal , Meter, in der man an einem öffentlichen Ort und durch einen Vorhang abgeschottet allein mit der Kamera sein konnte, ohne die unmittelbare Beobachtung durch einen Fotografen oder ein Publikum. Der österreichische Künstler Arnulf Rainer war von dieser Fotozelle fasziniert und besuchte von  bis  wiederholt den Fotoautomaten im Wiener Westbahnhof (vgl. Regener

%). Rainer hatte sich seit den  er Jahren in seiner Malerei immer wieder mit Mimik und physiognomischen Studien auseinandergesetzt. Im Fotoautomaten wollte er, wie er in Self-Portraits () beschreibt, einem Experiment huldigen: Seine exaltierten Grimassen, die er während seiner malerischen Tätigkeit ausübte, wollte er in der Fotokabine wiederholen (vgl. Abb. %). Dazu sedierte er sich leicht, das heißt er trank etwas Wein oder nahm Aufputschmittel, bevor er sich unter den argwöhnischen Augen von einigen Polizisten im Westbahnhof in den Fotoautomaten begab. Rainers Arbeit am Gesicht und seinen Ausdrucksmöglichkeiten war von der Idee besessen, eine bestimmte Stimmung in ein visuelles Zeichen zu überführen. Damit stehen diese Arbeiten in der Tradition der Affekt-Dokumentation der Physiognomik seit dem späten . Jahrhundert (vgl. Schmidt

$: – ). Der Physiologe und Neurologe Duchenne de Boulogne hatte Ende des . Jahrhunderts eine fotografische Affektstudie erstellt. Das, was Rainer von innen nach außen bringen wollte, wurde von Duchenne mechanisch als Muskelkontraktionen im Gesicht eines Probanden mit Stromstößen evoziert. Beides Mal gab es eine Vorstellung, ein inneres Bild davon, welcher Ausdruck 15 Abb. 14 mit freundlicher Genehmigung der Galerie M, Bochum.

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zur Anschauung kommen sollte. Durch Missachtung des Apparateprogrammes – Schärfe entsteht im Fotoautomaten nur, wenn ein entsprechender Abstand zur Linse eingehalten wird – hat Rainer versucht, mit spielerischen Elementen neue Selbstdarstellungen zu produzieren. Dieses Spiel hat Vilém Flusser als Eigenscha des Fotoapparates hervorgehoben: »Der Fotograf muss sich nicht mehr, wie der Maler, auf einen Pinsel konzentrieren, sondern kann sich ganz dem Spiel mit der Kamera widmen. Die zu leistende Arbeit, das Drücken des Bildes auf die Fläche, geschieht automatisch: Die Werkzeugseite des Apparates ist ›erledigt‹, der Mensch ist nur noch mit der Spielzeugseite des Apparates beschäigt« (Flusser  :  [Herv. i.O]). Wie ein Schauspieler, der Rollen einstudiert, bereitete sich Arnulf Rainer auf die Vorstellung in der Kabine vor. Eine Grimasse ist nicht einfach nachahmbar, wie Affekte des Weinens, Lachens. Die Grimasse entsteht, weil der Körper sich nicht unter Kontrolle hat. Aber das genau interessierte Arnulf Rainer. Er fragte sich: In welcher Form kommen Erregungszustände auf meinem Gesicht zum Ausdruck? Kann ein Abbild meiner Erregungen etwas über mich und mein Unbewusstes aussagen? Meistens allerdings hatte Rainer das Gefühl, den richtigen Moment verpasst zu haben. Dann zerriss er die Automatenfotos unmittelbar nach der Entwicklung: »However, there was the problem of guessing the exact moment of exposure. Either I was late or the machine was; thus it was difficult to capture the most intense moment of facial expression« (Rainer : unpag.). Emphase zu rekonstruieren erwies sich mit dieser Blickmaschine als nur unzureichend. Rainer benutzte in seinem Werk dann doch lieber die Übermalung als Mittel der Zerstörung wie auch der Vollendung eines Ausdrucks. Versuche, der identifikatorischen Physiognomie im Fotoautomaten zu entkommen oder entgegenzuarbeiten, gab es bereits in den späten  er Jahren durch Surrealisten.   hatte André Breton Künstlerfreunde (u.a. Salvador Dalí, Max Ernst, Paul Eluard) dazu aufgefordert, eine Fotokabine in offizieller Kleidung mit weißem Hemd, Krawatte und dunklem Jackett zu betreten, den Kopf geradeaus zu richten – aber: die Augen zu schließen (vgl. Natlacen  : $f.). Die Disziplinierung durch den Fotoautomaten im Sinne seines

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Pass-Programmes wird angedeutet, aber zugleich unterlaufen, indem schlafende beziehungsweise träumende Männer porträtiert werden, mithin ganz und gar ungewöhnliche Mimiken im Repertoire der Porträtfotografie in das Bild eingetragen werden. Die Automaten-Porträts sind um die Abbildung einer nackten Frauengestalt montiert, die eine Ähnlichkeit zu der aus der Malerei bekannten Darstellung der Figur Phryne vor den Richtern16 hat. Es handelt sich um ein Gemälde von René Magritte mit dem tel: Je ne vois pas la (…) cachée dans la forêt [Ich sehe nicht die im Wald versteckte Frau]. Die Besonderheit des Frauenaktes ist das aus Scham abgewendete Gesicht – auch diese Figur, wie die Porträts darum herum, vermeidet den Augenkontakt mit den Betrachtern. Arnulf Rainer grei das Motiv des träumenden, sich dem Blick des Apparates verschließenden Kunden auf und stellt sich bewusst in eine surrealistische Tradition (vgl. Natlacen ‹ŽŽ: $). Auch bei den Photo-Booth-Versuchen, die Andy Warhol einige Jahre vor Rainer in New York unternommen hat, ging es omals um das Verstecken der Augen hinter einer Sonnenbrille oder der Abwendung des Blicks. In den späten  er Jahren entdeckt Warhol den Fotoautomaten für zahlreiche Porträtserien und für Siebdruckvorlagen (vgl. Indiana ). Über die Herstellung der Porträtserie von Ethel Scull, der Gattin des Millionärs Robert Scull, ist eine Anekdote überliefert, die augenfällig macht, dass Warhol das Automaten-Porträt erst als künstlerische Form definieren sollte. Der Aurag lautete, von Ethel Scull ein Porträt herzustellen, doch statt das Vorbild für einen Siebdruck von einem Künstlerfotografen anfertigen zu lassen, setzte Warhol sein Modell unter Protest in verschiedene Fotoautomaten. »Er sagte: ›Ich schubse dich da jetzt rein, und Du schaust auf das kleine rote Licht‹. Ich [Ethel Scull; SR] saß zuerst wie erstarrt da. Doch Andy ließ sich alles mögliche einfallen, damit ich mich entspannte. Wir liefen von einem Automaten zum nächsten« (Bockris, zit. n. Behme : ). Ungefähr  hörte Warhol auf, den Fotoautomaten zu nutzen. Fortan arbeitete er mit der Polaroidkamera – wie beim Fotoautoma16 Vgl. z.B. JEAN LÉON GÉRÔME, Phryne vor den Richtern, 1861; HENRYK SIEMIRADZKI, Phry-

ne at the Festival of Poseidon in Eleusin, 1889. CLÉMENT CHÉROUX kommentiert die Montage von Breton: URL: http://www.dailymotion.com/video/xalclx_je-ne-vois-pas-la-femme-cacheedans_creation (11.07.2012).

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ten ist auch bei der Polaroidkamera der Autor des Bildes die Maschine (vgl. Behme : ). Mit Arnulf Rainers, aber auch mit Andy Warhols Automaten-Porträts wurde außerdem ein Happening-eater evoziert: Durch die Flower-Power- und Hippie-Bewegung in den  er Jahren sowie durch die Studentenbewegung veränderten sich Selbstdarstellungen in der Öffentlichkeit: Protest, Happening, Performance gegen konventionelles Bildermachen. Der Fotoautomat war außerdem ein Medium an der Grenze zwischen privat und öffentlich, denn man zieht sich in einen Bereich zurück, der gleichzeitig Teil eines öffentlichen Raumes ist (auf der Straße, im Bahnhof, auf dem Jahrmarkt). Auf einer anderen Abstraktionsebene könnte man auch davon sprechen, dass Kunden in der Fotokabine ihre eigene Kultur entwickeln, die einen Teil der sie umgebenden Kultur darstellt. Grenzziehung zwischen außen und innen und Abschottung (Exklusion) wird beim Fotoautomaten ermöglicht durch den Vorhang. Andy Warhols Interpretation für den Raum der Bildentfaltung lautete rückblickend: »You went in and took a bath in narcissism, which in the late  s and early  s, when people were so conformist in America, had something sexual about it. Also, there’s this incredibly close resemblance of the photo-booth to the Catholic confessional. You went in and drew the curtain, and suddenly you’re alone with the priest« (Indiana : unpag.). Der Fotoautomat ist also eine Art Beichtstuhl. Die Abbildung des deutschen Fotografen Henning Maier-Jantzen zeigt das Setting: Kabine, halbhoher Vorhang (vgl. Abb. 17). Im öffentlichen Raum einer katholischen Kirche stellt der Beichtstuhl einen intimen Raum dar, in dem durch Abtrennung mittels Vorhang ungesehen Selbstreflexion geübt wird. Warhols Kritik an den konformistischen und prüden  er und frühen  er Jahren macht den Fotoautomaten zum Raum der persönlichen Entfaltung. Heute jedoch werden im Internet längst confessions lustvoll öffentlich ge- Abb. 15: Fotokabine macht, mit Beichten zu Lebenswandel, se- (Foto: MAIER-JANTZEN) 17 Abb. 15 mit freundlicher Genehmigung von HENNING MAIER-JANTZEN. Vgl. URL: www.maier-

jantzen.de.

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xueller Vorliebe, Shopping- und anderen Süchten. Der altmodische Fotoautomat mit Vorhang erscheint in diesem Licht heute als profanes visuelles Ereignis der einstmals kirchlichen Regularien. Die Teilhabe an diesem visuellen Ereignis wird dann von den Usern öffentlich auf Internetplattformen ausgetauscht. Verschiedene europäische und US-amerikanische Künstler haben mit der Maschine Fotoautomat experimentiert: Zum Beispiel Timm Ulrichs, Christian Boltanski, Franco Vaccari, Margaret Fox, Naomi Leibovitz, Claire Connors, Näkki Goranin, Tim Garret, Rolf Behme (vgl. www.photobooth.net). Zumeist geht es darum, das gewöhnliche Medium des Automatenbildes umzuarbeiten in unvertraute, unerwartete, überraschende Images. Der Leipziger Künstler Jan Wenzel hat in den  er Jahren zunächst öffentliche Fotoautomaten in Leipzig für seine Bricolagen benutzt und dann eine ausrangierte Apparatur in Betrieb genommen (vgl. Abb. 18). Jan Wenzel erkundete den Fotofix-Automaten und stellte fest: »Die Maschine hat einen ›Eigensinn‹, sie gehorcht nicht und lässt sich nicht verändern. Das heißt, ich muss mich auf sie einlassen: auf den Aufnahmerhythmus, auf die enge Kabine und den Umstand, dass alles, was ich fotografiere, mehr oder minder denselben Abstand zum Objektiv hat. Ich habe o das Gefühl, dass diese formalen Begrenzungen zu einem ähnlichen ästhetischen Effekt führen können wie die Reim- Abb. 16: Jan Wenzel, Fotofix im form in einem klassischen Gedicht« (Wen- Umbau, 1997 zel

: S.P. [Herv. i.O]). Wenzel nimmt in diesem Kommentar auf, was Flusser für den Fotoapparat allgemein konstatiert, dass er nämlich programmiert ist: »Jede Fotografie ist eine Verwirklichung einer der im Programm des Apparates enthaltenen Möglichkeiten« (Flusser  : %). Um die Erkundung dieser Möglichkeiten und einer durch den Apparat vorgegebenen definiten Ästhetik geht es dem Künstler Wenzel, der buchstäblich in den Apparat hineinkriecht (vgl. Abb. ), »um die darin verborgene Schliche ans Licht zu bringen« (Flusser  : ). »Die Maschine«, sagt Wenzel, »stellt einen Widerstand dar, der letztlich 18 Abb. 16, 17 mit freundlicher Genehmigung von JAN WENZEL.

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die Basis für meine bildnerische Arbeit ist« (vgl. Wenzel

: unpag.). Wenn man seine Beschreibungen des Arbeitsablaufes liest: Gegenstände werden zerlegt, schneller Wechsel von innen und außen, Choreographie des Ablaufs, dann wird eine weitere Parallele zu Flussers Apparate-Charakterisierung deutlich. Über den spielenden Fotografen schreibt er: »Anders als der vom Werkzeug umgebene Handwerker und der an der Maschine stehende Arbeiter ist der Fotograf im Apparat drinnen und mit dem Apparat verflochten. Dies ist eine neuartige Funktion, bei der der Mensch weder die Konstante noch die Variable ist, sondern in der Mensch und Apparat zur Einheit verschwimmen« (Flusser $: f.). Der Fotofix-Automat ist für Jan Wenzel eine Abb. 17: JAN WENZEL, PergaMaschine, der auch etwas beigebracht wer- mon kommt durch die Küche den kann. Die »karnevaleske Umnutzung« zurück, 2005 für Porträts (vgl. Abb. ), die Alltag zwischen Realem und Imaginärem vorstellen, erfordert eine Auseinandersetzung mit der Maschine (vgl. Wenzel

: ). Diese Auseinandersetzung mit dem Apparat findet in den Anwendungen der wieder gangbar gemachten analogen Automaten auf der Berliner Kastanienallee und anderswo nur bedingt statt. Die Kunden lassen sich durch den Apparat allerdings nicht nur beobachten und zum Passbild machen, sie schauen – wie schon in früheAbb. 18: Collage aus Automatenren Zeiten – gleichsam zurück. Ein Spaß- Passfotos, 1960–2000, privat, foto zu machen heißt, eine gewisse Auto- Sammlung REGENER nomie zu feiern und für einen Moment des Grimasse-Schneidens dem Apparateprogramm zu entfliehen. Das heißt, auch der Standardisierung kreativ zu begegnen und im wahrsten Sinne des Wortes Amateur zu sein: mit/aus Liebe Bilder machen.

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Mit dem Fotoautomaten kann man die historische Idee des Durchschnittsgesichtes verfolgen und gleichzeitig auch die Idee: Ich verfolge mich medial, ich dokumentiere mich, ich mache mich zum Bild. Die Collage aus Automaten-Passfotos eines Freundes (vgl. Abb. 19) ist eine Art visuelle Erinnerungsgeschichte, die Jahrzehnte umspannt. Sie ist entstanden aus Dopplungsprodukten bei der Herstellung von Pass- und Bewerbungsfotos. Man kennt die Situation: Im Fotoautomaten werden stets vier Bilder produziert. Im Falle dieser Serie hatte der Urheber aber schon früh an den Effekt einer Passbildgenealogie gedacht.20 Damit wurde diese Collage eines Amateurs zum analogen Vorreiter für Selbstdarstellungen, die im Internet den Stil des Automatenfotos imitieren. Noah Kalina zum Beispiel ist heute ein professioneller Fotograf. Als -jähriger Amateur hat er sechs Jahre lang (



) täglich von sich ein Foto Abb. 19: Screenshot NOAH KALINA, YouTube, mit der Webcam aufgenommen 2006 und dabei immer den gleichen Abstand zur Kamera eingehalten sowie einen immer gleichen neutralen Gesichtsausdruck eingenommen (vgl. Abb. 21). Die Bilder hat Kalina dann zu einem Film montiert. Dieser Film wurde nicht nur über  Millionen Mal auf der Internet-Plattform YouTube aufgerufen, sondern hat auch einen Boom an Nachahmern ausgelöst.22 Kalina und die meisten User machen aber keine Faxen, sie lächeln nicht, sie haben die Augen geöffnet und den Blick geradeaus gerichtet – das ist eine Einstellung, wie sie auch für den biometrischen Pass vorgeschrieben ist.

19 Abb. 18 mit freundlicher Genehmigung von R.G. 20 Erst in den letzten beiden Jahrzehnten sind im Kunstbetrieb Automatenfotos in den Fokus

der Aufmerksamkeit geraten. Die Automatenfotos von ANDY WARHOL wurden erstmals 1989 ausgestellt, die von ARNULF RAINER 2002. 21 Quelle: URL: http://www.youtube.com/watch?v=6B26asyGKDo&feature=related

(11.07.2012). 22 Vgl. NOAH KALINA, Noah takes a photo of himself everyday for 6 years: URL: http://www.

youtube.com/watch?v=6B26asyGKDo&feature=related (11.07.2012). Vorbild war ein Video der Experimentalfilmerin AHREE LEE, das sie für eine Ausstellung in Chelsea mit dem Titel The Evolution of the digital Portrait produziert hatte: Me: Girl takes pic of herself every day for three years: URL: http://www.youtube.com/watch?v=55YYaJIrmzo (11.07.2012).

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Anmerkung der Herausgeber: Der Beitrag ist in englischer Fassung in der Zeitschrift PhotoResearcher der European Society for the History of Photography (ESHPh) (Ausgabe 14/2010) erschienen.

Susanne Holschbach

Ordnungen des Fotoblogs – Kanalisierungsweisen (in) einer undisziplinierten Bildersammlung Sowohl die Praxis des Fotografierens, als auch das Interesse an fotografischen Bildern, haben im digitalen Zeitalter eine ungeheure Ausweitung erfahren. Beobachten lässt sich diese Ausweitung unter anderem an der rasanten Entwicklung von Photo-Sharing-Plattformen, das heißt von Internetportalen, über die man Fotografien hochladen, organisieren, kommentieren oder einfach nur betrachten kann. Beispielha für diese Entwicklung ist Flickr, die wohl nach wie vor populärste dieser Plattformen. Im Jahre

% von der kleinen kanadischen Computerfirma Ludicorp lanciert und

 an Yahoo verkau, hosted Flickr inzwischen rund vier Milliarden Bilder, wobei jede Minute Tausende neuer Fotos hinzukommen. Wie bei Facebook, MySpace, YouTube und anderen handelt es sich bei Flickr um ein Phänomen der elektronischen Massenkultur, die auch unter dem Begriff »Social Media« subsumiert wird. So lassen sich die hochgeladenen Fotos etwa als Einsätze in einem Spiel begreifen, in dem es nicht primär um die Bedeutung und Signifikanz des einzelnen Bildes geht, sondern um das, was sich zwischen den Bildern und vor allem durch sie ereignet (vgl. Peters

). Studien, die bereits zum Photo-Sharing erschienen sind, stellen zumeist diese soziale, kommunikative Funktion in den Vordergrund (vgl. u.a. van House et al.

; Prieur et al.

; Cox

; van House

; Rubinstein/ Sluis

). Aus fotografietheoretischer Perspektive ist jedoch auch von Bedeutung, welche Art(en) von Bildern in Fotoblogs zu finden sind, wie sie präsentiert und nach welchen Kriterien sie geordnet werden. Wendet man sich Flickr als einem Bildreservoir zu, sieht man sich

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allerdings nicht nur durch die schiere Quantität vor Schwierigkeiten gestellt. Im Unterschied zur digitalen Repräsentation eines institutionellen Archivs oder einer privaten Sammlung referiert dieses Reservoir nicht auf eine an einem Ort befindliche Akkumulation einer begrenzten Anzahl von materiellen Objekten. Man hat es vielmehr mit temporären Bildkonstellationen zu tun, die über permanente Prozesse des Klassifizierens, Bewertens, Vernetzens, das heißt über die Aktivität der User und die Eingriffe des Programms erst hergestellt werden und sich dadurch beispielsweise dem wissenschalichen Verfahren der Sichtung eines Konvoluts entziehen. Man kann jedoch die Prozesse selbst in den Blick nehmen: die Kanalisierungsweisen, die den Strom der Bilder in bestimmte Bahnen lenken und den Zugriff der User auf die Bilder steuern. Der folgende Beitrag widmet sich exemplarisch zweier dieser unterschiedlichen Kanäle und gibt dabei einen naturgemäß sehr fragmentarischen Einblick in zwei unterschiedliche Bereiche des Flickr-Universums, die jedoch als besonders signifikant gelten können.

Interestingness und Number-Game: das Flickr-Fame-System Flickr ist ein soziales Netzwerk auf einer kommerziellen Plattform. Diese zwei Seiten präsentieren sich direkt an der Oberfläche, das heißt auf der ersten Ebene des Interface. Verfügt man über einen Account bei Flickr, der bereits die Startseite personalisiert1, zeigt die linke Hälfte der Seite im umbnail-Format eine Auswahl aktueller eigener Uploads (»Ihr Fotostream«), darunter Beiträge von Personen, mit denen man Kontakte unterhält (»Ihre Kontakte«), und schließlich Fotos der Mitglieder von Gruppen, denen man sich zugeordnet hat. Auf der rechten Seite drängt sich ein Werbebanner mit ständig wechselnden Anzeigen vorwiegend aus dem Bereich der Fotoindustrie auf  – das größte Element der Abb.: 1: Startseite auf flickr.com Seite – darunter lanciert der Anbieter über den Flickr-Blog Bildmoti-

1 Die Startseite ohne Account stellt das Portal in seinen wesentlichen Funktionen und Optionen

vor und animiert zum Einrichten eines Accounts.

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ve mit einem besonderen Aktualitätsbezug (vgl. Abb. ) 2. Da der Anbieter nach den Gesetzen der herrschenden Ökonomie daran interessiert ist zu expandieren, sind seine Features, also das, was er auf der Programmebene zur Verfügung stellt, darauf ausgelegt, die Besucher möglichst lange auf der Plattform zu halten und sie in verschiedene Ebenen zu lenken, damit sie möglichst viele Aspekte des Portals wahrnehmen, welche wiederum einen Anreiz zur Partizipation, zur aktiven Beteiligung als Prosumer3geben könnten. Einer dieser Anreize verbirgt sich hinter dem Link »Entdecken« (»Explore«), der sich auf der personalisierten Seite in der oberen Menüleiste, auf der Abb.: 2 : Kalenderansicht des Features »Interestingness« im April 2010 ›neutralen‹ Startseite rechts unten befindet. Ruft man diesen Link auf, öffnet sich eine Seite, auf der Flickr einzelne Bilder aus dem Reservoir der Neuzugänge ausstellt beziehungsweise covered: Unter Prosumern wird diese Seite nicht von ungefähr als »Front Page« gehandelt. Die Auswahl dieser Bilder wird durch einen Algorithmus mit der Bezeichnung »Interestingness« gesteuert4. Über dessen Funktionsweise gibt Flickr die Auskunft, dass »viele Faktoren beeinflussen, ob etwas auf Flickr ›interessant‹ ist (oder nicht). Es kommt darauf an, woher die Klicks stammen, wer das Bild wann kommentiert, wer es als Favorit kennzeichnet, welche Tags verwendet werden und noch viele Faktoren mehr, die sich ständig ändern«5 (vgl. Flickr  [Herv. i.O.]) (vgl. Abb. )6. Bereits diese Beschreibung lässt ahnen, dass es hier um eine besonders effektive Verschaltung von Anbieter- und Prosumerinteressen, 2 Quelle: URL: http://www.flickr.com (11.07.2012). 3 Der Begriff »Prosumer« ist ein Amalgam aus Producer und Consumer, das heißt er trägt dem

Umstand Rechnung, dass aktive Nutzer gleichermaßen Produzenten wie Konsumenten von Bildern sind. 4 Vgl. dazu auch den Beitrag von JAN-HENDRIK PASSOTH in diesem Band [Anm. der Herausgeber]. 5 Vgl. URL: http://www.flickr.com/explore/interesting/ (11.07.2012). 6 Kalenderansicht des Features »Interestingness«. Das einzige Bild mit Aktualitätsbezug ist das

vom 16.04.2010: Es handelt sich um ein Videostill einer Aufnahme eines Vulkanausbruchs auf Island. Quelle: URL: http://www.flickr.com/explore/interesting/2010/04/ (11.07.2012).

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Programmfunktionen und Steuerung durch die User geht. Denn für viele Fotoblogger ist das Auftauchen seines oder ihres Fotos unter diesen Auserwählten das große Ziel in dem Number Abb. 3: Sid Black, Coffeesplash Game, das sie spielen, das heißt im Wettstreit um Aufmerksamkeit, der sich in der Anzahl der Zugriffe (views), der Kommentare und der Favorisierungen7 bemisst: Faktoren, die wiederum von »Interestingness« ausgewertet werden. Die Bedeutung dieses Wettbewerbs für die Fotoblogger manifestiert sich nicht nur in Gruppen wie etwa der WorldF – Abb. 4: Corrie, Passion, e QualityGroup8, in deren Pool Darstellung im Format Flickriver nur Bilder mit über hundert Favorisierungen zugelassen werden: Das Erscheinen ihrer Fotos auf der Explorerseite wird von den Bloggern akribisch dokumentiert (vgl. Abb. $)9 und mit eigens erstellen Programmen 10 statistisch ausgewertet; sie werden in Listen zusammengestellt und auf eigenen Seiten wie Flickriver (vgl. Abb. %)11 in ebenfalls von Prosumern programmierten Darstellungsformen präsentiert.

7 Das Foto eines anderen als »Favorit« zu kennzeichnen, indem man den entsprechenden Button

links über dem Foto anklickt, ist das einfachste und wirksamste Verfahren, die Bilder anderer Blogger zu bewerten (noch vor dem Textkommentar). 8 World100F – The QualityGroup. Vgl. URL: http://www.flickr.com/groups/world100f

(11.07.2012). 9 Dokumentation des Erscheinens eines Fotos auf der Explorerseite via Bildschirmfoto. Sid Black

hat auf seiner Seite ein ganzes Set mit solchen Dokumentationen zusammengestellt. Quelle: URL: http://www.flickr.com/photos/sid_black/4469363651/ (11.07.2012). 10 Die Entwicklung von Applikationen durch die User wird durch Flickr unterstützt, da sie nicht

unwesentlich zur Expansion des Portals beitragen. Viele der Applets beschäftigen sich mit Statistiken unterschiedlicher Art, ein weiterer Schwerpunkt liegt auf alternativen Präsentationsweisen der hochgeladenen Fotos. Unter dem Link »App Garden« stellt Flickr die sogenannten Applets vor. Vgl. URL: http://www.flickr.com/services/ (11.07.2012). 11 Quelle: URL: http://www.flickriver.com/photos/10756887@N07/3527640964/

(11.07.2012).

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Klickt oder scrollt man sich durch diese Sammlungen, trifft man mehrheitlich auf eine geradezu klassische, piktorialistische Fotoclub-Ästhetik: Hochglanzbilder mit großer Farbsättigung, Makroaufnahmen von Blumen und architektonischen Details, erhabene Landschaen, niedliche Kinder und ere und immer wieder Porträts schöner Frauen. Die als »interessant« ausgewählten Bilder bestätigen die traditionellen Werte der Amateurfotografie: Sie sind »non-threatening, non-critical and non-controversial« (Cox

: , Anm. ) und harmonieren so mit dem Image, das die Anbieter der Plattform verbreiten möchten: Die Welt ist »schön, erstaunlich, bewegend, eindrucksvoll« 12 (vgl. Abb. 5: Corrie White in Getty Images Flickr  ). Diese Fotografien von hohem Allgemeinheitsgrad ähneln nicht von ungefähr dem Angebot von Stock-Photography-Agenturen, die Bildvorräte für Werbung und andere illustrative Einsätze vorhalten. Der Bilderhandel hat das kommerzielle Potenzial der in Flickr eingestellten Fotos Abb. 6: Fotostream von CORRIE WHITE (Corrie) schon früh erkannt. So schloss in der Fotoplattform Flickr Getty Images

 einen Kooperationsvertrag mit Flickr und speist seitdem eine Auswahl von Flickr-Fotos in den eigenen Pool ein, um sie zu vermarkten (vgl. Abb. , ) 13. Damit wird ein weiterer Anreiz für den Bilderwettstreit der Fotoblogger gegben. 14 Getty Images bewirbt diese Fotos, indem deren Authentizität, Spontaneität und Ins12 Vgl. die Selbstbeschreibung der Inhalte von Flickr: URL: http://www.flickr.com/explore/inte-

resting/ (11.07.2012). 13 Quellen: Abb. 5: URL: http://www.gettyimages.com/Search/Search. aspx?contractUrl=2&

language =en-US&family=creative&p=splash&assetType=image (11.07.2012), Abb. 6: URL: http://www.flickr.com/photos/10756887@N07/ (11.07.2012). 14 Darauf, dass die Reputation in Flickr auch eine Wahrnehmung außerhalb des Blogs nach sich

ziehen kann, verweisen bereits PRIEUR et al. 2006 (Anm. 2): »For some users, Flickr fame is converted into real-life recognition and benefits, like publications in magazines, exhibitions and professional opportunities.« Inzwischen haben einige User bereits einen Link zu Getty Images eingerichtet und gemahnen ausdrücklich an das Copyright. Vgl. beispielsweise URL: http://www. flickr.com/photos/playces/4507519171/ (11.07.2012).

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tantaneität gegen die Künstlichkeit, Redundanz und Klischeehaigkeit der herkömmlichen Bilderware ins Feld geführt wird. Damit wird das Ziel verfolgt, genau diese Qualitätsmerkmale der Fotografien in eine Ware zu verwandeln.15 Bevor man jedoch diese Gegenüberstellung affirmiert, indem man den Zugriff der Vorratsfotografie auf die vorgeblich ›authentischere‹ Knipser- beziehungsweise Amateurfotografie moralisch bewertet, sollte man sich vergegenwärtigen, dass zum einen die Transformation des Flüchtigen, Zufälligen und Beiläufigen in eine Ästhetik des Flüchtigen, Zufälligen, Beiläufigen und damit ihre Wiederhol- und Vervielfältigbarkeit – mit der Gefahr der Stereotypisierung – dem Fotografischen inhärent ist und zum anderen Amateurfotografie und Fotoindustrie bereits auf eine lange Geschichte der Wechselbeziehung zurückblicken.

Die Wiederkehr analoger Fotografie im digitalen Medium Über den Kanal der »Interestingness« bewegt man sich gewissermaßen auf der Hochglanzebene von Flickr oder anders gesagt der Ebene, die am stärksten von Flickr kontrolliert wird. Dennoch konstituiert sich auch diese Ebene aus dem Input der Prosumer, der neben der Beharrlichkeit fotografischer Stereotypen auch Unerwartetes zutage fördert, etwa kuriose Fundstücke aus dem analogen Zeitalter. Geht man diesen Fundstücken nach, wird man auf ein weit verzweigtes Netz von Gruppen stoßen, deren Mitglieder private Sammlungen historischer Fotografien digitalisieren und der Netzöffentlichkeit zur Sichtung Abb. 7: ATHONY ZINONOS, Car Boot Sale geben – angefangen mit Daguerreotypien bis zu Knipserbildern, an die niemand mehr persönliche Erinnerungen knüpfen kann oder will, Passbildern von Personen, die niemand kennt, Postkarten oder auch Illustrationen nutzlos gewordener Handbücher: eben alles, was man auf Flohmärkten, Haushalts- oder Firmenauflösungen finden oder bei Ebay ersteigern kann (vgl. Abb. ).16 15 Vgl. URL: http://www.gettyimages.com/creative/frontdoor/flickrphotos (11.07.2012). Diese

Entwicklung hat COX bereits in seiner Studie vorausgesehen: »Flickr might reasonably be seen as a source of more real, contextualised images, ›authentic‹ in feel« (COX 2007: 13, Anm. 2 [Herv. i.O.]). 16 Quelle: URL: http://www.flickr.com/photos/anthonyzinonos/4706756984/in/set72157615497466969/ (11.07.2012).

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Als Fotohistorikerin wird man unweigerlich auf diese Gruppen stoßen, denn sie sind die Kanäle, über die das interessegeleitete Navigieren durch das Bildreservoir Flickr verläu. Gruppen finden sich zu allen möglichen technischen Aspekten der Fotografie zusammen, zu allen er- Abb. 8: GONDY & EGEY DEBRECEN, Ggaabboo, denklichen fotografischen Gen- Visitkartenporträt res, Motiven, emen et cetera. Man kann eigene Bilder zu Gruppen posten, wobei die Administratoren, die Gründer und Moderatoren der Gruppen nach den von ihnen aufgestellten Regeln die Bilder in ihren Pool aufnehmen oder nicht. Umgekehrt können Administratoren Bilder von anderen für ihre Pools Abb. 9: AtypicalArts, Alben zusammengestellt aus der Privatsammlung durch Anklicken eines Button ›anwerben‹. Aktive User kommen auf diese Weise schnell auf fünfzig und mehr unterschiedliche Gruppen. Auch für passive Nutzer stellen Gruppen ein fundamentales Verweissystem dar, das sich als ein weitaus effektiveres Werkzeug des Image retrieval als beispielsweise die Suche über Schlagworte (tags) erweist: So kann man von der Gruppe Antique Photographs zu einer Seite mit Visitkartenporträts (vgl. Abb. 10: AtypicalArts, automatisch zusammenAbb. )17 kommen, von dort gestelltes Set von Fotos zum Pool Found Photographs, über die man unter Umständen auf einen Beiträger (participant) aufmerksam wird, der unter dem Akronym AtypicalArt18 Auszüge seiner Privatsammlung in thematisch sortierten 17 Quelle: URL: http://www.flickr.com/photos/23912178@N08/4476587025/in/pool-

14924235@N00 (11.07.2012). 18 Der in Wisconsin lebende Sammler gibt unter seinem Profil ausführlich Auskunft über seine

»Found/Vernacular Photography Collection«. Vgl. URL: http://www.flickr.com/people/atypicalart/ (11.07.2012).

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Alben präsentiert (vgl. Abb. ,  )19. Das, was Ende der  er, Anfang der  er Jahre Künstler wie Hans Peter Feldmann als eine damals im Kunstkontext noch singuläre Praxis begonnen haben – das Recycling von ausgemusterten Alltagsfotografien (vernacular photography) durch Neuanordnung und Neubeschriung – und in jüngerer Zeit mit Arbeiten wie denen von Peter Piller 20 oder Tacita Dean (vgl. Dean

) im Kunstkontext vertreten ist, zeigt sich auf Flickr als eine populäre Liebhaberpraxis. Dabei stehen die User AtypicalArt und Ggaabboo für eine Gruppe von Sammlern, die ihr Hobby mit archivalischer Ernsthaigkeit betreiben, was sich etwa darin zeigt, dass sie ihre Exponate akribisch annotieren und gegebenenfalls auch Rückseiten der Fotos reproduzieren. Ein archivalisches Interesse verbindet auch Gruppen, die Fotografien in der Funktion historischer Dokumente versammeln, um beispielsweise, wie der th Century Black History Pool21, visuelle Zeugnisse einer in der offiziellen Geschichtsschreibung marginalisierten Bevölkerungsgruppe zusammenzutragen und auf diese Weise ein Archiv neu zu konstituieren. Auch institutionelle Archive haben das Potenzial dieses Interesses an historischer Fotografie erkannt. Seit Flickr im Januar

 mit der Library of Congress ein Pilotprojekt gestartet hat, stellen immer mehr InstiAbb. 11: Ansichtsseite der Commons tutionen Teile ihrer Bestände in Flickr ein – nicht nur zur Betrachtung, sondern auch zur Kommentierung zur Verfügung 22 (vgl. Abb. )23. Die Archive rumoren, um einen Buchtitel des Medientheoretikers Wolfgang Ernst (vgl. Ernst

) aufzugreifen: Sammlungen aller Art verlassen ihren Ort, werden zugänglich und für weiteren Gebrauch geöffnet.

19 Quelle Abb. 9: URL: http://www.flickr.com/photos/atypicalart/sets/ (11.07.2012) und Abb. 10:

URL: http://www.flickr.com/photos/atypicalart/sets/72157612498222809/ (11.07.2012). 20 Vgl. Archiv PETER PILLER. URL: http://www.peterpiller.de/index1.htm (11.07.2012). 21 Vgl. URL: http://www.flickr.com/groups/20th_century_black_history/ (11.07.2012). 22 Vgl. URL: http://www.flickr.com/commons/ (11.07.2012). 23 Vgl. Fußnote 22.

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Ausblick Egal, ob Fotografien bereits digital aufgenommen oder erst reproduziert wurden: Die Überführung in einen Fotoblog, wie am Beispiel der Fotoplattform Flickr ausgeführt, stellt in jedem Fall eine Dekontextualisierung der Ausgangsbilder dar. Herausgelöst aus ihren je spezifischen Entstehungs- und Gebrauchszusammenhängen beziehungsweise Funktionen – etwa die Herstellung des familialen Gedächtnisses oder eines persönliches Lifestyles, eines künstlerischen Werks oder einer Privatsammlung – stehen sie für Neuordnungen zur Verfügung. Durch die Verschaltung von automatischen und von den Prosumern vorgenommenen Sortierungen werden sie in immer neue Ordnungen gebracht, die o ›quer‹ zu den etablierten Genres der Fotografie liegen. Welche weiteren Bedeutungen damit generiert werden und mehr noch, welche Erkenntnisse sich etwa aus einer vergleichenden Ikonografie der unsdiziplinierten, weder künstlerisch noch institutionell gerahmten Bildkombinationen über unsere visuelle Kultur gewinnen ließen, ist eine Frage, die an dieser Stelle nicht ausführlich beantwortet werden kann, da es dazu weiterer Forschungen bedüre. Auch andere Fragen drängen sich angesichts der heterogenen Bilderströme in Flickr auf. So ru vieles, was man in und an Flickr beobachten kann, altbekannte kulturkritische Vorbehalte gegenüber dem Massenmedium Fotografie auf den Plan, so etwa denjenigen, der sich in der Metapher der Bilderflut verfestigt hat, wie sie beispielsweise Siegfried Kracauer angesichts der illustrierten Presse in den  er Jahren formulierte: als die Flut der Fotos, die die Dämme des Gedächtnisses hinwegfegt, als Ansturm der Bildkollektionen, der so gewaltig sei, dass er das vielleicht vorhandene Bewusstsein entscheidender Züge zu vernichten droht (vgl. Kracauer  : ). Sieht nicht das Publikum, mit Kracauer gesprochen, auf Flickr die Welt, an deren Wahrnehmung es Flickr hindert? Oder das Gespenst der Klischeeproduktion, der Prozess des fotografischen Recycling, der, wie Susan Sontag einige Jahrzehnte später schreibt, aus einmaligen Objekten Klischees und aus Klischees spezifische, lebendige Kunstprodukte mache. Schieben sich zwischen die Bilder von realen Dingen seit der digitalen Fotografie nicht immer dichtere Schichten aus Bil-

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dern von Bildern (vgl. Sontag  : )?24 Oder die Figur des Knipsers, der als verlängerter Selbstauslöser seines Apparats von dessen Gier verschlungen wird, wie Vilém Flusser es darstellt (vgl. Flusser  : $): Verlangt nicht – Flusser aktualisierend – Flickr ausdrücklich von den Prosumern, immerfort zu knipsen, immer weitere redundante Bilder herzustellen? Führt dies nicht dazu, dass die Welt nur noch durch Fotokategorien wie beispielsweise die »Interestingness« wahrgenommen wird? Oder die sich bereits auf das Web . und insbesondere die Blogosphäre beziehende Befürchtung einer De-Professionalisierung, der Ent-Qualifizierung (descilling) durch die Heerscharen von Amateuren, die in die Arbeitsfelder von Berufsfotografen eindringen, ein Problem, das sich unter anderem im Anwerben von FlickrBildern durch Agenturen wie Getty Images zeigt? 25 Dies alles sind erstzunehmende Argumente, die jedoch nicht Ausgangspunkt einer pauschalen Ablehnung, sondern einer vertieen Auseinandersetzung sein sollten. So bleibt zu hoffen, dass dieser Beitrag veranschaulichen konnte, dass sich ein genauerer Blick auf das PhotoSharing als einer kulturellen Praktik im digitalen Medium lohnt. 26 So könnte man es beispielsweise als einen Lösungsvorschlag sehen, eben diese Bilderanstürme, deren Abebben nicht in Sicht ist, in durchaus bedeutungsstiende Bahnen zu lenken und entlang vielfältigster Interessen zu bündeln: dabei die bestehenden Kanäle fotografischer Genres und Gebrauchsweisen nicht nur vertiefend oder verbreiternd, sondern – durch automatische Verweisstrukturen und undiszipliniertes Userverhalten – auch wieder verzweigend und unterhöhlend. Nicht zuletzt sind Flickr und andere Plattformen nicht identisch mit zeitgenössischer fotografischer Praxis, sondern sie verweisen nur auf diese und sei es, indem sie in eindrücklicher Weise belegen, dass die Foto24 Kurz vor der zitierten Textpassage spricht SONTAG in bezeichnender Weise von der »Qualität«

der »Interessantheit«: »In Gestalt von fotografischen Bildern werden Dinge und Bedeutungen zugeschrieben, die die Unterschiede zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, dem Wahren und dem Falschen, dem Nützlichen und dem Nutzlosen, dem guten und dem schlechten Geschmack belanglos machen. Die Fotografie ist eines der Hauptmittel zur Erzeugung jener Qualität in Dingen und Situationen, die solche Unterschiede auslöscht: der ›Interessantheit‹« (SONTAG 1980: 167). 25 Eine Extremposition nimmt in dieser Hinsicht ANDREW KEEN ein, der polemisch von einer Zerstörung unserer Ökonomie und Kultur durch usergenerierte Medien spricht (vgl. KEEN 2007). Eine differenzierte Auseinandersetzung mit Befürchtungen und Hoffnungen, die sich mit Flickr verbinden, nimmt dagegen ANDREW COX vor (vgl. COX 2007, Anm. 2). 26 Vgl. dazu den von ULRICH HÄGELE und IRENE ZIEHE herausgegebenen Sammelband zur Digi-

talfotografie (HÄGELE/ZIEHE 2009), darin unter anderem den Beitrag von SUSANNE HOLSCHBACH: »Fotokritik in Permanenz – Flickr als praktische Bildwissenschaft« (HOLSCHBACH 2009) sowie HOLSCHBACH 2012 und GERLING 2012.

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grafie im Zeitalter ihrer Digitalisierung populärer und damit auch lebendiger zu sein scheint als je zuvor.

Literatur COX, ANDREW M. (2007): »Flickr: What is new in Web2.0?«, Arbeitspapier zur Tagung Towards a social science of Web2.0 , University of York 2007. URL: http://www.shef.ac.uk/content/1/ c6/04/77/66/flickr%20paper.pdf (13.07.2012). DEAN, TACITA (2002): Floh, Steidl: Göttingen. ERNST, WOLFGANG (2002): Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin: Merve. Flickr (2012). URL: http://www.flickr.com/explore/interesting/ (11.07.2012). FLUSSER, VILÉM (1992): Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen: European Photography. GERLING, WINFRIED (2012): »upload/share/keep in touch – Fotografien in Gemeinschaften«, in: OTTMAR ETTE (Hg.), Wissensformen und Wissensnormen des Zusammenlebens. Literatur – Kultur – Geschichte – Gesellschaft, Berlin: de Gruyter. HÄGELE, ULRICH/ZIEHE, IRENE (Hg.) (2009): Digitale Fotografie. Kulturelle Praktiken eines neuen Mediums. Studien und Materialien zur visuellen Kultur, Band 4, Münster: Waxmann. HOLSCHBACH, SUSANNE (2009): »Fotokritik in Permanenz – Flickr als praktische Bildwissenschaft«, in: ULRICH HÄGELE/IRENE ZIEHE (Hg.), Digitale Fotografie. Kulturelle Praktiken eines neuen Mediums. Studien und Materialien zur visuellen Kultur, Band 4, Münster: Waxmann, S. 77–84. HOLSCHBACH, SUSANNE (2012): »Bilder teilen: Photosharing als Herausforderung für die Fotografieforschung«, in: Fotogeschichte, Heft 124, S. 78–83. KEEN, ANDREW (2007): The Cult of the Amateur, London: Crown Business. KRACAUER, SIEGFRIED (1992): »Die Photographie«, in: ders., Der verbotene Blick. Beobachtungen, Analysen, Kritiken, hrsg. von JOHANNA ROSENBERG, Leipzig: Reclam, S. 185–203. PETERS, KATHRIN (2005): »Instant Images«, in: SUSANNE HOLSCHBACH (Hg.), Media Art Net. Photo/Byte. URL: http://www.medienkunstnetz.de/themes/photo_byte/ (13.07.2012). PRIEUR, CHRISTOPHE/CARDON, DOMINQUE et al. (2006/2010): »The Strength of Weak cooperation: A Case Study on Flickr«. URL: http://arxiv.org/pdf/0802.2317 (13.07.2012). RUBINSTEIN, DANIEL/SLUIS, KATRINA (2008): »A Life More Photographic. Mapping the Net worked Image«, in: Photographies, Band 1, Ausgabe 1, 9–28. SONTAG, SUSAN (1980): »Die Bilderwelt«, in: dies., Über Fotografie, Frankfurt am Main, Fischer, S. 146–176. VAN HOUSE, NANCY (2007): »Flickr and Public Image-Sharing: distant Closeness and Photo Exhibition«, in: Extended Abstracts of the Conference on Human Actors in Computing Systems (CHI 2007), ACM Press. URL: http://people.ischool.berkeley.edu/~vanhouse/VanHouseFlickrDistantCHI07.pdf (13.07.2012). VAN HOUSE, NANCY et al. (2005): »The Uses of Personal Networked Digital Imaging: An Empirical Study of Cameraphone Photos and Sharing«, in: Extended Abstracts of the Conference on Human Actors in Computing Systems (CHI 2005), ACM Press. URL: http://people.ischool. berkeley.edu/~vanhouse/van_house_chi_short.pdf (13.07.2012).

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Undisziplinierte Bilder III: Fotografien als dialogische Strukturen

Bertien van Manen

»Always Luck, Always Accident« Anmerkung: Das folgende Transkript basiert auf einem Audio-Mitschnitt der Diskussion zwischen BERTIEN VAN MANEN und Teilnehmern des 30. Bielefelder Fotosymposiums im Anschluss an ihre Werkschau. Das größtenteils in Englisch geführte Gespräch wird hier mit deutscher Übersetzung abgedruckt.1 Frage:

»Using this small camera, is this a practical decision or an aesthetical decision in your photography because we see it in all the books and projects?« [Wir können in all Ihren Büchern und Projekten sehen, dass Sie eine kleine Kamera verwenden; ist das eine eher praktische oder eine ästhetische Entscheidung?] BERTIEN VAN MANEN:

»It’s both as I told you. I started using it in Russia because it was dangerous to travel with large cameras because of stealing and so, but also it’s a way to be closer to the people. If you have a small camera, you’re not threatening as a photographer. When you come with all these big cameras, then people just don’t trust you so much. And also I think the effect of this camera is something I really like because it’s very simple. I use a fill-in flash and the effect of that for me is exactly what I want, simple without any pretence of being art or whatever.

1 Die Fragen und Ausführungen in englischer Sprache werden weitestgehend wörtlich übersetzt

und schließen unmittelbar an die jeweiligen Aussagen an. Sie sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Transkript und Übersetzung: JENNIFER LAMBERTZ-ABEL.

BERTIEN VAN MANEN

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And of course it’s light, you don’t have to carry all this heavy stuff with you. I have three small cameras in my bag and that’s it. But I still work – again work – with film now. I don’t work digital anymore.« [Es ist beides. Ich habe in Russland damit angefangen, kleine Kameras zu verwenden, weil es aufgrund von Diebstählen gefährlich war, mit großen Kameras zu reisen. Aber es ist auch eine Art und Weise, den Menschen näher zu sein. Wenn man eine kleine Kamera benutzt, ist man als Fotograf keine Bedrohung. Wenn man mit all diesen großen Fotoapparaten an Menschen herantritt, trauen sie einem weniger. Und ich denke auch, dass ich die Wirkung dieser Kamera sehr mag, weil sie so einfach ist. Ich benutze einen integrierten Blitz und dieser hat genau die Wirkung, die ich beabsichtige: einfach zu fotografieren und ohne die Absicht, künstlerisch sein zu wollen. Natürlich ist diese Art von Kamera auch sehr leicht, man muss nicht all diese schweren Sachen mit sich herumtragen. Ich habe drei kleine Kameras in meiner Tasche und das ist alles. Und ich arbeite auch noch immer – oder vielmehr wieder – mit Film. Ich arbeite nicht mehr digital.] Frage:

»Was war Ihnen bei Ihrer fotografischen Arbeit in Russland wichtig? War es die neue Gesellschaft, die da erschaffen wurde?« BERTIEN VAN MANEN:

»Nein, ich war zu Beginn der  er Jahre dort und es gab überhaupt noch keine Umwälzung, da war noch alles, wie es immer war. A lot of people asked me why I took pictures of poor people in Russia and I told them that this was exactly what I found. I was not looking for it, exactly not, but it was just like it was. No, the changes came aer. If you go to Moscow now, it’s a completely different city, but when I was there it had still this very stalinist sort of atmosphere. People were still afraid of talking to you and so. But now it’s like Paris or Rome or London.« [Viele Leute haben mich gefragt, warum ich Bilder von armen Leuten in Russland gemacht habe. Ich sagte ihnen, dass es genau das war, was ich dort vorgefunden hatte. Ich habe nicht danach gesucht, eben gerade nicht, aber genau so war es dort. Die Veränderungen kamen erst danach. Wenn man heute nach Moskau kommt, ist es eine völlig andere Stadt. Als ich damals dort war, hatte es noch diese stalinistische Atmosphäre. Die Leute hatten immer noch Angst, mit jemandem zu sprechen. Aber heute ist es dort genauso wie in Paris, Rom oder London.]

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Frage:

»Diese Bilder, die so scheinbar zufällig aussehen, sind sie dann doch komponiert? Und sind es Einzelbilder oder Reihen, die da entstehen?« BERTIEN VAN MANEN:

»I work very quickly. I don’t take ten pictures, one aer another. I take perhaps two or three and that’s it. But also very oen I do it without even looking. It’s luck, you must have luck, but you must also have the experience, of course, it’s a combination.« [Ich arbeite sehr schnell. Ich mache nicht zehn Bilder, eins nach dem anderen. Ich mache vielleicht zwei oder drei und das war es. Aber ich mache auch o Bilder, ohne wirklich dabei zu schauen. Es ist Glück, man muss Glück haben, aber man muss auch Erfahrung haben. Es ist eine Mischung.] Frage:

»Was interessiert Sie an den Porträts, die Sie in ihrer Arbeit Give me your image abfotografieren? Wie kommen Sie zu den Motiven und wie entsteht Ihre Auswahl?« BERTIEN VAN MANEN:

»I just went to people by connection. In every town I knew at least one person and he introduced me to his neighbours, family or friends and I went to their houses. I never knew what I was finding, of course. Sometimes it was interesting, sometimes it was not. And when I came into a house, I immediately knew perhaps it’s nothing. en you have to be polite and go through all the things, knowing that you won’t find anything. Again it’s always luck, always accident and that’s the adventure of it. You don’t know beforehand what you’re going to see and get. But that of course is not always rewarding.« [Ich kam an die Leute durch Beziehungen. In jeder Stadt kannte ich zumindest eine Person, und er oder sie stellte mich wiederum der Familie, Nachbarn oder Freunden vor und ich ging in deren Häuser. Ich wusste vorher nie, was ich finden würde. Manchmal war es interessant, manchmal nicht. O wusste ich sofort, wenn ich in ein Haus kam, dass es wahrscheinlich nichts war. Aber dann muss man höflich sein und alles anschauen. Nochmal: Es ist also auch Glück, immer auch Zufall und das ist das Aufregende daran. Dass man vorher nicht weiß, was man sehen und bekommen wird. Dadurch lohnt es sich aber auch nicht immer.] Frage:

»Wie lange arbeiten Sie an Ihren Projekten?«

BERTIEN VAN MANEN

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BERTIEN VAN MANEN:

»Das letzte Projekt dauerte drei Jahre, das Projekt in Russland dreieinhalb Jahre. For my projects I travelled to Russia seventeen times and to China fourteen times.« [Ich bin im Rahmen meiner Projekte siebzehn Mal nach Russland und vierzehn Mal nach China gereist.] Frage:

»Did you also learn Chinese?« [Haben Sie auch Chinesisch gelernt?] BERTIEN VAN MANEN:

»I started but then I found out that if you don’t speak it fluently, people don’t trust you. So I gave it up.« [Ich habe damit begonnen, aber dann habe ich gemerkt, dass die Menschen dir nicht trauen, wenn du die Sprache nicht fließend sprichst. Deshalb habe ich es aufgegeben.] Frage:

»Another question also to the last project. Did you arrange the images somehow or did you find them like that?« [Eine Frage zu Ihrem letzten Projekt. Haben Sie die Motive bewusst arrangiert oder haben Sie sie so vorgefunden?] BERTIEN VAN MANEN:

»Both. Sometimes I found them like they were. And sometimes I went through the house and looked for the right place. at was part of the fun. I just used my intuition to see where this picture is going and where it is good. at was how I caught these nice effects that people were so happy with or emotional.« [Beides. Manchmal habe ich sie so vorgefunden und manchmal ging ich durch ein Haus und suchte nach einem geeigneten Platz. Das war Teil des Spaßes. Ich kann mich auf meine Intuition verlassen, um zu schauen, wie ein Bild sich entwickelt und in welchem Arrangement es gut sein könnte. So erhielt ich manchmal diese schönen Effekte, mit denen die Leute so glücklich waren oder die sie berührt haben.] Frage:

»In Ihrer letzten Arbeit über den Gebrauch des privaten Bildes haben Sie Porträts in einen neuen Kontext gestellt. Waren diese Fotografien ein Nebenprodukt der Projekte, an denen Sie sowieso gearbeitet haben? Und in diesem Zusammenhang würde mich interessieren, wie Sie vorgehen, ob Sie freie künstlerische Projekte entwickeln oder ob Sie im Auftrag arbeiten. Wie kommen Ihre Bilder überhaupt zustande?«

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»Ich habe natürlich auch Auräge, aber viele meiner Projekte waren selbst initiierte Projekte, finanziert durch Stipendien. Ich arbeite immer sehr ausführlich. Ich informiere mich auch sehr. When I was travelling in Russia, I’ve read Russian literature and I started the language. So I do it very profoundly. It’s not something within three weeks or so. When in  there was the Russian Revolution and all of a sudden everybody went to Russia to take pictures I was a little bit worried because I thought there goes my project. What I did was taking pictures of the normal life, the daily life of the people. I wanted to be closer to people and show their world, these are the Russians. We didn’t know anything about Russians and then all of a sudden all these journalists went to make films and photographs and everything. But then a friend of mine told me not to worry because nobody did what I did and because nobody took so much time to be there. But still I was a bit frustrated about it, as you can imagine, because I had something very special and then it wasn’t that special anymore. [Als ich durch Russland reiste, habe ich russische Literatur gelesen und begonnen die Sprache zu lernen. Ich bereite mich also sehr gründlich auf meine Projekte vor. Als  die Russische Revolution war und plötzlich jeder nach Russland ging, um dort Bilder zu machen, war ich etwas besorgt. Ich dachte, da geht mein Projekt dahin. Was ich wollte, war, Bilder des normalen Lebens zu machen, des alltäglichen Lebens der Leute. Ich wollte den Leuten näher sein und deren Welt zeigen, zeigen: So sind die Russen. Man wusste nichts über die Russen und dann kamen plötzlich all diese Journalisten, um Filme zu machen und Bilder. Aber dann sagte ein Freund zu mir, dass ich mir keine Sorgen machen müsse, denn niemand würde machen, was ich mache und niemand würde sich so viel Zeit nehmen, um dort zu sein. Trotzdem war ich ein bisschen frustriert darüber, wie man sich vorstellen kann, denn ich hatte etwas sehr Spezielles, und mit einem Mal war es nicht mehr besonders.] Frage:

»Ich komme selber aus der ehemaligen Sowjetunion und ich weiß, wie schwer es ist, zu den Menschen Kontakte zu knüpfen. Wie haben Sie damit angefangen?« BERTIEN VAN MANEN:

»Auch wieder durch Kontakte. Ich hatte zwei Kontakte in Russland [...]2 And then of course they invited me to relatives and neighbours 2 BERTIEN VAN MANEN beschreibt ihre Kontaktaufnahme zu zwei russischen Fotografen.

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and a lot of photographers also came by. And I was very much ashamed because they brought their pictures to show them to me and I was supposed to have a judgement because I came from the West. ey were of course very sad about seeing all these glossy magazines I brought for them, because they didn’t have the opportunity to do that. And they had to sell bottles of Vodka to be able to buy films. And so you know all about it.« [Und dann wurde ich eingeladen zu Verwandten und Nachbarn und auch viele Fotografen kamen vorbei. Und ich war sehr beschämt, weil sie ihre Bilder mitbrachten, um sie mir zu zeigen. Ich sollte ihre Bilder beurteilen, weil ich aus dem Westen war. Und sie waren natürlich sehr traurig, als sie all diese Hochglanzbilder sahen, die ich für sie mitgebracht hatte, denn sie hatten nicht die Möglichkeiten, sie zu kaufen. Sie mussten Wodka verkaufen, um Filme kaufen zu können. Das war die Situation. Jetzt wissen Sie, wie ich arbeite.] Moderator:

»Vielen Dank an das Publikum für Ihre Fragen und an Bertien van Manen für diese interessanten Einblicke in ihre Arbeit.«

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Auszüge aus: BERTIEN VAN MANEN (1994): A Hundred Summers, A Hundred Winters, Amsterdam: de Verbeelding.

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Bildserie 02 Auszüge aus: BERTIEN VAN MANEN (2001): East Wind West Wind, Amsterdam: de Verbeelding.

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Bildserie 03 Auszug aus: BERTIEN VAN MANEN (2005): Give me your image, Göttingen: Steidl Verlag.

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Michael Schmidt

Objektivität führt zu Entfremdung Anmerkung: Das folgende Transkript basiert auf einem Audio-Mitschnitt der Diskussion zwischen MICHAEL SCHMIDT und Teilnehmern des 30. Bielefelder Fotosymposiums im Anschluss an seine Werkschau.1 Moderator:

»Sehr geehrte Damen und Herren, wir freuen uns, Michael Schmidt als Referenten des diesjährigen Fotosymposiums hier in Bielefeld begrüßen zu dürfen, und möchten Ihnen Michael Schmidt als einen Vertreter der künstlerisch-fotografischen Praxis kurz vorstellen: Michael Schmidt wurde % in Berlin geboren und hat in der Fotografie, auch international gesehen, eine bedeutende Spur gelegt. Seine Arbeiten, welche die Vorstellung des Dokumentarischen immer weiter geöffnet haben, sind stilprägend für eine ganze Fotografengeneration geworden. Michael Schmidt ist fotografischer Autodidakt. Er hat keine Fotoschule besucht, sich aber schon sehr früh fotografisch in der Lehre engagiert.  gründete er die Werkstatt für Fotografie an der Volkshochschule Kreuzberg in Berlin. In dieser Zeit brachte er die amerikanischen Fotografen der Strömung der New American Topographics nach Deutschland und machte sie zum ersten Mal einem breiteren Publikum bekannt. Michael Schmidt hat international vielfältig ausgestellt. Er hatte als erster lebender deutscher Fotograf eine Einzelausstellung im Museum of Modern Art in New York. Bekannt geworden ist er durch seine vielfältigen Buch projekte. 1 Die Fragen und Antworten werden weitestgehend wörtlich wiedergegeben. Transkript: T. ABEL.

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Das Buch ist das Medium, mit dem Michael Schmidt von Anfang an gearbeitet hat. Einige Beispiele sollen im Folgenden genannt werden: Als Erstes Berlin Kreuzberg von %, Waffenruhe von –, das eine erhebliche Zäsur in der Betrachtung des Dokumentarischen darstellte und Ausgangspunkt einer ganz neuen Fotografie in Deutschland war, EIN-HEIT von –%, das Projekt Frauen aus dem Jahr

und eine aktuelle Publikation aus dem Jahr

 mit dem tel Irgendwo. Wir freuen uns, dass Michael Schmidt heute hier ist, und sind gespannt auf das, was er uns zeigen und erzählen wird.« MICHAEL SCHMIDT:

»Vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich, hier in Bielefeld zu sein, einem Ort, der in der deutschen Fotografielandscha große Beachtung findet. Ich möchte Ihnen heute meine Arbeit EIN-HEIT präsentieren, einige grundsätzliche Betrachtungen zur Fotografie anstellen, Ihnen meine persönliche Einstellung zur Fotografie näherbringen sowie zu einer Diskussion über Fotografie als Medium, fotografische Praxis und fotografische Bilder einladen.« Frage:

»In welchen Zeiträumen arbeiten Sie an Ihren Projekten?« MICHAEL SCHMIDT:

»Ich arbeite an meinen Projekten in der Regel vier bis fünf Jahre, bis sie einschließlich der Präsentation fertig sind. Das Projekt EIN-HEIT begann  und wurde  ausgestellt. Dazu gehört auch die Konzeption des Buches. Ich arbeite seit zweieinhalb Jahren an einem neuen Projekt mit dem Arbeitstitel Landwirtscha. Die Ausstellung wird im Januar  sein.« Frage:

»Wie definieren Sie für sich Fotografie und welchen Einfluss hat diese Sichtweise auf die Präsentation Ihrer Arbeiten?« MICHAEL SCHMIDT:

»Ich betrachte Fotografie als eigenständiges Medium, das immer einer Vorlage bedarf. Die Eigenständigkeit des Mediums betrachte ich zweigeteilt, erstens in der Konzeption von Büchern und zweitens in der Konzeption von Ausstellungen, die sich voneinander unterscheiden müssen. Es nützt nichts, ein Buch zu konzipieren und diese Bilder einfach nur in eine Ausstellung zu überführen. Ich betrachte die Möglichkeit einer Ausstellung als eine völlig andere Form der Präsen-

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tation, die schon in der Entstehung des Bildes Beachtung finden muss, als die Konzeption des Buches. Die Präsentation des Raumes in der Korrespondenz von Bild und Raum ist sehr wichtig und eine Möglichkeit, mit dem Medium Fotografie als eigenständiges und autonomes Medium zu arbeiten.« Frage:

»In Ihren Projekten benutzen Sie Bilder aus verschiedenen Kontexten und unterschiedlichster Herkunft, zum Beispiel fotografische Refotografien aus Druckwerken oder abfotografierte Fernsehbilder.« MICHAEL SCHMIDT:

»Es gibt im Projekt Waffenruhe und in frühen Arbeiten aus den Jahren – Fotografien von Fernsehbildern, zum Beispiel eine Refotografie des ersten Mauertoten Peter Fechtner. Dabei beziehe ich mich auf Geschichte, die nur noch über Bilder, Geschriebenes oder Film vorhanden und zugänglich ist. Insofern habe ich mich bewusst dazu entschieden beziehungsweise blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf diese geschichtlichen Bilder zu beziehen, um sie neu zu definieren und der Vergessenheit zu entreißen. Dabei schneide ich sie nicht nur aus, sondern definiere sie durch den fotografischen Zugriff neu und integriere sie in meine Projekte. Im Übrigen betrachte ich jede vorhandene veröffentlichte Fotografie als ein Teil von Wirklichkeit. Geschichte muss immer wieder neu definiert werden, sonst stirbt sie ab. Geschichte ist für mich nie etwas Abgeschlossenes, sondern ein fortlaufender Prozess, von dem wir lernen können und müssen. Wir müssen uns mit der Geschichte, auch unserer persönlichen, immer wieder auseinandersetzen. Insofern ist es sehr wichtig für mich, diese Art von Bilder in meine Arbeiten zu integrieren.« Frage:

»Welche Bildbestände und Bildquellen nutzen Sie in Ihren Arbeiten: Bilder aus Archiven oder Bilder aus privaten Sammlungen?« MICHAEL SCHMIDT:

»Sie können mit Bildern arbeiten, die historisch gesehen Geschichte gemacht haben. Ein Vertreter dieser Arbeitsweise ist Thomas Demand. Er nutzt bekannte Bilder aus massenmedialen Kontexten und definiert sie neu. Das interessiert mich aber weniger. Mich interessierte Bilder zu nehmen, die alltäglich sind, nicht so sehr Bilder, die sich in unser Gedächtnis eingebrannt haben und im Negativen wie im Positiven zu Ikonen geworden sind, sondern alltägliches Propaganda-

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material. In Archiven und Antiquariaten findet man diese Bilder genauso wie in alltäglichen Zusammenhängen und in der intensiven Auseinandersetzung mit meiner Fragestellung.« Frage:

»Sie nutzen Alltagsbilder einer Zeit, einer historischen und zeitbezogenen Situation, und bringen sie durch die Überführung in das Buch in eine neue ausgeprägte Form und Position zwischen formalem Minimalismus und der Definition einer eigenen fotografischen (Bild-)Sprache und eines Stils. Inwiefern nehmen Sie dabei durch die Gestaltung auf die Rezeption des Betrachters Einfluss?« MICHAEL SCHMIDT:

»In der Dramaturgie eines Buches und in der Setzung des Ablaufs sowie in der Positionierung der Bilder zu- und hintereinander kann der Versuch gestartet werden, den Stil zu betonen und eine fotografische Sprache zu definieren. Ich präsentiere eine Haltung und versuche diese in eine Form zu bringen. Dabei strebe ich danach, mich bei jeder Arbeit möglichst neu zu definieren. Stil meint insofern weniger eine immer gleiche Haltung und formale Positionierung als vielmehr den Versuch der stetigen Auseinandersetzung, Zäsur, Erneuerung und Neudefinition.« Frage:

»Wenn Geschichte immer wieder neu beurteilt wird und werden muss, entstehen dann auch immer wieder neue Sichtweisen auf das eigene Schaffen und fotografische Projekte?« MICHAEL SCHMIDT:

»Eine Arbeit kann immer nur aus ihrer Zeit heraus entstehen. Insofern ist ein retrospektiver Zugang keine wirklich gewinnbringende Perspektive auf meine Arbeiten. Es geht bei der Arbeit ja nicht nur um Geschichte, bei EIN-HEIT etwa nur um eine deutsch-deutsche ematik. Vielmehr wird eine übergeordnete Fragestellung festgemacht. In EINHEIT geht es um eine Gegenüberstellung und Verständigung zweier Sichtweisen und die Entstehung einer verbindenden dritten Position, nämlich die der Kunst. Diese Grundproblematik, dieser Mechanismus, ist und bleibt zeitlos und aktuell.« Frage:

»Sie beschäftigen sich in Ihren Projekten mit hoch voraussetzungsvollen Themen und geschichtsorientierten Bildwelten, verzichten aber zumeist auf erklärende Texte. Insofern ist das Spektrum an Lesarten und die Deutungsoffenheit der Bil-

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der sehr groß. Birgt diese Offenheit im Laufe der Zeit nicht die Gefahr einer Bedeutungsverschiebung durch fehlende Kompetenzen der Zuordnung des Betrachters und des Vergessens, die von Ihnen nicht beabsichtigt ist?« MICHAEL SCHMIDT:

»Die Ambivalenz zwischen Erkennen, Wiedererkennen und Nicht-Erkennen ist immer auch Teil meiner Arbeiten. Sie erkennen bestimmte Dinge wieder beziehungsweise nicht wieder – das ist bewusst einkalkuliert. Meine Bildwelten stellen mehr Fragen, als dass sie Antworten geben. In EIN-HEIT gibt es ein Bild einer Gruppe von Menschen, von denen man eine Person als Josef Goebbels zu erkennen glaubt. Im Hintergrund erkennt man auf dem Bild gleichzeitig Erich Honecker in jungen Jahren, der so gut wie nie wahrgenommen wird. Diese Personenkonstellation ist in der Form aber unmöglich, weil es politisch/ zeitlich ausgeschlossen war. Die Fehlleistung der Zuordnung und des Erkennens wird an diesem Beispiel offensichtlich. Meine Projekte sind in diesem Sinne niemals hermetisch, sondern stellen in erster Linie Fragen. Es geht nicht um Scheitern und Nicht-Scheitern einer Absicht, sondern um einen sich wandelnden Deutungsprozess, der mehr oder weniger meinen Ideen entspricht, den ich aber nicht durch Texte absichern oder erzwingen möchte.« Frage:

»Sie haben von den Präsentationsformen gesprochen, in denen Sie Ihre Fotografie denken: als Buch und als Ausstellung. Das Buch in seiner Radikalität ohne Text mit seinen Leerstellen – wie können Sie Ihre fotografische Denkweise und das Darstellungskonzept des Buches in ihre Wandarbeit überführen?« MICHAEL SCHMIDT:

»Die Darstellungsweise von Fotografien in Buchform ist an der Wand nicht realisierbar. Die Motive würden dabei zu Hülsen werden. Umgekehrt gilt es genauso. Ich trenne die Präsentation der Wand von der Präsentation im Buch. Die Bilder müssen trotzdem im Buch so angelegt sein, dass sie an der Wand funktionieren. Als ich anfing, mich mit Fragen der Darstellung meiner Fotografien im Buch und in Ausstellungen auseinanderzusetzen, langweilte mich die Idee, dass Bilder in Ausstellungen nur das Buch widerspiegeln. Ich fragte mich, was die Wandhängung mehr leisten kann als eine Erfahrung der Ästhetik des Abdrucks. Das Künstlerbuch bietet die Möglichkeit, beide Positionen zusammenzubringen.«

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Frage:

»Sie sagten, Sie finden oft noch Bilder, die Sie Ihren Arbeiten im Nachhinein gerne hinzufügen wollten. Wann haben Sie das Gefühl, dass Sie ein Werk vollendet haben und ein Buch abgeschlossen ist?« MICHAEL SCHMIDT:

»Ich glaube nicht an die Vollendung. Wir leben in einer Zeit, in der alles nur noch Fraktur ist: Alles ist nur noch gebrochen und stückweise. Der Reiz, dieses Konzept der nachträglichen Ergänzung eines Werks durch Bilder denken zu können, reicht schon aus. Es geht in erster Linie ja um Bilder, die man im Kopf hat. Ein Beispiel dazu. Der deutsche Maler, Bildhauer und Happeningkünstler Wolf Vostell machte in den siebziger Jahren einen Workshop in Kassel. Er lud die Teilnehmer ein, ihre Kameras mitzubringen, durch die Gegend zu gehen und zu fotografieren. Anschließend wurden die belichteten Filme in einer Drogerie abgegeben und jeder Fotograf bekam einen Abholschein. Dann sagte Vostell zu den Teilnehmern: ›Damit ist der Workshop beendet. Das Beste ist, Sie haben die Bilder im Kopf und als Erinnerung diesen Abholschein.‹ Das finde ich, ist eine gute Formulierung. Sie reicht zwar nicht aus, denn dann könnten wir uns nur noch Gedanken machen und müssten nicht mehr fotografieren. Trotzdem haben wir die besten Bilder nur in unseren Köpfen. Wir schaffen es nicht, die besten Bilder aus unseren Köpfen herauszukriegen. Wenn sie nur siebzig bis achtzig Prozent so gut sind, wie wir sie uns gedacht haben, können wir zufrieden sein. Darum geht es letztlich auch in den leeren Seiten. Man kann meine Bildwelten um Motive ergänzen. Man muss sie aber nicht einkleben.« Frage:

»Wir reden in diesem Kontext über Undisziplinierte Bilder und Ihre Art des Umgangs mit Fotografie. Wie wichtig ist es für Sie, in Ihrer Arbeit gegen etwas vorzugehen, undiszipliniert zu sein, Sehgewohnheiten zu irritieren, oder sehen Sie sich als jemanden, der Bilder, die er macht, findet und sortiert?« MICHAEL SCHMIDT:

»Es geht heute in der Kunst und speziell in der Fotografie doch darum, für was sie steht. Da gibt es die durchkonstruierte kalkulierte Position und die andere, die spontane und intuitive Art in der Fotografie, die es auch schon immer gegeben hat, die heute nicht so stark bewertet wird wie die kalkulierte, stärker an der traditionellen Kunstgeschichte orientierte Fotografie. Die Diskussion ist die: Was kann eine kalkulierte und eine nicht kalkulierte, aber auch präzise Fotografie leisten?

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Was ist ein Foto? Wo fängt die Autonomie des Bildes an? Das ist der Punkt, der wichtig ist.« Frage:

»Sind Sie manchmal von Ihren eigenen Bildern überrascht und finden irgendetwas, das Sie spontan begeistert und einfach gut finden?« MICHAEL SCHMIDT:

»Meine Vorgehensweise ist, dass ich eine Vorstellung habe, die ich realisieren will. In der Regel kommt dabei aber immer etwas anderes heraus, als ich mir vorgestellt habe. Ohne die Formulierung einer bestimmten Positionierung kommen Sie aber als Fotograf nicht aus. Jeder hat eine ematik. Das würde ich aber nicht als Kalkulation, sondern als Vorstellung sehen so wie jeder eine Vorstellung vom Leben und von Partnerscha, vom Essen und vom Trinken hat. Um mit Cartier-Bresson zu sprechen: ›Vor dem Foto wird gedacht und nach dem Foto wird gedacht – das andere ist dazwischen.‹ Ich gehe offen in einen Prozess mit einem roten Faden und dieser Faden verändert sich, wird länger oder kürzer, kann eventuell in eine andere Farbe übergehen, aber er bleibt. Da ich intuitiv arbeite, ist ein Bild nur dann interessant für mich, wenn ich von dem, was ich gemacht habe, etwas lernen kann, was ich vorher so noch nicht gemacht oder so noch nicht erfahren habe. Meine Fotografie ist in diesem Sinne nicht im Vorhinein bestimmt. Ich bin kein Konzeptkünstler, aber jeder Künstler hat ein Konzept. Ich definiere keine Konzepte oder eine Idee und benutze die Bilder als bloße Illustration der Idee. Ich trete einer ematik offen gegenüber und lasse mich von meinen Bildern überraschen, auch wenn es thematisch eingegrenzt ist.« Frage:

»Im Laufe der Jahre hat sich Ihre Arbeitsweise ziemlich verändert. Heute arbeiten Sie radikal subjektiv, früher versuchten Sie möglichst objektiv zu arbeiten in dem Glauben, damit einer ›Wahrheit‹ näherzukommen. Wie hat sich Ihr Verhältnis zum Dokumentarischen verändert?« MICHAEL SCHMIDT:

»Mein dokumentarischer Ansatz war immer die Idee von Dokumentation, nicht die pure Dokumentation. Ich habe die fotografische Idee der Abbildung in das Bild gebracht. Dieser Akt ist ein subjektiver Akt. Ich würde mich aber nicht als Subjektivist der Steinertschen Schule betrachten. Ich verteidige in meiner Arbeit lediglich das Individuum und eine menschliche Position. Die Zuwendung zur äußeren Welt als Idee

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der Abbildung und des Objektivierenden führte im Laufe meiner Arbeit zu einer Entfremdung von mir selbst. Irgendwann stand ich neben mir. Da war kein Raum für meine eigene Subjektivität. In der Auseinandersetzung mit der Objektiven Fotografie habe ich gemerkt, dass es, wenn man Kunst macht, kein objektives Moment gibt, aber ein Gegenüber und einen Dialog. Objektivität gibt es nur dann, wenn eine bestimmte Sache unabhängig vom Individuum wiederholt werden kann. Diejenigen, die sich in der Fotografie als Objektivisten bezeichnen, sind eigentlich versteckte Subjektivisten. Wenn das immer so ist, dann gilt für meine Arbeitsweise: wenn schon subjektiv, dann richtig.« Moderator:

»Vielen Dank für Ihre Ausführungen und die Diskussion.«

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Bildserie 01 Auszüge aus: MICHAEL SCHMIDT (1996): EIN-HEIT, Zürich: Scalo.

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Bildserie 02 Auszüge aus: MICHAEL SCHMIDT (2005): Irgendwo, Köln: Snoeck.

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Unter Fittichen Trotz der Tatsache, dass ich mich als Künstler eher hinter der Kamera wohlfühle, hab ich mir ein paar Gedanken zum Leitmotiv des Bandes Undisziplinierte Bilder gemacht und möchte diese in Verbindung mit meinen Arbeiten, von denen ich Ausschnitte zeige, vortragen. Ein offensichtliches ema hat sich mir beim Nachdenken über undisziplinierte Bilder nicht gerade aufgedrängt, jedoch hält das Wort »Disziplin« mehrere Ansatzpunkte bereit, von denen ich einem gefolgt bin. Anfangs möchte ich kurz über Bilder, die in Disziplinen funktionieren, und solche, die auch ohne sein können, sprechen. Dann, anhand eines berühmten Beispiels, das Potenzial eines ›guten Bildes‹ erläutern, bevor ich den Ansatz meiner eigenen Arbeit etwas offenlegen will.

DOCKS Ein Großteil des täglichen visuellen Outputs erfährt dadurch seine Daseinsberechtigung, dass es für einen bestimmten vorgesehenen Zweck geeignet ist. Diese, nennen wir es Umgebung, gibt dem Bild im schlechtesten Fall eine Art Sinn. Viele Fotografien werden für etwas hergestellt und zu etwas gemacht, um sie handhaben und einsetzen zu können. Eine der häufigsten Ansprüche an das Bild ist, es als Gestaltungselement benutzen zu können. Gefordert wird gerne Material frei von Mehrdeutigkeit, um etwaige Unsicherheiten in der Wirkung oder Lesbarkeit zu vermeiden. Sogenannte Kreative machen sich dabei besonders durch ihren einfallslosen und stumpfsinnigen Umgang mit Bildern einen Namen. Meist mit der Ausrede, dem Kun-

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den, Verbraucher oder Leser etwas zu bieten, das ihnen möglichst einfach, verständlich und erfolgreich eine Message vermittelt. Von Sehnsüchten ist die Rede. Zielgruppen, die man erforscht hat, Einschätzungen, die belegt sind. Dummheit kennt keine Grenzen in einem Kreislauf eines Marktes, bei dem manch gutes Bild schlecht gemacht wird und viele schlechte Bilder zu erfolgreichen werden. Genres, Kategorien, Häufchen und Gruppen – die Welt des Bildgebrauchs ist weitläufig und doch weniger offen, als man denkt. Es geht weit mehr und öer um Füllen von Platz sowie die Befriedigung von Nachfrage, als dass man den Bildern Freiheiten einräumt. Damit meine ich weniger Unklarheiten als Unvorhergesehenes – Bilder, die sich durch offene Kontexte auf weiteren Ebenen als die der reinen Betrachtung im dafür vorgesehenen Benutzerfeld entfalten können. Improvisation als Wert, der meist Interessanteres zu bieten hat als das Erwartete. Es würde zu weit führen, hier über eine eindimensionale Denkweise im Umgang mit Bildern zu sprechen. Es bringt auch wenig, kulturpessimistisch die neuen Wege der Bildherstellung, -betrachtung und -verbreitung zu verdammen. Schon ein einziger Unterpunkt in dieser wichtigen Debatte würde den Rahmen meines Beitrags sprengen. Ein gutes Bild im Sinne des heutigen emenfeldes könnte sein, wenn es unabhängig von den beschriebenen Disziplinen bestehen kann. Mit undiszipliniert verbinde ich auch die Eigenständigkeit eines Bildes, auf die jeweiligen Schubladen, die man bereithält, verzichten zu können. Sich inhaltlich als auch ästhetisch zu behaupten, gehört zur Voraussetzung – ebenso für sich stehen zu können, ohne dabei die Lesbarkeit zu verlieren. Dies bedeutet meist, nicht kompatibel mit den Ansprüchen der Verwertung zu sein. Es widerspricht nicht generell der angewandten Fotografie und heißt nicht im Geringsten, dass die freie künstlerische Fotografie nun meine Art Rechtfertigung hätte. Im Gegenteil: auch diese beiden Einordnungen spielen den Kategorisierungen und den Ausbeutern in beiden Lagern in die Hände. Aus mancher Definitionsfrage wird eine Sinnfrage. Fotografie in ihren unterschiedlichsten Feldern bleibt einer Selbstständigkeitsdebatte treu, die sie seit längerem zu führen hat. Es reicht eben nicht, »Fashion«, »Reportage«, »Transportation«, »Stills« und »Art« auf die eigene Website zu schreiben, um dann zu glauben, wichtige Fragen umgangen zu haben. Antworten alleine machen niemanden glücklich. Am wenigsten diese, bei denen man sich nicht einmal die Fragen gestellt hat, weil man sich nicht für eine Auflösung durch das Bild inter-

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essiert. Das Medium füttert an allen Fronten. Bilder werden in unterschiedlichsten Ausprägungen dazu gemacht, als Medium zu funktionieren. Einsatzgebiete bleiben unübersichtliches Terrain. Urheber und Rezipienten geben sich dieselben Hände. Es geht, wie in anderen Beiträgen des Bandes schon richtig gesagt wurde, in der aktuellen Fotodebatte mehr um Problemlösungen als um Neudefinitionen. Was sich ändert, ist nicht die Wertigkeit der Fotografie, sondern wie sie immer mehr nur für bestimmte Kategorien und Einsatzfelder von allen zu jeder Zeit gemacht wird – eine Art Demokratisierung der Bilderwelten, die durch Beliebigkeit und permanente Erreichbarkeit all die Punkte der Vernetzung mit sich bringen, die unabhängig von Inhalten, Persönlichkeiten und Nachhaltigkeit die Fotografie in ihrer herkömmlichen Definition ad absurdum führen.

GAS STATION Mit einem Motiv aus dem legendären Projekt e Americans von Robert Frank (vgl. Abb. ) möchte ich beispielha auf ein Bild eingehen, das sich durch Präsenz einigen der beschriebenen Tendenzen entziehen kann. Es funktioniert in unterschiedlichen Kategorien, Genres und Disziplinen, ohne dabei an Aussagekra zu verlieren sowie ohne dabei zu viel Aulärungsarbeit leisten zu müssen. Aufgenommen wurde das Bild in Santa Fee bei seiner Reise im Rahmen des Guggenheim Stipendiums durch Amerika im Jahr , erstmals veröffentlicht in einem der wichtigsten Fotobücher der Geschichte – e Americans – im Jahe . In den folgenden Jahren tauchte auch dieses Motiv in Zusammenhang mit Robert Franks Werk in unzähligen Katalogen, Publikationen und weiteren Buchauflagen auf. Es wurde geprintet und in Ausstellungen gezeigt. Sammler und Sammlungen kauen die Originalabzüge. Reproduktionen und Kopien düren zu Tausenden gemacht worden sein. Seit dem Bestehen des Internets ist es dort gespeichert, global einsehbar und in Abb. 1: Gas Station, Santa Fee einer geringen Auflösung auch zum (FRANK 1958: 91) Herunterladen erhältlich. Ich habe exemplarisch dieses Bild herausgesucht, weil es

 auch als telbild der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) abgedruckt war. Wer die FAZ kennt, weiß, dass sie jahrzehntelang für ihre bilderlose Erste Seite bekannt war. Ein Mittel, das die Haltung der Heraus-

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geber widerspiegelt, sowie als Wiedererkennungseffekt funktionierte. Nur bei außerordentlichen Weltereignissen wie dem Fall der Berliner Mauer, dem Tod von Papst Johannes Paul II. oder der einstürzenden Twin Towers wurde in dieser Sache eine Ausnahme gemacht und mit einem Einzelbild auf dem tel gearbeitet. Im Oktober

, nach  Jahren Bestehen, hat man sich jedoch von diesem Dogma verabschiedet. Umso erstaunlicher war dann der Weg, den die Erste Seite dieser Zeitung gegangen ist. Denn anders als bei anderen Tages- und Wochenzeitungen wurde es weniger eine Bebilderung des Aufmachertextes als vielmehr eine Bühne für das selbstständige Bild mit Mehrwert – sozusagen von der konsequenten Leerstelle zum Bild als Bild. Als das besagte Frank-Motiv auf der telseite gedruckt wurde, ging es auch um die Wiederauflage des legendären Buches Die Amerikaner im Steidl Verlag. Es behandelte an diesem Tag jedoch noch viel mehr den Benzinpreis, der kurz vor einem neuen Höchststand war. Aber es zeigte einfach auch nur ein Foto von fünf leeren Zapfsäulen in Santa Fee. Es ging um die Bedeutung des Wortes »Save« im Bild und darum, dass die Tankstelle wie ausgestorben aussieht. Nicht zuletzt handelt es sich um eine Reproduktion (etwa $

Stück) eines Bildes eines der wichtigsten Fotografen der Gegenwart – und somit auch um ein repräsentatives Beispiel des Werks Robert Franks. Es kann um all die Dinge zusammen gehen und trotzdem kann das Bild weiterhin unabhängig davon ein gutes Bild bleiben und nicht erst durch eine bestimmte Kategorie dazu werden. Egal, ob auf einem Silber-Gelatin-Abzug, einer Reproduktion im Buch, in der Zeitung oder im Rahmen dieses Textes – manche Bilder überleben, weil sie dem Leben entstammen, in dem sie primär nichts dienen müssen. Der Gebrauch des Bildes in den genannten Zusammenhängen verlinkt Kunstund Fotogeschichte mit einer aktuellen Rohstoffdebatte. Gleichzeitig geht es um die Würdigung eines großen fotografischen Werkes. Zuletzt sagt der Einsatz dieses Bildes auf der beschriebenen telseite einer Tageszeitung auch etwas über deren Bildsprache, Haltung und Interessen aus. Zum Schluss der Kette könnte man daraus auch noch auf eine bestimmte Leserscha schließen. Am Beispiel des Frank-Bildes gefällt mir die unterbewusste Grenzüberschreitung der Einsatzfelder – das Potenzial eines Bildes, das erst einmal nichts können muss, weil es Seines schon geleistet hat (als Teil der Serie e Americans). Eine derartige Freiheit und Offenheit nimmt den Nachbarn nichts weg und hat die Qualität, immer wieder etwas zu geben. Als Leser der FAZ hat mich das Bild genauso betroffen wie als Autofahrer, als Fotograf genauso wie auch als Fotobuchsammler,

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als Künstler genauso wie als Autor. Dasselbe Bild deckte somit einige Disziplinen ab. Es steht für etwas und reicht weit aus der Vergangenheit (Aufnahmezeitpunkt) über die Gegenwart (Veröffentlichung auf der telseite) in die Zukun.

MY WAY Ich selber würde mich eher als einen Vertreter der Langsamen Bilder bezeichnen. Für mich bedeutet dies aber nicht, nach festgefahrenen Konzepten und Typologien zu arbeiten oder statisch zu agieren – eher schon eine Autorscha, die sowohl Zeit wie auch Findungsprozesse braucht, um an den Punkt zu kommen, an dem die typischen Stränge des Bildermachens zusammenkommen. Dann bringt es nichts mehr, wenn ich mich unwissender stelle als ich bin, dann kommt es darauf an, Dinge aus der Realität formal zu lösen. Nur in der gegebenen Konstellation von Licht, Schärfe und Ausschnitt werden sie zu dem, was ich gesehen habe. Damit ist im Idealfall die Voraussetzung geschaffen, etwas vermitteln zu können, was für mich wichtig ist und erzählt werden will. Die darstellende und die geistige Ebene, wie es Stephen Shore in seinem Lehrbuch e Nature Of Photographs nennt, fusionieren (vgl. Shore

). Es entsteht Ordnung in dem Sinne, dass man Entscheidungen trifft – für mich ein von Grunde auf fotografischer Teil meines Arbeitens: Das Momentum, in dem es auf Zehntelsekunden ankommt, auch wenn es aussieht, als ob es auch kurz vorher und gleich nachher genauso machbar gewesen wäre, aber auch der Moment, der sich Zeit nimmt, der manchmal drei Minuten Belichtungszeit benötigt und trotzdem nicht austauschbar ist. Unter diesen Voraussetzungen bin ich mehr der Fotograf im Künstler als umgekehrt, denn ich nehme mir ausschließlich vorhandene Dinge, Situationen und Momente, die das Leben liefert. Mein Hauptbeitrag ist, vor Ort und Zeuge zu sein, es bestenfalls so festzuhalten, dass es auch Teil meiner Biografie wird. Die berühmten Metaphern vom Spiegel und vom Fenster könnten auch dieses Mal passen. Auf die Frage, was ich denn am liebsten fotografiere, fehlen mir meist die Worte. Für mich wird klarer, dass es nicht mehr nur ein Entdecken ist, das mich antreibt, sondern auch schon zu großen Teilen ein Erinnern. Immer schon ging es mir mehr um eine Autorscha als um eine Rubrik. Der Weg stellt für mich einen gleichberechtigten Teil des Ganzen dar und das Ganze eine Art Erzählung aus und über das Leben.

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Manche Unschärfen bedeuten Rätsel, andere Fragen klären sich auch durch den Fokus nicht – will aber auch diese Entscheidungen selber entscheiden. Ich liebe die Fotografie und das Papier, arbeite gerne in Serien und in Büchern. Wenn es um meine Bücher geht, dann weniger um Kataloge als um eigenständige Werke voller Habtik und Brüche: Um eine Schnittstelle von Einflüssen und Outputs in Verbindung mit einer unterstützenden Buchgestaltung und eigenständigen Autorentexten. Ähnlich wie in der Literatur finde ich mich vor gewissen Motiven wieder und sehe bereits erlebte Geschichten und bereits gemachte Bilder, um sie durch meine bleibende Faszination erneut in der Erinnerung zu verankern: Sozusagen eine Weiterführung eines Weges durch ein auslösendes Moment. Mehr Zustände als Dokumentation, mehr Geschichten, die mir die Motive abverlangen, als neue Erzählungen. Was mich die Fotografie gelehrt hat, nehme ich mit, um genauer zu werden, exakter zu schauen, besser zu sehen, umfassender zu beobachten. Die Kombination aus Geduld und Schnelligkeit, die sie fordert, formt mich und somit auch meine zukünigen Bilder. Dass es dabei mehr um Räume als um bestimmte Orte geht, hat sich in meinen Arbeiten bereits früh gezeigt – einen Raum im Sinne, dass sich der Fotograf im gleichen System befindet wie das Motiv. Nicht eine Beschreibung von außen, sondern ein Miteinbeziehen des eigenen Standpunktes in das Bild interessiert mich. Es scheint, dass ich anders fotografiere, wenn ich in Reichweite des Motives bin, es im Idealfall berühren kann. Ich verstehe die Avedonsche Arbeitsweise als eine Metapher für einen sensibleren Umgang mit dem Gegenüber. Und das Gegenüber kann auch mal ein Berg sein. Für mich eine Voraussetzung, weiterhin an die Fotografie zu glauben – dass sie nicht zwischen mir und dem Motiv steht, sondern ich durch sie eine intensivere Verbindung eingehen kann. Ich gehe eher nicht an bestimmte Orte, um Bilder zu machen, sondern mache bestimmte Bilder, weil ich irgendwo bin. Jedoch brauche ich diesen Weg, auf dem die Bilder entstehen. Das Warten darauf hat für mich eher selten die Dinge gelöst. Es gibt einen schönen Artikel im Internet, in dem einige Fotografen der Agentur Magnum gefragt wurden, was sie Fotografen, die am Anfang ihrer Lau_ahn stehen, für einen guten Rat mitgeben würden. Am kürzesten und treffendsten hat dies für mich der persische Fotograf Abbas benannt: »Get a good pair of walking shoes and fall … in love« (vgl. Magnum Photographers

). Wo wir nun am ehesten bei der Antwort auf die Frage wären, was ich denn nun fotografieren würde: etwas, das mich beschäigt und mich nicht mehr loslässt, für das ich

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Leidenscha au_ringe es zu sehen, verstehen zu wollen und darüber hinaus etwas darüber zu erzählen, etwas, das ich erlaufen und entdecken muss, um ihm Sinn zu geben, was somit ein Teil von mir wird. Irgendwie kam zu mir noch nie ein gutes Bild nach Hause, hat an die Tür geklop und gesagt, dass es nun da sei. Letztendlich musste ich immer selber losgehen.

Literatur FRANK, ROBERT (1958): Les Américans. Paris: Delpire. Magnum Photographers (2008). URL: http://blog.magnumphotos.com/2008/11/wear_good_ shoes_advice_to_young_photographers.html (11.07.2012). SHORE, STEPHEN (2007): The Nature of Photographs, Berlin: Phaidon.

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Bildserie 01 Auszüge aus: OLAF UNVERZART (1996): Kür

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Bildserie 02 Auszüge aus: OLAF UNVERZART (2003): Loving Areas

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Undisziplinierte Bilder IV: Ein Ausstellungsprojekt

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Undisziplinierte Bilder: Zweifeln, Verrücken, Neupositionieren Was stellen wir uns unter undisziplinierten Bildern vor? Welche Grenzen können und müssen gesprengt, welche Regeln überschritten werden? Was können Gestalter, Künstler und Kreative unterschiedlicher medialer Bereiche in Undisziplin voneinander lernen? Gibt es überhaupt Möglichkeiten undisziplinierter Bildproduktion und undisziplinierter Bilder, die sich feststehenden und monodisziplinären Deutungshoheiten entziehen und dialogische Strukturen eröffnen? Diese und andere Fragen bildeten den Ausgangspunkt eines explorativ angelegten Seminars am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld. Die Aufgabe der Studierenden bestand darin, sich mit Phänomenen der Umdeutung und des Transfers bestehender Bildwelten und -traditionen zu beschäigen und neue bildliche Beziehungsgefüge zu erarbeiten. Durch eine künstlerisch-gestalterische Auseinandersetzung mit Fragen von Visualität und Bildlichkeit sollten grenzüberschreitende Perspektiven einer undisziplinierten Bildpraxis in einem individuell gewählten Kontext erarbeitet werden. Die Entwicklung flexibler Haltungen, die Infragestellung bestehender Klischees und Konventionen standen im Fokus des Arbeitsprozesses und provozierten willkommene Anregungen des Zweifelns, Verrückens und Neupositionierens. Dies geschah in der Überzeugung, dass Erkenntnisse nicht lehrbar, sondern lediglich versuchsweise initiierbar sind. Die im Rahmen des Seminars entstandenen studentischen Arbeiten werden auf den folgenden Seiten gezeigt. Unterschiedliche Aspekte und Phänomene von Undisziplin – Verunsicherung, Erschütterung und Neubewertung – werden thematisiert. Dabei kommen unter-

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schiedlichste Medienformen wie Fotografie, Video, Film, Plastik, Objekt und Installation, teils im interdisziplinären Verbund, zum Einsatz. Herkömmliche Verfahrensweisen und medienimmanente Methoden werden rekombiniert und neu konfiguriert. Im Ganzen ergibt sich daraus ein breit gefächertes Kompendium des spielerischen, unkonventionellen Umgangs mit Visualität und Bildlichkeit. Traditionelle Bildpraxen werden mit ungewöhnlichen Mitteln und Arbeitsweisen konfrontiert: Experimente willkommen. Der folgende Bildkatalog enthält Auszüge der Arbeiten von: Anna Baumgart, Marcel Degen, Philipp Gätz, Karsten Kaiser, Joscha Kirchknopf, Cem Kozcuer, Ele Krekeler, Verena Knuck, Stefan Müller, Philipp Neumann, Nicolai Rapp, Olaf Rössler, Stefan Sängerlaub, Johanna Saxen, Anja Schäfer, Anja Scholte, Ina Schoof, Melanie Vogel, Katharina Wilke

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ANNA BAUMGART, INA SCHOOF (2009), I Guess You Don‘t Know Me 01, Video (15:15 min), SW-Print gerahmt, 18 x 26 cm

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PHILIPP GÄTZ (2009), Nimmerland ist abgebrannt, 3 C-Prints gerahmt, 40 x 40 cm, 40 x 40 cm (O.i.F.) 60 x 80 cm (rechte Seite)

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KARSTEN KAISER (2009), The Printed World,

Video (DV/PAL), 3:15 min

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JOSCHA KIRCHKNOPF (2009), Me As A Young German Photographer, Bleistift und Radiergummi auf Papier, 340 x 150 cm

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VERENA KNUCK (2009), Wie du willst, Draht 97 x 68 x 25 cm

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CEM KOZCUER (2009), Ohne Titel, Holz, Glas, Pigmentdruck, 151 x 86 cm, Video (4:33 min)

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ELE KREKELER (2009), UNIKAT, Lambda-Print auf Alu-Dibond, 140 x 100 cm

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STEFAN MÜLLER, MARCEL DEGEN (2009), Ohne Titel, Kurzfilm (8:33 min), Format: HDV

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PHILIPP NEUMANN (2009), Verlorene Bilder, Fine Art Prints, 100 x 60 cm

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NICOLAI RAPP (2009), space # 48° 43' 13"n 09° 14' 23"e, digital print gerahmt, 130 x 160 cm

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NICOLAI RAPP (2009), space # 47° 33' 28"n 10° 31' 10"e, Fototapete, 260 x 350 cm

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OLAF RÖSSLER (2009), Was ist, Projektion auf Vorhang, Pigmentdruck, 300 x 450 cm, Leuchtkasten, 60 x 60 cm

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STEFAN SÄNGERLAUB (2009), Inventory, Digitaler C-Print, 60 x 305 cm

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JOHANNA SAXEN (2009), 1993, C-Prints, 92,5 x 64 cm

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ANJA SCHÄFER (2008/2009), Mesomere Zustände, Stoff, Holz, Foto

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ANJA SCHOLTE (2009), Contemporary Portrait Of Not Adam Not Eve, 376 Digitalfotos (genäht), 162 x 273 cm

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MELANIE VOGEL (2009), Ich reiche mir selber genug, C-Prints, verschiedene Größen

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KATHARINA WILKE (2009), Ohne Titel, Druck auf Zählstoff z.T. gestickt mit Wolle und Stickgarn 69 x 79 cm

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Die Autoren THOMAS ABEL Dipl.-Des. M.A., Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS). Wissenschaftlicher Mitarbeiter im FSP Fotografie und Medien der FH Bielefeld. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Fotografische Praxis und Theorie, Visualität und Bildlichkeit, Visuelle Kultur. Neueste Veröffentlichungen: »Bilder zweiter Ordnung. Untersuchung digitaler fotografischer Portraitpraxen mittels visueller Medien«, 2011; »Blowing Up Society: Fotodokumentarische Bildpraktiken im Rahmen einer Visuellen Soziologie«, 2012. Kontakt: thomas.abel@ uni-bielefeld.de

ULRICH BINDER Kunstschaffender, Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Malerei, Fotografie, Bildtheorie und empirische Forschung. Veröffentlichungen (Auswahl): Das Menschenbild im Bildarchiv. Untersuchung zum visuellen Gedächtnis der Schweiz, 2006 (Hg. zusammen mit MATTHIAS VOGEL); Bilder, leicht verschoben. Zur Verände rung der Fotografie in den Medien, 2009 (Hg. zusammen mit MATTHIAS VOGEL); Diverse Textbeiträge in: Schweizer Fotobücher 1927 bis heute. Eine andere Geschichte der Fotografie, 2011. Kontakt: [email protected]

RALF BOHNSACK Dr. rer. soc., Dr. phil. habil., Universitätsprofessor, Leiter des Arbeitsbereichs Qualitative Bildungsforschung, Freie Universität Berlin. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Rekonstruktive Sozialforschung, Praxeologische Wissenssoziologie, Dokumentarische Methode, Gesprächsanalyse, Bild-, Film- und Videointerpretation, Evaluationsforschung, Milieu-, Generations-, Jugendund Devianzforschung. Neueste Veröffentlichungen: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden , 2010; Qualitative Bild- und Videointerpretation. Die dokumentarische Methode, 2011. Kontakt: [email protected]

DIE AUTOREN

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MARTIN ROMAN DEPPNER Dr. phil. Dipl.-Des. M.A., Professor für Medientheorie am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld, Sprecher des Forschungsschwerpunkts (FSP) Fotografie und Medien der Fachhochschule Bielefeld. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Foto- und Filmtheorie, Kunst und ihre medialen Wechselwirkungen, Jüdisches Denken im Kontext von Medientheorie und Kunstmoderne. Veröffentlichungen (Auswahl): Fotografie im Diskurs performativer Kulturen (Hg.), 2009; Denkprozesse der Fotografie (Hg. zusammen mit GOTTFRIED JÄGER), 2010. Kontakt: [email protected]

VOLKER DREIER Dr. rer. soc. habil., wissenschaftlicher Angestellter, Redakteur der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS), Forschungsinstitut für Soziologie an der Universität zu Köln, Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen. Arbeits-/ Forschungsschwerpunkte: Methoden der empirischen Sozialforschung, Wissenschaftstheorie, Machiavelli, Macht- und Handlungstheorien, Erinnerungskulturen, Soziologie der Fotografie und des Films. Veröffentlichungen (Auswahl): »Wissenschaftstheoretische und methodische Anmerkungen zum Konzept der Daten«, 2009; Aspekte und Perspektiven der modernen Wissenschaftstheorie, 2013 (i.V.). Kontakt: [email protected]

SUSANNE HOLSCHBACH Dr. phil., Kunst- und Medienwissenschaftlerin, Gastprofessorin an der Universität der Künste (UdK) Berlin. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Mediengeschichte der Fotografie, Fotografie im Kunstkontext der Gegenwart, Gender und Medien. Veröffentlichungen (Auswahl): Vom Ausdruck zur Pose. Theatralität und Weiblichkeit in der Fotografie des 19. Jahrhunderts, 2006; »Foto/Byte«, 2009 (URL: http://www.medienkunstnetz.de/themen/foto_byte/editorial/ (11.07.2012). Kontakt: [email protected]

BERTIEN VAN MANEN Fotografin/Fotokünstlerin, Amsterdam. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Kulturvergleichende Studien West-Ost, Sozialdokumentarismus, Migration, Asien, Sowjetunion. Veröffentlichungen (Auswahl): Give me your Image, 2005; East Wind West Wind, 2001; A Hundred Summers A Hundred Winters, 1994; Kontakt: [email protected]

BURKARD MICHEL Dr. phil., Professor im Studiengang Werbung und Marktkommunikation der Hochschule der Medien Stuttgart, Dekan der Fakultät Electronic Media. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Bildkommunikation, Milieutheorie, qualitative Sozialforschung. Veröffentlichungen (Auswahl): Bild und Habitus: Sinnbildungsprozesse bei der Rezeption von Fotografien, 2006; »Habitus und Lebensstil«, 2009; Regeln und Regelmäßigkeiten. Methodische Überlegungen zur Analyse von Strukturen des Medienhandelns, 2011; Rahmungen und Spielräume des Bildsinns, 2012. Kontakt: [email protected] 348

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JAN-HENDRIK PASSOTH Dr. phil., Post-Doc im Graduiertenkolleg Innovationsgesellschaft heute, TU Berlin. Arbeits-/ Forschungsschwerpunkte: Medien-, Technik-, Kultursoziologie, Soziologische Theorie, Methodologie und Methoden qualitativer Sozialforschung. Veröffentlichungen (Auswahl): Technik und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Techniktheorien und die Transformationen der Moderne, 2007; »Aktanten, Assoziationen, Mediatoren. Wie die ANT das Soziale neu zusammensetzt«, 2010. Kontakt: [email protected]

EMANUEL RAAB Dipl.-Des., Professor für Fotografie und Bildmedien an der Fachhochschule Bielefeld. Arbeits-/ Forschungsschwerpunkte: Medienübergreifendes Arbeiten im angewandten und künstlerischen Bereich, Menschenbilder. Veröffentlichungen (Auswahl): »Vertrautes Terrain – Aktuelle Kunst in & über Deutschland«, 2008; »heimat.de – Ästhetik der Agglomeration«, 2006; Nachtland, 2008; Winterwald, 2011. Kontakt: [email protected]

SUSANNE REGENER Prof. Dr., Universitätsprofessorin, Leiterin des Lehrstuhls für Mediengeschichte der Universität Siegen. Adjunct Professor an der Universität Kopenhagen. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Visuelle Kultur, Medien-Anthropologie, Mediengeschichte dokumentarischer Formen, Theorie und Geschichte der Fotografie, Praktiken des Populären, Kultur- und Mediengeschichte von Polizei/Gefängnis und Medizin/Psychiatrie, Kulturgeschichte der Amateure. Veröffentlichungen (Auswahl): Fotogeschichte: »Amateure. Laien verändern die visuelle Kultur« (Hg.), 2009; Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts, 2010; Privat/Öffentlich: Mediale Selbstentwürfe von Homosexualität (Hg. mit K. KÖPPERT), 2012. Kontakt: susanne. [email protected]

MICHAEL SCHMIDT Fotograf, Berlin, fotografiert seit 1965. Arbeitsschwerpunkte: Porträt, Architektur/Stadtensembles, Landschaften. Veröffentlichungen (Auswahl): EIN-HEIT, 1991 (U-NI-TY, USA); Frauen, 2000; Irgendwo, 2005; 89/90, 2010; Lebensmittel, 2012. Kontakt: [email protected]

BERND STIEGLER Prof. Dr., Professor für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt 20. Jahrhundert im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Medien und insbesondere der Fotografie sowie die deutsche und französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen (Auswahl): Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern, 2006; Theoriegeschichte der Photographie, 2006; Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik, 2009; Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte der Reisen im und um das Zimmer herum, 2010. Kontakt: [email protected]

DIE AUTOREN

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OLAF UNVERZART Fotograf/Fotokünstler (Dipl.), lebt und arbeitet in München. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Verhältnis Mensch–Natur, Landschaftsfotografie, subjektiv beobachtende Autorenfotografie, Foto-/Künstlerbücher. Neueste Veröffentlichungen: Leichtes Gepäck, 2009; Hijacked 2, 2010; Dont't fade to grey, 2011. Kontakt: [email protected]

MATTHIAS VOGEL Prof. Dr., lehrt an der ZHdK; leitet dort Forschungsprojekte am Institut für Theorie (ith) und am Institute for Cultural Studies in the Arts (ICS) der ZHdK. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Kunst des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, zeitgenössische Kunst, Neue Medien, Theorie der Medienbilder, Rezeptionsästhetik, Kunstsoziologie, Kunstpolitik, Performativität und Transkulturalität der Bilder. Veröffentlichungen (Auswahl): Das Menschenbild im Bildarchiv. Untersuchung zum visuellen Gedächtnis der Schweiz, 2006 (Hg. zusammen mit ULRICH BINDER); Bilder, leicht verschoben. Zur Veränderung der Fotografie in den Medien, 2009 (Hg. zusammen mit ULRICH BINDER). Kontakt: [email protected]

SUSE WIEGAND Professorin für Plastik und Objekt an der Fachhochschule Bielefeld. Arbeits-/Forschungsschwerpunkte: Künstlerische Auseinandersetzung mit Körper, Raum, Sprache und Dingwelten, Ästhetische Beziehungsgeflechte, Arbeiten auf Papier, Fotografie, Installationen, Objekte, Editionen und Künstlerbücher. Veröffentlichungen (Auswahl): der inhalt der lücken, 2005; drück den daumen, 2008; Sonst, 2011. Kontakt: [email protected]

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Image Ulrich Blanché Konsumkunst Kultur und Kommerz bei Banksy und Damien Hirst November 2012, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2139-6

Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur April 2013, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1711-5

Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11 Januar 2013, ca. 496 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2020-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Image Guido Isekenmeier (Hg.) Interpiktorialität Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge Mai 2013, ca. 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2189-1

Lill-Ann Körber Badende Männer Der nackte männliche Körper in der skandinavischen Malerei und Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts Januar 2013, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2093-1

Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Dezember 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Image Ursula Bertram (Hg.) Kunst fördert Wirtschaft Zur Innovationskraft des künstlerischen Denkens Oktober 2012, 266 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2102-0

Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen Juli 2013, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2

Patricia Stella Edema Bilder des Wandels in Schwarz und Weiß Afro-amerikanische Identität im Medium der frühen Fotografie (1880-1930) Januar 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2203-4

Doris Guth, Elisabeth Priedl (Hg.) Bilder der Liebe Liebe, Begehren und Geschlechterverhältnisse in der Kunst der Frühen Neuzeit August 2012, 340 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1869-3

Birgit Hopfener Installationskunst in China Transkulturelle Reflexionsräume einer Genealogie des Performativen

Walburga Hülk Bewegung als Mythologie der Moderne Vier Studien zu Baudelaire, Flaubert, Taine, Valéry Juni 2012, 242 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2008-5

Doris Ingrisch Wissenschaft, Kunst und Gender Denkräume in Bewegung November 2012, 200 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2197-6

Dietmar Kammerer (Hg.) Vom Publicum Das Öffentliche in der Kunst Mai 2012, 246 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1673-6

Viola Luz Wenn Kunst behindert wird Zur Rezeption von Werken geistig behinderter Künstlerinnen und Künstler in der Bundesrepublik Deutschland Juni 2012, 558 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2011-5

Kerstin Schankweiler Die Mobilisierung der Dinge Ortsspezifik und Kulturtransfer in den Installationen von Georges Adéagbo Dezember 2012, 328 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2090-0

Februar 2013, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2201-0

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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