Bilder des Wandels in Schwarz und Weiß: Afro-amerikanische Identität im Medium der frühen Fotografie (1880-1930) [1. Aufl.] 9783839422038

Der Band widmet sich einem wenig beachteten Kapitel der frühen (afrikanisch-)amerikanischen Fotografiegeschichte zwische

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German Pages 282 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Teil I: Inferiorisierung schwarzer Identität im hegemonialen Bilddiskurs (1880-1900)
1. (Un)Sichtbarkeit der Black Mammy
2. Fotografie und Identität: Typologische Konstruktionen
2.1 Louis Agassiz’ slave daguerreotypes und Francis Galtons Typenporträts
3. Lynching-Fotografie: Entmachtung und Souveränität
3.1 Selbst- und Fremdentwürfe in der Lynching-Fotografie
3.1.1 Gebrauchsweisen der Lynching-Fotografie
4. Revisionen im Afrikanisch-Amerikanischen Zeitungsdiskurs
Teil II: Ehrbarkeit und Fortschritt: Selbstrepräsentationen im Afrikanisch- Amerikanischen Bilddiskurs (1900-1920)
5. Respektabilität und Afrikanisch-Amerikanische Erneuerung
5.1 Nationalisierung schwarzer Identität: Die Bilder von Frances Benjamin Johnston
5.2 Booker T. Washington und die ehrenhafte Arbeiterschaft
5.3 W. E. B. Du Bois’ Negro Type-Entwurf
5.4 Afrikanisch-Amerikanische Porträtfotografie um 1900
6. Schwarzes Selbstbild: Begegnung und Widerspruch
6.1 Der schwarze Bürger: Figur des Dritten
Teil III: Fotografie und Kunst: Afrikanisch-Amerikanische Fotografie im Zeichen der Harlem Renaissance (1920-1930)
7. Afrikanisch-Amerikanische Fotografie und die Harlem Renaissance
7.1 Der New Negro und kulturelle Identität
7.2 Der New Negro bei Winold Reiss im Vergleich zu Du Bois’ Types of American Negroes
7.3 Neubestimmungen von gender und race in den Körperinszenierungen Carl Van Vechtens
7.4 James VanDerZee – Artist and Photographer
7.5 Bewegter Körper – Entfesselter Leib: Die Körpersymbolik bei Morgan und Marvin Smith
7.6 Black Mammy revisited
8. Slavery und Southern Presence in P. H. Polks Genrefotografie
8.1 P. H. Polk – Pastorale Vergangenheit und schwarze Erinnerungskultur
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Bilder des Wandels in Schwarz und Weiß: Afro-amerikanische Identität im Medium der frühen Fotografie (1880-1930) [1. Aufl.]
 9783839422038

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Patricia Stella Edema Bilder des Wandels in Schwarz und Weiß

Image | Band 46

Patricia Stella Edema (Dr. phil.) arbeitet als wissenschaftliche Referentin am Kuratorium für die Tagungen der Nobelpreisträger, Lindau. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Visual Culture Studies, African American und Diaspora Studies, Race und Gender Studies, Kunst und Kulturgeschichte Amerikas.

Patricia Stella Edema

Bilder des Wandels in Schwarz und Weiß Afro-amerikanische Identität im Medium der frühen Fotografie (1880-1930)

Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die am 30. März 2011 am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin angenommen wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildungen: Gruppenbild: Thomas E. Askew, Nine African American Women, Full-Length Portrait, Seated on Steps of a Building at Atlanta University, Georgia, 1899/1900 Porträt Mann (links): Carl Van Vechten, Portrait of Bill Robinson, 1933 Porträt Frau (Mitte): Unknown, African American Woman, Head-and-Shoulders Portrait, Facing Slightly Right, 1899/1900 Porträt Frau (rechts): Carl Van Vechten, Portrait of Bessie Smith, 1936 © Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington, D.C. Lektorat & Satz: Patricia Edema Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2203-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Dorothee Ifeoma

Inhalt

Vorwort

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Einleitung

| 13

Teil I: Inferiorisierung schwarzer Identität im hegemonialen Bilddiskurs (1880-1900)

| 31

1.

(Un)Sichtbarkeit der Black Mammy

| 31

2.

Fotografie und Identität: Typologische Konstruktionen | 37

2.1

Louis Agassiz’ slave daguerreotypes und Francis Galtons Typenporträts

| 38

3.

Lynching-Fotografie: Entmachtung und Souveränität

| 52

3.1

Selbst- und Fremdentwürfe in der Lynching-Fotografie | 53

3.1.1 Gebrauchsweisen der Lynching-Fotografie 4.

Revisionen im Afrikanisch-Amerikanischen Zeitungsdiskurs

Teil II: Ehrbarkeit und Fortschritt: Selbstrepräsentationen im AfrikanischAmerikanischen Bilddiskurs (1900-1920) 5.

| 93

| 96

Nationalisierung schwarzer Identität: Die Bilder von Frances Benjamin Johnston

5.2

| 76

Respektabilität und Afrikanisch-Amerikanische Erneuerung

5.1

| 69

| 101

Booker T. Washington und die ehrenhafte Arbeiterschaft

| 110

5.3

W. E. B. Du Bois’ Negro Type-Entwurf

| 114

5.4

Afrikanisch-Amerikanische Porträtfotografie um 1900 | 117

6.

Schwarzes Selbstbild: Begegnung und Widerspruch

| 129

6.1

Der schwarze Bürger: Figur des Dritten

| 135

Teil III: Fotografie und Kunst: Afrikanisch-Amerikanische Fotografie im Zeichen der Harlem Renaissance (1920-1930) 7.

| 143

Afrikanisch-Amerikanische Fotografie und die Harlem Renaissance

| 151

7.1

Der New Negro und kulturelle Identität

| 151

7.2

Der New Negro bei Winold Reiss im Vergleich zu Du Bois’ Types of American Negroes

7.3

| 156

Neubestimmungen von gender und race in den Körperinszenierungen Carl Van Vechtens

| 162

7.4

James VanDerZee – Artist and Photographer

| 177

7.5

Bewegter Körper – Entfesselter Leib: Die Körpersymbolik bei Morgan und Marvin Smith

| 195

7.6

Black Mammy revisited

| 208

8.

Slavery und Southern Presence in P. H. Polks Genrefotografie

8.1

| 224

P. H. Polk – Pastorale Vergangenheit und schwarze Erinnerungskultur

| 232

Schlussbetrachtung

| 235

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

| 271

Vorwort

Die anfängliche Motivation der vorliegenden Untersuchung bildete meine Assistenztätigkeit am Smithsonian American Art Museum in Washington D.C. im Winter 2004/05. Zu einer meiner Aufgaben zählte die Auswertung von Bildmaterial und schriftlichen Primärquellen, die für die Erstellung einer Bild- und Informationsdatenbank über den afrikanisch-amerikanischen Harlem Renaissance-Künstler William H. Johnson benötigt wurden. Die Beschäftigung mit der frühen schwarzen visuellen Kultur machte mich auf einen Forschungsdefizit im Bereich der frühen afrikanisch-amerikanischen Fotografie aufmerksam, der nicht zuletzt angesichts der seit den 1990er Jahren proklamierten und zunehmenden Verlagerung des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses von den Schriftmedien in Bereiche der Bildgeschichte und -wissenschaft verwundert. Die Analyse des Themengebiets versprach im Hinblick auf den Einsatz der Fotografie als Form politischen Handelns, das sich im Kontext von Anthropometrie, Lynching und der Harlem Renaissance und den davon abzuleitenden repräsentationalen Strategien bewegt, interessante Überlegungen zu den identitätspolitischen Funktionen und Wirkungen des Bildes. Die mediale Instrumentalsierung von Identität(skonstruktionen) gelangte in jüngster Zeit für den amerikanischen Raum wohl am prominentesten in der Gestalt des afrikanisch-amerikanischen Präsidentenehepaares Barack und Michelle Obama zur Anschauung. Die bis zum heutigen Tag geführten Debatten und Auseinandersetzungen, die sich um Barack Obamas fehlender ›Amerikanität/Nationalität‹1 oder Michelle Obamas mangelnder ›Weiblich-

1

Die medialen Demarkations-/Alterisierungsstrategien der amerikanischen Konservativen zielen auf eine Ausgrenzung Obamas aus freiheitlichen, an den Idealen der Revolution konzipierten Konzepten von Nation, Freiheit und Gemeinschaft. Barack Obamas Identität wird als eine zum Feindbild erstarrte muslimische/sozialistische/schwarz nationalistische Alterität dämonisiert. Sein afrikanischer Hintergrund übernimmt auf symbolischer Ebene die Funktion des bedrohlichen Fremden, das die Integrität der nationalen Gemeinschaft gefährdet.

keit‹2 drehen, erscheinen mir in vielerlei Hinsicht als Fortführung hegemonialer Repräsentationsstrategien bzw. diesen Mechanismen gegenläufiger Positionierungsbemühungen, die den schwarzen Menschen seit der Sklaverei als eine von der herrschenden Ordnung abweichende Figur des Anderen konstituieren bzw. die diese überholten Zuschreibungsverfahren zurückweisen. Die Analyse der frühen afrikanisch-amerikanischen Fotografie vor dem Hintergrund dominanter, alterisierender Repräsentationsstrategien erweist sich als hochaktuell, da sie entscheidende identitätspolitische Repräsentationsmuster und -strategien aufschlüsselt, die bis in die Gegenwart hinein wirksam sind. An dieser Stelle möchte ich mich bei den Menschen bedanken, die mich bei diesem Projekt auf so vielfältige Weise unterstützt haben. Besonders bedanken möchte ich mich bei Herrn Prof. Winfried Fluck, der diese Arbeit betreute, für sein Interesse und die Möglichkeit, diese Arbeit durchführen zu können, für die wertvollen fachlichen Anregungen und den wissenschaftlichen Freiraum bei der Forschung. Dem German Historical Institute danke ich für das dreimonatige Forschungsstipendium, das mir wichtige Archivrecherchen in der Library of Congress, der Howard University, dem National African Art Museum sowie dem National American Art Museum ermöglichte. Anke Ortlepp, die mir während meines Forschungsaufenthaltes als Ansprechpartnerin zur Seite stand, möchte ich für die wertvollen Hinweise zum Aufbau der Arbeit danken. Den Kuratorinnen Jane Milosch und Ann Schumard des National American Art Museum sei ein herzlicher

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Fotografien von Michelle Obama, die sie kurzärmelig mit muskulösen Oberarmen zeigen, werden immer wieder zum Anlass genommen, ihre Weiblichkeit infrage zu stellen. Als weiteres Merkmal ihres ›männlichen‹ Wesens werden nicht selten die scheinbar zu hoch gezupften Augenbrauen herausgestellt, die erhöhte Aggressivität und damit unweibliches Verhalten evozieren. Der in der (afrikanisch-)amerikanischen Populärkultur weit verbreitete Topos des schwarzen zornigen ›Mannweibes‹ ist mitunter auf die durch die Sklaverei erwirkte Verschiebung der traditionellen Geschlechterordnung zurückzuführen, in der schwarze Frauen geschlechtsuntypische Arbeiten verrichten mussten, die dem patriarchalen Geschlechtermodell nach typischerweise Männern zugeordnet waren. Der dominante Repräsentationsdiskurs schrieb diesen Topos als Gegenentwurf zu Konstruktionen der weißen Frau als tugendhafte, sittsame, überlegte, ehrbare Dame fort.

Dank ausgesprochen, die sich Zeit für meine Fragen zu den Anfängen der afrikanisch-amerikanischen Fotografie nahmen. Mein großer Dank gilt den BibliothekarInnen und ArchivarInnen für ihre geduldige und bereitwillige Hilfe. Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Katholischen Hochschulgemeinde unter der Leitung von Peter Blümel hat mich durch die Arbeit hindurch begleitet. Allen KolloquiumsteilnehmerInnen möchte ich meinen Dank aussprechen, ganz besonders Eva Winkelmann, deren Ratschläge mir vor allem in der Schlussphase behilflich waren. Susanne OswaldOguejiofor sei für das kritische Korrekturlesen der Arbeit gedankt. Mizuho Uotsu, Annette Gauck, Christine und Eric Lube danke ich für die hilfreichen Gespräche, ihre Geduld und ihren Humor. Ganz herzlich möchte ich mich bei meinen Großeltern für ihre großzügige finanzielle Unterstützung bedanken. Meinem besten Freud, Dr. Christian Lenzen, gebührt mein ganz besonderer Dank. Seine tägliche Ermutigung, seine intellektuelle und menschliche Anteilnahme, seine nahezu grenzenlose Geduld und Hilfsbereitschaft haben in ganz maßgeblicher und entscheidender Weise zum Gelingen dieses Projekt beigetragen. Bei meiner Mutter sowie meiner Schwester möchte ich mich schließlich für ihr großes Vertrauen, ihren hilfreichen Zuspruch und ihre finanzielle Unterstützung bedanken, die diese Arbeit möglich gemacht haben. München, im Juni 2012

Einleitung

Ich muss, für den Anfang, auf dem einen Punkt bestehen – auf dem Felde des Sehens ist der Blick draußen, ich werde erblickt, das heißt ich bin ein Bild / tableau. (Jacques Lacan 1978, 113)

Fragestellung Die vorliegende Arbeit untersucht visuelle Prozesse afrikanisch-amerikanischer Identitätskonstruktion vor dem Hintergrund politischer, so zialer und kultureller Umbrüche, die im Wesentlichen durch die Reconstruction nach dem Bürgerkrieg, der Jim Crow-Gesellschaft und die Zeit kultureller Erneuerung in den zwanziger Jahren geprägt sind (1880-1930). Dabei werden die Instrumentalisierungen und gegenseitigen Wechselwirkungen afrikanisch-amerikanischer Selbst- und Fremdentwürfe aufgezeigt. Die Wahl der Jahrzehnte um 1900 als Betrachtungszeitraum legt den Fokus auf Funktions- und Bedeutungsverschiebungen der Identitätskonstruktionen vor dem Hintergrund tiefreichender struktureller Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft. Das herangezogene Bildmaterial wird als Ausdrucksmedium interdiskursiver Verhandlungen und Zuschreibungen verstanden, das identitäre Sinninhalte ausbildet, prägt, zurückweist. Die Arbeit hebt die Rolle der schwarzen Fotografen hervor, ihre Handlungs- und Widerstandsstrategien im Prozess der Ausdifferenzierung idenitärer Sinnhorizonte, ohne die sie umgebenden institutionellen Kontexte und Bedingungen aus den Augen zu verlieren. Die Untersuchung bezieht sich nicht aus-

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schließlich auf Repräsentationen des afrikanisch-amerikanischen Bilddiskurses, sondern befasst sich auch mit den Produktionen der dominanten Mehrheitsgesellschaft. Damit wird der Blick auf die Handlungsmuster und -optionen (agency) beider Gesellschaftsgruppen gelenkt, auf die gegenseitigen Interaktionen und Interdependenzen, die aufzeigen, wie scheinbar feste Repräsentationsmuster in unterschiedlichen Gebrauchs- und Bedeutungszusammenhängen sich verändern und variierend eingesetzt werden. Der Studie liegt der Gedanke zugrunde, dass Fotografie auf visueller Ebene den diskursiven Konstruktionscharakter (schwarzer) Identität beschreibt, die sich aus verschiedenen visuellen Selbst- und Fremdzuweisungen immer wieder neu zusammensetzt. Die Bildauswahl, die auf der Grundlage eines umfangreichen Quellenstudiums getroffen wurde, macht in der Zusammenschau einen Ausschnitt der Geschichte fotografischer Repräsentationen schwarzer Identität augenscheinlich nachvollziehbar: Von der Instrumentalisierung und Entmenschlichung schwarzer Identität auf Lynching-Fotografien im Kontext struktureller Diskriminierung der Jim CrowÄra über die Inszenierung ehrbarer Selbstbilder im Zuge des schwarzen Erneuerungsdiskurses bis hin zu künstlerischen Ansätzen in der Harlem Renaissance, die einen vorläufigen Höhepunkt im Prozess der Aushandlung eigener Identitätsbilder markiert. Das Eigene und Fremde sind nicht als absolute und konstante Bezugsgrößen gedacht, sondern als interdiskursive Konstruktionen, die über die Bilddokumente vermittelt werden. Somit fallen Kontinuitäten, Verschiebungen und Neubewertungen der Fremd- und Selbstentwürfe ins Auge. Die auf den Bildern hervorgebrachten Differenzmarkierungen müssen dabei stets im Kontext der speziellen, sozialhistorischen Situation der schwarzen Bevölkerung in Amerika gelesen werden, innerhalb der Verschiebungen, Affirmationen und Brechungen operieren und ausgetragen werden. Forschungsstand Historische, sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungsstudien haben sich vielfach mit den Repräsentationen schwarzer Identität im Kontext der literarischen Kulturproduktion auseinandergesetzt. Entgegen dieser sprachwissenschaftlichen Übergewichtung richtet die vorliegende Untersuchung ihren Schwerpunkt auf die visuelle Konstruktion kollektiver Identität, auf kulturelle Bildstrategien und -praktiken im Sinne William J. T.

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Mitchells pictorial turn1, unter Einbeziehung der in der Forschungsliteratur bislang vernachlässigten frühen schwarzen Fotografie. Die Anfänge der afrikanisch-amerikanischen Fotografie sind bisher kaum in das Blickfeld wissenschaftlicher Forschung gerückt. Die Erforschung des Feldes erfolgte bisher ausschließlich durch englischsprachige Beiträge (afrikanisch-)amerikanischer Kulturwissenschaftler, Fotografen, Kuratoren und Kunstschaffender. Eine Beschäftigung mit frühen Produktionen schwarzer Fotografen fand erstmals in den 1980er Jahren in Publikationen historiographischer Überblickswerke, Ausstellungskatalogen und biographischen Einzeldarstellungen statt2. Ein erster wichtiger Impuls ging von der Fotografiehistorikerin und Fotografin Deborah Willis aus, die 1985 eine bibliographische Einführung in das Leben und Werk von 65 Pionieren der schwarzen Fotografie vorlegte. Vor allem ihre umfassende und auch für diese Arbeit zentrale Überblicksdarstellung Reflections in Black: A History of Black Photographers, 1840 to the Present (2000) ist für eine grundlegende Einarbeitung in das Themengebiet unabkömmlich. Eingehender als

1

Der von W. J. T. Mitchell Ende des 20. Jahrhunderts geprägte Begriff der ›bildwissenschaftlichen Wende‹, der sich am Vorbild des im Jahre 1967 von Richard Rorty postulierten linguistic turn orientiert, beschreibt dabei keine Rückkehr zu »naive mimesis, copy or correspondence theories of representation«, sondern »a complex interplay between visuality, apparatus, institutions, discourse, bodies, and figurality« (16).

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Valencia H. Coar, A Century of Black Photographers, 1840-1960 (Providence, R.I.: Rhode Island School of Design, 1983). Deborah Willis-Thomas, Black Photographers 1840-1940: An Illustrated Bio-Bibliography (New York [et al.]: Garland, 1985). George Sullivan, Black Artists in Photography, 1840-1940 (New York: Cobblehill Books, 1996). Kathleen Thompson und Hilary Mac Austin, Hg., The Face of Our Past: Images of Black Women from Colonial America to the Present (Bloomington, IN: Indiana UP, 1999). Jackie Wilson, N. Hidden Witness. African American Images from the Dawn of Photography to the Civil War (New York: St. Martin’s Press, 1999). Deborah Willis, Reflections in Black: A History of Black Photographers, 1840 to the Present (New York und London: Norton & Company, 2000). International Center of Photography, Hg., African American Vernacular Photography. Selections from the Daniel Cowin Collection (New York und Göttingen: International Center of Photography und Steidl Publishers, 2005).

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alle anderen Überblickswerke verschafft Willis dem Leser auf der Grundlage eines umfangreichen Bildkorpus von knapp sechshundert Fotografien einen systematischen Überblick über 150 Jahre afrikanisch-amerikanische Fotografiegeschichte. Willis’ Publikation, die keine tiefergreifenden Analysen zu den spezifischen Arbeits- und Entstehungsbedingungen der Fotografien und deren epochaler Wandlung zulässt, steht exemplarisch für die überwiegende Mehrzahl an Arbeiten zu dem Thema3. Zwar leisten die bisher erschienenen Quellen einen wichtigen Beitrag zur zeitlichen und personellen Kartierung afrikanisch-amerikanischer Fotografie. Allerdings fehlen in den vornehmlich deskriptiven Ansätzen der Abhandlungen und Bildbände in der Regel detaillierte, interdisziplinär angelegte Forschungsperspektiven, die die Bedeutung der Bilder anhand kultur- und kunstwissenschaftlicher Analysekategorien hin analysieren. Die 2004 veröffentlichte Studie Photography on the Color Line: W. E. B. Du Bois, Race, and Visual Culture von Shawn Michelle Smith stellt eine äußerst gehaltvolle Ausnahme hinsichtlich der Einbeziehung kulturanthropologischer und -geschichtlicher Fragestellungen dar. Vor dem Hintergrund rassistisch stereotypisierender Bildarchive der Zeit untersucht die Autorin die Bildersammlungen des schwarzen Soziologen W. E. B. Du Bois am Ende des 19. Jahrhunderts, der typisierende Darstellungsmodi subvertierend anwendet und diese somit unterläuft. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit Repräsentationen schwarzer Identität aus dem Blickwinkel der südstaatlichen Lynching-Fotografie. Die zunehmende Anzahl an Arbeiten, die sich in jüngster Zeit mit der Lynching-Bildkultur beschäftigen, stellt einen Beleg für die gestiegene Relevanz dieses Themas dar. James Allen, Lewis Hilton und John Litwack stellten 1999 erstmals Lynching-Fotografien in der Ausstellung mit dem Titel Without Sanctuary. Lynching Photography in America zusammen, zu der ein gleichnamiger Bildband erschien. Wie in der 2007 erschienenen

3

Willis konstatiert in der Einleitung ihres Buches Reflections in Black einen Forschungsdefizit in Bezug auf die frühe schwarze Fotografie: »[W]hile there is a growing awareness of works by contemporary black photographers, there has been very little historical research or critical analysis of the images produced by nineteenth- and early twentieth-century African-Americans« (xv). Als Forschungsfeld sind die Anfänge der schwarzen Fotografie bis heute vernachlässigt geblieben.

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Publikation Lynching Photographs. Defining Moments in American Photography von Dora Apel und Shawn Michelle Smith fehlen bei James Allen Überlegungen zur Rekontextualisierung der Lynching-Fotografien im afrikanisch-amerikanischen Bilddiskurs. Amy Louise Wood 2009 veröffentlichte Arbeit Lynching and Spectacle: Witnessing Racial Violence in America 1890-1940 deckt diese Forschungslücke, die auch ein Anliegen der vorliegenden Studie darstellt. Das Diskursfeld wird zudem aus psychoanalytischer Perspektive mit Überlegungen zur Bildentstehung und -wirkung ergänzt. Darüber hinaus wird die Lynching-Fotografie im Kontext zeitgenössischer Positionen und Motivkomplexe in der schwarzen Fotografie besprochen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt existiert keine Literatur, die die afrikanisch-amerikanische Fotografie der zwanziger und dreißiger Jahre zu den thematischen und formalen Motivkomplexen der Harlem Renaissance setzen oder diese als Teil der Harlem Renaissance analysieren. Die vorliegende Studie erforscht die Produktionen schwarzer Fotografen der zwanziger und dreißiger Jahre aus kunstwissenschaftlicher Perspektive im Kontext der Harlem Renaissance-Ästhetik und der klassischen Avantgarde. Fotografie und Identität Das fotografische Medium ist »seit seiner Entstehung an die Frage nach der Ausbildung von Identität [und Identifikation]« (Lemke 160) geknüpft, denn es zeigt, so der Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin, einen entscheidenden Wechsel von der sinnbildlichen Repräsentation des Ich durch die Unterschrift zur eindeutigen und dauerhaften Feststellung im Bild an: Am Anfang des Identifikationsverfahrens [...] steht die Personalbestimmung durch Unterschrift. In der Geschichte dieses Verfahrens stellt die Erfindung der Photographie einen Einschnitt dar. Sie bedeutet für die Kriminalistik nicht weniger als die des Buchdrucks für das Schrifttum bedeutet hat. Die Photographie ermöglicht zum ersten Mal, für die Dauer und eindeutig Spuren vom Menschen festzuhalten. Die Detektivgeschichte entsteht in dem Augenblick, da diese einschneidenste aller Eroberungen über das Inkognito des Menschen gesichert war. Seither ist kein Ende der Bemühungen abzusehen, ihn dingfest im Reden und Tun zu machen. (550)

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In seinem einflussreichen fototheoretischen und -historischen Essay »The Body and the Archive« (1986) befasst sich Allen Sekula mit der identifikatorischen Bedeutung der Fotografie, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ein klassifizierendes Archiv zur Erfassung sozial minorisierter Gesellschaftsgruppen bereit stellte: Although photographic documentation of prisoners was not at all common until the 1860s, the potential for a new juridical photographic realism was widely recognized in the 1840s, in the general context of these systematic efforts to regulate the growing urban presence of the ›dangerous classes,‹ of a chronically unemployed subproletariat. (5)

Die Fotografie stellte nicht nur ein präzises Medium zur Kontrolle und Identifikation des Einzelnen durch den Staat dar. Gleichzeitig entdeckte das aufstrebende Bürgertum in der Bildnisfotografie ein geeignetes Ausdrucksmittel repräsentativer Selbstdarstellung. Repräsentationsbegehren im bürgerlichen Zeitalter sowie die Möglichkeit der Erfassung und Kontrolle bilden, so Sekula, zwei dialektische Momente innerhalb der Porträtfotografie: We are confronting, then, a double system: a system of representation capable of functioning both honorifically and repressively. This double operation is most evident in the workings of photographic portraiture. On the one hand, the photographic portrait extends, accelerates, popularizes, and degrades a traditional function. This function, which can be said to have taken its early modern form in the seventeenth century, is that of providing for the ceremonial presentation of the bourgeois self. (Ebd. 6; Herv. i. Org.)

Die dialektische Ordnung wird in der vorliegenden Arbeit um die künstlerische Dimension der Fotografie als ästhetisches Ausdrucksmittel ergänzt, die um 1900 in Amerika aus dem Bemühen heraus entstand, die malerischen Ausdruckswerte der bildenden Kunst nachzuempfinden. Die Studiofotografie, die versuchte, sich mittels bestimmter Beleuchtungseffekte, Druckverfahren und der Malerei entliehener Kompositionsprinzipien den malerischen Werken der bildenden Kunst anzunähern, bildete einen ersten Ausgangspunkt für ein Verständnis von Fotografie als Kunstform. Im kunstästhetisch ausgerichteten dritten Teil der Arbeit werden die Fotogra-

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fien unter besonderer Berücksichtigung der motivischen und stilistischen Vorgaben der Harlem Renaissance in Augenschein genommen. Walter Benjamins und Allen Sekulas zitierte Überlegungen liefern erste wichtige Anhaltspunkte für ein Verständnis von Identität, demzufolge Identität nicht als eine biologische und naturgegebene Einheit zu betrachten ist, sondern als eine soziale, historische, diskursiv erzeugte Kategorie, deren Bedeutung sich entsprechend ihrer historischen und sozialen Kontexte verändern kann. Der Kulturwissenschaftler Stuart Hall definiert Identität als diskursive Praxis, in der Individuen sich im Wechselspiel mit bestimmten historischen und institutionellen Parametern positionieren: Precisely because identities are constructed within, not outside, discourse, we need to understand them as produced in specific historical and institutional sites within specific discursive formations and practices, by specific enunciative strategies. Moreover, they emerge within the play of specific modalities of power, and thus are more the product of the marking of difference and exclusion, than they are the sign of an identical, naturally-constituted unity – an ›identity‹ in its traditional meaning (that is, an all-inclusive sameness, seamless, without internal differentiation). (1996a, 4)

Halls Identitätsverständnis als diskursiv hergestellte Einheit basiert auf der Vorstellung von Nation als repräsentationale Konstruktion, die in machtgebundenen Repräsentationen über sich selbst – Fotografien, Zeitdokumente, Sprache, Religion, Bräuche, etc. – ausgebildet wird: »A national culture is a discourse – a way of constructing meanings which influences and organizes both our actions and our conceptions of ourselves […]« (1996b, 613; Herv. i. Org.). Weiter führt Hall aus: [T]here is the narrative of the nation, as it is told, and retold in national histories, literatures, the media, and popular culture. These provide a set of stories, images, landscapes, scenarios, historical events, national symbols, and rituals which stand for, or represent, the shared experiences, sorrows, and triumphs and disasters which give meaning to the nation. As members of such an ›imagined community,‹ we see ourselves in our mind’s eye sharing in this narrative. It lends significance and importance to our humdrum existence, connecting our everyday lives with a national destiny that pre-existed us and will outlive us. (Ibid.; Herv. i. Org.)

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Nationen, deren Gemeinwesen, Sprache, Geschichte, Traditionen, Gebräuche, Zugehörigkeiten, stellen demnach keine natürlich gegebene, homogene, dauerhafte Instanz dar, sondern konstruierte Kategorien, die mit Hilfe kultureller Institutionen innerhalb eines staatlich organisierten Systems kultureller Repräsentationen hervorgebracht und kommuniziert werden. Nachdem die Diskurse die Ordnung und Organisation von Repräsentationen regeln, in denen das Subjekt eingeschrieben ist, ist es immer schon Teil des Repräsentationssystems und dessen herrschender Diskurse. Identität repräsentiert somit keine a priori vorhandene Wesenseinheit, sondern steht in einem unauflösbaren Zusammenhang zu den historischen und institutionellen Diskursen einer Gesellschaft, in der es fortwährend artikuliert und neu verhandelt werden muss. Judith Butlers Identitätstheorie führt diesem Verständnis nach den für die Arbeit zentralen Begriff der performance ein, der die zentrale Rolle der Präsenz des menschlichen Körpers im gestalterischen Vollzug der Repräsentationen4, d.h. im performativen Prozess der Identitätsbildung betont. Der Aspekt der Performanz ist insbesondere dann von Wichtigkeit, wenn es um identitäre Gesten der Herrschaft, Ermächtigung und Ehrbarkeit geht, die in erster Linie performativ, also körperlich, vollzogen werden. Das Augenmerk der Arbeit wird somit nicht nur auf mediale Repräsentationsstrategien gelegt, sondern auch auf spezifische Körperpraktiken, über die Identitäten und Machtpositionen formuliert werden. Bildlichen Körperrepräsentationen werden, ebenso wie den körper-

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Stuart Halls Repräsentationsbegriff fußt auf einer am Geist anzusetzenden, textbasierten Vorstellung von Repräsentation, die er als eine Doppelstruktur aus mentalen Konzepten oder Landkarten einerseits und kommunikativen Zeichen andererseits auffasst: »At the heart of the meaning process in culture […] are two related ›systems of representation‹. The first enables us to give meaning to the world by constructing a set of correspondences or a chain of equivalences between things – people, objects, events, abstract ideas, etc. – and our system of concepts, our conceptual maps. The second depends on constructing a set of correspondences between our conceptual map and a set of signs, arranged or organized into various languages which stand for or represent those concepts. The relation between ›things‹, concepts and signs lies at the heart of the production of meaning in language. The process which links these three elements together is what we call ›representation‹« (1997, 19).

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lichen Repräsentationen, eine Handlungskomponente zugesprochen – ganz im Sinne Horst Bredekamps Konzept des verhaltenswirksamen Bildakts: sie führen etwas vor, bringen etwas hervor, um zu unterwerfen, kontrollieren, disziplinieren oder aber eben auch zu nobilitieren. Repräsentationen und die ihnen zugrunde liegenden Körperpraktiken stellen keine starren, zeitüberdauernden, absoluten Größen dar und lassen sich nicht nur auf einen einzelnen Diskurs festschreiben – sie stellen flexible Konstruktionen dar, die ihre Bedeutung und Wirkmacht in verschiedenen Diskursformationen entsprechend variieren. Zur Analyse von Bedeutungsverschiebungen und Brechungen mit herrschenden Mustern und Sichtweisen erscheint es deshalb notwendig, die spezifischen zeitlichen und kulturellen Konstellationen mit einzubeziehen, in denen der Kampf um die Konstruktion von Bedeutung ausgetragen wurde. Entscheidend dabei ist, die Diskursformationen der weißen und schwarzen Bevölkerung nicht als voneinander unabhängig zu betrachten, sondern als eng miteinander verwobene Aushandlungsprozesse. Fotografie als Herrschafts-, Selbstdarstellungs- und künstlerisches Ausdrucksmedium Vorgehensweise Die Arbeit wendet einen an Michel Foucaults Diskurstheorie orientierten Diskursbegriff an, der Bild- und Handlungspraxen in den Vordergrund rückt5. Unter dem Begriff Diskurs ist die »Gesamtheit aller schriftlichen, mündlichen, bildlichen oder sonstigen zeichenhaften Hervorbringungen und Praktiken« (Baberowski 22) gemeint, über die sich afrikanischamerikanische bzw. amerikanische Identität(sentwürfe) herstellt. Diskursverläufe werden in Beziehung zu historischen, soziokulturellen Verläufen und Mechanismen analysiert, die über die Aufnahme von Denk- und Repräsentationsmuster in die gültige Wissensordnung entscheiden und damit als denk- und repräsentierbar gelten. Zeichenhafte Repräsentationen und

5

Zum Foucault’schen Diskursbegriff vgl. hierzu: Michel Foucault, Eine Archäologie des Wissens (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997) und Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997).

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kulturelle Praxis stehen sich nicht unversöhnlich gegenüber, sondern verschränken sich zu einer komplexen, diskursiv erzeugten Ansammlung geregelter Verfahren, in deren Rahmen immer wieder neu verhandelt wird, was in die gültige Denkordnung aufgenommen wird, und was als nicht denk-/repräsentierbar außen vor bleibt. Diskurse strukturieren und vermitteln zunächst die Regeln dessen, was gesagt wird und wie darüber geredet wird. Durch die Analyse diskursiver Verhandlungen und Repräsentationen können Rückschlüsse auf die herrschenden Machtverhältnisse und ihrer repräsentationalen Praktiken gezogen werden. Der über das fotografische Medium ausgetragene Rassendiskurs des 19. Jahrhunderts war der nachhaltigen wie folgenschweren Etablierung und Förderung diskreditierender, afrikanisch(-amerikanischer) Alteritätskonstruktionen verpflichtet, die es den Angehörigen der weißen Dominanzgesellschaft ermöglichen, sich in Relation dazu als zivilisiert, höherwertig, legitim, etc. herzustellen. Diskurse und die darin entworfenen Repräsentationen werden nicht von einer autonomen, undurchlässig abgeriegelten Diskurshoheit allein veranlasst und ausgetragen. Die diskursive Praxis lebt von der stetigen (Neu)Anwendung vorhandener Diskursformationen und Denkordnungen und ist nicht mit dem Faktum dieser Formationen identisch. Dadurch eröffnen sich von dominanten Diskursstrukturen abweichende Handlungsspielräume, die auf die Verläufe hegemonialer Diskurse subversiv eingreifen können. Die Studie analysiert die von den herrschenden Diskursstrategien abweichenden, afrikanisch-amerikanischen Positionen, Repräsentationsmechanismen und Gegenstrategien. Durch die Untersuchung amerikanischer und afrikanisch-amerikanischer Bilddiskurse gelingt es, die Konstruktionsprozesse und der durch sie hervorgebrachten Fremd- und Selbstentwürfe nationaler und ethnischkultureller Identität aufzuzeigen, die die Praxis des Denkens und Handelns selbst veränderten. Dafür wurden drei aufeinander aufbauende Diskursfelder ausgewählt, die sich weitestgehend an der von Sekula beschriebenen zweigeteilten visuellen Ordnung orientieren. Der Aufbau der Arbeit folgt einem chronologischen Ablauf, der die Entstehungsbedingungen identitärer Konstruktionen in Bezug zu den sich ändernden historischen Gegebenheiten setzt. Die chronologisch gegliederte Arbeit erlaubt einen Einblick in die Funktionsgeschichte und den Funktionswandel der Repräsentationsmuster und -strategien, in ihre Brechungen und Kontinuitäten. Die gewählten diskursiven Felder werden nicht als gegensätzliche Diskurskomplexe verstan-

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den – es wird vielmehr eine Interdependenz im Sinne einer fortschreitenden reziproken Integration angestrebt. Überwachung und Kontrolle im hegemonialen Bilddiskurs Der erste Analyseabschnitt ist mit dem hegemonialen Bilddiskurs befasst. Er umfasst hauptsächlich die beiden letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts und bezieht sich auf verschiedene dominante Repräsentationsstrategien der weißen Gesellschaft. Die darin zum Ausdruck kommenden Formen der Differenzmarkierung liefern zentrale identitätslogische Knotenpunkte, die für eine nachfolgende Bestimmung afrikanisch-amerikanischer Identitätskonstruktionen entscheidend sind. Der Beginn des ersten Teils analysiert Repräsentationen der schwarzen Haussklavin auf den Familienporträts weißer Sklavenhalter. Diese frühen Bilddokumente, die in der Zeit der Sklaverei gefertigt wurden, fallen vor den gewählten Untersuchungszeitraum. Dennoch soll zu Beginn der Arbeit ein Rückgriff auf dieses Motiv erfolgen, da es einen zentralen Identitätsentwurf schwarzer Weiblichkeit darstellt, der sich bis in die Gegenwart in Meinungsbildern und Rollenentwürfen gehalten hat. Ihre zeitüberdauernde Wirkmacht zeigt sich in den Versionen und Revisionen dieses Motivs in der schwarzen Fotografie der zwanziger und dreißiger Jahre, die im dritten Teil der Untersuchung analysiert werden. Die typologische und Lynching-Fotografie diente als regulatives Kontroll- und Erfassungsinstrument, auf der sich die Differenz und Unterlegenheit, die Gefahr und Bedrohung des schwarzen Menschen und die daraus resultierenden Ausgrenzungs-/Inferiorisierungsmaßnahmen festschreiben. Mit der Erfindung der Fotografie wurde die personale Repräsentation unter der Prämisse ideologisch motivierter Rassenlehren neu konzipiert. Hierarchisierungskonzepte zur Bestimmung der unterschiedlichen ›Menschenrassen‹ basieren auf der Lehre der Physiognomik, die die physiologischen Erscheinungen des Körpers, besonders des Gesichts, mit innerseelischen Dispositionen in Beziehung setzt. Rassendiskurse des 19. und 20. Jahrhunderts bedienten sich großzügig dieser Annahmen und zogen sie als ›wissenschaftliche‹ Grundlage für ihre rassistischen Theorien heran, die eine Einteilung der Menschen in ›höher entwickelte‹ und ›unterlegene Rassen‹ vorsahen. So unterstellten die rassenideologisch-anthropometrischen Lehren des ausgehenden 19. Jahrhunderts einen Zusammenhang

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zwischen anatomischen Erscheinungen, wie Hautfarbe, Knochenbau, Gesichts- und Schädelproportionen, und den geistig-intellektuellen Fähigkeiten des Menschen. Diese Theorien wurden stets von visuellen typologisierenden Verfahren begleitet, wobei der Fotografie die Funktion zukam, die Evidenz dieser Annahmen ›plausibel‹ erscheinen zu lassen und sie damit als natürlich gegeben vorauszusetzen. Dem Darstellungsraster des über die Merkmale des Körperlichen hierarchisierenden Archivs folgte die Lynching-Fotografie. Die Umbrüche, die der Bürgerkrieg und die Rekonstruktionszeit vor allem in den Südstaaten Amerikas auslösten, formulierten sich auf repräsentationaler Ebene vorrangig als Kampf um den schwarzen Körper. Als visuelle Praktik, die dem offiziellen Diskurs angehörte, operierte die Lynching-Fotografie an einer Stelle des Bildarchivs, das der Rückeroberung verlorener (körperlicher) Herrschafts-/Besitzansprüche und eindeutiger Grenzmarkierungen geschuldet war. Die dabei zur Schau getragenen Differenzmarkierungen positionieren den schwarzen Mann als eine die nationale Gemeinschaft gefährdende Bedrohung, als eine nicht zum nationalen Gemeinwesen zugehörige Figur des Anderen. Das (psychisch) Ausgeschlossene/Verdrängte kehrt nach Freud im Realen zurück und das Reale wiederum erweist sich als neurotische Welt, die von Wahn, Chaos und Vernichtung bestimmt ist. Im Ausgang an den Freud’schen Begriff des Unheimlichen wird versucht, eine Verbindung vom Phänomen des Unheimlichen zum hegemonialen Wahn des Rassismus zu ziehen. Die Lynching-Fotografie wird damit einer doppelten (psychoanalytischen und kulturwissenschaftlichen) Analyse unterzogen. Die Diskurse der Lynching- und typologischen Fotografie zeigen sich als repräsentationale Strategie, in der die Figur des Anderen als Referenzpunkt für die Positionierung des hegemonialen weißen und zugleich marginalisierten schwarzen Subjekts diente6. Repräsentationsmuster, die sich auf die afrikanisch-amerikanische Bevölkerung beziehen, sind deshalb ebenfalls stets unter Berücksichtigung der weißen Bevölkerung zu untersuchen,

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»The general, all-inclusive archive«, so Sekula über die Wesensstruktur typologischer Archive, »necessarily contains both the traces of the visible bodies of heroes, leaders, moral exemplars, celebrities, and those of the poor, the diseased, the insane, the criminal, the nonwhite, the female, and all other embodiments of the unworthy« (10).

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da Konstruktionen schwarzer und weißer Identität konstitutiv miteinander verschränkt sind. Rasse wird im Sinne der englischen Verwendung von race als soziokulturell und -historisch konstruierte Analysekategorie mit Fokus auf visuell operierende Klassifikationen des abgebildeten menschlichen Körpers gedacht. Ähnliches trifft auch für die Kategorie des sozialen Geschlechts (gender) zu, das sozial und kulturell mittels diskursiver Zuschreibungen konstruiert und über wiederkehrende Inszenierungen, d.h. sich wiederholende ›geschlechtstypische‹ Aufführungen des Körpers, performativ ausgeführt wird, die in der Folge als natürlich gegeben betrachtet werden (vgl. Butler 1994, 32-39). Die auf das System der Sklaverei zurückzuführenden diskursiven Elemente schwarzer Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen bringen die enge Verzahnung sexistischer und rassistischer Codierungen zum Ausdruck (vgl. Windus 274). Die Abweichung der Geschlechterrollen von schwarzen Männern und Frauen von der herrschenden Geschlechterordnung, die die ›geschlechtsuntypische‹ Arbeitsaufteilung während der Sklaverei bewirkte7, schreibt sich bis in die Gegenwart als repräsentationale Ausschlussstrategie gegen schwarze Menschen fort. Die ebenfalls auch nach der Abschaffung der Sklaverei in den dominanten Diskursformationen entwickelten Repräsentationen von vermännlichten (aggressiven/animalischen) schwarzen Frauen, denen im Gegenzug feminisierte (infantilisierte/dümmliche) Männer gegenüberstehen, verdeutlichen die gegenseitigen Verschränkungen von Rassismus und Sexismus, die auch für den schwarzen Mann zutreffen. Den diese Fremdentwürfe unterwandernden Gegendiskursen schwarzer Fotografen und Maler werden in dieser Studie nachgegangen.

7

Sklavenhalter wiesen ihren Sklavinnen Arbeiten zu, die der dominanten Geschlechterordnung zufolge üblicherweise von Männern verrichtet wurden. Dies führte zu einer Verwischung der vom hegemonialen Diskurs festgeschriebenen geschlechtstypischen Rollenverteilung innerhalb der schwarzen Bevölkerung, die bis heute in Form stereotypischer Zuschreibungen wirkt (vgl. Windus 231; 275).

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Fortschritt und Erneuerung – Afrikanisch-Amerikanische Bildnisfotografie Der zweite Arbeitsabschnitt befasst sich mit Strategien der Selbstermächtigung und -erneuerung im afrikanisch-amerikanischen Bilddiskurs. Ein entscheidendes Diskursfeld zur Destabilisierung hegemonialer Alterisierungsstrategien stellte der afrikanisch-amerikanische Fortschritts- und Erneuerungsdiskurs in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts dar. Zunächst soll vorausgeschickt werden, dass sich der schwarze Bilddiskurs nicht ausschließlich auf die Produktionen schwarzer Fotografen, sondern auch auf Bilder für die vorliegende Studie relevant erscheinender, weißer Fotografen bezieht, auf denen afrikanisch-amerikanische Identität verhandelt wird. Die Einbindung der nicht afrikanisch-amerikanischen Fotografen Frances B. Johnston und Carl Van Vechten erfolgt aufgrund der Feststellung, dass der schwarze fotografische Identitätsdiskurs für den gewählten Untersuchungszeitraums in ganz entscheidender Weise durch diese beide Personen geprägt wurde. Der diskurstheoretische Ansatz der Arbeit impliziert zunächst, dass die Akteure stets in bestimmte sozialhistorische Diskursformationen eingebunden sind, aus denen heraus sie agieren können. Eine derartige Verortung bedeutet allerdings nicht, dass den Subjekten keine alternativen Handlungsspielräume zur Formulierung neuer, von den herrschenden Diskursmustern abweichender Deutungsmuster zur Verfügung stünden. Wie Homi K. Bhabha und Judith Butler ausführlich aufzeigen, unterliegen Konstruktionen aufgrund ihrer steten (Neu)Anwendung innerhalb unterschiedlicher soziokultureller und -historischer Zusammenhänge keinen starren Vorgaben. Dadurch ergeben sich Möglichkeiten der kulturellen Selbstbestimmung und Entwicklung alternativer Muster. Der Blick wird auf schwarze Fotografen als bewusst handelnde Diskursteilnehmer gelenkt, die – zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen oszillierend – im Kampf um Bürgerrechte und Gleichberechtigung bestimmte identitätspolitische Repräsentations-/Gegenstrategien entwarfen und verfolgten. Zentrales Konstruktionselement des afrikanisch-amerikanischen Erneuerungsdiskurses bilden die Aspekte der Ehrbarkeit und der davon abzuleitenden sozialen Attribute – Besitz, Bildung, kulturelle Beflissenheit –, die in den zu Beginn des 20. Jahrhunderts visuell gefassten Konzeptionen des ehrbaren New Negro zur Geltung drängen. Im Kern liegt den erfolgs-, fortschritts- und bildungsbetonten Repräsentationen des neuen Schwarzen als

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afrikanisch-amerikanisches Pendant des weißen bildungsbürgerlichen Staatsbürgers die in den Rassentheorien der Zeit vorgenommene Kategorisierung der Menschen in ›höherwertige‹ und ›inferiore‹ Rassen zugrunde. Afrikanisch(-amerikanische) Komponenten, die durch die Appropriation europäischer Elemente ›zivilisiert‹ werden, sind als Kriterien der Andersheit weitestgehend aus dem Sichtfeld verdrängt. Die Konstituierung afrikanisch-amerikanischer Zugehörigkeitsmuster erfolgte über die Selbstverortung als vollwertiger ehrbarer Bürger, d.h. als Einbindung in das sozialpolitische und historische Gemeinwesen. Die Aneignung von Ausdrucksformen und Motiven des nationalen Identitäts- und Erinnerungsdiskurses (Patriotismus, Bildung, Kultiviertheit, etc.) implizierte den Einschluss in den legitimen Volkskörper und die daraus zu antizipierenden Möglichkeiten sozialer Partizipation. Auf privater Ebene wurde in den Dekaden um 1900 der afrikanischamerikanische Erneuerungsdiskurs in der Performanz ehrbarer Selbstbilder innerhalb der repräsentativen Porträtfotografie fortgeschrieben. Diese nahm eine wichtige Funktion hinsichtlich der Egalisierung repräsentativer Selbstdarstellung ein. Schwarze aller Bevölkerungsschichten nutzten die neue Möglichkeit zur Anfertigung ehrbarer Selbstbilder, die zuvor nur den gehobenen Schichten vorbehalten war. Der Abschnitt über die afrikanischamerikanische Porträtfotografie geht auf die Identitätstheorie von W. E. B. Du Bois ein, die das Spannungsverhältnis zwischen schwarzer und amerikanischer/nationaler Identität – den ambivalenten Doppelstatus der gleichzeitigen In- und Exklusion – mit dem inzwischen kanonisch verwendeten Begriff der double consciousness beschreibt. Du Bois’ double concsiousness-Problematik stellt den für die Argumentationslinie der Arbeit so bedeutsamen Aspekt des Sehens als konstitutiven Moment der Subjektkonstituierung heraus. Du Bois’ Überlegungen zu den subjekt- und identitätskonstitutiven Bedeutungen des Blicks werden mit den theoretischen Erklärungsansätzen des Lacan’schen Spiegelstadium-Modells in Einklang gebracht, das die beiden Elemente des (Ich-)Bildes (Spiegel-Imago) und des Blicks zur Ichkonstituierung hervorhebt. Der malerische Charakter der Porträtfotografie, der von der sinnlichen Überhöhung der Wirklichkeit ausgeht, liefert einen ersten Ausgangspunkt für das Künstlerische in der Fotografie, auf das unter besonderer Berücksichtigung der schwarzen Ästhetikbewegung der Harlem Renaissance im nachfolgenden und letzten Analyseabschnitt eingegangen wird.

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Ästhetischer Diskurs – New Negro und die Harlem Renaissance Der dritte Themenabschnitt untersucht ästhetische Positionen innerhalb der afrikanisch-amerikanischen Fotografie der zwanziger und dreißiger Jahre. Für die Betrachtung werden hervorstechende, den Geist der Epoche maßgeblich widerspiegelnde Fotografen herangezogen: James VanDerZee, Morgan und Marvin Smith und Carl Van Vechten. Die Bilder liefern allesamt eine klare künstlerische Abrechnung mit homogenen, nationalistisch geprägten Repräsentationsentwürfen, die der assimilierende Fortschrittsdiskurs nur einige Jahre zuvor hervorgebracht hat. Die Fotografien werden mit den Motiven und Stilformen der afrikanisch-amerikanischen Erneuerungsbewegung der Harlem Renaissance in Beziehung gesetzt, die Ursprünge afrikanisch-amerikanischer Identität sowie schwarze Lebens- und Ausdrucksformen zu Kernthemen ihrer Ästhetik erklärte. Dabei offerierte die vielgestaltige Figur des New Negro im Gegensatz zu seinem verbürgerlichten Vorläufer der Jahrhundertwende einen integrativen Ansatz, der identitätsstiftende Funktionen auch für andere marginalisierte Bevölkerungsgruppen übernehmen konnte. Eine Analyse der gegenseitigen ästhetischen Bezugnahmen von Malerei und Fotografie während der Harlem Renaissance ist in der Forschung bislang ausgeblieben. Es gilt zu klären, inwieweit die Fotografen eine spezifische Harlem Renaissance-Ästhetik wiedergaben, die im größeren Rezeptionskontext als Teil der klassischen Moderne aufzufassen ist. Entscheidend für den künstlerischen Wert der fotografischen Aufnahmen bilden neben den formalen und stilistischen Gesichtspunkten die bildlichen Umsetzungen eines (multi)kulturellen Identitätskonzepts. Die Analyse schwarzer Weiblichkeitsrepräsentationen in der afrikanisch-amerikanischen Fotografie der zwanziger und dreißiger Jahre wird zum Gegenstand einer genaueren Betrachtung. Die geschlechtspolitische Perspektivierung ästhetischer Körperrepräsentationen erfolgt als Thematisierung des machtpolitisch funktionalisierten schwarzen Frauen- und Familienbildes. Die hierbei ausgewählten Motive rekurrieren auf den Topos der realhistorisch existierenden, durch stereotypische Fremdentwürfe verzerrten Figur der schwarzen Haussklavin, die für schwarze Frauen bis heute eine zentrale, gleichwohl abwertende Identifikationsgröße darstellt. Der Schwerpunkt liegt auf der Herausarbeitung der engen Verschränkung von Männlichkeitsdiskurs und der ehrbaren Festschreibung des weiblichen Körpers. Die Einbeziehung der gender-kritischen Perspektive ist im Hin-

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blick auf den afrikanisch-amerikanischen Identitätsdiskurs insofern von Bedeutung, als eine Klärung der Funktionen des schwarzen Frauen- und Familienbildes nähere Aufschlüsse über Konstruktionen schwarzer Männlichkeit liefert. Meine Schlussbetrachtung stellt die zentralen Folgerungen und Untersuchungsergebnisse zur Disposition. Der abschließende Ausblick ist mit einer kurzen Abhandlung zum zeitgenössischen schwarzen Fotografiediskurs befasst8. Die referentielle Folie zeitgenössischer Arbeiten liefern in erster Linie typologisierende Repräsentationsformen, die im ersten Themenabschnitt der Arbeit genauer dargestellt wurden. Die zeitgenössische Fotografie bringt die Aktualität und Wirkmacht typisierender Repräsentations- und Wahrnehmungsmuster zum Vorschein, die das afrikanisch-amerikanische Selbstverständnis bis heute maßgeblich prägen.

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Kerstin Brandes’ 2010 erschienene Arbeit Fotografie und »Identität«. Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre, die sich in weiten Teilen mit afrikanisch-amerikanischen Identitätskonstruktionen in der Fotografie des ausgehenden 20. Jahrhunderts befasst, empfiehlt sich als weiterführende Lektüre. Was den theoretischen Bezugrahmen betrifft, kommt es an einigen Stellen zu Überschneidungen, insbesondere im Hinblick auf Homi K. Bhabhas Anwendung des Konzepts des Dritten Raumes.

Teil I: Inferiorisierung schwarzer Identität im hegemonialen Bilddiskurs (1880-1900)

 Abb. 1: Unbekannt, Portrait of Nurse and Young Child, ca. 1850

1. (U N )S ICHTBARKEIT

DER

B LACK M AMMY

Für den Einstieg in das erste Themenfeld wähle ich das Motiv der black mammy, das erste grundlegende Aufschlüsse über repräsentationale Mechanismen der visuellen Gemeinschaftskonstruktion zu geben vermag. Da das black mammy-Motiv als Ding-Körper für das vollständige Auslöschen

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des realen Körpers in der männlich-patriarchalen Blickkultur zu verstehen ist, steht sie in struktureller und funktionaler Nähe zur Lynching/typologischen Fotografie, die unmittelbar im Anschluss an die vorliegende Diskussion erörtert wird. Zudem erfährt das black mammy-Motiv, das bis heute einen wichtigen Topos des schwarzen weiblichen Identitätsdiskurses in Amerika beschreibt1, in der Besprechung der Bildwerke schwarzer Fotografen der zwanziger und dreißiger Jahren im künstlerisch ausgerichteten dritten Teil eine ästhetische Revision. Zunächst ist festzustellen, dass die historische Figur der schwarzen Haussklavin seit Beginn der Fotografie vertreten und somit ebenso für Weiße wie Schwarze als reale Gedächtnisfigur bis in die Gegenwart präsent und verfügbar ist. Die fotografische Präsenz auf Familienporträts weist auf ihren gesonderten Status innerhalb der Sklavenhierarchie. Ihre niedere Rangstellung innerhalb der weißen Sklavenhaltergemeinschaft lässt sich auf der Ebene der ästhetischen Repräsentation nachzeichnen: auf Familienporträts wird die Mammy häufig an den Rand neben der Besitzerfamilie und auf gleicher Sitzhöhe des jüngsten Kindes positioniert. Kompositorisch bildet sie eine Art Gegengewicht zu der stabilen, einheitlich geschlossenen weißen Familieneinheit. »[E]mploying mammies«, so die Soziologin Patricia Hill Collins über das hierarchische Ordnungsgeflecht sklavenhaltender Haushalte, »buttresses the racial superiority of White women employers and weds them more closely to their fathers, husbands, and sons as sources of elite White male power« (72). Der sozialen Ausschließung der Hausskla-

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»Black women intellectuals«, so Patricia Hill Collins, »have aggressively criticized the image of African-American women as contented mammies. […] But despite these works, the mammy image lives on in scholarly and popular culture« (80). Über die verhaltenswirksamen Auswirkungen des Mammy-Topos auf schwarze Mutterschaft und Erziehung führt Collins weiter aus: »Regarding racial oppression, controlling images like the mammy aim to influence Black maternal behavior. As members of African-American families who are most familiar with the skills needed for Black accommodation, Black mothers are encouraged to transmit to their own children the deference behavior that many are forced to exhibit in their mammified jobs. By teaching Βlack children their assigned place in White power structures, Black women who internalize the mammy image potentially become effective conduits for perpetuating racial oppression« (ibid.).

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Abb. 2: Thomas Martin Easterly, Portrait of a Father, Daughters, and Nurse, ca. 1850

vin gegenüber setzt sich die patriarchale (Familien)Ordnung als intakt und heil in das Bild. Wohl genährt und gut gekleidet in respektable Form gebracht wird die black mammy auf bildästhetischer Ebene zur kulturellen Selbstvergewisserung sowie für idealisierende Selbstentwürfe missbraucht, die von dem Plantagenleben und der Sklaverei als eine human verträgliche, erinnerungswürdige Gesellschaftsform berichten. Ihr Abbild stabilisierte die Fiktion der harmonischen Gemeinschaft, die, um bestehen zu können, ihre inneren Widersprüchlichkeiten ignorieren musste. Aus dem Blickwinkel weißer, verklärender Selbstdarstellung enthält die fotografische Präsenz der black mammy fiktive Elemente, die zur Befriedigung weißer Lebensbedürfnisse immer sozial wirksam sind. So ist es das Fiktive am Bild der black mammy, das in die Wirklichkeit eindringt und sich auf die subjektiven Sinnbedürfnisse der weißen Gemeinschaft konkret, d.h. affirmativ, auswirkt. Ihr gehobener Sklavenstatus bekundet sich in der guten Kleidung. Dieses Anrecht auf bessere Kleidung ist im Kontext des fotografischen Familienporträts allerdings stärker unter dem Blickwinkel der repräsentativen Ansprüche der Pflanzerfamilie zu werten, denn die Mammy als Bestandteil des weißen Haushaltes spiegelt letztlich auch den gesellschaftlichen Status der Familie wider. Die Haussklavin kann sich kein Bild von sich selbst schaffen, sondern nur ein trügerisches Wunschbild erfüllen, also

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versteinerter, lebloser Teil einer Einbildung sein. Die Sicht auf die Porträtbilder ist ein vom Widerspruch zwischen Leben und Tod, zwischen völliger Entmachtung und dem Phantasma würdiger Bildpräsenz bestimmter Blick. Eine zweite, häufig zum Einsatz kommende Repräsentationsform zeigt die schwarze Haussklavin allein mit ihrem Schutzbefohlenen, die sich zumeist auf dem Schoß der Amme befindet. Der bildlich fixierte Moment vertrauter Zweisamkeit verdichtet die ihr zugewiesene Rolle der sanftmütigen, leidenden, sorgenden und fügsamen Nähr- und Ziehmutter. Geschichts-, geschlechts- sowie identitätsloses Wesen einerseits – erweist sie sich zugleich als gespenstisches Übermutterfigurenphantom, das für die absolute Funktionalisierung des schwarzen weiblichen Körpers als griffbereite Liebes- und Milchquelle steht. Auf einigen der Zweierkonstellationen werden – in deutlichem Kontrast zu den gefühlsarmen Familienarrangements – intime Momente der Fürsorge und Zuneigung sichtbar: so wendet sich auf einer Daguerreotypie aus dem Jahre 1848 das Kindermädchen behutsam dem schutzbedürftigen Kind zu, wobei es die Hand sanft auf das kleine Köpfchen des Mädchens legt, während die andere das Ärmchen des Kindes umgreift. Die ambivalenten Beziehungsverhältnisse der schwarzen Mammy zu dem weißen Kind sind in dem herrschenden System verankert, das die untergebene Position der Sklavin zu ihren weißen Besitzern festschreibt. Das weiße Kind steht als Dispositiv für eine Erfahrung von Mutterschaft, die in jeder Hinsicht traumatisch erfahren werden musste. Es beschreibt eine Gegenfolie zum namenlosen, an Rand des Sichtbaren verdrängten Schrecken, es symbolisiert die schemenhafte, helle Spur des eigenen, unwiederbringlichen Verlusts; es steht für die natürliche Sehnsucht nach familiärer Harmonie und Einheit, die der schwarzen Amme durch das Sklavereisystem für immer entzogen wurde. In ihrer diktierten Autobiographie »The History of Mary Prince, A West Indian Slave« (1831) berichtet rückschauend die Haussklavin Mary Prince über ihre Zuneigung zu den ihr anvertrauten Schützlingen: »All my employment at this time was nursing a sweet baby, little Master Daniel; and I grew so fond of my nursling that it was my greatest delight to walk out with him by the sea-shore, accompanied by his brother and sister, Miss Fanny and Master James« (2). Der ihre Integrität bestätigende Schreib- und Leseunterricht, den sie von ihrer Schutzbefohlenen »Miss Fanny« erhält, trägt maßgeblich zur zeitweiligen Linderung ihrer Lebenssituation bei: »Dear Miss Fanny! She was a sweet, kind young lady, and so fond of me that she

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wished me to learn all that she knew herself. […] But this happy state was not so long. Those days were too pleasant to last. My heart always softens when I think of them« (ibid.). Die emotionale Nähe und Vertrautheit zu den Kindern akzentuierend steht die Sklaverei allerdings niemals einfach fraglos in Geltung – die Existenz als Sklavin ist in den persönlichen Aufzeichnungen immer auch von Aggression, Verbitterung und eindringlicher Kritik durchsetzt, die sich am Ende des Textes in einer allgemeinen Infragestellung des Herrschaftssystems äußert: I am often much vexed, and feel great sorrow when I hear some people in this country say, that the slaves do not need better usage, and do not want to be free. They believe the foreign people, who deceive them, and say slaves are happy. I say, Not so. How can slaves be happy when they have the halter round their neck and the whip upon their back? and are disgraced and thought no more of than beasts? – and are separated from their mothers, and husbands, and children, and sisters, just as cattle are sold and separated? […] There is no modesty or decency shown by the owner to his slaves; men, women, and children are exposed alike. […] The man that says slaves be quite happy in slavery – that man is either ignorant or a lying person. (Ebd. 22-23)

Kann sich die Institution der Sklaverei nun uneingeschränkt auf bürgerlichen Familienporträts als intakte Gesellschaftsform behaupten, so werden in Sklavennarrationen Perspektiven zum Ausdruck gebracht, die die skrupellosen Auswüchse und Gewalt des herrschenden Gesellschaftssystems in Augenschein nehmen. In ihrem Fordern nach einem menschlichen Umgang, nach Stabilität und Freiheit gelingt es der Erzählerin, trotz der destruktiven Auswirkungen des Systems auf Körper und Seele, eine kritische Distanz zu ihrer Umgebung zu wahren und sich auf textlicher wie geistiger Ebene als freies, soziales, menschliches Wesen zu konstituieren. Die bildlich porträtierte Sklavin verkörpert ein höchst paradoxes Konstrukt, als sie eine Nicht-Präsenz in der Präsenz figuriert. Für sie existiert keine Möglichkeit, sich mitzuteilen, zu agieren – ganz zu schweigen davon, sich in irgendeiner Form von den bestehenden Beziehungsabhängigkeiten und Machtverhältnissen frei zu machen. Das Bild macht aus dieser Perspektive nicht sichtbar, was ist, sondern vielmehr, was nicht präsent ist. Und es ist diese Nicht-Präsenz der schwarzen Haussklavin auf dem Bilde, die die enorme Wirkmacht des weißen männlichen Blickregimes offenbart. Ihr

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sozialer Ausschluss wird auf ästhetischem Wege unverändert weitergeführt. Der bildliche Mord an der black mammy2, d.h. die bildliche Negation schwarzer, weiblicher Präsenz im männlich-patriarchalen Blick-/ Bildregime schärft den Blick für repräsentationale Ausschlussmechanismen des (Un)Sichtbarmachens. Dabei handelt es sich in erster Linie um die sichtbare Repräsentation des Eigenen als ideales, maßgebendes Leitbild mittels der sichtbaren Repräsentation des Fremden/Anderen als inferiores Anti-Bild. Die soziale Verfasstheit der schwarzen Haussklavin, die als Paradox beschrieben wurde, als stabilisierende Stütze der soziokulturellen Ordnung einerseits und verschwiegenes, unsichtbares Opfer andererseits, als Sichtbares und doch Unsichtbares, als eine innerhalb und doch außerhalb der weißen Familieneinheit verortete Figur des Dazwischen, ist wesentlich bestimmt durch ihre Sichtbarmachung bzw. Unsichtbarmachung – eine machtpolitische Repräsentationsstrategie, die, wie im Folgenden nachgegangen wird, auch die Repräsentationsmechanismen der typologisierenden und Lynching-Fotografie strukturiert: Auch hier wird die Figur des Anderen zum Zwecke der Kontrolle und Identifikation zunächst als Zeichen der Inferiorität und Minderwertigkeit sichtbar gemacht, um es zugleich vollständig zu entmachten/auszulöschen/zum Verschwinden zu bringen.

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Die repräsentationale Strategie der Unsichtbarmachung in Amerika trifft nach Meinung der afrikanisch-amerikanischen Kulturwissenschaftlerin bell hooks in besonderem Maße auf schwarze Frauen zu. In der Einführung ihres Buches Ain’t I a Women notiert sie dazu: »No other group in America has so had their identity socialized out of existence as have black women. We are rarely recognized as a group separate and distinct from black men, or as a present part of the larger group ›women‹ in this culture. […] When black people are talked about the focus tends to be on black men; and when women are talked about the focus tends to be on white women« (7; Herv. i. Org.).

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2. F OTOGRAFIE UND I DENTITÄT : T YPOLOGISCHE K ONSTRUKTIONEN Soziale Situation nach dem Bürgerkrieg Da der hegemoniale Bilddiskurs nachfolgend weitestgehend im Kontext des strukturellen Wandels des Nachkriegssüdens (typologische Fotografie/Lynching-Fotografie) angesiedelt ist, soll ein kurzes Wort über die soziale Situation der schwarzen Bevölkerung nach dem Ende des Bürgerkriegs verloren werden. Verglichen mit der epochalen Bedeutung der Sklavenbefreiung konnte der gesellschaftspolitische Strukturwandel, den die Rekonstruktion (1867-1877) zur Folge hatte, den Erwartungen der schwarzen Bevölkerung kaum Rechnung tragen. Ein entscheidender Grund für das Scheitern einer umfassenden Neuordnung des amerikanischen Südens lag an dem Umstand, dass die existierenden Besitz- und Machtverhältnisse politisch nicht reformiert werden konnten. Weder die Bundesregierung noch die einzelnen Staatenparlamente setzten sich vehement genug für eine umfassende Bodenreform ein, die es den ehemaligen Sklaven ermöglicht hätte, als selbständige Farmer ihren Lebensunterhalt zu verdienen. So blieben die alten Abhängigkeitsverhältnisse größtenteils bestehen. Ein kleiner Teil der schwarzen Bevölkerung wanderte in die Industrie ab oder konnte Farmland erwerben. Die überwiegende Mehrheit der schwarzen Amerikaner jedoch arbeitete als Lohnarbeiter oder landlose Kleinpächter (sharecroppers) auf den alten Plantagen im Süden des Landes (vgl. Heideking 181-183). Die strukturelle Ausgrenzung des schwarzen Bevölkerungsteils ist auf den tief verankerten Rassismus in der weißen Bevölkerung zurückzuführen, der durch biologistische Rassentheorien untermauert wurde. Nach Mitte des 19. Jahrhunderts bildete sich in den amerikanischen Human- und Sozialwissenschaften mit dem Aufstieg der darwinistischen Evolutionstheorie die Lehre der Naturalisierung zu einem dominanten Erklärungsmodell heraus, das die naturgegebene Differenz der menschlichen Rassen auf eine ›wissenschaftliche‹ Grundlage stellte. So warf der Schweizer Naturforscher und Harvard-Historiker Louis Agassiz auf der Grundlage polygenetischer Argumente die Frage auf, ob Schwarze überhaupt zur menschlichen ›Rasse‹ zuzuordnen seien und vertrat in seinen pseudowissenschaftlichen Forschungen zur Bestimmung der menschlichen Spezies die Forderung, ge-

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schlechtliche Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen zu verbieten. Nach Abschaffung der Sklaverei befürwortete er im Sinne der ›Rassenreinhaltung‹ die strikte Segregation, unter der die schwarze Bevölkerung in speziell ihnen zugewiesenen Territorien untergebracht werden sollten (vgl. Heideking 214-215). Angeregt von Charles Darwins Überlegungen zur Evolution bemühte sich der britische Naturforscher Francis Galton, ein Vetter Darwins, menschliche Charaktereigenschaften auf genetische Ursachen zurückzuführen. Die aus diesen Gedanken abgeleitete Schlussfolgerung, dass alle Unterschiede zwischen den Völkern zwangsläufig naturgegeben seien, implizierte die Dominanz der weißen Rasse. Das fotografische Medium lieferte beiden Forschern ein vermeintlich wissenschaftliches Analyseinstrument zur objektiven, öffentlichkeitswirksamen Erfassung ›rassischer‹ Differenzen. 2.1 Louis Agassiz’ slave daguerreotypes und Francis Galtons Typenporträts Fotografische Vermessung des Körpers Im Kontext von Identitätskonzeptionen auf der Grundlage biologistischer Modelle nimmt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Einsatz von Fotografie als Instrument zur Typologisierung gruppenbezogener Identität eine grundlegende Rolle ein. Die anthropologische Fotografie stellte dabei den Versuch dar, ›wissenschaftliche‹ Daten am Vollzug des Blicks entlang äußerer anatomischer Merkmale zum Zwecke der visuellen Erfassung und empirischen Begründung rassenbezogener Ungleichheit zu befördern. Die anthropologische Fotografie hat sich vor den Hintergrund der physiognomischen und phrenologischen Forschungsdisziplinen herausgebildet, die im 19. Jahrhundert in Europa und den USA zu weitverbreiteter Geltung gelangt waren. Beide Disziplinen waren von der Idee getragen, dass die Körperoberfläche als anatomisches Zeichen für den inneren Charakter bzw. geistige Fähigkeiten aufzufassen sei. Das fotografische Verfahren schien die objektive Wiedergabe des nicht-weißen Körpers in seiner naturgegebenen Andersheit zu gewährleisten. Gegenstand anthropologischer Fotografien bildet der menschliche Körper, der als äußerer, »physiognomic code of visual interpretation« (Sekula 16) für geistig seelische Dispositionen gedeutet wurde. Die vereinheitlichten Repräsentationsposen zielen auf eine Stan-

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dardisierung der Körperwahrnehmung und -darstellung ab, um diese für die physische Anthropologie vergleich- und vermessbar zu machen. Der Mensch als Individuum tritt hierbei hinter die als wissenschaftlich wahrgenommenen Einzelteile des Körpers zurück; die typologische Aufgliederung des Körpers im Sinne einer sichtbaren Struktur bot Anschlussmöglichkeiten zur Ausarbeitung körperlich begründeter, geistig seelischer Differenzen. Das über das fotografische Zeichen hergestellte »system of representation and interpretation« stellte eine »vast taxonomic ordering of images of the body« (Sekula 16) in Aussicht zu einer Zeit, in der sich bestehende Standes- und Gruppenzugehörigkeiten infolge kolonialistischer Expansion, ausufernder Bevölkerungsstatistik, Binnenwanderungsbewegungen, Masseneinwanderung sowie Emanzipation der Sklaven immer stärker auflösten, und dadurch eine eindeutige Zuweisung einzelner Gruppen und Individuen erschwert wurde (vgl. Edwards 336). Die Herleitung normativer Identität beschränkte sich im 19. Jahrhundert nicht nur auf die Ablehnung des außereuropäischen Körpers, sondern erschloss sich auch in anderen kategorialen Sozialtypen (Frauen, Kranke, Kriminelle, Arme), die nach und nach allesamt Eingang in die typologische Erfassungsmaschinerie fotografischer Verfahren fanden. Als Beitrag zur fotografischen Behandlung schwarzer Identität innerhalb des typologisierenden Bilddiskurses in Amerika werden im Folgenden Louis Agassiz’ sogenannte slave daguerreotypes analysiert, die eine frühe Form typologischer Fotografie zur Dokumentation biologisch determinierter Unterschiedlichkeit bzw. Ungleichheit der Rassen darstellen. Entsprechend wird Francis Galtons systematische Anwendung der Fotografie zur Konstruktion visueller Typen mitthematisiert, die er als ideologische Grundlage seiner eugenischen Rassenkonzeption entwickelte und einsetzte. Anatomie der Sklaverei Die sogenannten slave daguerreotypes des Schweizer Zoologen und Geologen Louis Agassiz bilden eine frühe Form typologischer Fotografie zur ›visuell-empirischen Begründung‹ einer biologisch determinierten Differenz der menschlichen Rassen. Für den ideologischen Interpretationsrahmen der Daguerreotypien bildet mitunter Agassiz’ Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit dem bekannten Physiker und Anatomiker Dr. Samuel George Morton aus Philadelphia, dessen umfangreiche Sammlung men-

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schlicher Schädel er persönlich in Augenschein nahm, einen wichtigen Ausgangpunkt. Samuel George Morton, einer der einflussreichsten Wissenschaftler Amerikas des 19. Jahrhunderts, versuchte mit Hilfe der Kraniometrie, der Theorie und Praxis der Schädelmessung, auf geistige Unterschiede zwischen von ihm festgelegten Typen menschlicher Rassen (europider, negroider, mongolider, indigener Rassentypus) zu schließen. Seine Hauptwerke Crania Americana (1839) und Crania Aegyptica (1844), die die ›objektive‹ Hierarchie der europiden Rasse systematisch zu belegen versuchten, übten großen Einfluss auf das Rassenverständnis in Amerika aus. Als einer der Hauptverfechter der polygenetischen Entwicklungstheorie, derzufolge sich die Menschen in verschiedenen Teilen der Welt unabhängig voneinander aus unterschiedlichen Ursprüngen entwickelten, lieferte Morton in seinen Werken eine vermeintlich ›wissenschaftliche‹ Rechtfertigung der Sklaverei in Amerika, da diesen Annahmen nach schwarze Menschen der weißen Rasse an geistiger Kapazität unterlegen wären. Wohl unter dem nicht unwesentlichen Einfluss Mortons löste sich Agassiz nach seiner Auswanderung in die Vereinigten Staaten von früheren monogenetischen Auffassungen zur menschlichen Entwicklungsgeschichte, die, an die biblische Schöpfungsgeschichte anlehnend, nur einen Urtypus der Menschen annimmt, aus dem sich die verschiedenen Rassenformen durch Anpassung gebildet haben, und etablierte sich rasch als führender Sprecher der Polygenie3. Als der Wissenschaftler in Amerika das erste Mal auf schwarze Menschen traf, festigte sich seine Auffassung über die unterschiedliche Ursprungsgeschichte schwarzer und weißer Menschen. In einem persönlichen Schreiben an seine Mutter rekonstruiert Agassiz im Jahre

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Immer deutlicher und expliziter vertrat Agassiz in Amerika die konkurrierende Theorie der Polygenie, wenngleich das ethnologische Forschungsinteresse seinen Aussagen nach an keine politischen Ambitionen, etwa die Verteidigung der Sklaverei, geknüpft war: »We disclaim, however, all connection with any question involving political matters. It is simply with reference to the possibility of appreciating the differences existing between different men, and of eventually determining whether they have originated all over the world and under what circumstances, that we have tried to trace some facts representing the human races« (1850, 113).

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1846 seine erste Begegnung mit schwarzen Sklaven, die ihm als entarteter Typus der menschlichen Rasse erschienen: All the domestics in my hotel were men of color. I can scarcely express to you the painful impression that I received, especially since the feeling that they inspired in me is so contrary to all our ideas about the confraternity of the human type (genre) and the unique origin of our species. […] Nevertheless, I experienced pity at the sight of this degraded and degenerate race, and their lot inspired compassion in me in thinking that they were really men. Nonetheless, it is impossible for me to repress the feeling that they are not of the same blood as us. In seeing their black faces with their thick lips and grimacing teeth, the wool on their head, their bent knees, their elongated hands, I could not take my eyes off their face in order to tell them to stay far away. (Agassiz zit. n. Gould 44-45; Herv. i. Org.)

Um seine polygenetische Theorie des vielfältigen Ursprungs der Rassen sowie der Unterlegenheit des Schwarzen zu verifizieren, nutzte Agassiz das Mittel der Fotografie als vermeintlich objektives Instrument wissenschaftlicher Analyse. Auf die Einladung des Sklavenhalters Dr. Robert W. Gibbes, Angehöriger der Pflanzeraristokratie in Columbia, South Carolina, bereiste Agassiz im Jahre 1850 zur ›Sichtung‹ in Afrika geborener Sklaven mehrere Plantagen führender Großpflanzer. In einem Brief an Samuel Morton hielt Gibbes fest, »Agassiz was delighted with his examination of Ebo, Foulah, Gullah, Guinea, Coromantee, Mandrigo and Congo Negroes. He found enough to satisfy him that they have differences from the other races« (zit. n. Wallis 45). An dieser Äußerung zeigt sich bereits die Brüchigkeit der Grenzen zwischen Natur und Künstlichkeit. So nahm den Aussagen von Robert Gibbes zufolge Agassiz bereits ebenjene Unterscheidung physiognomischer Merkmale vor, deren scheinbar naturalisierte Gegebenheit durch die Fotografien erst bezeugt werden sollte. Tatsächlich ging die Wertung der Situation dem eigentlichen Vorhaben voraus. Das fotografische Bildmedium als »Resultat eines rein mechanischen Reproduktionsvorgangs«, bei dem sich die »Objekte mittels Licht […] auf die Fotoplatte bzw. den Fotofilm einschreiben«, schien die präzise Abbildung und Sicherung anthropologischer Beobachtungen zu garantieren in einem Maße, welches das »mimetische Potential der [anatomischen] Zeichnung bei Weitem überstieg« (Dörfler 14-15). So exakt vermochte das fotografische Verfahren die körperlichen Eigenschaften zu reproduzieren, dass

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es in letzter Folge als Ersatz für Körpermessungen selbst galt. »[While] great numbers of ethnological photographs already exist«, so vermerkte 1869 der englische Biologe und Präsident der Ethnologischen Gesellschaft Thomas Henry Huxley, they lose much of their value from not being taken upon a uniform and well considered plan. The result is that they are rarely either measurable or comparable with one another and they fail to give that precise information respecting the proportions and the conformation of the body, which [is of paramount] worth to the ethnologist. (zit. n. Spencer 99)

Zur Sicherstellung einer optimalen ›Messgenauigkeit‹ und Vergleichbarkeit der ›Bilddaten‹ entwickelte Huxley 1869 für die Kolonialbehörde eine detaillierte Liste mit Vorgaben für die fotografierte Wiedergabe von Körpern, die gleichsam von der Idee getragen sind, man könne aus dem Bild selbst vergleichbare, taxonomische Daten gewinnen (vgl. Edwards 340). Louis Agassiz’ slave daguerreotypes, die Gibbes 1850 für Agassiz bei dem Fotografen Joseph T. Zealy in Auftrag gab, umfassen insgesamt fünfzehn Abbildungen von sieben afrikanischen sowie in Amerika geborenen Sklaven4. Zwei der abgebildeten Sklaven sind als Ganzkörperbilder in Frontal-, Seiten- und Rückenansicht aufgenommen, die fünf weiteren Personen jeweils als Halbtotale in der Vorder- und Seitenansicht. Das rassentypologische Aufnahmeprinzip sieht die Erfassung physiognomischer Ei-

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Bei den abgebildeten Sklaven handelt es sich um sieben Sklaven, zwei Frauen und fünf Männer, die aus verschiedenen afrikanischen Regionen stammten: Alfred, ein Sklave des Besitzers I. Lomas aus dem Stamm der Fulah, sowie der Gullah-Sklave Jem, der dem Plantagenbesitzer F. W. Green gehörte. Beide wurden jeweils in Ganzkörperbildern abgelichtet. Die fünf weiteren Personen wurden als Halbfigurenporträt abgelichtet: der guineische Sklave Jack, der als Fahrer auf Edgehill – einer Plantage von Benjamin F. Taylor – arbeitete, sowie seine Töchter Drana und Delia, die beide in Amerika geboren wurden und ebenfalls auf Edgehill lebten. Bei den beiden verbleibenden Sklaven handelt es sich um den kongolesischen Sklaven Renty, ein weiterer Arbeiter der EdgehillPlantage, und den Sklaven Fassena, ein Nachkomme der Mandinka, der sich als Handwerker auf der Plantage Wade Hampton II verdingen musste (vgl. Wallis 45-46).

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genschaften zur Bestimmung menschlicher Rassentypen in der Kombination von Profil- und Vorderansicht vor. So erscheint zur Darstellung von Beobachtungen, welche »geeignet sind, die verschiedenen Menschenrassen vorzustellen, die sich über die Erde verbreitet haben oder noch verbreiten werden«, der 1839 gegründeten, weltweit ersten ethnologischen Gesellschaft, der Société ethnologique de Paris, die »Kenntnis des Typs« als »wichtigsten Punkt der Ethnologie« (vi), von dem man sich nur mit Hilfe visueller Darstellungsformen ein genaues Bild machen könne. Der Begriff des Typus wurde dabei zum paradigmatischen Emblem kollektiver Identitäten, durch den diese in der Repräsentation eines einzigen Individuums des Kollektivs typologisch eingruppiert werden konnten. Um eine »vollständige Vorstellung« der Menschenrassen zu vermitteln, so erklärt die Société ethnologique de Paris weiterhin, müsste man »Porträts von all denen anfertigen, die man zur Kenntnis bringen möchte«. Man solle »sich bemühen, den Kopf auf zwei Arten wiederzugeben: in Vorder- und Seitenansicht« (ibid.). Auch Thomas H. Huxleys fotografisches System zur Identifikation anatomischer Merkmale, die der englische Fürsprecher der darwinistischen Theorie in seiner Funktion als Präsident der Ethnologischen Gesellschaft im Jahre 1869 entwickelte, benutzt die klassischen Körperposen der Vorder- und Profilansicht. Das zu analysierende Subjekt ist dabei nackt und aufrecht, neben einer Messlatte stehend, in gleichmäßigem Licht und Abstand zu der Kamera, vor einem neutralen Hintergrund als Totale und Halbtotale zu fotografieren (vgl. Edwards 340). Huxley empfahl darüber hinaus die Aufnahme des Kopfes im Profil- und Seitenporträt. Damit soll die Produktion taxonomischer Daten, in Huxleys Worten, »the formation of a systematic series of photographs of the various races of men comprehended within the British Empire« (zit. n. Spencer 99) gewährleistet werden, die eine Vergleichbarkeit rassischer Merkmale ermöglichen, aus der sich vereinheitlichende, allgemein gültige Ordnungen von Körper- und Menschenbildern ableiten ließe5 . Die auf den Daguerreotypien abgebildeten Sklaven

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Das identifikatorische Verfahren der Frontal- und Profilansicht fand Ende des 19. Jahrhunderts in Form des von Alphonse Bertillon entwickelten Klassifikationsschemas (Bertillonage) Einzug in die kriminalistische Fotografie. Das Bertillon’sche Klassifikationsschema stützt sich dabei auf spezifische Bildtypen als Schlüssel zur Identifikation des Verbrechers. Die Kombination von Profil- und Vorderansicht soll die eindeutige Identifikation des Verbrechers gewährleisten

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Abb. 3: Joseph T. Zealy, Jem, Gullah, Belonging to F. N. Green, 1850

Abb. 4: Joseph T. Zealy, Delia, Country-Born of African Parents, Daughter of Renty, Congo, 1850

erscheinen statuenhaft vor gleichmäßigem einfachen Hintergrund, der sich einem sozialen Kontext entzieht. Selbstzuschreibungen in Form von Kleidung oder anderen Attributen sind zugunsten der Erfassung, Vermessung und Typisierung anatomischer Merkmale entweder teilweise oder vollständig aus dem Blickfeld verbannt. Die schwarzen Männer- und Frauenkörper werden als zur Begutachtung präparierte Exemplare einer fremden ›Spezies‹ vorgeführt. Grundlegende Prämisse der Daguerreotypien bildet das (vgl. Sekula 25ff.). Als Erfinder einer in der Fotografie begründeten VerbrecherPhysiognomik gilt allerdings der italienische Arzt und Professor Cesare Lombroso. Im Gegensatz zu Bertillons Verfahren, das auf einem segmentierten Identifikationsverfahren beruht, nahm sich Lombrosos quasi-darwinistische Lehre zum Ziel, den Typus des delinquente nato, des geborenen Verbrechertypus, nachzuweisen, der an bestimmten Körpermerkmalen erkennbar sei, die ihrerseits als Ausdruck eines genetisch bedingten Fehlverhaltens zu interpretieren wären. Die Erscheinungsweisen des biologisch determinierten Verbrechertypus versuchte der Arzt durch bestimmte körperliche Merkmale nachzuweisen. So würden etwa eine bestimmte Schädelform oder sehr eng aneinander liegende Augenbrauen laut Lombroso eine gering ausgeprägte geistige Entwicklung anzeigen.

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»Vorliegen vollständiger Verfügungsbereitschaft« (Kutschmann 90), die absolute Bezwingung und Dinghaftigkeit des schwarzen Körpers. Bezugspunkt ist der normative weiße Blick, an dem das Fremde und Andere bemessen wird. In den folgenden Jahren versuchte Agassiz, seine Annahmen auf der Grundlage visueller Systeme zu vereinheitlichen. Wenn die Fotografie eine Bestätigung seiner vorgefassten Klassifikationen nicht zuließ, machte er schließlich von der Zeichnung Gebrauch, mit der er das Ergebnis genauer bestimmen konnte. Die Illustration zu Louis Agassiz’ Essay »Sketch of the Natural Provinces of the Animal World and their Relation to the Different Types of Men« (1854)6 zeigt ein vergleichendes Differenzierungssystem, das den allgemein verbindlichen Maßstab der idealen europäischen Körpernorm anschaulich illustriert. Die Profildarstellungen der Abbildung bringen pseudowissenschaftliche, rassistisch geprägte Annahmen zur Menschenlehre zum Ausdruck, die die Entwicklungsstufe schwarzer Menschen mit der von Menschenaffen zwar nicht völlig gleichsetzen, so doch als vergleichbar betrachten. Der schwarze Typus stellte dabei nicht nur die unterste Stufe menschlicher Entwicklung dar, sondern eine Art gefährlichen Antitypus, der alle anderen Rassen unterwandert und die Identität jeder einzelnen Rasse aushöhlt, degeneriert, entartet. Mit einem weiteren Fotografieprojekt, das Agassiz während seiner Brasilien-Expedition im Jahr 1865 durchführte, versuchte der Naturforscher, die überlegenen, ›reinen‹ Rassen Brasiliens und die verheerenden Folgen der Rassenvermischung objektiv zu dokumentieren. Derartige Annahmen vermochten die Fotografien allerdings nicht zu eruieren, worauf Agassiz in seinem Reisebricht nachempfundene, idealtypisch veränderte Grafiken von ›reinrassigen‹ Menschengruppen und Zwischenformen veröffentlichte. Agassiz’ slave daguerreotypes bilden in Amerika das erste fotografische Bildarchiv rassenideologischer Typisierung (vgl. Wallis 45). Allerdings waren sie noch nicht Teil einer systematisierten, fotografisch begründeten Rassentypologie, wie diese der Eugeniker Francis Galton Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte.

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Bezeichnenderweise erschien Agassiz’ Textbeitrag in dem von Josiah C. Nott und George R. Gliddon herausgegebenen Sammelband Types of Mankind or Ethnological Research (1854), das die öffentliche Meinung für die Aufrechterhaltung der Sklaverei gewinnen sollte.

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Francis Galtons Typenporträts Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit der Verwendung des Galton’schen Kompositverfahrens im Dienste der eugenischen Rassenideologie. Der Begriff der Eugenik, den 1883 der britische Naturforscher Francis Galton auf der Grundlage humangenetischer Entdeckungen und sozialdarwinistischer Überlegungen einführte, bezeichnet ein Theorem, das die Begünstigung von vorhandenen positiven Erbanlagen zugunsten der Reduzierung negativer Erbanlagen vorsieht. Primäres Ziel seiner wissenschaftlichen Vorhaben war die Entwicklung und Umsetzung von Verfahren zur ›rassischen Aufwertung höherwertiger‹ Gesellschaftsgruppen. Verbrecher, Juden und Schwarze wurden als ›Feinde‹ des ›gesunden, reinen‹ Volkskörpers identifiziert und visuell fixiert. Die Differenz zur europäischen Norm wurde hierbei nicht auf Sozialisation, Erfahrungen und Geschichte zurückgeführt, sondern primär auf genetische Veranlagungen. Die Idee einer genetischen Evidenz und erblichen Vervollkommnung der ›höherwertigen‹ europäischen Rasse stieß in Amerika auf breite Anerkennung zu einer Zeit, in der die durch den Bürgerkrieg eingeleitete soziale und rechtliche Neuordnung der Rassenbeziehungen grundsätzlich von der Angst vor rassischer ›Degeneration‹ und der Frage nach dem Wesen nationaler Identität geprägt war. Die fotografische Begründung verhaltensstrukturierender Dispositionen mittels optischer Körperzeichen erfolgte in Francis Galtons Kompositfotografie, die er zum Zwecke der visuellen Ausdifferenzierung einer wissenschaftlichen ›Rassenkunde‹ entwickelte7. Der fotografisch fixierte Körper wird hierbei nicht als Zugriff auf Identität im Sinne eines individuellen Abbildes herangezogen, sondern als Instrument zur Ermittlung der ›Wertigkeit‹ unterschiedlicher Rassen. Um seine Ideen zur Höherwertigkeit und Förderung der europäischen Rassen wissenschaftlich zu fundieren, erfand Galton 1878 das typologisierende Kompositporträt, das synthetische Porträts durch die technische Überblendung vielfacher Gesichtsporträts erzeugte. Dabei gewinnt man, wie Galton feststellt, ein idealtypisches Abbild, das

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Rasse ist in diesem Zusammenhang nicht nur im engen ethnischen Sinne zu verstehen, sondern ist auch national, klassenbezogen, sozial und geschlechtlich definiert.

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represents no man in particular, but portrays an imaginary figure, possessing the average features of any given group of men. These ideal faces have a surprising air of reality. Nobody who glanced at one of them for the first time would doubt its being the likeness of a living person, yet, as I have said, it is no such thing; it is the portrait of a type, and not of an individual. (1883, 222)

Galton verkehrt die individualisierende Abbildungsfunktion des Porträtbildnisses in ihr Gegenteil und nutzt das Kompositverfahren als quantitative Methode, um »the central physiognomical type of any race or group« nachzuweisen (ebd. 10). Identität reduziert sich auf visuelle Zeichenkürzel, die allgemeingültigen Wahrheitsanspruch erheben. Individualität geht in der Typologie rassentheoretisch fundierter Konzepte auf. Die Verwendung der Fotografie im 19. Jahrhundert erfolgt unter der Prämisse der ›technischen Neutralität‹ des mechanischen Verfahrens. Die Fotografie wird als Lieferant wissenschaftlich-statistischer Informationen und Erkenntnisse eingesetzt oder, in den Worten Galtons, als eine Form der Bildstatistik: Composite pictures are [...] much more than averages; they are rather the equivalents of those large statistical tables whose totals, divided by the number of cases, and entered on the bottom line, are the averages. They are real generalizations, because they include the whole of the material under consideration. The blur of their outlines, which is never great in truly generic composites, except in unimportant details, measures the tendency of individuals to deviate from the central type. (1879, 166)

Körper werden mittels fotografisch-statistischer Verfahren fragmentiert und vermessen, um daraus Informationen zur Evidenz gruppenbezogener Identität zu erhalten. Die Bildfunktion liegt dabei im Bereich der Wissensproduktion und-repräsentation. In der Verwendung des Bildes als selbstreferentielles Datenmaterial, aus dem sich ein klassifikatorisches Urteil ableiten lässt, wird dem Bild ein positivistischer Eigenwert zugesprochen, der Reales und Repräsentiertes gleichsam zur Deckung bringt. Die Assoziation von Fotografie und wissenschaftlicher Evidenz steht in enger Nachbarschaft zu der von dem amerikanischen Philosophen und Zeichentheoretiker Charles Sander Peirce (1839-1914) formulierten These, dass diese indexikalische Zeichen erzeuge, d.h. unmittelbare, physische

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Entsprechungen der Realität, die sich aufgrund physikalischer Gesetze auf das Fotomaterial festschreiben: Photographs, especially instantaneous photographs, are very instructive, because we know that they are in certain respects exactly like the objects they represent. But this resemblance is due to the photographs having been produced under such circumstances that they were physically forced to correspond point by point to nature. In that respect, then, they belong to the second class of signs, those by physical connection [indices]. (Peirce 106)

Gerade Galtons praktiziertes Verfahren entzieht sich Peirce’ indexikalischer Bestimmung fotografischer Bilder, aus der sich gegebenenfalls empirische Daten ableiten ließen. Im Gegensatz zu Louis Agassiz, dessen Fotografien sich auf Abbilder realer Personen beziehen und somit, wie Allan Sekula es formuliert, innerhalb einer »indexical order of meaning« (55) verweilen, erfolgt die Rekonstruktion der Realität in Galtons Kompositbildern eben nicht anhand einer wahrhaften Reproduktion der Wirklichkeit. Das Foto ist bei Louis Agassiz physische Spur einer erfahrbaren Realität; Galton hingegen versuchte, seine Kompositporträts auf »die Ebene des Symbolischen« (ibid.; Herv. i. Org.) zu erhöhen, da er die Bildbedeutung weder in einem rein indexikalischen noch in einem rein ikonischen Objektbezug zu finden suchte, sondern über typologische Anhäufungen, die Anhaltspunkte zur Produktion allgemeingültiger Aussagen liefern sollten. Eine aus Bildern gewonnene Evidenz entpuppt sich als Konstrukt, denn sowohl Herstellungsabsicht als auch der soziale Gebrauchskontext der Fotos bestimmen maßgeblich ihre Bedeutung. Pierre Bourdieu zufolge sollte die Geschichte der Fotografie als Geschichte der sozialen Gebrauchsweisen geschrieben werden: Im Namen eines naiven Realismus wird eine Darstellung der Wirklichkeit für realistisch erklärt, die den Anschein von Objektivität nicht etwa der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit der Dinge verdankt (da sie sich niemals anders erschließt als über gesellschaftlich bedingte Formen der Wahrnehmung), sondern der Konformität mit den Regeln, die in ihrem gesellschaftlichen Gebrauch die Syntax definieren, d.h. mit der gesellschaftlichen Definition der objektiven Sicht auf unsere Welt. (1983, 8889)

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Abb. 5: Francis Galton, Illustrations of Composite Portraiture, The Jewish Type, 1885

Bourdieus Kriterium eines definitorischen Gebrauchskontextes, der über die Bedeutung und Funktion der Fotografie entscheidet, entspricht Umberto Ecos Kultursemiotik der ästhetischen Offenheit, die das Augenmerk auf die interpretatorische Erkenntnisleistung des Rezipienten im Rahmen einer je gegebenen Kulturumgebung lenkt. Sein Hauptkriterium für eine Arbitrarität und gegen die Ähnlichkeitsbeziehung bildlicher Zeichen zu ihren bezeichneten Objekten legt die kulturelle Determination des Rezipienten bei der Wahrnehmung fest. Entgegen einer Similaritätsannahme als natürlich wahrnehmbare Analogie zwischen Bildzeichen und ihren bezeichneten Objekten werden, so Eco, Übereinstimmungen in der Wahrnehmung des Rezipienten erst mittels kulturell erworbener Sinninhalte konstruiert: »Jeder Versuch zu bestimmen, was das Referens eines Zeichens ist, zwingt uns dazu, dieses Referens als eine abstrakte Größe zu definieren, die nichts anderes als eine kulturelle Übereinkunft ist« (1994, 74; Herv. i. Org.). Die Bedeutung des Bildes ist somit immer auf die interpretatorische, kulturabhängige Wahrnehmung/Auslegung des Rezipienten angewiesen. Entsprechend erscheinen aus kultursemiotischer Perspektive charakteristische Erscheinungsformen der Subjekte immer schon soziokulturell vorbestimmt. Vor dem Hintergrund eines artifiziellen und hybriden Typus, der sich auf

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kein Individuum bezieht, sondern auf synthetische, kulturell erzeugte Repräsentationen, erlischt das individuelle Abbild in der anthropometrischen bzw. typologischen Fotografie. Entgegen der Annahme der epistemischen Wirkmacht der Fotografie als physische Referenz der Wirklichkeit erscheinen die an quantitativen Verfahren orientierten Kollektivporträts vielmehr als Repräsentationen eines dominanten Kulturkonsens über die spezifischen Erscheinungsformen der Subjekte. Soziokulturelle Wertevorstellungen vermitteln sich in repräsentationalen Mustern, innerhalb derer sich die Subjekte konstituieren (müssen). Bereits bei der Porträtauswahl selektiert Galton entlang optischer Korrespondenzen und warnt davor, widersprüchliche Elemente miteinander zu verbinden: »No statistician dreams of combining objects into the same generic group that do not cluster towards a common centre; no more should we attempt to compose generic portraits out of heterogeneous elements, for if we do so the result is monstrous and meaningless« (1883, 230). Auf ähnliche Weise begibt sich Agassiz, geleitet von den Theorien seiner Zeit, auf fotografische Entdeckungsreise, bei der er bereits das als gegeben ansieht, dessen Beweis seine fotografischen Projekte eigentlich verifizieren sollen. Wie in der Schlussbetrachtung noch eingehend dargestellt wird, bildet die typologische Formensprache ein zentrales Stilmerkmal in den Bildwerken zeitgenössischer schwarzer Fotografen. Der fragmentarisch zergliedernde Blick, den die typologische Fotografie auf den schwarzen Körper wirft, vermittelt sich häufig in Form serieller Anordnungen. Durch ästhetische Abweichungen und Modifikationen wird die Gültigkeit anthropometrischer Typendarstellungen zugunsten einer individuellen Abbildung des Menschlichen unterlaufen. Die Rezeption und Wiedergabe typologisierender Repräsentationsformen beschreiben eine Suche nach Kontinuitäten, Analogien und Vergleichbarkeiten vergangener und gegenwärtiger Darstellungsformen – sie bringen zum Ausdruck, wie sehr die gegenwärtige Wahrnehmung und Repräsentation schwarzer Menschen von visuellen Typologien durchsetzt sind. Der Diskurs zur typologischen Fotografie hebt die enge Verzahnung von Bild-, Körper- und Identitätsdiskursen zum Zwecke der regulativen Kontrolle im ausgehenden 19. Jahrhundert hervor. Angesichts der engen Verflechtungen wird deutlich, dass Bilder nicht nur als Manifestationen von Zeitströmungen (wie dies Erwin Panofskys entwickelte dreigliedrige Methode der Bildanalyse von Ikonographie und Ikonologie vornimmt) aufge-

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fasst werden können8, sondern als mit bestimmten Absichten hergestellte, strategisch eingesetzte identitätspolitische Mittel – in den Worten des Bildwissenschaftlers William J. T. Mitchell – als »a complex interplay between visuality, apparatus, institutions, discourse, bodies, and figurality« (16). Hauptinteresse der typologischen Fotografie lag in erster Linie darin, eine dezidierte identitätspolitische Strategie zu verfolgen: die Stigmatisierung und Ausgrenzung des außereuropäischen Körpers. Seine typologisierende Darstellung und Fixierung ist mit der Behauptung weißer männlicher Machtpositionen in Einklang zu bringen. Starre rassenbezogene Grenzen sollten auf der Grundlage ›wissenschaftlicher‹, klar ersichtlicher Erkenntnisse weiterhin gefestigt werden, die die Fortführung des Sklavensystems bzw. die ökonomische Ausbeutung schwarzer und anderer gesellschaftlich marginalisierter Bevölkerungsgruppen sicher stellten. Der nächste Abschnitt befasst sich mit der sich Ende des 19. Jahrhunderts herausbildenden Lynching-Fotografie. Neben der Stilisierung schwarzer Menschen als Unruhe versursachender Fremdkörper, gegen den sich der nationale Volkskörper geschlossen formieren muss, beschreibt die Lynching-Fotografie einen weiteren zentralen Aspekt: die vollkommene Verdinglichung und damit radikale Aufhebung des Körperlichen/des Schmerzes durch das Bild, durch die der Schmerz – der Tod selbst –, wie im Folgenden eingehend nachgegangen wird, überwunden werden soll. Die Bilder dienen in dem Bemühen um Machterhalt, im Kampf um Überleben und Tod, als Manifestationsort verloren gegangener souveräner Machtansprüche, die sich über die gewaltsame Inbesitznahme, Beherrschung und Überwindung des dämonisierten Opfers (bzw. Todes) formulieren.

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Erwin Panofskys Kunsttheorie erweiterte in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts die gängige Methode der Kunstanalyse mittels formaler Stilkritik. Sein Hauptinteresse galt der Erforschung der künstlerischen Gegenstände im Hinblick auf den historischen Zeitgeist, aus dem sich bestimmte Formen und Motive entwickelt haben. Vgl. hierzu: Erwin Panofsky, »Iconography and Iconology: An Introduction to the Study of Renaissance Art«, Meaning in the Visual Arts (New York, Garden City: Doubleday Anchor Books, 1955) 26-54.

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3. L YNCHING -F OTOGRAFIE : E NTMACHTUNG UND S OUVERÄNITÄT Rassistische Überzeugungen zur angeborenen Minderwertigkeit der Schwarzen äußerten sich insbesondere in Form von Aggressivität und Gewalt gegenüber schwarzen Amerikanern, die in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts vermehrt zu Rassenunruhen und Lynchmorden führte9. Die Gewalt operierte hierbei nicht nur auf physischer Ebene, sondern auch auf dem Feld der visuellen Produktion und Wahrnehmung. Mit der zunehmenden Radikalisierung und Ritualisierung des Lynchmordes entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts die Lynching-Fotografie zu einem populären Instrument soziokultureller Differenzmarkierung und Machtaffirmation. Verlust und Rückeroberung Die Lynchmord-Fotografien bringen eine dichte Matrix sozialer Konflikte und Ängste der postrevolutionären amerikanischen Gesellschaft zum Vorschein, die sich in erster Linie um die Auflösung des herkömmlichen Beziehungsgefüges zwischen Schwarzen und Weißen drehten. Unter dem Regime der Sklaverei bezeichnete der Begriff der weißen Identität im Süden der USA zuvorderst eine Instanz, derzufolge das weiße Männliche sich als Besitzender setzte, unter der Notwendigkeit, sich das Schwarze (und Weibliche) zum Besitz zu machen. Die Abschaffung der Sklaverei führte zu einer folgenschweren Neuordnung des sozialen Beziehungsgefüges zwischen Schwarzen und Weißen, in dem sich weiße Identität nicht mehr über den Status absoluter Souveränität gegenüber weiblichen und schwarzen Menschen herleiten ließ. Trotz legaler Segregation und systematischer Bemühungen, der schwarzen Bevölkerung ihre in der 14. und 15. Amendment zugesprochenen Bürgerrechte zu entziehen, bewirkte die Abschaffung der Sklaverei eine strukturelle Annäherung des emanzipierten Sklaven an die soziale Stellung des weißen Familienpatriarchs. Die soziale Aufwertung

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Zwischen 1882 und 1927 wurden etwa 4850 Personen durch Lynching ermordet – davon ungefähr 3500 schwarze Amerikaner. Im Vergleich zu allen anderen amerikanischen Bundestaaten entfielen ca. fünfmal so viele Lynchmorde auf die Südstaaten. Das Ermorden durch Lynchjustiz kulminierte in den Dekaden um 1900 (vgl. Aptheker, 8; Brundage 4; Litwack 12).

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des schwarzen Mannes, die sich vom beweglichen Eigentum des weißen Herrn zum Status des unabhängigen Oberhaupts der eigenen Familie vollzog, ging mit der Machtentwertung des weißen Patriarchen einher. Vor dem Hintergrund dieser relativen Machtverschiebung beschreibt die außergerichtlich praktizierte Gewalt gegen Schwarze den Versuch, die ehemals uneingeschränkte Verfügungsgewalt des weißen, männlichen Bevölkerungsteils über den schwarzen Körper zurückzuerlangen: »The emancipation of slaves«, so erklärt die Kulturwissenschaftlerin Hazel Carby, »represented the loss of the vested interests of white men in the body of the Negro, [...] and lynching should be understood as an attempt to regain and exercise that control« (1987, 112). 3.1 Selbst- und Fremdentwürfe in der Lynching-Fotografie Der Vorwurf der Vergewaltigung, bei der weiße Frauen schwarzen Männern zum Opfer fielen, stellte im Diskurs um Lynching einen entscheidenden Legitimationsgrund zur Durchsetzung der brutalen Strafmaßnahme dar. Eine genauere Analyse der Vorfälle, die zur Ermordung durch Lynching führten, zeigt allerdings, dass der Vergewaltigungsvorwurf sich weniger auf das scheinbar so regelmäßige Auftreten dieses Vorwurfs stützte, sondern auf den in der Presse und öffentlichen Diskussion generierten Sensationscharakter10. Hauptstreitpunkt waren die freiwillig eingegangenen Beziehungen zwischen schwarzen Männern und weißen Frauen und den sich daraus ableitenden Rechtsansprüchen auf tatsächliche soziale Gleichberechtigung sowie die drohende ›Verunreinigung‹ der weißen Rasse. Auf den Lynching-Fotografien ist eine relativ konsistente Bildsymbolik auszumachen, die als zentrales Motiv den schwarzen leblosen Körper zeigt. Um diesen Körper gruppiert sich in der Regel eine weiße, überwiegend männliche Zuschauerschaft, die gelegentlich von Frauen und Kindern komplettiert wird. Häufig ist auf den Fotografien nur noch ein stark verstümmelter Torso erkennbar, der auf die der Ermordung vorangegangenen oder nachfolgenden Gewalttaten schließen lässt. Das brutale Foltern der Opfer war ein elementarer Bestanteil des Lynchaktes, der neben dem Erhängen noch weitere Gewaltformen – die des Erschießens, Erschlagens

10 Nur etwa jede fünfte Anschuldigung wurde zwischen 1889 und 1918 wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung erhoben (vgl. Litwack 24).

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oder gar Verbrennens bei lebendigem Leibe – umfasste11. Die LynchingFotografie spielte eine zentrale Rolle in der medialen Kriminalisierung von African Americans. Neben seiner sprachlichen Verbreitung in den Sensationsmeldungen der Presse erhielt das Bild des schwarzen Verbrechers als erfahrbare Realität – als ›wirkliche‹ Spur dessen, was geschehen ist – auf Lynching-Fotografien bzw. Postkarten einen realen Körper. Die Fotografien, denen das Image eines wirklichkeitsabbildenden Mediums anhaftete, bewiesen dem Betrachter immer wieder auf ein Neues seine wahrhaftige Existenz12. Die rassistische Stilisierung des Schwarzen zum wilden, schwarzen Triebtäter (black burly brute) war keineswegs eine Neuschöpfung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Allerdings erfuhr dieses Stereotyp eine Akzentverschiebung, die mit der »transformation [of black people] from chattel to citizenry« einherging (Wiegmann 82). Das Fixieren von Differenz zur Bewahrung aufbrechender Bedeutungskontinuitäten bildet, so Stuart Hall, einen zentralen Bestandteil repräsentationaler Identitätspolitik: »Naturalization is a representational strategy designed to fix difference, and thus secure it forever. It is an attempt to halt the inevitable ›slide‹ of meaning, to secure discursive or ideological ›closure‹« (1997, 245). Je natürlicher gesellschaftliche Identitätskontinuitäten (Rollenmuster) erscheinen, desto weniger werden sie von den Gesellschaftsmitgliedern zur Disposition gestellt. Mit Halls Überlegungen übereinstimmend, hebt der postkoloniale Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha hervor, dass gruppenbezogene Differenzen zuvorderst über visuelle Repräsentationen essentialisiert werden, die an der Sichtbarkeit kulturell kons-

11 So vermerkt Trudier Harris: »White men, women, and children would hang or burn (frequently both), shoot, and castrate the offender […]« (6). Vgl. hierzu auch Wiegmann 22ff. 12 »Das Bild ist weder Wiedergänger noch Double«, so der Kunsthistoriker Gottfried Boehm in seinen Überlegungen zur Verhältnisbestimmung von Repräsentation und Präsenz, »und niemand wird ein Bildnis mit dem Dargestellten verwechseln, sich aber gleichwohl davon einnehmen lassen, dass die Darstellung, und nur sie, die Lebendigkeit eines Abwesenden glaubwürdig erscheinen lässt« (2001, 4-5). Die Qualität der Repräsentation im Bilde, so Boehm weiter, besteht mithin darin, »sogar Toten Gegenwart zu geben« und »den Dargestellten, der dem Zeitlauf unterworfen war, so darzubieten, dass er eine Gegenwart gewinnt, die Evidenz oder Enargeia besitzt« (ebd. 6).

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truierter (in erster Linie körperlicher) Unterschiede anknüpfen. Koloniale bzw. hegemoniale Systeme im weiteren Sinne arbeiten mit Hilfe disziplinärer Repräsentationsregime, die der identitären Essentialisierung und sozialen Kontrolle von Gruppen und Individuen dienen: [C]olonial discourse produces the colonized as a social reality which is at once an ›other‹ and yet entirely knowable and visible. […] It employs a system of representation, a regime of truth, that is structurally similar to realism. (1994, 70-71)13

Die repräsentationale Sichtbarmachung, d.h. machtpolitische Konstruktion und Propagierung, des schwarzen Lustmörders erscheint aus der Sicht weißer Mehrheitsangehöriger notwendig in einer Zeit, in der mit der rechtlichen Gleichstellung der schwarzen Bevölkerung existente Rollenverteilungen und Grenzziehungen fundamental destabilisiert wurden. Die Form und Gestalt gebende Fotografie hat in erster Linie versichernde, d.h. subjekt- und realitätskonstituierende Aufgaben zu erfüllen. Sie ist der Kontrolle und Beherrschung, dem Erhalt traditioneller Rollenbilder, rassistischer Machtpositionen und Hierarchien geschuldet. Vergleichbar mit der anthropometrischen Fotografie dient in der Lynching-Fotografie das fotografierte Abbild der machtpolitischen Sichtbarmachung ›defekter, inferiorer Körper‹, die die Integrität und Souveränität der weißen, heilen Gemeinschaft demonstrieren. Schwarze bzw. weiße Identität wird auf Lynching-Fotografien in erster Linie über den sozial abweichenden »Verbrecherkörper« (Sekula 6) hergestellt. Sichtbarmachung weißer Dominanz »Having created the Frankenstein monster (and it is no less terrifying because it is largely illusory)«, so bemerkt der afrikanisch-amerikanische Bürgerrechtsaktivist Walter White, »the lyncher lives in constant fear of his

13 Für den deutschen Kulturkritiker Andreas Reckwitz erscheint es deshalb »nicht verwunderlich, in welchem Ausmaß gerade für ethnische Subjektpositionen (ähnlich wie im Übrigen für geschlechtliche) vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart die Produktion und Zirkulation von Subjektformen über den Weg visueller Repräsentationen – vor allem technisch reproduzierter wie in der Fotografie und im Film – verläuft« (2008, 101).

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Abb. 6: Lynching eines unbekannten afrikanisch-amerikanischen Mannes, ca. 1890

own creation« (56-57). Die stereotypisierten Körperbilder werden nicht nur ideologisch ›wahr‹ gemacht, sie evozieren auch konkretes phobisches Verhalten14. Die ästhetische Abwertung und Auflösung des schwarzen Körpers befördert ein imaginäres, weil über Bilder erzeugtes Phantasma von Identität, das in der sozialen Wirklichkeit selbst wirkt. Der kriminalisierte Körper dient als Knotenpunkt eines Bildraumes, in dem zwischen Fakt und Fiktion Verwischungen bestehen. Die fiktional heraufbeschworene, jedoch als reale Bedrohung empfundene Gefahr des schwarzen Sexualkörpers musste immer zugleich (physisch wie medial) bezwungen werden. Bei einigen Bildern fällt auf, dass das fotografierte Ereignis nicht nur dokumentarisch aufgezeichnet werden sollte, sondern das Ergebnis sorgfältiger Inszenierung ist, um dem realistischen Charakter der Fotografie eine über den Moment hinausreichende erzählerische Struktur zu verleihen: die Fotografie eines um 1890 in Arkansas gelynchten afrikanisch-amerikanischen Mannes (Abb. 6) zeigt seinen leblosen Leichnam bildmittig an einem Seil hängen. Flankiert wird der Tote zu beiden Seiten von jeweils drei weißen Männern. Einer der Herren scheint mit Hilfe seines Gehstocks, 14 Zur Psychologie des Rassismus bemerkt der schwarze Psychiater und Theoretiker Frantz Fanon: »Projecting his own desires onto the Negro, the white man behaves ›as if‹ the Negro really had them« (165).

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den er senkrecht zwischen Rücken und gefesselten Händen des Toten geschoben hat, den Erhängten geradezu vorzuführen. Hier zeigt sich die Herrschaftsgeste des Machthabers, die in der Fotografie selbstverherrlichend zur Schau getragen wird und sich über den Moment des Tötungsaktes hinaus als bestimmender Bildinhalt erweist. Die Selbstdarstellung im Bild ist mit einer bestimmten Perspektive, mit einer spezifischen Disposition verknüpft, die die Art der Wahrnehmung des Bildgeschehens aktiv mit strukturiert. Eine weitere Fotografie, die eine triumphal posierende posse15 nach vollbrachter Arbeit zeigt, scheint nur aus dem Zweck der Inszenierung weißer Vormachtstellung heraus entstanden zu sein: das Bild zeigt ein Dutzend weißer Männer, die sich frontal vor der Kamera zu einem Halbkreis formiert haben. Die meisten sind bewaffnet, einige stützen mit ernster Miene ihren Oberkörper am Lauf ihrer Gewehre. In der Bildmitte posieren zwei Männer auf Pferden, die sich im Besitz der ›erlegten Beute‹ befinden. Eben dieser hat sich einer der beiden Reiter bemächtigt und sie über den Rücken seines Gauls gelegt, während der andere Reiter den Fuß des Toten greift (Abb. 7). In seiner einflussreichen Abhandlung Krieg dem Kriege (1924), so vermerkt Anton Holzer passend, »hat Ernst Friedrich [...] auf diese Geste [den Akt der Berührung] aufmerksam gemacht. ›Man beachte‹, schreibt er im Bildtext zu einer Fotografie, die […] einen am Galgen Hingerichteten zeigt, ›den Soldaten, der den Erhängten anfaßt, um damit anzudeuten, daß er selbst der Henker ist und auf seine Leistung stolz ist.‹« (11). Die Bedeutung der Geste reicht allerdings über demonstratives Triumphgebaren hinaus: Der Soldat, der den Toten anfaßt, tut dies auch für die Kamera. Seine Geste ist auf den zweiten Zeugen hin entworfen, den Fotografen [und darüber hinaus auch für ein impliziertes Publikum]: Beide, der Mann am Galgen und der Fotograf, gehen ein Bündnis ein. Es beruht auf dem Blick, aber auch auf der Berührung. Wir kennen eine ähnliche Geste zwischen Blick und Berührung aus der Jagd. Viele Jagdfotografien zeigen den Jäger in einem bestimmten Augenblick: Er berührt, oft mit dem Fuß, oft auch mit der Hand, das erlegte Tier und blickt zugleich in die Kamera. (Ibid.)

15 Im Vergleich zu den mass mobs bildeten posses kleinere, »legally deputized groups«, die im Auftrag offizieller Gesetzesvertreter Straftäter aufspürten und dem Sheriff übergaben (Brundage 33).

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Abb. 7: Detailausschnitt einer Fotografie, die zwei Männer auf Pferden mit einem unbekannten Opfer zeigt, ca. 1900

Die nachträglich arrangierten Darstellungen sind von Wirklichkeit und Fiktionalität durchsetzte Bildzeugnisse, sie bilden »die Spur einer wahren Fiktion« (Bredekamp 2004a, 47). Dabei halten sie nicht nur die historisch gewachsene Dominanz der Machthaber im Gegensatz zu ihren Opfern fest – sie dokumentieren die willentliche Absicht, eine solche im Bilde zu überliefern. In seiner Rede vor der Ethical Culture Hall im Jahre 1911 verdeutlichte der Pfarrer und NAACP-Mitbegründer John Haynes Holmes am Beispiel einer fotografischen Lynching-Szene die offensichtlichen Parallelen zwischen der ritualisierten Erlegung eines Tieres bei der Jagd und der Ermordung eines Menschen durch Lynching. In beiden Fällen, so Holmes, »the huntsmen are proud that they have shot an animal, and therefore they stand before the camera in order that the evidence of the story may be sure« (zit. n. NAACP 109)16. Die Inszenierung der Fotografie mit dem Titel 16 Die Postkarte, die Holmes kurze Zeit später als Antwort auf seine Rede erhielt, nimmt visuellen Bezug auf seine Lynching-Jagd-Assoziation. Das Postkartenfoto zeigt eine Gruppe weißer Männer, die sich um einen gelynchten jungen schwarzen Mann anordnet. Die halbkreisförmige Aufstellung der Männer, die den Toten in der Bildmitte umschließt, erinnert an die Formierung einer Jagdgesellschaft um ihre erfolgreich erlegte Beute. Vgl. hierzu auch: NAACP, »Holmes on Lynching«, The Crisis (Jan. 1912): 109-112.

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Abb. 8: The Hounds – Vier Gesetzesvertreter mit Bluthunden im Lynchfall des Afroamerikaners Will James, 1909

The Hounds (1909) (Abb. 8) ist auf den zentralen Aspekt der (Menschen)Jagd beschränkt, ohne oder gerade weil das gejagte Subjekt nicht mit in das Bild gesetzt wurde: vier Gesetzesvertreter posieren in der imperialen Geste des Großwildjägers mit strammer Haltung und düsterer Miene vor der Kamera, die Hüte sind tief in das Gesicht gezogen. Fest im Händegriff und eng an den Körpern der Jäger liegen die Leinen und Ketten, an denen vier unruhige, mordlüsterne Vierbeiner gehalten werden. Der schwarze, in seine Einzelteile zerlegte Körper wird gleichsam zur Trophäe, zum Symbol des Triumphes und Sieges, das für das Überwundene, Niedergeworfene und Einverleibte steht. So war es nach Beendigung der Hinrichtung üblich, Knochen, Gliedmaßen, Haare und andere körperliche Überreste des Toten als Beutestück an sich zu nehmen17 (vgl. Litwack 14). Es ist eine Art Reliquienkult, bei dem der Leichnam bzw. das den toten Menschen repräsentierende Relikt – in diesem Fall die Fotografie – im Mittelpunkt steht. Die Einverleibung des schwarzen Körpers geschieht über seine Ikonisierung, zum einen durch die Anbringung einzelner körperlicher Überreste an dem Bilde selbst – so wurden in die Rahmung der Fotografie, 17 Dora Apel verwendet den Begriff »lynch parties« als Umschreibung für das feierliche Zeremoniell im Anschluss an ein Lynching-Spektakel, »with frenzied souvenir gathering and display of the body and dismembered parts« (44).

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die die Hinrichtung der Männer Thomas Shipp und Abram Smith aus dem Jahr 1930 zeigt, Haarlocken eingefügt (Abb. 10) –, andererseits durch die zum visuellen Zeichenkürzel erstarrten Körper. Dass die sichtbaren körperlichen Spuren der Gewalt als Emblem der Macht fungieren können, hat meines Erachtens wesentlich mit dem Objektivierungs-/Verdinglichungscharakter der Fotografie zu tun. Die fotografische Trophäisierung des schwarzen Körpers steht in der Funktion der Reliquie, um an das Vergangene zu erinnern, um es zu betrachten, um sich seiner Souveränität zu vergewissern, sein Ich zu affirmieren. Dabei ergänzt das Bildwerk zu einem Ganzen, was vom Leib nur noch in Teilen vorhanden war. Erst durch die Vergegenständlichung des Körpers/des Lebens selbst ist man gegen den Angriff des Schmerzes/des Todes gepanzert: Die Bilder der Hingerichteten erlangen die symbolhafte Bedeutung des Amuletts, werden zur »niedrigste[n] Art der bildmagischen Wappnung vor der tagtäglichen Furcht, in jedem Moment an jedem Ort durch Kugeln aus dem Hinterhalt oder Bomben aus Fahrzeugen erreicht zu werden« (Bredekamp 2004b, 14). »Im heroischen Sieg über den Schmerz«, so Elisabeth List zur Phänomenologie des Schmerzes, »errichtet sich das bedrohte Ich zu neuer, gestärkter, gepanzerter Souveränität« (777). Black Beast – White Womenhood »Warning, the answer of the Anglo-Saxon race to black brutes who would attack the womanhood of the South«18 – so zu lesen auf der Rückseite einer Lynching-Postkarte, die den an einem Baum hängenden, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Torso eines schwarzen Mannes zeigt. Neben der abschreckenden Wirkung, die diese emotional belastenden Bilddokumente auf die schwarze Gemeinde ausübten, diente die repräsentationale Konstruktion des schwarzen Sexualstraftäters der impliziten Herausstellung ›weiblicher‹ Werte und Verhaltensregeln, auf die im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird. An dieser Stelle erfolgt ein kurzer Diskurs zu dem sich im 19. Jahrhundert herausbildenden Mythos der white Ladyhood, welcher als ideologisches Konstrukt entscheidende Argumentationsmuster zur Legitimierung

18 Vgl. Abbildung Nr. 60 des Bildanhangs in John Lewis, Hg., Without Sanctuary. Lynching Photography in America (Santa Fe: Twin Palms Publishers, 2007).

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von Lynchmorden an Schwarzen bereitstellte. Das von den Vorstellungen des Viktorianismus geprägte und anfänglich in der weißen Mittel- und Oberschicht gepflegte Rollenbild der true white womanhood entwickelte sich um 1850 zum Leitbild der südstaatlichen Antebellum-Gesellschaft, demzufolge piety (Frömmigkeit), purity (Reinheit), submissiveness (Unterwürfigkeit) und domesticity (Häuslichkeit) die weiblichen Kardinaltugenden darstellten (vgl. Welter 152). Ursprünglich in der südstaatlichen Vorkriegsgesellschaft entwickelt, stellten die Geschlechterentwürfe von Gentlemen und white Ladyhood stabilisierende Rollenmuster für eine von sozialen Spannungen und Umwälzungen gekennzeichnete Nachkriegsgesellschaft bereit. Das weibliche Rollenideal zeichnete sich in keuscher Enthaltsamkeit sowie in der tugendhaften Erfüllung aller häuslichen Pflichten aus19. Der idealen Südstaatenweiblichkeit gegenüber stand die Figur des white Gentleman als vollkommenes Endprodukt menschlicher Zivilisationsgeschichte, dessen persönliche Ehre grundlegend an die Wahrung und Verteidigung weiblicher Reinheit und Sittlichkeit geknüpft war. Ehrverletzungen – sei es in Form von vermeintlich sexuellen Übergriffen schwarzer Männer auf weiße Frauen oder andere Formen persönlicher Demütigung – zogen in der Regel umgehend ritualisierte Vergeltungsmaßnahmen nach sich. Gelegentlich fielen auch Frauen der Lynchjustiz zum Opfer, insbesondere wenn ihre Reinheit bzw. das Überschreiten der color line zur Disposition standen. Die patriarchalische Gestalt des white Gentleman basierte auf einem absoluten, die weiße männliche Höherwertigkeit zelebrierenden Selbstbild, das im Diskurs um Lynching und Vergewaltigung an dem uneingeschränkten Besitzrecht an der weißen Frau und der ehemals unfreien schwarzen Bevölkerung ansetzt. Aus dieser Sicht wurde die brutale Form der Selbstjustiz an Schwarzen vor allen Dingen auf der Grundlage der Infragestellung des Besitzrechts am weißen weiblichen Körper ausgetragen, die letztlich elementar an die Frage der Verletzung weißer männlicher Ehre geknüpft war: »[W]hite men used their ownership of the body of the white female as a terrain on which to lynch the black male« (Carby 1985, 270). In der visuellen Dämonisierung und gleichzeitigen Entmachtung schwarzer männli-

19 Die strikte geschlechterideologische Trennung von Öffentlichem und Privatem herrschte in den unteren Bevölkerungsschichten insgesamt deutlich weniger vor als innerhalb der gehobenen Klassen.

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cher Identität wird auf Lynching-Fotografien das weiße weibliche Rollenbild im Subtext mitverhandelt. Die bedrohte Nation/Ordnung/Heimat ist im Diskurs um Lynching weiblich repräsentiert. Diese Darstellung »schließt an die Tradition einer weiblich imaginierten Nation an« (Wenk 43). Die Bedrohung vom schwarzen Feind wird sexualisiert, d.h. als Gewalt an der weißen Frau inszeniert, deren Gefährdung/Verunreinigung die Bedrohung der reinen Nation darstellt und um deren Reinhaltung die weiße (männliche) Gemeinschaft kämpfen muss. Die visuelle Politik der Entmenschlichung geht mit dem Akt der Entmännlichung einher – die erhängten Körper werden nicht nur entblößt zur Schau gestellt, sie sind auch sexuell verstümmelt. In Fällen einer vorgeworfenen Vergewaltigung wurden dem Opfer vor der Tötung häufig die Genitalien entfernt20. Die ästhetische Struktur der LynchingFotografie, die an der Illusion des nationalen ›reinen‹ Volkskörpers bzw. dem Wunsch nach Rückeroberung des nationalen Raumes ansetzt, repräsentiert im Bemühen um Rückgewinnung weißer, männlich-dominanter Machtpositionen eine Reaktion auf elementare Identitäts- bzw. Männlichkeitskrisen. Lynching-Bildpostkarten – Hinrichtung als Memorable Event Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich Lynchings verstärkt zu einem zeremoniellen Massenphänomen, an denen bis zu sechzigtausend Personen anwesend sein konnten (vgl. Brundage 36). Die Hinrichtung wurde von den Anwesenden in der Regel als öffentliches Großereignis wahrgenommen, an man sich berauschte und ergötzte (Abb. 9)21. Lynching-Postkarten,

20 »By feminizing the black male body«, so bemerkt Shawn Michelle Smith, »the white male could once again claim his power and superiority over that body, effectively categorizing it alongside the female bodies, both black and white, over which he continued to wield political and social control« (1999, 147). 21 Die Kunsthistorikerin Dora Apel hält fest: »Thousands of people were attracted and fascinated by the ritualized murder of the spectacle of lynching. Sometimes lynchings were publicized in advance by local newspapers, supported by railroads that ran special excursion trains to the lynching sites or added extra railroad cars to bring people from surrounding

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Abb. 9: Volksfestcharakter beim Lynchfall des Afroamerikaners Will James, 1909

mit denen Fotografen »reaped a harvest in selling postcards showing a photograph of the lynched Negro«22, sowie all jene Fotografien, die von den anwesenden Zuschauern selbst geschossen wurden, spielten eine wichtige Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung und Rekonstruktion der Ermordung als feierliches Ereignis. Die Beschreibungen auf LynchingPostkarten, die an Freunde und Verwandte geschickt wurden, verdeutlichen die Unterhaltungsfunktion: »Well John – This is a token of a great day we had in Dallas, March 3rd, a negro was hung for an assault on a three year old girl [...]«23, berichtet ein Zuschauer seinem Freund. Auf einer weiteren Postkarte schreibt ein Sohn an seine Mutter: »This is the barbecue24 we had areas, and by schools that let out for the day, not to mention communities that attended en masse« (44). 22 The Crisis zitiert hier Bishop Gailor aus einer in Memphis, Tennessee ansässigen Zeitung: The Crisis (June 1915): 71. 23 Vgl. Abbildung Nr. 11 des Bildanhangs in John Lewis, Hg., Without Sanctuary. Lynching Photography in America (Santa Fe: Twin Palms Publishers, 2007). 24 Bezüge zu Essen finden sich im Lynching-Diskurs in Bezeichnungen wie »coon cooking«, »barbecue« oder »main fare« (vgl. Allen 175). In diesem Zusammenhang sei auf Otto Fenichels anregenden Aufsatz »Schautrieb und Identifizie-

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last night. My picture is to the left with a cross over it. Your son Joe«25. Die Hinrichtung wird zum festlichen Akt, bei dem Lynching-Postkarten – »a huge industry by the early twentieth century« (Apel 44) – gewissermaßen als eine Art visual merchandising dem entertainment der Massen dienen. Der schwarze Körper wird als Vergnügungsobjekt kommerziell gehandelt und zugleich in der subjektiven Erinnerung als berauschendes Ereignis rekonstruiert. Schwarzsein als Gebrauchswert steht in der Funktion der Unterhaltung eines weißen Massenpublikums, wobei der Schwarze sich nicht selbst als Komiker positioniert, sondern zum visuellen Unterhaltungsund Sammelobjekt instrumentalisiert wird – ein sozialer Funktionswert, der sich in abgeschwächter Form in degradierenden, den schwarzen Körper grotesk deformierenden Karikaturen, aber auch in der blackface minstrelsy wiederfindet. Als kommerzielles Verkaufs- und persönliches Erinnerungsmedium erhöhen Bildpostkarten den Gebrauchs- und Unterhaltungswert des schwarzen Körpers. Eine derartige Objektivierung des schwarzen Körpers durch das fotografische Medium, die diesen zum Objekt weißer Sensationsgier werden lässt und ihn als solchen gewinnbringend vermarktet, steht in direkter Analogie zur funktionalen Inbesitznahme des schwarzen Körpers im Sklavereisystem. Und auch hier führte in der Regel nur der Tod zur befreienden Erlösung aus Elend und Schmerz. Differenzmarkierungen von blackness entspannen sich aus dieser Sicht um die gegensätzlichen Pole von Humor und Gewalt, die die Macht der weißen Bevölkerung, Schwarze außerhalb gültiger Rechtsgrundlagen26 zu bestrafen, ebenso sehr vor Augen

rung« hingewiesen. Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet das Verständnis von Identifikation als zerstörerischer Einverleibungsvorgang, der grundlegend visuell erfolgt. Das Auge hat seinem Ansatz nach eine in erster Linie sadistisch-tödliche Bedeutung – es ist ein orales, d.h. fressendes Auge, das das Objekt des Blicks durch die optische Einverleibung vernichtet. »Die Wirksamkeit der symbolischen Gleichung Schauen = Fressen«, die Fenichel auch als »okulare Introjektion« beschreibt, manifestiert sich in Redewendungen wie etwa »mit den Augen verschlingen« (561). 25 Vgl. Abbildung Nr. 26 des Bildanhangs in John Lewis, Hg., Without Sanctuary. Lynching Photography in America (Santa Fe: Twin Palms Publishers, 2007). 26 An dieser Stelle sei betont, dass sich Lynching-Gewaltakte über keine offizielle Rechtssprechung legitimierten:

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führt, wie die dargestellte, karnevaleske Funktion schwarzer Identität – die Lust am Leid von African Americans. Zugleich wird die Hinrichtung des schwarzen Gewaltverbrechers auf Postkarten als erinnerungswürdiges Ereignis markiert. Bereits die Anwesenheit einer Fotokamera, so schreibt die amerikanische Kritikerin und Publizistin Susan Sontag in ihrem einflussreichen Essay On Photography (1977), wertet das Geschehen auf und beeinflusst damit maßgeblich die Wahrnehmung27: […] picture-taking is an event in itself, and one with ever more peremptory rights – to interfere with, to invade, or to ignore whatever is going on. Our very sense of situation is now articulated by the camera’s interventions. The omnipresence of cameras persuasively suggests that time consists of interesting events, events worth photographing. This, in turn, makes it easy to feel that any event, once underway, and whatever its moral character, should be allowed to complete itself – so that something else can be brought into the world, the photograph. (1977, 11)

Fotografien bzw. Postkarten als Potenzierungsmedium stereotyper Entwürfe sowie als Archivierungsort subjektiver Erlebnisse bringen das bereits erwähnte, ambivalente Zusammenspiel von Vergnügen und Gewalt zum Ausdruck, wobei Schwarzsein in beiderlei Hinsicht stets dem Wohl und Dienste weißer Vormachtsinteressen dient. Die eigentümliche Vermischung von Grausamkeit und Lust, die in der Lynching-Fotografie präsent ist, verweist auf eine pornografische Dimension der Bilder. In ihrem Artikel »Torture as Pornography« (2004) thematisiert die amerikanische Historikerin Joanna Brouke am Beispiel der Folter-

»Lynching has always been illegal, but its perpetrators have traditionally gone unpunished. The cultural forces of racism (and sexism) have historically been strong enough to allow these crimes to pass unprosecuted. […] The members of lynch mobs were often protected from prosecution by a cultural rhetoric and practice that simply refused to recognize them and proclaimed lynchings the actions of ›persons unknown‹« (Smith 2007, 16). 27 Die Bezeichnung Kalytopie, ein von William H. Fox-Talbot entwickeltes Positiv-Negativ-Verfahren, die von dem griechischen Wort kalos (schön) stammt, sieht Susan Sontag als Indiz dafür, dass Menschen dazu tendieren, Dinge zu fotografieren, die sie schön (im Sinne von erinnerungswürdig/interessant) finden (vgl. Sontag 1977, 84).

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Abb. 10: Lynching-Fotografie mit Haaren der Opfer Thomas Shipp und Abram Smith, 1930

Abb. 11: »All OK and would like to get a post from you. Bill, this was some Raw Bunch…«. Beschriebene Lynching-Postkarte, Pfeil weist auf das gelynchte Opfer Allen Brooks, 1910

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bilder irakischer Häftlinge in Abu Ghraib die in den Fotografien zur Schau getragene Erotisierung menschlicher Erniedrigung, die dem Betrachter voyeuristische Lust beim Anblick von Leid verschafft: [...] the pornography of pain as shown in these images is fundamentally voyeuristic in nature. The abuse is performed for the camera. It is public, theatrical, and elaborately staged. These obscene images have a counterpart in the worst, non-consensual sadomasochistic pornography. The infliction of pain is eroticised. (6)

Das bildsprachliche Arrangement der Folterbilder – Gefangene, die dazu genötigt werden, sich zu entblößen und erniedrigende Posen einzunehmen – zeigt eine deutliche Verknüpfung zwischen der Anwendung von körperlicher Gewalt und sexueller Demütigung. Es ist wohl die Schaulust am Anblick der am menschlichen Körper inszenierten Erniedrigung, die die Sicht auf die Folter- und Lynching-Bilder zu einem pornografischen Blick werden lässt. Mit speziellem Fokus auf die Lynching-Fotografie erschöpft sich die Schaulust neben der angedeuteten Lust an (sexueller) Beschämung und am Leid der Opfer, insbesondere in der triumphalen Einverleibung/Bemächtigung des schwarzen Sexualkörpers, dessen Emanzipation die Gefahr einer unkontrollierbaren Auflösung verankerter Hierarchien implizierte. Leon Litwack spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Art »Volkspornografie«, die sich Ende des 19. Jahrhunderts im öffentlichen Bewusstsein des amerikanischen Südens verankerte: »It took a little time before a ›folk pornography‹ emerged in the South […]. To endorse lynching was to dwell on the sexual depravity of the black man, to raise the specter of the black beast seized by uncontrollable, savage, sexual passions that was inherent in the race« (22; Herv. i. Org.). Aufschlussreich für den Diskurs der am Blick orientierten Einverleibung/Bemächtigung erscheint Otto Fenichels psychoanalytische Studie »Schautrieb und Identifizierung« von 1935. Ausgehend von der »Wirksamkeit der symbolischen Gleichung Schauen = Fressen« (561), legt der Psychoanalytiker den Schautrieb als oralen Einverleibungsvorgang fest. Davon ableitend deutet Fenichel Identifikation als eine Form der vernichtenden Bemächtigung über den Blick. Die primäre Identifizierung an dem Vorbild eines anderen Subjekts oder Gegenstandes, d.h. über die (orale) Wahrnehmung der Außenwelt, bildet, so Fenichel, den Ausgangspunkt der Subjektbildung: »das Kind identifiziere sich mit dem, was es sieht. Das gesehene Objekt fressen, ihm ähnlich wer-

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den (es nachahmen müssen), oder umgekehrt es zwingen, einem selbst ähnlich zu werden« (ebd. 563)28. Identifikation erfolgt zunächst über die orale Identifizierung mit dem Objekt; darüber hinaus ist Identifikation an die Vorstellung eines verschlingenden Blicks gebunden. Die Einverleibung durch das (orale) Sehen ist bei Fenichel unter Bezug auf Freuds Überlegungen zum Schautrieb als Partialtrieb der Sexualität im Wesentlichen libidinös29 geprägt. Sie ist mit Aspekten des Lustgewinns, der Bemächtigung und Vernichtung des Objekts versehen, so dass Fenichel den Schautrieb30 auch als einen sadistischen Akt begreift (vgl. ebd. 564). Wichtig für den Diskurs der Lynching-Fotografie erscheint die Vorstellung der libidinös konnotierten, zerstörerischen Besitznahme des Objekts durch das Sehen und der damit verbundenen (negativen) Identifikation mit dem gebannten Ziel des Blicks. Der nachfolgende Diskurs arbeitet drei zentrale Funktionsbestimmungen der Lynching-Bildkultur heraus.

28 Auf die orale Struktur der Identifizierung als Form des Schautriebs, die Fenichel auch als orale Introjektion beschreibt, hatte bereits Freud hingewiesen: Die Identifizierung ist »von Anfang an ambivalent, sie kann sich ebenso zum Ausdruck der Zärtlichkeit wie zum Wunsch der Beseitigung wenden. Sie benimmt sich wie ein Abkömmling der ersten oralen Phase der Libidoorganisation, in welcher man sich das begehrte und geschätzte Objekt durch Essen einverleibte und es dabei als solches vernichtete« (Freud 1972 [1921], 116; Herv. i. Org.). 29 Fenichel analysiert die Oralität des Auges im Hinblick auf seine genitale Dimension, d.h. im Zusammenhang mit der Vorstellung eines phallischen/vaginalen Blicks, der auf das Motiv der Kastrationsangst zielt. Die phallische Potenz des Auges deutet Fenichel mit Bezug auf Freud als Kastrationssymbol. Die vaginale Bedeutung bezieht sich auf den Kastrationsschreck im Anblick des fratzenhaft verzerrten Medusenhauptes/der weiblichen Genitales. 30 Das Auge, das die Fähigkeit besitzt, das Objekt zu bannen und damit wehrlos zu machen, hat für Fenichel »selbst schon die Bedeutung eines abgeschwächten Zerstörens« (564).

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3.1.1 Gebrauchsweisen der Lynching-Fotografie Der Diskurs zur Lynching-Fotografie verdeutlichte die Möglichkeiten des Bildes jenseits seiner traditionell abbildenden Funktion. In Erweiterung des rein darstellenden Bildbegriffs wurde das Augenmerk auf den performativen, ereignishaften Charakter als den Bildern konstitutive Eigenschaft gelenkt, der das Bild als machtfunktionales, kommerziell-materialistisches, differenzkonstituierendes oder gar magisch aufgeladenes Objekt festschreibt. Dabei wurden der Entstehung und dem Einsatz der LynchingFotografie zwei elementare, konstitutiv miteinander verschränkte Leitgedanken zugrunde gelegt: die Integration des Selbst bzw. die existentieller Angst vor der Auflösung des Selbst und die repräsentationale Konstruktion/Beherrschung/Unterwerfung des feindlichen Anderen zur Abwehr drohender Desintegration. Integration des Selbst und symbolische Vergemeinschaftung Vergleichbar mit den typologisierenden Repräsentationsformen anthropometrischer Verfahren wird in der Lynching-Fotografie der Körper als jeder Handlungsmächtigkeit beraubtes, entblößtes Objekt dargeboten, um sich der eigenen Überlegenheit und des eigenen Subjektstatus zu versichern. Die auf den Fotografien zur Schau getragenen Ermächtigungsgesten stellten für Schwarze ebenso wie für Weiße nachhaltig eindrucksvolle Signale der Abschreckung sowie der gruppenbildenden und klassenübergreifenden Solidarisierung/Vergemeinschaftung bereit: »Lynching photos, like the acts they represented, were meant to demonstrate race-color-caste solidarity across classes, from rich to poor, to oppose black advancement and reaffirm a sense of white racial superiority […]« (Apel 46). Während der Lynchmord zur Formierung einer geschlossenen weißen Identität unter all jenen beitrug, die dem Gewaltakt beiwohnten, ermöglichte die Fotografie eine Erweiterung dieser Gemeinschaft weit über die Stadt, den Staat oder den amerikanischen Süden hinaus. Die brutale Inbesitznahme des schwarzen Körpers im Bild führte eine mehr oder minder intakte Gemeinschaft als integere Einheit zusammen, die unter Benedict Andersons Begriff der imagined community beschrieben werden kann. Anderson begreift Nationen als ein in erster Linie imaginiertes Beziehungsgefüge, »because the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-

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members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion« (6)31. Diesem Ansatz folgend, soll auf das Potential der Entgrenzung von Identität über das fotografische Medium aufmerksam gemacht werden: über die Lokalität des Geschehens hinaus ermöglichen Fotografien eine zeit- und ortsungebundene Identifikation mit dem Dargestellten. Allerdings geht es nicht allein um den Aspekt von Vorstellung im Sinne der Formierung von Gemeinschaft aus Menschen, die in keiner face-toface-Beziehung mehr zueinander stehen, sondern vor allem den Bedeutungsinhalt der Vorstellung. Das Gespenst der Emanzipation und der daraus resultierenden Neustrukturierung bestehender Machtverhältnisse entwickelten sich zur spukhaften, un(be)greifbaren Realität. Die Postkarten und Fotografien ermöglichen eine Aufladung kollektiver Befindlichkeiten durch das Imaginäre, d.h. sie fungieren als Signifikanten (Bedeutungsträger), die sich mit dem Vorstellbaren bzw. der Beseitigung des Unvorstellbaren füllen lassen. Das Bild verleiht dabei dem, was der Realität entglitt, einen Bedeutungskörper. Weiße Identität wird fiktional beschrieben, als sie sich in Abgrenzung/Übereinstimmung mit der imagined community, d.h. der symbolischen Inbesitznahme des schwarzen Körpers ableitet. Dass Sklaven über ihre Körper nicht verfügten und dieser Objektstatus das Recht des weißen Sklavenhalters voraussetzte, diesen zu maßregeln, ist ein zentraler Aspekt der Bildsprache, die sich in erster Linie über die gewaltsame körperliche Aneignung vermittelt. Historisch wie optisch erscheint die LynchingÄsthetik als eine aus dem Regime der Sklaverei abzuleitende Ermächtigungs-/Unterwerfungsgeste. Die technische Apparatur, das fotografische Medium selbst, ermöglichte zudem die Entkörperlichung/Verdinglichung – die endgültige Auflösung des Leibes. Die historischen Abhängig- und Zugehörigkeiten werden innerhalb eines visuellen Bildraumes erinnert und zugleich in das neue Raster der Nation eingeschrieben. Der fotografisch archivierte Körper ist zugleich Ziel von Gewalt und Erniedrigung sowie Ort der Schaulust und Erinnerung. Die Fotografien stellen immer mehr dar als die Aufzeichnung historischer Begebenheiten.

31 Die Entstehung von Nationalstaaten setzte, so Anderson, ein mediales Forum (Zeitung) voraus, über die die Mitglieder eines Staates sich selbst als Teil einer nationalen Gemeinschaft imaginieren konnten (vgl. 24-25).

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Sensationsgier, Schaulust, Ermächtigungsritual, Triumphgesten, Solidarisierung verweisen auf eine verhaltenswirksame, d.h. performative Wirkung der Lynching-Bilder – sie deuten auf die Präsenz der Kamera, die die Täter gleichsam für die Bildherstellung handeln lässt. Der Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Horst Bredekamp schlägt eine Theorie des Bildaktes vor, in der das Bild, neben seinem Gebrauch als zeithistorisches Dokument, als Bildakt für das Denken und Handeln konstitutiv ist und als solcher auf das zeitgeschichtliche Geschehen selbst einwirkt: Die Annahme, daß Bilder im Sinne eines authentischen Dokumentes ›wahr‹ zu sein hätten, hängt mit dieser aktivierenden Botschaft zusammen, die dem Bedürfnis entgegenkommt, mit Hilfe der Bilder einer Person zu begegnen oder eine Handlung mitzuerleben. Indem Bilder als Fakten erzeugende, lebendige Akteure erachtet werden, wirkt dieses Prinzip auch im politischen Raum. Hierin liegt der Grund, warum es schwerfällt, kategorial zwischen Geschichte und Bildgeschichte zu trennen. Bilder stehen zur Welt der Ereignisse in einem gleichermaßen reagierenden wie gestaltenden Verhältnis. Sie geben Geschichte nicht nur passivisch wieder, sondern vermögen sie wie jede Handlung oder Handlungsanweisung zu prägen: als Bildakt, der Fakten schafft, indem er Bilder in die Welt setzt. (2004a, 29-30; Herv. i. Org.)

Bredekamp analysiert seine Ideen zur prägenden, über illustrative Eigenheiten hinausreichende Kraft von Bildern besonders eindringlich an dem für diesen Forschungskontext bedeutsamen Beispiel von Terrorstrategien, die auf die Schaffung öffentlichkeitswirksamer Schreckensbilder abzielen. In der Diskussion um die Bilder gefolterter irakischer Häftlinge im Gefängnis von Abu Ghraib und die darauffolgende Enthauptung weißer amerikanischer Zivilisten vor laufender Kamera als repräsentationale Antwort der Al Quaida macht Bredekamp auf den fatal-kausalen Zusammenhang zwischen Tötung und Bildproduktion aufmerksam: In dem Moment, in dem man Judith und das Haupt des Holofernes im Bild etwa Botticellis oder Caravaggios sieht, denkt man nicht an einen realen Körper; vielmehr ist das Zeigen des Kopfes eine symbolische Aktion. [...] Hier dagegen ist ein Mensch tatsächlich getötet worden, um dieses Bild zu produzieren. [...] Daher wird der Zweck des Enthauptens, ein Bild zu werden, das die Augen von Rezipienten erreicht, zum Bildakt, zur Körperpolitik. Nicht tausend Schüsse, sondern Bilder, auf

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dem Gefangene an Hundeleinen gehalten werden, können noch in fünfzig Jahren das Bild der USA in der arabischen Welt bestimmen. (2004b, 17)

Der Tötungsakt wird genutzt, um ein Bild herzustellen, deshalb wird die Enthauptung selbst zum Bildakt, der Bildakt zum Tötungsakt. Im Kontext der kommerziellen Vermarktung ermordeter Körper durch die LynchingBildkultur sei die Performativität der Fotografien herausgestellt, denn diese zeigen nicht nur den Akt des Tötens und Sterbens, sondern sind integraler Bestandteil des Tötens und Sterbens selbst; abgesehen von einer zweifelhaften Vergeltungsmaßnahme zum Zwecke der ›angemessenen‹ Bestrafung des schwarzen Gewalttäters, die in den meisten Fällen außerhalb gültiger Rechtsnormen erfolgte, funktionalisieren der Kauf und Verkauf von Fotografien und Postkarten die Hinrichtung insofern, da sich die Tötung als Zweck der Bilderzeugung selbst erweist. Tod und Zerstörung werden auf Lynching-Bildern nicht nur als Ergebnis gewaltsamer Handlungen, sondern als Ereignis des Tötens festgehalten. Bredekamp weitet eine derartige Tötung, deren Zweck an die Ikonisierung des Tötungsaktes gebunden ist, auf die Betrachtung dieser Bilder aus: »Wenn das Töten eines Menschen den Zweck hat, seinen Tod zum Bild werden zu lassen, dann ist das Betrachten dieses Bildes unabdingbar ein Akt der Beteiligung« (ibid.). Die Betrachtung von Bildern (menschlichen Leidens) ist auf eine Art komplizenhaft, denn sie nimmt Einfluss auf die (nicht zuletzt gestalterische) Inszenierung und Wahrnehmung des Geschehens selbst. Susan Sontag hebt die Bedeutung des Aufzeichnens durch den Fotografen als »act of non-intervention« hervor und verweist damit auf das unausgesprochene Einverständnis mit dem Geschehen im Moment der Bildaufzeichnung. Dabei scheint der Akt der Zurückhaltung und des Nichteingreifens ein Teil des Schreckens zu sein, der, so Butler, von gewaltsamen Bildern ausgehe: Part of the horror of such memorable coups of contemporary photojournalism as the pictures of a Vietnamese bonze reaching for the gasoline can […] comes from the awareness of how plausible it has become, in situations where the photographer has the choice between a photograph and a life, to choose the photograph. (1977, 11-12)

Der Akt des Fotografierens ist demnach immer mehr als eine passive Beobachtung. Er misst dem Ereignis eine besondere Bedeutung zu:

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To take a picture is to have an interest in things as they are, in the status quo remaining unchanged (at least for as long as it takes to get a ›good‹ picture), to be in complicity with whatever makes a subject interesting, worth photographing – including, when that is the interest, another person’s pain or misfortune. (Ebd. 12)

Oder anders ausgedrückt: das Ding an sich ist ereignislos. Erst in der (machtfunktionalen) Repräsentation und der daran anknüpfenden Rezeption nimmt ein Ereignis Gestalt und Bedeutung an. Bedeutsame Ereignisse und deren soziale Funktion sind wesentlich auf ihre spektakularisierte Repräsentation angewiesen. Die Lynching-Bildkultur spielte eine entscheidende Rolle in der Wahrnehmung der Gewalt an Schwarzen als spektakuläres Ereignis, als Sensation. Sie affirmierte die Existenz eines imaginären Konstrukts, das ihre Betrachter bejubelten, das in der Vorstellung bestehen blieb und dessen enorme Wirkung letztlich die Gewalttätigkeit des Bildregimes widerspiegelt, das diese Vorstellung zuallererst geschaffen hat. Totenbild und Lebensschutz Die Lynching-Fotografien können gleichwohl im mythischen Bereich der Bildermagie angesiedelt werden. Im Hinblick auf das Lynching-Bild als Ausdruck von und Wappnung vor subjektiven Ängsten erscheinen Robert Castels Überlegungen erwähnenswert, die sich mit den magischen Funktionen der Fotografie beschäftigen: Die ›Jagd nach Bildern‹ erbeutet nicht lediglich eine leblose Kopie. In ihren allgemeinsten Gebrauchsweisen scheint die Photographie wiederzuentdecken und wiederzubeleben, was in den archaischen magischen Verhaltensformen virulent war. Das Talismanbild kann als Ersatz für die Person fungieren, der Furcht und Verlangen in sich aufnimmt, das eigene Selbstbewußtsein und die Manipulation anderer stützt. Es sind zahlreiche Beispiele für letztlich magische Manipulationen der Photographie bekannt, als ob die chemische Reaktion, die das Bild zum Vorschein kommen läßt, zugleich tief verankerte affektive Werte festhielte. (245)

Der archivierte Tod, der entwickelt, weitergeschickt, vervielfältigt und konsumiert wird, ist Beutestück und Andenken, das von der persönlichen Teilnahme der Ermordung zeugt und zugleich als magisch aufgeladenes Objekt dient, als Talisman, um sich seines eigenen Überlebens sicher zu

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sein, »um sich selbst im Bild als Ermächtigung und Wappnung zu dokumentieren« (Bredekamp 2004b, 17). Aus dieser Annahme ergibt sich dreierlei: Das Gefühl der Stabilität, Gemeinschaft und Ganzheit stellt sich nicht nur imaginär her, also über die Betrachtung mit dem Bild, oder formal-motivisch auf der Ebene des Bildsujets, sondern auch auf der Ebene des Bildträgers, des materiellen Dokuments. Die Bilder der Toten erlangen die Bedeutung von Trophäen, die der Stabilisierung und dem Schutz des distanzierten weißen Subjekts dienen. Der fotografierte Lynchmord beschreibt einen Ort, an dem das Spiel mit dem Tod zugleich seine Beherrschung bedeutet: der eigenen Errettung geht die Gefährdung und Tötung des anderen voraus. Das sterbliche Subjekt wähnt sich im Besitz des Unfassbaren, dem er ansonsten wehrlos ausgeliefert wäre. Der auf dem Bilde gebannte, zum Ansichtsmotiv erstarrte Tod als Metapher der Bezwingung des eigenen Schicksals erscheint in seine Schranken verwiesen und dauerhaft überwunden. Der Anblick des Todes wirkt nunmehr apotropäisch, das heißt lebensschützend. So bringen die Bilder nicht nur den Tod, sondern auch das Leben – aus der einstigen Bedrohung ist ein Schutz vor dem Unheil geworden32. »The feeling of being exempt from calamity«, so Sontag über das Betrachten von Unheil, stimulates interest in looking at painful pictures, and looking at them suggests and strengthens the feeling that one is exempt. Partly it is because one is ›here,‹ and not ›there,‹ and partly it is the character of inevitability that all events acquire when they are transmuted into images. In the real world, something is happening and no one

32 Die Bedeutung des Medusa-Mythos liegt in ebenjener dialektischen Wirkungsweise des Bildes. Der Mythos beschäftigt sich mit der Verwandlung eines einst tödlichen Anblicks, der, im Tode gebannt, zum Schutz vor Unheil eingesetzt wird. Medusas schlangenhaariges Haupt zog die Blicke an, es wirkte erregend, es kastrierte und ließ ihre Betrachter zu Stein erstarren. Sie selbst wurde das Opfer einer Enthauptung durch Perseus, der dem König Polydektes als ein Geschenk für sein Gastmahl ihr Haupt versprach, wohl wissend, dass Medusa jeden versteinert, der sie erblickt. Mit Hilfe der Göttin Athene gelang es Perseus, Medusa zu töten, ohne sie dabei anzusehen, sondern allein ihr in seinem Schwert gespiegeltes Bild. Ihr abgeschlagenes Haupt weihte er Athene, die es fortan als Talisman zum Schutz vor Unheil in ihrem Brustpanzer bewahrte.

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knows what is going to happen. In the image-world, it has happened, and it will forever happen in that way. (1977, 168; Herv. i. Org.)

Serial Killing – Alles wird Stillleben Abschließend soll auf die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Tötungsaktes aufmerksam gemacht werden, d.h. auf das Potenzial der endlosen Reproduktion des Bildes/des Geschehens, »[that keeps] the scene going, again and again, promising a further visual consumption of the sadistic pleasure after the event« (Butler 2007, 961). Die Reinszenierung bzw. Zitation kommt ohne ihr Original bzw. ihren Referenten, aus – der anonyme schwarze Körper ist auf eine allgemeine soziale Gegebenheit übertragbar. Ein zweiter Sieg in Dauer, im endgültig bezwungenen Objekt; vom endlichen Ereignis zum Jetzt und immer Gültigen. Über die terminale Wirkmacht der Fotografie, den Menschen anzuhalten und in Gewahrsam zu nehmen, schreibt Roland Barthes: »Die Photographie ist gewaltsam, nicht weil sie Gewalttaten zeigt, sondern weil sie bei jeder Betrachtung den Blick mit Gewalt ausfüllt und weil nichts in ihr sich verweigern noch umwandeln kann […]« (38; Herv. i. Org.)33.

33 Ähnlich formuliert es Jacques Lacan im neunten Kapitel seiner Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse: »Der böse Blick ist das fascinum, das, was durch seine Wirkung die Bewegung stocken läßt und buchstäblich das Leben ertötet. Im Augenblick, wo das Subjekt einhält und seine Gebärde unterbricht, wird es mortifiziert. Die Anti-Leben- und Anti-Bewegungsfunktion dieses terminalen Punktes ist das fascinum, und es geht hier durchaus um eine der Dimensionen, in denen der Blick seine Wirkgewalt direkt entfaltet« (1978, 125; Herv. i. Org.). Für den Kunsthistoriker Gottfried Boehm bindet sich die »Repräsentation […] an Abwesenheit und Tod. Sie antwortet darauf und gewinnt durch die Folie der Vergänglichkeit und der Nichtigkeit erst den Glanz und die Kraft ihrer Präsenz. Zugrunde liegt diesem Verständnis die Vorstellung der binären Opposition: Gegenwärtigkeit/Absenz. Das Bildwerk ist die dialektische Reaktion auf die Faszination und die Namenlosigkeit des Todes« (2001, 7).

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4. R EVISIONEN IM AFRIKANISCH -AMERIKANISCHEN Z EITUNGSDISKURS Im schwarzen Zeitungsdiskurs wurden Lynching-Fotografien zu Ikonen des Widerstands und Protests, zu Beweisen, die ihre Hersteller und Betrachter der Mittäterschaft überführen. Sie bilden höchst emotionalisierende Gestaltungsmomente der schriftlichen Aufarbeitung, die sich Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem rasanten Anstieg gewaltsamer Lynchmorde, immer offener und deutlicher gegen diese Form des rassistischen Terrors aussprach34. Besonders die bundesweit zirkulierenden Zeitungen, wie The Crisis, Chicago Defender und New York Amsterdam News, verbanden ihre Berichterstattung verstärkt mit Anti-Lynching-Aktionismus. Die Fotografie bildete dabei einen zentralen Anreiz, die Wahrnehmung so unmittelbar wie möglich an das Geschehen heranzuführen und mit der realen Präsenz der Tat zu konfrontieren. Die 1909 gegründete Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), aus der die Zeitung The Crisis hervorging, nutzte das emotionalisierende Potential der Lynching-Fotografien zur psychologischen Mobilmachung und begann ab 1911 Lynching-Fotografien in ihrer Publikation zu reproduzieren. 1930 verfügte die Organisation über ein umfassendes Bildarchiv, von dem auch andere Aktivisten, Schriftsteller, und Journalisten ihr Bildmaterial bezogen (vgl. Wood 188).

34 Viele schwarze Journalisten riskierten durch eine kritische Berichterstattung über Lynchings ihr Leben. So erzeugten die unmissverständlich klaren Worte der schwarzen Journalistin und Bürgerrechtlerin Ida B. Wells eine derart große Welle an Aufregung in der weißen Bevölkerung ihrer Heimatstadt Memphis, dass sie sich gezwungen sah, dem Süden den Rücken zu kehren. Zum Tatvorwurf der Vergewaltigung weißer Frauen durch schwarze Männer schrieb sie im Mai 1892 in der Free Speech: »Nobody in this section believes the old threadbare lie that Negro men assault white women. If Southern white men are not careful they will overreach themselves and a conclusion will be reached which will be very damaging to the moral reputation of their women« (zt. n. Jordan 20). Zur Lynching-Berichterstattung in schwarzen Zeitungen vgl. auch: William G. Jordan, Black Newspapers and America’s War for Democracy. 1914-1920 (Chapel Hill und London: North Carolina UP, 2001).

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Abb. 12: Titelblatt des Chicago Defender vom 29. Juli 1916 zum Lynchmord Jesse Washingtons

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Abb. 13: Spiegel-Titelbild mit Folterszene aus dem Abu GhraibGefängnis vom 20. Februar 2006

So titelte der Chicago Defender am 29. Juli 1916 anlässlich der brutalen Ermordung Jesse Washingtons, eines schwarzen Siebzehnjährigen, der des Mordes an einer weißen Frau bezichtigt wurde, in Großbuchstaben »AMERICA’S SHAME« über einer darunter abgebildeten Fotografie, die den erhängten und stark verbrannten Leichnam des jungen Mannes zeigt (Abb. 12). Die mittig angebrachte Fotografie überschattet alle anderen Themen der ersten Seite. Die enorme Wirkung der auf dem Bild vermittelten Gewalt zieht das Leserinteresse geradezu in die ausführliche Analyse des Lynching-Falles auf der zweiten Seite. Ein Vergleich des Chicago Defender-Titelblatts bietet sich mit der Titelseite des deutschen Magazins Der Spiegel vom 20. Februar 2006 an: darauf abgebildet ist ein irakischer Gefangener des Bagdader Gefängnis Abu Ghraib, der nackt mit nach hinten geneigtem Kopf, ausgestreckten Armen und überkreuzten Beinen im Gefängnisflur steht; Fäkalien auf Gesicht, Händen, Brust und Beinen erinnern an Wunden und Verletzungen, aus denen Blut über den Körper strömt. Der Schriftzug des Zeitschriftentitels »AMERIKAS SCHANDE« verläuft exakt auf der Höhe der Genitalien (Abb. 13). Beide Zeitungen setzen einen sozialen Missstand, der sich in dem Folterverbrechen äußert, mit der amerikanischen Nation gleich. Amerika gilt als Inbegriff des Bösen, als Symbol für

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Unmoral und Sittenverfall, als Inbild staatlicher Willkür und Gesetzlosigkeit. Die Ermordung Jesse Washingtons erregte aufgrund der Brutalität des Vorgehens und des enormen Ansturms an Zuschauern – etwa fünfzehntausend Schaulustige zog der Lynchmord an – landesweit Entsetzen und ging als besonders grausames Beispiel in die Geschichte der amerikanischen Lynchjustiz ein. The Crisis publizierte in ihrer Juli-Ausgabe von 1916 eine achtseitige Sonderbeilage zu dem Lynchmord. Die in dem Zeitungstext verwendeten Fotografien bestimmen im Wesentlichen die emotionale Wahrnehmung des Berichts, der auf bildlicher Ebene als visuelle Erzählkurve mit einer einleitenden Anfangssequenz, einem aufwühlenden Mittelund explosiven Schlussteil konzipiert ist. Auf den ersten Seiten werden zunächst Aufnahmen der für die Stadt repräsentativen Gebäude gezeigt – die Universität, das Rathaus, das Gerichtsgebäude, das Gotteshaus der First Baptist Church –, über die Waco als ein friedvoller, zivilisiert-gesitteter Ort in Erscheinung tritt. Im Vergleich zu den Aufnahmen der sterblichen Überreste des verbrannten Leichnams am Ende des Berichts wirken die beschaulichen Bilder verstörend und lassen das Auftreten einer solchen Tat umso fragwürdiger erscheinen. Der Mittelteil des Berichts wird mit zwei Aufnahmen der schaulustigen Menschenmenge illustriert. Die Wahrnehmung der Zuschauer als unübersichtlicher, geradezu grenzenloser Massenauflauf wird über die Vogelperspektive in einer der beiden Aufnahmen sowie über den gewählten Bildausschnitt – die Menschenansammlung wird durch die Begrenzung der Fotografie selbst beschränkt – erreicht35. Die Reduzierung und damit Fokussie-

35 Die Menschenmasse formiert sich um den Todesbaum als zentralen Bildmittelpunkt, an dessen Füßen der Erhängte auf einer Art Scheiterhaufen der finalen Verbrennung zum Opfer fällt. Während der Zeitungstext ausführlich auf die Gräueltaten der Anwesenden eingeht – etwa die getroffenen Vorbereitungen zur Verbrennung des Leichnams oder das Abschneiden einzelner Körperteile am Leichnam –, ist die Bildsprache von der anonymen, auf die Vorgänge starrenden Menschenmenge bestimmt. Auf den Bildern gerät das kollektive Sehen, der Blick als kulturell gesteuerter Sehakt, in den Mittelpunkt, der mitbestimmt, welches Leben als lebenswert erachtet wird und welches nicht. Die von den örtlichen Behörden in Auftrag gegebenen Aufnahmen verdeutlichen die Bedeutung des Zusehens als konstitutiven Akt der Hinrichtung. Die Lynching-Bildkultur

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rung des Bildausschnittes auf die Menschenmenge rückt die Rolle der Zuschauer in den Blick, die nun ihrerseits zum stillgelegten Objekt der Betrachtung werden. Demnach bestimmen nicht nur Schaulust, Dominanzgebaren und Sensationsgier die Bildaussage: die visuelle Fokussierung der Menschenmassen ruft vor dem Hintergrund ihrer Rekontextualisierung die moralische Verantwortung jedes einzelnen auf den Prüfstand und macht dadurch den kulturellen Handlungsrahmen sichtbar, der festlegt, wann menschliches Leben ohne Rücksicht auf seine Würde erniedrigt und zerstört werden kann. Ein Teil der Bestürzung, die Lynchings bzw. Lynching-Fotografien (aus heutiger Sicht) bewirken, liegt meines Erachtens darin, dass eine ethische Betrachtung des Geschehens im Sinne einer »invitation to pay attention, to reflect, to learn, to examine the rationalizations for mass suffering offered by established powers« (Sontag 2003, 117) im Wahrnehmungsfeld der weißen Betrachter/Teilnehmer nur vermindert oder überhaupt nicht vorhanden war. Der gefolterte, verwundete, unterworfene schwarze Körper war als festes Körperbild zur visuellen Norm pervertiert, die eine Betrachtung des Schwarzen als (leidenden) Menschen erschwerte oder gar vollständig unterband36. Judith Butler spricht von der visuellen Rahmung ethischer Wahrnehmungsfähigkeit, von der Schwierigkeit »to learn to see the frame that blinds us to what we see« (2007, 966). Die Fähigkeit, mit Widerstand und Kritik auf Normen zu reagieren, die das Menschliche festlegen, hänge, wie Judith Butler in ihrem Essay »Torture and the Ethics of Photography« (2007) darlegt, mitunter davon ab,

beschreibt einen Machtdiskurs, bei dem es vorrangig um die Ausstellung und Zurschaustellung, das Bloßstellen und Vorführen geht – um die eigene Überlegenheit im Anblick des zu Tode Gequälten, das Gefühl der Erhabenheit über das Leben und den Tod. 36 Ida B. Wells verweist in ihrem Anti-Lynching-Pamphlet A Red Record (1895) auf die gesellschaftliche Missachtung und Geringschätzung schwarzer Menschen als kulturelle Norm, die sie für das Ausbleiben einer angemessenen Aufklärungsarbeit von Lynchmorden verantwortlich sieht: »[…] the finding of the dead body of a Negro, suspended between heaven and earth to the limb of a tree, is of so slight importance that neither the civil authorities nor press agencies consider the matter worth investigating« (1969 [1895], 44).

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how the differential norm of the human is communicated through visual and discursive frames. There are ways of framing that will bring the human in its frailty and precariousness into view, allow us to stand for the value and dignity of human life, to react with outrage when lives are degraded or eviscerated without regard for their value as lives. And then there are frames that foreclose responsiveness, to be understood as the negative action of existing frames, so that no alternative frames can exist […]. (Ebd. 955)

Wenn die kulturellen und politischen Rahmenbedingungen, die über die Norm des Menschlichen entscheiden, auch in der Dramaturgie des fotografischen Blicks, im aktiven Akt des Fotografierens eingeschrieben sind, wenn the photograph does not only depict the event, but build and augment the event, if the photograph can be said to reiterate and continue the event, then the photograph does not, strictly speaking, postdate the event, but becomes crucial to its production, its legibility, its illegibility, and its very status as reality. (Ebd. 958; Herv. P.E.)

Die Rahmungen fungieren somit nicht nur als selektive Begrenzungen des Bildes, sondern formulieren einen bestimmten politischen Hintergrund, der seinerseits auf die Ästhetik/Wirklichkeit des Geschehens einwirkt. Fotografien, die auf den ursprünglichen Ort ihrer Aufnahme verweisen, erheben einen indexikalischen Anspruch. Sie fungieren als Referenz von etwas, das bereits stattgefunden hat. Andererseits, so Butler, »they change their meaning depending on the context in which they are shown and the purpose for which they are invoked« (ebd. 957). Bilder, die eine kritische Befragung ihrer Interpretationsmöglichkeiten einräumen oder diese gar bewirken, demaskieren und erweitern die unsichtbaren, ideologischen Mechanismen, die bei der Deutung der Realität operieren – sie konstituieren »a disobedient act of seeing« (ebd. 952). Auf den letzten Seiten des Waco-Berichts erscheint der erhängte Jesse Washington auf gleich vier Fotografien. Die unterschiedlichen Perspektiven auf den Torso, der in der Vorder-, Rücken-, Unter- und Draufsicht dargestellt ist (der Bericht endet mit der Fotografie des verbrannten Leichnams), ermöglichen eine multiperspektivische Sicht. Die multiperspektivische Bebilderung bewirkt eine dreidimensionale Präsenz des realen Körpers/des Geschehens. Der defizitär markierte, zergliederte Körper wird als Einheit

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wiederhergestellt, die Gewalteinwirkungen in ihrer Vollständigkeit rekonstituiert. Ein ähnlicher Effekt wird durch eine Fotografie erreicht, die der Chicago Defender am 21. Mai 1927 zum Lynchmord von John Carter in Little Rock, Arkansas veröffentlichte. Die mehrfachbelichtete Fotografie, die mehrere Aufnahmen zu einem Bild kombiniert, zeigt verschiedene Szenen des Geschehens aus unmittelbarer Nähe: den an einen Baum festgeketteten Toten, heftig gestikulierende Zuschauer, zwei Männer mit brennenden Fackeln, die sich dem lodernden Scheiterhaufen nähern. Anstelle der mimetischen Abbildung, die die Brutalität des Geschehens neutralisieren könnte, tritt die technische Rekonstruktion. Über die Kombination detaillierter Nahaufnahmen verdichtet sie das Ausmaß der Gewalt in einem einzigen Bild. Zu den gewalttätigen Unruhen in East St. Louis vom 2. Juli 1917 erschien in der September-Ausgabe von The Crisis (1917) eine neunzehnseitiger Sonderbericht. Das Massaker, das sich in der Industriestadt East St. Louis, Illinois ereignete, war Ausdruck schwelender Interessenkonflikte zwischen weißen und schwarzen Arbeitern. Der Erste Weltkrieg hatte einen Mangel weißer Arbeitskräfte zur Folge, der durch einen beträchtlichen Zustrom schwarzer Arbeiter aus dem Süden weit mehr als getilgt wurde. Angesichts der zuströmenden Massen an schwarzen Arbeitern fürchteten weiße Arbeiter und Gewerkschaftler den zusätzlichen Wettbewerb sowie die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. In der Folge einer Verwechslung, die zur Erschießung zweier weißer Beamte durch Schwarze führte, eskalierte die Gewalt in der Stadt. Ein wild wütender Mob, der im Anschluss an den Vorfall in das Schwarzenviertel der Stadt eilte, wurde auch von Frauen, Kindern sowie von Streitkräften der Nationalgarde begleitet, die bei den brutalen Verbrechen häufig nicht einschritt. Neben einem immensen Sachschaden wurden im Zuge des Massakers schätzungsweise hundert bis zweihundert schwarze Amerikaner getötet (vgl. NAACP 1917, 219). Die Bilder des Berichts zeigen mit Ausnahme einer Aufnahme nicht die Täter, sondern das Ausmaß der Verwüstungen sowie die Opfer der Gewalt. Nicht nur schriftlich37, sondern auch bildsprachlich werden Parallelen zu

37 »In all the accounts of given of German atrocities, no one, we believe, has accused the Germans of taking pleasure in the suffering of their victims« (NAACP 1917, 220).

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den fatalen Auswirkungen des Krieges gezogen. So zeigt eine Bildcollage aus sechs vertikal angeordneten Fotografien niedergebrannte Häuser, evakuierte Straßenzüge, Flüchtlingsgruppen (»The Refugees«) und Zeltstätte, in denen die Vertriebenen im Anschluss an das Massaker untergebracht wurden. Die getroffene Bildauswahl legt einen Schwerpunkt auf vertriebene, mit wenigen Habseligkeiten durch die Straßen ziehende Familien, auf verletzte Frauen und ältere Menschen, die die Wehrlosigkeit und Unschuld der Opfer einerseits und zugleich die moralische Schuld der weißen Täter unterstreichen. Die Visualität des Konflikts konzentriert sich auf eine Gegenüberstellung kampflustiger Streitkräfte und wehrloser Mitbürger. Das Massaker ist Ausdruck einer Gewalt, die von offizieller Seite legitimiert wird: auf einer Aufnahme, die eine ganze Seite einnimmt, ist ein Mob aus weißen Menschen zu erkennen, die schwarze Amerikaner attackieren – die Polizei beobachtet aus nächster Nähe den Vorfall, jedoch offensichtlich ohne den Angreifern Einhalt zu gebieten. Dass die Gewalt von offizieller Seite nicht nur toleriert wurde, sondern auch aktiv unterstützt, ist in folgender Fotografie dokumentiert: zu sehen ist eine jüngere Frau, deren Arm, laut der Bildunterschrift, infolge mehrerer, von weißen Streitkräften zugeführter Schussverletzungen amputiert werden musste. Das letzte Bild des Berichts verdeutlich erneut die Ungerechtigkeit der Angriffe, die sich weitestgehend gegen wehrlose Menschen richtete: darauf abgebildet ist eine alte Frau, die sich laut des Bildtextes in letzter Sekunde aus den Trümmern ihres brennenden Hauses retten konnte. Die wehrlose Zivilbevölkerung, die vornehmlich über Bilder von Frauen, Kindern und alten Menschen repräsentiert wird, potenziert den Wahnsinn des Massakers. Deren Unschuld, Verletzbarkeit und Schutzwürdigkeit appellieren an das Mitgefühl und spornen zu Protest und Aufbegehren. Schmerzensmann und Heldentod Der abgedruckten Erzählung »Jesus Christ in Georgia« in der DezemberAusgabe von The Crisis im Jahre 1911 wurde eine symbolhafte Bildcollage vorangestellt (Abb. 14): Auf der Zeichnung der Bildcollage ist ein Kreuz zu sehen, in dessen Mitte das von Schmerzen gezeichnete, dornengekrönte Haupt Jesu Christi erscheint. Dieses neigt sich einer darunter liegenden Fotografie zu, die den aufgehängten Leichnam eines Afroamerikaners zeigt. Kompositorisch wie ikonographisch wird die Leidensgeschichte Christi mit

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Abb. 14: Bildcollage in The Crisis, Dezember 1911

der des schwarzen Opfers in Beziehung gesetzt. Bedingt durch die spezifische Wahl des Bildausschnittes der ursprünglich größeren Fotografie – der Leichnam nimmt den Großteil des Bildes ein – dominiert die Totengestalt alle weiteren Figuren der Szene. Der dadurch herausgestellte, von dem ursprünglichen Geschehen isolierte Leichnam wird in der Präsentationsweise zu einem Opferleib ästhetisiert. Im Sinne einer passionsgeschichtlichen Lesart erscheint der zum Tode Verurteilte, dessen Hinrichtung nur den traurigen Abschluss eines von seelischen Qualen und körperlichen Torturen gekennzeichneten Leidenswegs beschreibt, als Sühneopfer der jüngst erworbenen Rechte – er opfert sein Leben für die Erlösung seines Volkes im Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit. Die Heroisierung des erhängten Toten zum Opferhelden, die in den bildmächtigen Pathosformeln des christlichen Opferkults vermittelt wird, wandelt das Totenbild-Foto nunmehr zu einer Art profaniertem Andachtsbild. Als Imago pietatis ermahnt das Totenmotiv den Betrachter, das heroische Vorbild zu betrauern und sich mit diesem zu solidarisieren. »In der Imitatio«, der kompositorischen Anlehnung an den Kreuzigungstod, »wird der Tod des Einzelnen zum Opfer für

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die Gemeinschaft überhöht und mit einer quasi-religiösen Heilserwartung verbunden« (Janzing 147)38. Das in der Januar-Ausgabe von The Crisis aus dem Jahr 1912 abgedruckte Gedicht mit dem Titel »Vision of a Lyncher« von Leslie Pickney Hill zeichnet Amerika als einen für die schwarze Bevölkerung hoffnungslosen, infernalen Ort, an dem nur der Tod – selbst der durch Lynching – zur Erlösung führen kann. Der Verurteilte, dessen gesetzesloser Hass ihn in die Hände seiner Henker treibt, kann durch das eigene Verbrechen schließlich der Hölle entkommen – auch hier wird die Hinrichtung an eine erlösende Heilserwartung geknüpft. Im Gedicht wird der zum Tode Verurteilte gleichsam zur Erlöserfigur, der seine Leidensgefährten durch das Tal des Todes in die Freiheit zu Gott führt: […] Throughout a horrid night of soul-wrought pain; down through the pit I saw the burning plain, where writhed the tortured swarm, without one glance upward to earth or God. There in advance of all the rest was one with lips profane and murderous, bloody hands, marked to be slain by peers that would not bear him countenance. ›God,‹ I cried in my dream, ›what soul is he doomed thus to drain the utmost cup of fate […]?‹ And the great voice replied: ›The chastity of dear confiding law he raped; now hate, his own begotten, drives him forth from hell.‹ (Hill 122)

Die Fotografie der eben besprochenen Bildcollage sowie eine weitere Fotografie, deren starker Rasterdruck dem Bildgeschehen einen malerischen Zug verleiht, illustrieren das Gedicht. Die Fotografie zeigt den auf einer Art Trage aufgebarten Leichnam des im August 1911 in Durant, Oklahoma gelynchten John Lee, der in vertikaler Lage von einer Gruppe weißer Män-

38 Vgl. hierzu Godehard Janzings hochinteressante Überlegungen zur bildlichen Repräsentation des gefallenen Opferhelden: »Thermopylai/Stalingrad: Krise des Helden und Mythos der Niederlage«, Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse (Berlin: b_books, 2008) 139158.

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ner gestützt wird. Deren gleißend helle Gesichtsfarbe im Kontrast zu den höhlenartigen Augenpartien lassen diese fratzenhaft erscheinen. Nicht nur die gespenstische Erscheinung der Figuren, auch die Bildunterschrift der Zeichnung – »In Durant, Oklahoma: By a Person or Persons Unknown« – spielen auf die Anonymität der weißen Vollstrecker und damit auf die Handlungsfreiheit des gesamten weißen Lynchmobs und dessen Fürsprecher an, die in der Regel keine strafrechtliche Verfolgung fürchten mussten, selbst wenn die Unschuld des mutmaßlichen Täters im Nachhinein nachgewiesen werden konnte. Die Szenen der Bilder – ihrem ursprünglichen Kontext entnommen und in einen apokalyptisch-mythischen Verweisungszusammenhang versetzt – werden einem selbstreflexiven Deutungsrahmen überlassen. Durchdrungen von der Poesie lyrischer Bilderwelten, erscheint der schwarze Leichnam nunmehr als eine zum Leben erweckte Reflexionsfigur, die dem geschlossenen, sensationslüsternen und sadistischen Kreislauf der ursprünglichen fotografischen Szene erneut entgegentritt. Dieser Aspekt der Wiederbelebung des einst Verworfenen soll im nachfolgenden Abschnitt aus psychoanalytischer Perspektive auf der Grundlage des Freud’schen Begriffs des Unheimlichen erweitert werden. Zur Psychologie der Lynching-Bilder: Der unheimliche Doppelgänger Wir erinnern uns: Der afrikanisch-amerikanische Bürgerrechtler Walter White sprach von der Angst des Lynchers vor der selbst geschaffenen Frankenstein-Kreatur, die – als Repräsentationsstrateige zur Abwehr gegen die ›rassische‹ Vernichtung heraufbeschworen – zugleich eine real empfundene Bedrohung der eigenen Sicherheit darstellt. Der zum Leben erweckte Tote stellt die Figur des Zombies dar, der als eine Art geistloser Arbeitssklave vollkommen unter der Führung seines Herrn steht. Der ZombieMythos39 geht von der vollständigen Abhängigkeit des Sklaven von seinem

39 Ursprünglich entstammt der Zombie-Mythos dem Voodoo-Kult Haitis – ebenjener karibischen Insel, auf der es zum ersten Sklavenaufstand der Neuzeit kam und die sich bis in die jüngste Vergangenheit von ihren Diktaturen befreien konnte. Dem Kult zufolge verabreichen Voodoo-Priester einem Menschen ein aus Giften zusammengesetztes Pulver, das diesen in einen scheintoten Zustand versetzt. Scheinbar gestorben, wird der Untote begraben, aber heimlich aus dem

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Erschaffer aus – eine Herrschaftsstruktur, die die ungleichen Machtverhältnisse Haitis zu Zeiten der Sklaverei (und der ihr nachfolgenden Diktaturen), welchen der Zombie-Mythos entstammt, widerspiegelt. Aus dem Schoße des Schöpfers geborgen symbolisieren die hörigen Menschenroboter Aspekte der Sicherheit, Stabilität, Kontrolle und Vertrautheit (des weißen Machthabers) – Eigenschaften, die in dem Begriff des Heimlichen im Sinne von Heimisch/Vertraut/Eigen zusammengefasst werden können. Sigmund Freuds Überlegungen legen das Heimliche als Ursprungsort des Unheimlichen fest. Seine Analysen zum Begriff des Unheimlichen sind in diesem Zusammenhang insofern von großem Interesse, als sie die Fremdheit/das Unvertraute als unerlässliche Voraussetzung führen, durch die das Vertraute definiert ist. Das Unheimliche deutet Freud in seinem gleichnamigen Aufsatz aus dem Jahre 1919 als »jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute [sic] zurückgeht« (1955, 231). Die Vorsilbe »Un« verweist auf die Rückkehr des zuvor Heimischen und Vertrauten als Verdrängtes: »dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist« (ebd. 254). Im Anschluss an eine detaillierte semantische Analyse des Adjektivs »unheimlich« folgert Freud: »[H]eimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich« (ebd. 237). Freuds Deutung der Figur des Doppelgängers verkörpert auf exemplarische Weise die doppeldeutige Struktur des Unheimlichen: ursprünglich eine Figur zur Stabilisierung des Ich40 führt der Doppelgänger

Grab zurückgeholt und durch die Verabreichung eines weiteren Gifts seines Verstandes/seiner Seele beraubt. Da nach dem Erwachen die körperlichen Funktionen erhalten bleiben, die geistigen jedoch vernichtet sind, können diese hörigen Opfer als physisch tatkräftige und zugleich willenlose Sklaven eingesetzt werden. Der Zombie-Mythos ist eng mit Afrika und der Geschichte der Sklaverei verwoben. Die darin beschriebene Vorstellung von seelenlosen Arbeitskräften ist nicht unbedingt sinnbildlich zu verstehen, sondern sehr rational dem kollektiven Trauma der Versklavung und dem dabei erlebten Verlust an Freiheit und Selbstbestimmung geschuldet. 40 Freuds Überlegungen knüpfen an Otto Ranks psychoanalytische Studie Der Doppelgänger von 1914 an, die den Doppelgänger zur Abwehr gegen die Ver-

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mit Überwindung des narzisstischen Stadiums der uneingeschränkten Selbstliebe, welches »das Seelenleben des Kindes wie des Primitiven beherrscht«, zu seinem Gegenbild – zum »unheimlichen Vorboten des Todes« (ebd. 247). Die Versicherung des Selbst impliziert immer zugleich auch seine Verunsicherung, die aus dem Unbewussten/Verdrängten hervorgeht und »als Fremdes aus dem Ich hinausprojiziert« (ebd. 248) in der Gestalt des bedrohlichen Anderen, als Projektion, als unheimlicher Doppelgänger wiederkehrt. Der Doppelgänger ist die verkörperte Figuration der Selbstentfremdung, die einen Bruch zwischen Eigenheit und Fremdheit in den Menschen trägt. Die Erfahrung kultureller Fremdheit legt die französische Psychoanalytikerin und Kulturtheoretikerin Julia Kristeva als innere Brüche, Differenzen und Widersprüchlichkeiten fest, die grundsätzlich in jedem Subjekt als unheimliche, d.h. verdrängte Aspekte der eigenen Andersheit/Alterität verhaftet sind. In ihrer einflussreichen Studie Etrangers à nous-mèmes (Fremde sind wir uns selbst)41 wendet Kristeva die Freud’sche Symbolik

nichtung des Selbst als »energische Dementierung der Macht des Todes« auslegt (247). Der Doppelgänger figuriert bei Rank die immaterielle Seele, die unsterblichen Teile des Selbst, die aufgrund ihrer Nicht-Körperlichkeit als Reflexion des Selbst das Überleben des Subjekts garantieren/konstituieren: »Der Todesgedanke ist erträglich gemacht dadurch, daß man sich nach diesem Leben eines zweiten in einem Doppelgänger versichert« (Rank 163). 41 An Freuds Interpretationen des Unheimlichen anlehnend, deutet Kristeva das Unheimliche als verdrängte, abgelehnte Anteile von Fremdheit im Unbewussten: »In der faszinierten Ablehnung, die der Fremde in uns hervorruft, steckt ein Moment jenes Unheimlichen, im Sinne der Entpersonalisierung, die Freud entdeckt hat und die zu unseren infantilen Wünschen und Ängsten gegenüber dem anderen zurückführt – dem anderen als Tod, als Frau, als unbeherrschbarer Trieb. Das Fremde ist in uns selbst. Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unbewußtes – dieses ›Uneigene‹ unseres nicht möglichen ›Eigenen‹« (209). In Freuds Motiv des Unheimlichen sieht Kristeva die erste Wendung hin zu einem selbstkritischen Ich-Verständnis, das »uns selbst als desintegriert« (ibid.) benennt. Daran anknüpfend appelliert Kristeva an eine »Ethik des Respekts für das Unversöhnbare« (ebd. 198), die uns lehrt, »die Fremden nicht mehr [zu] in-

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des Unheimlichen/Doppelgängers als Metapher für das gespaltene Subjekt auf ihre Analyse der Erfahrung kultureller Fremdheit an. Dabei figuriert der Doppelgänger als Projektion unserer eigenen Fremdheit. Laut Kristeva gibt es das Fremde nicht, sondern nur das Eigene, das eben auch das Fremde als verdrängte Anteile des Eigenen beinhaltet: »Wenn wir unsere Fremdheit erkennen, werden wir […] weder unter ihr leiden noch sie genießen. Das Fremde ist in mir, also sind wir alle Fremde« (209). Die Projektion der eigenen Alterität auf das Fremde stellt nichts anderes als den Versuch dar, das Andere zu verorten, es zu beherrschen und schließlich zu beseitigen, das uns jedoch stets als unheimlicher Gast verhaftet bleibt, weil es der inneren Struktur des Ich entspringt. Im Anschluss an Freuds und Kristevas Überlegungen zum Begriff des Doppelgängers/Unheimlichen kann das Bild des triebhaften Schwarzen gleichwohl als verworfene Schattenseite, als verdrängter Stiefbruder des weißen Lynchers ausgelegt werden. Die auf den Fotografien vermittelte Illusion einer ›rassisch‹ reinen, ganzheitlichen und stabilen Gemeinschaft und die im Verhältnis dazu gesetzte feindselige, deviante, unvollkommene Natur schwarzer Menschen (Täter) entspringen letztlich der gleichen Quelle; beide Figuren sind unauflösbar miteinander verschränkt. Das Bild des Zombies, das zum Leben erweckt wurde und ursprünglich zum Schutz des eigenen Fortbestands genügte, gewissermaßen apotropäisch wirkte, steigt in Form verdrängter Todesimplikationen als Irritationen, Schande und Unheil bringender Gegenspieler im Bewusstsein des weißen Individuums wieder auf. Das imaginär Unterworfene/Verdrängte kehrt als reale Bedrohung wieder42: die einst hörige Puppe entfesselt in der Wirklichkeit ihre diabolische Macht. Das Gefühl der Ordnung und Stabilität, das die Bilder (im Sinne ihrer ursprünglich heimischen Bedeutung) bewirken sollen, wird nun fortwähren durch das vermeintlich Unheimliche/Bedrohliche des Fremden irritiert. Die heraufbeschworenen Feindbilder, die in das kollektive Bewusstsein gerufen und zum Leben erweckt wurden, sind imaginär allgegenwärtig, sie erzeugen Gefühle der Angst und Unsicherheit, d.h. Gefühle

tegrieren noch weniger [zu] verfolgen, sondern sie in dieses Unheimliche, diese Fremdheit [aufzunehmen], die ebenso ihre wie unsere ist« (ebd. 209). 42 Unter Rückgriff auf Freuds Konzept der Verdrängung schreibt Jacques Lacan zur Halluzination: »Was derart Objekt einer Verwerfung* gewesen ist, erscheint im Realen wieder« (1997, 226; Herv. i. Org.).

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des Unheimlichen. An dieser Stelle sei auf die Freud’sche Kastrationsdrohung als verdrängter Komplex im Unbewussten – eine Erscheinungsform des Unheimlichen – verwiesen, die, allgemeiner verstanden, für die Angst vor Vernichtung der menschlichen Existenz steht: die Angst vor dem Aufbegehren des bislang Unterlegenen, der als feindseliger Rächer, als die eigene Macht umstürzender Teufel im Realen wiederkehrt, wird durch die visuelle Stilisierung des tödlichen Feindes, in dem Bild der sexuell abnormen Potenz und Übermacht des schwarzen Mannes sichtbar gemacht, deren todbringende Bedeutung sich der Lyncher durch die reale und imaginäre Fragmentierung/Zerstückelung selbstmächtig entledigt43. Als zergliederter, vernichteter, vollständig unterworfener Körper liefert er das Fundament und den spiegelbildlichen Widerpart dominanter Macht44. Die Lynching-Ikonographie ist ein machtfunktional besetzter, psychosozialer Bildraum, in dem Sterben, Unterwerfung, Tötung sowie Errettung, Erlösung und Geburt gleichermaßen präsent sind – sie ist Lebens- und Todesraum zugleich. Sie reflektiert auf bildlicher Ebene das psychologische Unheimliche, die Figur der antagonistischen Selbstverdoppelung, die »Destrukturierung des Ich« (Kristeva 204; Herv. i. Org.), das »Fremde in uns selbst« (ebd. 198), das die festgelegten Strukturen des Ich und des Fremden zerfließen lässt. Das Unheimliche als spiegelbildlicher Gegenpol des vertrauten Selbst taucht in Jacques Lacans Figur der Spiegel-Imago auf, jene Instanz imaginärer Selbst(v)erkennung, über die sich das hilflose Sub-

43 Die Interpretation der Lynching-Fotografie mit Hilfe Freud’scher und Kristeva’scher Überlegungen zeigt ebenfalls an, dass Bilder praktisch wirksam sind, also verhaltenswirksam einwirken, da durch Bilder Wahrnehmungen, Sichtweisen und Ängste konstituiert, gesteuert, radikalisiert werden, auf denen sich Ausgrenzungs- und Vernichtungsstrategien begründen lassen. 44 Es erscheint sinnvoll, die psychische Struktur der Bildgenese und der Bebilderung, das Bilddenken und -handeln in der Lynching-Fotografie in einem Zwischenbereich von Phantasie und Wirklichkeit, von Sein und Nichtsein, von Leben und Tod, von Realität und Illusion, anzusiedeln, die die zusammenbrechenden, fragilen (Selbst-/Fremd-)Grenzziehungen aufrecht erhalten sollen. »Das Unheimliche«, so Kristeva, »das Bilder von Tod, Automaten, von Doppelgängern […] auslöst, ereignet sich, wenn die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt wird« (204; Herv. i. Org.).

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jekt in seiner Spiegelung als heil und ganzheitlich konstituiert45. Der Lyncher wird zum Spiegelbild des Bildes, wird selbst zum Abbild des Todes, das er zur Sicherung des eigenen Fortlebens beschwor. Die dominante weiße Gesellschaft, welche die teuflische Gefahr des schwarzen Gewalttäters beseitigen muss, wandelt sich schließlich selbst in eine diabolische Bestie – die einst vertraute Heimat wird zu einer Zone der Angst und Finsternis, zum Ort des Schreckens und Todes. Sichtbarkeit Der Herrschaftsanspruch, der auf den Lynching-Bildern artikuliert wird, verdeutlichte zunächst die ausgrenzende Dimension repräsentationalen Handelns und Denkens. Zugleich wurde ersichtlich, dass die im Todesbild vermittelte Herrschaftsgeste keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. Die Typologie des Schreckens, die die afrikanisch-amerikanische Stimme zum Verstummen bringen sollte, wurde im schwarzen Diskus zur emotionalen Mobilmachung eingesetzt. Grundlegend ist hierbei die Fokussierung auf die gewaltsam aus dem Leben gerissene Opferfigur, deren Vernichtung betrauert wird. Fotografien registrieren nicht nur die Wirklichkeit, sie bestimmen auch die Wahrnehmung der Realität. Bilder, die nach Butlers Verständnis der ethischen Rahmung an der Codierung von Sichtbarkeit, Wahrnehmung und letztlich von Wirklichkeit selbst beteiligt sind, verschaffen den Zugang zur Realität, versperren ihn aber zugleich. Im schwarzen Zeitungsdiskurs wurden die Rahmensetzungen der LynchingFotografie, die in der Regel aus der visuellen Perspektive weißer Mehrheitsangehöriger hergestellt wurde und entscheidend an der Wahrnehmung des Lynchmordes als Ereignis beteiligt ist, aufgebrochen, verschoben und neu bestimmt. Die Unsichtbarkeit der Gewalt gegen Schwarze legt das Fundament für die Handlungs- und Rechtsfreiheit der mordenden Täter. Die Menschlichkeit des Opfers, seine Subjektivität, wurde von den Tätern ausgelöscht und geleugnet, die verletzten und entstellten Teile und Funktionen des Körpers als Zeichen dominanter Macht zur Schau gestellt. Die Neuperspektivierungen in schwarzen Zeitungen stehen für die Sichtbarmachung des Unsichtbaren und Unfassbaren, durch die der Lynchmord

45 Der Abschnitt zur afrikanisch-amerikanischen Porträtfotografie im zweiten Teil der Studie geht ausführlicher auf Jacques Lacans Spiegelstadium-Theorie ein.

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bestimmt ist. Sie gewinnen die Herrschaft über das Unsichtbare, indem sie die unmenschlichen Handlungen der Täter, die die Wahrnehmung von Realität strukturieren und beherrschen, die alles sehen, selber aber vollkommen unsichtbar bleiben, in das das Raster des Sichtbaren holen. Die Lynching-Fotografien stehen für den sozialen Missstand, für die reale Existenz zerstörerischer, sozialer Bedingungen, die als solche zur Sprache gebracht und bekämpft wurden. Um Freuds (Un)Heimlich-Dialektik aufzugreifen: die stigmatisierte, ausgegrenzte, verworfene Figur des Unheimlichen wirkt nunmehr als affirmative Kraft; das todbringende Feindbild, das als notwendige Voraussetzung für dominante Affirmations- und Stabilisierungsprozesse diente, wurde schließlich zur Mobilmachung gegen ebenjene souveränen Herrschaftsverhältnisse eingesetzt.

Teil II: Ehrbarkeit und Fortschritt: Selbstrepräsentationen im AfrikanischAmerikanischen Bilddiskurs (1900-1920)

Der New Negro und sozialer Fortschritt Der schwarze Bürgerrechtsaktivist Walter White zieht in seinem Werk Rope and Faggot (1929) eine direkte Verbindung zwischen Lynchings und der Angst der Südstaaten vor dem gesellschaftlichen Aufstieg der schwarzen Bevölkerung in Amerika: »It is little realized that lynching is much more an expression of Southern fear of Negro progress than of Negro crime« (11). Auch wenn die Mehrheit der schwarzen Amerikaner sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts »weiterhin mit den niedrigsten und schlechtbezahltesten Arbeiten begnügen« (Heideking 288) musste, konnte sich eine aufsteigende schwarze Mittelschicht aus Unternehmern, Intellektuellen, Dichtern, Journalisten etablieren, die vermehrt in die Städte zog. Um die unternehmerischen Tätigkeiten schwarzer Amerikaner zu verbessern und fördern, gründete der schwarze Reformer Booker T. Washington zusammen mit Geschäftsleuten aus dem ganzen Land im Jahre 1900 die National Negro Business League. In seinem Buch The Negro in Business (1907) äußerte er seine Zufriedenheit über die große Anzahl von Betrieben und Geschäften unterschiedlichster Art, die seit dem Bestehen der Business League ins Leben gerufen wurden: As I have traveled through the country, I have been constantly surprised to note the number of colored men and women, often in small towns and remote districts, who are engaged in various lines of business. In many cases the business has been very

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humble, but nevertheless sufficient has been accomplished to indicate the opportunities of the race in this field. Not infrequently, moreover, I met men who have been unusually successful, whose business enterprises and wealth would be creditable to any man of any race. (1969 [1907], 1-2)

Beträchtliche Verbesserungen stellten sich im Bildungswesen ein. Alle Staaten bauten ein öffentliches Schulsystem aus, in denen der Unterricht kostenlos abgehalten wurde. Auch im Bankensektor verzeichneten schwarze Amerikaner beachtliche Erfolge, eigene Institutionen zu gründen, so dass bis 1914 über fünfzig Banken errichtet werden konnten (vgl. Franklin und Moss 404; Heideking 180). Einige Gruppen, wie die schon seit längerem freien Schwarzen, die Free People of Color in Louisiana oder die Schwarzen in den Städten, profitierten »stärker von dem gesellschaftlichen Umbruch als andere«. Entscheidend für das Fortschritts- und Erneuerungsbestreben waren »der Bewusstseinswandel und das gewachsene Selbstvertrauen vieler Schwarzer« (Heideking 184). Der zweite Analyseabschnitt richtet sein Augenmerk auf den schwarzen Fortschrittsdiskurs am Ende des 19. Jahrhunderts als Gegendiskurs zu dominanten Repräsentationsmustern. Der Entwurf des ehrbaren New Negro etablierte sich als zentrale ästhetische Bezugsgröße, die den schwarzen Fortschrittsdiskurs grundlegend bestimmte. Dabei treten die Motive des sozialen Fortschritts, der Bildung und Arbeit in den Vordergrund, auf die zur Konstruktion des New Negro fortwährend rekurriert wird und die grundlegend an der Nationalisierung schwarzer Identität mitwirkten. Erwähnt wurde der Begriff New Negro zum ersten Mal in einem Beitrag der Cleveland Gazette von 1895, der im Zusammenhang mit der Verabschiedung der New Yorker Bürgerrechtsgesetzgebung eine »class of colored people, the ›New Negro‹, who have arisen since the war, with education, refinement, and money« thematisierte (zit. n. Gates 1990, xxxvi). Im Gegensatz zu ihren versklavten und politisch entrechteten Vorfahren wies diese gesellschaftlich immer stärker in Erscheinung tretende Gruppe geistige sowie finanzielle Ressourcen und Fähigkeiten auf – »education, refinement, and money« –, die in dem Zeitungsartikel als Grundbedingungen zur Sicherung politischer Rechte hervorgehoben wurden und im Folgenden als kulturelle Werte der Respektabilität expliziert werden. Die in dem Artikel vorgenommene Verknüpfung kultureller Werte der Respektabilität an politische Gleichheitsforderungen bildet ein grundlegendes Argumentations-

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muster des schwarzen Partizipations- und Fortschrittsdiskurses an der Wende zum 20. Jahrhundert, denn es waren ebenjene kulturellen Aneignungen der Ehrbarkeit, die als notwendige Vorbedingung der Staatsbürgerschaft die gleichberechtigte Teilnahme am soziopolitischen Gemeinwesen in Aussicht stellten. Mit dem Abzug der verbliebenen Bundestruppen aus dem Süden und dem Sturz der letzten republikanischen Staatenregierungen im Jahre 1877, die das Ende der Rekonstruktionsphase einläuteten, wurde den Schwarzen das in der 14. und 15. Amendment zugesprochene Wahlrecht de facto wieder entzogen. Letzteres entschied sich an der Erfüllung spezieller Bildungsund Eigentumsklauseln – oder anders ausgedrückt – an der Frage über den Besitz von kulturellen Werten der Respektabilität: So änderten, mit Mississippi 1890 beginnend, die Einzelstaatsparlamente auf der Grundlage ›bundesverfassungskonformer‹ Zusatzbestimmungen ihre Verfassungen, wonach in der Regel nur all jene wählen durften, die über finanzielle Ressourcen verfügten, eine Kopfsteuer zahlen und/oder ihre Lese- und Schreibfähigkeit in einem literacy test nachweisen konnten1. Die Zugehörigkeit zum politischen Gemeinwesen war somit gebunden an die Erfüllung spezieller Eigentums- und Bildungsbestimmungen, die traditionell dem Ehrbarkeitsbegriff des bürgerlichen (weißen) Subjekts zugesprochen waren. Neben der Beseitigung des Wahlrechts für Schwarze wurde mit dem Ziel einer möglichst vollständigen Trennung der Rassen die inoffizielle color line, die unsichtbare Grenze zwischen den Rassen, durch äußerst strikte Staatengesetzte und lokale Verwaltungsordnungen offiziell verankert und als forma-

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1890 änderte der Staat Mississippi seine Verfassung mit dem Ziel, der schwarzen Bevölkerung ihr Stimmrecht wieder zu entziehen. Die Bestimmung sah eine Kopfsteuer für Wähler vor und schloss all jene vom Wahlrecht aus, die bereits verurteilt worden waren oder einen bestimmten Verfassungsabschnitt nicht lesen konnten. South Carolina folgte 1895 dem Beispiel Mississippis und legte als Bedingung zum Wahlrecht Eigentum, eine Wahlsteuer und die Fähigkeit fest, jeden Verfassungsabschnitt lesen, schreiben und interpretieren zu können. In den nachfolgenden Jahren entzog ein Staat nach dem anderen durch entsprechende Verfassungsklauseln den Schwarzen das Wahlrecht (vgl. Franklin und Moss 372-377).

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les Zweiklassensystem aufgebaut2. Dazu zählte auch das Verbot der Mischehe zwischen Weißen und Schwarzen, das 1870 zunächst in Tennessee – der Staat, der fünf Jahre später das erste Jim Crow-Gesetz verabschiedete – und anschließend in allen weiteren Südstaaten implementiert wurde3 (vgl. Heideking 213-215). Vor dem historischen Hintergrund der südstaatlichen und bundesstaatlich sanktionierten Entrechtungspolitik verläuft die theoretische sowie bildliche Konzipierung des New Negro am Ende des 19. Jahrhunderts entlang kultureller Werte der Respektabilität. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit den Konstruktionen schwarzer Ehrbarkeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wie diese sowohl in privaten Selbstentwürfen als auch in öffentlichen Diskursen hergestellt werden. Die Zuschreibungen von education, refinement und money bildeten zentrale Konstruktionselemente, aus denen sich die Erscheinungsform des New Negro als ehrbarer Bürger zusammensetzt.

5. R ESPEKTABILITÄT UND AFRIKANISCH AMERIKANISCHE E RNEUERUNG In dem Diskurs um schwarze Ehrbarkeit und Partizipation werden die Motive der Bildung und Erziehung als grundlegende Voraussetzungen für Fortschritt, Wohlstand und Demokratie herangezogen. Der schwarze Soziologe, Schriftsteller und Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois, der 1895 als erster schwarzer Amerikaner in Harvard promovierte, richtete in seiner Betonung von education als wichtigstem Instrument afrikanisch-amerikanischer Emanzipation sein Augenmerk auf das talented tenth, das »begabte Zehntel«, das institutionelle Formen der Führung übernehmen und die Rassen-

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1896 wurde die Rassentrennung auch auf bundesstaatlicher Ebene legitimiert. Mit der Anwendung der separate but equal-Doktrin legte der Supreme Court im Fall Plessy v. Ferguson die Rassentrennung nur dann als unrechtmäßig fest, wenn die offiziellen Behörden Schwarzen und Weißen keine ›gleichwertigen‹ Einrichtungen zur Verfügung stellten (vgl. Franklin und Moss 377).

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In den USA blieb die politische und soziale Entrechtung des schwarzen Bevölkerungsteils keineswegs auf den Süden beschränkt. Nur sieben Nordstaaten gewährten das volle Wahlrecht ihren schwarzen Bürgern (vgl. Heideking 215).

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genossen zur kulturellen refinement verhelfen sollte. Im Kampf um Gleichberechtigung und Anerkennung wies er ihr eine Vorbildfunktion zu: »The Negro race«, so Du Bois, […] is going to be saved by its exceptional men. The problem of education, then, among Negroes must first of all deal with the Talented Tenth; it is the problem of developing the Best of this race that they may guide the Mass away from the contamination and death of the Worst, in their own and other races. (1903b, 31)

Der zivilisatorische Fortschritt der schwarzen Bevölkerung unter der Führung der schwarzen Bildungselite, die als Vorbilder und Verantwortungsträger der schwarzen Gemeinschaft dienen, bildet ein wichtiges Element in Du Bois’ Fortschrittsdiskurs an der Wende zum 20. Jahrhundert. Das fotografische Medium nutzte der Soziologe als wissenschaftliches Analyseinstrument, um in seinen Abhandlungen und Forschungsprojekten die schwarze Entwicklung sowie die Gleichheit der schwarzen und weißen Bevölkerungsgruppe nachzuweisen. Die Fotografie zeichnete hierbei nicht lediglich einen Sachverhalt nach, sondern wurde, in Analogie zu anthropometrischen Verfahren dominanter Repräsentationsdiskurse, als Evidenz generierendes Dokument herangezogen, das die Gültigkeit anderer verwendeter Formen der Repräsentation – Grafiken, numerische Tabellen und schriftliche Erläuterungen – legitimiert. Die Fotografie lieferte Du Bois optische und gleichsam evidente Vergleichsmöglichkeiten zur Herausstellung von Unterschieden und Parallelen zwischen schwarzen und weißen Menschen. Du Bois’ Nutzung des fotografischen Bildes ist vor dem Hintergrund des im ersten Kapitel dargelegten Fotografiebegriffs einzuordnen, demzufolge die Fotografie als präziser Realitätslieferant zur Beförderung wissenschaftlicher Daten eingesetzt wurde. Die Fotografien der vierbändigen Bildersammlung4 Types of American Negroes, Georgia, U.S.A. (Bände 1-3) und Negro Life in Georgia, U.S.A (4. Band), die Du Bois für die afrikanisch-amerikanische Teilnahme an der Pariser Weltausstellung (1900) zusammenstellte, wurden als wissenschaftliche Referenzobjekte funktionalisiert. Veranschaulicht am Beispiel der

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Die meisten Fotografien der Sammlung können keinem Fotografen zugeordnet werden. Einige der Bilder wurden von dem schwarzen Fotografen Thomas E. Askew aufgenommen (vgl. Willis 2003, 33).

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schwarzen Bevölkerung in Georgia sollten die Bilder einen repräsentativen Überblick über den Zustand und die sozialen Entwicklungen der schwarzen Bevölkerung nach Abschaffung der Sklaverei liefern. Damit trugen die Motive dem aufklärerischen Veranstaltungsziel der afrikanisch-amerikanischen Sektion der Weltausstellung, der sogenannten Negro Exhibit, Rechnung, die Weltöffentlichkeit über den Fortschritt der schwarzen Bevölkerung seit dem Ende des Bürgerkrieges zu informieren. Die Bildersammlungen umfassen rund 363 Fotografien. Etwa zwei Drittel der Bilder sind Porträtfotografien, die auf den Seiten der Bilderalben in der Regel als Frontal- und Profilbilder jeweils paarweise angeordnet sind. Die anderen Bilder zeigen Kirchen, Straßenszenen, Häuser, Hausinneneinsichten, Gruppenporträts, Geschäfte. Szenerien der ärmeren schwarzen Landbevölkerung kommen vor, allerdings bilden Repräsentationen der schwarzen Bildungselite das Hauptsujet des Archivs. In den Fotografien der Sammlung Negro Life in Georgia, U.S.A wird die Umgebung als symbolischer Sinnträger afrikanisch-amerikanischer Erneuerung gezeichnet, die sich als solche auf unterschiedliche Sinnebenen bezieht: auf die gegenwärtige Lebensrealität der schwarzen Mittelschicht, auf die symbolische Wirklichkeit der Räume, auf die kollektiven Hoffnungen und Erwartungen, die mit diesen Orten verbunden werden. Die Sammlung enthält eine ganze Reihe von Bildern viktorianischer Prachtbauten, die den wirtschaftlichen Erfolg ihrer stolz auf der Veranda posierenden Besitzer zum Ausdruck bringen. Architektur – Gebäudeaußen- und Innansichten, Interieurs und Straßenszenerien – als Symbol des Fortschritts und Wohlstands ist im afrikanisch-amerikanischen Partizipationsdiskurs in wiederkehrender Häufigkeit vorzufinden. Die Bilderserie in »Evolution of the Negro Home«, so der Titel eines Kapitels in der von Du Bois’ herausgebrachten Sozialstudie The Negro American Family (1909), versinnbildlicht über das Motiv des Wohnens schwarze Zivilisationsgeschichte, die – mit Zeichnungen afrikanischer Hütten ausgehend – über Fotografien von Sklavenbaracken als weiterentwickeltes ›Folgemodell‹ schließlich in den Abbildungen herrschaftlicher Residenzen kulminiert (Abb. 18). So zeigt dann auch die letzte Fotografie der bebilderten, architektonischevolutionären Entwicklungsgeschichte das Wohndomizil »of a Negro business man, insurance manager and proprietor of barber shops«, einem Gebäude, »said to be the finest Negro residence in the South. It will have electric bells and lights, fireplaces, steam-heat, roof-garden, and 15 rooms«

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Abb. 15: W. E. B. Du Bois, Home of an African American Lawyer, Atlanta, Georgia, 1899/1900

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Abb. 16: W. E. B. Du Bois, Interior View of Room Showing Furniture, Piano, and Chandelier, 1899/1900

(Du Bois 1909, 81). Zwar wird in der Studie auf afrikanische Lebens- und Kulturformen Bezug genommen – jedoch nur, um afrikanisch-amerikanische Fortschrittlichkeit zu verdeutlichen. Ein derartiger Vergleich markiert afrikanische Elemente als einer überwundenen und rückständigen Phase angehörig, fungieren sie doch als Kontrastierung der Fortschrittlichkeit mit dem Primitiven. Die fotografischen Innenansichten afrikanischamerikanischer Wohnräume aus der Negro Life in Georgia, U.S.ASammlung stellen das vollständige Interieur bürgerlicher Lebenswelten zur Schau – das Piano, der Kronleuchter, antikes Möbiliar –, in dessen Formen sich der neue, aufgeklärte Zeitgeist der Besitzer manifestiert und jeglicher Einfluss einer sklavischen Vergangenheit auf die afrikanisch-amerikanische Lebenswirklichkeit ausgespart wird. Die bürgerlich ausstaffierten Lebenswelten stellen im Kontext ihrer öffentlichen Präsentation auf der Pariser Weltausstellung nicht das Beispiel eines individuellen Lebenskonzepts dar, sondern geraten zum Abdruck kollektiver Wohn- und Lebenskultur, die im Gebauten präsent sind. Die Einsichten in private Wohnräume dienen der Verankerung/Verwurzelung afrikanisch-amerikanischer Identität, sie repräsentieren sich als Orte des Rückzugs, der Identifikation und der Heimat für alle Identitäts-/Gesichts-/Heimatlosen, die seit der gewaltsamen Verschiffung nach Amerika ihr eigenes Zuhause und ihre Herkunft aufgeben mussten. In ihrer öffentlichen Präsentation ermöglichen die Fotografien ästhetisch erfahrbare Partizipation, durch die sich respektable, schwarze Identitätsbilder in das öffentliche Bewusstsein einschreiben, in der das Vertraute sich im scheinbar Fremden widerspiegelt: die menschenleeren Räume gera-

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Abb. 17: W. E. B. Du Bois, African Americans in Church in Georgia, 1899/1900

Abb. 18: Unbekannt, Residence of a Negro Business Man, Insurance Manager and Proprietor of Barber Shops, 1908

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ten zum sinnlich begehbaren show room. Dieser fungiert als Bühne der gesellschaftlichen Begegnung und des sozialen Austauschs. In der Bildersammlung findet sich eine ganze Reihe von kirchenbezogenen Motiven – Außenansichten von erhabenen Kirchengebäuden oder Szenen mit Kirchgängern auf dem Weg zum Gottesdienst – sie deuten auf die Funktion der Kirchen als Orte der Geborgenheit, des Schutzes und der Gemeinschaft in der afrikanisch-amerikanischen Bevölkerung hin, die bereits vor der Abolition entscheidend zur Ausformung einer afrikanischamerikanischen Kultur und Identität beigetragen haben. Nach dem Bürgerkrieg förderten Kirchen durch die Bereitstellung finanzieller Mittel den Bau von Schulen und Bildungseinrichtungen und dienten als humanitäre und politische Versammlungsstätten. Häufig fungierten Pfarrer als geistliche sowie politische Gemeindesprecher und bildeten den höchsten Anteil der neuen politischen schwarzen Elite im Süden (vgl. Heideking 180). »It [the church] has accomplished much«, resümiert Du Bois in seinem Leitartikel zur Mai-Ausgabe von The Crisis im Jahr 1912: It has instilled and conserved morals, it has helped family life, it has taught and developed ability and given the colored man his best business training. It has planted in every city and town of the Union […] meeting places for colored folk which vary from shelters to luxurious and beautiful edifices. (1912b, 24)

Der räumliche Fokus der Bilder verweist auf das durchgängige Motiv der Entortung/Enteignung in der afrikanisch-amerikanischen Geschichte. Das Trauma der Entwurzelung wird durch die Eroberung eigener Räume – die symbolische Wiedergeburt in den Herrenhäusern der einstigen Besitzer – aufgehoben. 5.1 Nationalisierung schwarzer Identität: Die Bilder von Frances Benjamin Johnston Frances Benjamin Johnstons Hampton Album-Serie (1899), die sie für die afrikanisch-amerikanische Ausstellungssektion der Pariser Weltausstellung anfertigte, stellt einen fotografischen Werkkomplex dar, der sich den gegenseitigen Bezugnahmen von Nation, Bürgerschaft und schwarzer Identität unter dem Aspekt der Bildung als zentrales Instrument zivilisatorischer Entwicklung annähert. Hauptschauplatz der Bilder ist das Hampton Normal

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and Agricultural Institute in Hampton, Virginia – eine von dem weißen Philanthropen Samuel C. Armstrong im Jahr 1868 ins Leben gerufene Bildungseinrichtung für afrikanisch-amerikanische und indianische Schüler –, die als primäres Bildungsziel die Vermittlung handwerklicher Fähigkeiten vorsah. Zu einer der berühmtesten Absolventen des Hampton Institute zählt der schwarze Bürgerrechtler und Sozialreformer Booker T. Washington, der 1881 in Alabama die Berufsschule Tuskegee Normal and Industrial Institute gründete. Nach dem didaktischen Vorbild Armstrongs verschrieb sich die Schule dem Konzept einer praxisorientierten Ausbildung, wie Armstrong sie entwickelt hatte. Johnston geht es weniger um die Dokumentation einer gegenwärtigen Realität als um eine visionäre Perspektive, in der sozialer Wohlstand, Gleichheit und Einheit antizipiert wird. In ihren Fotografien zeichnet Johnston die Bildungsstätte als Metapher der Reformation, die der afrikanischamerikanischen sowie indianischen Bevölkerung zu neuem gesellschaftskonformen Leben verhilft. Die Konstruktion des ehrbaren Bildungsbürgers erfolgte hierbei vorwiegend in Auseinandersetzung mit Motiven von Nation, Geschichte und Kultur, in denen afrikanische, afrikanischamerikanische und indianische Referenzen in den Hintergrund gedrängt werden. Old Folks at Home (1899/1900) porträtiert die von Armut geprägte Lebenswelt eines älteren, afrikanisch-amerikanischen Paares. Die ärmlichen Lebensbedingungen drücken sich in der einfachen Kleidung, der spärlichen Mahlzeit und dem funktionalen Interieur aus. Raum, der das in der linken Bildhälfte sitzende Paar zu erdrücken scheint, wird als sinnstiftende Projektionsfläche genutzt, auf der Identität imaginiert wird: die dunkle Kaminstelle als dominierendes Bildelement, die verbrannte Asche und die wenigen Habseeligkeiten auf Tisch, Kommode und Kaminsims sind Spiegelbild einer besitz- und rechtlosen Vergangenheit ebenso wie einer mittelosen Gegenwart. Dabei referiert ›old‹ nicht nur auf das hohe Menschenalter der beiden Personen allein – es bezieht sich auf die Ära des bildungs- und besitzlosen Old Negro, gegenüber dem ein emanzipiertes Selbstbild Stellung bezieht. Eine ähnliche Symbolik weist das Bild Old and New at Utica, Miss. (1908) auf. Darauf abgebildet sind zwei schwarze Männer auf einer Landstraße in Utica, Mississippi. Der deutlich Ältere von beiden – er könnte der Vater des jüngeren Mannes sein – trägt eine einfache Hose, Hemd und Jacke. Der Jüngere hingegen präsentiert sich formell

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Abb. 19: Frances Benjamin Johnston, A Hampton Graduate at Home, 1899/1900

Abb. 20: Frances Benjamin Johnston, History Class, 1902

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gekleidet in schwarzem Anzug und Krawatte. Die Titelbezeichnungen ›old‹ und ›new‹ rekurrieren auf den Generationenwechsel zwischen unfreien Sklaven und freien Schwarzen, die sich nach dem Ende des Bürgerkrieges um die gesellschaftliche Anerkennung als ehrenwerte Bürger bemühten. Auch die Stellung der beiden Herren scheint dem Motiv des Überganges Rechnung zu tragen: der ältere Herr tritt an vorderer Stelle auf, der Jüngere steht dicht hinter ihm. Während die Folgen der Sklaverei sichtbar in die Gegenwart hineinwirken und das eigene Selbstbild immer noch mitbestimmen, folgt klar erkennbar und unaufhaltbar die neue Generation des New Negro. Das Bild zeigt die Gegenwart mit dem Bewusstsein, dass die Vergangenheit durch sie noch nicht vollständig eingelöst wurde. Die beiden Motive signalisieren einen Wandel, den Übergang vom Alten ins Neue. Der in Old and New at Utica, Miss. angedeutete Übergang ist im folgenden Bild bereits vollzogen. Johnstons Fotografie A Hampton Graduate at Home (1899/1900) (Abb. 19) wirft einen Blick auf die Lebensumstände nach erfolgreich durchlaufener Hampton-Ausbildung, die als Handwerkszeug zur kultivierten Lebensführung metaphorisiert wird. Das mit den charakteristischen Interieurs bürgerlicher Geschmackskultur (Piano, Wandgemälde, schmückendes Dekor, feines Porzellan) ausgestattete Zimmer dient als Kulisse und Bühnenhintergrund, vor der eine afrikanischamerikanische Familie – an einem Tisch in aufrecht-steifer Haltung sitzend – zivilisierte, mittelständische Lebenskultur zelebriert. Das Augenmerk des Betrachters wird auf den unbesetzten, im Verhältnis zu den abgebildeten Personen relativ groß erscheinenden Stuhl im Bildvordergrund gelenkt: während Mutter und Vater zu jeweils Kopf und Fuß des Tisches sitzen und die drei Kinder des Paares die Plätze an der hinteren Längsseite des Tisches einnehmen, wird der vordere Platz freigehalten – frei für ein außerbildliches Publikum, das zur Teilnahme an schwarzer, bürgerlicher Lebenskultur geladen ist. Die Zimmertür im Hintergrund bleibt unverschlossen und gibt damit den Blick auf das ins obere Stockwerk führende Treppengeländer frei, dessen Stufen den sozialen Aufstieg der Familie versinnbildlichen. ›Oben‹ und ›unten‹, ›alt‹ und ›neu‹ sind nicht nur in Pose, Haltung und der Aufmachung der Figuren und Gegenstände präsent: die Helligkeit der Raumes kontrastiert mit der dunklen Kaminöffnung und der schattenumworfenen, rußbedeckten Zimmerwand von Old Folks at Home. Die gegensätzliche Lichtführung unterstützt die Metapher des Aufstieges aus der Finsternis in das Licht.

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Das Motiv der Jugend bildet einen wichtigen Referenzpunkt im schwarzen Erneuerungsdiskurs, die als Verantwortungsträger der Zukunft den kollektiven Forschritt garantiert und weiter vorantreibt. History Class (Abb. 20) ist nicht Teil der Hampton-Werkserie, sondern im Rahmen Johnstons Arbeitsauftrages am Tuskegee Institute im Jahre 1902 entstanden. Charakteristisch für Johnstons Arbeitsstil ist eine genaue geplante szenische Ausgestaltung (mise-en-scène), die auch in History Class besonders wirkungsvoll realisiert wurde. Das Bild zeigt eine Klasse afrikanisch-amerikanischer Schulkinder, die aufmerksam in aufrechter Haltung den Ausführungen ihrer Lehrerin folgen. Ungewohnt erscheint die Stellung der Lehrerin im Klassenraum, die nicht vor der Klasse, sondern seitlich zu ihren Schülern steht. Der Grund hierfür mag in der uneingeschränkten Sicht auf die Szenerie liegen, die durch die seitliche Stellung der Frau ermöglicht wird, oder aber an dem Bild an der Wand direkt über ihr, das die Person Abraham Lincolns zeigt. Die Position der Lehrerin, die nun als vermittelndes Bindeglied zwischen dem Präsidenten und den Schulkindern, zwischen Vergangenheit und Zukunft, auftritt, verweist auf die Bedeutung ihres Lehrauftrags, den Geist der Freiheit und Gleichheit an die heranwachsende Generation weiter zu tragen. Wie das Bild Lincolns liegt das daneben hängende Abbild George Washingtons nicht plan auf der Wand auf, sondern ist in gekippter Lage an der Wand angebracht; in dieser Aufhängung erwecken die symbolträchtigen Politikfiguren, unter deren Augen amerikanische Geschichte gelehrt wird, den Eindruck, als moralische Instanz über die freiheitliche Entwicklung der Jugend zu wachen. Die auf die Tafel geschriebenen Satzstücke sind für den Betrachter nur schwer entzifferbar, allerdings lassen sich die Worte »Captain Smith« sowie »Pilgrim« herauslesen, über die sich schließlich das Unterrichtsthema – die Entdeckung Neuenglands durch John Smith und die sich anschließende Siedlungsgeschichte der Pilgrims – erschließt. Es sind das Verlangen nach Selbstbestimmung und religiöser Autonomie sowie die Zusammenarbeit zwischen den weißen Siedlern und Indianern, auf denen der Gründungsmythos Plymouth Plantation beruht und die das Begehren der schwarzen Bevölkerung in ihrem Streben nach freier Selbstentfaltung und Solidarität widerspiegeln. Unter den Augen der symbolträchtigen Politikfiguren George Washingtons und Abraham Lincolns wird die amerikanische Geschichte gelehrt. Afrikanisch-amerikanische Geschichte wurzelt in nationalen, historisch bedeutsamen Ursprungsmythen – Besiedelung Neuenglands, Gründung der Nation, Einung des Landes – die

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als unverrückbares Identitätsmerkmal fortan in die eigene Vergangenheit mitaufgenommen wird. Die Konstruktion der schwarzen Vergangenheit wird auf Erinnerungen aufgebaut, die sich der weißen Geschichtsschreibung bemächtigt und als eigene Inhalte in das schwarze Geschichtsbild eingeschrieben wird. Die Zugehörigkeit zum nationalen Gemeinwesen wird neben der Bildungs- und Integrationsfähigkeit in eine bürgerliche Werteordnung auch über den Anspruch auf ein gemeinsames historisches Erbe erhoben. Die drei weiteren Bilder sind motivisch den republikanischen und aufklärerischen Idealen von Gleichheit, Einheit, Bildung und Fortschritt verpflichtet: In Saluting the Flag at the Whittier Primary School (1899/1900) (Abb. 21) wird der Flaggengruß einer afrikanisch-amerikanischen Grundschulklasse als kollektives Bekenntnis zur amerikanischen Nation inszeniert. In African American School Children Facing the Horatio Greenough Statue of George Washington (1899/1900) (Abb. 22) bildet die Weitergabe patriotischer und staatsbürgerlicher Kenntnisse an die Jugend das zentrale Bildmotiv. Die Einschreibung in den dominanten Nationendiskurs erfolgt hier über das nationale Leitbild George Washingtons. Der Gründervater und erste Präsident der amerikanischen Nation, der, in weißem Marmor veredelt, über der Schulklasse thront, wird als Vaterfigur einer neuen Generation imaginiert. Auch in Thanksgiving Day Lesson at the Whittier (1899/1900) wird die Vermittlung nationaler Werte und Geschichtsinhalte als zentrales Ziel formuliert und mit diesem das Motiv der Nationalisierung afrikanisch-amerikanischer Identität. Afrikanisch-amerikanische Schulkinder, die sich um eine nachgebaute Gründersiedlung der Pilgerväter gruppieren, werden in dem nationalgeschichtlichen Hintergrund des Erntedankfestes unterwiesen. Schwarze Identität ist auf den Bildern als ein in Abgrenzung zur eigenen Vergangenheit und unter Bezugnahme auf Konstruktionen der nationalen Erinnerungskultur verlaufender Entwurf gedacht. Der afrikanisch-amerikanische Patriotismusdiskurs wird im Kontext des Ersten und Zweiten Weltkrieges in der schwarzen Kriegsfotografie fortgeschrieben, für die die lyrischen Soldentenporträts des Fotografen James VanDerZee exemplarisch stehen. Die schwarze Kriegssoldatenfotografie erfüllt eine entscheidende Rolle bei der Formung und Vermittlung ehrbarer, schwarzer Männlichkeit. Grundlegend ist die Hervorhebung des noblen, loyalen Helden, der sich in der ehrenhaften Pflichterfüllung der nationalen Aufgabe aktiv dienlich erweist. Der afrikanisch-amerikanische Soldat

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Abb. 21: Frances Benjamin Johnston, Saluting the Flag at the Whittier Primary School, 1899/1900

Abb. 22: Frances Benjamin Johnston, African American School Children Facing the Horatio Greenough Statue of George Washington, 1899/1900

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und sein Beitrag am Kampf für die vaterländischen Ideale stehen für patriotisches Integrationsbestreben, sie stellen die selbstlose Opferbereitschaft und bedingungslose Vaterlandsliebe afrikanisch-amerikanischer Männer unter Beweis. Die Fotografien formulieren nicht nur den afrikanisch-amerikanischen Anspruch, als vaterlandstreuer Krieger in die nationale Gemeinschaft aufgenommen zu werden, sondern sie liefern ebenso einen dauerhafte, zeitgeschichtliche Referenzpunkte, die der ehrenhaften Einschreibung in die nationale Gedächtniskultur dienen. James VanDerZee thematisiert den Topos des Kriegshelden in Form des standhaften, heroischen Veteranen, oder als sterblichen Opferhelden, der in soldatischer Pflichterfüllung für die nationale Gemeinschaft gefallen ist. World War I Veterans (1916) (Abb. 23) zeigt zwei Armeeveteranen des Ersten Weltkrieges, die in vollem Ordensschmuck stolz posierend sich einander zuwenden. Im Hintergrund des Bildes ist eine auf die ursprüngliche Aufnahme projizierte Szene zu erkennen, die einen bewaffneten Mann neben einer Krankenschwester zeigt, die ihrerseits einen verwundeten Soldaten stützt. Die Szene hebt die häufig zu gering gewürdigte Rolle schwarzer Krankenschwestern und ihre Verdienste der Kriegskrankenpflege hervor. Das projizierte Bild ist Teil einer mehrteiligen Serie (1916 – 1918), deren Motivik teilweise der christlichen Ikonographie unterlegt wurde. So stellt ein weiteres Motiv der Serie eine um den Soldaten trauernde Krankenschwester (Abb. 25) dar, der mit verschlossenen Augen zu ihren Knien

Abb. 23: James VanDerZee, World War I Veterans, 1916

Abb. 24: James VanDerZee, The Last Goodbye – Overseas, 1941

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Abb. 25: Alva, Unidentified Woman and Man, 1918

niederliegt. Die Szene orientiert sich an der Pietà-Symbolik der trauernden Gottesmutter mit dem Leichnam des vom Kreuz abgenommenen Jesus Christus auf ihrem Schoße. Die Totendarstellung steht im Zeichen der pathetischen Verklärung des schwarzen Heldentodes als Erlösung und moralischen Sieg für das Vaterland.

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5.2 Booker T. Washington und die ehrenhafte Arbeiterschaft Indeed, one of the greatest benefits we have received from going into business is the proof we have thus afforded that we are well able to develop those sturdy and enterprising qualities without which the highest civilization is impossible. (Washington 1969 [1907], 19)

Die Konstruktion des ehrbaren schwarzen Staatsbürgers knüpft im Diskurs um schwarze Erneuerung neben den Motiven des Patriotismus, der Bildung und Erziehung an Repräsentationen des wirtschaftlichen Aufstieges aus dem unehrenhaften Status unbezahlter Sklavenarbeit an. Das Motiv der Arbeit als Mittel zur eigenverantwortlichen, selbstbestimmten Existenzsicherung stellt eine zentrale Bezugsgröße dar, die den Status als freien, mündigen Bürger untermauert. W. E. B. Du Bois wies der geistig-kulturellen Bildungsschicht immer eine privilegierte Stellung zu und schuf damit eine Kluft zwischen denen, die mit dem Kopf arbeiten, und jenen, die mit den Händen ihre Arbeit verrichten. Der Idee der Aneignung handwerklicher Fähigkeiten als primäres Bildungsziel verpflichtend, gründete 1881 Booker T. Washington das Tuskegee Normal and Industrial Institute in Alabama. Im Sinne einer Emanzipation von unten sollte nach Ansicht Washingtons der Kampf um Gleichberechtigung über den Erwerb praktischer Fertigkeiten geführt werden. Landerwerb sowie die Fähigkeit, eigenes Farmland selbständig zu bewirtschaften, bildeten den Grundstein für sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg. Eine auf gesellschaftliche Nützlichkeit und soziale Brauchbarkeit hin ausgerichtete Erziehung verhalf den Schwarzen zwar zu einem gewissen Bildungsstandard, trug nach Ansicht von W. E. B. Du Bois nur unwesentlich zu einer intellektuellen Befreiung bei, wie er sie forderte5. Die

5

W. E. B. Du Bois wandte sich vehement gegen die Washington’sche Anpassungspolitik, die vor allem eine wirtschaftliche Gleichstellung zwischen Weißen und Schwarzen anstrebte. Über die wirtschaftliche Chancengleichheit hinaus trat er für eine sofortige Anerkennung aller Bürgerrechte ein. Aus Protest gegen Washingtons gradualistischen Strategie trafen sich 1905 schwarze Führungspersönlichkeiten, darunter auch einige weiße Reformer, auf kanadischem Boden in der Nähe der Niagara Falls zusammen mit dem Ziel, für volle bürgerliche Freiheiten und das Ende der Rassentrennung zu kämpfen. Aus dieser

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geistige Entwicklung sah Du Bois als notwendige Voraussetzung an, um der schwarzen Bevölkerung ein vollwertiges politisches Mitspracherecht zu ermöglichen. Die sofortige volle Erlangung der Bürgerrechte war für den Intellektuellen die wichtigste Voraussetzung gleichberechtigter Partizipation. 1902 und 1906 erhielt Frances Benjamin Johnston von Booker T. Washington den Auftrag, den Alltag und die Fortschritte des Tuskegee Institute seit seinem Bestehen zu dokumentieren. Johnstons Bilder übernehmen Booker T. Washingtons verfolgte Strategie einer schrittweisen Emanzipation der schwarzen Bevölkerung durch harte, unabhängige handwerkliche Tätigkeiten. Der Entwurf des schwarzen Arbeiters erfolgt, ähnlich wie in ihren Inszenierungen schulischer Erziehung, über Bezugnahmen auf Motive wie Fleiß, Sorgfalt, Geduld, Gemeinschaft, Bildung und Erziehung. Wirtschaftliches Fundament bilden im Sinne Washingtons Politik der landwirtschaftliche Anbau sowie das ehrbare Handwerk, von dem aus der schwarze Aufstieg notwendigerweise seinen Ausgang nehmen muss. Die Bilder zeigen die Menschen als gewissenhafte Studenten und hart arbeitende Handwerker, die dem allgemeinen Fortschritt durch Fleiß und unterwürfige Anpassung dienlich sind (Abb. 26 und 27). Der Gedanke der freiwilligen Unterwerfung als Weg des graduellen sozialen Aufstiegs vermittelt sich in Haltung und Pose der Abgebildeten. Die Menschen erscheinen in der Regel in gebückter Haltung mit gesenktem Blick bei der Verrichtung ihrer Tätigkeit. Die auf Fleiß und Betriebsamkeit ausgerichteten Motive können auch als Gegendiskurs zu stereotypen Entwürfen des lethargischen und bequemen Sklaven gelesen werden. Johnstons Tuskegee-Bilder verweisen auf die Entwicklung und das Fortschrittsbestreben der schwarzen Gemeinschaft durch die Hervorbringung arbeitsamer Handwerker, die in der Ausübung ehrenhafter, d.h. selbstständiger, Tätigkeiten dem Aufstieg der Gemeinschaft dienen. Arbeit und Bildung stellen ein eine Einheit stiftendes Element dar. Die Menschen sind häufig Teil eines größeren, zusammenwirkenden Kollektivs, deren Beitrag dem Dienst an der schwarzen Gemeinschaft geschuldet ist. Die kulturell-geistige Beflissenheit auserwählter Repräsentanten, die als Vorbilder für die gesamte Gruppe fungie-

Niagara Movement entstand die 1909 gegründete National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) (vgl. Heideking 256).

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Abb. 26: Frances Benjamin Johnston, African American Students in Mattress-Making Class, Tuskegee Institute, 1902

Abb. 27: Frances Benjamin Johnston, Students in Workshop, Tuskegee Institute, 1902

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ren, steht nur dann im Vordergrund, wenn es um das öffentliche Wirken und die sozialen Errungenschaften ehemaliger Tuskegee-Studenten geht. Der gehobene Lebensstandard ist hierbei ein Motiv, das für den emanzipatorischen Erfolg einer handwerklich-orientierten Ausbildung steht. Arbeit und wirtschaftlicher Erfolg Den Bezugnahmen des schwarzen Amerikaners und der Berufstätigkeit widmete sich Booker T. Washington in seiner Studie The Negro in Business (1907), die am Beispiel repräsentativer Unternehmer in die wichtigsten Zweige afrikanisch-amerikanischer Geschäftstätigkeit zu Anfang des 20. Jahrhunderts einführt. Der Buchaufbau zollt Washingtons Erziehungsideal einer schrittweisen Angleichung von unten Tribut: angefangen von der Beschreibung landwirtschaftlicher sowie dienstleistender Tätigkeiten in den ersten Kapiteln kulminiert die schwarze Wirtschaftsentwicklung in der Darstellung einer afrikanisch-amerikanischen Immobiliengesellschaft. Auf den in Washingtons Studie verwendeten Fotografien treten schwarze Amerikaner als eigenverantwortliche, an den zentralen Schaltstellen der Wirtschaft agierende Arbeiter und Unternehmer in Erscheinung und werden dadurch zu aktiven Teilhabern und Partizipierenden des wirtschaftlichen Lebens. Menschen in Büro- und Geschäftsräumen werden gezeigt, in der Regel konzentriert in ihre Arbeit vertieft: Frauen und Männer bei der Herstellung von Rasierklingen, beim Reinigen von Teppichen oder beim aufmerksamen Studieren von Akten und Geschäftsbüchern. Die Personenund Familienporträts, die Unternehmer mit ihren Angehörigen zeigen, sind repräsentativ der bürgerlichen Ordnung entsprechend. Architektur wird als Ausdruck wirtschaftlich angeeigneter und verwertbarer Räume präsentiert. Interessant ist das bildsprachliche Arrangement vieler Fotografien, das sich oftmals aus Unternehmerporträts und Abbildungen der Wirtschaftsgebäude sowie der Innenräume zusammensetzt. Häufig dient dabei das Personenporträt als Bindeglied zwischen privaten und geschäftlichen Räumlichkeiten. Der Fokus der Bilder liegt auf der Präsentation von Raum und Architektur. Unternehmer und Arbeiter posieren innerhalb oder vor den Gebäuden und Räumlichkeiten, zuweilen wird das Augenmerk auf die Ausstattung und Funktionalität der menschenleeren Arbeitsstätten gelegt. In der bildsprachlichen Betonung von Architektur und Raum äußert sich der

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Wunsch, innerhalb der Öffentlichkeit eigene Räume als Abdruck einer neu errungenen Selbstständigkeit zu installieren. Die Außenfassaden von Wirtschaftsgebäuden, Wohnresidenzen, Innenansichten, Interieurs und Straßenszenerien sind Selbstdarstellung und Bootschaft ökonomischer Leistung und Eigenständigkeit. Die in dem Kapitel zur Immobilienindustrie beschriebene Vertreibung schwarzer Bewohner durch weiße Wohnungseigentümer aus dem Viertel stellt die Notwendigkeit der Besetzung, Aneignung und Verteidigung eigener Räume heraus, die, in klarer Abgrenzung zu den in der Sklaverei bewohnten slave quarters, old time cabins oder one mule farms, der Sicherung eines respektablen Lebensstands dienen. Eine derartig inszenierte Architektur bestätigt nicht die alten Selbstbilder, sondern etabliert öffentliche Räume als ehrenhafte Strukturen für das neue kollektive Selbst. 5.3 W. E. B. Du Bois’ Negro Type-Entwurf Der nachfolgende Abschnitt beschäftigt sich mit W. E. B. Du Bois’ wissenschaftlichen Verwendung der Fotografie um 1900 im Sinne der Nutzung des Mediums zur (De)Konstruktion eines Typus. Die im ersten Teil der Studie dargelegte Methode der fotografischen Typenbildung war von enormen Einfluss und etablierte eine allgemeine Repräsentationsästhetik, die, wie am Beispiel der Du Bois’schen Bildersammlung Types of American Negroes, Georgia, U.S.A gezeigt wird, auch in der schwarzen Fotografie ihre Umsetzung fand. Formalästhetisch übernehmen die Mehrheit der Porträtbilder aus der Types of American Negroes-Sammlung die typisierenden Repräsentationskonventionen der anthropometrischen Fotografie. Die abgebildeten Menschen erscheinen in der Regel auf zwei Fotografien in der Frontal- und Profilansicht (als Dreiviertelprofil, Halbprofil, Viertelprofil oder Profil). Dabei sind die Porträtierten in einen völlig isolierten Raum versetzt, der keine direkte Auskunft über einen sozialen Zusammenhang vermittelt (Abb. 28-30). Abgesehen von der Information über die Herkunft werden die Menschen auch in den Bildtiteln nicht näher bestimmt. Die Ausblendung einer sozialen Dimension und individualisierender Daten erhöht das Generalisierungs- und Idealisierungspotential der Bilder. Bei den Darstellungen handelt es sich nicht um Porträtdarstellungen der in Georgia lebenden schwarzen Bevölkerung, sondern um Bildtypen – um in Bildern

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nachgewiesene Menschentypen. Das fotografische Bild fungiert hierbei als Ermöglichungsbedingung für die Konstruktion menschlicher Typen – eine Bildfunktion, die für die typisierende Kategorisierung menschlicher Rassen im hegemonialen Repräsentationsdiskurs bestimmend ist. In der Sammlung werden mitunter sehr hellhäutige Personen mit blonden oder braunen Haaren und blauen Augen gezeigt, die man auf einen ersten Blick nicht als Menschen afrikanisch-amerikanischen Ursprungs wahrnehmen würde. Du Bois’ Menschenbilder invertieren gewissermaßen die Typisierungsfunktion ideologisch funktionalisierter Bildverfahren zugunsten der Dekonstruktion festgelegter Identitätstypen. Seine Strategie zielt darauf ab, wie Shawn Michelle Smith in ihrer überaus aufschlussreichen Arbeit Photography on the Color Line darlegt, den ›negroiden Typus‹ zu demontieren6: For what is the ›Negro type‹ as represented in Du Bois’s albums? First, it is plural – ›types‹ – a diverse array of individuals not bound by physical appearance, by the ›hair and bone and color‹ that Du Bois rejects as singular signs of racial belonging […]. […] In his 1900 Paris Exhibition albums, Du Bois loosens the narrow circumscription of race as defined by Francis Galton; he unfixes the ›Negro type‹. (2005, 61-62)

Afrikanisch-amerikanische Identität kann also eben nicht eindeutig anhand äußerer Kriterien festgelegt werden. Eine bildlich nachgewiesene, anatomische Andersheit der schwarzen Rasse, auf der sich die Überlegenheit der weißen Rasse begründet, findet in Du Bois’ visuellem Archiv keine ›wissenschaftliche‹ Bestätigung. In seiner Sozialstudie The Health and Physique of the Negro American (1906), die 48 Porträtbilder der American Negro Types-Sammlung enthalten, negiert der Wissenschaftler einen eindeutig nachweisbare schwarze Physiognomie: It has usually been assumed that of all races the Negro race is, by reason of its pronounced physical characteristics, easiest to distinguish. Exacter studies and measure-

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In ihrer äußerst gehaltvollen Abhandlung Photography on the Color Line. W. E. B. Du Bois, Race and Visual Culture (2007) thematisiert Shawn Michelle Smith die Du Bois’schen Bildersammlungen im Kontext rassisch-biologisch verankerter, hegemonialer Repräsentationsstrategien am Ende des 19. Jahrhunderts.

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Abb. 28: W. E. B. Du Bois, African American Man, Head-andShoulders Portrait, Right Profile, 1899/1900

Abb. 29: Thomas E. Askew, African American Girl, Head-andShoulders Portrait, 1899/1900

Abb. 30: W. E. B. Du Bois, African American Woman, Half-Length Portrait, Facing Left, 1899/1900

ments prove this untrue. The human species so shade and mingle with each other that not only indeed is it impossible to draw a color line between black and other races, but in all physical characteristics the Negro race cannot be set off by itself as absolutely different. (16)

Nicht alle Bilder der Sammlung erfüllen die strengen methodischinstrumentellen Richtlinien, die vorrangig dem Zweck der Produktion empirischer Daten unterliegen. Nicht wenige Porträtbilder zeigen afrikanischamerikanische Menschen als Hüft- oder Ganzfigurenpoträts in repräsentativer Pose und aufwendiger Garderobe zum Teil umgeben von dekorativen Elementen. Viele dieser Ateliersituationen wurden von Thomas E. Askew, Atlantas erstem schwarzen Porträtfotografen, aufgenommen. In einigen Fällen wird die Aussage der Porträts durch genauere Informationen über die Modelle erweitert. Trotz der individualisierenden Präsentationsweise können die Darstellungen nicht als Abbild einer subjektiven persönlichen Darbietung gelesen werden. Die Bilder, die exemplarische Stellvertreter der afrikanisch-amerikanischen Gemeinschaft porträtieren, oder allgemeiner, der Würde der schwarzen Bevölkerung Ausdruck verleihen, erfüllen im Rahmen ihrer öffentlichen Präsentation vielmehr einen erzieherischen und moralisierenden Auftrag. Formalistisch vereinen die American Negro Types-Bilder die Abbildungskonventionen der typologischen Fotografie mit der klassischen Port-

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rätfotografie, die sich im 19. Jahrhundert als wichtiges Medium zur Selbstrepräsentation breiterer Bevölkerungsschichten etablierte. Im Gegensatz zur totalisierenden, essentialistisch geprägten Repräsentationsästhetik der typologischen Fotografie ist im klassischen Porträtbildnis die Darstellung des Individuellen bildbestimmendes Moment. Die repräsentative Wiedergabe des Selbst ist keineswegs leicht darstellbar, sondern vermittelt sich unter Einbeziehung der sozialen Situation in Stimmungen, Wünschen und Begehren – in der psychologisierenden Rekonstruktion des subjektiven Wesens, in dem Bezug des Porträtierten zu sich und zur Welt. Die individuelle Selbstgestaltung in der schwarzen Porträtfotografie trug maßgeblich zur Neuausrichtung und Rehabilitierung des afrikanischamerikanischen Selbstbildes bei. Die idealisierenden Selbstbilder trugen dem Wunsch eines jeden einzelnen Afroamerikaners nach respektabler Präsenz und Anerkennung Rechnung, die in der breiten Gesellschaft so noch nicht verankert waren. Sie sind Ausdruck eines Selbstgefühls, das häufig in Abgrenzung zur gesellschaftlichen Realität verlief. Der im ausgehenden 19. Jahrhundert auf offizieller Seite vorangetriebene Repräsentationsdiskurs, dessen Hauptanliegen es war, Schwarze als gleichberechtigte Bürger in die gesellschaftliche Praxis einzubinden, fand auf privater Ebene innerhalb der repräsentativen Porträtfotografie seine Entsprechung. 5.4 Afrikanisch-Amerikanische Porträtfotografie um 1900 Die fotografische Porträtdarstellung erweiterte die sich im 17. Jahrhundert herausbildende Porträttradition der Adelsschicht, indem es breiteren Teilen der Gesellschaft, vor allem dem wachsenden Bürgertum, den Weg der bildlichen Selbstrepräsentation eröffnete. Im Kontrast zur Repräsentationsfunktion des höfischen Standesporträts, das die Dargestellten als Vertreter ihres gesellschaftlichen Ranges innerhalb der absolutistischen Gesellschaftshierarchie abbildete, wurden im bürgerlichen Porträt die individuellen Züge der Person bewußt herausgestellt. Mit der Einführung der kleinformatigen Carte-de-visite-Fotografien7 im Jahre 1854 durch André

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Bei den Carte-de-visite-Porträts handelt es sich um auf dünnem Karton aufgezogene Papierkopien. Disdéris Verfahren ersetzte die bei der Daguerreotypie eingesetzte Metallplatte, die keine Abzüge erlaubte, durch das bereits erfundene Glasnegativ, von dem beliebig viele Abzüge gemacht werden konnten. Die Ver-

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Adolphe-Eugène Disdéri, durch die die Herstellungskosten der Porträtfotografie deutlich reduziert werden konnten, verbreitete sich die Mode der Porträtaufnahme als erster fotografischer Massenartikel. So schreibt Gisèle Freud dem fotografischen Medium, durch das sich »das Einrücken in die Reihe derer, die sozialen Respekt für sich forderten, auch nach außen sichtbar machen ließ«, demokratisierende Funktionen zu (13): Mit dem um 1750 beginnenden Aufstieg bürgerlicher Mittelschichten und der Zunahme ihres Wohlstandes vergrößerte sich das Bedürfnis nach Repräsentation erheblich. Eine Form der Repräsentation ist zweifellos das Selbstporträt, dessen funktionale Beziehungen eng mit dem eigenen Selbstverständnis und der Entwicklung des Persönlichkeitsbewußtseins verbunden sind. Die Porträtdarstellung, die in Frankreich jahrhundertelang immer nur das Privileg einer kleineren Schicht gewesen war, unterlag zugleich mit der gesellschaftlichen Verschiebung einer Demokratisierung. (Ibid.)

In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts etablierte sich die Fotografie, wie Deborah Willis darlegt, zum schichtenübergreifenden Medium der (afrikanisch-)amerikanischen Selbstpräsentation, die nicht zuletzt aufgrund der vergleichsweise kostengünstigen Herstellung den Lebensbedürfnissen weiter Bevölkerungsteile entsprach: Between 1900 and 1940, African-American photographers flourished in businesses established in larger cities. Through their studio doors came rural, urban, and foreign-born blacks, including members of the working class, such as laborers and domestic workers, as well as artists and educators. Photography did not discriminate, and its low cost made portraits available to many. At the turn of the century, photography moved more directly into the national psyche. (2000, 35)

kleinerung des Formats ermöglichte die Unterbringung mehrerer Negative auf einer einzigen Glasplatte, so dass bereits eine Aufnahme mehrere Abzüge gleichzeitig lieferte. Weitere Vorteile lagen in der unkomplizierteren Versendung der Carte-de-visite-Fotografien, denn die Aufbewahrung der Fotografie hinter Glas und in einem Schutzetui entfiel (vgl. Freund 68).

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Abb. 31: Tresslar, Standing Woman, Wearing Dress with Bustle, 1886 Abb. 33: W. Hartzell & Co., Padi(?) M. Hunter at Age Eight, ca. 1900

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Abb. 32: G. E. Curtis, Studio Portrait of Man with Top Hat and Cane, ca. 1880er Abb. 34: Ganns & Co., Studio Portrait of a Gentleman, 1908

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Bereits ein flüchtiger Blick auf das ausgewählte Bildmaterial8 gibt zu erkennen, dass die Repräsentationsformen afrikanisch-amerikanischer Bildnisfotografie zu Ende des 19. Jahrhunderts in der Masse nicht etwa einer Originalität im Sinne der Betonung ›eigener‹ Merkmale entspringen, sondern in nahezu ungebrochener Wiederholung die spezifischen Motive und Repräsentationsformen der weißen bürgerlichen Gesellschaftsschicht wiedergeben. Die viktorianische Kleiderpracht der Figuren sticht ins Auge: ausladende Puffärmel in großzügig geschichtete Falten gelegt, elegante Mäntel und Roben mit dekorativem Pelzbesatz, aufwendig in Falten gelegte Taillen und dekorative Knopfleisten, Röcke auf der Rückseite prächtig drapiert, eng geschnürte Taillen in Jacken- oder Westenstil mit raffinierter Faltenlösung an den Seiten. Handschuhe, Fächer, Spitzen, Schleifen, Rüschen, Plissierungen, weitläufige Federkleider an ausgefallenen Hüten, Perlenketten, Sonnen- und Regenschirm sind essentielles Beiwerk und geben der Kleidung ein elegantes Aussehen. Die Gestaltung der naturgemäß gelockten Haare ist aufwendig: das in Wellen gelegte, glatte Haar ist häufig vom Mittelscheitel aus seitlich gekämmt zu einer pompösen Frisur gesteckt, etwa wenn es als Zopf in mehreren Reihen wie eine Krone um den Kopf gelegt wird. Das klassische Körperideal der weißen Bürgersfrau – helle Haut, zerbrechliche Körpererscheinung, feine Gesichtszüge und glattes Haar – ist das Normalmaß und folglich der Gradmesser, an dem sich der schwarze Frauenkörper auszurichten hat. Ihr Maß überantwortete all diejenigen der Deklassierung, die seinen ästhetischen Anforderungen nicht gerecht werden konnten – Forderungen, die sich als jene biopolitische (Körper)Grenze erweisen, an der laut Homi K. Bhabha der Akt der minoritären Angleichung an den dominanten Diskurs – der kulturellen Maskerade9 – notwendigerweise scheitern muss. Eigene Wesensmerkmale treten in den Hintergrund. Die Repräsentationen der Männer sind nicht geringer im-

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Als Quellenmaterial werden für die Besprechung der schwarzen Porträtfotografie an der Jahrhundertwende Fotografien aus den Sammlungen des Schomburg Center for Research in Black Culture herangezogen, die auch digitalisiert in der Online-Datenbank Images of African Americans from the 19th Century einsehbar sind.

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Der folgende Themenabschnitt »Schwarzes Selbstbild: Begegnung und Widerspruch« nimmt eine nähere Bestimmung von Homi K. Bhabhas Konzept der kulturellen Maskerade vor.

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Abb. 35: Henrici & Garns, Quarter-Length Portrait of Woman Wearing Large Cross, 1880er

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Abb. 36: Theo. Endean, Studio Portrait of ›Canzonetta‹, ca. 1896

posant: im eleganten Gehrock und erhobenen Hauptes, den Übermantel oder Zylinder in der Linken, den Gehstock in der Rechten, posieren die Porträtierten in Frontalansicht, im Dreiviertel- oder Halbprofil, als Ganzoder Halbfigur, Hüft- oder Kopfbild neben den charakteristischen Requisiten des fotografischen Ateliers, zu denen die »Säule, der Vorhang und das ovale Tischchen« (Matthies-Masuren 25) zählen. Ein fester Blick, klare Züge und die aufrechte Haltung sind die Regel. In der Porträtkultur, so hält Freund fest, »spielen die Hände eine besondere Rolle. Die einen lassen sich darstellen mit der Rechten auf der Brust; die anderen, die Hand nachlässig auf dem Gürtel liegend. […] jener andere versenkt die Rechte in seiner Weste« (78), in Jacken- oder Hosentaschen. Der Sinn der Ausdrucksformen ist es, die soziale Bedeutung, die Würde und Position des eigenen Ich hervorzuheben. Die afrikanisch-amerikanischen Porträtaufnahmen aus den Ateliers der Fotografen entsprechen den Konventionen von bürgerlicher Inszenierung und Pose, die ihrerseits den traditionellen Darstellungsformen der aristokratisch-feudalen Adelsschicht, wie sie in den gemalten Herrscherbildnissen des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck gelangen, entlehnt sind. Soziale Stel-

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lung und gesellschaftliche Erwartungshaltung manifestieren sich im repräsentativen Auftreten, in der Haltung, Pose und Kleidung. Aus praxeologischer Perspektive konstituiert das menschliche Subjekt einen in erster Linie kulturell »regulierten« Körper, der sich spezifischen Gesellschaftsstrukturen unterwirft, um sich darin auf der Ebene von Bewegungen, Ausschmückungen und Haltungen des Körpers zu instituieren (Reckwitz 2008, 42). Pierres Identitätsverständnis legt den Körper als leibhaftigen Vermittler und Träger gesellschaftlicher Strukturen fest, die dem Subjekt als innere Einstellungen und Wissensschemata (Wahrnehmungs-, Denk- Bewertungs- Haltungs- und Handlungschemata) einverleibt sind. Der Begriff des Habitus als ein System innerer Dispositionen ist »Leib gewordene [...] Geschichte« (Bourdieu 1985, 69), der als strukturierende und strukturierte Struktur [...] in den Praktiken und im Denken praktische Schemata [aktiviert], die aus der – über den historischen ontogenetisch vermittelten – Inkorporierung von sozialen Strukturen hervorgegangen sind, die sich ihrerseits in der historischen Arbeit vieler Generationen – also phylogenetisch – gebildet haben. (Bourdieu und Wacquant 1996, 173)

Bourdieu benutzt in diesem Zusammenhang auch den Begriff der Inkorporation als psychosoziale Aneignung soziokultureller Vorgaben. Durch die Inkorporation der äußerlichen, gesellschaftlichen Bedingungen des Daseins in innere Strukturen (Inkorporation), erscheint der Habitus auch als »das Körper gewordene Soziale« (ebd. 161). Judith Butlers Identitätskonzeption setzt, wie bei Bourdieu, an der Erkenntnis an, dass die Ausführung sozialer Lebenspraxis grundsätzlich an einen Leib gebunden ist (embodied). Ihre Arbeiten zur performativen Konstitution von (Geschlechts)Identität, die sich nicht ausschließlich auf gender-Fragestellungen beziehen, bilden einen allgemeinen kulturwissenschaftlichen Theorierahmen zur Performativität sozialer Identität (vgl. Reckwitz 2008, 81). Der Begriff der Performativität, der sich ursprünglich aus der Sprachphilosophie10 heraus entwickelt hat, beschreibt dabei die

10 Der Begriff »performativ« wurde durch den Sprachphilosophen John L. Austin eingeführt. Eine performative Äußerung zeichnet sich im Gegensatz zu konstativen Äußerungen, die Auskunft über wahre oder falsche Gegebenheiten (Kon-

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Herausbildung von Identität als Prozess wiederholten Zitierens gesellschaftlicher Vorgaben entlang diskursiver Regeln. Dabei ist Performativität weniger als ein bewusster, intentionaler Akt aufzufassen, sondern als repetitive Praxis innerhalb eines regulativen Ordnungssystems, die sich in der beständigen (Re)Inszenierung kultureller Normen vermittelt und darüber Identität instituiert: First, it is important to distinguish performance from performativity: the former presumes a subject, but the latter contests the very notion of a subject […]. So what I am trying to think about is that aspect of discourse that has the capacity to produce what it names. Then I take a further step, through the Derridean rewriting of Austin, and suggest that this production actually always happens through a certain kind of repetition and recitation. […] Performativity is the discursive mode by which ontological effects are installed. (Butler 1994, 33)

In den afrikanisch-amerikanischen Selbstbildnissen zu Ende des 19. Jahrhunderts treten ganz andere Sinnbedürfnisse zum Vorschein als die nach einem Repräsentationsmodus, der sich auf die Darstellung ›eigener‹ Merkmale konzentriert. Entgegen der Behauptung einer schematischen Nachahmung bereits vorhandener, bürgerlicher Identitätsbilder der weißen Mehrheitsgesellschaft erscheint aus praxeologischer Perspektive die zitathafte Wiederholung (ebenso wie ihre Negierung) als ein integraler Bestandteil performativ (körperlich) hervorgebrachter Praktiken. Gegen das Argument einer unkritischen Imitation muss zudem geltend gemacht werden, dass, wie Judith Butler in ihren Darlegungen zur Performativität von (geschlechtlicher) Identität anführt, eine vorgängige Essentialität (hetero)normativer Identität und Repräsentationsform nicht existiert, sondern diese im Akt der Identitätsbestimmung beständig wiederholt und neu inszeniert werden (müssen): Gender ought not to be construed as a stable identity or locus of agency from which various acts follow; rather, gender is an identity tenuously constituted in time, instituted in an exterior space through a stylized repetition of acts. The effect of gender is produced through the stylization of the body and, hence, must be understood as the

stativa) geben, dadurch aus, dass sie Sachverhalte initiiert bzw. vollzieht, wenn sie geäußert wird.

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mundane way in which bodily gestures, movements, and styles of various kinds constitute the illusion of an abiding gendered self. (1990, 140; Herv. i. Org.)

Identitätsattribute, die sich in performativen Akten grundsätzlich erst herstellen und nicht lediglich ausdrücken, gewinnen bei Judith Butler einen ontologischen Charakter; allerdings wird Identität bei Butler und auch in dieser Studie nicht als unhintergehbare Wesensart begriffen. Vielmehr betont der Begriff der Performativität, dass Identität die an performativen Akten gebundene Verwirklichung eines eigenen Selbst ist und erst im Zuge dieser Tätigkeit Gestalt annimmt (und nicht bereits a priori vorhanden war). Butlers Lesart soll in erster Linie darauf aufmerksam machen, dass die interpretative Zitation bestehender Normen – in diesem Kontext vorhandener Körperbilder – kein genuin minoritäres Unterfangen ist, sondern Identität als solche sich beständig über die performative Zitation konstituiert. Laut Butler wird Identität in performativen Akten durch die Stilisierung des eigenen Körpers – »bodily gestures, movements, and styles« – erzeugt (1990, 140). An dieser Stelle sei die Selbstpositionierung des Subjekts im jeweiligen sozialhistorischen Kontext herausgehoben, aus dem es seine Identifikationspunkte bezieht. Die Konstruktion von Identität vollzieht sich im Wechselspiel mit der sozialen Umwelt11, d.h. in Prozessen der Identifikation mit bereits bestehenden Mustern, welche intrakommunikativ aufgenommen, überarbeitet und nach außen als Attribute der eigenen Persönlichkeit performativ ausformuliert werden. Körperliche Umsetzung ist dabei nicht als passive Übernahme medialer Angebote zu verstehen, sondern als Aushandlung kultureller Vorgaben in überindividuellen sowie individuellen Deutungsprozessen von Personen, die Identitätsentwürfe reflektieren und beständig neu modifizieren. In diesem Zitieren von Entwürfen und Zuschreibungen, das eine erneute Umsetzung ebenjener bereits existierenden Vorgaben erfordert, sieht Butler die Möglichkeit für ein reflexives oder gar subversives Verstehen. Anders als Bourdieu, dessen Habitus-Konzept von

11 Die diskursive Selbstdeutung vollzieht sich in Butlers Identitätskonzeption im Rahmen soziokultureller Normen, »a set of meanings already socially established«, aus denen kontinuierlich bestimmte ausgewählt und zitiert werden (1990, 140). Das menschliche Individuum findet sich somit immer schon in einem sinnhaften Raum situiert, in dem es sich definiert und konstituiert.

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der vorreflexiven Verkörperung sozialer Praktiken und damit der Beharrlichkeit und Widerständigkeit sozialer Zuschreibungen bzw. Akte gegenüber willkürlicher Veränderungen ausgeht, hebt Butler die Veränderbarkeit und Relativität performativer Handlungen als konstitutive Kriterien ihrer Identitätstheorie hervor. Aber dazu an anderer Stelle mehr. Performative Inszenierungen gesellschaftlicher Normen (Performances) auf den Fotografien bilden allerdings nur einen Aspekt bei der Ausformung sozialer (Lebens)Praxis. Laut Andreas Reckwitz erschließen sich soziale Praktiken auf zwei Arten: Nicht nur kompetente Körper sind die Voraussetzung und Träger einer sozialen Praktik, auch die dafür notwendigen Artefakte sind es. [...] Die Verfügbarkeit und der Gebrauch bestimmter Artefakte – man denke etwa an Kommunikationsmedien – ermöglicht die Entstehung und Reproduktion bestimmter sozialer Praktiken, die es ohne diese Artefakte gar nicht gäbe, freilich ohne dass die Artefakte die Art und Weise ihres Gebrauchs determinieren könnten. Einmal entstandene Netzwerke von Körper und Artefakten in Praktiken gewinnen damit ihre relative Repetivität nicht nur über die sozialisierten Körper, sondern auch über die Stabilität der Dinge. (2004, 45)

Die Fotografien als dinglicher Wissensträger sind Vorraussetzung und Vermittler sozialer Praktiken im Sinne der Kommunizierung des eigenen Selbstverständnisses an sich, Freunde und Angehörige. Auf den Aufnahmen wird das eigene Selbstbild somit nicht nur performativ im Sinne einer körperlichen Darbietung konstituiert – auf ihnen verläuft die Formierung des Selbst auch über eine spezifische, visuelle Codierung. Die (Selbst)Bilder erweisen sich damit als an der Schnittstelle von individuellen körperlichen Darstellungen, über die sich der Einzelne am Prozeß der ehrbaren Selbstbildung beteiligt, und als theoretisches, dingliches Anschauungsmaterial im Sinne einer sichtbaren Archivierung von sinn- und identitätsstiftenden Wissenskomplexen, die Stuart Hall auch mit dem Begriff der Repräsentationen beschreibt (vgl. 1997, 19 ff.). Die Gestaltung der eigenen Person in Pose und Kleidung vollzieht sich in Auseinandersetzung mit bestehenden Deutungsmustern. Die mit ins Bild gesetzten Symbolismen der Ehrbarkeit – Haltung und Pose, Bücher, Accessoires, viktorianischer Kleidungsstil – dienen als Erkennungszeichen, die als solche fest verankert sind in der aktuellen Version, mit der die amerika-

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nische Gesellschaft die Zugehörigkeit zu ihrem Gemeinwesen festlegt und zu der sich das einzelne Subjekt im Prozeß der (visuellen) Selbstbildung ins rechte Verhältnis setzt. Als von außen übernommene und zugleich verinnerlichte, bildlich festgehaltene Repräsentationen sind übernommene Elemente nunmehr Teil des eigenen Erscheinungsbildes und bilden ihrerseits erweiterte Deutungsmuster interkommunikativer Auseinandersetzung. Die Porträtbilder als erweiterte, imaginäre Repräsentation des Selbst haben somit immer Auswirkungen im Realen. Einerseits, als sie eine Beziehung der Innenwelt der Porträtierten zu sich selbst und zu seiner Umwelt herstellen. Andererseits, als sie Teil eines identifikatorischen Archivs bilden, das den eigenen, lebensgeschichtlichen Horizont übersteigt. Die Notwendigkeit einer äußerlich erfahrbaren Präsenz des New Negro illustrieren die beiden, in der Zeitschrift Voice of the Negro 1904 erschienenen Artikel des afrikanisch-amerikanischen Kunstprofessors Prof. John Henry Adams. »Rough Sketches: A Study of the Features of the New Negro Woman« bespricht die idealtypischen Verhaltens- und Erscheinungsformen der New Negro Woman, die der schwarzen Frau zu neuer, distinguierter Weiblichkeit verhelfen sollen und als solche als Kriterien menschlicher Perfektion schlechthin verklärt werden: We present the colored woman today as she im-



presses herself in the world as a growing factor for good and in her beauty, intelligence, and character for better social recognition. Here she is in characte-

Abb. 37: John H. Adams, Gussie, 1904

ristic pose, full of vigor, tender in affection, sweet in emotion, and strong in every attribution of mind and soul. Look upon her, ye worlds! and, since there is none better, swear by her. […] Look upon her ye nations! Measure her by all the standards of humanperfection. Weigh her upon the scales that were employed in the weighing of queens, and noblemen’s wives and daughters. (1904a, 325)

An admirer of Fine Art, a performer on the violin and the piano, a sweet singer, a writer – mostly given to essays, a lover of good books, and a home making girl, is Gussie.

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In den sieben Zeichnungen, die Adams selbst anfertigte, nehmen die im Artikel geforderten Verpflichtungen der New Negro Woman beispielhafte Form und Gestalt an. Die langen, weichen Falten des eleganten Kleides unterstreichen die zarte Figur der Modellfrau »Gussie«. Ihre überaus aufrechte Haltung, der stolz hervorgehobene Brustkorb, der würdevolle Blick zum Betrachter werden als paradigmatische Insignien der New Negro hervorgehoben (Abb. 37). Neben Pose und Haltung sind es die klassischen Beschäftigungen bürgerlicher Lebenskultur und häuslichen Fertigkeiten, die das ehrbare Frauenbild abrunden. Das erhabene Wesen des Mädchens Lorainetta wird auf die Bildung des Geistes zurückgeführt: »This beautiful eyed girl is the result of careful home training and steady schooling« (Adams 1904a, 324). In Bezug auf das gemalte Porträt einer jungen Frau mit imposant hochgesteckten Haaren betont Adams: »You cannot avoid the motion of this dignified countenance. College training makes her look so« (ibid.). Zwei Monate später definiert Adams in »Rough Sketches: The New Negro Man« den Idealtypus des neuen, schwarzen Mannes, der sich im selbstbestimmten Auftreten, im Erreichen persönlicher Ziele und in der kreativen Selbstentfaltung auszeichnet: Now venture on. Here is the real new Negro man. Tall, erect, commanding, with a face as strong and expressive as Angelo’s Moses […]. There is that penetrative eye […] that broad forehead and firm chin. On the floor and the tables of his office lie the works of a ready craftsman, a master mechanic. (1904b, 447)

So blickt der Zahnarzt Dr. J. D. Hamilton mit bestimmtem Blick zum Betrachter, die Fliege und das Haar liegen eng am Körper an. Den Segnungen geistiger und physischer Kultiviertheit huldigend macht Adams in seinem Essay auf den Konflikt eines afrikanischamerikanischen und zugleich gesellschaftlich respektablen Daseins aufmerksam:

 Abb. 38: John H. Adams, Dr. J. D. Hamilton, 1904 He is rather socially inclined but knows the value of ›sticking to business‹. His office shows the enterprise of the new Negro man.

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Such is the new Negro man, and he who finds the real man in the hope of deriving all the benefits to be got by acquaintance and contact does not run upon him by mere chance, but must go over the paths by some kind of biograph, until he gets a reasonable understanding of what it actually costs of human effort to be a man and at the same time a Negro. (Ibid.)

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6. S CHWARZES S ELBSTBILD : B EGEGNUNG UND W IDERSPRUCH [B]ut no white American ever thinks that any other race is wholly civilized, until he wears the white man’s clothes, eats the white man’s food, speaks the white man’s language, and professes the white man’s religion. (Booker T. Washington 2008 [1901], 57)

»[I]n ihrem Verhältnis zum Begehren«, so Jacques Lacan im neunten Kapitel seiner Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, das den Titel »Was ist ein Bild/Tableau« trägt, »erscheint die Realität nur als marginal. Dies ist eines der Charakteristika bei der Erschaffung von Bildern […]« (1978, 115). Und in der Tat handelt es sich auf den fotografischen Selbstbildnissen um etwas, insofern das Begehren als grundlegendes Moment der Bildentstehung verstanden wird, dessen Abwesenheit sich immer bemerkbar macht und für die Bildentstehung von zentraler Bedeutung ist. Die Erscheinungsbilder der porträtierten Individuen verbergen fast vollständig den Hinweis auf die sonst stets präsente afrikanisch-amerikanische Person. Hier geht race vollends in der Zeichenhaftigkeit eines spiegelverkehrten Rollenbildes (weißen Rollenvorbildes) auf. Wenngleich sich schwarze Identität in den Porträtaufnahmen in aller Deutlichkeit über den Anspruch auf den eigenen Körper und in der Vorführung geistiger Fähigkeiten und ökonomischer Kapazitäten erschöpft, so tut sie dies stets in Aneignung hegemonialer Vorgaben: der Körper wird gewissermaßen zum Zeichen für die Fremdbestimmung von Selbstentwürfen, zur Metapher von Hoffnungen und Begehren, wie sie sich auf die eigene Person richten. Schwarze Selbstrepräsentation zeugt von der »Anerkennung der legitimen Kultur«, als auch von der »Gewißheit, das Opfer einer kulturellen Enteignung zu sein« (Bourdieu 1983, 106). Die nach dem weißen Geschmack präparierten Inszenierungen visualisieren einen erlebten Mangel, der die afrikanisch-amerikanische Person in ihrem Begehren nach Vollständigkeit stets dazu veranlasst, sich als ehrbares Gesellschaftsmitglied zu konstituieren. Die idealisierten Selbstbildnisse legen die befremdenden Machtmechanismen, die schwarze Menschen umgeben, unablässig frei und verweisen somit permanent von sich selbst auf die unmittelbare Lebensumwelt. Der Literatur- und Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha zeichnet in seinen Schriften aus postkolonialer Sicht die ambivalente Erfahrung des postkolo-

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nialen Subjekts nach, das sich in einem eigentümlichen Doppel- oder Zwischenstatus zwischen beanspruchter Authentizität und der Aneignung institutionell verordneter Repräsentationsweisen, zwischen nationalkulturellem Zentrum und personaler Peripherie bewegt. Für den vorliegenden Zusammenhang erweist es sich sinnvoll, die Frage des afrikanisch-amerikanischen Selbstporträts unter dem Aspekt der Mimikry zu betrachten, wie Homi Bhabha sie für den multikulturellen Diskurs fruchtbar gemacht hat. In der Erörterung kolonialer Mimikry beschäftigt er sich mit jener Ambivalenz, die durch die Anpassung kolonialisierter Subjekte an die Zeichen kolonialer Autorität entsteht. Im Zuge dieser Aneignungen bleiben die Zeichen der Andersartikgeit jedoch erhalten – die kulturellen Differenzen marginalisierter Gruppen zu dominanten Repräsentationen können nie vollständig angeglichen werden, sondern zeichnen sich weiterhin durch ihre Differenz aus. Die kulturelle Maskerade erzeuge somit ein »subject of a difference that is almost the same, but not quite« (Bhabha 1994, 86; Herv. i. Org.) und fortlaufend zwischen der Behauptung von Identität und seiner Befragung verhandelt. Das Posieren vor der Kamera als eine Form der Mimikry impliziert also eine disruptive Ambivalenz des Subjekts, die durch die Abkehr von ›eigenen‹, gesellschaftlich abgewerteten Merkmalen zugunsten der Anpassung an die Majoritätskultur ausgelöst wird und dem Subjekt selbst inhärent ist. Dieses doppeldeutige Verhältnis, das marginalisierte Gruppen zu einer legitimen Kultur unterhalten, kleidete Du Bois paradigmatisch für die schwarze Erfahrung in Amerika in sein für unseren bildtheoretischen Zusammenhang überaus bedeutsames Konzept der double consciousness12 als »this sense of always looking at one’s self through the eyes of the others, of measuring one’s soul by the tape of a world that looks on in amused contempt and pity« (1996 [1903a], 5). Du Bois formuliert das Konzept der double consciousness als einen höchst visualisierten Selbst- bzw. Fremdwahrnehmungsvorgang insofern, als sich das eigene Selbstbild unter den Bedingungen einer spezifischen, visuellen Wahrnehmungskultur formulie-

12 Bhabhas Mimikry-Begriff beinhaltet die Einschreibung einer double vision im marginalisierten Subjekt, dessen Selbstwahrnehmung die wechselseitige Durchdringung und Aneignung von marginalisierten und hegemonialen Attributen beschreibt. Im Gegensatz zu Jacques Lacans Mimikry-Konzept, auf das Bhabha zurückgreift, fasst er Identität nicht als Effekt einer ihr vorgängigen Realität auf.

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ren muss. Die schwarze Selbstsicht wird Du Bois zufolge primär über die hegemoniale weiße Sicht, d.h. über die innere Aneignung dieser Wahrnehmung hergestellt. Sie erfolgt somit prinzipiell im Medium des Blicks. Selbst die Aufhebung der Abwertung durch eine andere Person muss als Ablehnung erlebt werden, »[d]enn selbst wenn das Bild, das sich ein anderer von mir macht, zurückgewiesen wird, wird es in seiner abgelehnten Form als Teil meiner Selbstidentität inkorporiert« (Laing et al. 15). Da schwarze Identität im Wesentlichen »through the eyes of the others« erfahren wird, nimmt sie, so Du Bois, den inneren Zustand eines gespaltenen Selbstgefühls an: »One ever feels his twoness, – an American, a Negro; two souls, two thoughts, two unreconciled strivings; two warring ideals in one dark body, whose dogged strength alone keeps it from being torn asunder« (1996 [1903a], 5). Das Dilemma der twoness, der inneren Spaltung, ausgelöst durch die psychische Abkehr vom eigenen Kulturerbe aufgrund der Notwendigkeit der Anpassung an die Majoritätskultur, greift knapp fünfzig Jahre später der martiniquische Psychiater, Schriftsteller und Befreiungskämpfer Frantz Fanon in seinem einflussreichen Werk Black Skin, White Masks (1952) auf. Im Kontext des französischen Kolonialismus untersucht er die Identitätsbildung kolonialisierter Subjekte unter dem Einfluss imperialistischer Unterdrückung, die von Erfahrungen der Selbstentfremdung gekennzeichnet ist. Die Selbstkonstitution durch den definitorischen Akt des legitimen weißen Blicks führt zur Übernahme dieser Sicht, wodurch zumeist auch die spezifischen Dispositionen dieser Sichtweise innerlich rekonstruiert werden. Fanons anfängliches Lachen über den Ausruf eines weißen Kindes ändert sich mit zunehmender Realisierung der der Wahrnehmung implizierten Sichtweise in ein Gefühl der Unsicherheit, welches sich schließlich bis zur völligen Selbstentwertung potenziert: ›Look, a Negro!‹ It was true. It amused me. … ›Mama, see the Negro! I’m frightened!‹ Frightened! Frightened! Now they were beginning to be afraid of me. I made up my mind to laugh myself to tears, but laughter had become impossible. I could no longer laugh, because I already knew that there were legends, stories, history, and above all historicity […]. … I subjected myself to an objective examination, I discovered my blackness, my ethnic characteristics; and I was battered down by tomtoms, cannibalism, intellectual deficiency, fetishism, racial defects, slave-ships, and above all else, above all: ›Sho‹ good eatin’. (111-112; Herv. i. Org.)

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»Von Grund aus«, so schreibt Jacques Lacan über die Bedeutung des Blickes zur Konstitution des Subjekts, bestimmt mich im Sichtbaren der Blick, der im Außen ist. Durch den Blick trete ich ins Licht, und über den Blick werde ich der Wirkung desselben teilhaftig. Daraus geht hervor, daß der Blick das Instrument darstellt, mit dessen Hilfe das Licht sich verkörpert, und aus diesem Grund auch werde ich – wenn Sie mir erlauben, daß ich mich, wie so oft eines Wortes bediene, indem ich es in seine Komponenten zerlege – photo-graphiert. (1978, 113; Herv. i. Org.)

Du Bois’ Motiv der durch den identifikatorischen Blick ausgelösten Spaltung sowie seine besondere Akzentuierung des Visuellen im Prozess der Identitätsbildung zeigen vielfache Analogien zu der psychoanalytischen Subjekt- und Identitätstheorie Jacques Lacans13. Lacans Theorie des Spiegelstadiums räumt der Frage nach den Funktionen des Bildes (Imago) und des Blicks als entscheidendes Medium für die Gewinnung von Selbsterkenntnis eine privilegierte Stellung ein. Das von Jacques Lacan entwickelte Modell des Spiegelstadiums (1949) beschreibt die Bildung des Ich durch die Identifikation mit dem Spiegelbild und stellt damit die Bedeutung des Bildhaften für die Genese der menschlichen Psyche heraus. Das Ich, das sich laut Lacan in der frühkindlichen Phase durch das im Spiegel erblickte (Selbst)Bild herausbildet, instituiert sich grundlegend im Bereich des Visuellen des psychischen Apparats, das Lacan auch mit dem Begriff des Imaginären umschreibt. Der Moment der Selbsterkennung in der imaginären Spiegel-Imago, den das Kind durch eine »Art jubilatorischer Geschäftstätigkeit« anzeigt (Lacan 1973, 63), unterliegt jedoch einer Täuschung: der Spiegel, so Lacan, erzeuge die Illusion einer körperlich erlebten Ganzheit und steht damit in diametraler Opposition zur disparaten Identität des Kleinkindes. Das Kind, das aufgrund seiner motorischen Hilflosigkeit und Instabilität elementar auf die Hilfe anderer angewiesenen ist, verkörpert keineswegs ein souveränes, vollständiges Wesen. Die einheitliche Körpergestalt, die sich erst in der Zukunft bewahrheitet,

13 Homi K. Bhabhas postkoloniales Hybriditätskonzept, dem die Vorstellung der grundsätzlichen Spaltung des Subjekts zugrunde liegt, die das Fremde/Andere nicht außerhalb, sondern gerade innerhalb des (nationalen) Subjekts verortet, stützt sich auf die Psychoanalyse Jacques Lacans.

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wird im Spiegel lediglich antizipiert, und erst diese visuelle Vorwegnahme einer physischen und geistigen Ganzheit im Spiegelbild ermöglicht dem Kind, zu sich selbst zu finden und sich als Ganzes zu konstituieren. Der heilsversprechende Moment der Selbsterkennung offenbart somit einen Zustand der grundlegenden Spaltung des Subjekts zwischen der bestehenden Unvollständigkeit und antizipierten Ganzheit, zwischen Wirklichkeit und Täuschung. Da die disparaten Ich-Konstruktionen sich dem ›ursprünglichen‹ Ich (der einheitlichen Spiegel-Imago) nur graduell annähern können, ist die Vorstellung eines mit sich selbst identischen Subjekts immer eine Fiktion. Die Wirkung der Spiegel-Imago erweist sich als eine doppelte – als eine identitätsstabilisierende und entfremdende zugleich. Das dialektische Subjekterleben, das zwischen der inneren Realität der IchWahrnehmung und dem ganzheitlichen Selbstbild im Spiegel entsteht, benennt Lacan als »symbolische Matrix« aller identifikatorischen Prozesse (ebd. 64). Der Spiegel stellt letztlich nur eine Metapher dar für die »viel weiter gespannte Spiegelerfahrung oder Identifizierung mit einem Spiegelbild« (Küchenhoff 1988, 185) dar, das sich auf jedes ganzheitlich wahrgenommene Gebilde beziehen kann. So kann der Blick auf ein einheitliches, kulturell ›heiles‹ Identitätsbild ebenso sehr als Spiegel-Imago in Anspruch genommen werden, wenn diese dem marginalisierten Subjekt die ihm fehlende Ganzheit reflektiert. Unter umgekehrten Vorzeichen bedingt letztlich die Spiegelung am marginalisierten, ausgegrenzten Subjekt die Konstituierung eines unversehrten, ganzheitlichen Körper-/Identitätsbildes. Die Selbstwahrnehmung marginalisierter bzw. schwarzer Menschen kann, im Anschluss an Lacans Begrifflichkeit, als dialektisches Spannungsverhältnis beschrieben werden, in dem sich das »zerstückelte« Selbstbild (Lacan 1973, 67) marginalisierter Subjekte vor normativer, gegenläufiger Bilder spiegeln bzw. (ab-/v-)erkennen muss. Es deutet sich an, dass die SpiegelImago, die dem Subjekt seine Vollkommenheit vorspiegelt und es dadurch spaltet und von sich entfremdet, entsprechend mit den Wirkungen und Funktionen des (afrikanisch-amerikanischen) Porträtbildes in Einklang gebracht werden kann. Dem imaginierten Ich-Bild in der afrikanischamerikanischen Porträtfotografie ist das ganzheitliche Identitätsbild des hegemonialen weißen Subjekts eingeschrieben, das dem Afroamerikaner Möglichkeiten der Partizipation an der Ganzheit, Unversehrtheit, Allmacht eröffnet. Es ist gerade das ersehnte Andere – das vollkomme fremde, spie-

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gelverkehrte Gegenüber – im afrikanisch-amerikanischen Porträtbild, das die Wahrnehmung eines ehrbaren Selbstbildes ermöglicht, und gerade diese Spaltung zwischen Ich und dem idealisierten Anderen wird zur Grundlage eines identifikatorischen Vorganges. Das stilisierte Porträtbild beschreibt einen Ort, an dem die Aneignung des ganzheitlichen, überhöhten Anderen ein grundlegendes Repräsentationsmuster beschreibt. Es stellt dem Subjekt ein Medium zur Selbstbestätigung und -behauptung zur Verfügung, führt es aber zugleich an seine grundlegende Machtlosigkeit zurück. Wie das Kind, das seine Autonomie nur über die vollkommene Spiegel-Imago erreichen kann, legitimiert sich die Gültigkeit des gespiegelten Ich-Bildes schwarzer Amerikaner über die Zustimmung seines weißen, heilen Gegenbildes. Das Ich, das sich als Wirkung der Spiegel-Imago herausbildet, ist prinzipiell imaginär. Ähnliches gilt für das Selbstbild in der afrikanischamerikanischen Porträtfotografie. Auf den Bildern wird ein imaginiertes Ich-Bild entworfen, das in dieser Form zunächst nicht gelebt werden kann. Die fein ausgearbeiteten Selbstbilder stellen einen Zustand in Aussicht, der allerdings für die gegenwärtige Realität der Mehrheit der afrikanischafrikanischen Bevölkerung nicht zutrifft (bzw. nicht zutreffen wird). Imaginär konstituiert sich das Selbst als ganzheitlich, überlegen und allmächtig, aber nur um den Preis der Distanzierung, des Selbstverlusts und der Überhöhung einer realen Situation in ein unerreichbares, imaginäres Bild. Freilich zeichnet sich das Genre der Porträtfotografie gerade durch die Idealisierung der Wirklichkeit aus. Nicht nur die Gestaltung der eigenen Person in Kleidung, Haltung und Pose überhöhen den repräsentativen Auftritt. Die stilisierenden Elemente des Atelierraumes, die die Realität für etwas anderes ausgeben, als sie ist, versetzen das Modell an imaginäre Orte des Begehrens. Der Studioraum als erweiterte Ausdrucksmöglichkeit des Selbstbildes, ist illusorische Projektion – eine Vorstellung –, durch den Gestaltungswillen und unter der Kontrolle des Fotografen und der Abgebildeten selbst entstanden. Dennoch enthält der Aspekt der idealisierenden Verkennung im Moment der Selbstkonstituierung – der Distanzierung von sich selbst im Moment der Selbstbehauptung –, den Du Bois’ Begriff der double consciousness beschreibt, im afrikanisch-amerikanischen Porträtbild eine besondere Brisanz.

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6.1 Der schwarze Bürger: Figur des Dritten Der afrikanisch-amerikanische Fortschrittsdiskurs an der Wende in das 20. Jahrhundert wurde von Repräsentationen des ehrbaren Bürgers bestimmt, der sich vom weißen Bourgeois weder in geistig-intellektuellen Fähigkeiten noch in physiognomisch abweichenden Körperbildern, die in der Zeit visuell konstruiert wurden, unterschied. W. E. B. Du Bois arbeitet als erster schwarzer Soziologe im Rahmen typisierender Repräsentationskonventionen essentialistischen, im Register des Visuellen operierenden Rassenmodellen entgegen. Die Bilder seines Archivs sehen vor, dass die eindeutige Zuordnung zum ›afrikanisch-amerikanischen Typus’ nicht erfolgen kann, denn sie liefern keine visuelle Bestätigung für das Typische – im Gegenteil: die Unregelmäßigkeit, das Atypische, wird zum Kriterium eines American Negro Type: In seinen Aufsatz »The Conservation of Races« (1897) negiert Du Bois eine physiognomische Typologie menschlicher Rassen: Many criteria of race differences have in the past been proposed, as color, hair, cranial measurements and language. [...] Unfortunately for scientists, however, these criteria of race are most exasperatingly intermingled. Color does not agree with texture of hair, for many of the dark races have straight hair; nor does color agree with the breadth of the head, for the yellow Tartar has a broader head than the German [...]. (1978 [1897], 239)

Mit Hilfe des Bildarchivs Types of American Negro, das er für die Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 zusammenstellte, bemühte sich Du Bois um eine visuelle Deessentialisierung von race. Die Unwahrscheinlichkeit einer eindeutigen Zuweisung führte pseudowissenschaftliche Bildverfahren, die die naturgegebene Differenz menschlicher Rassen wissenschaftlich zu legitimieren versuchten, ad absurdum und machte zugleich auf die kulturelle Konstruiertheit von Identität aufmerksam. In Frances B. Johnstons Bildern, die auf der Negro Exhibit der Pariser Weltausstellung gezeigt wurden, geht es primär um die Einbindung des schwarzen Amerikaners in die aufgeklärte, nationale Zivilgesellschaft, deren Zugang dazu zuvor im Wesentlichen der bildungsnahen weißen Mittel- und Oberschicht vorbehalten war. Der Themenkanon konzentriert sich auf das Motiv der Bildung, die die Zukunfts- und Fortschrittsfähigkeit der

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schwarzen Gemeinschaft sicherstellt. Entwürfen einer in sich geschlossenen, solidarisch und kooperativ zusammenwirkenden Arbeiterschaft bei Booker T. Washington liegt das langfristige Ziel der gleichberechtigten Integration und Teilhabe am nationalen Gemeinwesen zugrunde. Die gewählten Bildbeispiele stehen repräsentativ für den in Zeitschriften14, Büchern und Ausstellungen geführten Repräsentationsdiskurs der Jahrhundertwende, der von den schwarzen Eliten zur öffentlichen Verankerung schwarzer Integrationsfähigkeit, Fortschrittlichkeit und Respektabilität ausgetragen wurde. Die private Porträtfotografie konnte dem steigenden Wunsch schwarzer Amerikaner nach Individualität, Anerkennung und Gleichheit in einem noch nie zuvor gekannten Maße Rechnung tragen. Sie geben nicht nur die performative Realisierung des eigenen Selbstbildes von Individuen wieder, die von sich selbst ein ehrenhaftes Bild entworfen haben. Die Bedeutung der Bilder liegt, abgesehen von der künstlerischen Inszenierung des Selbst, im dinglichen Bildmaterial selbst im Sinne einer kollektiven, übersubjektiven Repräsentation, mit dem Menschen ihre Wirklichkeit interpretieren und aktualisieren. Die Fotografie als Interface, als mit der körperlichen Stilisierung verknüpfte, zeitlose Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten des Selbst, bildet einen wesentlichen Aspekt der Identitätsbildung. Die Bedeutung des Selbstbildes ist letztlich auch auf die Wahrnehmung und Rezeption durch die Außenwelt angewiesen, selbst wenn die repräsentative Selbstdarstellung ursprünglich nicht als kommunikativer Akt nach außen entworfen wurde. An dieser Stelle möchte ich auf Judith Butlers Überlegungen zur diskursiven Intervention und, daran anknüpfend, auf Homi K. Bhabhas Konzeption des Dritten Raumes (third space) eingehen. Beide Konzepte eröff-

14 Der wirtschaftliche und soziale Aufstieg der schwarzen Bevölkerung wurde in den afrikanisch-amerikanischen Zeitschriften, wie The Crisis, Opportunity oder The Messenger, vor allem optisch begleitet. Die optische Präsenz erfolgreicher Vertreter der Bildungs- und Wirtschaftselite in speziellen Kolumnen (»Men of The Month«, »The Year in Colored Colleges«, etc.) oder auf den Titelblättern entsprechender Sonderausgaben (»Negro Business Achievement Number«, »Home Number«, »Education Number«, etc.) individualisierte und konkretisierte den Fortschrittsdiskurs in einem weitaus stärkeren Maße, als eine schriftliche Erörterung dies vermocht hätte.

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nen die Möglichkeit, die afrikanisch-amerikanische Porträtfotografie als subversiven Übergangs-/Zwischenraum zu konzeptualisieren, in dem neue Inhalte und Bedeutungsmuster angedacht und ausgetragen werden. Butlers Identitätskonzept als prozessuale, performativ hergestellte Sinneinheit impliziert, dass bestehende Konstruktionen von Identität keine absoluten Größen sind, da in dem Prozess ihrer performativen Umsetzung immer Abweichungen von vorherrschenden kulturellen Definitionen produziert werden. Butlers Identitätsverständnis rekurriert auf Jacques Derridas Idee der Iterierbarkeit15. Durch die wiederholte Umsetzung kultureller Vorgaben in neuen Bedeutungskontexten kommt es zu Verschiebungen, die Möglichkeiten der Sinnerweiterung/-veränderung zulassen. Im Iterationsund Zitationsvorgang – in der perfomativen Reinszenierungen von Normen, die mit ihrer ursprünglichen Verwendung nie identisch sind – erkennt Butler ein subversives Interventionspotential zur Durchbrechung eingespielter Routinen: »The resignification of norms is thus a function of their inefficacy, and so the question of subversion, of working the weakness in the norm, becomes a matter of inhabiting the practices of its rearticulation« (1993, 237). Auch Homi K. Bhabha greift den Aspekt der Bedeutungsverschiebung im Prozess der Wiederholung kultureller Formenvorgaben auf. Der repetitive Akt der Mimikry, der kulturellen Maskerade, verstärkt, wie Bhabha ausführt, im Sinne einer doppelten Artikulation von Differenz hegemoniale Machtstrukturen. Gleichzeitig bricht er jedoch mit diesen durch das Hervorbringen ambivalenter Repräsentationsformen. Ebenso wie Judith Butler sieht Bhabha in der Reinszenierung dominanter Strukturen das Potential der diskursiven Intervention. Der normative Diskurs stelle sich hierbei immer selbst in Frage, da er »unreine Vermischungen« produziere, die zwar mit der Autorität nicht völlig identisch sind, aber nahezu:

15 Der Begriff der Iterierbarkeit geht auf Jacques Derridas kritische Auseinandersetzung mit John L. Austins Sprechakttheorie zurück. Iterabilität gilt dabei als Loslösung des Zeichens von seinem ursprünglichen Kontext, auf den es sich anfangs bezieht. Da Zeichen in stets neue Zusammenhänge eingebunden werden (können), sind sie imstande, neue Sinnzusammenhänge zu generieren: Jedes Zeichen kann »zitiert – in Anführungszeichen gesetzt – werden« und aufgrund seiner Zitierbarkeit »mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen« (Derrida 32).

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[C]olonial difference [...] is the effect of uncertainty that afflicts the discourse of power, an uncertainty that estranges the familiar symbol of [...] ›national‹ authority and emerges from its colonial appropriation as the sign of its difference. Hybridity is the name of this displacement of value from symbol to sign that causes the dominant discourse to split along the axis of its power to be representative, authoritative. Hybridity represents that ambivalent ›turn‹ of the discriminated subject into the terrifying, exorbitant object of paranoid classification – a disturbing questioning of the images and presences of authority. (Bhabha 1994, 113)

Die Anpassung marginalisierter Subjekte an den hegemonialen Diskurs vollzieht sich entlang dominanter Repräsentationsformen, die allerdings nie vollständig erreicht werden kann. Diese nur unvollständige Übernahme dominanter Formen und Repräsentationen bewirkt nach Bhabha subversive Differenz, in der autoritäre Ausdrucksformen umgedeutet bzw. neu besetzt werden. Nicht vollständig der autoritären und nicht ganz der marginalisierten Kultur entsprechend spricht Homi K. Bhabha auch von einem Dritten Raum als Entstehungsort hybrider Kulturformen. Diese ambivalenten, grenzüberschreitenden Diskurse/Orte des Dazwischen stellen alternative Handlungsspielräume zur produktiven Aushandlung neuer Identitäten bereit: »These ›in-between‹ spaces provide the terrain for elaborating strategies of selfhood – singular or communal – that initiate new signs of identity, and innovative sites of collaboration, and contestation, in the act of defining the idea of society itself« (Bhabha 1994, 1-2). Die die Strukturen der Autorität verwischenden Wirkungen der Mimikry können in der afrikanisch-amerikanischen Porträtfotografie nachgezeichnet werden. Privilegierende und idealisierende Präsentationsweisen und -mechanismen werden auf das schwarze, gesellschaftlich deviante Selbstbild zur positiven Identifizierung übertragen. In repräsentativen Inszenierungen treten afrikanischamerikanische Subjektpositionen als selbstbewusst, stolz und ehrbar in Erscheinung – anders als sie der dominante Diskurs repräsentiert. Regulierende Strukturen und polare Differenzierungen (ehrbar/unehrenhaft, normativ/deviant, eigen/fremd, zivilisiert/unterprivilegiert) verlieren ihre Wirkmacht, die als identitätskonstituierende Ordnungskriterien über Gesellschaftsgruppen bestimmen. Gerade das Genre der Porträtfotografie als imaginärer, illusorischer Bedeutungsraum bietet sich für ein Verständnis von Kultur als dritte Hand-

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lungssphäre an. Die Bilderwirklichkeit des Genres, in der die Gegenstände und Subjekte – Identität – symbolisch angelegt sind, eignet sich dafür, neue Positionen anzudenken, scheinbar feste Strukturen und Grenzen aufzubrechen, neue Prozesse in Gang zu bringen. Gemeint ist damit nicht nur eine Bildwirklichkeit, die die Darstellung ambivalenter Positionen und Strukturen begünstigt, sondern insbesondere der hybridisierende Akt der afrikanisch-amerikanischen Identitätsherstellung in dem repräsentativen Rahmen. Bhabhas Überlegungen zur kulturellen Maskerade, rücken afrikanischamerikanische Selbstrepräsentationen als Figuren und Repräsentationen des Dritten – als ambivalente, grenzüberschreitende Zwischenräume – in den Blick, in denen herrschaftliche Autorität sowie produktive, diese Macht subvertierende Gegenbilder und Repräsentationsformen mit-/nebeneinander bestehen können. Vergangenheit und Gegenwart, Etabliertes und SichEtablierendes, Integrität und Alterität, schließen einander nicht aus, sondern fließen ineinander und ergänzen sich gegenseitig zu neuen Ausdrucksformen. Afrikanisch-amerikanische Porträtaufnahmen versinnbildlichen ganz im Sinne Butlers und Bhabhas, dass das Eigene und Fremde keine konstanten, absoluten Ordnungskriterien bilden, sondern variable Größen, durch die traditionelle Zugehörigkeitskriterien umdefiniert werden können und zur Erneuerung überkommener Zuschreibugen/Definitionen/Identitätsbilder beitragen. Figuren und Repräsentationen des Dritten von entorteten und sich wiederverortenden schwarzen Amerikanern, wie diese auf den Fotografien in Erscheinung treten, durchkreuzen herrschende Konstruktionen einer stabilen, einheitlichen und in sich geschlossenen Nation – die Gültigkeit normativer Identität selbst. Durch den fotografischen Blick tritt die explizierte ambivalente Qualität afrikanisch-amerikanischer Identität(skonstruktion) ans Licht – die Fotografien erfassen die Brüche, Grenzgänge und Bewegungen zwischen den Polen im Sichtbaren. Das ehrbare Porträtbild wirkt befreiend, gleichzeitig führen die Selbstbilder den starken Anpassungszwang vor Augen, mit dem schwarze Amerikaner in den Dekaden um 1900 konfrontiert waren. Identität und Alterität stehen im afrikanisch-amerikanischen Porträtbildnis in einem ambivalenten Zusammenhang: Momente der Selbstentfremdung sind in gleichem Maße darin sichtbar, wie die der Selbsterhaltung und Stabilisierung des Ich. Der soziale Aufstieg in weiße bürgerliche Lebenswelten, die Aneignungen und Anpassungen an die weiße Dominanzkultur, schaffen Identitätskonflikte, die eigene Ursprünge und Merkmale, spezifische Erfahrungen von Ver-

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schleppung, Sklaverei und sozialer Ausgrenzung vor dem Hintergrund weiß codierter Lebenswelten verschwinden lassen. Die Erfahrung afrikanischamerikanischer Identität wurde als ein über die Fremdwahrnehmung, d.h. über die Aneignung dieser Wahrnehmung erlebtes Selbstempfinden16 beschrieben. Afrikanisch-amerikanisches Selbstempfinden, das an der Wahrnehmung des dominanten Blicks gebunden bleibt, ist wesentlich visuell determiniert. Du Bois spricht von der durch den Blick einer normativen Kultur erlebten Spaltung des schwarzen Bewusstseins, von der inneren Konstruktion einer Selbstsicht über die autoritäre weiße Sicht, die in der Selbstwahrnehmung vermittelt wird und diese durchkreuzt. Die Porträtfotografien wurden in Anlehnung an Jacques Lacan als gespaltene Projektionsflächen zwischen einem erlebten Selbst und seinem imaginierten Double gelesen – sie visualisieren einen dialektischen Selbstspieglungsvorgang, der das Individuum in seinem Streben nach Integrität und Zugehörigkeit hin- und herpendeln lässt. Der dem schwarzen Fortschrittsdiskurs entlehnte Entwurf des ehrbaren New Negro repräsentierte ein auf kultureller Einheitlichkeit basierendes Konzept der Anpassung und Selbstregulation. Afrikanische Ausdrucksformen wurden darin ebenso sehr außer Acht gelassen wie afrikanischamerikanische. Schwarze Individuation war somit in einem höchsten Maße der Aneignung und Repräsentation des offiziellen Entwurfes nationalstaatlicher, bürgerlicher (weißer) Identität unterstellt. Den in den Fotografien angelegten Homogenitätsvorstellungen stehen rassistisch geprägte Identitätsbilder des schwarzen ›Wilden/Nicht-Zivilisierten‹ gegenüber sowie die

16 1953 erklärt der schwarze Schriftsteller Ralph Waldo Ellison in seinem Roman Invisible Man den schwarzen Amerikaner zur unsichtbaren Person, der aufgrund der vielfachen Projektionen weißer Vorstellungen nicht in Erscheinung treten kann: »I am an invisible man. No, I am not a spook like those haunted Edgar Allan Poe; nor am I one of your Hollywood-movie ectoplasms. I am a man of substance, of flesh and bone, fiber and liquids – and I might even be said to possess a mind. I am invisible, understand, simply because people refuse to see me. Like the bodiless heads you see sometimes in circus sideshows, it is as though I have been surrounded by mirrors of hard, distorting glass. When they approach me they see only my surroundings, themselves, or figments of their imagination – indeed, everything and anything except me« (1995 [1953], 3).

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Überzeugung, dass sozialer zivilisatorischer Fortschritt nur im Rahmen eines vollständig angepassten, kulturell homogenen, bürgerlich ehrbaren Subjekts möglich ist. Die Kategorie der Rasse mit all ihren Auswirkungen auf die schwarze, gesellschaftliche Realität tritt hinter der Konstruktion des ehrbaren Bürgers zurück. Dieses Verschmelzen in ein positives, amerikanisches Selbst ist bestimmt von Zeichen der Abwesenheit, der fehlenden Erinnerung an older selves, der persönlichen Geschichte, der eigenen Wurzeln und Heimat. Die Ambivalenzen schwarzer Identität können ebenfalls als Potential begriffen werden, in der die schwarze Erfahrung nicht auf einer essentiellen Identität beharrt, sondern um plurale, grenzübergreifende, multikulturelle Identifikationen bemüht ist. Die spielerische, subvertierende Aneignung negativ konnotierter Identitätszuschreibungen, die kalkulierte Funktionalisierung der race-Kategorie, an der auch andere Gesellschaftsgruppen zur Selbstbestimmung anknüpften, sowie die Reklamation und Einschreibung des afrikanischen Erbes in das afrikanisch-amerikanische Selbstbild stellen zentrale Elemente schwarzer ästhetischer Selbsterneuerung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts dar, die der folgende Analyseabschnitt in den Mittelpunkt stellt.

Teil III: Fotografie und Kunst: AfrikanischAmerikanische Fotografie im Zeichen der Harlem Renaissance (1920-1930)

Piktorialismus Das ästhetische Postulat der künstlerische Moderne sah sich allen voran von der Idee der »Diktatur des Geistes« (Edschmid 67) getragen, aus dessen schöpferischer Kraft sich die Formen der Wirklichkeit ergeben und nicht aus der seelen- und gedankenlosen Übernahme realistischer Repräsentationsformen, die dem Paradigma des Naturalismus unterworfen ist und seit der Renaissance als unangetastete Darstellungskonvention der bildenden Kunst galt. Als bloße Reproduktion der ganzheitlichen Gegenstände der Welt verdingt sich das Kunstwerk zum leblosen Statthalter der Wirklichkeit, das »als vollständig vermittelte Totalität zum toten Ding zu erstarren droht« (Behler et al. 200). Es bedarf »einer tatsächlich neuen Gestaltung der künstlerischen Welt«, so Kasimir Edschmid über das Wesen des künstlerischen Expressionismus, deren Darstellung in das schöpferische Bewusstsein des Künstlers zurückverlegt werden muss: Niemand zweifelt, daß das Echte nicht sein kann, was uns als äußere Realität erscheint. Die Realität muß von uns geschaffen werden. Der Sinn des Gegenstands muß erwühlt sein. Begnügt darf sich nicht werden mit der geglaubten, gewähnten, notierten Tatsache, es muß das Bild der Welt rein und unverfälscht gespiegelt werden. Das aber ist nur in uns selbst. So wird der ganze Raum des expressionistischen Künstlers Vision. Er sieht nicht, er schaut. Er schildert nicht, er erlebt. Er gibt nicht wieder, er gestaltet. (53-54)

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Die Darstellung der Erscheinungen der Wirklichkeit in ihrer außergegenständlichen Form, die endgültige Auflösung der kausal-logischen Anordnung der Gegenstände und Sachverhalte, hervorgerufen durch den gestalterischen Erfindungsgeist des Künstlers, erschienen den Vertretern der neuen Kunstrichtungen als geeignete Gestaltungsprinzipien, um die geistige, metaphysische Existenzform der Dinge – die ›wahre Natur‹ der Wirklichkeit – auf dem Bilde zu entschlüsseln1. Die Loslösung der Kunstauffassung von ihrer traditionell realistischen Abbildungsfunktion zu Ende des 19. Jahrhunderts stellte das fotografische Medium vor ungeahnte, neue Herausforderungen, welchen sich die ambitionierten Projekte und Vereinigungen der fotografierenden Künstleravantgarde in ganz Europa und den USA annahmen. Die malerisch arbeitenden Piktorialisten, die der Fotografie den Wert eines vollwertiges und eigenständiges künstlerisches Ausdrucksmittel zusprachen, verfolgten – wie ihre malenden Künstlerkollegen – einen Arbeitsstil, der die subjektiven Vorstellungen und Empfindungen des Bildproduzenten zum ästhetischen Prinzip erhob. Die künstlerische Fotografie sah sich dem Postulat verpflichtet, die Erscheinungsformen der Wirklichkeit als Spiegel des individuellen, seelischen Eindrucks wiederzugeben und diese nicht einfach technisch zu reproduzieren. In dem Bestreben, Fotografien den Charakter malerischer Werke der bildenden Kunst zu verleihen, orientierten sich die Kunstfotografen an den ästhetischen Stimmungswerten der naturalistischen, impressionistischen, symbolistischen und romantisierenden Malerei. Das optische Unschärfeverfahren, das sich als Leitmotiv durch die malerischen Arbeiten der piktorialistischen Fotografie zieht, erlaubte es, den Anteil objektiver Klarheit zugunsten des Subjektiven zu verringern. Sie wirkte als Befreiung von einengenden Realitätszwängen, als Loslösung von dem Richtmaß, welches das Bild dem Diktat der Denotation unterwarf. Die immer größere technische Perfektionierung der fotografischen Druck- und Aufnahmever-

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»Es kamen die Künstler der neuen Bewegung. Sie gaben nicht mehr die leichte Erregung. Sie gaben nicht mehr die nackte Tatsache. [...] Vor allem gab es gegen das Atomische, Verstückte der Impressionisten nun ein großes, umspannendes Weltgefühl. In ihm stand die Erde, das Dasein als eine große Vision. Es gab Gefühle darin und Menschen. Sie sollten erfaßt werden im Kern und im Ursprünglichen« (Edschmid 51-52).

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Abb. 39: Cornelius M. Battey, Portrait of W. E. B. Du Bois, ca. 1919

Abb. 40: Cornelius M. Battey, Portrait of Paul Laurence Dunbar, ca. 1906

fahren bedingte gewissermaßen das künstlerische Anliegen, denn diese ermöglichte es, den gestalterischen Visionen der malerischen Kunstfotografie Ausdruck zu verleihen. Insbesondere der Gummidruck in seinen unterschiedlichen Anwendungen entwickelte sich zu einem bevorzugten Verfahren, poetische oder sentimentale Ausdruckswerte auf die Platte zu bannen, da er die Reproduktionsgenauigkeit zugunsten malerischer Effekte reduzierte. Die fotoästhetische Bewegung in Amerika wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts durch die beiden Fotografen Alfred Stieglitz und Edward Steichen publik gemacht. Stieglitz, der 1902 in New York die PhotoSecession mit dem Ziel gründete, Fotografie international als eigenständigen Kunststil auf ein ästhetisches Programm zu verpflichten, hat an der Bildung einer künstlerischen Fotoavantgarde in den USA wesentlich mitgewirkt. Das ein Jahr später begründete Sprachrohr der neuen Avantgardebewegung, die Zeitschrift Camera Work, mit ihren qualitätsvollen Reproduktionen fotografischer Arbeiten, die als Fotogravure-Portfolios auf hochwertigem Papier abgedruckt waren, sprengte, wie Wilfried Raussert vermerkt, »die zeitgenössischen Vorstellungen von der Beschaffenheit eines Kunstmagazins« (51). Die darin publizierten Arbeiten wurden in der New Yorker Galerie »Little Galleries of the Photo-Secession«, später dann einfach »Gallery 291«, ausgestellt, die Stieglitz zusammen mit Edward

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Steichen ab 1905 in Betrieb nahm. Neben Fotografien wurde auch Malerei präsentiert, die der amerikanischen und europäischen Avantgarde angehörte. Edward Steichen perfektionierte die Mehrfach-Farbfotografie und unterstütze die Arbeiten aufstrebender, vielversprechender Fotografen. Wenn ein Vergleich zwischen schwarzer und weißer Kunstfotografie im Sinne einer piktorialistischen Ausrichtung auf die Ausdruckswerte der bildenden Kunst zu Anfang des 20. Jahrhunderts angestellt wird, so stechen die Arbeiten der afrikanisch-amerikanischen Fotografen Cornelius M. Battey (1873-1927), King Daniel Ganaway (1883-1944) sowie der Fotografin Elise Forrest Harleston (1891-1970), einer Schülerin Cornelius M. Batteys, besonders deutlich heraus. Den Fotografen ging es weniger um die programmatische Etablierung eines neuen Fotografiestils nach entworfenen Richtlinien. Vielmehr nahmen sie die malerischen Gestaltungsprinzipien als inspirierende Impulse auf, um damit ihren individuellen Arbeitsstil zu verfolgen. Cornelius M. Battey, der sich um die Jahrhundertwende erfolgreich als Porträtfotograf etablieren konnte und 1916 die Leitung der neu gegründeten fotografischen Abteilung der Berufsschule Tuskegee Institute übernahm, bemühte sich in seinen Bildern um einen malerischen Stil. Ein Leitartikel aus der Mai-Ausgabe des afrikanisch-amerikanischen Magazins Opportunity im Jahr 1927 charakterisierte Batteys Arbeitsweise als »one increasing struggle to liberate, through a rigid medium, the fluid graces of an artist’s soul. For paintbrush and palette, he used a lens and shutters« (zit. n. Otfinoski 18). Besonders die pittoresken Titelbilder für die Zeitschriften Crisis, The Tuskegee Student und Opportunity sowie die malerisch suggestiven Studioporträts schwarzer Intellektueller und Künstler, die der Fotograf Anfang des 20. Jahrhunderts als Bildserie mit dem Titel Our Heroes of Destiny, später umbenannt in Our Master Minds, herausgab, liefern beachtliche Zeugnisse über Batteys piktorialistisch geprägten Arbeitsstil. Dass bei dem Fotokünstler die Rezeption dessen, was durch die Arbeiten der PhotoSecession-Künstler in Amerika stilistisch gereift war, eine Rolle spielte, ist sehr wahrscheinlich (vgl. Richardson 7). Effektvoll nutzt Battey die Weichzeichner-Optik und malerische Unschärfe, die den Kontrast von Figur und Grund in den fließenden Übergängen der Konturen zugunsten der Erzeugung einer diffusen Fläche auflösen. Batteys psychologisierende Porträtstudie des Dichters Paul Laurence Dunbar (Abb. 40) stellt die Vermittlung eines stimmungsvollen, introvertierten Moments als bildbeherrschen-

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Abb. 41: King Daniel Ganaway, The Spirit of Transportation, 1918

des Motiv. Die malerisch weichgezeichnete Gesamtheit des Bildes, die fein gedämpften Tonwerte des diffusen Hintergrundes entsprechen dem Innenleben des Dichters. Dunbars sentimentale Mimik, die das Bild bestimmt, unterstützt die suggestive Wirkung. Die Motive des aus Tennessee stammenden Fotografen King Daniel Ganaway, der seinen Beruf in Chicago verwirklichte, reichen von den bevölkerten Wasserstraßen des Chicago River über Aufnahmen der Eisenbahnen bis hin zu sentimentalen Familienporträts. Sein ästhetischer Stil trägt die bildnerischen Ideale des Symbolismus zur Schau. In seiner Studie des Schnellzugs »20th Century Limited«, Spirit of Transportation (1918), wird die Lichtkomposition wirkungsvoll als psychologisierendes Moment zu atmosphärisch-expressiven Hell-Dunkel-Effekten intensiviert. Die Unschärfe der Erscheinungen, die, durchdrungen von dem finsteren, unheilvoll aus den Lokomotiven empor steigenden Dunst, zwischen Ab- und Einbildung gleiten, verklärt die Wirklichkeit zu einer stilisierten Bildwelt. Ganaways Stil sucht nicht nur das Malerische, sondern auch die grafischen Werte in den Geschehnissen, die er wie in einer Zeichnung oder Radierung hervorhebt: die dramatische Licht- und Finsternisstruktur aus hellen Lichtkegeln und ihrer dunklen Schattenmasse gefriert die innerbildliche Welt zu einer tiefen, stimmungsreichen Ornamentik. Elise F. Harlestons stilistischer Ansatz, der unter dem Einfluß ihres Lehrmeisters, Cornelius M. Batteys, steht, will auch im Zeichen der Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann, dem Maler Edwin A. Harleston, verstanden sein. 1919 schrieb sich Harleston auf Drängen ihres Mannes an der E. Brunel School of Photography in New York ein und vertiefte anschlie-

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ßend ihre Kenntnisse am Tuskegee Institute unter Cornelius M. Battey, der zu dieser Zeit die fotografische Abteilung des Instituts leitete. Damit beschritt die aus Charleston, South Carolina stammende Fotografin einen für afrikanisch-amerikanische Frauen ihrer Zeit ungewöhnlichen Lebensweg, denn zu dieser Zeit blieb es nur wenigen schwarzen Frauen vergönnt, ihr fotografisches Interesse im Rahmen eines Studiums zu verfolgen. Schwarze Frauen, die in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts mit der fotografischen Tätigkeit in Berührung kamen, arbeiteten zunächst bis auf wenige Ausnahmen als Studio-Assistentinnen ihrer Ehemänner2. Die sich den Studienjahren anschließende Phase stand im Zeichen erster Selbständigkeit. 1922 eröffnete das Paar in Charleston sein Studioatelier, das es bis zum Tod des Malers im Jahre 1931 betrieben hat. Elise Harlestons atmosphärische, stimmungsgesättigte Landschafts- und Naturstudien lassen eine Nähe zum malerischen Impressionismus erkennen. In Landscape (o. J.) überführt die Fotografin eine Natursituation in eine künstlerische Bildidee. Malerisch umgibt das gewaltige, in verträumte Unschärfe getauchte Laubwerk eine hell leuchtende Waldlichtung. Die hellen und dunklen, das Sonnenlicht reflektierenden und absorbierenden Farbnuancen durchwirken kaleidoskopisch das Blätterwerk der Baum- und Wiesenlandschaft. Um den verklärten Eindruck nicht zu überfordern, beleben zwei kleine, in weite Ferne gerückte Kindergestalten die Aufnahme. Deren dunkle Silhouetten – kompositorischer Mittelpunkt der Aufnahme – setzen sich am Ufer eines Teichs diffus vor der hellen Lichtung ab. Die so erzielte Konzentration des Blicks auf die Bildmitte erhöht den Eindruck weiter Raumtiefe. Harlestons Studien von Menschen demonstrieren ihre Vorliebe für piktorialistisch geprägte, mystische und psychologisierende Porträtstudien, für die die malerische Un-

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»White women such as art photographers Frances Benjamin Johnston and Gertrude Käsebier«, so Arthé A. Anthony, »studied art in Europe and the United States. But with the notable exception of Elise Forrest Harleston […] those doors of privilege were closed to pioneering black women photographers« (187). Der U.S. Census Bureau listete im Jahr 1920 101 schwarze Fotografinnen (vgl. Moutoussamy-Ashe 31). Einen historischen Überblick über schwarze Frauen in der Fotografie liefert Jeanne Moutoussamy-Ashes Publikation Viewfinders: Black Women Photographers (New York und London: Writers & Readers Publishing, Inc., 1986).

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schärfe, weiche, kontrastreiche Lichtführung und optische Hervorbebung von Kopf und Händen kennzeichnend sind. So sehr die fotografischen Arbeiten Batteys, Gangways und Harlestons den stilistischen Forderungen der Photo-Sezessionisten um Stieglitz entsprachen, so wenig fanden die Werke in den Rezensionen und Ausstellungen der Künstlergruppe Beachtung (vgl. 2000, Willis 41). Von einer zentral organisierten, piktorialistischen Programmatik in der afrikanisch-ame rikanischen Fotografie kann nicht gesprochen werden. Dennoch stellen Batteys, Ganaways und Harlestons Arbeiten beeindruckende Beispiele eines malerischen Stils in der frühen schwarzen Fotografie dar. Eine breiter angelegte Förderung schwarzer Fotografie als künstlerische Ausrucksform erfolgte erstmals in den dreißiger Jahren durch die Bereitstellung von Preisgeldern sowie die Durchführung von Ausstellungen durch die Harmon Foundation. Primäres Ziel dieser philanthropischen Einrichtung (19221967) war es, die künstlerischen Produktionen schwarzer Amerikaner als anerkannte Kunst in der amerikanischen Öffentlichkeit zu etablieren. Dieser kurze Exkurs zur piktorialistisch geprägten afrikanisch-amerikanischen Kunstfotografie soll auf den nächsten Abschnitt hinführen, der die bildnerischen Produktionen schwarzer Fotografen der zwanziger und dreißiger Jahre im Kontext der Harlem Renaissance in Augenschein nimmt. Die Harlem Renaissance wird nicht in Opposition zur Moderne gesetzt3, sondern vielmehr als spezifische Äußerungsform der klassischen Moderne verstanden, in der schwarze und weiße Künstler, häufig im gegenseitigen Austausch, auf ein spezifisch afrikanisch(-amerikanisches) Formenvokabular rekurrierten, um ihren Anliegen und Positionen Ausdruck zu verleihen (vgl. Löbbermann 2002, 96). Während es den schwarzen Küns t-

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In seiner Schrift Modernism and the Harlem Renaissance (1987) plädiert Houston A. Baker für eine Bewertung der Harlem Renaissance als essentiell afrikanisch-amerikanische Moderne, die sich gegenüber der amerikanischen Moderne durch schwarze Strategien der »mastery of form« und »deformation of mastery« auszeichnet. George Hutchinson hingegen betont in seiner Abhandlung The Harlem Renaissance in Black and White (1995) den wechselseitigen Dialog zwischen schwarzen und weißen Künstlern, der gemeinsame Ziele, wie das Streben nach einem amerikanischen cultural nationalism, verfolgte (vgl. Löbbermann 2002, 274-275). Auch diese Arbeit stellt den gegenseitigen Austausch schwarzer und weißer Avantgardekünstler in den Vordergrund.

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lern um die Wiederentdeckung der eigenen afrikanischen Ursprünge ging, die es als elementarer Teil in das afrikanisch-amerikanische Selbstverständnis zu integrieren galt, begaben sich die Künstler der klassischen (amerikanischen) Avantgarde auf die Suche nach neuartigen Formen, die sie von den Zwängen konventioneller Verfahrens- und Darstellungsweisen befreien sollten.

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7. AFRIKANISCH -AMERIKANISCHE F OTOGRAFIE DIE H ARLEM R ENAISSANCE

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7.1 Der New Negro und kulturelle Identität Kulturelle Pluralität wurde in nationalistischen Repräsentationen schwarzer Identität zu Ende des 19. Jahrhunderts als Zeichen von Alterität und Fremdheit verworfen. Die seit den 1870er Jahren beginnende Binnenwanderung der Schwarzen aus den südlichen Agrargebieten in die Städte des Nordens beschleunigte jedoch Prozesse der Modernisierung und Heterogenisierung privater Lebensbereiche. Mit dem Einsetzen der Great Migration im Gefolge des Ersten Weltkrieges wanderten bis 1940 mehr als eine Million Schwarze auf der Suche nach neuen Chancen und freieren Lebensbedingungen in die prosperierenden Industrieregionen des Nordens4. Diese demographische Entwicklung trug wesentlich zur Herausbildung eines neues Gemeinschaftsgefühls und zu einem Verständnis von Identität als (multi)kulturelles Zugehörigkeitskriterium bei (vgl. Heideking 255; Schmeisser 143). Die Stadterfahrung lieferte einen bedeutenden Stützpfeiler auf dem Weg der Selbsterneuerung aus den rigiden Strukturen des südstaatlichen (Land)Lebens. Der New Yorker Stadtteil Harlem avancierte in den zwanziger Jahren zum zentralen Schauplatz künstlerischer Aktivität, zum kulturellen Lebenszentrum und Anziehungspunkt für Schwarze aus allen Ländern der afrikanischen Diaspora5. Schwarze Künstler und Schriftsteller, die aus unterschiedlichen Regionen und Kulturkreisen, etwa der Karibik und Afrika, aus dem Süden und Norden Amerikas, in Harlem aus dem Verlangen nach schöpferischer Tätigkeit und Zugehörigkeit zusammen trafen und ihre Ideen austauschten, intensivierten Prozesse schwarzer Pluralisierung. Die Zuwanderung und Gegenwart von Künstlern und Intellektuellen unterschiedlicher ethnischer Herkunft stellten ein Potential an interkultureller

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So wuchs die schwarze Bevölkerung in Chicago zwischen 1910 und 1920 von

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»[I]t is a city within a city, the greatest Negro city in the world«, so der

44.000 auf 110.000, in New York von 90.000 auf 150.000 (vgl. Berg 72). schwarze Harlem Renaissance-Schriftsteller James Weldon Johnson über die Stadt Harlem der zwanziger Jahre, das von »more Negroes to the square mile than any other spot on earth« bevölkert wird (301).

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und multinationaler Vielfalt und Dynamik dar, welchen neben ästhetischen Funktionen auch politische Ambitionen zugrunde lagen. Die aus der Infrastruktur der Großstadt erwachsenden künstlerischen Avantgardebewegungen trugen in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts maßgeblich zur Entstehung eines wachsenden kulturellen Bewusstseins, d.h. zu einer kulturellen Verankerung des amerikanischen Selbstverständnisses bei. Auf die frühe Moderne, die vor allem in den Jahren von 1913 und 1917 ihre schöpferischste Schaffensperiode durchlief, folgte die afrikanisch-amerikanische Avantgarde der Harlem Renaissance in den zwanziger Jahren (vgl. Raussert 49). Trotz sozialer Unterdrückung und Ausgrenzung nahmen sich viele schwarze Künstler und Kulturschaffende der Harlem Renaissance […] »nicht nur als Teil, sondern vor allem als Speerspitze« einer modernistischen, multiethnischen Kulturbewegung wahr (ebd. 52). Alain Lockes künstlerische Programmatik strebte nach einer engen Verknüpfung von Kunst und kulturellem Erneuerungsstreben. Der afrikanisch-amerikanische Kunstförderer und Philosoph sah Kunst als integratives, identitätsstiftendes Medium an, das schwarze Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen zusammenführt und ihnen die Möglichkeit bietet, einen gesellschaftlichen Wandel auf kultureller Ebene herbeizuführen. In dem Einleitungstext seiner Anthologie The New Negro: An Interpretation (1925), der theoretischen Hauptschrift der Harlem Renaissance, proklamiert Locke: Our greatest rehabilitation [...] rests in the revaluation by white and black alike of the Negro in terms of his artistic endowments and cultural contributions, past and prospective. It must be increasingly recognized that the Negro has already made very substantial contributions, not only in his folk-art, music especially, which has always found appreciation, but in larger, though humbler and less acknowledged ways. For generations the Negro has been the peasant matrix of that section of America which has most undervalued him, and here he has contributed not only materially in labor and in social patience, but spiritually as well. (1925a, 15)

Neben künstlerischen Identifikationskriterien hebt Lockes Denkfigur des »neuen Schwarzen«, des New Negro, die vielfältigen kulturellen Einflüsse schwarzer Identität hervor, die sich infolge nationaler Wander- und internationaler Migrationsbewegungen aus »so many diverse elements of Negro life« (ebd. 6) zusammensetzen und schwarze Menschen in der Stadt Harlem

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als beispielhaftem Ort kultureller Erneuerung zu einem kultur- und klassenübergreifenden, »great race-welding« (ebd. 7) zusammenführen. Alain Lockes Entwurf des New Negro beschreibt einen grundlegenden Konzeptionswandel des modernen Subjekts- und Identitätsverständnisses, bei dem Identität nicht allein entlang feststehender, politisch-nationaler Parameter, sondern allen voran kulturell im Sinne einer flexiblen, symbolischen Orientierung definiert wird6. Ein entscheidendes Kennzeichen mo-

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Lockes Ausführungen zur schwarzen Identität als nationenübergreifendes, multiethnisches Erfahrungskontinuum überschneiden sich mit den Begrifflichkeiten modernistischer Identitätskonzeptionen, wie diese etwa in Überlegungen von Identität als transnationales, multiethnisches Konzept eingeführt wurden. Dabei sind vor allem die Ideen der Dezentrierung des Subjekts, der kulturellen Differenz, der Hybridisierung von Kultur und Identität zu Kernbegriffen moderner Identitätskonzeptionen avanciert, die Subjektformen nicht im Rahmen hegemonialer Diskursfelder, sondern von hybriden, d.h. transkulturellen Zwischenorten aus analysieren. Genannt seien allen voran die Kulturkritiker Stuart Hall und Homi K. Bhabha, in deren Arbeiten der Hybriditätsbegriff äußerst ausführlich erarbeitet wurde. Im Kontext postkolonialer Theorien weist Stuart Halls Hybriditätsbegriff, den er als Konzept diasporischer Identität entwickelt, auf Prozesse der »Hybridisierung« kultureller Identität hin, die sich als komplexe Überlagerungen und Kombinationen multipler, heterogener Zugehörigkeiten herausbilden. Als beispielhafte Verkörperungen hybrider Identitäten gelten für Hall Menschen, die aufgrund diasporischer Migrationsprozesse mehrfache Zugehörigkeiten aufweisen und dabei als Vermittler zwischen den Kulturen zur Pluralisierung nationaler Kulturen und Identitäten beitragen. Unter Rückgriff auf Jacques Lacans Psychoanalyse, die den Identifikationsvorgang als grundlegende Differenzerfahrung im Innenleben des Individuums festlegt, stellt Homi K. Bhabha das Subjekt niemals einheitlich im Sinne der Abwesenheit fremder, d.h. hybrider Identifikationselemente dar, sondern grundlegend gespalten und dezentriert: »I try to talk about hybridity through a psychoanalytic analogy, so that identification is a process of identifying with and through another object, an object of otherness, at which point the agency of identification – the subject – is itself always ambivalent, because of the intervention of otherness« (1990, 211). Entgegen der Vorstellung eines klar umgrenzten, pluralen Multikulturalismus entwirft Bhabha das Konzept der kulturellen Differenz, das ebenfalls die Idee

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derner Identitätskonzeptionen stellt weniger den Zugriff auf territorial gebundenes, nationalstaatliches Gebiet dar, sondern die Identifikation mit kulturellen, geistig-spirituellen, imaginären Momenten, die dem Subjekt eine Vielzahl an Orientierungsangeboten und Identifikationsmöglichkeiten eröffnen. Alain Lockes verwendeter Begriff des common consciousness7 als gemeinsames Identitätskriterium schwarzer Menschen in der Diaspora, das in der multikulturellen Zusammensetzung Harlems beispielhaft verkörpert wird, betont die geistig-spirituelle, ideelle Dimension schwarzer Identität im Gegensatz zur essentialistisch begründeten common condition zur Zeit der Sklaverei: The chief bond between them [American Negroes] has been that of a ›common‹ condition rather than a common consciousness; a problem in common rather than a life in common. In Harlem, Negro life is seizing upon its first chances for group expression and self-determination. It is – or promises at least to be – a race capital. (1925a, 7)

der Ambivalenz von Kultur in den Mittelpunkt stellt. Differenz beschreibt keine Grenze zwischen nebeneinander existierenden Kulturen, sondern einen hybriden Ort mitten im Zentrum. Durch das Verwischen eindeutiger Grenzmarkierungen zwischen den Kulturen entstehen Überschneidungen und Zwischenräume, in denen neue Kulturformen verhandelt und ausgebildet werden. Dieser ambivalente Zwischenraum, den Bhabha auch Dritter Ort nennt, wurde bereits für die Selbstgestaltung in der afrikanisch-amerikanischen Porträtfotografie nutzbar gemacht, die – als dritter Kulturtext gedacht – den Prozeß der Hybridisierung/Verkehrung hegemonialer Repräsentationsformen in den Vordergrund rückt (s. Teil II: »Der schwarze Bürger: Figur des Dritten«). Alain Lockes entwickelte Denkfigur des New Negro betont die Möglichkeit der Identifikation mit afrikanisch-amerikanischen Kulturformen innerhalb der amerikanischen Nationalkultur – jedoch ohne sich vollständig zu assimilieren. 7

Die Idee der common condition als gemeinsamer, biologistisch begründeter Sozialstatus schwarzer Menschen in Amerika zur Zeit der Sklaverei ablösend führt Locke die Vorstellung des common consciousness – eines gemeinsamen, ideellen Erfahrungshorizonts – als grundlegendes Identitätskriterium des New Negro ein (vgl. Löbbermann 2002, 85).

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Kulturelle Entwurzelung, Vertreibung, Verschleppung, Ausbeutung, Heimatlosigkeit, Migration und Exil boten ein breites Spektrum an Identifikationsmöglichkeiten, auf die schwarze Menschen rekurrieren konnten, und die die Zuschreibung zu einer spezifischen Verortung erschwerten. Grundprämissen der Naturgegebenheit und Unveränderlichkeit der Rassen- und Körperidentität werden in Lockes New Negro-Konzeption radikal in Abrede gestellt und als machtfunktionale, historisch und soziokulturell bedingte Konstruktionen enttarnt8. In den Identitätsrepräsentationen zur Jahrhundertwende spiegelte sich, wie die Diskussion um schwarzen Fortschritt und Zivilisation im zweiten Kapitel zeigte, eine enge Verknüpfung von körperlicher Inszenierung und politischer Funktionalisierung wieder mit dem Ziel, den schwarzen Amerikaner auf visueller Ebene als vollwertiges Mitglied in den weißen, hegemonialen Nationalkörper zu inkorporieren. Afrikanisch-amerikanische Identitätskonstruktionen drehten sich in erster Linie um die Frage nach der Präsenz kultureller Respektabilität. In dezidierter Abgrenzung zu stereotypisierten Zuschreibungen knüpften sie an die idealtypischen Lebens- und Repräsentationsformen weißer Bürgerlichkeit an, deren Aneignungen die schwarze Integrations- und Fortschrittsfähigkeit unter Beweis stellten. Die Verschiebung des Identitätsbegriffs, durch die homogene, einheitlich geschlossene Subjektpositionen zugunsten kulturell hybrider Subjektformen in den Hintergrund gerückt werden, zeigt eine ästhetische Entsprechung in Bezug auf die Verwendung der Fotografie in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Weg vom epistemologisch-wissenschaftlichen Datenmaterial, das der Funktion unterstellt war, im Rahmen soziologischer Studien und Untersuchungen pseudowissenschaftliche Deutungsmuster anatomischer Alterität und geistiger Inferiorität zu entkräften, stand die Fotografie nunmehr im Zeichen der künstlerischen Produktion, in der multikulturelle,

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»The Old Negro«, so Alain Locke über machtgestützte Repräsentationen schwarzer Identität, »[…] was a creature of moral debate and historical controversy. His has been a stock figure perpetuated as an historical fiction partly in innocent sentimentalism, partly in deliberate reactionism. The Negro himself has contributed his share to this through a sort of protective social mimicry forced upon him by the adverse circumstances of dependence« (1925, 3).

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afrikanisch-amerikanische Kulturformen zur Geltung drängten. Verstanden als künstlerisch ambitionierte Ausdrucksform erschien das fotografische Medium gleichsam geeigneter, »the new psychology«, »the new spirit« (Locke 1925a, 3) authentischer und unmittelbarer zu vermitteln, als die in einer wissenschaftlichen Bildsprache angelegten Konstruktionen nationaler, homogener, oder in Lockes Worten, »überzivilisierter« Identität: Our espousal of art thus becomes no mere idle acceptance of ›art for art’s sake‹, or cultivation of the last decadences of the over-civilized, but rather a deep realization of the fundamental purpose of art and of its function as a tap root of vigorous, flourishing living. (2007 [1928], 260)

In einer ersten Annäherung zu künstlerisch-kulturellen Identitätskonzeptionen soll nachfolgend ein visueller Vergleich zwischen den Charakterstudien des Harlem Renaissance-Malers Winold Reiss und den Personenporträts der Du Bois’schen Sammlung Types of American Negroes angestellt werden. Dadurch werden die in Alain Lockes Arbeiten dargelegten Verschiebungen des schwarzen Identitätsbegriffs visuell vergegenwärtigt. 7.2 Der New Negro bei Winold Reiss im Vergleich zu Du Bois’ Types of American Negroes Winold Reiss, der 1887 in Karlsruhe als Sohn des Landschaftsmalers Fritz Reiss geboren wurde, emigrierte nach seinem Studium an der Münchner Kunstakademie 1913 in die USA. Anfang der zwanziger Jahre begab sich Reiss nach New York in das Epizentrum der schwarzen Kunstavantgarde. Die Stadt lieferte ihm die Schauplätze seiner modernistisch geprägten Schaffensphase – Ballsäle, Tanzlokale, Clubs tauchen als Motive seiner Werke immer wieder auf. Auf seinen Zeichnungen drückt der Künstler das Lebensgefühl der pulsierenden Großstadt durch die der expressionistischen Druckgraphik entlehnten Flächendynamik sowie durch das expressive Formenspiel des Futurismus und des Kubismus aus. Der modernistische Malstil unterscheidet sich deutlich von den wirklichkeitsorientierten Charakterstudien, die Reiss zur Porträtierung indianischer, afrikanisch-amerikanischer und anderer ethnischer Bevölkerungsgruppen anfertigte. Während seiner gesamten Schaffenszeit produzierte Reiss an die tausend Figurenporträts. Für die im März des Jahres 1925 von Alain Locke herausgege-

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bene Harlem-Sonderausgabe der Zeitschrift Survey Graphic erstellte Reiss repräsentative Charakterstudien von afrikanisch-amerikanischen Menschen, die er in zwei Serien – Harlem Types und Four Portraits of Negro Women – unterteilte. Der Inhalt der Ausgabe, der seine Leser mit Gedichtbeiträgen und Essays führender schwarzer Intellektueller und Schriftsteller in das neue schwarze Selbstverständnis einführte, wurde zu großen Teilen für die kurze Zeit später erschienene Anthologie The New Negro (1925) übernommen. Um eine möglichst lebensnahe und treffende Charakterschilderung afrikanisch-amerikanischer Menschen zu gewährleisten, bediente sich Reiss der realistischen Gestaltungsprinzipien der pastoralen Genremalerei, die schon die bäuerlichen Landschafts- und Figurenstudien seines Vaters, des Malers Fritz Winold Reiss, bestimmten. Die Zeichnung Congo: A Familiar of the New York Studios (1925) aus der Harlem Types-Serie zeigt den Kopf eines dunkelhäutigen Mannes mit fein ausgearbeitetem Afro-Look (Abb. 42). Im Gegensatz zu den Personendarstellungen der Du Bois’schen Bildersammlung Types of American Negroes oder den repräsentativen Porträtbildern der Jahrhundertwende ›afrikanisiert‹ Reiss schwarze Identität – einerseits durch die sorgfältige Ausarbeitung der afrikanisch-amerikanischen Haarstruktur, zum anderen über den Bildtitel Congo: A Familiar of the New York Studios und weiterhin durch die detaillierte Wiedergabe der spezifischen Gesichtsphysiognomie. Zudem evoziert die Gesamterscheinung des Kopfes – das Fehlen von Hals und Oberkörper – das Bild einer afrikanischen Maske. Das Maskenmotiv als Symbol für ›Afrikanität‹ wird in Abgrenzung zu Frantz Fanons Masken-Metapher, der das Motiv der unfreiwilligen Maskierung einer als stigmatisiert wahrgenommenen Fremdzuschreibung zugrunde liegt, in Congo zum zentralen Kriterium schwarzer Identität erklärt. In Harlem Girl I (1925)9 (Abb. 45) evoziert Reiss die afrikanische Vergangenheit afrikanisch-amerikanischer Identität durch die Übernahme altägyptischer Stilmerkmale. So findet das für die altägyptische Kunst charakteristische Prinzip der perspektivischen Verflachung, das typischer Weise durch die Wiedergabe des Kopfes im Profil bei gleichzeitiger Frontalansicht von Schul-

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Harlem Girl I ist nicht Teil der hier angeführten Bilderserien Harlem Types und Four Portrait of Negro Women. Aufgrund der spezifischen Figurencharakterisierung soll die Zeichnung, die Reiss in demselben Jahr der Erstellung seiner Werkserien malte, in die Besprechung mit aufgenommen werden.

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tern und Brust erreicht wird, in Harlem Girl I Anwendung: die Flächigkeit des Haarschnittes und die seitliche Kopfhaltung des Harlemer Mädchens im Halbprofil bei frontaler Brustdarstellung verflacht die Perspektive. Die vereinfacht stilisierte, geometrische Form der Haare nimmt ebenfalls klaren Bezug auf die menschliche Kopfgestaltung in der altägyptischen Kunst. Der feste, offene Blick der Frau auf der Zeichnung A Woman Lawyer (1925) konfrontiert den Betrachter auf gleicher Augenhöhe. Damit entzieht sich die Dargestellte einer observierenden Betrachtung. Der klare Gesichtsausdruck schmeichelt nicht, will – wie im Übrigen alle Darstellungen der beiden Serien – nicht gefallen. Die qualifizierte Berufsausbildung der porträtierten Rechtsanwältin verweist auf die Bedeutung des mühsam erkämpften Bildungsanspruchs und die damit verbundenen Privilegien der sozialpolitischen Partizipation. Allerdings, das impliziert die vergleichsweise einfache Erscheinung der Frau, wird education weniger als Mittel einer in die Zukunft gerichteten kulturellen refinement beschworen – die Bildungs- und Gesellschaftsfähigkeit schwarzer Amerikaner wird vielmehr als gegeben vorausgesetzt. Der Bildtitel der Zeichnung Mother and Child (1925) lässt keine Rückschlüsse auf den sozialen Hintergrund der beiden Personen zu. Zwar trägt das Kleinkind ein weißes Kleid mit Rüschenärmeln und Zierschleife, doch suggeriert die Erscheinung der Frau – der einfache Mantel, das lose Haar – einfaches Arbeitermilieu. Der Arbeiter-Typus wird nicht als vorübergehende, egalisierungsfördernde Notwendigkeit skizziert (etwa wie bei Booker T. Washington), die in ferner Zukunft sozialen Aufstieg und Verbesserung verspricht, sondern als naturgemäße Gegebenheit. Reiss betont die Kriterien der Individualität und Multiplizität von schwarzer Identität, die sich aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Kulturkreisen zu einem great-race welding zusammenfügt. Winold Reiss’ realistisch gehaltene Arbeiten lassen nur Ausschnitte zu, die Menschen als realistische Figuren, nicht als Ideal, wiedergeben. Die lebensnahen Szenen negieren einen in Rückbindung an weiße Entwürfe stilisierten Idealtypus, an dem zur Ausführung respektabler Lebensform und Teilhabe am Nationalen angeknüpft werden soll. Ein authentisches, auf eigene afrikanisch-amerikanische Formen und Erscheinungsweisen bezogenes Dasein, das als konstitutiver Teil der amerikanischen Gesellschaft verstanden sein will, stellt den Inhalt beider Porträtserien. Trotz der naturalistischen, individualistischen Ausführung, die sich an lebenden Modellen orientiert, geht es um das Symbolische – um das für das typisch Gehaltene

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Abb. 42: Winold Reiss, Congo: A Familiar of the New York Studios, 1925

Abb. 44: W. E. B. Du Bois, African American Woman, Half-Length Portrait, Facing Right, 1899/1900

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Abb. 43: W. E. B. Du Bois, African American Man, Headand-Shoulders Portrait, Facing Left, 1899/1900

Abb. 45: Winold Reiss, Harlem Girl I, 1925

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–, das sich auf die äußeren Erscheinungsformen und zugleich sozialen Lebenszusammenhänge der Figuren bezieht. Die Zeichnungen bilden die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens ab und liefern zugleich eine über die Darstellung hinausreichende, verallgemeinernde Symbolik10. Du Bois’ sachlich exakte Personendarstellungen wurden, wie das zweite Kapitel der Arbeit ausführte, als didaktische Argumentationsfiguren eingesetzt, um auf ›objektiver‹ Ebene die visuelle Gleichheit zwischen schwarzen und weißen Menschen vorzuführen. Die Repräsentationsformen der typisierenden Fotografie bildeten dabei den referentiellen Bezugsrahmen. Typisierende und idealisierende Identitätsbilder, die den äußeren Kriterien weißer, bürgerlicher Lebenskultur entsprechen, verweisen auf das bereits skizzierte Problem der Gesicht- und Identitätslosigkeit schwarzer Identität, welche wiederum im größeren Kontext der historischen Sprachlosigkeit bzw. marginal beschriebenen, afrikanisch-amerikanischen Vergangenheit steht. Auch Frances Benjamin Johnstons verklärende Bildssprache, die den Ursprung afrikanisch-amerikanischer Geschichte innerhalb eines weißen Gründungsmythos historisiert, vollzieht sich im Zeichen der selektiven Geschichtsausblendung. Die Verschleppung der schwarzen Rasse in die Sklaverei, die wirtschaftlichen Ausbeutung schwarzer Sklaven, die geistige Enteignung und Entwurzelung durch den Zwang der Eingliederung in eine fremde Kultur bleiben hierbei unberücksichtigt. An das in der Zeichnung Congo angedeutete Motiv des afrikanischen Erbes, der kulturellen Kontinuität Afrikas in Amerika, wird im Folgenden angeknüpft. Damit ist vor allem die kulturelle Pluralisierung schwarzer Lebensrealität innerhalb der Strukturen der Großstadt im Allgemeinen und die positive Haltung zu ›eigenen‹, afrikanisch-amerikanischen Ausdrucksund Lebensformen im Besonderen gemeint.

10 Die allgemein gehaltenen Bildtitel der beiden Serien unterstützen diese Annahme. Ähnlich wie die anonymisierten Bezeichnungen der Du Bois’schen Types of American Negroes-Serie verweisen die neutralen Bildunterschriften auf Reiss’ Intention, keine Porträts im Sinne eines individuellen Bildnisses zu entwerfen, sondern beispielhafte Repräsentationen schwarzer Identität in Amerika.

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Ästhetik urbaner Lebenskultur Die Figur des New Negro wird bei Alain Locke nicht nur als kunsttheoretische Idee diskutiert, sondern setzt unmittelbar an der Verortung im großstädtischen Raum – der Ankunft in der Stadt und den daraus resultierenden Möglichkeiten kultureller Selbsterneuerung – an11: Take Harlem as an instance of this. Here in Manhattan is not merely the largest Negro community in the world, but the first concentration in history of so many diverse elements of Negro life. It has attracted the African, the West Indian, the Negro American; has brought together the Negro of the North and the Negro of the South; the man from the city and the man from the town and village; the peasant, the student, the business man, the professional man, artist, poet, musician, adventurer and worker, preacher and criminal, exploiter and social outcast. (1925a, 6)

Das Motiv der Urbanität und der damit verbundenen Bedeutung des (symbolischen) Auf- und Ausbruchs aus der Sklaverei bzw. aus den täglichen, häufig gewaltsamen Repressionen und ärmlichen Lebensbedingungen im agrarischen Süden in die freien Städte des Nordens beschreibt ein durchgängiges Themenfeld in der schwarzen Fotografie der zwanziger und dreißiger Jahre. Fotografische Ästhetisierungen der Stadt als Hoffnungsträger und Symbol der Befreiung sind sowohl an die physikalische Topographie der Stadt als auch an die von Modernismus und Modernisierung geprägten Formen urbaner Lebenskultur gebunden, auf die im Besonderen eingegangen wird. Zentrale Topoi bilden die Hinwendung zu afrozentrischen Ausdrucksformen, primitivistische Einschreibungen, die Erprobung alternativer Lebensformen, homosexuelle Lust, ›gemischt-rassiges‹ Begehren. Der

11 Der Soziologe Charles S. Johnson spricht im Kontext der zunehmenden Urbanisierung afrikanisch-amerikanischer Lebensrealität vom »city Negro«: »A new type of Negro is evolving — a city Negro. He is being evolved out of those strangely divergent elements of the general background. And this is a fact overlooked by those students of human behavior, who with such quick comprehension detect the influence of the city in the nervousness of the Jew, the growing nervous disorders of city dwellers in general to the tension of city life. In ten years, Negroes have been actually transplanted from one culture to another« (285).

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fotografische Blick ist hierbei vor allem durch die künstlerische Umdeutung, Erweiterung und (De)Konstruktion stereotypisierter Körperbilder bestimmt. Während Carl Van Vechten Identität als einen wandelbaren, ›malerischen‹ Oberflächeneffekt aus Licht und Schatten gestaltet, lösen Morgen und Marvin Smith schwarze Körperlichkeit aus den starren Fesseln kontrollierter, fixierter, disziplinierter Körperrepräsentation heraus. P. H. Polks romantisierende Pastoralbilder der dreißiger Jahre, die im letzten Abschnitt der Erörterung besprochen werden, stellen eine Gegennarrative zu der modernistischen Großstadtästhetik dar. Diese können als Antwort auf die Sehnsucht nach einer die eigene Vergangenheit betreffenden, positiv besetzten Bezugsgröße gedeutet werden, die in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben wird. 7.3 Neubestimmungen von gender und race in den Körperinszenierungen Carl Van Vechtens Der Fotograf Carl Van Vechten und die Harlem Renaissance Als Schriftsteller und Fotograf, als Förderer und Kunstvermittler, als Kritiker und Mäzen hat Carl Van Vechten bedeutend zur Entfaltung der afrikanisch-amerikanischen Moderne beigetragen12. Das pulsierende, primitivistisch exotisierte Harlem formte und erfüllte Van Vechtens Fantasie in maßgeblicher Weise und wurde zur Bedingung für sein kreatives Schaffen. Sein kontroverser Bestsellerroman Nigger Heaven (1926), der vom hemmungslosen und obszönen Nachtleben Harlems handelt, steht exemplarisch für eine neue Empfänglichkeit in der Literatur und den bildenden Künsten schwarzer Interpreten, die in ihren Werken ein bewusst ironisierendes, selbstkritisch angelegtes Bild des Schwarzseins entwarfen. Vor allem W. E. B. Du Bois, der in seinen Schriften an die repräsentative Vorbildfunktion der intellektuellen, schwarzen Mittelkasse als geistige Speerspitze schwarzer Emanzipation und Erneuerung appellierte, übte harsche Kritik an den ›primitiven‹ und ›kulturlosen‹ Selbstdarstellungen. Diese stellten für ihn nichts anderes als dar eine weitere, selbstauferlegte Entfremdung und Funk-

12 Zur Rolle Carl Van Vechten in der Harlem Renaissance vgl. auch: Leon Coleman, Carl Van Vechten and the Harlem Renaissance. A Critical Assessment (New York: Garland, 1998).

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tionalisierung schwarzer Lebenskultur13. Carl Van Vechtens künstlerische Produktion negiert die Angst vor fremdbestimmter Funktionalisierung. Gerade der emanzipierende Bruch mit eingebürgerten Traditionen und das Chaos, das keine hierarchisch geregelten Strukturen zulässt, stellen für den Künstler Möglichkeiten der Befreiung und des Aufbruchs aus überkommenen Denkmustern bereit. In seinen fotografischen Bildern inszeniert Van Vechten, der in zweiter Ehe mit der Schauspielerin Fania Marinoff verheiratet war und seine Homosexualität zeitlebens geheim hielt, den (schwarzen) männlichen Körper als Projektionsfläche, auf der private Lüste und soziale Anliegen gleichermaßen zur Geltung drängen. Dorothea Löbbermann, die in ihrer Besprechung literarischer Produktionen der Harlem Renaissance die homosexuelle Besetzung und Aneignung schwarzer Themen ausarbeitet, betont die Funktion der neuen, schwarzen Kulturproduktion als mögliches, ästhetisches Sprachrohr für andere marginalisierte Gruppen, die von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen waren (vgl. 2002, 144)14. Gerade der plurale, integrative Charakter der Harlem Renaissance-Ästhetik eignete sich, andere gesellschaftliche Randgruppen auf ihrer Suche nach Identität und Zugehörigkeit zu absorbieren und ihnen in ihren Anliegen Ausdruck zu verleihen. Carl Van Vechten lieferte selbst ein Beispiel dafür. Sein literarisches und bildnerisches Werk, das die Harlem Renaissance-Ästhetik maßgeblich formte und das gleichermaßen durch sie geformt wurde, steht nicht zuletzt

13 Vgl. hierzu: W. E. B. Du Bois, »Criteria of Negro Art«, The Crisis (Oct. 1926b): 12. In seiner Rezension des Buches Nigger Heaven attackierte Du Bois Van Vechten auf das Schärfste. Den Roman beschrieb er als »a blow in the face«, als »an affront to the hospitality of black folk and to the intelligence of white«, »a caricature«, »an astonishing and wearisome hodgepodge of laboriously stated facts, quotations and expressions, illuminated here and there with something that comes near to being nothing but cheap melodrama« (1926a, 81). 14 In ihrer Arbeit zur literarischen (Re)Konstruktion Harlems analysiert Dorothea Löbbermann an den Beispielen von Nella Larsens Roman Passing (1928) und Samuel R. Delanys Novelle »Atlantis: Model 1924« (1995) die Strategie der Aneignung rassenspezifischer Motive zur Behandlung homosexueller und geschlechtsspezifischer Fragestellungen. Vgl.: »Black/Queer: Codes für ein queer aesthetics«, Memories of Harlem. Literarische (Re)Konstruktionen eines Mythos der zwanziger Jahre (Frankfurt a. M.: Campus, 2002) 144-155.

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für diese Suche nach einem Ort, an dem die spezifischen Bedürfnisse der eigenen marginalen, tabuisierten Identität zur Sprache gebracht werden können. Carl Van Vechten begann seine professionelle Laufbahn als Fotograf Anfang der dreißiger Jahre, nachdem er seinen mit beachtlichem Erfolg gekrönten Karrieren als Musik- und Tanzkritiker sowie als Romanautor den Rücken zugekehrt hatte. Viele seiner Fotografien bilden die schillernden Figuren und Persönlichkeiten der Harlem Renaissance – Bill »Bojangles« Robinson, Bessie Smith, Ethel Waters, Langston Hughes, W. E. B. Du Bois – ab, die häufig in einen assoziativen Formenkomplex aus abstrakten Motivelementen gesetzt sind. Das Hauptaugenmerk der anstehenden Erörterung richtet sich auf seine homoerotischen Aktfotografien, die erst lange nach dem Tod des Künstlers der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden15. Van Vechtens homoerotische Werkserie werden dem Anliegen der Studie entsprechend in Beziehung zu den Stil- und Themenvorgaben der schwarzen Avantgardebewegung Harlem Renaissance gesetzt. Seine homoerotischen Fotografien entwerfen eine transkulturelle und transsexuelle Vision, die die Erneuerung/Erweiterung geschlechtlicher und rassischer Beziehungen imaginiert. Schwerpunkt bildet das Postulat einer universellen Rassen- und Geschlechtergleichheit, die in symbolhaften Körperinszenierungen Ausdruck findet. Rezeptionsästhetisch steht Vechtens ›heimliche‹ Werkserie in enger Nachbarschaft zu seiner offiziellen Tanz(akt)fotografie – insbesondere, wenn es um die Inszenierung des halbnackten Kraftkörpers als sexuell sinnliches Ausdrucksmedium der (vorwiegend homosexuellen) Tänzer geht. Die Tanzfotografie bewegte sich in einem quasiöffentlichen Rahmen, in dem der Künstler sein homophiles Begehren im Konsens mit den gesellschaftlichen Normen ›offen‹ artikulieren konnte. Im Gegensatz zu James VanDerZee, der es verstand, seine Leidenschaft zum Bild mit den gewerblichen Erfordernissen eines Studiofotografen zu verbinden, unterwarf Van Vechten seine Sujets ausschließlich den Anliegen seiner künstlerischen Vision:

15 Van Vechtens homoerotische Aktserie wurde erstmals in James Smalls Publikation The Homoerotic Photography of Carl Van Vechten (2006) einer kulturkritischen Analyse unterzogen. In Erweiterung dazu nimmt die vorliegende Arbeit eine kunsthistorische und -ästhetische Untersuchung seiner Bilder vor.

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Except to magazines and books, I don’t sell photographs, and so I can do exactly what I please. I give people what I want. Otherwise, nobody can get me to do anything I don’t want to do, and I give them the pictures I like, I don’t necessarily give them the ones they may like. […] Magazines and books are different, because they ask for something definite, and I show them what I have and they select what they want, but they don’t tell me what to photograph. (Vechten zit. n. Padgette 5)

Dies trifft natürlich im besonderen Maße auf seine nichtgewerbliche, homoerotische Werkserie zu. Van Vechtens Aktfotografien ordnen die Körperdarstellungen dem Primat der Form unter, die – als künstlerische Stilelemente markiert – ein starres System gesellschaftlicher Konventionen durchbrechen. Die menschlichen Körper bilden eine Zone der Interaktion, die der Vermittlung künstlerischer und sozialer Anliegen unterliegt. Seine Körperarrangements, die formalästhetisch auf die idealisierten Körperbilder der klassischen griechischen Bildhauerei rekurrieren16, sind den Konventionen des sinnlich vermittelten, idealschönen Leibes verpflichtet. Gleichzeitig wandeln sich klassische Akte zu passionierten Nackten, über die tabuisierte Themen ange-

16 Van Vechten gilt beileibe nicht als Pionier der künstlerischen Aktfotografie. Seine Bilder, die mit viel inszenatorischem Geschick den nackten Körper zur griechischen Statue veredeln, stehen in der Tradition der homoerotischen Aktfotografie an der Wende zum 20. Jahrhundert, wie sie allen voran von dem deutschen Baron Wilhelm von Gloeden entworfen wurde. Gloedens Aktbilder (1856-1931) zeigen zumeist unbekleidete jungendhafte Männer in freier Naturlandschaft. Motivisch greifen seine Studien auf die griechische Mythologie und auf christliche Sujets zurück. Vechten, der Gloedens Bilder sammelte, war mit der erotischen Motivik des Fotografen vertraut (vgl. Smalls 31). Als weitere, wichtige Inspirationsquelle gilt die an christlicher Ikonographie orientierte Aktfotografie des amerikanischen Symbolisten Fred Holland Day (1864-1933). Van Vechtens primitivistische Aktstudien weisen inhaltliche, formale und stilistische Bezugnahmen zu Fred Holland Days ›nubischen‹ und ›äthiopischen‹ Studien auf: dessen Bilder präsentieren den schwarzen Körper halbnackt oder völlig entblößt mit ›afrikanischen‹ Utensilien (The Smoker (1897) oder An Ethiopian Chief (Menelek) (1897)). Auch Vechtens ›interrassische‹ Körperkompositionen klingen in Days Bildern an, etwa in Ebony and Ivory (1897), die den dunklen nackten Körper in Beziehung zu einer lichten Statuette setzt.

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sprochen werden. Der erotische und sexuell aktive Leib steht im Mittelpunkt, der mit tradierten, auf Heterosexualität bestehenden Identitätsvorstellungen kritisch in Beziehung gesetzt wird. Im Folgenden wird die Betrachtung seiner Bilder im Sinne der Anwendung primitivistischer Beschreibungsmittel ins Auge gefasst, wie sie für die modernistische Ästhetik der Harlem Renaissance bestimmend ist17. Primitivistische Tendenzen Betrachtet werden drei Ganzkörperporträts18, die einen jungen, dunkelhäutigen Mann zeigen, der entweder halbnackt oder völlig entblößt vor der Kamera posiert: einmal sitzt das Modell unbekleidet, mit weit gespreizten Beinen und erhobenen Händen auf einem Hocker. Das unruhige Textilmuster des Vorhanges im Hintergrund sowie des Tigerfells zu Füßen des Posierenden erhöhen den exotischen, fremdartigen Charakter der Darstellung. Auf einer zweiten Fotografie steht das Modell vor gleicher Hintergrundkulisse, um seinen Oberkörper ist ein exotisch bedrucktes Tuch gewickelt. Auf einer dritten Aufnahme zeigt sich der Mann mit Kopftuch und Federschmuck sowie einer prächtigen Halskette, die allesamt als Attribute einer ›noblen‹ afrikanischen Vergangenheit gelesen werden können. Van Vechtens fragmentierende und zugleich sexualisierende Bildsprache fetischisiert den schwarzen Körper. Die gewählte Stellung im Raum bzw. die Kameraperspektive positionieren das Glied des Mannes auf allen drei Aufnahmen exakt in den Bildmittelpunkt. Die Fetischisierung des

17 Der künstlerische Primitivismus kennzeichnet den ästhetischen Ausbruch aus dem traditionellen Kanon abendländischer Stilkonventionen. Dieser Bruch beschränkte sich jedoch nicht ausschließlich auf den schwarzen Kulturkontext. Die Hinwendung zu ›primitiven‹ avantgardistischen Beschreibungsmittel als Ausdruck genuiner Identität bewegte sich im größeren Rahmen der klassischen Moderne in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts, die in der ästhetischen Wiederentdeckung archaischer Kunst- und Kulturformen Möglichkeiten zur ›unverfälschten‹ Artikulation des Welt- und Selbstbildes sah. 18 Die in der Studie besprochenen Aktfotografien führen allesamt keinen Werktitel und sind in den dreißiger und vierziger Jahren entstanden.

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schwarzen Körpers verläuft neben der Fokussierung des Blickes auf das Glied über die nackte, dunkle Haut als funktionalisiertes (Lust)Objekt19. Auf zwei weiteren Aufnahmen, die das gleiche Modell der drei bereits besprochenen Aufnahmen zeigen, werden exotische Zeichen zitiert, die die Topoi Afrikas vermitteln: nackt und eine afrikanische Maske in den Händen tragend posiert der junge Mann vor tropisch anmutender Hintergrundkulisse. Eine zweite Fotografie zeigt das Modell in gleicher Stellung und Umgebung, mit dem Unterschied, dass die Maske nun vor das Glied gehalten wird und dieses gänzlich bedeckt (Abb. 46). Indem der junge Mann sein Glied mit der afrikanischen Maske verdeckt, verweist er gleichzeitig darauf. Van Vechten kombiniert afrikanische Zitate mit Verweisen auf eine ideologisierte Sicht, die schwarze Sexualität als übersteigert und gefährlich festschreibt. Die anstehende Diskussion des schwarzen Harlem RenaissanceFotografen James VanDerZees an dieser Stelle vorausgreifend, möchte ich auf die Wiedergabe exotisierter Stilmerkmale in den Bildern dieses Fotokünstlers eingehen, die den Betrachter in ›fremde‹ Welten entführen. Two Women in Gypsy Costumes (1925) zeigt zwei dunkelhäutige Frauen, die über Kleidung und Schmuck (Kopftücher, Kreolen, lange Halsketten, bunt bedruckte Textilmuster) fremdartig, d.h. ethnisch, gekennzeichnet werden. Die Körperposen der Personen – beide Frauen halten sich an den Händen bzw. stemmen die Hand in die Hüfte – evozieren das Bild des tanzenden Zigeuners. Eine weitere Form des Exotismus stellt bei VanDerZee die Hinwendung zu okkultistischen Themen dar: A Prophet (1922) (Abb. 47) greift das Thema des Spiritismus auf, der das Mythische und die Magie ararchaischer Stammeskulturen widerspiegelt. Auf dem Bild posiert ein

19 Hinter dem Fetisch steckt die Gewalt, die an der Zerstückelung des Körperganzen ansetzt. Die fetischistische Fragmentierung des (schwarzen) Körpers, seine bildliche Objektivierung, steht in enger Nachbarschaft zur Lynching-Fotografie und der dabei praktizierten Zerlegung des schwarzen Körpers, aber auch zu wissenschaftlichen Verfahren der Körperfragmentierung: erzwungen wird dabei immer die Negierung bzw. Zerstörung der Körpereinheit, um sich den körperlichen Einzelteilen in ihrer Gesamtheit zu bemächtigen. »The glossy, shining, fetishized surface of black skin«, so Kobena Mercer zur machtfunktionalen Erotisierung/Fetischisierung schwarzer Haut, »serves and services a white […] desire to look and to enjoy the fantasy of mastery« (176).

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Abb. 46: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er

Abb. 47: James VanDerZee, A Prophet, Harlem, 1922

Magier in orientalischem Gewand, das an einen Turban erinnernde Kopftuch und der Stab runden den geheimnisvollen Auftritt ab. In Harlem der zwanziger und dreißiger Jahre traf man auf ein lebendiges, okkult-religiöses Milieu, das sich aus Magiern, Wahrsagern, Numerologiemeister, okkulten Propheten und Priestern zusammensetzte. Die kultischen und religiösen Strömungen griffen auf afrokaribische Traditionen bzw. auf Religionen der afrikanischen Diaspora zurück. Das Porträt des Harlemer Kult-Predigers und Wunderheilers »Sweet Daddy Grace«, geboren auf Kapverden, Daddy Grace, Harlem (1938) zeigt ihn in seiner Kultstätte mit orientalischem Gewand und Kopfbedeckung bekleidet. Mit hoch erhobenen Händen und aufwärts gerichtetem Blick empfängt er den Gospel. Auch den aus Jamaika stammenden, monarchistischen Führer Marcus Garvey, dessen politischer Aktionismus20 sich mit religiösen Elementen verband, und der in der Entstehung der Heilserwartungsbewegung Rastafarianismus eine wichtige

20 Marcus Garveys in Jamaika 1914 gegründete Universal Negro Improvement Association (UNIA) trat vehement für die Rückkehr schwarzer Amerikaner nach Afrika ein.

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Rolle spielte, hielt VanDerZee mit seiner Kamera auf dessen Protestzügen durch die Stadt Harlem fest. Okkultismus und Spiritismus beeinflussten vielfach das Schaffen der Künstleravantgarde, die ihr wichtige Impulse für die Entwicklung einer modernistischen Ästhetik gaben. Dabei beflügelte der Spiritismus die Künstler nicht nur zu unkonventionellen stilistischen Gestaltungsprinzipien, sondern inspirierte sie ebenfalls zu neuen malerischen Verfahrenstechniken. Primitivismus, Moderne und die Harlem Renaissance »Exotisierung und Erotisierung« (Schmeisser 146) werden bis heute als Verfahren des Ausschlusses zur Alterisierung schwarzer Menschen eingesetzt. Van Vechtens und VanDerZees fotografisches Schaffen – die Harlem Renaissance im Ganzen – fällt in die Zeit der Popularisierung kolonialer Afrika-/Orientbilder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die pseudoethnographischen Repräsentationen außereuropäischer Körper und Kulturen in der Kunst des kolonialen Europas, die in den zwanziger und dreißiger Jahren sehr verbreitet waren, setzten das Bild der ursprünglichen Alterität archaischer Stammeskulturen als ›primitive‹ Gegennarrative zum ›zivilisierten‹ Westen in musealästhetischen Kontexten massenwirksam in Szene (vgl. ibid.). Durch die in der Kolonialkunst konstruierten und popularisierten Stereotypisierungen des ›schwarzen Anderen‹ konnte Europa seine ›Höherwertigkeit und Dominanz‹ ästhetisch erfahrbar machen, die wiederum als entscheidende Argumentationsgrundlage für koloniale Eroberungs- und Zivilisierungsbestrebungen eingesetzt wurden: Diese ästhetischen Strategien der Romantisierung machten die koloniale Eroberung und die ihr zugrunde liegende reale wie epistemologische Gewalteinwirkung konsumierbar. Die Crosière Noire [von dem französischen Autohersteller André Citroën finanzierte natur- und völkerwissenschaftliche Expedition von 1924/25] produzierte museale Bilder einer scheinbaren, durch den westlichen Blick vermittelten ›afrikanischen Pastorale‹ für ein westliches Publikum […]. Die so entstandenen ästhetisierten Bilder afrikanischer Kolonialisierter hätten die dem Kolonialismus zugrunde liegende ökonomische Machtsituation und materielle Realität nicht besser verschleiern können. (Ibid.)

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Die in ethnographischen Museen, auf Kolonialausstellungen und Völkerschauen ausgestellte Kunst archaischer Stammeskulturen und Naturvölker inspirierte die europäische Malerei und Skulptur der zwanziger Jahre, deren abstrahierter, vereinfachter Formenkanon radikal mit der europäischen Tradition des Realismus brach. Bei der Entwicklung neuer Formsprachen wurden fast ausschließlich die formalen und motivischen Gestaltungsprinzipien der archaischen Kult- und Ritualgegenstände berücksichtigt – eine umfassende, kulturwissenschaftliche Erforschung dieser Kulturen blieb in der Regel aus. Die künstlerische Avantgarde setzte dieselben primitivistischen Verfahren zur Repräsentation des außereuropäischen Anderen ein, die bereits den kolonial-ästhetischen Diskurs in Europa bestimmt haben. Der stark ausgeprägte Rassismus der Zeit, der die Harlem-Renaissance-Kunst genauso sehr durchdrang wie alle anderen gesellschaftlichen Lebensbereiche, sowie die finanzielle Abhängigkeit vieler schwarzer Künstler von weißen Geldgebern schränkten die Möglichkeiten einer autonomen, sich frei von weißer Funktionalisierung entfaltenden Kunstbewegung ein. Allerdings wäre es eine verkürzte Betrachtungsweise, die schwarze Rezeption afrikanischer Stilformen in erster Linie als Bestätigung bzw. Vermarktung weißer Primitivismusvorstellungen zu interpretieren21. Zwischen den Erwartungshaltungen einer vorwiegend weißen, zahlenden Mittelklasse und schwarzer Selbstbehauptung, zwischen Exotisierung und bewusster Selbstironisierung ergaben sich gleichwohl produktive Schnittstellen und Zwischenräume, in denen sich Verfremdungen und Umlagerungen kultureller Paradigmata durchspielen ließen und Tabubrüche bewusst inszeniert wurden22. Der

21 Der Historiker Nathan I. Huggins wertet die Darbietungen und Repräsentationen der schwarzen Harlem Renaissance-Kunst als makaberes Schauspiel, das sich den stereotypisierten Meinungsbildern der weißen Gesellschaft bedient: »Dance as no one can; sing with the humor or pathos no one else has; make jokes about oneself […]. If the figure of theater is appropriate, then the Negro was the performer in a strange, almost macabre, act of black collusion in his own emasculation. For that white world, itself unfulfilled, was compelled to approve only that view of the Negro which served its image« (245). 22 Gegen den Vorwurf der freiwilligen Selbstinstrumentalisierung spricht die bewusste, kalkulierte Ironisierung und Parodiesierung stereotypischer Zuschreibungen und Merkmale (signifying) in der afrikanisch-amerikanischen Kultur

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wechselseitige und integrative Dialog zwischen schwarzen und weißen Künstlern sowie der Austausch mit anderen marginalisierten Bevölkerungsgruppen (Homosexuelle und Frauen), die in ähnlicher Weise von sozialer Intoleranz und rechtlicher Unterdrückung betroffen waren, schufen spannungsreiche Handlungs(spiel)räume für eine alternative Selbstdeutung23. »Die […] Rezeption des Afrikanismus«, so Schmeisser, in der Harlem Renaissance reflektierte sehr wohl »den kolonialen Diskurs, den die [westliche] Kunst auf visueller Ebene praktizierte und affirmierte«. Allerdings wertete die schwarze Avantgarde »die neue Präsenz Afrikas in der westlichen Kunst und Populärkultur für das eigene Identitätsprojekt um« (146). Die ästhetische Deutung Afrikas fungiert hierbei als Topos für Ausbruch, Authentizität, Stolz, Erneuerung und Widerstand. Alain Locke, der die wichtigsten theoretischen Schriften zur Harlem Renaissance-Ästhetik lieferte, befürwortete den gegenseitigen Austausch zwischen Vertretern der klassischen Moderne und der Harlem Renaissance. Schwarze Künstler hielt

(vgl. Löbbermann 2002, 96). Die Strategie des signifying beschreibt den Einsatz verschiedener rhetorischer Techniken – Ironie, metaphorische Verweise, Umkehrungen, Überhöhungen –, die sich den allgemeinen Sprach-/Repräsentationskonventionen entziehen und somit den Bedeutungsgehalt normativer Setzungen unterlaufen, umdeuten, erweitern. Zum Topos des Signifying Monkey vgl.: Henry Louis Gates, The Signifying Monkey: A Theory of African-American Literary Criticism (New York und Oxford: Oxford UP, 1988). Zur Harlem RenaissanceKunst im Spannungsfeld der klassischen Moderne vgl.: Houston A. Baker, Modernism and the Harlem Renaissance (Chicago: Chicago UP, 1987), George Hutchinson, The Harlem Renaissance in Black and White (Cambridge: Belknap Press of Harvard UP, 1995) und Sieglinde Lemke, Primitivist Modernism: Black Culture and the Origins of Transatlantic Modernism (New York und Oxford: Oxford UP, 1998). 23 »Nicht nur Afroamerikaner«, so Löbbermann zur Bedeutung Harlems als queer site, »sondern auch Homosexuelle suchten ihr Glück in den Metropolen, wo sie soziale und kulturelle Infrastrukturen bilden konnten. Beide Gruppen reagierten auf Diskriminierungen […] durch ironische, subversive, codierte Überlebensstrategien (signifying, camp). Diese […] Überschneidungen sind in der Literatur über Harlem zu einem zentralen Motiv geworden, das […] das queering Harlems bestimmt« (2002, 123).

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er dazu an, sich an den primitivistischen Interpretationen afrikanischer Kunstformen, Kultur und Tradition in der europäischen Avantgarde zu orientieren, die er als entscheidende Quelle der »inspiration and guide-posts of a younger school of American Negro artists« ansah (1925b, 264). Der modernistische Impuls des Primitivismus und Afrikanismus war für Locke kein abwertendes Erbe der schwarzen Vergangenheit, sondern unabdingbarer Bestandteil des neuen Selbstverständnis (vgl. ebd. 266-267). Schwarze Harlem Renaissance-Maler ließen sich von Alain Lockes Forderungen hinsichtlich der Rezeption und Wiedergabe afrikanischer Kunst- und Kulturformen inspirieren und haben primitivistische Formlösungen in ihre eigenen Konzeptionen eingebunden. Die expressiv abstrahierende Stilsprache des afrikanisch-amerikanischen Künstlers Aaron Douglas bildete sich während seiner Lehrzeit bei Winold Reiss aus: From exposure to visual modernism via teacher-mentor Winold Reiss, to the many opportunities in 1920s Manhattan for seeing avant-garde art (especially from France and Germany), Douglas was both ideally situated and intellectually poised to take the universal, distilling spirit of contemporary art and design into the visionary sphere of the New Negro. (Powell 62)

Douglas’ modernistischer Malstil verbindet abstrahierende Stilformen mit thematischen Rückgriffen auf die schwarze Vergangenheit. Die Behandlung afrikanischer Themenfelder, zu der Reiss seinen Schüler stets ermutigte, wird dabei häufig über westafrikanische und altägyptische Motiv- und Formenmuster umgesetzt. Der Rückblick in die eigene Vergangenheit erfolgt bei Douglas sowohl idealisierend als auch sachlich klar: die semifigurativen, flächigen Bilderwelten verklären die verlorene Heimat Afrikas und setzen sich zugleich mit negativen Aspekten der Verschleppung und Versklavung auseinander. Der Zugang zur Archaik zeigt sich bei dem aus Florence, South Carolina stammenden Maler William H. Johnson als regionalistisch folkloristischer Malstil, der Strukturen des Urtümlichen freilegen und dadurch das eigene Selbstbild wieder beleben soll. Johnsons expressive Malweise übernimmt stilistische und formale Anleihen aus der europäischen Avantgarde, mit der er Ende der zwanziger Jahre, während seiner Aufenthalte in Paris und Südfrankreich, in Berührung kam. Die abstrahierten, in grell bunten Farben gehaltenen Figuren und Gegenstände setzt der Künstler häufig in einen bäuerlichen oder religiösen Kontext.

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Explorationen des Männlichen – Körperform und Sexualität Kehren wir nun zu Carl Van Vechtens avantgardistische Körperinszenierungen zurück. Bei Carl Van Vechten erfolgt die Abkehr vom homogenen Subjektbegriff in der Überschreitung heteronormativer Geschlechtervorgaben, die unter dem Begriff des gender slumming in den exotischprimitivistischen Formen- und Themenkatalog der Harlem Renaissance einging. Carl Van Vechtens Bilderwelten setzen sich über heteronormative Vorstellungen von race und gender hinweg, indem Sexualität außerhalb der binären Geschlechterdifferenz von Mann und Frau thematisiert wird, die sich zudem zwischen Menschen unterschiedlicher Rassen abspielt. In den Fokus rücken Aufnahmen, auf denen Van Vechten mit Hilfe zweier Darsteller – der weiße, homosexuelle Tänzer Hugh Laing24 sowie ein dunkelhäutiges unbekanntes Modell – seine visuelle Interpretation von interrassischem Begehren and Homosexualität durchspielt. Die menschlichen Körper erscheinen nackt, mit phallischen Elementen ausgestattet: einmal sind es artifizielle Blumen in den Händen der Akteure, deren lange Stengel weitgeöffnete, kreisrunde Blüten tragen. Auf anderen Fotografien sind längliche, schwer und massiv wirkende Vasen oder Kelche zu sehen, die, vor den Körpern gehalten, den Blick geradewegs auf die Geschlechtsorgane lenken – diese dublettieren, potenzieren. Der Raumhintergrund bindet das Hell-Dunkel der beiden Körper in sein reflektiertes, unruhiges Licht- und Schattengeschehen mit ein. Die fotografischen Inszenierungen zeigen Sinn für das Theatralische – expressive, weitläufige Gesten, geschmeidige Körperposen, ehrfürchtige Mimik, die sich auf ein imaginäres, für den Betrachter nicht sichtbares Gegenüber richtet. Van Vechtens Kompositionen sind exakt abgestimmt; die Anordnungen der Körper im Raum sowie die Beziehung der Körper zueinander sind genau ausgearbeitet. Momente des Begehrens und der Leidenschaft, die sich im interaktiven Gegen- und Miteinander der Körper, in Posen der Dominanz und Unterwerfung vermitteln, bestimmen die Bildaussage. Die männlichen, nackten Körper fügen sich als ästhetische Objekte in die corporale Anordnung ein, werden zur formvollendeten geometrischen Komposition, sind Spiegel homoerotischen Verlangens.

24 Mit dem britischen Balletttänzer Hugh Laing, der zu den beliebtesten Modellen des Fotografen zählte, war Van Vechten eng befreundet (vgl. Smalls 90).

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Die intensive Bildwirkung wird neben Bewegung und Körperform durch das kontrastreiche Licht- und Schattenspiel auf den Menschenkörpern und dem Bildhintergrund erreicht. Van Vechtens intensive Lichteffekte stehen stilistisch in enger Nachbarschaft zu den kontrastreichen Hell-DunkelEffekten in der expressionistischen Malerei und dem Stummfilm, denen eine eigenständige, der dargestellten Handlungsaktion ebenbürtige Bedeutung zugesprochen wurde. Die durch das bizarre Lichtspiel entstehenden Muskelreliefs erlangen bei Van Vechten skulpturalen Charakter – Leben und Fotografie verschmelzen zu einem Spiegel der Kunst. Die skulpturalen Anordnungen der Körper im Bildraum, die Modellierungen der Körperoberflächen und die durch die Lichtregie stilisierte, gleißende Wirkung der Haut als Farbenoberfläche sind ästhetisches Ausdrucksmittel, die, als Zeichenkörper verwendet, den künstlerischen Gestaltungswillen des Fotografen transparent machen. Die Ähnlichkeit des künstlerisch veredelten Körpers zur formvollendeten Skulptur wird über das fotografische Medium bewirkt, nicht etwa über die unmittelbare Sicht auf die abgebildeten Personen. Die Wahrnehmung wird durch den technischen Blick der Kamera gelenkt, der mit den Erscheinungen der Realität optisch bricht. So spielt neben der formalen Ausgestaltung der mise en scène die Mittelbarkeit der technischen Reproduktion ein wesentliches Element der ästhetischen Wahrnehmung. Das Thema, das Van Vechtens Körperkompositionen verfolgen, ist das Motiv der Imitation selbst, da er die Körper auf künstlerische Weise markiert und damit als Signifikanten vorführt. Van Vechtens Schwarzweiß-Anordnungen betonen als Projektionskörper, als fototechnische Suggestion, den Konstruktionscharakter von Identität und Sexualität, von Rasse und geschlechtlicher Identität, denn die Akte gleichen aufgrund der durch die künstlerische Stilisierung erzielte Loslösung von lebender Anatomik nicht realen Körpern. Der Ausbruch aus gesellschaftlichen Zwängen erfolgt stärker über die Verknüpfung von Homosexualität und ›interrassischem‹ Begehren als doppelter Tabubruch. Van Vechten, der seine eigene Homosexualität zeitlebens geheim hielt, löst auf seinen Fotografien über das Verblenden schwarzer und weißer, nackter und männlicher Leiber die ideologische Verschränkung von Rassen- und Geschlechterdifferenz auf – eine strukturelle Notwendigkeit, über die sich, wie Judith Butler in ihrer Besprechung Nella Larsens Roman Passing verdeutlicht, die heteronormative Gesellschaftsordnung stabil reproduziert (vgl. Löbbermann 2002, 122):

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What would it mean [...] to consider the assumption of sexual positions, the disjunctive ordering of the human as ›masculine‹ or ›feminine‹ as taking place not only through a heterosexualizing symbolic with its taboo on homosexuality, but through a complex set of racial injunctions which operate in part through the taboo on miscegenation. Further, how might we understand homosexuality and miscegenation to converge at and as the constitutive outside of a normative heterosexuality that is at once the regulation of a racially pure reproduction? To coin Marx, then, let us remember that the reproduction of the species will be articulated as the reproduction of relations of reproduction [...]. (1993, 167; Herv. i. Org.)

Die performative Realisierung einer »konstitutiven Verschränktheit von race und gender« (Löbbermann 2002, 144) im Bilde zeigt sich etwa in der Verwendung von Motiven, bei denen das direkte Ineinandergreifen/-haken der nackten Körper zum Thema gemacht wird. Dabei deutet der Bildaufbau auf das Motiv des Spiegelbildes: so steht der helle Balletttänzer Hugh Laing – ein Bein manieriert zur Seite gestreckt, das andere angewinkelt – vor seinem dunklen Spiegelbild, und greift nach hinten in dessen Hände. Das dunkle Double wiederum nimmt die Körperpose seines hellen Pendants, den Tänzer selbst, in der eigenen Haltung auf, empfängt diesen aktiv. Das Körperarrangement auf einer weiteren Fotografie zeigt beide Akteure sich an den Händen greifend. Im Zug- und Gegenzug erwecken sie den Eindruck eines erotischen Kampfes. Die Akteure werden zum dunklen Schatten, zum leuchtenden Spiegel des jeweils anderen, indem die Körperattribute des anderen in den eigenen wiederholt werden. Auf einer weiteren Aufnahme wird die Spiegelung der Körper perfektioniert: der weiße Tänzer steht mit dem Rücken zum Betrachter, die Hände über dem Kopf verschränkt. Scheinbar spiegelverkehrt in der gleichen Pose zum Betrachter gewendet, posiert sein dunkler Gegenspieler. Mit Ausnahme der Hautfarbe könnte es sich um ein und dieselbe Person handeln. Diese Strategie zur Markierung der Indifferenz wird des Weiteren in der spezifischen Körperoberflächengestaltung auf einer weiteren Aufnahme deutlich: der weiße Menschenkörper, der mit dem Rücken zur Kamera vor gleißend strahlendem Hintergrund steht, erscheint aufgrund des Gegenlichteffekts völlig abgedunkelt (Abb. 50). Der durch die spezifische Lichtregie erzielte Oberflächeneffekt wird in der folgenden Aufnahme verfeinert: das dunkle Modell, dessen Hautoberfläche im gleißend einfallenden Licht hell erleuchtet, wirft seine weich geschwungenen, dunklen Körperschattenfigurationen auf

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Abb. 48: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er

Abb. 50: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er

Abb. 49: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er

Abb. 51: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er

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die spiegelblank weiße Lichtgestalt Hugh Laings (Abb. 51). (Haut)Farbe ist Lichtreflexion, ist ein ineinander übergehender, aus dem anderen hervortretender, zerfließender Licht- und Schatteneffekt. Körperpräsentation und Inszenierungskontext verweisen auf race als austauschbare, übertragbare Konzeption. Über das Verschmelzen der Hautfarben zu einem mehrfarbigen Kunstkörper schreibt Vechten in einer Harlemer Tanzlokalszene seines Romans Nigger Heaven: »On all sides of the swaying couple, bodies […] rocked, black bodies, brown bodies, high yellows, a kaleidoscope of colour transfigured by the amber searchlight. Scarves of bottle green, cerise, amethyst, vermilion, lemon« (14). Die fotografische Darstellung gesellschaftlich tabuisierter Randgruppen wird nachfolgend um den schwarzen Fotografen James VanDerZee erweitert, der zur gleichen Zeit in Harlem fotografierte. VanDerZees Fotografien greifen ebenfalls das Tabu schwarzer Homosexualität auf und leisten zusammen mit Van Vechtens Darstellungen einen wichtigen Beitrag zur ästhetischen Vergegenwärtigung homosexueller Subkultur in der Harlem Renaissance. 7.4 James VanDerZee – Artist and Photographer Der Porträt- und Straßenfotograf James VanDerZee gilt als einer der wichtigsten schwarzen Dokumentaristen der Harlems Renaissance. Die Diskussion um den künstlerischen und kunsthistorischen Stellenwert VanDerZees wurde erstmals Ende der sechziger Jahre durch den Wissenschaftler und Fotografen Reginald McGhee entfacht. Im Zuge seiner Recherchen zu der 1969 gezeigten Ausstellung »Harlem On My Mind« über die schwarze Kulturgeschichte Harlems stieß McGhee auf VanDerZees fotografisches Schaffen von etwa fünfzigtausend handsignierten und datierten Bildern. Seine sich anschließende Publikation The World of James Van DerZee25: A Visual Record of Black Americans (1969) liefert eine umfassende Werkschau. Seit McGhees Publikation wurde eine kleine Anzahl größerer und

25 Was den Nachnamen James VanDerZees betrifft, gibt es mehrere Schreibweisen: VanDerZee, Van Der Zee oder Van DerZee. Der Einheit halber wird in der Studie die zusammengesetzte Version ›VanDerZee‹ verwendet, die der Fotograf auch beim Signieren seiner Bilder gebrauchte.

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kleinerer Monographien26 veröffentlicht, die, größtenteils als Bildbände erschienen, einen Überblick über VanDerzees fotografisches Vermächtnis geben. Die Abhandlungen stellen allesamt jedoch keine tiefergreifenden, kunsttheoretischen Bildinterpretationen und Überlegungen zu den stilistischen Wirkungsbezügen und motivischen Einflussnahmen der künstlerischen Moderne an27. »James VanDerZee – Artist and Photographer« – mit diesen Worten bewarb VanDerZee sich und sein Handwerk auf Werbetafeln und Anzeigetexten. Zu seinem ausgewählten Kundenkreis zählten so prominente afrikanisch-amerikanische Persönlichkeiten wie Countee Cullen, Florence Mills, Hazel Scott, Adam Clayton Powell, Sr., um nur einige zu nennen. Der Fotograf, der 1916 in Harlem sein Atelier eröffnete, verstand sich als künstlerisch ambitionierter Porträtist, der Figuren und Gegenstände auf bildnerisch ebenso durchdachte wie effektvolle Weise präsentierte. Seinen Weg als Künstler begann VanDerZee, der gerne berichtet, aus einer Familie Kunstschaffender28 zu stammen, als Maler und Musiker. Über seine Kindheit in Lenox, Massachusetts erzählt er:

26 Vgl. hierzu: Liliane De Cock und Reginald McGhee, James VanDerZee (Dobbs Ferry: Morgan & Morgan, 1973); Deborah Willis-Braithwaite, VanDerZee, Photographer: 1886-1983 (New York: Harry N. Abrahms, Inc., 1993); Liz Conway, Photographs by James Van Der Zee. From the Collection of Regina A. Perry (Memphis: Memphis Brooks Museum of Art, 1988); James Haskin, James Van Derzee: The Picture-Takin’ Man (Trenton: Africa Research & Publications, 1991). 27 Deborah Willis’ Essay »They Knew Their Names«, abgedruckt in dem von ihr herausgegebenen Ausstellungskatalog VanDerZee, Photographer: 1886-1983, übernimmt noch am ehesten die Funktion eines wissenschaftlichen Beitrags. Doch werden auch ihre Überlegungen einer tiefergreifenden kultur- und kunstkritischen Analyse der Arbeiten James VanDerZees nicht gerecht. Vgl.: Deborah Willis-Braithwaite, »They Knew Their Names«, VanDerZee, Photographer: 1886-198 (New York: Harry N. Abrams, Inc., 1993) 8 – 25. 28 »In fact, all my people were artists and musicians, and my sister was still drawing and painting up to the time of her death« (VanDerZee 1969, o. S.). Die Eltern des Fotografen, John und Susan VanDerZee, die als Hausangestellte des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Ulysses S. Grant sowie als Kirchendiener arbeiteten, legten großen Wert auf die künstlerische Erziehung ihrer Kinder.

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It seemed as though we were always painting, or reading or making music together. […] I thought nothing of coming home from school, taking my piano or violin lessons, and then joining my family in the dining room. As children, we learned how to look at something and pay a lot of attention to colors and shapes and shadows. (1978, 28)

VanDerZees Neigung zum Metaphorischen, zum rätselhaft Transzendentalen, die Visualisierung der in der Imagination des Fotografen oder des Abgebildeten aufscheinenden Sinnesbilder, die zuweilen, wie der Fotograf selbst berichtet, das auf bildnerische Evidenz geschulte Auge seiner Kunden verstörten, werden mit den Mitteln sorgfältig arrangierter Komposition, kunstvoller Retusche und Handkolorierung, effektvoller Mehrfachbelichtung, Licht- und Schattenführung erreicht: Sometimes they [pictures] seemed to be more valuable to me than they did to the people I was photographing, because I put my heart and soul into them and tried to see that every picture was better looking than the person – if it wasn’t better looking than the person I was taking, then I wasn’t satisfied with it. And a great many of them used to ask me – perhaps not a great many, but one or two, one girl particularly, […] said ›Mister, can’t you make no pictures that looked like me?‹ […]. I would retouch the pictures and take out the unnecessary lines and shadows so the pictures would always look a little better than they did, and then, before taking them, I would figure out the best angle to try to get as much light and expression and character in the picture as possible, and so they became of interest to me. (VanDerZee 1969, o.S.; Herv. i. Org.)

Die Erfahrungsmomente, die Harlem als Ausgangspunkt und Zentrum der schwarzen Kultur- und Kunstavantgarde hervorbrachte, wirkten sich tief und folgenreich auf VanDerZees bildnerische Fantasie und Erfindungsvermögen aus. Das Medium bot dem Fotografen neben konkreten Erwerbsmöglichkeiten ein Experimentierfeld für die künstlerische Auseinandersetzung mit sich und seiner Zeit. Von den gängigen Interpretationen James VanDerZees als einer der bedeutendsten Porträtfotografen der Harlemer Gesellschaftsprominenz absehend, bildet das Hauptanliegen der nachfolgenden Erörterung die Einordnung seiner Stilsprache im Kontext der thematischen und formalen Schwerpunkte der Harlem Renaissance.

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James VanDerZee und das transsexuelle Harlem Wie Carl Van Vechten beschäftigt sich James VanDerZee, dem seinen Angaben nach Van Vechtens Arbeit nicht vertraut war29, mit der queeren Subkultur Harlems. Während Van Vechten die Möglichkeiten der Entfaltung männlicher Sexualität vornehmlich in der ›interrassischen‹ Homosexualität sucht, wird bei VanDerZee die Überschreitung kohärenter (hetero)normativer Geschlechtermodelle über das Motiv des cross dressing dargestellt. Die Kunst der Harlem Renaissance erfüllte, wie in der Person Carl Van Vechten und dessen künstlerischer Arbeit in beispielhafter Weise verkörpert, die Funktion eines queer site zur Durchbrechung tradierter Rollenvorgaben. Dabei bezog sich das queering der Normen nicht nur auf den Topos der Homosexualität30, sondern im weiteren Sinne auf eine umfassende Neubewertung des Rassen- und Geschlechterverhältnisses: »die Faszination für Harlem als queer site«, so Dorothea Löbbermann in ihrer äußerst gehaltvollen Arbeit zur literarischen (Re)Konstruktion Harlems, »liegt in seiner Doppelbesetztheit durch die Kategorien gender und race, wie sie auf andere Orte, die für ihre schwule Subkultur berühmt sind, nicht zutrifft (in den Zwanzigern: Greenwich Village, Paris, Berlin)« (2002, 122). In Harlems Nachtleben mit weit über hundert Vergnügungsstätten trat eine karnevaleske, ›verkehrte‹ Welt zu Tage, die für die bislang verborge-

29 In einem Interview, das Reginald McGhee für seinen Bildband The World of James VanDerZee mit dem Fotografen führen ließ, gab VanDerZee zu Wort, dass er weder die wichtigen Vertreter der amerikanischen Photo-Secession – wie etwa Alfred Stieglitz oder Edward Steichen – noch Carl Van Vechten gekannt habe. Vgl. hierzu: Reginald McGhee, The World of James Van DerZee: A Visual Record of Black Americans (New York: Grove Press, 1969). 30 Dorothea Löbbermann weist in ihrem Essay »Looking for Harlem: (Re)Konstruktionen Harlems als ›queer Mecca‹, 1925-1995« auf die Instrumentalisierung rassenspezifischer Fragestellungen hin, die der codierten Vermittlung homosexueller Subtexte diente: »Harlem’s ›queerness‹ is characterized by its double construction through the categories of gender and race. Their interconnectedness, ensured by the dual taboo on homosexuality and miscegenation, has led to various strategies of substitution in which matters of homosexuality were hidden in and transported by topics of race« (2001, 55).

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nen Kultur- und Lebensformen marginaler Bevölkerungsgruppen als quasiöffentlicher Raum besetzt wurde und für Schwarze und Weiße gleichermaßen en vogue war. Auf den berüchtigten drag costume balls der zwanziger und dreißiger Jahre, die mitunter von der Hamilton Lodge No. 710 als größtem Veranstalter schwul-lesbischer Bälle im Rock Palace Casino ausgerichtet wurden und in den Hochzeiten bis zu zweitausend Nachtschwärmer anzogen, brachen schillernde Figuren und Persönlichkeiten – Schwarze wie Weiße – in queeren Verkleidungen und Performances mit der traditionellen Geschlechter-, Rassen- und Klassenordnung: Like Halloween parades and certain other street festivals and carnivals, masquerades created a luminal cultural space in which people could transgress – and, simultaneously, confirm – the social boundaries that normally divided them and restricted their behavior. Inversions of race, class, and gender status were central to the conceit of the balls, where participants wore masks and clothing inappropriate to their status. (Chauncey 292)

In den Jazz-Clubs, ballrooms, Cabarets, Bars und Theatern zelebrierten vorwiegend Angehörige der (bildungs)bürgerlichen Gesellschaftsschichten den modernistischen Puls der Zeit – stets darauf bedacht, wie der Historiker George Chauncey darlegt, »to distinguish themselves from the queers who organized and participated in the affairs […]« (259). Hier konnte sich das New Yorker Establishment an der exotisierten, ›unzivilisierten‹ Unterwelt der Parties und Cabarets vergnügen und zugleich die Vorstellung ihrer eigenen Zivilisiertheit wahren31.

31 Chauncey hebt im Kontext der ›interrassischen‹ drag balls der Hamilton Lodge, auf denen sich überwiegend schwarze Gäste am Schauspiel weißer Darsteller vergnügten, die Verkehrung sozialer, rassenspezifischer Setzungen hervor: »The presence of white drag queens at the balls reversed the racial dynamic usually at work in interracial encounters in Harlem, presenting whites as an object of spectacle for blacks. […] For a moment, moreover, the racial differences between black and white spectators, although hardly forgotten, were overshadowed by their common positioning as ›normal‹ bystanders who were different from the queer folk on the ballroom floor« (261; Herv. i. Org.).

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Abb. 52: James VanDerZee, Beau of the Ball, 1926

Abb. 53: James VanDerZee, Metropolitan Women’s Club, 1936

VanDerZee suchte als Mitglied des legendären Clef Clubs, einer Musikervereinigung, die aus informellen Zusammenkünften von Musikern der Ragtime-Ära in Harlem entstanden war und mit wegweisenden Arrangements aus Banjos, Saxophons, Klarinetten und Trap-Drums für musikalisches Aufsehen sorgte, regelmäßig das Harlemer Nachtleben auf (vgl. Perry 9). Auf seinen nächtlichen Erkundungen kam VanDerZee mit der queeren Kultur Harlems in Berührung, die er schillernd in der folgenden Fotografie aufzeichnete. VanDerZee’s Fotografie Beau of the Ball (1926) (Abb. 52) fängt das Ganzkörperporträt eines afrikanisch-amerikanischen Travestiekünstlers in aufwendiger Garderobe ein. Rock und dazugehörige Kostümjacke sind mit großzügiger Pelzbordüre bestückt, der melancholische Blick gedankenverloren in die Ferne gerichtet. Das Blumenarrangement auf dem Tisch zur rechten Seite, der malerisch verträumte Hintergrund umrahmen den vornehmen Auftritt. Die Betonung der Komposition liegt auf dem seitlich abfallenden, eindrucksvoll in Falten gelegten Rock, der die Beine des Modells elegant umspielt. Die Imitation ist kaum eine Überzeichnung, denn die Travestie ist nicht als solche zu erkennen. Die (Geschlechts)Realität wird in einer Weise performiert, als der Rezipient erst im Rahmen von kontextuellen Informationen, wie etwa durch den Titel der Fotografie

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(Beau), erkennen kann, ob es sich um ein angeeignetes, parodiertes Weiblichkeitsbild handelt oder um das Abbild eines vermeintlichen Originals 32. Die kompositorisch genau ausgearbeitete und äußerst anmutsvolle Art der Präsentation zeugt von der Behutsamkeit, mit der VanDerZee seinem Subjekt begegnete, sowie von seiner persönlichen Haltung gegenüber queeren Lebensformen. Auch Metropolitan Women’s Club (1936) (Abb. 53) stellt die Ambiguität der Geschlechterrollen in den Mittelpunkt. Auf den ersten Blick gibt das Bild ein sich lächelnd einander zuwendendes, afrikanischamerikanisches Paar zu erkennen: eine verhältnismäßig groß erscheinende, sitzende Frau in weißem langen Kleid, deren nach oben gerichteter Blick auf den ihres Gefährten trifft. Schwarze Scherpe um ihren Körper sowie das Sträußchen können als Zeichen eines gewonnenen Schönheits-/Kostümwettbewerbs33 gelesen werden. Zu ihrer Linken ihr Partner in dunklem Anzug und aufrechter Haltung. Während er die eine Hand stolz in die Hüfte stemmt, legt er die andere als Geste seiner Zuneigung auf ihre Schulter. Bei eingehender Betrachtung entpuppt sich das Pärchen als Maske des Theatralischen – als drag-Akt. Die angebliche Frau inszeniert sich als Mann und umgekehrt. Die Parodisierung geschlechtstypischer Setzungen stellt die Bedeutung körpersprachlicher Aspekte – das geschlechtstypische, körperlich ausgetragene Beziehungsverhältnis zwischen Mann und Frau über Mimik, Geste, Pose und Positionierung zueinander – im Akt der geschlechtlichen Identifikation heraus: aufblickende, sitzende (passive) ›Frau‹ als Objekt des männlichen Blicks, deren Schönheit als spezifische Leistung gewertet wird, vs. aufrecht stehender (aktiver), hinab blickender ›Mann‹, dessen anerkennender Blick wertet. Seine Hand, die als Zeichen der Verbundenheit behutsam auf ihre Schulter gelegt ist, weist sie, die ›Frau‹ der Konstellation, »Ms. Metropolitan«, zugleich als seinen Besitz aus. Der fotografisch eingefrorene Moment der Parodie, die Konstruiertheit der Darstellung, sensibilisiert den Blick für eine Wahrnehmung der Geschlech-

32 Ein Durchkreuzen normativer Zuschreibungen wird bereits über die Bildbezeichnung Beau of the Ball erreicht, denn der Begriff »Belle of the Ball« ist üblicher Weise ein feststehender Ausdruck für die weibliche Ballschönheit. 33 Die Auszeichnung eines queeren Entertainers zum besten drag-Akt im Rahmen von Kostümwettbewerben war, so Chauncey, »a highly charged affair, with all sides watching to see whether a black or white queen would be crowned« (263).

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terordnung als sozial regulierter, im Wesentlichen körperlich ausgetragener Akt34. Judith Butler weist in ihren Ausführungen zur Geschlechterparodie, die sie in dem inzwischen kanonischen Gender Trouble (1990) entwirft, auf die deessentialisierende Wirkung von Travestie, Cross-Dressing oder ButchIdentitäten, deren Verkehrungen/Parodisierungen heteronormativer Weiblichkeitsvorgaben die imitative Struktur von gender freilegen: The notion of an original or primary gender identity is often parodied within the cultural practices of drag, cross-dressing, and the sexual stylization of butch/femme identities. Within feminist theory, such parodic identities have been understood to be either degrading to women, in the case of drag and cross-dressing, or an uncritical appropriation of sex-role stereotyping from within the practice of heterosexuality […]. In imitating gender, drag implicitly reveals the imitative structure of gender itself – as well as its contingency. […] In the place of the law of heterosexual coherence, we see sex and gender denaturalized by means of performance which avows their distinctness and dramatizes the cultural mechanism of their fabricated unity. The notion of gender parody defended here does not assume that there is an original which such parodic identities imitate. [...] To be more precise, it is a production, which […] postures as an imitation. (1990, 137; Herv. i. Org.)

Indem also, wie Butler darlegt, die Parodie Geschlechterkonstruktionen imitiert, offenbart sie »implizit die Imitationsstruktur der Geschlechteridentität« – und ebenso »ihre Kontingenz« (ibid.). Butler zufolge ist, wie bereits im Kontext der Inszenierung respektabler Selbstbilder ausgeführt wurde, (geschlechtliche) Identität performativ – nicht nur Parodien auf gender. Allerdings lässt sich die Performativität des Geschlechts in Maskeraden

34 Das Motiv des gender crossing/gender slumming wird indes bei Van Vechten auch über die Feminisierung des männlichen Körpers dargestellt: die zärtlichen Gesten und ergebenden Stellungen markieren den entblößten Menschenkörper ›weiblich‹. Die Figuren der Paarkonstellationen, die jeweils als Teil eines sozialen Geschlechterpaares auftreten, sind sowohl ›männlich‹ als auch ›weiblich‹ konnotiert: während die eine Hälfte des Paararrangements in ostentativ dominierenden Gesten und Körperposen die ›männliche‹ Gestalt figuriert, verkörpern die devoten, servilen und kniefälligen Körperposen der anderen Figur den ›weiblichen‹ Gegenpart.

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aufgrund der sichtbaren Differenz zwischen gender und Geschlechterparodie leichter entdecken. Die Fotografie als zeichenhafte Reproduktion eines Weiblichkeitsbildes, das seinerseits auf performativen Akten gründet, schärft den Blick für die ebenso imitative wie kontingente Struktur normativer Identitätsbilder. Der selbstbewusste Bruch mit rassi(sti)schen und geschlechtlichen Grenzen erfolgte zunächst in Form von fiktiven, ambiguen Randgestalten auf Bildern, in Romanen und Gedichten der Harlem Renaissance-Künstler und Autoren, als halböffentliche, quasi-reale Figuren und Maskeraden aus der Welt exotisierter Tanzlokale und Nachtclubs. Als queere Gestalten und Kunstfiguren schuf und besetzte die Künstleravantgarde experimentelle, praktisch wirksame Zwischen-/Interaktionszonen, in denen Verfremdungen eingespielter (Identitäts)Vorgaben erprobt und neue Kulturformen eingeführt wurden. VanDerZees Fotografie Identical Twins (1924) setzt die Inszenierung androgyner bzw. sexuell ambivalenter Personen fort. So lässt sich das Erscheinungsbild des identischen Geschwisterpaares auf den ersten Blick nicht mit stereotypen, geschlechtsspezifischen Körperbildern von Weiblichkeit in Einklang bringen. Maskuline Körperkraft wird mit weiblicher Anmut vereint: die Frauen weisen männlich konnotierte Gesichtszüge und große, nahezu grob wirkende Hände auf, die kräftige Körperstruktur wird von zarter, mondäner Bekleidung umhüllt. Einerseits entsprechen die Frauen den Anforderungen an Femininität in Pose und Kleidungsstil, andererseits brechen sie diese anatomisch. Verstärkt wird der unstimmige Eindruck durch die Dopplung der Erscheinung. Bereits Du Bois gelang es, (schwarze) Identität entlang einer anthropometrischen Bildkonvention verpflichteten Abbildungspraxis zu deessentialisieren und machte dadurch Prozesse der (De)Konstruktion rassischer Identität sichtbar. Neben ihrer entnaturalisierenden Funktion stellen die typologisierenden Porträts die Körper der Abgebildeten allerdings in eine Weise aus, die eine eingehende Bewertung ihrer anatomisch-ethnischen Vollkommenheit bzw. Mangelhaftigkeit ermöglichen soll. Diskontinuität An den problematisierten Konstruktionscharakter von gender und race knüpft die Fragmentierung des menschlichen Körpers, d.h. die Fragmentierung modernen Subjekterlebens, die sich als durch und durch schwarze

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Grunderfahrung erweist. Die der (künstlerischen) Moderne inhärente Tendenz zur Fragmentierung und Erneuerung liegt auf afrikanisch-amerikanischer Seite tief verwurzelt. Der Kulturwissenschaftler Henry Louis Gates, Jr. erklärt in der Einleitung zu der von ihm und Gene A. Jarrett herausgegebenen Aufsatzsammlung The New Negro. Readings on Race, Representation, and African American Culture, 1892-1938 das Motiv der Fragmentierung und Rekonstruktion als elementaren Teil der afrikanischamerikanischen Erfahrung, die sich seit der Verschleppung der ersten Afrikaner in die neue Welt darauf konzentriert, sich neu zu erfinden bzw. anders darzustellen, als sie in der Dominanzkultur repräsentiert ist35: In an accurate […] sense, blacks have felt the need to attempt to ›reconstruct‹ their image probably since that dreadful day in 1619, when the first boatload of Africans disembarked in Virginia. Africans and their descendants commenced their lives in this hemisphere as veritable deconstructions of all that the West so ardently wished itself to be. Almost as soon as blacks could write, it seems, they set out to redefine – against already received racist stereotypes – who and what a black person was, and how unlike the racist stereotype the black original could be. (2007, 3)

Afrikanisch-amerikanisches Erleben erklärt Gates somit als eine seit jeher moderne Realitätserfahrung36. VanDerZees imaginäre Bildräume reflektieren die in der künstlerischen Moderne vorangetriebene Auflösung einer

35 Vgl. hierzu auch: Löbbermann 2002, 253-257. 36 Der in den zwanziger Jahren zur ästhetischen Ausdrucksform avancierte Prozess kultureller Selbsterneuerung gipfelte im engsten Sinne in Alain Lockes Figur des New Negro, dem es vor allem um die Wiederherstellung des eigenen Selbstbildes und Entdeckung der eigenen Differenz jenseits eines weißen Formenkanons ging. Die schwarze Erfahrung, die, wie Gates und vor ihm W. E. B. Du Bois’ double consciousness-Konzept betonen, durch Fragmentierung und Neuerschaffung bestimmt ist, kann als Vorhut des modernen Subjekterlebens in Anspruch genommen werden (vgl. Löbbermann 2002, 254): Migration, Mobilität, die Auflösung und Pluralisierung traditioneller Bindungen und Lebenswelten verlangten dem Individuum ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsbereitschaft ab. Das sich in stets ändernden Zusammenhängen immer wieder neu verortende und sich aus verschiedenen Erfahrungsfragmenten konstruierende Subjekt nahm sich zunehmend dissoziiert wahr.

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durchgängig vermittelten Ganzheit, die die Gegenstände und Subjekte in atomisierte, diskontinuierliche Fragmente zerteilt. Die Imagination stellt bei VanDerZee trotz der dokumentarischen Qualität seiner Porträtbilder, die sich nicht zuletzt durch die repräsentativen Ansprüche seiner Kundschaft rechtfertigt, ein gleichwertiges Wirklichkeitsmodell bereit – das illustrieren seine zahlreichen Post-Mortem-Porträts37. Häufig visualisiert er auf den Totenbildern über die Technik der Mehrfachbelichtung die spirituelle Präsenz verstorbener Menschen als imaginäre Vorstellungswelten der Abgebildeten. Memories (1938) eint die Welt des bildnerisch Wirklichen mit der Bilderwelt innerer Wirklichkeit. Zu sehen ist das besinnliche Porträt einer Familie, die andächtig Rückschau hält: Vater, Tochter und zwei Söhne gruppieren sich um ein Familienalbum, das sie aufgeschlagen auf dem Schoße des Vaters zu ihren Händen halten. Direkt über der geschlossenen Einheit, aus deren Mitte gerissen, das schemenhafte Anlitz einer jungen Frau – die Ehefrau und Mutter der Familie –, deren Präsenz sich noch einmal auf der Fotografie im bildmittig angebrachten Familienalbum wiederholt. Ihre Zugehörigkeit zur familiären Einheit ist ambivalent – die Blickrichtung der jungen Frau, Mischwesen aus bildnerischer Präsenz und körperlicher Absenz, zielt nicht auf ihre Liebsten hinab, sondern nach oben38. »I guess it was just a matter of not being satisfied with what the camera was doing. I wanted to make the camera what I thought should be there, too« (zit. n. Haskins 166), so VanDerZee über die bedeutungsgebende Instanz transzendentaler, metaphysischer Momente in seiner Bildsprache. Es sind nicht nur die fotografisch realisierten Brüche von Raum und Zeit, die bildtechnisch realisierte Diskontinuität von Körper und Geist, die VanDerZees Bildsprache in Beziehung zu den Stilprinzipien der modernen Kunst setzen. Es ist die Betonung der übermächtigen Welt des Unbewussten, der Vorstellungen und Träume, die VanDerZees Bildästhetik mit der avantgardisti-

37 Vgl. hierzu auch: James VanDerZee, Owen Dodson und Camille Billops, The Harlem Book of the Dead (Dobbs Ferry: Morgan & Morgan, 1978). 38 VanDerZees imaginierte Einsichten in die Gedankenwelt abgebildeter Personen verweisen nicht nur auf eine erinnerungswürdige Vergangenheit, sondern auch in eine hoffnungsvolle Zukunft: auf einer doppelbelichteten Fotografie Future Expectations (Wedding Day) (1926), die das Porträt eines Brautpaares zeigt, ist die schemenhafte Erscheinung eines Kindes zu Füßen der jungen Vermählten zu erkennen.

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schen Programmatik seiner surrealistischen Zeitgenossen teilt. An Freuds psychoanalytischer Theorie der Traumdeutung und des Unbewussten anknüpfend, appelliert André Breton, Wegbereiter und Wortführer der surrealistischen Bewegung, in seinem Ersten Manifest des Surrealismus (1924) an die Allmacht der Traumrealität und fantastischer Erscheinungen, dem unbewussten Fabulieren und Assoziieren, die auf die endgültige Ausschaltung jeglicher Kontrolle durch die Ratio und Logik im künstlerischen Schaffensprozess zielt: »Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis heute vernachlässigter AssoziationsFormen, an die Allgewalt des Traums, an das absichtsfreie Spiel des Gedankens« (26-27) und ist der Absicht geschuldet, die »scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität« aufzulösen (ebd. 18). Die Verschmelzung von Traum und Wachzustand, von passivem und aktivem Bewusstsein, wird in VanDerZees Fotografie Daydreams (1925) (Abb. 56) auf kunstvolle Weise umgesetzt: das Bild zeigt eine einsam auf einer gepolsterten Bank sitzende Frau in tiefdunkler Kleidung vor weitläufiger, traumartiger Meereskulisse. Dekorative Blumen auf Schoß sowie zu ihren Füßen umspielen die Gestalt. Ihr Haupt liegt träumerisch in der Beuge ihres angewinkelten Arms, der schwermütige Blick zielt auf das Auge des Betrachters und darüber hinaus weitschweifig in die Ferne. Aus den Meereswogen scheinbar entglitten, zeichnet sich direkt hinter ihr die Gestalt eines Mannes ab – Ursache ihrer gedankenverlorenen Melancholie –, der sich hingebungsvoll zu ihr herabbeugt. Die durch den Effekt der Mehrfachbelichtung schemenhaft angedeutete Männergestalt, durch die sonnenüberflutende Meereswogen rätselhaft hindurch dringen, verstärkt die surreale, traumverlorene Grundstimmung. Meditative Einsamkeit und suggestive Kontemplation, die in vielen Personenporträts VanDerZees anzutreffen sind, rufen die entrückten Stimmungslandschaften des Malers Giorgio de Chirico ins Gedächtnis. Die magische Verlassenheit und Entfremdung der Figuren und Gegenstände suggerieren Zeitlosigkeit, Stille und Leere. Her Cigarette (1935) (Abb. 54) zeigt den vollständig entkörperlichten Abdruck eines Individuums, der sich aus imaginativen Momenten sowie privaten Gegenständen – kürzelhafte Verweise des Selbst – rekonstruiert: ein Rosenbouquet, Duftflakons, Zigarettendöschen, ein noch nicht erloschener Glimmstengel samt Halter sowie die geisterhafte, über dem stilvollen Arrangement projizierte Erscheinung eines Mannes. Die Gegenstän-

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Abb. 54: James VanDerZee, Her Cigarette, 1935

Abb. 55: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er

Abb. 56: James VanDerZee, Daydreams, 1925

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de bilden fragmentarische Spuren weiblicher Existenz, sind sinnhafte Fragmente, durch die die Verortung des Selbst konstitutiv erfolgt. Der moderne Selbstentwurf des Individuums konstituiert sich als bewusste Stellungnahme zu sich selbst; diese besteht aus eigenmächtig gewählten, gleichsam austauschbaren, ablegbaren, heterogenen, zuweilen sich einander widerlaufenden Teilidentitäten – sie wird nicht als essentialistisch begründetes, zeitüberdauerndes und von außen auferlegtes Konzept gedacht. Carl Van Vechten nähert sich dem Thema der Auflösung rigider geschlossener Ich- und Körpergrenzen mittels kubistischer Motivelemente. In die Betrachtung rückt eine Fotografie, die eine zu einem Kunstleib rekombinierte Doppelbelichtung eines nackten Menschenkörpers (Abb. 55) zeigt. Die quaderförmige Überblendung synthetisiert ein Individuum zu einem hybriden Gesamtkörper, der in seiner Zergliederung den Plan des Ganzen, den ganzen Komplex menschlicher Physiognomie, freilegt. Der individuelle Leib transfiguriert vom unersetzbaren Einzelstück zum austauschbaren, vom modernen Konstruktivismus beherrschten und zugleich aufgelösten Leibesgegenstand. Der Abschied von der Utopie des einheitlichen Subjekts, die Desintegration des Menschen als schwarze bzw. moderne Grunderfahrung, finden ihren geeigneten Ausdrucksrahmen in der technologischen Ära: fotografische Weltsicht und die Struktur moderner Subjektpositionen, die sich aus einer Multiplizität unterschiedlicher, widersprechender Teilidentitäten, aus einer Kombinatorik diverser Stile zusammensetzt, entsprechen einander. Susan Sontag resümiert über die von der fotografischen Bilderflut produzierte fragmentierte Sicht der Welt: In a world ruled by photographic image, all borders (›framing‹) seem arbitrary. Anything can be separated, can be made discontinuous, from anything else [...]. Through photographs, the world becomes a series of unrelated, freestanding particles; and history, past and present, a set of anecdotes and faits divers. (22-23; Herv. i. Org.)

Das fotografische Bild der Welt, das die Erscheinungen der Wirklichkeit immer nur ausschnittsweise wiedergeben kann, reflektiert die fragmentarische Gestalt moderner Selbstkonstituierung, die, wie das Bildfragment, immer auf den Akt der Interpretation, den Akt der Aktualisierung, beruht und bei der die Frage der Identifikation immer wieder neu gestellt wird. Die Gedanken zur ästhetisierten Auflösung des Subjekts leiten in den nachfol-

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genden Abschnitt über, der das Augenmerk verstärkt auf die in der künstlerischen Moderne geforderte Dissoziation der künstlerischen Mittel richtet, die bereits die Besprechung der Bilder von Winold Reiss, Aaron Douglas und William H. Johnson veranschaulichte: Fläche, Farbe und Form vermitteln sich nicht länger durch das kausal zusammenhängende Bildganze, sondern explizieren sich nunmehr selber als primäre Bedingungen der Bildaussage. Hunter Spirit – Logos des Bildlichen VanDerZees Fotografie Hunter Spirit (1926) (Abb. 57) spielt bereits im Titel auf das Stereotyp des schwarzen Mannes als subversive Bedrohung an: Die schwarze Silhouette eines männlichen Körpers ragt bedrohlich vor unruhigem Hintergrund aus kahlen Baumstämmen, bizarren Astformationen und diffusem Dickicht hervor. In der einen Hand hält er ein Messer, die andere ist zur Faust geballt. Der unregelmäßige Rahmen der Fotografie, der die fiebrigen Motivformen fortführt, intensiviert das Geschehen im Bilde. Die finstere Gestalt, die in gebückter Haltung durch das Buschwerk huscht, evoziert das Stereotyp des hinter dem Dickicht lauernden Triebtäters, der unvermutet aus dem Hinterhalt rechtschaffene Bürger überwältigt. VanDerZees Fotografie Hunter Spirit radikalisiert die in Van Vechtens Fotografien vorgenommene Stilisierung des schwarzen Körpers als künstlerische Zeichenfläche auf einen Nullpunkt, indem sie die Physiognomie des menschlichen Körpers nun vollständig zugunsten einer schwarzen Silhouette vor ebenso silhouettenartigem Hintergrund auflöst. Die abstrahierende Vereinfachung des Körpers ist nunmehr assoziatives Ikon, kulturell aufgeladenes Bildzeichen, in dem ein ganzes Spektrum möglicher (vorwiegend negativ konnotierter) Bedeutungsvarianten verdichtet sind, ohne dass es weiterer sprachlicher Erläuterungen bedarf. Die dunkle Figur – mehr Zeichen als Abbild –, die sich vor dem mystisch-düsteren Hintergrund deutlich abhebt, selektiert gewissermaßen die Wahrnehmung auf die grammatikalischen Einzelteile des Bildlichen. Die bildenden Künstler der klassischen Moderne gaben die Erscheinungen nicht einfach wieder, sondern verfolgten durch den Einsatz verknappter Bildmittel das Ziel, die Formen Wirklichkeit als Zeichensprache ›lesbar‹ zu machen. Die Auflösung des Perspektivenraumes ermöglichte eine optische Neugliederung der zeichnerischen Mittel im Formalismus der

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Fläche. Die formale Reduzierung des Bildganzen auf geometrische Einzelteile bewirkte ein reflexives Sein der Formen innerhalb des Bildraumes – die zum Selbstwert erhobene Farbe erweist sich als repräsentationslos. An die Stelle der gegenständlichen Darstellung tritt die Konstruktion aus autonomen Formen mit den reinen, d.h. für sich selbst stehenden, Mitteln der Farbe (vgl. Shadowa 45). Die Stilprinzipien der klassischen Moderne, die, in Analogie zur poststrukturalistischen Linguistik39, die Auflösung der bildlichen Einheit in ›grammatikalische‹ Sinneinheiten – von figurativen Zitaten bis hin zu gegenstandslosen Grundformen – vorantrieb, schufen letztlich die Voraussetzungen für eine semiotische Bedeutungsbestimmung des Bildes als bildhafter Text oder visuelles Zeichen40. Die Überlegungen des Kunsthistorikers und Philosophen Gottfried Boehm entwerfen eine Logik des Bildhaften, die das Bild nicht mehr auf Sprache als Fundament der Episteme zurückführt. Der Begriff des iconic turn, den Boehm 1994 in seiner Arbeit Was ist ein Bild? analog zum Begriff der ›linguistischen Wende‹ einführte, schlägt eine im Bildlichen

39 Die relationale Verknüpfung einzelner Zeichen in universelle Beziehungssysteme bildet das gedankliche Fundament der Semiotik (des Strukturalismus). In Analogie zur puren und autonomen Wesenseinheit von Form und Farbe in den neuen Kunstrichtungen führte die Zerlegung der Sprache in ihre zeichenhaften Einzelteile, wie sie die poststrukturalistische Linguistik vornahm, zu einer grundsätzlichen Befragung des bedeutungskausalen Zusammenhanges zwischen Signifikant und Signifikat. 40 Der französischen Literaturkritiker und Semiotiker Roland Barthes, der in seinen Überlegungen die spezifischen Strukturmerkmale des fotografischen Zeichens in Auge fasste, geht von der Existenz visueller Codes aus, die, ähnlich wie der sprachliche Code, nach den Regeln der Rhetorik verwendet werden können. In seinem einflussreichen Essay »Rhetorik des Bildes (Rhétorique de l’image)« (1965) entwirft Barthes auf der Grundalge der Saussure’schen Zeichentheorie eine visuelle Semiotik, die zwischen denotativen (formbezogenen) und konnotativen (verständnisbezogenen) Botschaften visueller Zeichen unterscheidet. Dabei bildet die Konnotation ein sekundäres semiologisches System, das das primäre denotative semiologische System als Signifikant enthält. Vgl.: Roland Barthes, »Rhetorik des Bildes«, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990 [1965]) 28-46.

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angelegte Erkenntnisinstanz vor41. Sprache selbst begründet sich letztlich in einer bildlich gefaßten Vorstellung von etwas, was das Wort benennt. Eine kritische Analyse der Sprache erfordert, wie Boehm geltend macht, notwendigerweise immer auch die Befragung der der Sprache innewohnenden Vorstellungsbilder: Bilder besitzen eine eigene, nur ihnen zugehörige Logik. Unter Logik verstehen wir: die konsistente Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln. Und erläuternd füge ich hinzu: Diese Logik ist nicht-prädikativ, das heißt nicht nach dem Muster des Satzes oder anderer Sprachformen gebildet. Sie wird nicht gesprochen, sie wird wahrnehmend realisiert. (Boehm 2004, 28)

VanderZees Hunter Spirit, bei der die Bildformen bis auf ein Äußerstes verknappt sind, erscheint im Hinblick auf Boehms Ideen einer im Bildzeichen verhafteten Sinndeutung insofern interessant, als die Darstellung eine Reihe sinnhafter, bildhaft wahrnehmbarer Bedeutungsmöglichkeiten offeriert, die sich aus verknappten, genuin bildnerischen Mitteln zusammensetzen. Das nahezu entkontextualisierte und symbolisch verdichtete Körperzeichen macht den auf das bildliche Zeichen zurückgeführten Sinngebungsprozess lesbar. Die Fotografie Hunter Spirit, die VanDerZee sehr wahrscheinlich für eine Theaterproduktion angefertigte, nimmt klaren Bezug auf die flächigen, geometrisch abstrahierenden Silhouettefigurationen des afrikanisch-amerikanischen Harlem Renaissance-Künstlers Aaron Douglas. In seinen Bilderwerken, die stilistisch eng an die modernistischen Harlem-Zeichnungen seines Lehrmeisters Winold Reiss angelehnt sind, kombiniert der Maler Stilelemente der expressionistischen Druckgraphik, des Kubismus und Expressionismus mit afrikanischen und afrikanisch-amerikanischen Themenvorgaben:

41 Diese Hinwendung zum linguistischen Paradigma, die der Erkenntnis geschuldet war, dass sich alle Erfahrung nur sprachlich vermitteln ließe, machte Richard Rorty in der Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Aufsatzsammlung The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method (1967) publik. Die »sprachkritische Wende« wurde zum Synonym eines theoretischen Programms, das so unterschiedliche Disziplinen wie die analytische Philosophie, die Semiotik und Semiologie, den (Post)Strukturalismus oder auch die Hermeneutik bündelte.

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Abb. 57: James VanDerZee, Hunter Spirit, 1926

Abb. 58: Aaron Douglas, Flight (aus der Emperor Jones-Serie), 1926

Reiss encouraged Douglas to explore modern art while reviving African and other pre-modern, non-Western design forms. Reiss also urged him to explore Egyptian art and to include American Negro spirituals, dance, and folklore as symbolic motifs in his visual designs. He hoped that Douglas would develop African American designs and portraits without stereotyping African designs. (Kirschke 62)

Ein Vergleich der Fotografie Hunter Spirit bietet sich mit Douglas’ vierteiliger Emperor Jones-Holzschnittserie (Abb. 58) an, die im gleichen Jahr entstanden ist. Die literarische Vorlage zu den Drucken liefert Eugene O’Neills populäres Theaterdrama The Emperor Jones (1920)42. Die Drucke

42 Der Schwarze Brutus Jones, ein ehemaliger Pullman-Schlafwagenschaffner, hat sich eigenmächtig zum Herrscher einer westindischen Insel ernannt. Die einheimische Bevölkerung, die der Tyrann gnadenlos ausbeutet, entschließt sich, unter der Führung ihres Häuptlings den Tyrannen zu stürzen. Die Flucht des Herrschers aus seinem Palast durch den Urwald wird von den unheimlichen Trommelklängen der Eingeborenen begleitet, die ihn mit heidnischen Ritualen besiegen wollen. Jones, zunächst selbstbewusst und siegessicher, bricht in Panik aus, als er von unheimlichen Erscheinungen, die ihn mit seinen begangenen Un-

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schildern in vier alptraumartigen Szenen den Aufstieg, die Flucht und den abschließenden Fall des selbsternannten Kaisers Brutus Jones, dessen Schreckensherrschaft die Eingeborenen einer westindischen Insel stürzen. Das Dschungelmotiv sowie die dunkle Gestalt des zwielichtigen Brutus Jones bestimmen das Bildgeschehen. Die angsterfüllten Stimmungswerte werden über die geometrischen, spitz zulaufenden Motivstrukturen erreicht. Bizarre Verzerrung und Überformung versinnbildlichen gestörte, innerseelische Zustände und Bewusstseinswelten der wahnhaften Kreatur Jones und scheinen gleichsam von ihr ausgelöst worden zu sein. Die abstrahierten Formen führen ihr eigenes Leben, die Douglas und der Betrachter in sie hineinprojizieren und dem fliehenden Tyrannen zum Verhängnis werden. VanDerZees abstrahierende Ausführung erreicht eine vergleichbare düstere Aussagekraft. 7.5 Bewegter Körper – Entfesselter Leib: Die Körpersymbolik bei Morgan und Marvin Smith Die Diskussion der fotografischen Darstellung schwarzer Stadtkultur soll um die Aspekte der körperlichen Bewegung erweitert werden. Harlems Nachtclubs, Tanzlokale und Kabaretts, in denen die neuen Rhythmen und Formen des Jazz erprobt und perfektioniert wurden, sind die Schauplätze der dynamischen Momentaufnahmen von Morgan and Marvin Smith43. Dabei wird der schwarze Körper – in bewusstem Gegensatz zu den leblosen, starren und ›zivilisierten‹ Körperbildern der typisierenden Fotografie und Lynching-Fotografie – als impulsive, sexuell begründete Entfaltungsform und den darin zum Ausdruck kommenden Möglichkeiten eines neuen Körperbildes erfasst. Neben James VanDerZee konnten sich Morgan and Marvin Smith als wichtige Chronisten der Harlem Renaissance etablieren. Deren Atelierstudio, das sich in unmittelbarer Nähe zur berühmten Varieté-Bühne, dem Apollo Theatre, befand, wurde regelmäßig von prominenten schwarzen Persönlichkeiten aus Politik, Sport und der Unterhaltungskunst aufgesucht.

taten konfrontieren, heimgesucht wird. Völlig panisch und orientierungslos läuft der Gejagte seinen Verfolgern direkt in die Arme und wird von diesen getötet. 43 Die Zwillingsbrüder spezifizierten ihre Arbeiten bewusst nicht, so dass die Fotografien beiden zuzuordnen sind.

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Die Zwillingsbrüder, die während der Great Depression in den dreißiger Jahren im Alter von 23 Jahren aus Kentucky in Harlem eintrafen, vermieden es bewusst, ein von Gewalt und Armut gezeichnetes Bild der schwarzen, urbanen Lebensrealität festzuhalten: »I had negative feelings«, so Morgan Smith über seine selektive Motivauswahl, »about showing anything that was negative activity going on in Harlem, or any place else – such as kids not clothed well, not groomed, and so forth« (zit. n. Miller 12). Die konkreten Folgen, die struktureller Rassismus und die anhaltende Binnenwanderung auf dem städtischen Wohn- und Arbeitsmarkt auslösten, wurden zunächst von weißen Fotografen im Rahmen des vom New Deal geförderten fotografischen Sozialdokumentarismus der Farm Security Administration (FSA) aufgegriffen. Die Fotodokumentation Harlem Document (1938-1940), die der Photo League-Fotograf Aaron Siskind initiierte, stellte auf weißer Seite ein weiteres, größer angelegtes Fotoprojekt dar, das sich mit den Lebensverhältnissen im urbanen Ghetto sozialkritisch auseinandersetzt44. Bis in die dreißiger Jahre wurden in der schwarzen Fotografie Aspekte der Armut und Verelendung als soziale Folgeerscheinungen bzw. Variante der Sklaverei weitestgehend in den Hintergrund geschoben. Schwarze Fotografen leugneten die gesellschaftliche Realität allerdings nicht. Ihr Hauptinteresse lag vielmehr in der Verbreitung eines konstruktiven Bildes, dessen Ausdruckskraft die Wirklichkeit durchdringen sollte (vgl. Löbbermann 2002, 93)45. Den Diskurs zur Vergangenheits-

44 Der Fotoessay Harlem Document, an dem sich mehrere Fotografen beteiligten, stellt das soziale Milieu der Harlemer Arbeiterklasse durch drastische Schilderungen des desolaten Lebensraums in den Mittelpunkt. Das Hauptaugenmerk der Bilder liegt auf der Darstellung des räumlich-situativen Umfelds der Ghettobewohner, die die Wahrnehmung für die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge sensibilisieren soll. 45 Trotz bewusster Verklärung/Verdrängung der eigenen Vergangenheit (und Gegenwart) war das Trauma der Sklaverei für die Herausbildung afrikanischamerikanischer Identität allgegenwärtig und konstitutiv: als Bezugspunkt für die Konstruktion des bürgerlich ehrbaren Schwarzen sowie als Anknüpfungspunkt für modernistische Inszenierungen des ›wilden‹ Schwarzen, der einen Gegenentwurf zum gutmütigen, moralisch überlegenen und sich ewig anpassenden Schwarzen darstellte. Dies bedeutet, dass die Vergangenheit von chattel slavery,

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orientierung in der schwarzen Fotografie vorausgreifend, sind in Prentice Herman Polks pastoralen Genrebildern der dreißiger Jahre Anzeichen einer Aufarbeitung erkennbar, die die traumatische Vergangenheit als schwarze Erinnerungskultur für gegenwärtige Sinnbedürfnisse nutzbar macht. Mit dem schwarzen Fotografen Gordon Parks, der als erster und einziger schwarzer Fotograf der FSA das Alltagsleben der Afroamerikaner in den Städten schilderte, setzte Anfang der vierziger Jahre eine Entwicklung ein, in der das Thema der schwarzen, städtischen Verarmung aus afrikanischamerikanischer Perspektive ebenso formästhetisch erprobt wie sozialkritisch in Augenschein genommen wurde. 1948 erstellte Parks im Auftrag des Life-Magazins eine gesellschaftskritische Fotoreportage über das Harlemer Gangdasein. Die Arbeit Tiny Bunch stompin’ at the Savoy (1938) der Smith-Brüder (Abb. 60) verdichtet dynamische Aspekte wie Tempo, Rhythmus, Atemlosigkeit zu einem Moment ekstatischer Erstarrung. Schauplatz der Aufnahme stellt der berühmte Savoy Ballroom46 – Schmelztiegel verschiedenster Musik- und Tanzstile der Jazz-Ära –, in dem sich alle Bevölkerungsschichten und Hautfarben zum beschwingten Miteinander trafen und der Lindy Hop sich zu einer besonderen Attraktion entwickelte. Das Bildzentrum bestimmt der beleibte, hemmungslos swingende Tänzer Tiny Bunch, der in energisch kraftvoller Ausführung des Lindy Hop seine Tanzpartnerin geradewegs über die Schulter befördert. Morgan und Marvin Smith Motive halten Momente entfesselnder, ekstatischer Bewegung als unmittelbar wirksame Entsprechung der Musik fest, die den Körper in lodernde Atemlosigkeit versetzt. Die sexuelle Natur des Körperlichen wird zur Maßgabe eines neuen Körperbildes, das Klischeebilder von übersteigerter Sexualität und niederen Triebneigungen, für die dunkelhäutige Menschen im hegemonialen Diskurs stehen, selbstbewusst als Erlebnis- und Befreiungsmoment reklamiert. Kraft, Hitze, Rhythmus, Gliederspannung und Erregung sind bildkompositorische Mittel und ästhetischer Ausdruck einer am Körper orientierten Befreiung von physischen Zwängen und repressiven Reglementierungen des schwarzen Körpers. Die körperliche Unbeweglichkeit,

Armut und Gewalt als ein identitätsbedrohender Faktor wahrgenommen wurde, andererseits aber identitätsstiftende/-stabilisierende Funktionen erfüllte. 46 Neben dem Cotton Club zählte der Savoy Ballroom zu den bekanntesten Clubs der Swing-Ära.

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die das System der Sklaverei oder die bewegungseinschränkenden Barrieren der Segregation schwarzen Menschen auferlegt, verläuft parallel zur sozialen Immobilität. Der Eindruck schwereloser Unkörperlichkeit stellt sich mit den Mitteln der Fotografie ein: Lindy Hoppers (1941) erfasst den Augenblick eines schwindelerregenden Höhenflugs (Abb. 59); die in der Bewegung angehaltene, waghalsige Wurffigur der jungen Tänzerin Ann Johnson Abb. 59: Morgan und Marvin verleiht dem Wunsch nach grenzenloSmith, Lindy Hoppers, 1941 ser Bewegungsfreiheit energisch Ausdruck. Die Fotografie Ethel Waters at the Savoy Ballroom (ca. 1939) zeigt die Jazz-Sängerin Ethel Waters zusammen mit ihrem Tanzpartner den Erlebnisraum durch ausschweifend tänzerische Körperbewegungen kraftvoll und sinnlich zugleich einnehmend. Rassenübergreifende Lebensfreude, aktive Lebensbejahung und atmosphärische Dichte werden über die in leichte Unschärfe getauchte Kulisse aus belustigten Gesichtern unterschiedlicher Hautfarben reflektiert, die den Raum in der Tiefe begrenzt. Es sind expressive Gesten der Freude und Begeisterung, die das spielerisch Leichte und Elevierte der eigenen Existenz wiedergeben. Die Bilder von Morgen und Marvin Smith zeichnen eine neue Sinneskultur auf, in der der schwarze Körper als Ursache gefühlsbetonten, sinnlich-erotischen, kraftvollen und energiegeladenen Erlebens hervorgehoben wird. Die Bilder laufen konträr zu Repräsentationen disziplinierter und lebloser Körperstarre, die schwarzen Menschen ihre Identität verweigert – die widerspiegelt, dass sie machtlos sind. Die Dinghaftigkeit des Körpers als Leichnam, als toter Körper, wird in ihr Gegenteil verkehrt: von einem Instrument der Disziplinierung, Kontrolle und Ausgrenzung des durch den schwarzen Körper repräsentierten Anderen (einschließlich des als anders erfahrenen eigenen Körpers) wird der schwarze Körper nunmehr zur primären Bedingung der Selbstaffirmation. Die auf die absolute Bezwingung, Disziplinierung und Objektivierung ausgerichtete (Körper)Ästhetik der Lynching-/typologischen Fotografie wird bei Marvin und Morgan Smith zugunsten eines sinnlich bewegten Leibes aufgebrochen. Marvin und Mor-

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gan Smith’ dynamische Körperbilder, die auch auf ihren Fotografien schwarzer prominenter Sportler der dreißiger und vierziger Jahre präsent sind, gründen auf dem Prinzip des Impulsiven und Lebendigen, das keine Begrenzungen mehr kennt, das grenzenlos, allmächtig und souverän ist. Die Auflösung des physi(kali)schen Körpergefängnis in einen schwerkraftbefreiten, utopischen Leib, die so vereinzelt ohne die Fotografie nicht anschaulich werden kann, wird unter den Bedingungen des technisch Blicks realisiert. Die bildkompositorische Anerkennung des beschleunigten, tobenden Leibes, die die fortschreitende technische Entwicklung ermöglichte, gibt indes eine ästhetische Aufwertung des Flüchtigen, Zufälligen und Ungeschönten wieder, wie sie für die avantgardistischen Bildkünste kennzeichnend ist. Die Fotografie Dancers Backstage at the Apollo (1936) (Abb. 64) zeigt vier leicht bekleidete Revuetänzerinnen in einem Umkleideraum des berühmten New Yorker Apollo Theater. Der ungeschönte Frauenkörper, dem sich die sehr knappen, locker sitzenden Kostüme anpassen, steht im Mittelpunkt. Es ist ein intimer Blick hinter die Bühne, vor dem Auftritt in der Öffentlichkeit, der kein Publikum voraussetzt. Die Körperpflege, aber auch Momente der Entspannung werden gezeigt: so liest eine der Tänzerinnen ein Buch und raucht an einer Zigarette, während die andere das Haar ihrer Kollegin kämmt. Die Intimität des Augenblicks ist keineswegs entblößend oder voyeuristisch, registriert doch der zwanglose, frivole Blick einer der Frauen frontal in die Kamera die Anwesenheit eines Gegenübers. So auf sich selbst zurückgeworfen ist dieser ebenso sehr ›Erblickender‹ wie ›Erblickter‹. Ihr direkter Blick off stage führt indes den voyeuristisch getönten, anonymen Zuschauerblick auf die schonungslos exponierten, perfektionierten und kontrollierten (weiblichen) Körper on stage vor Augen, der durch festgelegte Regeln und Erscheinungsweisen im Vollzug der öffentlichen, weitestgehend durch den männlichen Blick dominierten Körperschau definiert ist. In der ungewohnt nüchternen, sexuell zurückgenommenen Präsentation des menschlichen Körpers, die sich deutlich von James VanDerZees weichzeichnerischer, elegisch verklärter Bildromantik47 unterscheidet, klingt zudem das dokumentarische, antiästhetizistische Prinzip der straight

47 Die Welt so einzufangen, wie sie ist, nicht wie sie sein sollte, steht in klarer Abgrenzung zu James VanDerZees Bildästhetik, die mittels Retusche, Doppelbelichtung, Handkolorierung, Requisite die Motive malerisch überhöht. Marvin

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Abb. 60: Morgan and Marvin Smith, Tiny Bunch Stompin’ at the Savoy, 1938

Abb. 61: Winold Reiss, Drawing in Two Colors (Interpretation of Harlem Jazz I), 1915-1920

photography an, die in den dreißiger Jahren eine klare, sachlich-nüchterne Ästhetik des Alltäglichen verfolgte. Edward Steichen und Alfred Stieglitz, die sich zunächst als Kunstfotografen im piktorialistischen Stil einen Namen machten, setzten sich bereits ab 1915 für ein unverfälschtes, von jeder künstlerisch-malerischen Einflussnahme unabhängiges Aufnahmeprinzip ein48. Edward Weston vertrat als Begründer der Gruppe f/64 diesen Fotografiestil am vehementesten, welcher sich auf eine präzise, detailgenaue Wiedergabe ohne künstliche Eingriffe verpflichtete. In den Werken der Harlem Renaissance-Maler wurden die neuen Musikund Tanzstile als Kunstform expressiver Lebendigkeit und Körperlichkeit wiedergeben. Winold Reiss’ expressionistisch-kubistischer Malstil erreicht und Morgan Smith’ ›ungeschönter Bildrealismus‹ erklärt sich nicht zuletzt aus ihrer Tätigkeit als freischaffende Fotojournalisten für so namenhafte schwarze Zeitungen wie Chicago Defender, Baltimore Afro-American oder Pittsburgh Courier, der einen sachlichen Blick auf die Wirklichkeit verlangte. 48 Die beiden letzten Ausgaben von Camera Work, die 1915 als Doppelheft herausgegeben wurden, widmete Stieglitz ausschließlich dem Fotografen Paul Strand, dessen klarer, versachlichter Stil das Ende weichzeichnerischer Romantik markierte.

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Abb. 62: Archibald J. Motley, Jr., Bronzeville at Night, 1949

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Abb. 63: William H. Johnson, Jitterbugs (III), ca. 1941

durch die starke Reduktion und Verzerrung geometrischer Formen eine Dramatisierung bewegungsreicher Inhalte. Die Dominanz diagonaler Achsen und Linien trägt maßgeblich zur spannungsgeladenen Raumdynamik bei. Körper und Raum stehen dabei im Einklang; entsprechend verzerrt verläuft die Gestaltung der menschlichen Figuren, deren Formen sich schiefwinkligen Häusern, verformten Straßenfluchten und einengenden Innenräumen anzupassen haben. Drawing in Two Colors (Interpretation of Harlem Jazz I) (1915-1920) übersetzt Lebensfreude, Rhythmik und Klang in geometrische Zeichen (Abb. 61). Die eigenwillige Farbgestaltung folgt den Forderungen von gefühlsintensiven, durch die Rhythmen der Musik ausgelösten Bewegungsabläufen. So ist die mittels drastisch überformter Körper- und Gegenstandsformen geschaffene Ausdruckskraft des Jazz auch in den scharf gegeneinandergesetzten Hell-Dunkel-Kontrasten fassbar. Der schwarze Maler William H. Johnson (1901-1970) widmete eine ganze Werkserie den tänzerischen Formen und Variationen des Jitterbug. Die Reduktion geometrischer Formen, die Auslassung von Formendetails nachgestaltenden Charakters sowie der Einsatz monochromer Bildflächen bestimmen seinen Malstil. Allerdings hält sich die Farbgestaltung weitestgehend an den Vorgaben aus der Wirklichkeit. Seine Serie Jitterbugs (19401941) zeigt ein eng umschlungenes, Swing tanzendes Paar in unterschiedlicher Ausführung. Die Rhythmen der Big Band sind in den abstrahierten, isoliert durch den Raum schwebenden Zitaten (Trompete, Klarinette, Schlagzeug) präsent. In Jitterbugs (III) (1941) (Abb. 63) betont Johnson die Elemente der Bewegung und der Körperkraft über langestreckte, scharf

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angewinkelte Beine und unverhältnismäßig groß erscheinende Hände der Figuren. Die Loslösung der Tänzer aus einem dinglich-fassbaren Raumgefüge reduziert das Geschehen auf seine Grundformen. Auch in Archibald Motleys (1891-1981) Bildern entpuppen sich Straßengassen, Ballsäle, Tanzlokale und Clubs als exzentrische Orte unbändiger Bewegung und energischer Lebenslust. Das expressive Treiben der zumeist dunkel gehaltenen Straßen- und Tanztempelszenen wird durch den Einsatz gebündelter Lichtkegel und Lichtfetzen intensiviert, die gleißend aus Straßenlaternen, Leuchtreklamen, Auslagescheiben und Lampen strahlen. Neben dem Einsatz von hell ausgeleuchteten Einzelpartien werden die Stimmungswerte zudem durch diffizil modellierende, sanft verwischende Lichteffekte bestimmt, die Konturen verspielen und verwischen lassen. Intime Gefühlsund Beziehungsverhältnisse der Figuren manifestieren sich in stilisierten Körpern und Bewegungsabläufen. Dancers Backstage at the Apollo verlockt zu einem Vergleich mit Archibald Motleys Gemälde Between Acts, das ein Jahr zuvor entstanden ist. Der schwarze Künstler Archibald Motley, Jr., der zu den bedeutendsten Malern der Harlem Renaissance gehörte, begegnete mit scharfer Ironie gesellschaftlichen Zwängen und Konventionen – insbesondere dort, wo es um die Darstellung des Verhältnisses der Rassen zueinander geht49. Viele seiner farbgewaltigen Bildwerke handeln von den heimlichen, tabuisierten Brechungen und Nebenwegen in der amerikanischen Gesellschaft. Dabei richtet er seinen Blick auf das neu entfachte Selbstbewusstsein des Schwarzen. Die Szenen seiner Bilder spielen sich häufig in dem pulsierenden Nachtleben Bronzevilles, dem sogenannten black belt Chicagos, ab, das Motley, selbst Teil der städtischen Bourgeoisie Chicagos, aus unmittelbarer Nähe studieren konnte. Motleys Figuren treten häufig als stereotype, mehr oder weniger gesichtslose Geschöpfe in Erscheinung. Was bei Motley als Hang zur Deformation interpretiert werden

49 Motley, selbst von indianischer und afrikanisch-amerikanischer Abstammung, beschäftigt sich in seinen Werken sehr ausgiebig mit den vielfältigen Nuancen und Erscheinungsformen schwarzer Identität, d.h. mit der identitätsstiftenden und -verschiebenden Wirksamkeit dieser Farbennuancen in der schwarzen Selbst- und Fremdwahrnehmung. In etlichen Frauenporträts zeichnet er über unterschiedliche Hautfarbenabstufungen gesellschaftlich kategorisierte Identitätstypen nach, die er entsprechend bezeichnet: Mulatress with Figurine and Dutch Seascape (ca. 1920), The Octoroon (1922), The Octoroon Girl (1927), etc.

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könnte, ist zu allererst der Versuch, den menschlichen Körper mit den Mitteln der Malerei als sozial geformten Gesellschaftskörper zu beschreiben, der sich nicht auf ›natürliche‹ Weise herstellt, sondern das Resultat künstlicher, künstlerischer und kultureller (Ver)Formungen ist. Between Acts (1935) (Abb. 65) zeigt ein komplexes Stimmungsgeflecht, das zwischen Distanz und Nähe, Privatheit und Öffentlichkeit, Selbstkontrolle und Verdinglichung, Reduzierung und Überzeichnung oszilliert. Zunächst fallen die halbnackten Leiber zweier Frauen im Umkleidebereich eines Burleske-Theaters auf. Die selbstgefälligen Figuren scheinen sich allein für ihr eigenes Wohlbefinden oder ihren körperlichen Zustand zu interessieren: die eine der Frauen kämmt sich, mit dem Rücken zum Betrachter gewandt, vor einem Spiegel die Haare, während die andere, selbstversonnen in sich vertieft, an einer Zigarette zieht. Das dunkelrosarote Inkarnat der nackten Leiber, das sich über Wände, den Teppich und Fußboden sowie die mondäne Robe im Bildvordergrund zieht, unterstreicht den fleischlichen Aspekt des weiblichen Körpers als erotisierter Fetisch. Die durch die perspektivische Verflachung reduzierte Raumtiefe – Wand und Fußboden erscheinen als einheitliche Fläche – sowie die Ausarbeitung der Körper, die detaillierter gestaltet sind als die Gesichter, setzen die nackten Leiber äußerst plastisch in das Bild. Die geöffnete Tür gibt den Blick frei auf die überzeichnete Gestalt eines schwarzen Mannes mit Anzug, Stock und Zylinder. Sie erinnert an die Minstrel-Charaktere des Zip Coon50, ein äußerst tölpelhafter Dandy und Frauenheld, der an dem Versuch, sich weiße Lebens- und Kulturformen anzueignen, kläglich scheitert. Die Zweiteilung des Bildraumes reflektiert die soziale Hierarchisierung auf geschlechtlicher Ebene51 bzw. die Dualismen (Entblößung/Bekleidung, Privatheit/Öffentlichkeit, Objekt/Subjekt), durch die die Figuren in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die Geschlechterhierarchie konstituiert sich durch die erhöhte Stellung des Mannes im Bild sowie durch die Schaulust, die in der Figur des Mannes vor geöffneter Türe angedeutet wird. Die Frauen scheinen sich im Gegensatz zu den Tänzerinnen in Dancers Backstage at the Apollo der Anwesenheit eines außerbildlichen Betrachters nicht bewusst zu

50 Nach dem Bürgerkrieg gab es vermehrt auch schwarze Minstrel-Künstler. 51 Die im Bilde angedeuteten Schranken beziehen sich nicht unbedingt auf die race-Kategorie, da Motley schwarze Identität häufig in der Darstellung sehr hellhäutiger, schwarzer Frauen thematisiert.

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Abb. 64: Morgan und Marvin Smith, Dancers Backstage at the Apollo, 1936

Abb. 65: Archibald J. Motley, Jr., Between Acts, 1935

sein und werden stärker als Objekt eines voyeuristischen Blicks porträtiert. Durch die Art der Präsentation sind sie auf ihre Körperlichkeit bzw. Verfügbarkeit verwiesen und bleiben alten Erwartungen verhaftet. Ebenso bleibt der schwarze Mann im Anzug in einem Körperpanzer gefangen, der Teil einer rassistischen Repräsentationstradition bildet. Die dunkle Figur ist ein Kunst-Körper, versehen mit einer stereotypisierten (Rassen)Identität. Die männliche Schaulust – der dominante Blick – ist weiß geprägt und bezieht sich somit auch auf den schwarzen Mann bzw. auf schwarze Menschen im Allgemeinen. In dieser Ambiguität liegt die zentrale Bedeutung des Bildes: Motley bespricht die Doppelbödigkeit seiner eigenen Rolle als schwarzer Künstler und Angehöriger der gebildeten Mittelschicht – und allgemeiner, die Frage der schwarzen Identität/Selbstbestimmung zwischen Aufbruch und Zwang, (Selbst)Entmündigung und der Auflösung sozialer Hierarchien. Der New Negro in der Kunstfotografie Der urbane Kontext setzte den Rahmen, in dem das neue kulturelle Selbstverständnis, das Alain Locke New Negro taufte, seinen Anfang nahm und

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in vielfältiger Weise Ausdruck fand. Die Entwürfe des New Negro verlaufen in der schwarzen Fotografie der zwanziger und zu weiten Teilen dreißiger Jahre über eine perspektivische Korrektur, die die gesellschaftliche Situation von städtischer Armut, Kriminalität und Not ausblendete. James VanDerZee präsentiert den New Negro als modernen Großstädter, der die Stadt für sich erobert und diese mit neuen Kulturformen bereichert. Im Gegensatz zum Konzept des ehrbaren New Negro, wie ihn Anfang des 20. Jahrhunderts allen voran Du Bois forderte, zeigte die Lebenswelt des New Negro der zwanziger Jahre ein zunehmend heterogenes, vielgestaltiges Gepräge. Mit gestiegenem Selbstbewusstsein löste er sich von vereinheitlichenden Lebensstrukturen und folgte eigenen religiösen Kulten, sozialen Reformbewegungen und Strömungen, die eng an der Frage nach originären Wurzeln ansetzen. Die Schauplätze und Treffpunkte, an denen neue Lebens- und Kulturformen erprobt und inszeniert wurden, sind die quasiöffentlichen Räume der Großstadt bei Nacht. So wenig man VanDerZees Arbeiten als akademisch gereiften Fotografiestil überinterpretieren darf, so sehr hat man seine bildnerische Fantasie und sein unakademisches Erfindungsvermögen zu beachten. VanDerZee wählte seine Sujets in bewusster Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Moden und neuen Entwicklungen seiner Zeit. Was seine Motivik betrifft, sticht die Tendenz zur Einbindung symbolischer, metaphysischer Stimmungswerten hervor. Das Ausmaß des Einflusses der klassischen Avantgardekunst auf James VanDerZees künstlerische Selbstdefinierung, der selbst erklärt, die Arbeiten der Photo-Sezessionisten oder Carl Van Vechten nicht gekannt zu haben, ist weit weniger ausgeprägt als bei Van Vechten. Gleichwohl können abstrakt wirkende Arbeiten oder etwa die bildnerische Rekonstruktion einer Situation bzw. innerer Gefühlszustände mittels einzelner Teilfragmente, die das kausale Raum-Zeit-Gefüge außer Kraft setzen, unter stilistischen Gesichtspunkten mit den Darstellungsmodi der ästhetischen Moderne in Einklang gebracht werden. Carl Van Vechten, der mit den Künstlern der klassischen Avantgarde, wie etwa Salvador Dalí oder Man Ray, persönlich befreundet war, folgte den formästhetischen Stilmitteln und bildnerischen Lösungen der modernen Kunstrichtungen. Seine Selbst- und Künstlerporträts illustrieren sehr anschaulich, wie er bei der kompositorischen Ausarbeitung ein ästhetisches Konzept in Anlehnung an die neuen Kunststile verfolgte. Häufig inszeniert der Fotograf sich selbst oder seine Modelle vor expressivem Hintergrund

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aus abstrakten Formelementen des Expressionismus, Surrealismus und Kubismus, die entweder symbolisch oder formal mit der dargestellten Person in Beziehung gesetzt werden. So signalisiert das dynamische Hintergrundmuster des Tänzerporträts von Bill »Bojangles« Robinson Rhythmik, Schwung und Bewegung. Innere Zustände werden ins Optische übersetzt, um ein vom Abgebildeten ausgehendes Pathos zur Geltung zu bringen. Dies gelingt ihm auch in einer Porträtaufnahme der schwarzen Tänzerin Katherine Dunham, deren expressives Formenmuster auf Kleid und Haube sich im Formenspiel des Bildhintergrundes wiederholt. Das Porträtbild, das den Künstler Salvador Dalí zeigt, bringen surrealistische Formelemente zur Geltung: Dalí ist im Halbprofil aufgenommen, über den Vordergrund des unteren Bilddrittels zieht sich das unruhige Hell-Dunkel eines Tierfells. Den Hintergrund füllt ein Formengewimmel, das die Pupille eines überlebensgroßen Auges suggeriert. Im Surrealismus findet bekanntermaßen eine ästhetische Auseinandersetzung mit dem Auge als Schlüssel zu den inneren Bewusstseinswelten, dem Unbewussten, statt. Die intensive Lichtregie der homoerotischen Körperarrangements, die an die kontraststarken Ausdruckswerte der expressionistischen Kunst der zehner und zwanziger Jahre heranreicht, folgt unter dem Aspekt der Hautfarbenauflösung. Rassen- und Geschlechterkonstruktionen werden künstlerisch reflektiert und revidiert, wenn schwarze und weiße Körper über Licht und technische Verfahren demontiert, modelliert und dementsprechend neu wahrgenommen werden. Intensive Licht- und Schattengestaltung, Stilisierung der Erscheinungen, das Einbinden der Modelle in einen expressiv abstrakten Verweisungszusammenhang – die Formen und Prinzipien avantgardistischer Stilrichtungen haben Van Vechten in seiner Arbeit folgenreich befruchtet und ließen ihn zu provokanten Formulierungen gelangen. Carl Van Vechtens Kunst stellt die enge Verknüpftheit zwischen der Harlem Renaissance und der Moderne zur Schau: Seine Ästhetik, die afrikanisch-amerikanische Motive und Fragestellungen mit den ästhetischen Überlegungen der Avantgardekunst verbindet, steht im engsten Sinne an der Schnittstelle zwischen der Harlem Renaissance und der klassischen Moderne. Was sich anhand der Gegenüberstellung von VanDerZee und Van Vechten im Kleinen ablesen lässt, trifft gleichwohl für die unterschiedliche, künstlerische Entwicklungsgeschichte der schwarzen und weißen Fotografie im Großen zu. Wirtschaftliche Benachteiligung, gesellschaftliche Voreingenommenheit und Diskriminierung wirkten sich zunächst nachteilig auf

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ein programmatisch angelegtes Bemühen um Gewinnung einer eigenen künstlerischen Position aus. So gab es zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf afrikanisch-amerikanischer Seite kein vergleichbares Pendant zur der sich in Theorie und Praxis ereignenden Avantgardebewegung der PhotoSecession. Aus ökonomischen Gründen blieb es schwarzen Fotografen in der Mehrheit verwehrt, ihr Handwerk avantgardistischen Experimenten oder rein ästhetischen Zwecken zu unterstellen und ihr fotografisches Schaffen als ernst zu nehmenden, künstlerischen Stil in der breiten Öffentlichkeit zu kommunizieren52. Nicht zuletzt mit Hilfe der Harmon Foundation, die in den dreißiger Jahren als erste Fördereinrichtung die Erzeugnisse schwarzer Fotografen durch die Bereitstellung von Preisgeldern, Stipendien und Ausstellungsmöglichkeiten als künstlerische Ausdrucksform anerkannte und unterstützte, begannen schwarze Fotografen, wie Cornelius M. Battey, King Daniel Ganaway oder James Latimer Allen, ihre Arbeit verstärkt entlang künstlerischer Gesichtspunkte zu entwerfen53.

52 Die Fotografin und Schriftstellerin Jeanne Moutoussamy-Ashe beklagt die fehlende Kooperation künstlerisch ambitionierter Fotografen der PhotoSecession mit ihren afrikanisch-amerikanischen Arbeitskollegen: »Meanwhile, a group called The Photo-Secession, which had been founded by photographer Alfred Stieglitz in 1902, stated that its goals were ›to hold together those Americans devoted to pictorial photography; […] to exhibit the best that has been accomplished by its members or other photographers, and above all, to dignify that profession until recently looked upon as a trade.‹ […] Yet, no black photographers were members of this group, nor did they exhibit in the group’s shows or galleries« (30). Auch sie konstatiert: »Black photographers’ primary concerns were for income, family support, and business advancement; established white photographers like Stieglitz and Edward Steichen were independently wealthy« (ibid.). 53 1930 schuf die Harmon Foundation eine eigens die Arbeiten afrikanisch-amerikanischer Fotografen auszeichnende Preiskategorie – der Commission Prize for Photographic Work. Der schwarze Porträtfotograf James Latimer Allen war der erste Empfänger dieser Auszeichnung. Vgl. hierzu: Garry A. Reynolds, »Photography and the Harmon Foundation«, Against the Odds: African American Artists and the Harmon Foundation (New Jersey: The Newark Museum, 1989) 99-105.

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7.6 Black Mammy revisited Während meiner Recherchen zu schwarzen Frauendarstellungen in der afrikanisch-amerikanischen Porträtfotografie der zwanziger Jahre stieß ich auf motivisch überraschungsreiche Aufnahmen, die die Perspektive der motivgeschichtlichen Tradition – die schicksalhafte Einheit von schwarzer Weiblichkeit und Abb. 66: Addison Scurlock, fremdbestimmter, funktionalisierter Aunt Mary, 1928 Selbstaufgabe – auf provokante Weise zu sprengen versuchen. Die Erörterung zur schwarzen Fotografie im Zeichen der Harlem Renaissance-Ästhetik schließt im Folgenden mit einer ästhetischen Revision des black mammy-Motivs, das in die Arbeit einleitete. Dadurch wird der Kreis zum Ausgangspunkt dieser Arbeit geschlossen, zum anderen wird der ästhetische Erneuerungsdiskurs aus gender-kritischer Perspektive mit besonderem Fokus auf schwarze Weiblichkeitsentwürfe erweitert. Das Bild Aunt Mary (1928) (Abb. 66) des schwarzen Fotografen Addison N. Scurlock (1883-1964) widersetzt sich der kulturellen Stereotypisierung der schwarzen Frau als selbstlose, zweckdienliche Amme. Ein kurzes Wort zu Addison Scurlock. Der aus North Carolina stammende Gesellschaftsfotograf und Fotojournalist tat sich besonders durch Aufnahmen afrikanisch-amerikanischer Persönlichkeiten aus dem Unterhaltungs-, Politik- und Bildungssektor (Booker T. Washington, W. E. B. Du Bois, Paul Laurence Dunbar, Sterling Brown) hervor. In seiner wohl bekanntesten Fotografie hielt Scurlock den geschichtsträchtigen Auftritt der afrikanisch-amerikanischen Opernsängerin Marian Anderson auf den Stufen des Lincoln Memorial am Ostersonntag 1939 fest, an dem rund 75000 Menschen teilnahmen und der einen ersten symbolischen Auftakt der schwarzen Bürgerrechtsbewegung markiert. Die in starker Aufsicht aufgenommene Fotografie der Sängerin vor dicht gedrängter, weitläufiger Menschenmasse setzt den Gedanken der Gleichheit und Einigkeit bildlich um. Aunt Mary nutzt die kulturelle Schematisierung der black mammy-Figur, um sich zugleich davon zu befreien. Zu sehen ist eine ältere Frau mit Kopf-

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bedeckung und einfacher Kleidung umgeben von spärlichem Interieur. Über ihren Schoß hält sie ein großes Buch, das ihre gesamte Aufmerksamkeit bannt. Die Kamera tritt in ein einseitiges Verhältnis zur alten Frau, die vertieft in ihre Lektüre seitlich im Profil zur Kamera aufgenommen ist. Dadurch bleibt sie ungestört der geistigen Reflexion überlassen. Das äußere Erscheinungsbild greift auf den Topos der schwarzen Haussklavin zurück, der die Bildung des Geistes zur Entfaltung schöpferischer, freier Subjektivität nicht gestattet war. Die Zentralität des Geistigen in Aunt Mary kann als Appell verstanden werden, zu sich selbst ein Verhältnis zu entwickeln, das kreativ und produktiv ist – eines, in dem das eigene Leben, das eigene Selbst gestaltbar wird, trotz oder gerade wegen der lebensverneinenden Umstände. Die machtpolitische Indienstnahme der (schwarzen) Frau orientiert sich in erster Linie an ihrem Körper. Das (schwarze) weibliche Körper/Identitätsbild als gleichbedeutend mit Fleischlichkeit, Sexualität, Natürlichkeit, Sterblichkeit ist Teil einer patriarchalen Herrschaftsideologie, demzufolge alles Weibliche grundsätzlich an den biologischen Reproduktions-/Funktionskörper gebunden ist. Als solcher verkörpert er den defizitären Gegenpart des Männlichen, das wiederum mit körperloser Geistigkeit gleichgesetzt wird. Die machtpolitische Instrumentalisierung schwarzer Mutterschaft – die radikale Verwerfung aller geistigen Fundamente von Subjektivität – wurde in der Sklaverei bis zum Äußersten vorangetrieben. Auf den schwarzen, weiblich-geschlechtlichen Gebärkörper (ähnlich wie auf den sexualisierten Bedrohungskörper des schwarzen Mannes) wurden alle minderwertigen, animalisch-leiblichen Aspekte der menschlichen Art übertragen. Die studierende Aunt Mary ist eindeutig gegen die Fundierung und Fixierung des schwarzen Weiblichen im biologischen Körper gerichtet, gegen kapitalistische Festschreibungen und Verwertungslogiken schwarzer, weiblicher Identität. In den Blick rücken zwei Porträtstudien des schwarzen Porträtfotografen Richard Samuel Roberts (1880-1936), der in den zwanziger und dreißiger Jahren ein Atelierstudio in Columbia, South Carolina betrieb. Die beiden Bilder (Untitled, 1920er Jahre) (Abb. 67) zeigen ein und dieselbe Person in gleicher Stellung zur Kamera, jedoch in unterschiedlicher Bekleidung. Die erste Version porträtiert eine dunkelhäutige Frau in schwarzem Kleid mit weißem Spitzenkragen. Über eben diesem Kleid trägt sie eine breite, weiße Haushaltsschürze, die den gesamten Oberkörper bedeckt. Ihre soziale Rolle

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Abb. 67: Richard Samuel Roberts, Untitled, 1920er

als arbeitende Frau wird als Einheit dargestellt. Auf der zweiten Fotografie posiert sie in nahezu identischer Haltung und Mimik frontal zur Kamera, wobei die weiße Dienstschürze, nun abgelegt, durch eine lange Perlenkette und Ohrringe ersetzt wurde. Auf den Aufnahmen wird die Dimension von Identität als eine Montage aus unterschiedlichen Elementen durch die Modifizierung vestimentärer Attribute bei fast deckungsgleicher Positionierung der Frau hervorgehoben. Bildnerisch vermittelt die Inszenierung, wie sich das Verständnis sozialer Rollen infolge vestimentärer Veränderungen umwandelt. Die Frau ist kein passives Objekt, das vollständig entmündigt, essentiell festgelegt und fremdbestimmt ist. Sie wirkt vielmehr aktiv und gestalterisch auf ihre Selbst- und Außenwahrnehmung ein. Über das Modell seines wohl bekanntesten Porträts The Boss (1932) berichtet der afrikanisch-amerikanische Fotograf P. H. Polk selbst: Now this is a lady. I asked her to come on campus. When she came in the studio, while I was getting my camera ready, I looked up, and I said, that woman can boss anybody. She could even beat Joe Louis! Well, to make the picture, I said, Madame, put your hands on your hips…. And there she is. (zit. n. Hutchinson 8)

Die stämmige schwarze alte Frau mit Kopftuch und abgetragener ramponierter Bekleidung bedient zunächst den Topos der harschen, hegemonialer Willkür ausgelieferten schwarzen Feldsklavin (Abb. 79). Polk allerdings

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bricht mit konventionellen (schwarzen) Weiblichkeitsbildern, die die Frau als passives, fremdbestimmtes Objekt festlegen. Anstelle eines mild lächelnden, genügsamen, in gefasster, unterwürfiger Körperhaltung posierenden Dienstbotentypus entwirft Polk eine stolze Kämpferfigur, die ein geradezu heroisches Ethos vertritt. Das ungewohnt entschlossene Auftreten der Frau – geschwellte Brust und in die Hüfte gestemmte Hände – sowie ihre Mimik – ernste, auf den Betrachter herabblickenden Augen – setzen die Frau martialisch in Pose. The Boss kann als Symbol des Sieges gelesen werden, das für die ewige Wiedergeburt und das Überleben selbst steht – für den Lebenswillen und die Fähigkeit, die rassistischen Lebensbedingungen, denen Afroamerikaner zeitlebens ausgesetzt sind, zu überdauern54. Tradierte Begrifflichkeiten des black mammy-Ästhetizismus, wie etwa Entsexualisierung, Funktionalisierung, Ausgrenzung, verdichten sich in Parks American Gothic (1942) zu einem zeitlosen Entwurf (Abb. 71). Entstanden ist die Fotografie im Rahmen seiner fotojournalistischen Tätigkeit für die Farm Security Administration (FSA), die Parks in die segregierte Hauptstadt Washington D.C. führte – zu Ella Watson, die als schwarze Putzfrau regierungseigene Gebäude säuberte. Die Fotografie zeigt Watson mit Besen und ausdrucksloser Miene im Putzkittel, der sie in ihr strenges Rollenkostüm zwängt. Den Hintergrund ziert die amerikanische Nationalflagge, die von einem weiteren Wischmopp begrenzt wird. Über Putzbesen und Wischmopp legt Parks die archetypischen Symbole (schwarzer) weiblicher Wesensbestimmung offen. Der emanzipatorische Ausbruch aus den Fesseln der Sklaverei gerät zur trügerischen Scheinautonomie: die schwarze Frau sieht Parks nach wie vor auf einen klar abgesteckten, dem ›niedrigen‹ Dienst an der nationalen Gemeinschaft geschuldeten Wirkungskreis beschränkt, der sie in ihren öffentlichen Entfaltungsmöglichkeiten festschreibt. Verbürgerlichung des schwarzen Frauenbildes: Die Figur der Brown Madonna Ein Topos, der ideologisch in enger Nachbarschaft zur Figur der selbstaufopfernden Dienerin steht, ist der moralisierende Entwurf der Brown Ma-

54 Der vorliegenden Analyse schließt sich ein Abschnitt über den Fotografen P. H. Polk an, der ausführlicher auf seinen Arbeitsstil eingeht.

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donna als Inbild von Schönheit, Reinheit und Tugend. Ein herausstechendes Beispiel zeigt die Madonnendarstellung des New Yorker Harlem Renaissance-Porträtisten James L. Allen (1907-1977)55, die das Titelblatt der Dezemberausgabe der Opportunity im Jahre 1941 schmückte. Brown Madonna (1941) (Abb. 68) zeigt eine dunkelhäutige Madonnenfigur mit dem Kind auf ihrem Schoß. Ihr Haupt bedeckt ein weißes Tuch – Zeichen ihrer Jungfräulichkeit – der Blick ist nach unten als Ausdruck der Passivität, Demut und kontemplativen Innenschau gerichtet. In ihrem aufschlussreichen Essay »›Mothers of Tomorrow‹: The New Negro Renaissance and the Politics of Maternal Representation« (1998) hebt Anne Stavney die ideologische Konstruktion der moralischen Mutterschaft als Gegenentwurf zu moralisch abtrünnigen Frauenbildern (Jezebel) hervor: Defending their women against […] primarily white racist assertions, black males produced an idealized image of black motherhood in the form of the ›moral mother‹. From civic leader to politician to writer to artist, black men of the 1920s and ‘30s promoted an ideology of glorified black motherhood. (534)

Die moralische Rehabilitierung der schwarzen Frau, die ihren Anfang in dem bereits vertieften Diskurs um schwarze Respektabilität und Zivilisation im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nahm und in afrikanischamerikanischen Texten und Bildern der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts weiter vorangetrieben wurde, beinhaltete ihre Einschreibung in die weiße bürgerliche Geschlechterordnung56. Zu diesem hat(te) die schwarze Frau aufgrund des durch die Sklaverei bedingten Entzuges mütterlicher

55 Einen Überblick zu den Arbeiten des Porträtfotografen James Latimer Allen in der Harlem Renaissance liefert Camara Dia Holloways Ausstellungskatalog Portraiture and the Harlem Renaissance: The Photographs of James L. Allen (New Haven: Yale University Art Gallery, 1999). 56 Vgl. hierzu auch Astrid Windus’ überaus aufschlussreiche Ausführungen zur Konstruktion afroargentinischer (Geschlechter)Identität im Diskurs um schwarze Verbürgerlichung und soziale Rehabilitierung: »Von Parias und Patrioten: Über die Un-Sicherheit afroargentinischer Identität(en) in schwarzen Selbstentwürfen«, Afroargentinier und Nation. Konstruktionsweisen afroargentinischer Identität im Buenos Aires des 19. Jahrhunderts (Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2005) 267-278.

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Verantwortung, aber auch als Angehörige der körperlich hart arbeitenden, unteren sozialen Schichten keinen Zugang. Die moralische Unversehrtheit schwarzer Weiblichkeit, die sich, in Erfüllung des bürgerlichen Geschlechtermodells, bei der Ausübung der häuslichen Pflichten innerhalb des schwarzen Haushalts vollends zu entfalten hatte, gilt schließlich als Symbol für die Integrität der schwarzen Gemeinschaft selbst57. Die Verbürgerlichung des schwarzen Mutterbildes führte letztlich zur Festigung der Position des schwarzen Mannes als Oberhaupt und Beschützer der eigenen Familie: da schwarzen Männern während der Sklaverei die Kontrolle über ihre Ehefrauen entzogen wurden – diese mussten den verordneten Pflichten als Feldarbeiterinnen, Kindermädchen, Ziehmütter oder als Sexualobjekt innerhalb der weißen Gemeinschaft nachkommen – konnten sie ihre Rolle als Haushaltsvorstand und Beschützer der Familie nicht behaupten. Die Behauptung schwarzer männlicher Machtpositionen erforderte die Konstruktion eines passenden schwarzen Weiblichkeitsbildes (vgl. Windus 275). Schwarze Mutterschaft ist fortan nur mit der Aufzucht und dem Erhalt der eigenen Familie befasst. So fordert Du Bois in seinem Leitartikel »The Black Mother« der Crisis-Ausgabe von 1912: [T]his [white’s] appreciation of the black mammy is always of the foster mammy, not of the mother in her own home, attending to her own babies. […] Let us hope that the black mammy, for whom so many sentimental tears have been shed, has disappeared from American life. She existed under a false social system that deprived her from husband and child. […] Let the present-day mammies suckle their own children. (78)

Der Entwurf der schwarzen Übermutter hatte den bürgerlichen Rollenanforderungen der ehrbaren Hausfrau, Mutter und Ehefrau gerecht zu werden – gleichwohl das schwarze Pendant zum weißen bürgerlich-patriarchalen Cult of True Womenhood, das der Meinung von W. E. B. Du Bois zufolge

57 Die in fiktiven Texten seit Ende des 19. Jahrhunderts hervorgebrachten Entwürfe schwarzer Geschlechteridentität von black mammy oder loose black woman fungieren als Gegenbilder zu den im Diskurs um schwarze Männlichkeit und Lynching bereits vertieften Konstruktionen der weißen Frau als makellose, frei von körperlichen Trieben verfasste, ehrbare Lady, deren Reinheit und Fragilität es zu wahren gilt.

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die Moralität weißer Frauen sogar überstieg: »No other women on earth«, so der Wissenschaftler in seinen Aufsatz »The Damnation of Women« (1920) zur beispiellosen Moralität schwarzer Frauen, could have emerged from the hell of force and temptation which once engulfed and still surrounds black women in America with half the modesty and womanliness that they retained. […] I have known the women of many lands and nations […] but none have I known more sweetly feminine, more unswervingly loyal, more desperately earnest, and more instinctively pure in body and soul than the daughters of my black mothers. (1999 [1920], 107-108)

Auch aus schwarzer weiblicher Perspektive wird die Einschreibung der schwarzen Mutter in den bürgerlichen weißen Geschlechterdiskurs progressiv im Sinne einer allgemeinen Aufwertung der schwarzen Gemeinschaft gewertet. In ihrem Artikel »The Task of Negro Womanhood«, der in Lockes Anthologie The New Negro erschienen war, sieht die schwarze Feministin Elise Johnson McDougald die schwarze Mutter der Notwendigkeit verpflichtet, ihre spezifischen, aus der Sklaverei erworbenen Qualitäten fortan ausschließlich der eigenen Nachkommenschaft zukommen zu lassen (vgl. 369ff.). Der moralisch befreite, aufgewertete, versittlichte, verbürgerlichte, schwarze Frauenkörper als Medium der symbolischen Kommunikation zwischen den Gemeinschaften, die über den weiblichen Körper imaginiert werden, muss fortan in den eigenen Reihen gehalten werden. Der Blick auf die Bedeutung von Weiblichkeit und Mutterschaft in der christlichen Heilsgeschichte ist naheliegend. Thematisch und motivisch knüpft die Figur der Brown Madonna an das Bild der heiligen Mutter – im Speziellen an die Pietàsymbolik der schmerzensreichen Gottesmutter in der religiösen Kunst an. Die Pietàdarstellung Marias mit dem Leichnam des vom Kreuz abgenommenen Jesus Christus symbolisiert die Trauer der Gottesmutter um ihren toten Sohn. Gleichzeitig liegt ihre Bedeutung in dem erlösenden Leiden Christi, d.h. darin, dass erst das Sterben als Voraussetzung der Wiedergeburt zur Erlösung führen kann. So ist der mütterlichen Beweinung Christi der Hoffnungs- und Heilsgedanke immer eingeschrieben. Die Wirklichkeitserfahrung der schwarzen Sklavin, deren leibliche Kinder dem System zum Opfer fallen, trägt die religiösen Züge der altruistischen Leidensgeschichte der göttlichen Magd. Die schwarze Sklavin stellt sich den alltäglichen Erfordernissen als tapfere Gefährtin und Helden-

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Abb. 68: James L. Allen, Brown Madonna, ca. 1941

Abb. 69: Titelbild zur Weihnachtsausgabe von The Crisis 1913

mutter. Sie kämpft in hingebungsvoller (Selbst)Aufopferung um ihre dem Tod geweihten Kinder und gegen die Allmacht eines gnadenlosen Systems, der sie und ihre Familie hilflos ausgeliefert sind. Da ihre Bedeutung in der Rolle als Gebärerin kommender Nachwuchsgenerationen liegt, ist ihr der Erlösungsgedanke einverleibt. Der religionsgeschichtliche Topos der schwarzen Madonna weicht in ihrer Natur- und Erdverbundenheit von moralisierenden Darstellungen Marias als keusche, unangetastete Jungfrau ab. Als Verkörperung der Mutter- und Erdgöttin stellt sie eine Metapher für die Verwurzelung, für die wandelnde Kraft der Erde und Fruchtbarkeit dar. Analog zum erdgebundenen, lebensspendenden Topos der schwarzen Madonna wird im afrikanischamerikanischen Diskurs die Figur der Brown Madonna als biologistische Metapher des Anfangs und der kollektiven Erneuerung, als Symbol des gemeinsamen afrikanischen Ursprungs und der angestammten Heimat gedacht. Als Lebensallegorie wird sie zum Gegenstand der quasireligiösen Verehrung erhoben. Heiligkeit steht im Zentrum der Figurendarstellung des afrikanisch-amerikanischen Fotografen Cornelius M. Battey von 1919. Seine Fotografie, die auf dem Titel der Weihnachtsausgabe der Institutszeitschrift des Tuskegee Institute erschien, zeigt eine dunkelhäutige Mutter-

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/Madonnenfigur, die sich andachtsvoll ihrem Kind zugeneigt. An einer Perlenkette, die sich um den Hals der Frau schlängelt, blitzt ein großes Kreuz, das als Bindeglied zwischen Mutter und Kind im Zentrum der Figurenanordnung steht. Der Kreuzanhänger, den sie vor das Kind und in das Blickzentrum des Betrachters hält, ist Zeichen der Hingabe und inneren Einsicht über die heilsgeschichtliche Bedeutung der Kindesopferung. Brown Madonna mit dem Kinde symbolisiert das symbiotische Verschmelzen des afrikanisch-amerikanischen Kollektivkörpers mit dem sakralen Mutterkörper; dieser wird zur Bedingung für die verheißende Suche und Rückkehr zur gewaltsam entrissenen, verlorengegangenen Heimat. Aaron Douglas’ Zeichnung The Burden of Black Womanhood (1927), die auch als Titelbild auf der Septemberausgabe des Magazins The Crisis im Jahre 1927 erschien (Abb. 70), figuriert schwarze Weiblichkeit als Leben und Kraft spendende Natur-/Erdmutter, als biologistische Metapher der unerträglichen Erblast, des generationenübergreifenden Weltschmerzes der schwarzen Völkergemeinschaft – als Projektionsfläche existentieller Verlustängste/Entfremdung und der Erneuerung/Wiederherstellung gleichermaßen. Eine übermächAbb. 70: Aaron Douglas, tige Frauengestalt ragt aus dem ErdboThe Burden of Black den in die himmlische Höhe des dunkWomanhood, 1927 len Sonnenplaneten empor. Über diesen zieht sich der bedeutungsschwere Magazintitel Crisis, den die Frauengestalt mit der Kraft ihrer Arme zu stemmen vermag. Die dunkle Figurensilhouette entspricht den spezifischen Stilprinzipien der menschlichen Körperformen und -strukturen aus der Kunst des alten Ägyptens (etwa die Rechtwinkligkeit der Gelenkstellung zwischen den Ober- und Unterarmen, die Reduktion der Körperform auf das Wesentliche, das Fehlen der Perspektive oder die seitliche Gesichtsansicht bei frontaler Körperansicht). Die charakteristischen Erscheinungsformen des alten Ägyptens wiederholen sich in den Pyramiden- und Palmenfigurationen der linken Bildhälfte. Die Zitate, die für das Vergangene stehen, kontrastieren mit dem ungeordneten Großstadt-

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treiben in der rechten Bildhälfte. Die Natur- und Erdverbundenheit in Metapher der Mutterfigur verweist auf Aspekte der Herkunft, auf eigene Ursprünge und Verwurzelung – aber auch auf Erfahrungen der Ausgrenzung und des Getrenntseins mit diesen: im rechten Bildhintergrund, in weite Ferne gerückt, sind die schrägwinkligen Biegungen und Verformungen der Großstadt zu erkennen. Wolkenkratzer, Hochhäuser, urbanes Chaos – die Topographie der Stadt steht für Entwicklung und Wandel, aber auch für Trennung und Identitätsverlust. Der von weiblicher Hand empor getragene, geborgene, dunkle Feuerplanet, hinter dem bereits die lichten Sonnenstrahlen der Morgensonne hervorstechen, leiten den Tagesanbruch ein – und allgemeiner gesprochen, den Beginn einer verheißungsvollen Zukunft58. Schwarze Weiblichkeit trägt die Bedrohung des Identitätsschwunds kraft körperlichen Missbrauchs und machtfunktionaler Vereinnahmung leibhaftig in sich, birgt zugleich aber die Möglichkeit der Erneuerung – als gebärender Erneuerungskörper ist er mit Appellen der (Wieder)Aneignung der eigenen Heimat, der Neugeburt der schwarzen Gemeinschaft behaftet59. Die schwarze Mutterfigur wird in den künstlerischen Produktionen schwarzer Fotografen und Maler der Harlem Renaissance zur mythischen Idealform, zu einer unanfechtbaren Heiligen überhöht, deren Hingabe und Selbstaufopferungsbereitschaft allein der Sinnstiftung der afrikanischamerikanischen Gemeinschaft gegolten ist. Die ideologische Verklärung

58 »Yet the world must heed these daughters of sorrow«, so beschwört Du Bois das schwarze Mutterbild als Ursprung und Wiege der Menschheit, »from the primal black All-Mother of men down through the ghostly throng of mighty womanhood, who walked in the mysterious dawn of Asia and Africa; from Neith, the primal mother of all, whose feet rest on hell, and whose almighty hands uphold the heavens; all religion, from beauty to beast, lies on her eager breasts« (1999 [1920], 96). 59 Die optische Präsenz der schwarzen Mutter ist im schwarzen Zeitschriftendiskurs der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts nicht wegzudenken. So gab die Zeitschrift The Crisis in den beiden ersten Dekaden des vorherigen Jahrhunderts jährlich eine eigens dem schwarzen Kind gewidmete Ausgabe (»Children’s Number«) heraus. Die darin publizierten Kinderfotografien erscheinen häufig antithetisch, d.h. als gemeinschaftsbildende und -stabilisierende Gegenillustrationen zu destabilisierenden Zeitungsberichten, die über das rassistisch geprägte Sozialklima in den USA berichten.

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der schwarzen Frau zur heiligen Übermutter, durch die die Einschreibung der schwarzen Familie in den bürgerlich-patriarchalen Geschlechtsdiskurs vorangetrieben wurde, musste in Einklang mit den tatsächlichen, sozioökonomischen Bedingungen der afrikanisch-amerikanischen Bevölkerung bzw. den sich alltäglich stellenden Anforderungen an die schwarze Frau gebracht werden. Das in der patriarchal-bürgerlichen Geschlechterordnung verankerte Rollenbild, demzufolge Frauen an die Arbeit im privaten Bereich gebunden sind, kollidierte mit der tatsächlichen Arbeitsverteilung schwarzer Männer und Frauen – denn auch nach der Abolition blieb für die Mehrzahl schwarzer Frauen das bürgerliche Rollenideal der ausschließlich zu Hause arbeitenden Ehefrau unerreichbar60. Die Berufsmöglichkeiten schwarzer Männer, die von prekären Arbeitsverhältnissen und schlechtem Einkommen gekennzeichnet waren, reichten zur alleinigen Absicherung der Familie in der Regel nicht aus. Zudem erforderte der Abzug schwarzer Männer im Gefolge des ersten Weltkriegs den Arbeitseinsatz von Frauen außerhalb von Heim und Herd: [M]ost male breadwinners suffered from chronic underemployment and sporadic unemployment, and that other household members had to supplement their irregular earnings. In 1930 from 34 to 44 percent of black households in the largest northern cities had two or more gainfully employed workers. Most apparent among black families was the high percentage of wives who worked outside the home […]. (Jones 161-162)

60 Obgleich die soziale und ökonomische Situation der afrikanisch-amerikanischen Bevölkerung einen flexiblen Umgang mit den dominanten Geschlechterrollen erforderte, diente das herrschende, männlich-patriarchale Rollenverständnis der bürgerlichen Familie der Orientierung und Festlegung schwarzer Männlichkeit/Weiblichkeit auch innerhalb der black community als regulierendes Ordnungssystem, in dem die Verantwortung für den Haushalt und der Kindererziehung der Frau zufällt. Die Ausdifferenzierung männlicher und weiblicher Arbeitsbereiche fiel auch in den unteren weißen Bevölkerungsschichten insgesamt weniger deutlich aus als innerhalb des gehobenen Bürgertums. Schwarze wie weiße Frauen der Arbeiterklasse waren letztlich aus dem bürgerlichen weißen Geschlechterdiskurs ausgeschlossen, wurden aber dennoch an diesem gemessen.

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Im Vergleich zu weißen Ehefrauen oder Frauen anderer ethnischen Gruppen waren schwarze Ehefrauen im Jahr 1920 fünfmal häufiger berufstätig (vgl. ebd. 162). »Yes, she has arrived«, so triumphiert der Leitartikel »The New Negro Woman« zur New Negro Woman-Ausgabe der schwarzen Zeitschrift The Messenger von 1923 in feierlichem Ton: Like her white sister, she is the product of profound and vital changes in our economic mechanism, wrought mainly by the World War and its aftermath. […] In politics, business and labor, in the professions […] the New Negro Woman, with her head erect and spirit undaunted is resolutely marching forward, ever conscious of her historic and noble mission of doing her bit toward the liberation of her people in particular and the human race in general. Upon her shoulders rests the big tasks to create and keep alive, in the breast of black men, a holy and consuming passion to break with the slave traditions of the past; to spurn and overcome the fatal, insidious inferiority complex of the present, which […] bobs up ever and anon, to arrest the progress of the New Negro Manhood Movement; and to fight with increasing vigor […] for the attainment of the stature of a full man, a free race and a new world. (757; Herv. i. Org.)61

Einen ähnlichen Ton schlägt J. A. Rogers 1925 in seiner MessengerKolumne »The Critic« zur Notwendigkeit der Neubestimmung schwarzer Weiblichkeit außerhalb reproduktiver Funktionen an: »I give the Negro woman credit if she endeavors to be something other than a mere breeding machine. Having children is by no means the sole reason for being« (165). Auch Du Bois, dessen Konservatismus sich in Ton und Aktivismus deutlich von den radikal sozialistischen Anliegen der The Messenger-Herausgeber, A. Philip Randolph und Chandler Owen, unterschied, postuliert: »The

61 Im Gegensatz zu Du Bois’ schwarzem Konservativismus, der sich maßgeblich an den Idealen der weißen Mittelschicht orientierte, vertrat das sozialistische Anliegen der Messenger-Herausgeber A. Philip Randolph und Chandler Owen die Rechte der (schwarzen) Arbeiterklasse. In dem Erneuerungsbestreben um den New Negro nimmt die Figur der schwarzen Arbeiterin eine zentrale Rolle ein: Als Repräsentantin der unteren Arbeiterschichten gilt sie als Vorkämpferin im Kampf um gesellschaftliche Partizipation und volle Anerkennung aller unterdrückten Klassen. Ähnlich wie die Figur der heiligen Mutter ist die schwarze Arbeiterfrau mit Funktionen der gesellschaftlichen Erneuerung betraut.

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future woman must have a life work and economic independence. She must have knowledge. She must have the right of motherhood at her own discretion« (1999 [1920], 96). Für eine strikte Ausrichtung auf eine rein auf Familie und Haushalt basierende Frauenrolle, wie dies etwa das weiße bürgerlich-patriarchale Rollenideal forderte, blieb unter den gegebenen Umständen recht wenig Platz, so dass sich die geschlechtliche Rollen- und Arbeitsteilung von privater Hausarbeit und öffentlicher Berufstätigkeit zu keinem Zeitpunkt für die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung durchsetzen ließ. Die schwarze Frau im Beruf als Komplementär zum heiligen Mutterschaftsentwurf war damit nicht nur geduldet, sondern sogar erwünscht, weil zwingend erforderlich. Winold Reiss’ Zeichnung The Brown Madonna (1925), die Alain Locke als Titelbild für seine New Negro-Anthologie auswählte (Abb. 72), schlägt eine Brücke zwischen sakraler Überhöhung und praxisorientierter Alltagsbewältigung. Das Bild zeigt eine Frau in zweckmäßiger Kleidung mit praktischer Kurzhaarfrisur und Kind auf dem Arm. Die kaum erkennbare Aureole, die die Gestalt der Mutter wie ein Mantel umfließt, ist im Sinne des Bildtitels als sakrales Zeichen aufzufassen – dieses erweist sich jedoch nicht als zentrales Motiv der Darstellung. Anstelle religiöser Verklärung tritt die schwarze Mutter als tatkräftige, lebensnahe Person in den Vordergrund, d.h. die Würdigung ebenjener Eigenschaften, die in der konkreten, lebenspraktischen Bewältigung des schwarzen weiblichen Alltags aus Beruf und Kinderversorgung liegen. Schwarzer Mutterkult und Putzfrau der Nation Zunächst ist festzustellen, dass eine ästhetische Neubestimmung schwarzer Weiblichkeit in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts im Rahmen traditioneller Frauenbilder verläuft, zu denen weiße Frauen im Zuge der diskursiven Begründung der New Women sehr viel selbstverständlicher in Opposition treten konnten. Die Inanspruchnahme klassischer bürgerlicher Rollenentwürfe muss im schwarzen Geschlechterdiskurs als kulturelles Privileg verstanden werden, das der schwarzen Frau/Familie lange Zeit vorenthalten blieb und das sich, wie bereits angeführt, angesichts der sozioökonomischen Bedingungen schwarzer Familien in Amerika als praktizierte Lebensform mehrheitlich nicht durchsetzen ließ (und somit ein idealisiertes und imaginiertes Frauen-/Familienbild darstellt). Die Einschreibung der schwarzen Frau in die bürgerliche weiße Geschlechterordnung repräsentiert

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Abb. 71: Gordon Parks, American Gothic, 1942

Abb. 72: Winold Reiss, The Brown Madonna, 1925

einen Gegendiskurs zu der durch das System der Sklaverei bewirkten Abweichung schwarzer, sozialgeschlechtlicher Rollenbilder, auf die auch nach der Emanzipation innerhalb rassistischer Diskursformationen rekurriert wurde. Die Arbeitsbedingungen während der Sklaverei, die schwarzen Sklavinnen harte, ›männlich konnotierte‹ Tätigkeiten auferlegten, wirkten sich folgenreich auf die Entstehung rassenstereotypischer Geschlechterrollen und -identitäten aus. Deren zeitüberdauernde Bedeutung zeigt sich in stereotypisierten Weiblichkeits-/Männlichkeitsentwürfen, wie etwa das herrische, aggressive Mannweib oder der infantile, unterwürfige schwarze Mann, die bis in die Gegenwart Gültigkeit besitzen (vgl. Windus 275). Die ästhetische Überhöhung der schwarzen Frau als ›heilige Mutter‹ implizierte den Wunsch nach Rückgewinnung der afrikanisch-amerikanischen Mutter in die schwarze häusliche Ordnung – das Bedürfnis nach moralischer Rehabilitation der schwarzen Frau als eine für das Wohl der schwarzen Familie verantwortliche, das eigene Kind treu umsorgende Mutter. Die Neubegründung schwarzer Weiblichkeit ist somit durchaus biologistisch im Sinne einer kollektiven, regenerativen Erneuerung gedacht, die der Wiederherstellung und dem Erhalt der afrikanisch-amerikanischen Gemeinschaft dient. Neben der Überhöhung des schwarzen Mutterbildes als Gegenentwurf zu stigmatisierten Weiblichkeitsbildern lassen die gewählten Bildmotive

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erste Anzeichen einer spielerisch provokativen Persiflierung gängiger Klischees erkennen. Gesellschaftliche Einschreibungen werden aufgenommen, reflektiert und in Form eines künstlerischen Figurenentwurfs parodisierend überzeichnet. P. H. Polks überspitzt formulierte Mammy-Figur The Boss legt nicht nur den imaginativen Charakter dieser Frauenfigur offen – die stilisierte Sicht durch die Kamera parodisiert den für diese Einschreibung verantwortlichen männlich-patriarchalen Blick auf die schwarze Frau als asexuelles, unweibliches, bedrohlich herrisches Wesen. The Boss eignet sich zugleich als Vorlage für Interpretationen, die die schwarze Frau als unbezwingbare Inkarnationsfigur, als Symbol der fortwährenden Erneuerung, stilisieren, durch die lebensverneinende Umstände überwunden werden. In Addison N. Scurlocks Entwurf Aunt Mary (1928) steht die schöpferische Selbstbesinnung im Vordergrund. Das stereotypisierte Rollenbild der schwarzen Frau als schlichtes Dienstmädchen und Putzfrau der Nation erreicht bei Gordon Parks einen Höhepunkt. Der emanzipatorische Moment schwarzer weiblicher Beharrlichkeit und Anpassungsfähigkeit, wie er in The Boss oder Aunt Mary beschworen wird, erweist sich bei Parks als trügerisch, denn dieser bleibt, gesellschaftlich eingenommen und verdinglicht, dem Dienst an der weißen, patriarchalen Gesellschaft unterstellt. Seine Frauenfigur stellt eine erfolgte Emanzipation der schwarzen Frau von ihrem Daseinsauftrag als Dienstmädchen und Mammy grundsätzlich in Frage. Die pastorale Motivik, die in Addison Scurlocks Fotografie Aunt Mary zu sehen ist, wird im Folgenden am Beispiel des aus Alabama stammenden Fotografen P. H. Polk weiter aufgefächert. Dadurch werden Erfahrungen jenseits der modernistischen Großstadtästhetik sichtbar gemacht und damit Ausschnitte einer southern presence, die die afrikanisch-amerikanische Lebenswirklichkeit der zwanziger und dreißiger Jahre maßgeblich bestimmt hatte. Die Repräsentationen der Moderne als Symbol des Aufbruchs und der Selbsterneuerung stellen letztlich auch einen Bruch mit der eigenen Vergangenheit dar bzw. mit dem, was auf dem Weg in die Großstadt zurückgelassen wurde. So beklagt Nathan I. Huggins den Moment der Verdrängung und Abwertung schwarzer Geschichte in der Harlem Renaissance: For whatever promise the new man has for the future, his name and the necessity for his creation imply some inadequacy in the past. Like the New Year’s resolution or the ›turning over a new leaf’, the debut of the New Negro announced a dissatisfac-

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tion with the Old Negro. And since the New/Old dichotomy is a mere convenience of mind […] the so-called Old Negro was merely carried within the bosom of the New as a kind of self-doubt, perhaps self-hate. (65)

Polks rückwärtsgerichtete Motivfelder machen auf Formen der Erinnerung aufmerksam und dabei auch auf Formen der (Re)Konstruktion der Vergangenheit als Gedächtnisraum durch die fotografische Imagination. Die dargestellten Menschen und Orte werden bei Polk als visuelle Gedächtnisnarrationen gelesen, durch die das Traumatische der schwarzen Vergangenheit in Amerika reflektiert und erinnert werden kann.

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8. S LAVERY UND S OUTHERN P RESENCE P. H. P OLKS G ENREFOTOGRAFIE

IN

Schwarze Amerikaner als Partizipierende und Bildner der Moderne und urbaner Lebenskultur kontrastieren mit einer anderen, amerikanischen Lebensform, die Schwarzen eigen war: der Sklaverei bzw. den suburbanen, ländlichen Formen der Lebensführung. Die modernistischen Repräsentationen des städtisch geprägten New Negro, dessen spezifische Lebensführungstypologie sich auf die Kulturformen der Großstadt bezieht, lassen die Lebenssituation der schwarzen Landbevölkerung weitestgehend unberücksichtigt. Auch während der kulturellen Blütezeit Harlems in den zwanziger Jahren lebte die überwiegende Mehrheit schwarzer Menschen nach wie vor im Süden der USA – in der Regel als sharecroppers unter ärmlichen Pachtverhältnissen. Anders als die Kleinbauern verfügten sharecroppers über kein Farmland, sondern erhielten für das Einbringen der Ernte einen Teil der landwirtschaftlichen Produktion (share). Häufig mußten sie sich bei Landbesitzern, Kaufleuten oder Kreditgebern stark verschulden, da das Geld der eingebrachten Ernte nur selten ausreichte, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern (vgl. Heideking 213). Die pastoralen Motivfelder des schwarzen Fotografen Prentice Herman Polk (1898-1984), die sich auf die Suche nach einem ländlichen, schwarzen Amerika begeben, tragen den außerstädtischen Situationen jenseits des städtischen Alltagshorizonts, fernab urbaner Hektik, Entfremdung und Anonymität, Rechnung. Damit halten sie der modernistischen Stadtästhetik Momente des Erinnerns, der Beständigkeit und Dauer entgegen. Polks vergangenheitsorientierte Genrestudien übernehmen in erster Linie erinnerungskulturelle Funktionen, die die Lebenswelt des Südens als erinnerungswürdige Existenzform neu bewertet. Die künstlerische Aufarbeitung des ländlichen schwarzen Amerikas beschreibt eine ästhetische Entwicklungslinie in der Harlem-Renaissance, die die Schilderung folkloristischer Bräuche und Rituale als Ausdruck des echten, authentischen Wesenskerns schwarzer Lebensart favorisierte. Zu ihren wichtigsten Vertretern zählen auf literarischer Seite die Autorin und Anthropologin Zora Neale Hurston, die in ihren lyrischen Texten die afrikanisch-amerikanische Folklore des ländlichen Südens aufleben lässt, sowie der Maler William H. Johnson auf der Seite der bildenden Kunst, dessen betont vereinfachte, farbintensive Studien häufig das bäuerliche Familienleben sowie agrarische Szenen der Landwirtschaft thematisieren (Abb.

S LAVERY UND S OUTHERN PRESENCE | 225

75 und 76). Die folkloristisch ausgerichtete Motivlinie, die sich Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre durchsetzte, leitete das Ende der Harlem Renaissance ein. P. H. Polks pastorale Werkserie gibt im Medium des fotografierten Bildes diese rustikal geprägte Tradition in der Harlem Renaissance-Kunst wieder, die im weiteren Fortlauf der Argumentation für den schwarzen Erinnerungsdiskurs fruchtbar gemacht wird. Schwerpunkt der anstehenden Erörterung bilden die ländlichen Genreszenen und bäuerlichen Charakterstudien aus Polks Old CharactersWerkserie, die der Fotograf Anfang der dreißiger Jahre erstellte. P. H. Polk, der sich von 1917 bis 1919 am Tuskegee Institute unter Anweisung von Cornelius M. Battey erste, grundlegende Bildentwicklungstechniken aneignete, lehrte ab 1928 dort selbst Fotografie und übernahm fünf Jahre später die Leitung der fotografischen Abteilung. Bis zu seinem Tod im Jahre 1984 arbeitete Polk als offizieller Fotograf der Bildungsstätte. Neben seiner Lehrtätigkeit 1927 eröffnete Polk in Tuskegee sein eigenes Fotostudio, das er mit Ausnahme einer Unterbrechung bis an sein Lebensende führte. Polks bäuerliche Werkserie62 wurde nicht von dritter Seite in Auftrag gegeben, sondern entstand aus reinem künstlerischen Interesse. Über seine pastoralen Genrebilder resümiert Polk rückblickend: »All of these pictures, when I made them, I didn’t have money. I made them for the love of it. For the inner self. I made them to please me. I saw those people. […] They intrigued me« (zit. n. Hutchinson 13). Die Modelle seiner Bilder traf er nicht selten auf dem Campus der Tuskegee-Berufsschule an, die zu unterschiedlichen Anlässen – etwa der Teilnahme an Landwirtschaftstagungen oder aus purer, existentieller Not heraus auf der Suche nach verwertbaren

62 Der hier vorgenommene Fokus auf ländlich geprägten Genreszenen soll nicht den Eindruck erwecken, dass Polk sich vorrangig pastoralen Themenfeldern widmete. In seinem Atelierstudio entstanden zahlreiche Porträts der regionalen, aufstrebenden schwarzen Mittelschicht sowie Bilder von namenhaften schwarzen Persönlichkeiten, die als Besucher nach Tuskegee kamen. Polks Personenporträts aussichtsreicher Tuskegee-Absolventen, Fakultätsangehöriger oder erfolgreicher Geschäftsleute wurden von der schwarzen Presse häufig als Titelbilder

und

Illustrationen

in

Rubriken

zur

schwarzen

Erneuerungs-/Er -

folgsgeschichte (»Men of the Month«, »Portraits of the Colored Colleges’ Honor Students«) reproduziert.

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Gegenständen – aus dem regionaalen Macon County auf das Schulgeläände kamen. Begonnen wird mit der Betrachtuung einer Porträtserie (1930), die die Lewarbensumstände des älteren, schw zen, mittellosen Mannes Charles Turrner thematisiert. Die Studie Portrait of Charles Turner (1930) (Abb. 73) nimmt eine symbolische Parallelisiev rung von Mensch und Natur vor: von  links streckt sich das Haupt einer Kuh K Abb. 73: P. H. Polk, Portrait über den Bildvordergrund. In der HoH of Charles Turner, 1930 cke sitzend, blickt unterhalb des TierT kopfes Charles Turner hervor. Diee Kette, die um das Haupt des Tieres sowie an Turners Handgelenk angebbracht ist, ist wichtiges bildkompositorisches Element. Einerseits, weil sie – vom Schädel des Tieres am Hals des Menschen vorbei in Richtung des Bodens B verlaufend – die geographische Mittellinie der Fotografie bildet, undd andererseits, weil sie Tier und Mensch unmittelbar zueinander in Beziehunng setzt. Das Bindeglied, das aufgrund der perspektivischen Verflachung direkt d am Nacken Turners anzuliegen scheint, ruft Erinnerungen der menschlichen Züchtigung wach, die sich im Kontext der chattel slavery (beweggliches Eigentum) kaum von der des Tieres unterschied. Zentraler Bildmiittelpunkt bildet das herzlich lächelnde Gesicht Turners, dessen bildliche Präsenz, P ähnlich wie auf dem bereits besprochenen Personenporträt, besticcht und zugleich verstörend wirkt angesichts der angedeuteten, existentielllen Not. Charles Turner at his Cabin (1930) sowie eine weitere Studie gleeichen Titels liefern genauere Auskünfte über die Lebensumstände des alten a Mannes. Auf der ersten Version erscheint Turner aus dem Zentrum des Bildes an den Rand der Szene gedrängt vor einer notdürftig errichteeten Behausung aus Wellblechen und Holzverschlägen, die die Bildfläche dominiert. Im Gegensatz zu allen anderen Porträts, die Charles Turner zeigen, werden hier resignative Momente thematisiert: mit dem Blick auf die Erde gerichtet und nach vorne gebücki einer Geste trister Resignation. Die tem Oberkörper verharrt der Alte in überwältigende Präsenz der eigenenn Armut, die über den räumlichen Kontext vermittelt wird, erscheint den Menschen M zu erdrücken. In der zweiten

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Version rückt der schlafende Turner, umgeben von marodem Inventar im Inneren seiner Behausung, in das geometrische Bildzentrum. Überall herrscht Verwahrlosung und Chaos – Stoffplanen, Blechplatten, Bauholz, Alltagsgegenstände und anderes Gerümpel –, aus dem sich Turner seinen Unterschlupf gezimmert hat, um sich darin sein Leben einzurichten. Es sind die wenigen Bilder der pastoralen Werkserie, die die Landarmut der dreißiger Jahre auf so schonungslose Weise thematisieren. Die Fotografien Cotton Picking (ca. 1937-1942) und The Fruit Pickers (ca. 1930er) (Abb. 74 und 77) zeigen schwarze Erntearbeiter auf Gemüseund Baumwollfeldern bei der Verrichtung ihrer Arbeit. Cotton Picking bildet ein älteres Paar beim Einbringen der Baumwollernte ab. Die romantische Anmut ländlicher Szenerie – nicht die Härte körperlicher Landarbeit – bestimmen die Bildaussage. Im malerisch impressionistischen Pathos verteilen sich weiße Baumwollknollen formästhetisch über die gesamte Fläche des Bildvordergrunds. Das obere Bilddrittel nimmt der helle Horizont ein. The Fruit Pickers schlägt mit der Darstellung junger Menschen eine symbolische Brücke in die Gegenwart. Sie zeigt zwei jüngere Landarbeiter beim Inspizieren ihrer Ernte. Auch diese Fotografie erreicht ihre Wirkung maßgeblich über die bildbestimmende Präsenz der Natur – die sorgsam in die Körbe gelegten Früchte vor bildfüllendem, dicht gedrängtem Blätterwerk der Obstbäume, die über die Begrenzungen der Fotografie hinausreichen – und nicht über die Fokussierung auf die körperlich anstrengende Tätigkeit. Polks spezifische Motivik, die schwarze Menschen in einfacher Kleidung vor behelfsmäßiger Behausung bei der Ausführung ›niederer‹ Landarbeit zeigt, knüpft an einen normativen Wahrnehmungsrahmen an. Einen solchen Rahmen bilden die üblicherweise im Kontext der südstaatlichen Sklaverei hervorgebrachten Figuren eines old negro type (Uncle Tom, Mammy, Uncle Remus, etc.), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts literarisch entworfen wurden und sich in verschiedenen Ausprägungen bis in die Gegenwart hinein erhalten haben. Polks Genrebilder rekurrieren entsprechend auch in den Bezeichnungen (Bild- und Serientitel) auf einen old negro type, der motivisch überwiegend durch ältere Leute dargestellt wird: Polks Darstellungen zielen darauf, gegen die Vergänglichkeit und den Bruch mit der schwarzen Vergangenheit, dem der zukunftsorientierte Impuls des New Negro in der Harlem Renaissance zugrunde liegt, das ewig Gültige zu setzen. Der modernistischen Tendenz von Aufbruch und Erneu-

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erung erwidert Polk mit kontemplativen Momenten der Rückschau in Vergangenes, das sich im Gegenwärtigen fortschreibt. Die Bilder stellen den Menschen in der Beziehung zu seiner Umwelt und Arbeit dar. Die Ästhetik des ländlichen Raumes, die die existentielle Not und körperliche Arbeit der schwarzen Landbevölkerung nachzeichnet, kann als Infragestellung einer scheinbar erfolgten Rückeroberung des eigenen Körpers von den Belastungen schwerer (Sklaven)Arbeit interpretiert werden. Die Gegenwart der ökonomischen Knebelung schwarzer Lohnarbeiter in den südstaatlichen Agrargebieten, die als Kleinpächter oder mittellose Landarbeiter in sharecropping-Verhältnissen ihre Existenz bestritten, ist mit den Lebensbedingungen der peculiar institution zwar nicht gleichzusetzen, kam diesen aber doch immer noch sehr nahe. Die armen Lebensverhältnisse, die in Polks Bildern präsent sind, können als implizite Anklage gegen die noch immer existierende ökonomische Ausbeutung auf dem Land durch ungerechte Pachtverhältnisse gelesen werden, unter denen gerade die schwarze Bevölkerung zu leiden hatte. Doch selbst wenn Polk die schwierigen Lebensbedingungen der schwarzen Landbevölkerung nicht leugnet, stehen diese Aspekte nicht im Zentrum seiner Bilder. Mit der vorgenommenen Verklärung ländlicher Arbeit sowie Heroisierung/Stilisierung der Abgebildeten zu symbolträchtigen Identifikationsfiguren ergeben sich Anknüpfungspunkte für eine Lesart, die trotz der erkennbar schwierigen Lebensumstände ein positiv konnotiertes Bild zeichnet. Vergleichbar mit dem editorischen Dokumentarismus der Farm Security Administration (FSA-)Fotografie in den dreißiger Jahren bildet die lyrisierende Bildgestaltung durch den Fotografen einen wichtigen Bestandteil der visuellen Botschaft. Polks sentimentale Pastoralszenerien wurden nicht im Rahmen eines staatlichen verordneten, fotografischen Aufklärungsprogramms erstellt, bei der, wie im Falle der Sozialfotografie der Farm Security Administration, die Fotografie die breite Öffentlichkeit für die problematischen Lebensumstände der unter der Depression leidenden Landbevölkerung sensibilisieren sollte, sondern aus einem rein persönlichen, ästhetischem Interesse. Zwischen dem FSA-Dokumentarismus und Polks Genre-Szenen ergeben sich bildsprachliche Ähnlichkeiten, insbesondere was den epischen Dokumentarismus der Bilder bzw. den eigentümlichen Kontrast zwischen kritischem Realismus und idealisierender Romantik betrifft. Ihre rhetorische Qualität gewinnen Polks Bilder sowie die der FSA-Fotografen weniger durch ihr-

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Abb. 74: P. H. Polk, Cotton Picking, ca. 1937-1943

Abb. 75: William H. Johnson, Cotton Pickers, ca.1940 Abb. 76: William H. Johnson, Farm Abb. 77: P. H. Polk, The Fruit Pickers, ca. 1930er Couple at Well, ca. 1939-1940

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en dokumentarischen Realismus, sondern durch die nach ästhetischen Gesichtspunkten inszenierte Wiedergabe der Welt. Das von den schwierigen sozialen Verhältnissen der dreißiger Jahre betroffene (Land)Arbeitermilieu bildet das zentrale Motivfeld der FSA-Bilder, deren spezifische Dramaturgie sich um die sympathisierende Anteilnahme des Betrachters bemüht. Dass in den Aufnahmen vorrangig die Lebensverhältnisse weißer Pächterfamilien dokumentiert wurden, zeigt, wie Michael Leicht notiert, »die tendenziell rassistisch geprägte Repräsentationspolitik« der FSA (41). Trotz anmutender Romantisierung der alltäglichen Armut erheben die FSADokumentaristen einen aufklärerischen Anspruch – in einem weitaus größeren Maße als Polk, dessen Bildsprache eine stärkere Tendenz zur Verklärung aufweist. Polks Aufnahmen zeigen die ›heile‹ Welt eines rustikalen, schwarzen Amerikas als bedeutungsgebendes Themenfeld, in dem eine ganze Reihe positiv konnotierter Bezugspunkte – Einfachheit, Ursprünglichkeit, Natürlichkeit – die schwierige Grundsituation des ländlichen Daseins überlagern. Was Polks Bilder zum Ausdruck bringen, ist die Vorstellung vom Glück der einfachen Leute. Die Bilder wecken im Betrachter ein Gefühl von Nostalgie und Sehnsucht nach einer geordneten, bodenständigen und unkomplizierten, pastoralen Vergangenheit. Aus Polks pastoraler Werkserie sind es die Studioporträts der Old Characters-Serie (1930er), die sein Renomée als wohl wichtigsten schwarzen Genrefotografen der dreißiger Jahre begründeten. Zentrales Merkmal der Porträtstudien ist das Prinzip der räumlichen Dekontextualisierung, durch die die Modelle im Bildraum isoliert und zugleich zentralisiert werden. Die Menschen, die nah an die Kamera herangerückt als Brust- oder Schulterbildfiguren einen Großteil der Bildfläche einnehmen, erscheinen im Bildraum losgelöst vor schwarzer monochromer Fläche. Die Distanz der Personen zu ihrer situativen Umgebung divergiert mit der Nähe des Fotografen zu seinen Modellen. Dadurch alterniert der Wahrnehmungsbezug zu den Personen zwischen distanzierter Betrachtung und intimem Beziehungsverhältnis. Durch das Herauslösen der Figuren aus ihrem alltäglichen Kontext wird die Wahrnehmung auf das ›reine‹, ursprüngliche Wesen der Figuren reduziert, das mit der arrangierten Künstlichkeit der Umgebung kontrastiert. Der Wahrnehmungseffekt der bildlichen Szene als Konstruktion, der von dem Konflikt zwischen einer als ursprünglich wahrgenommenen Erscheinung der Figuren und ihrer künstlichen Einbettung/Inszenierung ausgeht, wird zusätzlich gesteigert durch die unbewegliche Präsenz der Per-

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Abb. 78: P. H. Polk, George Moore, 1930

Abb. 79: P. H. H Polk, The Boss, 1932 1

Abb. 80: P. H. Polk, Henry Baker, 1932

sonen im Bildraum. Die Menschen veerharren statisch in spezifischen Repräsentationsposen vor schwarzem Hinntergrund. Aspekte der Standhaftigkeit, des Durchhaltevermögens und derr Lebensbejahung sind stets präsent. George Moore präsentiert sich in derr gleichnamigen Fotografie seines Personenporträts (1930) (Abb. 78) in fronntaler Haltung zur Kamera. Seine Augen blitzen aus dem dunklen Schattenw wurf des behelfsmäßig geflickten Huts hervor, der tief in die Stirn gezogenn ist. Trotz der melancholischen Grundstimmung, die sich primär über die nachdenkliche Mimik vermittelt, verkörpert der Mann den stillen Kämpfer, der das Schicksal in den eigenen Händen trägt. In Polks Fraueninszenierungg The Boss (1932) (Abb. 79), auf die bereits im Diskurs um die Neubestimmung des black mammyÄsthetizismus eingegangen wurde, werdeen unerschütterlicher Lebenswille und ungebrochener Kampfgeist noch deutllicher formuliert. Ihr entschlossener Auftritt kann als Symbol für das Beharrren auf Selbstachtung trotz desolater Lebensumstände gelesen werden. Wiie den Äußerungen Polks über die Inszenierung seiner Modelle zu entnehmeen ist63, vermittelt sich die Bildaussage entlang konzeptioneller Eingriffee und Arrangements des Fotografen. Die Dekontextualisierung der Subjekkte aus ihrem ursprünglichen Lebensraum bewirkt die Reduzierung der Wahrnehmung W auf das ›authentische‹ Wesen der Figuren. Der Fokus wirdd dabei von den sozialen Lebensumständen der Personen weggelenkt hin zu z Fragen nach der menschlichen Substanz der schwarzen Landbevölkerunng – der ›Seele‹ des schwarzen, 63 Vgl. das Zitat des Fotografen über die Inszzenierung seiner Studie The Boss auf S. 210.

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agrarischen Südens –, die bei Polk wesentlich an das Motiv der unerschütterlichen Würde und Selbstbehauptung anknüpft. Nostalgisierung und Romantisierung pastoraler Szenen und Figuren bringen den Wunsch nach positiv besetzten, geschichtlich verankerten Identitätsbildern zum Vorschein, nach Rückbesinnung und Verbundenheit mit einer als beständig und ehrbar imaginierten alten Heimat. 8.1 P. H. Polk – Pastorale Vergangenheit und schwarze Erinnerungskultur In Polks pastoraler Werkserie erfolgt eine grundsätzliche Anerkennung der ländlich geprägten Lebenssituation schwarzer Menschen in Amerika. Diese ist nach wie vor von existentieller Not und Armut gekennzeichnet: Menschen mit abgenützter Kleidung, in notdürftigen Baracken, bei der Verrichtung ›gemeiner‹ Landarbeit. Auf einer zweiten Interpretationsebene wird die reale Lebenssituation in den symbolischen Bereich der künstlerischen Gestaltung überführt, die die Vergangenheit selbstaffirmativ perspektiviert: durch die bildkompositorische Fokussierung des Ausschnittes auf pittoreske Naturlandschaften gerät die Härte körperlicher Landarbeit in den Hintergrund. Positive Charaktereigenschaften – unerschütterliche Lebenskraft, Würde, unbeirrbarer Überlebenswille – werden in pastoral verwurzelten Identitätstypen zur Geltung gebracht. Polks ästhetischer Dokumentarismus wahrt das konkrete Geschehen formästhetisch überhöht als positiv besetze Erinnerungskultur. Seine Personendarstellungen greifen auf paradigmatische Typen schwarzer Identitätsgeschichte zurück, die nahezu alle mit positiven Identitätsmerkmalen – Stolz, Würde, unbeugsamer Überlebenswille – überblendet werden. Dadurch treibt Polk ein subversives Spiel mit tradierten Identitätskriterien und stellt neue Sinnmuster für die Deutung des Vergangenen zur Verfügung. Stimmungsgesättigte, friedvoll anmutende Natursituationen lassen den Süden als erinnerungswürdigen Gedächtnisort in Erscheinung treten. Pierre Norás Begriff des Gedächtnisortes (lieu de mémoire) beschreibt gegenüber der einheitlichen, in sich geschlossenen Geschichtschronologie, die von einer objektiven Wahrheit ausgeht, ein heterogenes Konstrukt aus unterschiedlichen widersprüchlichen Erinnerungen. Erinnerungsorte sind im Gedächtnis imaginativ zu verorten und zeichnen sich dadurch aus, dass sie prozessual entstehen und durch wiederholtes Erinnern (re)konstruiert

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und gegebenenfalls neu arrangiert werden. Damit interessiert sich Noras Ansatz weniger für die Faktizität vergangener Ereignisse, sondern dafür, wie und weshalb diese im Nachhinein erinnert/rekonstruiert werden: The lieux we speak of, then, are mixed, hybrid, mutant, bound intimately with life and death, with time and eternity; enveloped in a Möbius strip of the collective and the individual, the sacred and the profane, the immutable and the mobile. For if we accept that the most fundamental purpose of the lieu de mémoire is to stop time, to block the work of forgetting, to establish a state of things, to immortalize death, to materialize the immaterial – just as if gold were the only memory of money – all of this in order to capture a maximum of meaning in the fewest of signs, it is also clear that lieux de mémoire only exist because of their capacity for metamorphosis, an endless recycling of their meaning and an unpredictable proliferation of their ramifications. (19)

Dabei weisen Gedächtnisorte weit über eine räumlich-geographische Dimension hinaus – sie repräsentieren vielmehr immaterielle Orte im Gedächtnis, die sowohl räumlich als auch imaginativ existieren können: Denkmäler, Gedenkstätten, Feiertage, Feste, Bräuche, Kunstwerke. Noras Ansatz der interpretativen Vergangenheitsrekonstruktion akzentuiert die produktive, sinnstiftende Bedeutung der lieux de mémoire für Gemeinschaften, die in den traditionellen, dominanten Geschichtsmodellen nicht berücksichtigt/übergangen wurden. Der Gedächtnisort als intentionale Form des Erinnerns kann im Hinblick auf subjektive Bedürfnisse und Notlagen produktiv genutzt werden, um sich neu zu erschaffen oder auf Verdrängtes und Unausgesprochenes aufmerksam zu machen. Polks Tendenz zur symbolischen Verdichtung bzw. Überhöhung schafft mittels Selektion und kreativer Arrangements von Erinnertem emotional wirksame Gegenwarts- und Vergangenheitsrepräsentationen. Deren Bedeutungsgehalt knüpft weniger an der Grundlage historischer Fakten an, sondern vielmehr an der Überführbarkeit des Erinnerten in gegenwärtige Sinnbedürfnisse und Herausforderungslagen. In seinen Bildern operiert Polk mit tragfähigen Erinnerungsfiguren, die in der Krisensituation der dreißiger Jahre zur kulturellen Selbstvergewisserung und Stabilisierung der kollektiven Gemeinschaft herangezogen werden können. Verkörperungen der Standhaftigkeit, die Beherrschung und Entschlossenheit signalisiert, sich den Herausforderungen des Daseins zu stellen, liefern affirmative Anknüpfungspunkte all

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jenen, für die sich das Versprechen des sozialen Aufstiegs und urbaner Erneuerung nicht erfüllt hat. Polks Bilder als Mittel zur Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Traumatischen veranschaulichen exemplarisch visuelle Formen schwarzer Gedächtnisbildung und Geschichtsreflexion. Das Wirkungspotential der Genrebilder liegt, wie bereits beschrieben, darin, die Vergangenheit in plurale Versionen aufzufächern, die mit der schwarzen Geschichte nur teilweise kompatibel sind. Positiv besetzte Erinnerungsfiguren ermöglichen eine bejahende Stellungnahme zur eigenen Vergangenheit. Archetypische Motivfelder einer nur schwer greifbaren slavery past belebt Polk in symbolisch verdichteten Deutungen einer pastoralen southern presence wieder. Historische Problemlagen werden in den Bildern zwar nicht vollständig negiert, aber zum Wohle gegenwärtiger Sinn- und Identitätsstiftung marginalisiert oder uminterpretiert. Polks Vergangenheitsreferenzen scheuen direktere Formen der Auseinandersetzung mit der schwarzen Vergangenheit, die durch ein hohes Maß an Gewalt, Ausbeutung und Entmenschlichung durchsetzt ist. Die Verheerungen der Gewaltanwendung an der schwarzen Bevölkerung sind in ihrem Ausmaß kaum fassbar als Realität, die einmal existiert haben soll bzw. immer noch existiert. Die Bilder implizieren vielmehr symbolische Reimaginationen – emotional begreifbare Revisionen der schwarzen Vergangenheit in Amerika –, die als positiv konnotierte Repräsentationen der Vergangenheit in das kulturelle Gedächtnis integriert werden können. Folkloristisch geprägte Motivfelder in der Harlem Renaissance-Kunst, wie sie der Maler William H. Johnson in beispielhafter Weise ausführte, können entsprechend ebenfalls unter dem Aspekt der Konstruktion einer ehrbaren ländlichen schwarzen Vergangenheit gelesen werden, die als positiver Bezugspunkt in das kollektive schwarze Gedächtnis eingeschrieben wird.

Afrikanisch-Amerikanische Identität im Medium der frühen Fotografie (1880-1930)

Objekt – Subjekt Die Arbeit reflektierte anhand exemplarischer, epochenbezogener Bildanalysen zentrale Topoi afrikanisch-amerikanischer Identität auf visueller Ebene in dem Bewusstsein, dass durch dieses Vorgehen schwarze Identität nur teilweise und nicht vollständig erfasst werden kann. Der schwarze fotografische Identitätsdiskurs bezog sich auf schwarze und weiße Fremd/Selbstentwürfe, über die die Bedeutung und Funktion afrikanischamerikanischer Identität herausgearbeitet wurden. Die Analyse motivischer Kernthemen machte für den gewählten Zeitraum eine zeitliche Entwicklung der schwarzen Identität deutlich. Im Gegensatz zu einer Momentaufnahme, wie sie durch die detaillierte Darstellung eines Fotografen erfolgt, unternahm die Arbeit anhand der Thematisierung epochenübergreifender Bilddiskurse den Versuch, den sozialen Entwicklungsverlauf afrikanisch-amerikanischer Identitätsgeschichte visuell nachzuzeichnen. Dieser Wandel schwarzer Identitätsgeschichte vom vollständig beherrschten Anschauungs- und Repräsentationsobjekt in der typologischen Fotografie und Lynching-/Mammy-Fotografie über die respektable Selbstgestaltung in der Porträtfotografie bis hin zu künstlerischen Ausdrucksformen in Beschreibungen urbaner Identität und romantisierenden Entwürfen der schwarzen Pastoralfotografie beschreibt eine zunehmende Hinwendung zum Subjekt – zur selbstgestalterischen Identitätsbestimmung, die in den zwanziger Jahren mit der vielgestaltigen Herausbildung des New Negro einen vorläufigen Höhepunkt erfährt. Die umfangrei-

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che Auswertung des für die vorliegende Arbeit relevanten Bildmaterials ergab eine Auswahl repräsentativer Motivfelder, die spezifische Kernpunkte des schwarzen fotografischen Identitätsdiskurs (1880-1930) sichtbar machten und mit folgenden Kriterien beschrieben werden können: typologisierend, politisierend, künstlerisch-ästhetisierend, idealisierend. Die Analyse verdeutlichte, dass Sinn und Repräsentationsweisen afrikanischamerikanischer Identität einem ständigen Verhandlungsprozess unterworfen war und entsprechend innerhalb der jeweiligen (Bild)Diskurse variierte. Als Beitrag zur fotografischen Behandlung schwarzer Identität innerhalb des dominanten Bilddiskurses ging die Arbeit in einem ersten Abschnitt auf das Bild des Schwarzen in der typologischen Fotografie und LynchingFotografie ein. Schwarze Identität und hegemonialer Bilddiskurs (1880-1900) Im ersten Teil wurde die dominante Diskursformation der Lynching- und anthropometrischen Fotografie um die Differenzkonstruktion des schwarzen Menschen als das ›Andere‹ innerhalb der weißen Gemeinschaft herausgearbeitet. Die Fotografie als eindeutiges, dauerhaftes und unveränderliches Wiedergabeverfahren wurde als machtpolitisches Mittel zum Zwecke der semiotischen Erfassung anatomischer Differenz außereuropäischer Rassen eingesetzt. So stellte der Wissenschaftler Francis Galton die von ihm entwickelte Bildtypologie des Kompositporträts als scheinbar ›authentischer‹, repräsentativer Ausdruck gruppenbezogener Identität in den Dienst seiner eugenischen Rassenideologie. Kulturell typisierte, physiognomische Identitätskriterien als Ausdruck charakterlicher und geistiger Eigenschaften werden durch die typologische Fotografie jedoch nicht nachgewiesen, sondern vielmehr reproduziert und legitimiert. Die Funktion der Fotografie als machtfunktionales Kontrollinstrument lässt sich in Amerika auch für die Lynching-Fotografie des ausgehenden 19. Jahrhunderts feststellen. Die Lynching-Fotografie zeigte sich allen voran als Herrschaftsmittel in der Zurschaustellung des unterworfenen Schwarzen, die nicht nur den tödlichen Ausschluss des schwarzen Menschen aus der Gesellschaft legitimierte, sondern auch das Zusammengehörigkeitsgefühl weißer Menschen verschiedener gesellschaftlicher und sozialer Schichten verstärkte. Kollektive (weiße) Identifikation wurde durch die Fotografie, die über die Be-

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schränkungen eines räumlichen und zeitlichen Bezugrahmens hinausreicht, nicht nur in sozialer Hinsicht entgrenzt: der fotografierte Mord an der schwarzen Bevölkerung, der, gefangen im unlöslichen Bann des Imaginären, unablässig und ortsübergreifend perpetuiert wird, ermöglichte eine orts- und zeitunabhängige Identifizierung weißer Menschen mit der herrschenden Macht. In Folge der soziokulturellen Umbrüche und Veränderungen nach dem Bürgerkrieg standen die Identitätskonstruktionen weißer und schwarzer Amerikaner grundlegend zur Disposition. Sozialer und ökonomischer Aufstieg der schwarzen Bevölkerung, der gestiegene Bildungs- und Lebensstand gingen nicht einher mit Anerkennung der erbrachten Leistungen auf Seiten der Weißen, sondern mit verstärkter Ausgrenzung und Entmenschlichung. Der symbolisch konstruierten und fotografisch popularisierten Existenz des schwarzen Gewaltverbrechers liegen machtpolitische Allmachtsfantasien – die hegemoniale Illusion von der vollkommenen, jedoch verlorengegangenen Beherrschung/Inbesitznahme/Erfassung des schwarzen Körpers – zugrunde. Der auf Postkarten kommerzialisierte, verdinglichte Tod wird zum Verkaufsschlager, zum Konsumgut – der darauf fotografierte Schwarze wird gleichsam zur Sache, zum Ding. Der bizarr deformierte, zerstückelte Leib1 stellt ein gegensätzliches Pendant zum weißen, heilen, ganzheitlichen Körper-/Gesellschaftsbildes dar – er weicht von ebenso sozialen wie »formalästhetischen Bestimmungskriterien wie Ordnung, Anordnung, Proportion, […] Beziehung, Harmonie, Symmetrie und Übereinstimmung« (Martin 244) ab, welche die Grundlage geordneter Gesellschaftsverhältnisse strukturell kennzeichnen. Schwarzsein wird auf visueller Ebene wesentlich durch seine ästhetisch-physische Differenz zur weißen, geordneten (Körper)Einheit definiert2: völlige Machtlosigkeit und körperliche Zerstückelung, die auf den Bildern präsent sind, stehen in Opposition zur geschlossenen, unversehrten und intakten Einheit der dominanten Ordnung. Die bestialisch hingerichtete Totengestalt figuriert die gefährliche Abweichung von herrschenden Strukturen, die dunkle, unheimliche Kehrseite, das bedrohliche, subversive Chaos innerhalb der

1

Der anatomisch entstellte Leib auf Lynching-Fotografien findet eine ästhetische Entsprechung in den grotesken, unförmigen, humoristisch-spöttischen Gestaltungen des schwarzen Körpers innerhalb der amerikanischen Populärkultur.

2

Vgl. hierzu auch Windus S. 265.

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amerikanischen Gemeinschaft. Die Lynching-Fotografie wurde vor dem Hintergrund des Freud’schen Begriffs des Unheimlichen analysiert, das als bedrohlicher Doppelgänger – als unheimliches Schattenbild des Selbst – im vertrauten Eigenen (Nationalen) konstitutiv vorhanden ist: der schwarze, todbringende Gewaltverbrecher, dessen ordnungsgefährdende Bedrohung auf dem Bild sensationalisiert und gleichsam gebändigt wird, dessen Leiden durch die Fotografie zeitlich fixiert und zugleich wiederholt wird, fungiert als unheimlicher Doppelgänger, als die phantomartige Gefahr, als das Verdrängte des nationalen Unbewussten – er figuriert die fragmentierte Missgestalt, das unheimliche Fremde, die bedrohliche Differenz, den aufständischen Feind, der die weiße Hegemonie und Ordnung radikal untergräbt. Auf den Lynching-Fotografien wird die Angst vor und Bedrohung durch die schwarze Gefahr in das kollektive Bewusstsein gerufen, identifiziert, begreifbar gemacht – und zugleich gebannt. Die Fotografien verleihen der Allgegenwärtigkeit verdrängter, existentieller Ängste eine dauerhafte Projektionsfläche, einen realen Körper. Die Bilder bewegen sich in diesem Sinne an der Schnittstelle zwischen Illusion und Wirklichkeit, zwischen Unbewusstem und Bewusstwerdung. Die fotografisch fiktionalisierte Gestalt des schwarzen Gewaltverbrechers, die in der Realität nicht vorfindbar ist, ist das, was die als real wahrgenommene Realität von der tatsächlichen Wirklichkeit trennt – Illusion und Wirklichkeit fallen in einer fotografierten, medial aufgeblasenen Scheinrealität ineinander. Die Diskursivierung der Lynching-Fotografie stellte die performative Wirkmacht der Bilder heraus: Sie sind es, die den Hass, die Angst und Gewalt nicht nur selbstmächtig produzieren, sondern auch legitimieren und wesentlich verschärfen. Die gelynchte Totengestalt wandelt sich im afrikanisch-amerikanischen Diskurs – deren Sinn und Bedeutung wird aus der Perspektive redaktioneller Zeitungsbeiträge neu formuliert und in ihr Gegenteil verkehrt: der erhängte Leichnam ist Verkörperung von Leid und sozialer, durch die weiße Mehrheitsgesellschaft ausgeübter Ungerechtigkeit, er präsentiert sich als wirkmächtiges Symbol von Diskriminierung und Misshandlung, das der weißen amerikanischen Zivilisation ihren bestialischen Spiegel vor Augen hält. Als Konsequenz rassistischer Diskriminierung und Unterdrückung implizieren Lynchmorde die Unmöglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe und der sozialen Integration. Das sprachlose, physisch ausgelöschte Opfer wird aus dem Kontext von Gewalt, Ohnmacht, Handlungs- und Sprachlo-

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sigkeit herausgenommen; ihm wird eine Stimme, ein Mitspracherecht (zurück)gegeben. Wiederbelebt aus dem Totenreich, wird das schuldlose Opfer in Verbindung mit dem Abbild Jesu in pathetischer Weise christologisch verherrlicht und rehabilitiert: mit heilsgeschichtlichen Aspekten versehen stirbt es den religiös verklärten Heldentod, der die schwarze Gemeinschaft von Leid und Unrecht erlöst. Bestimmungen der Black Mammy-Fotografie Zwischen der abgelebten Totengestalt auf Lynching-Bildern und der Figur der schwarzen Haussklavin auf Familienporträts ergeben sich visuelle Parallelen, die auf die symbolische Gleichsetzung des Sklaven und des freien, schwarzen Amerikaners im ausgehenden 19. Jahrhundert zielen. Zunächst ist festzuhalten, dass schwarze Sklavinnen seit Anbeginn der Fotografie in der repräsentativen Familienfotografie sklavenhaltender Oberschichtshaushalte vertreten sind, die sich häufig selbst und/oder ihren Nachwuchs zusammen mit der Haussklavin ablichten ließen. Über die repräsentative Selbstbespiegelung hinaus fördern diese Bildnisse Momente der Verdrängung, Verleugnung und Verharmlosung paradoxer Verhältnisse zutage: die heilen, reinen Familienporträts trugen zur Verdrängung einer von sinnwidrigen Widersprüchen und emotional verstörenden Beziehungsverhältnissen durchdrungenen Realität bei, in der die mit der Kindererziehung betrauten, dunkelhäutigen Ziehmütter zugleich als versachlichtes Eigentum zu behandeln waren. Die Familienbildnisse, die das familiäre Gefüge als repräsentierbare, erinnerungswürdige Lebensform in Erscheinung treten ließen, verharmlosten, normalisierten, idealisierten und stabilisierten sowohl in privat-familiärer wie auch in institutioneller Hinsicht die vorherrschenden Bedingungen. Wie der gelynchte Körper ist der weibliche Mammy-Körper durch dieselbe Struktur des Ausschlusses und der Abwesenheit, durch den instrumentellen Objektstatus und die bloße Präsenz der körperlichen Resthülle bestimmt. Beide bewegen sich in demselben phantomhaften Schwellenraum zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Leben und Tod. Vielleicht in einem stärkeren Maße als das gelynchte Opfer, welches die Schwelle in das Totenreich bereits überschritten hat und als soziales Wesen nicht mehr existiert, scheint die Figur der black mammy an einem Unort verhaftet, an dem die Spaltung zwischen Eigenem und Fremdem, von Identität und

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Nicht-Identität bis aufs Äußerste gesteigert ist. Weitere Gemeinsamkeiten bei der fotografischen Bestimmung der schwarzen Haussklavin und des Gelynchten ergeben sich entlang körperbezogener Zuschreibungen: der Mammy-Körper sowie der Körper des Lynching-Opfers sind auf den Fotografien allen voran biologistisch-rassistisch determiniert – der bedrohliche, unberechenbare, nackte, sexualisierte Männerkörper des Gelynchten einerseits und der entsinnlichte, entkörperlichte, instrumentalisierte Reproduktionskörper der schwarzen Haussklavin zum anderen. Aus der visuellen Topographie der Lynching- und Mammy-Fotografie können die Topoi und Repräsentationsformen schwarzer Identität in Amerika herausgelesen werden, die als dominante Ordnungskriterien die afrikanisch-amerikanische Identität bis in die Gegenwart prägen: Dämonisierung, Kriminalisierung, Sexualisierung, Entsexualisierung, Vermännlichung. Das schwarze Haussklavinnen-Dasein, das das Zurücklassen der eigenen Kinder erforderte, sowie die harte körperliche Arbeit schwarzer Feldsklavinnen, bewirkten eine geschlechterideologische Differenz zur herrschenden weißen Ordnung, die im Rahmen stereotypisierter Fremdzuschreibungen (herrisches Mannweib/unterwürfiger, infantilisierter DienstbotenTypus) bis in die Gegenwart hinein wirksam ist. Die repräsentationale Überhöhung der schwarzen Mutter- und Ehefrauenrolle als Teil des in den Dekaden um 1900 geführten Ehrbarkeitsdiskurses, auf die diese Studie näher eingegangen ist, diente nicht zuletzt der Stärkung der Statusbestimmung des schwarzen Mannes, der durch die Festschreibung der schwarzen Frau als respektable Ehefrau und Mutter seine Rolle als legitimes Familienoberhaupt beanspruchen konnte. Schwarze Fotografie und Respektabilität (1900) Ziel des zweiten Teils der Studie war es, zentrale Motivfelder innerhalb des afrikanisch-amerikanischen Identitätsdiskurses am Anfang des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Die hierbei hervorgebrachten Selbstentwürfe drehten sich in erster Linie um die Frage der Respektabilität als Grundvoraussetzung sozialer Anerkennung und gleichberechtigter Teilhabe. Der repräsentationale Ehrbarkeitsdiksurs wurde maßgeblich von der schwarzen Elite ausgetragen, die durch die ebenso soziale wie visuelle Konstruktion des respektablen schwarzen Bürgers bessere soziale und politische Partizipationsmöglichkeiten anstrebte.

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Frances Benjamin Johnstons Fotografien, die sie Anfang des 20. Jahrhunderts im Auftrag von Booker T. Washington erstellte, sowie die Bilder, die der schwarze Reformer als Anschauungsmaterial in seine Abhandlungen integrierte, stellen den schwarzen Menschen als pflichtbewussten, integrations- und entwicklungsbereiten Arbeiter und Studenten dar. Zentrales Konstruktionselement der Fotografien bildet das Motiv der handwerklichen Arbeit und Bildung als zivilisatorisches Mittel des sozialen Fortschritts und der kollektiven Erneuerung. Die über die Fotografien erfolgte Konstituierung des betriebsamen schwarzen Arbeiters repräsentierte einen Gegenentwurf zu stereotypischen Fremdzuschreibungen schwarzer Menschen als tölpisch, arbeitsscheu und lethargisch. Schwarze Zeitschriften begleiteten seit Ende des 19. Jahrhunderts die Genese und Fortentwicklung des afrikanisch-amerikanischen Fortschritts. Bildungsbestreben ebenso wie erarbeiteter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Erfolg bildeten im afrikanisch-amerikanischen Zeitungsdiskurs (The Messenger, The Crisis, Opportunity) wichtige Themenfelder, die maßgeblich visuell vermittelt wurden. Die Lebens- und Bildungsstrukturen, Werte- und Verhaltensmuster von schwarzen und weißen Amerikanern werden als vergleichbar angesehen und als identisch inszeniert. In speziellen Rubriken laufender Ausgaben und eigens der Bildung sowie dem ökonomischen Erfolg gewidmeten Sonderausgaben werden Porträtbilder erfolgreicher Geschäftsleute, Funktionsträger und Unternehmerpersönlichkeiten, häufig in Kombination mit Abbildungen herrschaftlicher Wohn- und Geschäftshäuser, sowie die Porträtaufnahmen von Schülern und Hochschulabsolventen einzelner Jahrgänge in seitenfüllenden, sich über mehrere Seiten hinweg erstreckenden Aneinanderreihungen vorgestellt, die den erreichten gesellschaftlichen Status, die finanzielle Eigenständigkeit und den Bildungserfolg der schwarzen Gemeinschaft dokumentieren. Auf den Bildern zeigt sich das Selbstverständnis des ehrgeizigen Bildungsbürgers, der den Anforderungen der selbstbestimmten, aufgeklärten Arbeits-/Wissens-/Zivilgesellschaft in jeder Hinsicht entspricht. Der Wissenschaftler W. E. B. Du Bois strengte mit Hilfe seines Bilderarchivs Types of American Negroes, das er für die Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 als fotografische Sozialstudie zusammenstellte, eine allgemeingültige Typologie des schwarzen Amerikaners in den USA an. Soziale Anpassung und Integration sind auf den Bildporträts sichtbar vollzogen: die typologischen Darstellungskriterien zur physischen Erfassung des sozial

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Anderen befolgend, verneinen Du Bois’ Personenporträts eine körperliche und daran anknüpfende geistige Alterität der schwarzen Bevölkerung. Die Übernahmen weißer bürgerlicher Entwürfe beinhalten keine Bezüge zu ethnischen Eigenschaften oder zu einer genuin afrikanischen Herkunft. Diese wurden vielmehr als Zeichen einer abgeschlossenen, hinter sich gelassenen Vergangenheit gesehen, die sich in der Konzeption eines urban geprägten, zivilisierten, zukunfts- und fortschrittsorientierten Bildungsbürgers auflöst. Die afrikanisch-amerikanische Porträtfotografie, die sich die Repräsentationsposen der bürgerlichen weißen Mittel- und Oberschicht aneignete, setzte im Bereich des Privaten den schwarzen Erneuerungsdiskurs fort. Die auf den Fotografien zur Schau getragene Identifikation mit einem weißen, nationalen Identitätsentwurf ist der Auffassung zur geistigkulturellen Überlegenheit der weißen Rasse gegenüber der Unterlegenheit und Wildheit nicht-weißer Rassen unterstellt, durch die die weiße Gesellschaft ihre Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv legitimierte: anstatt diskriminatorische Fremdentwürfe des wilden Schwarzen vollständig zu beseitigen, bestätigen die Aneignungen das genaue Gegenteil davon. Letztlich ist es der Wilde selbst, der aus den edel ausstaffierten Körpern zum Vorschein tritt. Homi K. Bhabha spricht von der kulturellen Maskerade, die schließlich an ihrer Anpassungsleistung zerbrechen muss, da sie ambivalente Subjekte erzeuge, die den dominanten Symbolen immer nur »almost the same, but not quite« entsprächen (Bhabha 1994, 86). So stellt die emanzipatorische Anpassung schwarzer Menschen an weiße Identitätsentwürfe den paradoxen Effekt des selbstaffirmativen Unterlaufens und gleichzeitigen Stabilisierens diskriminatorischer Fremdentwürfe dar. Der fotografische Bildraum wurde in Analogie zu Homi K. Bhabhas Kulturvorstellung des Dritten Raums als interkultureller, zwischenräumlicher Übergangs-/Metabereich, als dritter Kulturtext, konzeptualisiert, in dem Unausgegorenes angedacht wird und fruchtbare Verfremdungen sowie wechselseitige Überlagerungen zwischen hegemonialer und marginalisierter Kultur in den Mittelpunkt rücken. Schwarze Selbstbildnisse, verstanden als dritter Sinnhorizont, werfen einen Blick auf Fotografie als produktive, spannungsvolle und oftmals widersprüchliche Interaktions/Kontaktsphäre zwischen dominanter und minoritärer Kultur, in der bestehende Barrieren aufgebrochen und neue Repräsentationsformen ausgehandelt werden.

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Die afrikanisch-amerikanischen Selbstentwürfe der Jahrhundertwende vergegenwärtigen eine Selbstsicht, die, wie W. E. B. Du Bois’ Konzept der double consciousness beispielgebend darlegt, grundlegend durch den weißen männlichen Blick und dessen Interpretationskomplexe bestimmt wird. Jacques Lacans Spiegelstadium-Modell, das für den schwarzen Identitätsdiskurs fruchtbar gemacht wurde, stellt aus psychoanalytischer Perspektive die Bedeutung des (Spiegel)Bildes bei der Ich-Konstituierung heraus. Das eigene (unvollkommene) Ich-Bild wird über die Identifikation mit dem unversehrten, ganzheitlichen Spiegelbild, dem gespiegelten Ich-Ideal, überwunden und zugleich gespalten. Entscheidend für den schwarzen fotografischen Identitätsdiskurs ist hierbei der Aspekt der Ich-Bildung in grundsätzlicher Abhängigkeit von externen Bildern – des normativen Blicks –, auf den das marginalisierte Ich Bezug nimmt. Die Selbstentwürfe, die afrikanisch(-amerikanische) Eigenheiten in den Hintergrund stellen und sich jenseits der sozialen Auswirkungen von Sklaverei, Unterdrückung und Marginalisierung, in einem scheinbar geschichtslosen Raum, bewegen, sind identitätsstiftend und entfremdend zugleich. Schwarze Amerikaner, die ihre erhoffte Vollständigkeit/Unabhängigkeit über die Identifikation mit einem ganzheitlichen Ich-Bild (auf Fotografien) anstreben und imaginär schließlich erreichen, bleiben aufgrund der realen Abweichung zum imaginierten Spiegelbild weiterhin desintegriert, disparat. Die Möglichkeit der imaginären Identifizierung mit den heilen, makellosen Porträtbildern stellte schwarzen Amerikanern ein wichtiges Medium zur Selbststabilisierung und -bestätigung bereit. Andererseits erinnern diese Bilder sie stets an ihren scheinbaren Mangel, ihre Unvollständigkeit und Alterität. Die Identifizierung über fremde, äußere Bilder bleibt letztlich an eine Erfahrung der Entfremdung, Abwertung und Trennung gebunden. Hauptmerkmal des afrikanisch-amerikanischen Bildarchivs der Jahrhundertwende liegt insbesondere in dem Bemühen begründet, schwarze Identität als ehrbares Konzept im nationalen Raum vorzustellen, das diskriminatorische Strukturen und defizitäre Repräsentationen von Sklaverei, Rassismus und Marginalisierung ausspart. Hauptanliegen war es, den schwarzen Amerikaner in die dominante Nationalkultur durch die Übernahme der darin enthaltenen Wertesysteme einzuschreiben. Die Konstruktion ehrbarer Selbstbilder macht deutlich, wie afrikanisch-amerikanische Fotografen und Autoren sich der Herrschaft und Definitionsmacht der über sie geführten Diskurse widersetzten, Repräsentationskritik übten und zur Durchsetzung

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ihrer Interessen eigene Gegendiskurse etablierten. Die respektablen Selbstentwürfe bildeten eine erste wichtige Ausgangsbasis für die Konstruktion einer stabilen, homogenen nationalistisch geprägten schwarzen Identität, die sich in der emanzipatorischen Phase der Harlem Renaissance der zwanziger und dreißiger Jahre in ein integratives, klassenübergreifendes, multikulturelles Konzept weiter auffächerte. Alain Lockes entwickeltes Konzept des New Negro berief sich auf race als ethnokulturelle Identitätskategorie. Diese verwies nicht auf eine homogene ethnische Größe, sondern auf einen transethnischen Bezugspunkt, der über die Grenzen des nationalen Raumes hinausreichte. Schwarze Fotografie und Kunst (1900-1930) Die Interpretation des fotografischen Bildes als künstlerisches Ausdrucksmedium fällt in den USA mit der Begründung der Photo-Secession zusammen, die von Alfred Stieglitz im Jahre 1902 ins Leben gerufen wurde. Als Herausgeber der Zeitschrift Camera Work (1903-1917), als Fotograf, Kunsthändler und Initiator ausstellerischer Aktivitäten versuchte Stieglitz, Fotografie als künstlerische Ausdrucksform der amerikanischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Eine mit den künstlerischen Produktionen der Photo-Secession-Fotografen vergleichbare piktorialistische Bildästhetik konnte in den Werken der schwarzen Fotografen King Daniel Gangway, Cornelius M. Battey sowie der Fotografin Elise Forrest Harleston festgestellt werden. Dennoch kam es zwischen afrikanisch-amerikanischen Fotografen und dem Künstlerkreis der Photo-Sezession zu keinerlei theoretischer wie aktivistischer Zusammenarbeit. Schwarze fotografische Produktionen verliefen für den gesamten Untersuchungszeitraum weitestgehend isoliert vom Rest der Gesellschaft ab, nur in vereinzelten Fällen kam es zu einem produktiven Austausch zwischen weißen und schwarzen Fotografen und Ausstellern, wie dies etwa im Falle der weißen Fotografin Frances Benjamin Johnston geschah. Deren fotografische Inszenierungen über die humanitär-zivilisatorischen Einflussnahmen der Hampton InstituteSchulausbildung auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten der sozialen und politischen Partizipation marginalisierter Bevölkerungsgruppen wurden in der afrikanisch-amerikanischen Sektion »American Negro Exhibit« der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 ausgestellt.

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Neben dem für schwarze und weiße Fotografen gleichermaßen zutreffenden Umstand, dass Fotografie in der breiten amerikanischen Öffentlichkeit als ernst zu nehmende Kunstgattung zunächst auf wenig Anerkennung stieß, müssen die für schwarze Amerikaner vergleichsweise schwierigen ökonomischen und sozialen Bedingungen in den Dekaden um 1900 berücksichtigt werden, die dazu führten, dass schwarze Fotografen ihrer Profession vorrangig im Rahmen der kommerziellen Studiofotografie nachgehen konnten. Das fotografische Schaffen James VanDerZees als einer der bedeutendsten schwarzen Fotografen der zwanziger und dreißiger Jahre muss letztlich auch unter dem Gesichtspunkt der privaten Existenzsicherung eingeordnet werden. Sein fotografisches Gesamtwerk stieß erst in den sechziger Jahren im Rahmen einer Ausstellung über Harlems Kulturleben auf breiteres, öffentliches Interesse. Mit Beginn der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre setzten sich zunehmend ästhetische Positionen3 durch, die, um das politische Potential der Bilder zu steigern, sozialen Dokumentarismus mit künstlerischen Aspekten verbanden4. Die afrikanisch-amerikanische Kulturbewegung Harlem Renaissance der zwanziger Jahre erstrebte durch ästhetische Wiederaneignungen afrikani-

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Zur schwarzen Fotografie ab 1950 vgl.: Deborah Willis-Thomas, »Social and Artistic Movements 1950-1979«, Reflections in Black. A History of Black Photographers 1840 to the Present (New York und London: W. W. Norton & Company, 2000) 111-119. Zur Arbeit schwarzer Fotografen in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts vgl. die zur gleichnamigen Ausstellung erschienene Aufsatzsammlung Only Skin Deep. Changing Visions of the American Self (New York: Harry N. Abrams, 2003) sowie Stuart Halls Abhandlung Different. A Historical Context: Contemporary Photographers and Black Identity (London [et al.]: Phaidon, 2001) und Kerstin Brandes’ Studie Fotografie und »Identität«. Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre (Bielefeld: transcript Verlag, 2010).

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Über die spezifischen Themen- und Motivfelder der schwarzen Kunst in den sechziger Jahren schreibt der Kunsthistoriker Barry E. Gaither: »Black art had roots in: a) the activism of the Civil Rights Movement: b) rising cultural and political nationalism: c) latent resentment of racism and its humiliation: d) outrage over the brutal treatment of blacks struggling non-violently to gain the most basic rights« (60).

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scher Form- und Stilelemente einen Bruch mit etablierten kulturellen und ästhetischen Traditionen. Afrikanisch-amerikanische Maler, Dichter und Bildhauer, deren Ästhetik sich im größeren Kontext der klassischen Moderne bewegte, suchten in ihren Werken und Aktivitäten nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, durch die sie schwarzen Rassenstolz und ein neues Selbstbewusstsein artikulieren konnten. Der allen voran durch den Philosophen Alain Locke programmatisch angelegte Versuch, vermittels der Kunst eine eigene kulturelle Identität jenseits etablierter Vorgaben zu entwickeln, wurde mit sozialpolitischen Anstößen zur Verbesserung der Situation der schwarzen Bevölkerung in Amerika in Einklang gebracht. Der ästhetische Primitivismus, durch den die Moderne einen Ausbruch aus traditionellen Denk- und Ausdrucksformen suchte, wurde für das eigene identifikatorische Projekt als Ausdruck der Ablehnung weißer westlicher, als aufgezwungen empfundener Formenvorgaben eingesetzt. Die Fotografie der Harlem Renaissance-Ära nahm primitivistische Motive und Stilelemente in ihre Bildästhetik auf: Carl Van Vechtens Körperinszenierungen, die exotisch-primitivistische Ausdrucksformen mit schwarzer nackter Körperlichkeit verblenden, widerspiegeln den schmalen Grat zwischen kalkulierter Selbstironisierung und fremdbestimmter Instrumentalisierung ›afrikanischer‹ Formen, der die Möglichkeiten einer eigenmächtigen, sich frei von weißer Vereinnahmung entfaltenden schwarzen Avantgarde erschwerte. Van Vechtens Bildästhetik betont den Blick auf den nackten (schwarzen) Körper als einen von kulturellen Stigmata überlagerten. Bei dem schwarzen Harlem Renaissance-Fotografen James VanDerZee gelangen primitivistische Referenzen in der Darstellung spiritistisch-okkulter Themengebiete zur Geltung. Die spezifische Bildsprache der Fotografen James VanderZee und Carl Van Vechten wurde im größeren Kontext der Moderne analysiert. Die die Stilistik der klassischen Avantgarde kennzeichnende Auflösung einer durchgängig gestalteten Bildeinheit wird bei beiden Fotografen über die spezifische Licht- und Schattenregie und den Effekt der Mehrfachbelichtung erreicht. Schwarze Eigenheit wird in der schwarzen Fotografie der zwanziger Jahre weniger durch die Einbindung primitivistischer und afrikanistischer Ausdrucksformen oder über ästhetische Referenzen auf die eigene afrikanische Vergangenheit artikuliert, wie dies in den malerischen und literari-

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schen Produktionen der Harlem Renaissance-Ära erfolgte5, deren Schriftund Bildwerke dem kollektiven Trauma von Verschleppung und Sklaverei sowie den sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die gegenwärtigen Lebensbedingungen ästhetisch Rechnung tragen. Der moderne schwarze Selbstentwurf erfolgte durch dokumentarische Repräsentationen einer urban geprägten Lebenskultur: der die modernen Musik-, Tanz- und Unterhaltungsformen produzierende, inszenierende und repräsentierende Unterhaltungsstar prägt die Erscheinungsform des New Negro ebenso sehr wie die Figur des mondänen, die Formen und Repräsentationen moderner Stadtkultur lustvoll konsumierenden und pompös zur Schau stellenden Großstädters. Der schwarze Amerikaner der zwanziger Jahre wird zum Repräsentanten der amerikanischen Moderne. Die modernistischen Kulturformen des New Negro als Gegendiskurs zum zivilisierten, sich in weißen

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Zu Recht stellt sich an dieser Stelle die Frage, warum ein kritischerer Umgang mit der eigenen Geschichte in der afrikanisch-amerikanischen Fotografie im Gefolge der ästhetischen Erneuerungsbewegung der Harlem Renaissance nicht erfolgen konnte. Schwarze Fotografen hätten sich sehr viel stärker mit den spezifischen Aspekten und Auswirkungen ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen können – denn letztlich trägt auch das eigene Ausblenden der schwarzen Erfahrung zur Marginalisierung der afrikanisch-amerikanischen Kulturgeschichte in der nationalen Geschichtsschreibung bei. Mögliche Gründe können in dem Umstand liegen, dass die Wirklichkeitsaneignung und -repräsentation in der Fotografie sehr viel unmittelbarer und direkter erfolgt als in den ästhetischen Abstraktionen und Stilisierungen der Malerei und Belletristik. Die künstlerische Verwendung der Fotografie – etwa im Sinne der Anwendung abstrahierendstilisierender Techniken, die eine Annäherung an emotional belastende Inhalte hätte erleichtern können – war insgesamt deutlich weniger ausgeprägt als die Nutzung des Mediums als ein die Wirklichkeit reproduzierendes Wiedergabeverfahren. Die Fotografie wurde vielmehr dazu eingesetzt, einer durch Rassismus, Segregation und Armut bestimmten Wirklichkeit ›realistische‹, positiv besetzte Gegenbilder entgegen zu setzen. Darüber hinaus reiht sich die fehlende Thematisierung der eigenen Geschichte in der schwarzen Fotografie übergangslos in die historische Sprachlosigkeit schwarzer Menschen in Amerika ein. Diese beginnt bereits mit der auferlegten Kommunikation afrikanischer Sklaven, die sich in der fremden Sprache der weißen Sklavenhalter verständigen mussten.

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Identitätsentwürfen auflösenden Schwarzen galten innerhalb des hegemonialen Diskurses allerdings als Kriterien des Ausschlusses. Die Zwillinge Marvin und Morgan Smith hielten auf ihren Fotografien das pulsierende Kultur- und Nachtleben Harlems der dreißiger und vierziger Jahre fest. In ihren Bildern vermieden die Brüder es bewusst, eine für die Mehrheit schwarzer Amerikaner zutreffende Lebensrealität einzufangen, die, verstärkt durch die Weltwirtschaftskrise, von Armut, Verelendung und Kriminalität bestimmt war. Ein augenfälliges, durchgängiges Bildmotiv stellt den Körper in Bewegung dar. Tänzerische Aktivität, sportliche Dynamik, sinnliche Bewegung und lebensbejahender Müßiggang zeichnen nicht nur ein neues Lebensgefühl nach, sondern sind Ausdruck für ein verändertes Körperbild: die Fotografien verdeutlichen auf visueller Ebene die allmähliche Loslösung von gezähmter Körperlichkeit. Sie sind als Zeichen der Befreiung des domestizierten, disziplinierten, völlig beherrschten Funktionskörpers aus lebloser Starre und einengender Fixierung zu lesen. Der New Negro der zwanziger Jahre beschreibt in erster Linie ein in die Zukunft gerichtetes Projekt, das den Strukturen der Großstadt entwachsen ist. In der afrikanisch-amerikanischen Fotografie des Untersuchungszeitraumes finden sich aber auch Bemühungen, eine ehrbare, den agrarischen südstaatlichen Lebensraum betreffende schwarze Vergangenheit zu rekonstruieren. Motivfelder, die auf das Thema der Sklaverei und der ländlich/landwirtschaftlich geprägten Existenzbewältigung verweisen, sind symbolisch überhöht. Prentice H. Polks nostalgisierende Genrestudien greifen die pastorale Vergangenheit der schwarzen Bevölkerung in Amerika auf. Archetypische Motivfelder der durch die Sklaverei geprägten schwarzen Vergangenheit werden in stilisierten Studioporträts positiv besetzt als idealisierte Erinnerungskultur für das kollektive Gedächtnis aufbereitet. Die Vergangenheits- und Wirklichkeitsbewältigung vollzieht sich bei P. H. Polk im Sinne einer pastoralen Romantik entlang idyllisierter Konstruktionen, die erinnerungswürdige, archetypische Motivfelder – schwarze Mutterfigur als Überlebensmetapher (The Boss), romantisierte Feldarbeiter (Cotton Picking, Fruit Pickers), bescheidener, glückseliger Onkel (Portrait of George Moore) – wiederaufleben lassen. P. H. Polks pastorale Sujets bilden Teil einer folkloristisch geprägten Motivlinie in der schwarzen Harlem Renaissance-Kunst, die Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre das Ende der schwarzen Avantgardebewegung einläutete.

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Blick zurück – Blick nach vorn: Schwarze Fotografie ab 1940 Die sozialkritischen Bilder des Fotografen Gordon Parks bilden eine erste Ausgangsbasis, die aus schwarzer Perspektive die gesellschaftlichen Problemlagen der schwarzen Bevölkerung in den Fokus rückt. 1941 holte Roy E. Stryker, Leiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Farm Security Administration, Parks als Abb. 81: Glenn Ligon, ersten schwarzen Fotografen in sein Self-Portrait Exaggerating My Team, zu dem die damalige Elite Black Features / Self-Portrait der amerikanischen Fotografie – Exaggerating My White Walker Evans, Dorothea Lange, Features, 1998 Ben Shahn – zählte. Die FSABilder geben einen Dokumentarstil wieder, der neben der serielldokumentarischen Aufzeichnung der Situation auch die gestalterische Einflussnahme durch den Fotografen beinhaltete. Über die Verwendung der Kamera als nüchternes Reproduktionsmedium hinausreichend, nutzte auch Parks die Fotografie als rhetorisches Mittel, das die Wahrnehmung der abgebildeten Situation entsprechend beeinflussen sollte. Sein Bild American Gothic (1942) gilt als eine überzeitliche Metapher für Ausbeutung und Diskriminierung. Der Fotoredakteur des Life-Magazins, Wilson Hicks, stellte Parks 1948 für eine Reportage, die den gewaltsamen Gangalltag des New Yorker Stadtteils Harlem dokumentiert, als ersten schwarzen Fotografen in seinen festen Mitarbeiterstab ein. Bis Anfang der siebziger Jahre arbeitete Parks als Fotojournalist für das Magazin. In seinen realistisch gehaltenen Beiträgen und Fotoreportagen über den schwarzen Lebensalltag in den Städten thematisiert Parks die Auswirkungen von Sklaverei, Segregation und Diskriminierung als für die afrikanisch-amerikanische Gegenwart prägenden Faktor. Parks politisierte sich und seine Fotografie zunehmend, als er 1963 im Namen des Magazins beauftragt wurde, die Aktivitäten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung aufzuzeichnen. Im Rahmen dieser Tätigkeit erledigte Parks Fotoaufträge bei den Black Panthers und

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der Nation of Islam, aus denen imposante Bildzeugnisse über den Bürgerrechtler Malcolm X, Eldridge Cleaver und Muhammad Ali hervorgingen. Die Identitätsfrage schwarzer Amerikaner, die mit der Einfuhr schwarzer Afrikaner nach Amerika begann, ist bis heute von Ambivalenzen bestimmt, die durch dominante, in die Zeit der Sklaverei zurückreichende Zuschreibungen und der sich daraus ableitenden eigenen Fremdwahrnehmung hervorgerufen werden. Die Dekonstruktion dominanter Fremdentwürfe macht eine Auseinandersetzung mit eben diesen notwendig und sinnvoll. Im Gegensatz zu den Diskursformationen des Untersuchungszeitraumes, die sich weitestgehend durch ein Ausblenden der Sklaverei und ihrer Auswirkungen auszeichnen, bilden die Vergegenwärtigung und Integration der sklavischen Vergangenheit und ihrer Folgen auf das eigene Selbstbild in der zeitgenössischen afrikanisch-amerikanischen Fotografie ein zentrales Anliegen. Die Rückeroberung der verdrängten und verlorenen Erinnerung setzt die Sichtbarmachung und Ausstellung vergessener, aus dem kollektiven Gedächtnis verbannter Inhalte voraus – Themen, die zur Klärung aktueller identitätspolitischer Fragen aufgeworfen und problematisiert werden müssen. Zeitgenössische, afrikanisch-amerikanische Fotografen verfolgen in ihren Arbeiten das Ziel, an verlorenes Wissen über die Geschichte der schwarzen Bevölkerung in den USA anzuknüpfen, dieses als gemeinschaftsstiftendes Erbe in das Gedächtnis der amerikanischen und aller in der Diaspora lebenden Schwarzen einzuschreiben. Häufig erfolgen stilistische Rückgriffe auf dominante Repräsentationsstrategien und -formen, über welche all jene sprach- und namenlosen Opfer vergegenwärtigt werden, die aus den Annalen der hegemonialen Geschichtsschreibung ausgeschlossen wurden. Die afrikanisch-amerikanische Fotografin Pat Ward Williams, geboren 1948, beschäftigt sich in ihrer Arbeit Accused/Blowtorch/Padlock (1986) mit dem Trauma Lynching als psychisch nicht begreifbares und damit nach außen hin nicht kommunizierbares, repräsentierbares Ereignis. »What is that?, How can this photograph exist?, Can you be black and look at this picture without fear?, Who took this picture?, Somebody do something« – die auf schwarzem Teerpapier geschriebenen hellen Satzfragmente bilden eine argumentative Folie, auf der Williams die Existenz des fotografisch aufgezeichneten Lynchmordes zu verstehen versucht. Die Sätze umgeben eine Serie aus vier Bildern, die sich über verschiedene Ausschnitte und

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Größenaufnahmen dem Motiv eines an einen Baum geketteten, zu Tode gefolterten, schwarzen Mannes annähern. Ausgangsmotiv der Serie bildet die Ganzkörperaufnahme des ermordeten Leibes. Dieser wird durch die sich anschließenden Nahaufnahmen der gefesselten Hände und Arme sowie durch die Detailaufnahme der Folterkette visuell zerlegt. Die traumatischen Verletzungen des gelynchten Opfers werden hierbei anerkannt – vielmehr noch: sie werden in einem öffentlichen Rahmen noch einmal durchlebt, um überwunden werden zu können. Die Bild- und Textfragmente beschreiben das Ereignis als Schock eines traumatischen und unrepräsentierbaren Vorganges, als unbegreifliche Unmöglichkeit, die es zu erinnern gilt. Der afrikanisch-amerikanische Künstler Glenn Ligon, geboren 1960, thematisiert in seinem multimedialen Werk die vernachlässigten, verdrängten Aspekte afrikanisch-amerikanischer Geschichte, indem er deren Aktualität für die heutige Situation schwarzer Amerikaner beleuchtet. Auf seinen Fotografien wird der menschliche Körper zur biopolitischen Einschreibefläche, zum diskursiven Austragungsort geschlechtlicher, rassenbezogener Identitätskonflikte und -differenzen. Seine Arbeit Self-Portrait Exaggerating My Black Features / Self-Portrait Exaggerating My White Features (1998) (Abb. 81) besteht aus zwei lebensgroßen Ganzkörperaufnahmen des Künstlers. Die eingenommene, starre Pose und frontale Körperausrichtung zur Kamera verweisen auf die Wahrnehmung des Körpers als gleichsam zur Begutachtung ausgestellten, leblosen Exponats, auf Aspekte der typologisierenden Erfassung und Beobachtung. Trotz der unterschiedlichen Bildtitel, die den Betrachter auf körperliche Differenzen aufmerksam machen sollen, sind beide Porträts identisch – die Arbeit verweist darauf, dass Identität in ihrer Heterogenität nicht fixierbar und repräsentierbar ist. Sein AntiPorträt Self-Portrait (1996), das die Großaufnahme seines Hinterkopfes zeigt, widersetzt sich der fixierenden Gewalt des identifizierenden Blicks. Ligons selbstermächtigende Verweigerungsgeste (Rücken-/Hinterkopfansicht) ist ein durchgängiges Motiv im Bildwerk der afrikanischamerikanischen Fotografin Lorna Simpson, geboren 1960, die auf ihren Fotografien das Thema der visuellen Ausgrenzung und Unsichtbarmachung/Unsichtbarkeit schwarzer weiblicher Identität problematisiert. Mittels Verfahren der Parallelisierung und Gegenüberstellung wird entlang bestimmter, durchgängig wiederkehrender Motive (Haarteile, Masken, Frau in Rückenansicht, Stichwörter, Buchstaben, Satzfragmente) die Frage schwarzer Weiblichkeit im Kontext der gesellschaftlichen (körperlichen)

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Disziplinierung und Kontrolle, der Entfremdung und Abwertung herausgearbeitet. Ihre charakteristischen Bild-/Text-Kombinationen rekurrieren auf den typologischen Formenapparat der fotografischen Erfassung marginaler Identität: in Outline (1990) kombiniert Simpson in Form eines Diptychons das überlebensgroße Porträt einer schwarzen Frau in Rückenansicht mit dem Bild eines geflochtenen, rechtwinklig ausgelegten Zopfes. Die in die Bilder eingegliederten Begriffe (»back, lash, bone, ache, pay«) dienen nicht der identitären Konkretisierung, sie deuten vielmehr auf dominante Zuschreibungen und Konnotationen schwarzer Weiblichkeit, die die Möglichkeit einer souveränen Selbstbegründung erschweren. In einer weiteren zweiteiligen Arbeit, ID (1990), entzieht sich das Porträt der Frau, die sich in Rückenansicht zeigt, abermals dem Seh- und Kontrollfeld des Betrachters. Simpson verhindert durch die gewählte Positionierung ihrer Modelle vor der Kamera die Möglichkeit der fremdbestimmten Kategorisierung, gleichzeitig akzentuiert sie dadurch den zentralen Aspekt schwarzer weiblicher Unsichtbarkeit. Der geflochtene Zopf auf der zweiten Fotografie des Diptychons ist zu einer Spirale geschwungen. Exponierte, einem referentiellen Kontext entzogene Haarteile bilden ein wichtiges Gestaltungsmittel in Simpsons Werk – sie dienen als Symbol der ästhetischen (Ver)Formung schwarzer weiblicher Körperlichkeit, als typologisiertes Körperstigma, als biologistisches Zeichen schwarzer Andersheit. Der in beiden Bildern eingebettete Begriff »identity« fordert den Betrachter zur Identifikation mit der abgebildeten Person auf, deren Nicht-Identität sich jedoch als zentraler Bezugspunkt der Repräsentation erweist. Warhol’sche Serialität und Wiederholung als Zeichen menschlicher (schwarzer) Fragmentierung und Entindividualisierung sind charakteristische Kennzeichen in Simpsons Repräsentationsästhetik. Die sechsteilige Arbeit Guarded Condition (1989) zeigt das lebensgroße Ganzkörperporträt einer schwarzen Frau, erneut in Rückenansicht, in identischer sechsfacher Anordnung. Die über den Fotografien verlaufenden Holzleisten, die die Leiber in drei Abschnitte gliedern, deuten auf Aspekte des fragmentarisch zerlegten, beliebig modellierbaren und vollständig beherrschbaren Frauenkörpers. Die hinter dem Rücken verschränkten Arme der Frau potenzieren den Eindruck der körperlichen Disziplinierung und (Selbst)Kontrolle, die sich bis zur totalen Unbeweglichkeit steigert. Darunter in wechselnder Abfolge erscheinen die Begriffe »Sex Aattcks, Skin Attacks« – diese komplettieren die visuelle Wahrnehmung des eingeengten, fremdbeherrschten, kontrollierten Körpers.

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Abb. 82: Lorna Simpson, Corridor (Phone), 2003

In ihrer Videoinstallation Corridor (2003) (Abb. 82) befragt Simpson die Aktualität des schwarzen Haussklavinnen-Daseins für das gegenwärtige schwarze weibliche Selbstbild. Die zweikanalige Videoprojektion setzt sich aus zwei Filmen zusammen, die private Einblicke in die Lebenswelt einer schwarzen Sklavin/Dienerin und einer afrikanisch-amerikanischen Frau unserer Zeit geben. Beide Figuren nehmen Bezug zueinander, indem die jeweiligen Handlungen miteinander verwebt, parallelisiert sowie kontrastiert werden. Die gleichberechtigte Behandlung spezifischer Motive (Morgentoilette in der Anfangssequenz, persönliche Korrespondenz/Telefonat in der Schlusssequenz) zeigt, dass die Entfaltungsmöglichkeiten der Protagonistinnen auf einem vergleichbaren Fundament basieren und so zu ähnlichen Handlungen und Empfindungen führen können. Beide Frauen sind bestrebt, die ihnen zur Verfügung stehende Zeit konstruktiv für sich zu füllen. Dennoch hebt Simpson gegenüber der black mammy-Projektion die zentrale Bedeutung der eigenmächtigen Ich- und Tagesgestaltung hervor, etwa wenn sie der Sequenz, die minutenlang einen Treppenaufgang des Plantagendomizils zeigt, Szenen der kreativen Selbstbeschäftigung (Kochen, Lesen, Telefonieren) gegenüberstellt. Die afrikanisch-amerikanischen Fotografin Carrie Mae Weems, geboren 1953, setzt gegen das Vergessen von Geschichte, Herkunft, Identität und dem Leben in der Diaspora Bilder der Erinnerung. Ähnlich wie Simpson hält die Künstlerin durch die Überlagerung verschiedener Bild- und Zeitebenen die Erinnerung an das Trauma der Sklaverei wach. Für die Produktion ihrer fotografischen Sea Island Series (1992) erkundete Weems Anfang der neunziger Jahre die Inselgebiete vor South Carolina und Georgia auf der Suche nach den Spuren der schwarzen sklavischen Vergangenheit, die sie als sinnsstiftende, elementare Bezugsgröße schwarzer Identifikation

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in das kollektive Bewusstsein ruft. Ihr Augenmerk richtet Weems auf die physischen Überreste und die lokale Vegetation ehemaliger Sklavenquartiere großer Pflanzerplantagen – semitropische Palmenhaine, morastige Wiesenlandschaften, verfallene Baracken, Friedhöfe, Kirchen. Weems veranschaulicht in ihren Foto-/Text-Kombinationen, wie Vergangenes in den materiellen und physischen Überresten der Gegenwart fortlebt, inwieweit die gegenwärtige Identität einer Gemeinschaft mit Erlebtem und Zurückgelassenem durchdrungen ist. Ansichten von verlassenen, menschenleeren Räumen und Orten kombiniert Weems mit Überlieferungen und Legenden über Formen des afrikanisch-amerikanischen Widerstands gegen das weiße Sklavereisystem und kreiert dadurch mythische, affirmative Gedächtnissorte der schwarzen Geschichte. Ihre fotografische Serie From Here I Saw What Happened and I Cried (1995/1996), die Weems an den Beginn der Sea Island Series stellt, schafft durch die Neueinbindung bereits vorhandener Inhalte eine alternative Lesart. You Became a Scientific Profile, A Negroid Type, An Anthropological Debate, & A Photographic Subject (1995/1996) zeigt vier vergrößerte Reproduktionen der im Kontext des typologischen Bilddiskurses entstandenen Aufnahmen von sieben afrikanischen sowie in Amerika geborenen Sklaven, die der Wissenschaftler Louis Agassiz 1850 in Auftrag gab. Stabilität, Starre, Dauerhaftigkeit, Unveränderlichkeit werden in Weems FotoText-Rekonstruktionen medienästhetisch aufgebrochen. Die blutrot kolorierten Abzüge signalisieren Verwundbarkeit, Wehrlosigkeit und Gewalt als Merkmale einer den Sklaven allumfassenden Realität. Mit vier Satzfragmenten, die auf den Fotoglasplatten der vier Reproduktionen eingeschrieben sind – »You Became a Scientific Profile, A Negroid Type, An Anthropological Debate, & A Photographic Subject« –, überführt Weems die abgelichteten Personen vom toten Ding-Körper zum menschlichen Subjekt: der instrumentalisierte, zum ideologischen Anschauungsobjekt verdinglichte Körper wird zunächst als Gegenstand der naturwissenschaftlichen Anthropologie, als pseudowissenschaftlicher Identitätstypus exponiert (»Scientific Profile, Negroid Type, Anthropological Debate«); im Zuge seiner späteren Einbindung in einen musealen, sozialkritischen Rezeptionskontext wird er als menschliches Subjekt (»Photographic Subject«) rekonstruiert (Abb. 83). Weems beschäftigt sich in ihrer Ausstellung Slow Fade to Black, die von April bis Mai 2010 in der Jack Shainman Gallery in New York lief, mit

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Fragen der Sexualisierung schwarzer Körper in der amerikanischen Kulturproduktion. Ihre mehrteilige Foto-Story Mandingo (2009/2010) beleuchtet das Thema der sexuellen Funktionalisierung an dem Motiv des animalischen, halbnackten Plantagen-Sklaven sowie an der Rolle des zum Sexualobjekt degradierten Frauenkörpers schwarzer Sklavinnen. Die sich in der Gegenwart abspielende leidenschaftliche Szene zwischen einem hellhäutigen blonden Mann und einer dunkelhäutigen Frau pendelt zwischen der Bestätigung und der Persiflage ebenjener kulturellen Parameter. In Slow Fade to Black #1 (Eartha Mae Kitt) (2009/2010) analysiert Weems anhand von fünfzehn Frauenporträts aus der Film-, Show- und Musikwelt (Eartha Mae Kitt, Hattie McDaniel, Josephine Baker, etc.) Aspekte der medialen Verformung schwarzer weiblicher Identität von den zwanziger bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Weems benutzt dazu Footagematerial aus Film, Musik und Printmedien, das sie technisch manipuliert. Durch den technischen Einschnitt der Unschärfe wird der Effekt der Verwischung der (Haut)Farben verstärkt, der eine genaue Zuordnung erschwert. Ihre Videoinstallation Afro Chic (2009) sowie die Porträts zeitgenössischer afri-

Abb. 83: Carrie Mae Weems, & A Photographic Subject (aus der You Became a Scientific Profile, A Negroid Type, An Anthropological Debate, & A Photographic Subject-Serie), 1995/1996

Abb. 84: Carrie Mae Weems, Bild aus der Mandingo-Serie, 2009/2010

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kanisch-amerikanischer Frauen beschreiben eine allmähliche Hinwendung zum Schwarzsein (»Slow Fade to Black«). Hauptanliegen zeitgenössischer schwarzer Fotografen bildet in erster Linie das Bestreben, die Gegenwart in ihrer historischen Dimension transparent zu machen. Die wechselseitige Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart prägen die Themenwahl, die das Verlorene, Verleugnete, Verdrängte als unmittelbare, in den Macht- und Gewaltmechanismen der Gegenwart fortwirkende Realität anerkennt. Schwarze Identität wird als eine durch den männlich dominierten weißen Blick vermittelte, geprägte, codierte Zuweisung – als vollständig semiotisierte Wesensart – anschaulich und erfahrbar gemacht. Dieser Blick materialisiert und artikuliert sich in erster Linie auf der Ebene der Körperlichkeit: der schwarze Körper ist Medium und Instrument des festschreibenden Blicks, auf dem sich Eigenes und Fremdes verfestigt/auseinanderdividiert. Die Arbeiten bringen zum Ausdruck, dass afrikanisch-amerikanische Identität nach wie vor den Status von etwas Abgeleitetem, Nicht-Ursprünglichem, Nicht-Identischem inne hat, der schwarze Menschen von sich selbst entfremdet. Im Vordergrund zeitgenössischer schwarzer Fotografie steht der Topos der Wiederholung, in dem Motive und Strukturen aus der Vergangenheit fortleben: auf Repräsentationsformen des anthropologischen Bilddiskurses zurückgreifend, nutzen schwarze Fotografen ihre Kunst als ideologiekritisches Mittel zur Aufdeckung und Bewusstmachung eingebürgerter, zeitüberdauernder Muster. Die reflexive Bildästhetik, die häufig in Dialog mit sprachlichen Versatzstücken tritt, zielt mit ihrer Abbildung von großformatigen, frontal dem Betrachter zugewandten Körpern auf das Spiegelmotiv – auf die identitäre Einswerdung von Abgebildetem und Rezipientem – und damit auf die Aufhebung des machtgebundenen, distanzierten, voyeuristischen, souveränen Blicks: die Betrachter sind Voyeure, die in der Rückspiegelung auch Erblickte sind.

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AUSSTELLUNGSKATALOGE UND Ü BERBLICKSWERKE ZUR F RÜHEN AFRIKANISCH -AMERIKANISCHEN F OTOGRAFIE International Center of Photography, Hg. African American Vernacular Photography. Selections from the Daniel Cowin Collection. New York und Göttingen: ICP und Steidl Publishers, 2005 . Kelbaug, Ross J. Introduction to African American Photographs, 18401950: Identification, Research, Care & Collection. Gettysburg, Pa.: Thomas Publications, 2005. Shumard, Ann M. A Durable Memento: Portraits by Augustus Washington, African American Daguerreotypist. Washington D.C.: National Portrait Gallery, 1999. Sullivan, George. Black Artists in Photography, 1840-1940. Dutton und New York: Cobblehill Books, 1996. Thompson, Kathleen und Hilary Mac Austin, Hg. The Face of Our Past: Images of Black Women from Colonial America to the Present. Bloomington, IN: Indiana UP, 1999. Willis-Thomas, Deborah. Reflections in Black. A History of Black Photographers, 1840 to the Present. New York und London: W. W. Norton & Company, 2000. —. Black Photographers 1840-1940: An Illustrated Bio-Bibliography. New York [et al.]: Garland, 1985. Wilson, N, Jackie. Hidden Witness. African American Images from the Dawn of Photography to the Civil War. New York: St. Martin’s Press, 1999. Moutoussamy-Ashe, Jeanne. Viewfinders: Black Women Photographers. New York und London: Writers & Readers Publishing, Inc., 1986.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Unbekannt, Portrait of a Nurse and Young Child, ca. 1850. Quelle: The J. Paul Getty Museum, Los Angeles. Abb. 2: Thomas Martin Easterly, Portrait of a Father, Daughters, and Nurse, ca. 1850. Quelle: The J. Paul Getty Museum, Los Angeles. Abb. 3: Joseph T. Zealy, Jem, Gullah, Belonging to F. N. Green, 1850. Quelle: Peabody Museum, Harvard University. Abb. 4: Joseph T. Zealy, Delia, Country-Born of African Parents, Daughter of Renty, Congo, 1850. Quelle: Peabody Museum, Harvard University. Abb. 5: Francis Galton, Illustrations of Composite Portraiture, The Jewish Type, 1885. Quelle: University College London, Galton Papers. Abb. 6: Unbekannt, Lynching eines unbekannten afrikanisch-amerikanischen Mannes in Arkansas, ca. 1890. Quelle: Robert W. Woodruff Library, Emory University, Atlanta, Georgia. Special Collection Department, Allen & Littlefield Collection. Abb. 7: Unbekannt, Mob mit unbekanntem afrikanisch-amerikanischen Opfer, ca. 1900. Quelle: Robert W. Woodruff Library, Emory University, Atlanta, Georgia. Special Collection Department, Allen & Littlefield Collection. Abb. 8: Unbekannt, The Hounds – Vier Gesetzesvertreter mit Bluthunden im Lynchfall des Afroamerikaners Will James in Cairo, Illinois, 1909. Quelle: Robert W. Woodruff Library, Emory University, Atlanta, Georgia. Special Collection Department, Allen & Littlefield Collection. Abb. 9: Unbekannt, Volksfeststimmung beim Lynchfall des Afroamerikaners Will James in Cairo, Illinois, 1909. Quelle: Robert W. Woodruff Library, Emory University, Atlanta, Georgia. Special Collection Department, Allen & Littlefield Collection. Abb. 10: Unbekannt, Lynching-Fotografie mit Haaren der Opfer Thomas Shipp und Abram Smith, Marion, Indiana, 1930. Quelle: Robert W. Woodruff Library, Emory University, Atlanta, Georgia. Special Collection Department, Allen & Littlefield Collection.

272 | B ILDER DES W ANDELS IN S CHWARZ UND W EISS

Abb. 11: Unbekannt, Beschriebene Lynching-Postkarte eines Zuschauers beim Lynching des Afroamerikaners Allen Brooks, Dallas, Texas, 1910. Quelle: Robert W. Woodruff Library, Emory University, Atlanta, Georgia. Special Collection Department, Allen & Littlefield Collection. Abb. 12: Titelblatt des Chicago Defender vom 29. Juli 1916 zum Lynchmord Jesse Washingtons. Abb. 13: Spiegel-Titelbild mit Folterszene aus dem Abu Ghraib-Gefängnis vom 20. Februar 2006. Abb. 14: Unbekannt, Bildcollage in The Crisis, Dezember 1911, S. 70. Abb. 15: W. E. B. Du Bois, Home of an African American Lawyer, Atlanta, Georgia, with Men, Women, and Children Posed on Porch of House, 1899/1900. Fotograf: Thomas E. Askew. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Daniel Murray Collection. Album: Negro Life in Georgia, U.S.A. Abb. 16: W. E. B. Du Bois, Interior View of Room Showing Furniture, Piano, and Chandelier, 1899/1900. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Daniel Murray Collection. Album: Negro Life in Georgia, U.S.A. Abb. 17: W. E. B. Du Bois, African Americans in Church in Georgia, 1899/1900. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Daniel Murray Collection. Album: Negro Life in Georgia, U.S.A. Abb. 18: Unbekannt, Interior Residence of a Negro Business Man, Insurance Manager and Proprietor of Barber Shops, 1908. Quelle: The Negro American Family, Hg. W. E. B. Du Bois, 1908, S. 96. Abb. 19: Frances Benjamin Johnston, A Hampton Graduate at Home, 1899/1900. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Frances Benjamin Johnston Collection. Abb. 20: Frances Benjamin Johnston, History Class, Tuskegee Institute, Tuskegee, Alabama, 1902. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Frances Benjamin Johnston Collection. Abb. 21: Frances Benjamin Johnston, Saluting the Flag at the Whittier Primary School, 1899/1900. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Frances Benjamin Johnston Collection.

A BBILDUNGSVERZEICHNIS | 273

Abb. 22: Frances Benjamin Johnston, African American School Children Facing the Horatio Greenough Statue of George Washington, 1899/1900. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Frances Benjamin Johnston Collection. Abb. 23: James VanDerZee, World War I Veterans, 1916. Quelle: Donna Mussenden VanDerZee. Abb. 24: James VanDerZee, The Last Goodbye – Overseas, 1941. Quelle: Donna Mussenden VanDerZee. Abb. 25: Alva, Unidentified Woman and Man, 1918. Quelle: International Center of Photography, New York, Daniel Cowin Collection. Abb. 26: Frances Benjamin Johnston, Students in Workshop, Tuskegee Institute, Tuskegee, Alabama, 1902. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Frances Benjamin Johnston Collection. Abb. 27: Frances Benjamin Johnston, Students in Workshop, Tuskegee Institute, Tuskegee, Alabama, 1902. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Frances Benjamin Johnston Collection. Abb. 28: W. E. B. Du Bois, African American Man, Head-and-Shoulders Portrait, Right Profile, 1899/1900. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Daniel Murray Collection. Album: Types of American Negroes. Abb. 29: Thomas E. Askew, African American Girl, Head-and-Shoulders Portrait, Facing Right, 1899/1900. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Daniel Murray Collection. Album: Types of American Negroes. Abb. 30: W. E. B. Du Bois, African American Woman, Half-Length Portrait, Facing Left, 1899/1900. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Daniel Murray Collection. Album: Types of American Negroes. Abb. 31: Tresslar, Standing Woman, Wearing Dress with Bustle, Holding Purse at Side and Umbrella Resting on Pedestal, 1886. Quelle: Schomburg Center for Research in Black Culture, Photographs and Prints Division, New York, Schomburg Portrait Collection.

274 | B ILDER DES W ANDELS IN S CHWARZ UND W EISS

Abb. 32: G. E. Curtis, Studio Portrait of Man with Top Hat and Cane, ca. 1880er. Quelle: Schomburg Center for Research in Black Culture, Photographs and Prints Division, New York. Abb. 33: W. Hartzell & Co., Padi(?) M. Hunter at Age Eight, ca. 1900. Quelle: Schomburg Center for Research in Black Culture, Photographs and Prints Division, New York, Shivery Family Photograph Collection. Abb. 34: Ganns & Co., Studio Portrait of a Gentleman, 1908. Quelle: Schomburg Center for Research in Black Culture, Photographs and Prints Division, New York, George Freeman Bragg Photograph Collection. Abb. 35: Henrici & Garns, Quarter-Length Portrait of Woman Wearing Large Cross at Neck, 1880er. Quelle: Schomburg Center for Research in Black Culture, Photographs and Prints Division, New York, Cartede-Visite Collection. Abb. 36: Theo. Endean, Studio Portrait of ›Canzonetta‹, ca. 1896. Quelle: Schomburg Center for Research in Black Culture, Photographs and Prints Division, New York, Carte-de-Visite Collection. Abb. 37: John Henry Adams, Jr., Gussie, 1904. Quelle: »Rough Sketches: A Study of the Features of the New Negro Woman«. The Voice of the Negro, S. 326. Abb. 38: John Henry Adams, Jr., Dr. J. D. Hamilton, 1904. Quelle: »Rough Sketches: ›The New Negro Man‹«. The Voice of the Negro, S. 448. Abb. 39: Cornelius M. Battey, Portrait of W. E. B. Du Bois, ca. 1919. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C. Abb. 40: Cornelius M. Battey, Portrait of Paul Laurence Dunbar, ca. 1906. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C. Abb. 41: King Daniel Ganaway, The Spirit of Transportation (20th Century Limited), 1918. Quelle: Center for Railroad Photography & Art, Madison, Wisconsin. Abb. 42: Winold Reiss, Congo: A Familiar of the New York Studios, 1925. Quelle: Fisk University Museum of Art, Nashville, Tennessee. Abb. 43: W. E. B. Du Bois, African American Man, Head-and-Shoulders Portrait, Facing Left, 1899/1900. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Daniel Murray Collection. Album: Types of American Negroes.

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Abb. 44: W. E. B. Du Bois, African American Woman, Half-Length Portrait, Facing Right, 1899/1900. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Daniel Murray Collection. Album: Types of American Negroes. Abb. 45: Winold Reiss, Harlem Girl I, 1925. Quelle: Museum of Art & Archeology, University of Missouri, Columbia. Abb. 46: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er. Quelle: Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University, New Haven. Abb. 47: James VanDerZee, A Prophet, Harlem, 1922. Quelle: Donna Mussenden VanDerZee. Abb. 48: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er. Quelle: Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University, New Haven. Abb. 49: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er. Quelle: Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University, New Haven. Abb. 50: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er. Quelle: Collection of James Purdy. Abb. 51: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er. Quelle: Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University, New Haven. Abb. 52: James VanDerZee, Beau of the Ball, 1926. Quelle: Donna Mussenden VanDerZee. Abb. 53: James VanDerZee, Metropolitan Women’s Club, 1936. Quelle: Donna Mussenden VanDerZee. Abb. 54: James VanDerZee, Daydreams, 1925. Quelle: Paul R. Jones Collection, Atlanta, Georgia. Abb. 55: Carl Van Vechten, Untitled, 1930er/1940er. Quelle: Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University, New Haven. Abb. 56: James VanDerZee, Her Cigarette, 1935. Quelle: Collection of Howard Greenberg. Abb. 57: James VanDerZee, Hunter Spirit, 1930. Quelle: Donna Mussenden VanDerZee. Abb. 58: Aaron Douglas, Flight (aus dem Emperor Jones-Zyklus), 1926. Quelle: Collection of Jason Schoen, Miami, Florida. Abb. 59: Morgan and Marvin Smith, Lindy Hoppers, 1941. Quelle: Schomburg Center for Research in Black Culture, Photographs and Print Division, New York.

276 | B ILDER DES W ANDELS IN S CHWARZ UND W EISS

Abb. 60: Morgan and Marvin Smith, Tiny Bunch Stompin’ at the Savoy, 1938. Quelle: Schomburg Center for Research in Black Culture, Photographs and Print Division, New York. Abb. 61: Winold Reiss, Drawing in Two Colors (Interpretation of Harlem Jazz I), 1915-1920. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C. Abb. 62: Archibald J. Motley, Jr., Bronzeville at Night, 1949. Quelle: Collection of Camille O. and William H. Cosby Jr. Abb. 63: William H. Johnson, Jitterbugs (III), ca. 1941. Quelle: Smithsonian American Art Museum, Washington D.C. Abb. 64: Marvin und Morgan Smith, Dancers Backstage at the Apollo, 1936. Quelle: Schomburg Center for Research in Black Culture, Photographs and Print Division, New York. Abb. 65: Archibald J. Motley, Jr., Between Acts, 1935. Quelle: Chicago Historical Society, Chicago, Illinois. Abb. 66: Addison N. Scurlock, Aunt Mary, 1928. Quelle: National Museum of American History, Smithsonian Institution, Washington, D.C., Scurlock Studio Collection. Abb. 67: Richard Samuel Roberts, Untitled, 1920er. Quelle: Schomburg Center for Research in Black Culture, Photographs and Print Division, New York, Richard Samuel Roberts Portfolio. Abb. 68: James L. Allen, Brown Madonna, ca. 1941. Quelle: Schomburg Center for Research in Black Culture, Photographs and Print Division, New York. Abb. 69: W. L. Brockman, Madonna and the Child, 1913. Quelle: Titelbild von The Crisis, Dezember 1913. Abb. 70: Aaron Douglas, The Burden of Black Womanhood, 1927. Quelle: Titelbild der Crisis-Ausgabe vom September 1927. Abb. 71: Gordon Parks, American Gothic, 1942. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C., Farm Security Administration-Office of War Information Photograph Collection. Abb. 72: Winold Reiss, The Brown Madonna, 1925. Quelle: Library of Congress Prints and Photographs Division, Washington D.C. Abb. 73: P. H. Polk, Portrait of Charles Turner, 1930. Quelle: Paul R. Jones Collection, Atlanta, Georgia.

A BBILDUNGSVERZEICHNIS | 277

Abb. 74: P. H. Polk, Cotton Picking, ca. 1937-1943. Quelle: Paul R. Jones Collection, Atlanta, Georgia. Abb. 75: William H. Johnson, Cotton Pickers, ca. 1940. Quelle: Smithsonian American Art Museum, Washington D.C. Abb. 76: William H. Johnson, Farm Couple at Well, ca. 1939-1940. Quelle: Smithsonian American Art Museum, Washington D.C. Abb. 77: P. H. Polk, The Fruit Pickers, ca. 1930er. Quelle: Paul R. Jones Collection, Atlanta, Georgia. Abb. 78: P. H. Polk, George Moore, 1930. Quelle: Paul R. Jones Collection, Atlanta, Georgia. Abb. 79: P. H. Polk, The Boss, 1932. Quelle: Paul R. Jones Collection, Atlanta, Georgia. Abb. 80: P. H. Polk, Henry Baker, 1932. Quelle: Paul R. Jones Collection, Atlanta, Georgia. Abb. 81: Glenn Ligon, Self-Portrait Exaggerating My Black Features / Self-Portrait Exaggerating My White Features, 1998. Quelle: Im Besitz des Künstlers. Abb. 82: Lorna Simpson, Corridor (Phone), 2003. Quelle: Im Besitz der Künstlerin/Salon 94, New York. Abb. 83: Carrie Mae Weems, & A Photographic Subject (aus der You Became a Scientific Profile, A Negroid Type, An Anthropological Debate, & A Photographic Subject-Serie), 1995/1996. Quelle: International Center of Photography, New York. Abb. 84: Carrie Mae Weems, Mandingo, 2009/2010. Quelle: Im Besitz der Künstlerin.

Image Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur April 2013, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1711-5

Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11 Februar 2013, ca. 496 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2020-7

Guido Isekenmeier (Hg.) Interpiktorialität Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge Mai 2013, ca. 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2189-1

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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