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German Pages 238 Year 2018
Klaus Krüger, Karin Kranhold (Hg.) Bildung durch Bilder
Image | Band 125
Klaus Krüger, Karin Kranhold (Hg.)
Bildung durch Bilder Kunstwissenschaftliche Perspektiven für den Deutsch-, Geschichts- und Kunstunterricht
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der DFG im Rahmen des Erkenntnistransfer-Projektes »Bildung durch Bilder. Erkenntnistransfer zwischen Hochschule und Schule« (KR 2174/8-1) an der Freien Universität Berlin.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Hubert Graml, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4129-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4129-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort
Klaus Krüger/Karin Kranhold | 7
KUNSTWISSENSCHAFT UND BILDVERMITTLUNG Bildung durch Bilder in interdisziplinärer Perspektive. Kunstwissenschaftliche Bildvermittlung im Schulunterricht
Karin Kranhold/Elisabeth K. Paefgen/Martin Lücke | 13 Fantastisches Mittelalter? Geschichtswahrnehmung und -vorstellung am Beispiel mittelalterlicher Buchmalerei
Clara Kahn/Nicholas Beckmann | 47 Die Herren Goethe und Gainsborough oder »Wo sich Text zum Bilde find’t.« Zu Subjekt und Landschaft im späten 18. Jahrhundert
Daniel Mayr | 73 »Die Hauptschwierigkeit war natürlich Gott.« Passionsbilder als Objekte einer zeitgemäßen Bildvermittlung?
Barbara Welzel | 95
BILDER UND SERIELLES ERZÄHLEN Kabel, Kameras, Kommunikation. Sozialwissenschaft mise en scène in T HE WIRE (2002-2008)
Tanja Michalsky | 117 (Eis)Kalte Eröffnung! – Wie fangen Serien an? Erster Versuch zu einer Didaktik des Anfangs
Elisabeth K. Paefgen | 143
BILDER IN GESCHICHTSKULTUR UND -UNTERRICHT Geeignet oder ungeeignet? Bilder in aktuellen Schulbüchern für den Geschichtsunterricht
Bernhard Jussen | 171 »Sehen kann jeder!« Zu einem Irrtum der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation
Markus Bernhardt | 209
Autorinnen und Autoren | 231
Vorwort K LAUS K RÜGER /K ARIN K RANHOLD
Der vorliegende Band vereint Beiträge einer Tagung des Transferprojektes Bildung durch Bilder. Erkenntnistransfer zwischen Hochschule und Schule, die im Februar 2017 an der Freien Universität Berlin veranstaltet wurde. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Projekt Bildung durch Bilder nimmt die interdisziplinären Potenziale einer kunstwissenschaftlichen Vermittlung visueller Semantiken im Schulunterricht in den Blick und wurde am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin gemeinsam mit den Fachdidaktiken Deutsch und Geschichte sowie mit sieben Gymnasien in Berlin und Brandenburg konzipiert. Das Kooperationsvorhaben entstand als ein sogenanntes Transferprojekt der ebenfalls von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Kolleg-Forschergruppe Bildevidenz. Geschichte und Ästhetik an der Freien Universität Berlin. Die Kolleg-Forschergruppe widmet sich den spezifischen Strukturen und Verfahren bildlicher Evidenzerzeugung unter der Prämisse, dass Bilder in ihrer Funktion und Bedeutung nur in einer Verschränkung von Historisierung und ästhetischer Analyse, in einer Verschmelzung von Wirklichkeitsbezug und Eigenwirklichkeit angemessen fassbar werden. Die Ansätze und Erkenntnisse dieser Forschungen gilt es im Transferprojekt für schulische Vermittlungsprozesse – und damit für eine breite gesellschaftliche Nutzung – zugänglich zu machen. Schülerinnen und Schüler sollen die Möglichkeit erhalten, sich in curricular eingebundenen Unterrichtssequenzen mit einem komplexen Verständnis der ästhetischen Wirkungs- und Geltungskraft der Bilder und ihrer historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Fundierungszusammenhänge auseinanderzusetzen. Die Konzeption der praktischen Arbeit an den Schulen basiert in dem aktuellen Vorhaben auf einem fünfjährigen Pilotprojekt am Kunsthistorischen Institut:
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Das Projekt Denkwerk Kunstgeschichte, das von 2006 bis 2011 von der Robert Bosch Stiftung finanziert wurde, diente der Ermittlung des grundlegenden Potenzials kunstwissenschaftlicher Projekte im regulären Unterricht verschiedener Fächer sowie der Entwicklung und Evaluation geeigneter Kooperationsformate zwischen Universität und Schule. Im aktuellen Projekt rücken nun zwei Schulfächer ins Zentrum, in deren Bezugswissenschaften und Fachdidaktiken Bilder eine zunehmende Rolle spielen: die Fächer Deutsch und Geschichte. Die Tagung widmete sich dementsprechend insbesondere der Relevanz und dem Potenzial von Bildern und Bildvermittlung in deutsch- und geschichtsdidaktischen Zusammenhängen, nahm aber auch die Perspektiven des Kunstunterrichts und der Kunstwissenschaft innerhalb interdisziplinärer Kooperationen in den Blick: Welche Funktionen nehmen Bilder in literaturdidaktischen Kontexten ein, wenn z.B. filmisches und literarisches Erzählen gleichberechtigt nebeneinander treten? Welchen Einfluss haben Bilder und ihr Einsatz im Geschichtsunterricht auf kulturelles Gedächtnis und Geschichtskultur? Wie können Kunstwissenschaft und Kunstdidaktik in schulischen und kulturellen Bildungsprozessen die spezifischen Perspektiven anderer Disziplinen auf die Analyse visueller Semantiken sinnvoll aufgreifen und bereichern? Im produktiven interdisziplinären Austausch und einer lebhaften Podiumsdiskussion ergaben sich für alle beteiligten Fachdisziplinen neue Impulse zur Vermittlung von Bildern. Allen Autorinnen und Autoren sei dafür gedankt, dass wir nun die anregenden Beiträge der Tagung in gedruckter Form zur Diskussion stellen können. Tagung und vorliegender Band konnten nur Dank vielfältiger Unterstützung realisiert werden. Dieser Dank gilt zunächst Prof. Dr. Elisabeth K. Paefgen sowie Prof. Dr. Martin Lücke, die nicht nur grundsätzlich die fachdidaktische Expertise innerhalb des Projektes vertreten, sondern maßgeblich an Konzeption und Umsetzung der Tagung beteiligt waren. Großer Dank richtet sich zudem an die wissenschaftlichen Hilfskräfte, die für das Projekt im Allgemeinen sowie für die Organisation der Tagung und die redaktionelle Betreuung dieses Bandes im Besonderen unersetzlich waren: Yara Matea Schäl, Luise Römer, Daniel Mayr, Clara Kahn und Nicholas Beckmann brachten sich inhaltlich und organisatorisch in vielfacher Hinsicht ein und trugen so zur Entwicklung des gesamten Projektes bei. Engagiert unterstützt wurde das Vorhaben zudem durch den Institutsfotografen Hubert Graml.
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Ganz grundlegend ist zudem den engagierten Lehrkräften und Schulleitungen der an der Kooperation beteiligten Partnerschulen zu danken: • • • • • • •
Beethoven-Gymnasium, Berlin-Lankwitz Ernst-Haeckel-Gymnasium, Werder/Havel Hildegard-Wegscheider-Gymnasium, Berlin-Grunewald Königin Luise Stiftung, Berlin-Zehlendorf Melanchthon-Gymnasium, Berlin-Hellersdorf Sartre-Gymnasium, Berlin-Hellersdorf Schulfarm Insel Scharfenberg, Berlin-Reinickendorf
Ohne die Bereitschaft und die Offenheit der Lehrkräfte, ihre didaktischen Erfahrungen zu teilen und gleichzeitig die Herausforderungen neuer und experimenteller Angebote anzunehmen, wären die bisherigen zahlreichen Projekte und die Erkenntnisse zu den Möglichkeiten einer kunstwissenschaftlichen Bildvermittlung im Schulunterricht nicht möglich gewesen. Und schließlich ist ein umfassender Dank der Deutschen Forschungsgemeinschaft auszusprechen, die Projekt, Tagung und Publikation dieses Bandes finanziell überhaupt erst ermöglichte.
Kunstwissenschaft und Bildvermittlung
Bildung durch Bilder in interdisziplinärer Perspektive Kunstwissenschaftliche Bildvermittlung im Schulunterricht K ARIN K RANHOLD /E LISABETH K. P AEFGEN /M ARTIN L ÜCKE
Z UM V ERHÄLTNIS
VON K UNSTWISSENSCHAFT UND SCHULISCHEN B ILDUNGSPROZESSEN »Viele Bilder, überall« betitelte der Kunstpädagoge Franz Billmayer einen Beitrag zur »Bildkompetenz in der Mediengesellschaft«.1 Diese lakonische Zusammenfassung lässt sich durchaus auch für den heutigen Schulalltag bestätigen: Bilder unterschiedlichster Art zählen in vielen Schulfächern – nicht nur im Fach Kunst – zum alltäglichen Unterrichtsgegenstand. Sie begegnen den Schüler*innen in ihren Lehrbüchern2, als Einstieg zu Unterrichtseinheiten und während des Unterrichtsverlaufs. Nicht nur in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern, auch in den Philologien und den Naturwissenschaften spielen sie eine wichtige Rolle, in den genuin textbezogenen Schulfächern Geschichte und Deutsch sind Bilder und Filme mittlerweile sogar zum curricular verankerten Unterrichtsprogramm aufgestiegen.3 Damit werden auch außerhalb des Schulfa1
Franz Billmayer: »Viele Bilder, überall – Bildkompetenz in der Mediengesellschaft«, in: Gabriele Lieber (Hg.): Lehren und Lernen mit Bildern. Ein Handbuch zur Bilddidaktik, 2. Aufl., Baltmannsweiler 2013, S. 72-80.
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Exemplarisch für die mittlerweile umfangreiche Forschung zu diesem Thema Carsten Heinze/Eva Matthes (Hg.): Das Bild im Schulbuch, Bad Heilbrunn 2010. Zu Bildern in Geschichtslehrwerken vgl. den Beitrag Bernhard Jussens in diesem Band.
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Der Berliner Rahmenlehrplan Geschichte listet für alle vier Kurshalbjahre der Oberstufe verbindliche Besuche außerschulischer Lernorte auf, z.B. Museen oder Erinne-
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ches Kunst, das gemäß einer grundlegenden Definition von Kunibert Bering und Rolf Niehoff »das einzige Schulfach [ist], das das Bild als Bild problematisiert und in den Focus pädagogischen Handelns rückt«4, Schüler*innen in höchst unterschiedlichen Kontexten und unter heterogenen didaktischen Zielsetzungen mit Bildern konfrontiert – unter Umständen wird ihnen auch nur ein eher beiläufiger Blick gewährt. Aus kunstdidaktischer Perspektive wurden mittlerweile verschiedene Ansätze zum interdisziplinären Umgang mit Bildern erarbeitet, zusätzlich liegen erziehungswissenschaftliche Forschungen zur Bildliteralität sowie für verschiedene Schulfächer bereits eigenständige bilddidaktische Publikationen und Unterrichtshandreichungen für Lehrkräfte vor, die sich dem jeweils fachspezifischen Umgang mit Bildern widmen.5
rungsorten, zusätzlich wird als relevante Kompetenz – insbesondere im Themenfeld der Geschichtskultur – ein analytischer Umgang mit Bildern und Filmen benannt (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hg.): Rahmenlehrplan für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe: Geschichte, Berlin 2006, S. 20-27). Im Berliner Rahmenlehrplan Deutsch wird für das dritte Kurshalbjahr der Oberstufe das Thema »Filmisches Erzählen« festgelegt: Die Schüler*innen sollen »Texte unterschiedlicher medialer Form« analysieren (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Hg.): Rahmenlehrplan für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe: Deutsch, Berlin 2014, S. 25.) und – fachgerecht – »Literaturverfilmungen als Textinterpretationen erfassen«; zumindest im Leistungskurs aber sollen sie auch die Fähigkeit erwerben, »die ästhetische Qualität von […] Filmen beurteilen« zu können (ebd., S. 22). Zum Einsatz von Bildern in den Philologien konstatiert Wolfgang Hallet: »Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben zu sagen, dass es im weiterführenden Schulunterricht, also jenseits der Grundschule und außer dem Kunstunterricht, kein Fach gibt, in dem Bilder eine solche Rolle spielen wie im Fremdsprachenunterricht.« (Ders.: »Die Visualisierung des Fremdsprachenlernens – Funktionen von Bildern und visual literacy im Fremdsprachenunterricht«, in: Lieber (Hg.): Lehren und Lernen mit Bildern, S. 213-223, hier S. 213). 4
Kunibert Bering/Rolf Niehoff: Bildkompetenz. Eine kunstdidaktische Perspektive,
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Vgl. Kunibert Bering/Rolf Niehoff: Vom Bilde aus … Beiträge des Faches Kunst für
Oberhausen 2013, S. 7. andere Fächer, Oberhausen 2007. Für die erziehungswissenschaftliche Perspektive vgl. die Beiträge in Lieber (Hg.): Lehren und Lernen mit Bildern. Exemplarisch für einen bildbezogenen fachdidaktischen Ansatz Stefan Maeger: Umgang mit Bildern. Bilddidaktik in der Philosophie, Paderborn 2013.
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Eine Fachdisziplin, die in diesem Kontext ebenso gefordert erscheint, bisher jedoch nur in geringem Maße Anteil an den schulischen Entwicklungen nimmt, ist die Kunstwissenschaft. Sie zählt die verschiedensten visuellen Ausdrucksformen zu ihren Forschungsgegenständen und hat das methodische Instrumentarium entwickelt, um einen reflektierten Umgang mit Kunst und Bildern – hier verstanden in einem weiten Sinn für alle visuellen Semantiken von Malerei und Fotografie über Skulptur und Architektur bis zu Filmen und zeitgenössischen künstlerischen Interventionen – zu ermöglichen. Kunstwissenschaftliche Studien zum didaktischen Potenzial des eigenen Forschungsfeldes sind aber nach wie vor als Desiderat zu bezeichnen.6 Kunstgeschichte zählt bekanntermaßen nicht zum Fächerkanon des deutschen Regelschulsystems und hat als akademische Disziplin keine eigene Fachdidaktik entwickelt. Erst in den letzten Jahren – u.a. auch im Kontext der auf europäischer Ebene diskutierten Bedeutung kultureller Bildung7 – erhielt der kunstwissenschaftliche Blick auf didaktische Themen neue Impulse. Spätestens seit 2010/12 der »Educational Turn«8 ausgerufen wurde, hat insbesondere die Diskussion von Formen, Zielen und Wirkungen der Kunstvermittlung außerhalb der schulischen Instituti-
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Der Themenbereich wurde im deutschsprachigen Raum punktuell vor allem im wissenschaftshistorischen Kontext aufgegriffen, vgl. exemplarisch Peter Joerissen: Kunsterziehung und Kunstwissenschaft im Wilhelminischen Deutschland: 1871-1918, Köln 1979. Zur Erwachsenenbildung vgl. Joseph Imorde/Andreas Zeising (Hg.): Teilhabe am Schönen. Kunstgeschichte und Volksbildung zwischen Kaiserreich und Diktatur, Weimar 2013. Für eine frühe und differenzierte Ausrichtung auf die schulische Praxis vgl. die Beiträge in Irene Below (Hg.): Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975. Hierin auch der Beitrag von Irene Below zur Abwendung der Kunstgeschichte von der schulischen Bildung um 1900, Dies.: »Probleme der ›Werkbetrachtung‹ – Lichtwark und die Folgen«, S. 83-135.
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Im Jahr 2009 forderte auf europäischer Ebene der »Florentiner Appell« eine europaweite Einführung eines eigenständigen kunsthistorischen Schulunterrichts, um das Bewusstsein für europäische Kulturen und transkulturelle Prozesse zu schärfen. Abgedruckt in Claudia Hattendorff/Ludwig Tavernier/Barbara Welzel (Hg.): Kunstgeschichte und Bildung, Norderstedt 2013, S. 110-111.
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Vgl. O’Neill, Paul/Wilson, Mick: Curating and the Educational Turn. London/Amsterdam 2010. Schnittpunkt/Jaschke, Beatrice/Sternfeld, Nora (Hg.) in Zusammenarbeit mit Institute for Art Education, Zürcher Hochschule der Künste: Educational turn. Handlungsräume der Kunst- und Kulturvermittlung, Wien 2012.
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onalisierung deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen.9 Die sich zunehmend diversifizierenden Ansätze partizipatorischer Kunstvermittlung sowie künstlerisch-edukativer Interventionen in Ausstellungen und Museen10 provozierten im Jahr 2015 eine lebhafte Diskussion, als Wolfgang Ullrich ein Ende der »Banalisierung« der Kunst in Vermittlungsprozessen forderte.11 In Bezug auf die Museen konstatierte er »den markantesten Funktionswandel ihrer mehr als zweihundertjährigen Geschichte«12, einen Paradigmenwechsel, in dem letztlich aufgrund zunehmender Ökonomisierung nicht mehr den Objekten, sondern dem Publikum eine Schlüsselrolle zukäme. Während Fragen musealer Kunstvermittlung fachintern also durchaus auf Resonanz stoßen, werden schulische Bildungsprozesse von der Kunstwissenschaft dagegen vergleichsweise zurückhaltend in den Blick genommen. Zu den Ausnahmen zählen die zahlreichen Praxisprojekte, die Barbara Welzel ausgehend von der Frage nach der gesellschaftlichen Verankerung des materiellen Kulturerbes in einer zunehmend von kultureller Hybridität geprägten Gesellschaft konzipiert. Welzel sieht in kunstwissenschaftlichen Vermittlungsprozes-
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Der Begriff der Kunstvermittlung wird meist sehr weit definiert, z.B. von Ulli Seegers: »Überall dort, wo Kunstwerke […] Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung sind […], wird interessegeleitet vermittelt«. (Dies.: »Vermitteln. Eine Einführung«, in: Dies. (Hg): Was ist Kunstvermittlung? Geschichte – Theorie – Praxis. Düsseldorf 2017, S. 7-15, hier S. 9). Er wird aber in Abgrenzung von den Bereichen des Kuratierens, des Kunsthandels und der –kritik auch auf »das Moment des Lernens«, somit den Einsatz didaktischer Methoden zur Verwirklichung von Bildungszielen fokussiert (Carmen Mörsch: Was ist Kulturvermittlung? Intro, S. 14, in: Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste (Hg): Zeit für Vermittlung. Eine online Publikation zur Kulturvermittlung, 2009-2012, http://www.kultur-vermittlung.ch/zeitfuer-vermittlung/, S. 14 vom 05.09.2017).
10 Zum Stand der Entwicklungen nicht nur im musealen Kontext vgl. Birgit Mandel (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens, Bielefeld 2016. Das sich in diesem Kontext die Aufmerksamkeit auch auf schulische Bildungsprozesse richtet, zeigt z.B. das von 2014-16 an der Universität Salzburg angesiedelte Projekt Making Art – Taking Part!? (https://www.takingpart.at/ vom 05.09.2017). 11 Wolfgang Ullrich: »Stoppt die Banalisierung!«, in: Die ZEIT vom 26.03.2015. Mit der sich anschließenden Online-Debatte abgedruckt in Seegers (Hg.): Kunstvermittlung, S. 19-58, hier S. 19. 12 Wolfgang Ullrich: »Kunstvermittlung und der Paradigmenwechsel des Museums«, in: Seegers (Hg.): Kunstvermittlung, S. 59-66, hier S. 61.
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sen eine Möglichkeit, eine »Vorenthaltung von kulturellen Ressourcen, wenn nicht sogar Beraubung um Orientierung« zu verhindern.13 Sie bezieht sich in ihren Projekten auf das Schulfach Kunst und strebt eine stärkere Einflussnahme der Kunstgeschichte auf die Formulierung der schulischen Bildungsstandards an. Für diese zeichnet jedoch die Kunstpädagogik als Fachdisziplin verantwortlich, innerhalb derer die wissenschaftliche Ausrichtung des Schulfaches Kunst aktuell intensiv diskutiert wird: Gerade die Aushandlung des Verhältnisses der drei wesentlichen Handlungsfelder des schulischen Kunstunterrichts, Produktion, Rezeption und Reflexion von Kunst, ist ein zentrales Element dieser Diskussion, wobei bereits die Frage, ob die Kunstwissenschaft überhaupt als Bezugswissenschaft in Lehramtsstudiengängen für das Fach Kunst angesehen werden soll, durchaus umstritten ist.14 Selbst wenn die Integration kunstwissenschaftli-
13 Barbara Welzel: »Kunstgeschichte und kulturelles Gedächtnis: Zur Integration historischer Kunstwerke in Bildungsprozesse«, in: Klaus-Peter Busse (Hg.): (Un)Vorhersehrbares Lernen: Kunst – Kultur – Bild, Dortmund 2008, S. 161-169, hier S. 169. Ein Überblick über die Projekte, die von der Dortmunder KinderUni bis zu Architekturerkundungen in der Oberstufe reichen, in Barbara Welzel: »Kunstgeschichte, Bildung und kulturelle Menschenrechte. Dortmunder Projekte«, in: Hattendorff/Tavernier/Welzel (Hg.): Kunstgeschichte und Bildung, S. 63-84. Vgl. auch Niklas Gliesmann/Barbara Welzel: Denkwerkstatt Museum, Norderstedt 2015. Eine interdisziplinäre Bildvermittlung vertritt Philipp Zitzlsperger, der anhand seines Engagements im Geschichtsunterricht einer 9. Klasse erörtert, dass die »Kunstgeschichte als Geisteswissenschaft ihre Forschung und ihre Relevanz an die Schule« tragen und damit einen entscheidenden Beitrag zur nachhaltigen gesellschaftlichen Legitimation der Fachdisziplin leisten solle (Ders.: »›Linke‹ Kunstgeschichte ist … an die Schule zu gehen«, in: kritische berichte (2006) H. 3, S. 38-43, hier S. 42). 14 Vgl. Kunibert Bering: »Zwischen gestalterischer Praxis und Bildanalyse. Die Rolle der Kunstgeschichte im kunstpädagogischen Diskurs«, in: Michael Sauer u.a. (Hg.): Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen, Göttingen 2016, S. 53-63. Klaus-Peter Busse: Kunst unterrichten. Die Vermittlung von Kunstgeschichte und künstlerischem Arbeiten, Oberhausen 2014, hier vor allem S. 63-68. Sara Hornäk: »Zur Kunstgeschichte als Bezugsfeld der Kunstpädagogik. Der Stellenwert der Kunst, ihrer Geschichte und ihrer Theorie innerhalb der ästhetischen Bildung«, in: Johannes Kirschenmann/Frank Schulz/Hubert Sowa (Hg.): Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München 2006, S. 98109. Zur kunstwissenschaftlichen Sicht vgl. Claudia Hattendorff: »Konvergenzen und Divergenzen zwischen Kunstgeschichte und Kunstpädagogik heute«, in: Hattendorff/Tavernier/Welzel (Hg.): Kunstgeschichte und Bildung, S. 37-47.
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cher Inhalte befürwortet wird, differieren wiederum die damit verbundenen didaktischen Ziele: Während z.B. Hubert Sowa als Ziel einer kulturgeschichtlichen Didaktik die »Bildung eines klaren epochalen Grundverständnisses von europäischer und Weltgeschichte«15 definiert, verweis Kunibert Bering auf die notwendige Problematisierung des Epochenbegriffs und betont dagegen die Relevanz der »Vermittlung von Bildkompetenz als Teil eines zur Orientierung in der Welt führenden Konzeptes«16. Trotz der vielfältigen Ausprägungen der Kunstpädagogik wird die Disziplin nach wie vor von zwei grundsätzlichen Positionen geprägt: Auf der einen Seite wird – gerade aufgrund der Forderung nach Bildungsstandards – die Auffassung vertreten, auf der Basis eines weiten Bildbegriffs zähle vor allem die Vermittlung allgemeiner Bildkompetenzen zu den »substanziellen fachlichen Bildungsaufgaben des Kunstunterrichts«.17 Auf der anderen Seite wird dagegen im Konzept der »Künstlerischen Bildung« explizit die – vorzugsweise zeitgenössische – Kunst ins Zentrum des Faches gestellt: »Kerngebiet und zentrales Ziel künstlerischer Bildungsprozesse ist das künstlerische Denken«.18 Dieses Spannungsfeld spiegelt sich auch in den schulischen Lehrplänen wider. Im Berliner Rahmenlehrplan Kunst für die Sekundarstufe II werden als zentrale fachbezogene Kompetenz die Bildkompetenz sowie als »Kernbereich des Faches« die künstlerische Gestaltung benannt, die den Schüler*innen »Einsichten unmittelbar erschließt«19, in der Gewichtung der Bereiche Produktion und Rezeption werden die produktiven Fertigkeiten dabei als Basis und Ziel der
15 Hubert Sowa: »Kunstgeschichte lehren und lernen – Vorbemerkungen zu einer kulturgeschichtlichen Didaktik des Kunstunterrichts«, in: zkmb – onlineZeitschrift Kunst Medien Bildung, veröffentlicht am 28.12.2014, http://zkmb.de/162 vom 05.09.2017 16 Kunibert Bering: »Zwischen Praxis und Bildanalyse«, S. 62. Vgl. auch Kunibert Bering/Rolf Niehoff (Hg.): Bild-/Kunstgeschichte. Kunstpädagogische Anregungen, Oberhausen 2016. 17 Rolf Niehoff: »Dimensionen der Bildkompetenz(en) – aus kunstdidaktischer Perspektive«, in: Stefan Hölscher/Rolf Niehoff/Karina Pauls (Hg.): BildGeschichte – Facetten der Bildkompetenz, Oberhausen 2012, S. 109-121, hier S. 112. Vgl. außerdem Bering/Niehoff: Bildkompetenz. 18 Carl-Peter Buschkühle: Künstlerische Bildung. Theorie und Praxis einer künstlerischen Kunstpädagogik, Oberhausen 2017, S. 16. 19 Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg/Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Rahmenlehrplan für die gymnasiale Oberstufe: Bildende Kunst, Berlin 2006, teilweise überarbeitet 2010, S. 9-10.
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rezeptiven verstanden.20 Die angestrebte Unmittelbarkeit des Erkenntnisgewinns – in einem gleichsam »vor-wissenschaftlichen Erlebnisraum«21 – verdeutlicht, dass hier im Rahmen kreativer, kunstanaloger Bildungsprozesse eine subjektive Erschließung von Kunst angeregt werden soll, weniger jedoch die analytische Reflexion über die in Bildern enthaltenen Aufklärungs- und Wissenspotenziale und ihre historische Gebundenheit.22 Klaus-Peter Busse legte 2014 Ansätze für eine in den Kunstunterricht übertragbare Didaktik der Kunstgeschichte vor: Das Schulfach Kunst erfülle demnach »die Bildungsansprüche, die sich aus der Kunstgeschichte und aus dem künstlerischen Arbeiten ergeben: von der Sicherung des kulturellen Erbes bis zur Fähigkeit, eine künstlerische Haltung gegenüber der Welt zu entwickeln«.23 Busse stellt zur Diskussion, die Elemente Produktion und Rezeption gleichberechtigt zu etablieren und den in der Unterrichtspraxis vorherrschenden »integrativen Weg der Vermittlung von Kunst und Bildern«24 durch neue didaktische Handlungsmodelle zu ersetzen, die künstlerischen und wissenschaftspropädeutischen Ansprüchen gerecht werden können. Vor diesem Hintergrund erklärt Busse die Kunstwissenschaft explizit zu einer Bezugsdisziplin der Kunstdidaktik.25 Angesichts der kunstdidaktischen Diskussionen ist zu fragen, auf welche Weise die Kunstwissenschaft – als Disziplin ohne eigene Fachdidaktik – einen aktiven Beitrag zur Bild- und Kunstvermittlung im Schulunterricht leisten kann und wie aktuelle kunstwissenschaftliche Forschungsansätze und -erkenntnisse überhaupt für schulische Bildungsprozesse nutzbar gemacht werden können.
20 Vgl. Senatsverwaltung: Rahmenlehrplan Bildende Kunst, S. 13. 21 Hattendorff: »Konvergenzen und Divergenzen«, S. 39. 22 Dass auch viele unterrichtspraktische Publikationen der Kunstdidaktik den Bereich der Produktion ins Zentrum stellen und weniger eine analytische Vermittlung zwischen dem ästhetischen Eigenwert und dem historischen Bezugsrahmen von Bildern, zeigt sich z.B. an Vorschlägen zur Dekontextualisierung historischer Objekte, bei denen es sich insbesondere anbiete, »nach ›Zeitunabhängigem‹ zu fragen, das nach wie vor Gültigkeit hat und auch für die eigene Gestaltung zur Verfügung steht.« (Karina Pauls: »BildGeschichte im Kunstunterricht am Beispiel einer gestalterischen und rezeptiven Auseinandersetzung mit Porträts in einem Grundkurs der Jahrgangsstufe 12«, in: Hölscher/Niehoff/Pauls (Hg.): BildGeschichte, S. 123-135, hier S. 123). 23 Busse: Kunst unterrichten, S. 44. 24 Ebd., S. 38. 25 Ebd., S. 40.
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Die Dominanz bestimmter kunstwissenschaftlicher Methoden und Begrifflichkeiten innerhalb etablierter didaktischer Konzepte – wie in erster Linie Erwin Panofskys in den 1930er Jahren entwickeltes dreistufiges Interpretationsmodell der Ikonologie26, aber auch die Verwendung tendenziell eurozentrischer Epochenbegriffe27 – könnte durch, wie ich meine, gut in den Unterricht integrierbare kunstwissenschaftliche Ansätze relativiert werden, die eine Verschränkung von ästhetischer Eigenwirklichkeit und historischem Wirklichkeitsbezug der Bilder berücksichtigen. Auf diese Weise ließe sich der vielschichtige Bedeutungsgehalt der Bilder im Spannungsfeld ihrer historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Fundierungszusammenhänge und ihrer ästhetischen Wirkungs- und Geltungskraft für Schüler*innen auch in heterogenen didaktischen Kontexten außerhalb des Faches Kunst entfalten. Der interdisziplinäre Blick auf bildbezogene Kontexte anderer Schulfächer eröffnet hierbei die Chance, die didaktischen Potenziale kunstwissenschaftlicher Unterrichtsarrangements unabhängig von den umfangreichen Zielsetzungen des Kunstunterrichts sowie den etablierten Erwartungshaltungen der Schüler*innen an künstlerisch-produktive Handlungsmodelle dieses Faches zu ermitteln.28 Neben dem Austausch mit den jeweiligen Fachdis-
26 Vgl. Erwin Panofsky: »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst«, in: Logos (1932) Bd. 21, S. 103-119. Der Kunstdidaktiker Rudolf Preuss z.B. sieht gerade die »Panofsky-Methode offen für historische Fragestellungen und moderne, konstruktivistische didaktische Ansätze« (Rudolf Preuss: »Sinnes- und Sinnwahrnehmung. Über die Einbindung von Kunst- und Kulturgeschichte in den Kunstunterricht«, in: zkmb – onlineZeitschrift Kunst Medien Bildung, veröffentlicht am 19.11.2014, http://zkmb.de/77 vom 05.09.2017), zur ausgesprochen breiten Rezeption Panofskys in der Geschichtsdidaktik vgl. den Beitrag Markus Bernhardts in diesem Band. 27 Gemäß dem bayerischen Jahrgangsstufen-Lehrplan Kunst für die Oberstufe, der den Epochenbegriff als Leitgedanken der Vermittlung von Kunstgeschichte allen Jahrgangsstufen zugrunde legt, erarbeiten sich die Schüler*innen explizit »auf der Basis der Formanalyse und der ikonologischen Methode Verfahren zur Analyse und Interpretation von Gestaltungen der Kunst und Alltagsästhetik« (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.): Lehrplan für das Gymnasium in Bayern. Jahrgangsstufen-Lehrplan 11/12, Kunst, http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/ 3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=26204 vom 05.09.2017). 28 Während Klaus-Peter Busse kunstgeschichtliche Bildung als integrativen Bestandteil des Kunstunterrichts definiert, einen allgemeinen »Bildunterricht« dagegen einem schulinternen und fachübergreifenden mediendidaktischen Curriculum zuweist (Busse, Kunst unterrichten, S. 44.), sieht Hubert Sowa gerade außerhalb des Faches Kunst
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ziplinen bilden die breiten Forschungen der Kunstpädagogik zu den didaktischen Begründungszusammenhängen und zum Anstoß bildbezogener Lernprozesse im Bereich der Rezeption von Kunst die didaktische Basis eines solchen Vorgehens.29 Die interdisziplinären Ergebnisse zur Analyse der bildlichen Evidenz von Geschichte, Gesellschaft und Politik wiederum können im Kunstunterricht und in fächerübergreifenden Projekten gleichermaßen adaptiert und genutzt werden.
D AS INTERDISZIPLINÄRE P ROJEKT »B ILDUNG DURCH B ILDER « Das Projekt Bildung durch Bilder greift diese Überlegungen auf. Das Potenzial des Projektes liegt in seiner kooperativen und interdisziplinären Struktur: Fachdidaktiker*innen der Fächer Deutsch und Geschichte und Kunstwissenschaftler*innen der Freien Universität Berlin sowie Lehrkräfte von sieben Partnerschulen30 in Berlin und Brandenburg eruieren gemeinsam die Möglichkeiten einer
den Raum für kunstwissenschaftliche Unterrichtsarrangements, denn die »Ansprüche an einen wirklich bildenden Unterricht in Kunstgeschichte sind im Rahmen der unserem Fach gesteckten Stundenkontingente nur schwerlich zu erfüllen, wenn man bedenkt, dass der Haupt- und Großteil unserer fachlichen Bildungsaufgaben im Bereich der gestalterischen Vorstellungsbildung liegt. Die Geschichte der visuellen Kultur und Kunst und die Bildung eines geschichtlichen Bewusstseins sind eine Querschnittsaufgabe, die unser Fach vor allem zusammen mit den Fächern Deutsch, Philosophie und Geschichte leisten kann« (Hubert Sowa: Kunstgeschichte lehren und lernen). 29 Hier kann gerade aufgrund der fachinternen Debatten der jüngsten Zeit auf verschiedene aktuelle Konzepte zurückgegriffen werden. Gemäß Rolf Niehoff z.B. muss für die Schüler*innen »nach Wegen gesucht werden, die in das Dickicht der Kunst- bzw. Bildgeschichte führen und dieses durchsichtiger werden lassen« (Rolf Niehoff: »Ein Pfad in die Bild- und Kunstgeschichte: Bildgeschichte rückwärts«, in: Bering/Niehoff (Hg.): Bild-/KunstGeschichte, S. 9-34, hier S. 12), wofür er als eine mögliche Vermittlungsstrategie eine an Wolfang Pilz orientierte »Kunstgeschichte rückwärts« vorschlägt: Ausgehend von Bildern aus der Lebenswelt der Schüler*innen richtet sich hierbei der Blick auf historische Vorbilder. 30 Angesichts des wissenschaftspropädeutischen Unterrichtsverständnisses handelt es sich bei den Kooperationsschulen um Gymnasien, mehrere Projekte fanden aber auch in einer angeschlossenen Sekundarschule statt. Grundsätzlich wird eine Umsetzung in einem breiten schulischen Spektrum angestrebt, im Projekt Denkwerk Kunstgeschichte war neben einer Sekundarschule auch eine Grundschule integriert.
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kunstwissenschaftlich fundierten, interdisziplinär eingebundenen schulischen Bildvermittlung.31 Die Schüler*innen erhalten in Unterrichtsarrangements, die auf die Deutsch- und Geschichtscurricula abgestimmt sind, die Möglichkeit, visuelle Strukturen in einem umfassenden Sinn zu problematisieren, d.h. Kunst und Bilder in ihren spezifischen ästhetischen Qualitäten zu erkennen und sie gleichzeitig in ihrer historischen, gesellschaftlichen, politischen oder ökonomischen Bedeutung zu erschließen. Die erarbeiteten Unterrichtsarrangements stehen anschließend für eine Nutzung im Kunstunterricht oder in fächerübergreifenden Projekten zur Verfügung.32 In der konstruktiven Zusammenarbeit der Disziplinen werden die jeweils spezifischen fachdidaktischen Anforderungen an bildbezogene Unterrichtssequenzen und die Anschlussfähigkeit für kunstwissenschaftliche Themenfelder und Methoden analysiert, die z.B. den Aufbau geschichtskultureller Kompetenzen fördern können.33 Ein zentrales Kriterium liegt dabei darin, keine fakultati-
31 Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Erkenntnistransfer-Projektes Bildung durch Bilder sollen insbesondere die Ansätze der ebenfalls von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik gesellschaftlich nutzbar gemacht werden. Organisatorisch baut das Transferprojekt auf dem fünfjährigen, von der Robert Bosch Stiftung finanzierten Projekt Denkwerk Kunstgeschichte am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin auf, das den Raum für vielfältige Formen der Zusammenarbeit und den Aufbau eines funktionierenden Netzwerks mit Schulen bot. Zu diesem Projekt vgl. Klaus Krüger/Karin Kranhold: »Bildung durch Bilder. Ein Erfahrungsbericht zur interdisziplinären Vermittlung kunstwissenschaftlicher Kompetenzen im Schulunterricht«, in: Hattendorff/Tavernier/Welzel (Hg.): Kunstgeschichte und Bildung, S. 87-100. Klaus Krüger/Karin Kranhold (Hg.): Bildung durch Bilder. Kunstwissenschaft in der schulischen Unterrichtspraxis. Ausst. Kat. Berlin, Universitätsbibliothek der Freien Universität, Berlin 2011. 32 Verschiedene Teilprojekte wurden bereits in gewinnbringender Zusammenarbeit mit den Kunstfachbereichen der Partnerschulen konzipiert. Eine Publikation ausgewählter Unterrichtsarrangements als Handreichung für Lehrkräfte ist in Vorbereitung. Insgesamt wurden in den Jahren 2015 und 2016 mehr als 30 Einzelprojekte in den Jahrgangsstufen 5 bis 12 durchgeführt. Zur ausführlichen Vorstellung zweier Projekte vgl. die Beiträge von Daniel Mayr und Clara Kahn/Nicholas Beckmann in diesem Band. 33 Das Angebot interdisziplinärer Seminare und die aktive Einbindung von Studierenden in die Schulprojekte durch Praktika ermöglicht eine produktive Verzahnung mit der universitären Lehre. Für die Studierenden der Kunstgeschichte ergibt sich zudem die
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ven Angebote, z.B. im Ganztagsangebot der Schulen, sondern nachhaltig in den Regelunterricht integrierbare Unterrichtskonzepte zu erarbeiten, deren Inhalte auch prüfungsrelevant sein können. Ein gleichberechtigtes Knowledge Sharing zwischen den beteiligten Bildungsinstitutionen Universität und Schule ermöglicht es, aktuelle wissenschaftliche Diskurse ohne zeitliche Verzögerungen für schulische Lernprozesse zu adaptieren, dabei im Schulalltag virulente Fragestellungen aufzugreifen und durch die Wahl angemessener Praxisformate die Situation der Lernenden und Lehrenden zum Ausgangspunkt zu nehmen. Die Themen der einzelnen Projekte orientieren sich nicht an einer kanonischen Vorauswahl vermeintlich geeigneter Bildwerke, sondern entwickeln sich aus den jeweiligen Rahmenbedingungen. In der Umsetzung an den Schulen kommen unterschiedliche Praxisformate zum Einsatz, in denen nach Möglichkeit stets ein Besuch originaler Werke integriert wird. Zu diesen Praxisformaten zählen Unterrichtssequenzen mit wenigstens drei Terminen, kompakte Studientage, aber auch das Angebot halbjähriger Input-Phasen für Seminarkurse, die im Land Brandenburg der Vorbereitung einer abiturrelevanten Abschlussarbeit dienen. An dieser Stelle kann nur ein kursorischer Überblick über Themenspektrum und Vorgehensweisen der Projekte gegeben werden: Ein wiederholt angebotener Seminarkurs mit dem Titel »Geschichten in Bildern« z.B. rückt das Verhältnis von Text, Bild und Narration ins Zentrum der Aufmerksamkeit und spannt unter diesem Blickwinkel einen Bogen von italienischer Freskomalerei des Trecento bis zu aktuellen nordamerikanischen Fernsehserien.34 In interdisziplinären Studientagen zum Thema Graffiti wurde die Kunstform hinsichtlich ihrer Schriftbildlichkeit sowie bezüglich ihres Wirkungspotenzials als Mittel politischer Kommunikation und visueller Teilhabe diskutiert. Bei diesem Thema ließen sich – ebenso wie in zahlreichen anderen Vorhaben – gender- und diversitätsspezifische Perspektiven integrieren. Dies galt beispielsweise auch für eine Unterrichtssequenz zum Thema Selbstporträt und Selfie sowie zu aktuellen Praktiken der Produktion, Distribution und Rezeption von mit dem Smartphone aufgenommenen Selfies und digitalen Bildern im Allgemeinen. Wenn bei diesen Themen der in den Lehrplänen geforderte »lebensweltliche Bezug« für die Schüler*innen auf der Hand liegt, lassen sich auch Curriculumsvorgaben zu historischen Themen gewinnbringend um eine kunstwissenschaftli-
Möglichkeit, in Kooperation mit Fachdidaktikern und Lehrkräften praktische Kompetenzen in der Kunstvermittlung zu erwerben. 34 Zur bildwissenschaftlichen Relevanz aktueller Fernsehserien in der schulischen Vermittlung vgl. die Beiträge von Tanja Michalsky und Elisabeth K. Paefgen in diesem Band.
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che Bildvermittlung bereichern, wie dies an Unterrichtssequenzen zur Literatur der Romantik sowie zum Absolutismus beispielhaft erläutert sei. Ein Projekt im Deutschunterricht der Oberstufe hatte das Kunstverständnis der »Schwarzen Romantik« zum Thema. Der literaturwissenschaftliche Begriff, der sich auf das Irrationale und Dämonische in Texten der Zeit bezieht und im Unterricht gemäß den schulinternen Lehrplänen an Werken E.T.A. Hoffmanns erarbeitet wurde, bildete den Ausgangspunkt für den Blick auf eine Graphik Francisco de Goyas35 (Abb. 1), die heute – sicherlich nicht zuletzt aufgrund der häufigen Publikation in Schulbüchern des Faches Deutsch – zu seinen bekanntesten Werken zählt. Die üblichen Arbeitsaufträge beziehen sich auf eine Reflexion der Doppeldeutigkeit des Titels und damit in erster Linie auf eine inhaltliche Analyse.36 Im Projekt erarbeiteten sich die Schüler*innen nicht nur eine Kontextualisierung des Druckes durch die Einordnung in Goyas 80 Blätter umfassende graphische Serie der Caprichos, sondern durch den Vergleich mit einer Vorzeichnung (Abb. 2) auch einen Einblick in den künstlerischen Entstehungsprozess des Werkes, das ursprünglich sogar als Titelblatt der Serie vorgesehen war. Die Schüler*innen kamen bei der Bildanalyse zu dem Ergebnis, dass in diesem Werk auch die künstlerische Einbildungskraft und der künstlerische Schaffensprozess verhandelt werden: Während sich in den geradezu verwirrenden Skizzen der Vorzeichnung diese Einbildungskraft des im Bildvordergrund ru-
35 Innerhalb der umfassenden kunstwissenschaftlichen Literatur zu Goyas Druck vgl. für diesen Kontext Johannes Grave: »Unheimliche Bilder. Die ›Nachtseiten‹ der bildenden Kunst um 1800«, in: Felix Krämer (Hg.): Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst, Ausst. Kat. Frankfurt/M., Städel Museum, Ostfildern 2012, S. 30-40, hier S. 3334. Die »emblematische Selbstdarstellung« Goyas in dieser Graphik betont Werner Hofmann: »Der Traum der Vernunft, oder: Täter und Opfer«, in: Werner Hofmann (Hg.): Goya. Das Zeitalter der Revolutionen, 1789-1830, Ausst. Kat. Hamburg, Hamburger Kunsthalle, München 1980, S. 52-59, hier S. 52. Für die interdisziplinäre Perspektive vgl. außerdem Helmut C. Jacobs: Der Schlaf der Vernunft. Goyas Capricho 43 in Bildkunst, Literatur und Musik, Basel 2006. 36 Der Druck wird in Schulbüchern häufig kombiniert mit einem Auszug aus einer Rede des Schriftstellers Günther Grass und dem Thema »Aufklärungskritik« zugeordnet; beispielhaft hierfür Maximilian Nutz/Michael Höhme/Heike Henninger (Hg.): deutsch.kompetent. Allgemeine Ausgabe Qualifikationsphase ab 2016, Berlin: Klett 2016, S. 116. Reinhard Lindenhahn: Arbeitshefte zur Literaturgeschichte. Aufklärung. Berlin: Cornelsen 2015, S. 78. Wolfgang Aleker/Kirsten Krebsbach/Elfriede Kuntz (Hg.): Blickfeld Deutsch. Oberstufe, Paderborn: Schöningh 2010, S. 170.
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henden Künstlers visuell wie auf einem Skizzenblatt Bahn bricht, wird in der Aquatinta durch die grau belassene obere Ecke der Bildfläche auf die Druckplatte selbst verwiesen, die den Freiraum für visuelle Einfälle bietet, für deren Umsetzung eine der hell akzentuierten Eulen am Bildrand dem Künstler sogar das passende Werkzeug reicht.37 Abb. 1: Francisco de Goya, Capricho 43: Der Traum/Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, 1797-98, Radierung und Aquatinta, 21,6 x 15,2 cm
Abb. 2: Francisco de Goya, Vorzeichnung zu Capricho 43, 1797-98, lavierte Federzeichnung, 23 x 15,5 cm, Madrid, Prado
Quelle: https://commons.wikimedia.org/
Quelle: https://commons.wikimedia.org/
wiki/File:Goya-Capricho-43.jpg
wiki/Category:Los_Caprichos_-_Goya%
(Public domain)
27s_preparatory_drawings_(Museo_del_ Prado) (Public domain)
Die zeitgenössische Reflexion über künstlerische Einbildungskraft und die sie fördernden Rahmenbedingungen wurde zusätzlich anhand eines Briefs Ludwig Tiecks diskutiert, in dem Nacht und Einsamkeit die Basis neuer, auch furchteinflößender Erfahrungen bieten:
37 Die Argumentation folgt Grave: »Unheimliche Bilder, S. 33-34.
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Ein differenzierter Blick auf den Druck Goyas ermöglichte es, das Werk aus seiner vor allem illustrativen Funktion im Schulbuch zu lösen und neben der Reduktion auf eine inhaltliche Interpretation auch die ästhetische Dimension des Druckes zu erfassen. Eine Verschränkung von Bild- und Textbetrachtung führte die Schüler*innen zu gattungsübergreifenden Erkenntnissen hinsichtlich des Selbstverständnisses der Kunstschaffenden dieser Zeit. Die Bild- und Textanalysen wurden schließlich vor originalen Werken in der Alten Nationalgalerie Berlin fortgesetzt (Abb. 3), wobei u.a. zeitgenössische Gedichte und Kritiken zu den Gemälden herangezogen wurden. Abb. 3: Schüler*innen vor Caspar David Friedrichs Gemälde »Abtei im Eichwald« (1809/10) in der Alten Nationalgalerie in Berlin
Quelle: Luise Römer, Berlin
38 Ludwig Tieck an Wilhelm Heinrich Wackenroder, in: Wilhelm Heinrich Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 2. Hg. v. Richard Littlejohns, Heidelberg 1991, S. 48f.
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Ebenso wie die Bildkünste lassen sich auch Architektur und Baukultur im Unterricht gewinnbringend thematisieren, zum einen natürlich durch einen Besuch der Bauwerke, zum anderen aber auch anhand ihrer historischen und modernen medialen Vermittlungsformen.39 Um im Geschichtsunterricht einen über Versailles hinausreichenden Blick auf Möglichkeiten und Konsequenzen absolutistischen Städtebaus zu eröffnen, wurde eine Beschäftigung mit Potsdam initiiert, die den Ort gleichzeitig als repräsentativen Herrschafts- und sozialen Handlungsraum auffasst sowie die barocken Stadterweiterungen im Spannungsfeld zwischen gestalterischem Ideal und bautechnischer Realität betrachtet.40 Die Schüler*innen erkundeten in einer Tagesexkursion vor Ort, in welcher Form Herrschaftsstrukturen in architektonischen Raumverhältnissen zum Ausdruck kommen können, und diskutierten, wie und mit welchen politischen Absichten sie in zeitgenössischen Prospekten, Veduten und Grundrissen der Stadt visualisiert und memoriert werden. Dabei wurden grundsätzliche Fragen nach den Zielen und medialen Möglichkeiten der Visualisierung von Architektur und Stadträumen thematisiert. Beispielhaft analysierten die Schüler*innen einen Stich aus dem Jahr 1733 (Abb. 4), auf dem die neue Stadt die ganze Bildbreite füllt, vertikal gegliedert durch drei nahezu gleich hohe Kirchtürme, auch wenn der Turm der Garnisonkirche sich in diesem Jahr noch im Bau befand.41 Die Ansicht vermittelt den Eindruck einer prosperierenden Stadt in landschaftlichem Idyll mit regem Bootsverkehr und einem schützenden Palisadenzaun – zu dessen wichtigsten historischen Funktionen jedoch vor allem das Aufhalten von Deserteuren zählte. Dem durch die Fassadenreihen vermittelten Eindruck von Einheitlichkeit stand zudem die Heterogenität der dort einziehenden Bevölkerung gegenüber, allein das Zusammenleben von Garnisonsgesellschaft, also allen Militärangehörigen
39 Für das Thema Baukultur liegt ein umfangreiches Curriculum für verschiedene Schulfächer vor: Wüstenrot Stiftung (Hg.): Baukultur. Gebaute Umwelt. Curriculare Bausteine für den Unterricht. Ludwigsburg 2010. 40 Friedrich Wilhelm I. ließ Potsdam während seiner Regierungszeit von rund 200 auf 1150 Häuser vergrößern, um Platz zur privaten Einquartierung der Garnison zu schaffen. Zweigeschossige Typenhäuser mit standardisierten Grund- und Aufrissen prägen die Stadterweiterungen, die sich dem sumpfigen Untergrund anpassen, indem die für den Hausbau gänzlich ungeeigneten Areale als Plätze angelegt wurden. Zur Stadtplanung Potsdams nach wie vor einschlägig Friedrich Mielke: Das Bürgerhaus in Potsdam, Tübingen 1972. 41 Zu diesem Stich vgl. Landeshauptstadt Potsdam (Hg.): Königliche Visionen. Potsdam, eine Stadt in der Mitte Europas, Ausst. Kat. Potsdam, Potsdam 2003, S. 135.
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auf der einen und den neuen Stadtbürger*innen auf der anderen Seite, barg ausreichend Konfliktpotenzial.42 Auf dem Kupferstich präsentieren zentral über dem Stadtschloss zwei preußische Adler ein Porträtmedaillon des Königs. Es wird somit zweifelsfrei ins Bild gesetzt, wer die vorausschauende Stadtplanung verantwortet, die im Hintergrund sogar noch Raum für weitere Bebauung lässt.43 Abb. 4: Georg Paul Busch nach Christian Friedrich Feldmann, Ansicht der Stadt Potsdam vom Brauhausberg, 1733, Kupferstich, 27 x 42,2 cm
Quelle: Potsdam Museum – Forum für Kunst und Geschichte, Foto: Michael Lüder
Die Schüler*innen dekodierten den Stich als Kommunikationsmedium, das in zeittypischer Weise der Aussageabsicht des Herrschers Anschaulichkeit und die damit verbundene visuelle Beweiskraft verleiht. Auch diese Erkenntnisse erwei-
42 Vgl. Beate Engelen: Soldatenfrauen in Preußen. Eine Strukturanalyse der Garnisonsgesellschaft im späten 17. Und 18. Jahrhundert, Münster 2005. 43 Die Bedeutung Potsdams für Friedrich Wilhelm I. geht auch aus der unerfüllten Bitte hervor, mit der er 1722 sein politisches Testament beendete: Die Stadt möge nach seinem Tode umbenannt werden in Wilhelmstadt. Vgl. Georg Küntzel/Marti Hass: Die politischen
Testamente
der Hohenzollern
Leipzig/Berlin 1911, Band 1, S. 94.
nebst
ergänzenden
Aktenstücken,
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tern den Blick der Schüler*innen nicht nur hinsichtlich der Kunst des 18. Jahrhunderts, sondern lassen sich auf aktuelle Bildpraktiken übertragen. An diesem Einzelprojekt wird bereits deutlich, welches Potenzial für kulturelle und interkulturelle Bildung in einer diachronen Auseinandersetzung mit der umgebenden und vermeintlich vertrauten Kultur liegen kann. Ein differenzierter Blick auf historische Kunstwerke kann grundlegende Erfahrungen von Alterität und kulturellen Transferprozessen ermöglichen und eine unmittelbare Relevanz für die aktuellen Lebenswirklichkeiten von Schüler*innen und ihre eigene Verortung in der Welt entfalten. Diese Potenziale zu entwickeln, stellt eine besondere Herausforderung für kunstwissenschaftliche Ansätze der Bildvermittlung dar. Sharing Heritage lautet der Titel des Europäischen Kulturerbejahres 2018, zu dessen Zielen gleich an vorderster Position »Maßnahmen zur Publikumsentwicklung und Bildungsmaßnahmen im Bereich Kulturerbe zählen, wodurch die soziale Inklusion und Integration gefördert werden«.44 Neben der ökonomischen Bedeutung wachsender Publikumszahlen wird hier auch die besondere integrative Relevanz betont, die einer möglichst breiten Teilhabe am kulturellen Erbe zugesprochen wird. Eine interdisziplinäre kunstwissenschaftliche Bildvermittlung in schulischen Bildungsprozessen kann einen bildungspolitisch relevanten Beitrag zu einer stärkeren Positionierung der Kunstwissenschaft in diesem didaktischen Kontext leisten und eröffnet gleichzeitig für alle beteiligten Disziplinen neue Perspektiven zur Vermittlung von Bildern. (Karin Kranhold)
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UND
Mit Bildern wird im Deutschunterricht oft gearbeitet; Bilder werden immer wieder herangezogen, wenn in ein neues Thema eingestiegen wird oder wenn literarische Stoffe mithilfe von Gemälden oder Fotografien der entsprechenden Zeit veranschaulicht und konkretisiert werden sollen. Bilder werden auch als 44 Amtsblatt der Europäischen Union, Beschluss (EU) 2017/864 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2017, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/ DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32017D0864&from=FR vom 05.09.2017. Zur Vermittlung des Kulturerbes fördert die UNESCO seit 1994 die World Heritage Education als eigenständigen, universitär verankerten Arbeitsbereich. Vgl. hierzu Jutta StröterBender (Hg.): World Heritage Education. Positionen und Diskurse zur Vermittlung des UNESCO-Welterbes, Marburg 2010.
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Vorlage für schriftliche Arbeiten gewählt, für Erzählungen, Beschreibungen, Berichte. In jüngerer Zeit greifen Lehrende auch gerne auf Graphic Novels zurück, vor allem, wenn mit den gezeichneten Bildern klassisch-kanonische Stoffe eine provozierende Interpretation erfahren. Mit Bildern wird im Deutschunterricht nicht gearbeitet; mit Bildern wird motiviert, ergänzt, ausgeschmückt, erleichtert oder gespielt. Bilder werden nicht ernst genommen, sondern stehen im Verhältnis zum schriftlichen Text in der zweiten Reihe; sie werden zwar auch beschrieben und interpretiert, aber nur, um zum eigentlich Wesentlichen zu gelangen, nämlich dem schwarz-weiß Gedruckten. Die angeblich größere Verständlichkeit des Bildes wird als Rampe genutzt für das schwer Verständliche der gedruckten Buchstaben. Das Bild hat im Deutschunterricht eher eine dienende, denn eine eigenständige Erkenntnisfunktion. Wenn hier eingangs mit zwei entgegengesetzten Positionen operiert wird, so nicht, um die eine oder andere als empirisch überprüft zu zementieren, sondern um deutlich zu machen, dass es nicht ganz einfach ist, die Situation des Bildes im Fach Deutsch sicher zu umreißen. Auf der einen Seite gibt es eine lange Tradition der Integration des bildlichen Mediums in das deutschunterrichtliche Fach; auf der anderen Seite nehmen viele Lehrerinnen und Lehrer immer noch eine reservierte Haltung gegenüber bildlichen Darstellungen ein, weil sie in ihrer Ausbildung zu wenig mit Potenzialen und Lesarten des Bildes bekannt gemacht wurden, sie hingegen sicher und souverän mit textbezogenen Interpretationsund Analysetechniken umgehen können. In der Deutschdidaktik hingegen sieht es anders aus. Zahlreiche Arbeiten zu Text-Bild-Arrangements, die seit den 1970er Jahren entstanden, dokumentieren, dass dem Bild als Vermittlungsgegenstand einige Aufmerksamkeit zukommt. Konzentrierte man sich in den 70er Jahren vor allem auf Comics und Werbebilder, so kamen in den 80er Jahren auch Gemälde und Skulpturen bzw. zunehmend auch filmische Werke hinzu. Das Praxis Deutsch-Heft Bilder aus dem Jahr 1988 legt davon Zeugnis ab. Insgesamt zeigen die didaktischen Publikationen, dass Bilder immer ernster genommen werden;45 so titelt die Zeitschrift Der Deutschunterricht im Jahr 2005 sogar ein Heft mit Sehflächen lesen und hält mit den Aufsätzen das Versprechen ein, analytisch und wissenschaftsnah mit Bildern zu arbeiten.46 Insbesondere die Ausarbeitung des versierten Comicforschers Dietrich Grünwald demonstriert, dass auch ein kleiner Comic von Charles M.
45 Heinz Blumensath/Gerhard Voigt: »Bilder. Eine methodische Hilfe im Literaturunterricht. Basisartikel«, in: Praxis Deutsch (1988), H. 87, S. 12-22. 46 Der Deutschunterricht (2005), H. 5.
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Schulz aus der bekannten Peanuts-Serie es wert ist, eingehend studiert zu werden: Er kommt zu dem Schluss, dass Text und Bild in diesem hybriden Zeichensystem eine symbiotische Beziehung eingehen: »Ohne den Text verlöre die Geschichte ihren eigentlichen Witz; aber ohne die Bildinformationen wäre der Text bedeutungslos.«47 Welche Stärken und Schwächen deutschdidaktische Arbeiten zu bildorientierten Unterrichtsarrangements aufweisen, soll im Folgenden an zwei Beispielen eingehender diskutiert werden. 2012 hat der Deutschdidaktiker Ulf Abraham zusammen mit dem Kunstpädagogen Hubert Sowa ein weiteres Heft der Zeitschrift Praxis Deutsch herausgegeben, dieses Mal zum Thema Text und Bild. Die Autoren sprechen sich dezidiert dafür aus, »dass auch Bilder gelesen und ihre Elemente ›räumlich enkodiert‹ werden müssen«.48 Bereits der Titel des Aufsatzes – Bilder lesen und Texte sehen – macht klar, dass Bilder und Texte als gleichberechtigte Untersuchungs- und Lerngegenstände betrachtet werden. Unter anderem gehen sie auf das Großdia The Storyteller (1986) des Kanadiers Jeff Wall ein, einem Bildkünstler, der mit absichtsvoll-überlegten Inszenierungen des Alltäglichen arbeitet und dessen Bilder stark stilisiert sind. Die beiden Autoren begründen ihre Auswahl damit, dass dieses Werk zwar eine »Fülle von Informationen über den räumlichen Kontext und die Situation« transportiere, aber vom Betrachter auch erfordere, dass er »logische Verknüpfungen, imaginative Ergänzungen und Bewertungen des Sichtbaren« selbst vornehmen müsse.49 Außerdem betonen sie das besondere Verhältnis von Sprache und Bild im Storyteller: Die »›Geschichtenerzählerin‹ [...] ist im Bild zu sehen – aber nicht zu hören.«50 Die knappe Deutung wurde in der Seminarsitzung eines didaktischen Hauptseminars als Anlass genommen, um sich ausführlicher und eingehender mit dem Großdia von Wall zu befassen. Dabei wurde die strenge Komposition des Bildes hervorgehoben, das links ein undurchdringliches Dickicht aus Bäumen und Gebüsch aufzeige und rechts den angeschnittenen Teil der Brücke einer Autostraße. Der Boden sei dreigeteilt: links fast verbranntes oder vertrocknetes Gras, in der Mitte Grün und unter der Brücke eine mit Steinen gepflasterte Fläche. Die trostlose Einsamkeit der darauf hockenden Gestalt wurde immer wieder hervorgehoben; im Unterschied zu den beiden anderen Figurengruppen sei sie ganz
47 Dietrich Grünwald: »Bild-Sprach-Spiele. Anmerkungen zur Einheit von Bild und Sprache im Comic«, in: Der Deutschunterricht (2005), H. 5, S. 38-50, hier S. 42. 48 Ulf Abraham/Hubert Sowa: »Bilder lesen und Texte sehen. Symbiosen in Deutschund Kunstunterricht«, in: Praxis Deutsch (2012), H. 232, S. 4-19, hier S 5. 49 Ebd., S. 4. 50 Ebd.
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allein und befände sich an der hässlichsten Stelle dieser sowieso nicht schönen Stadtlandschaft. Betont wurde auch der dreieckige Himmelsausschnitt, der sich nach oben öffne und in dem sowohl ein Wohnhaus als auch hellgrüne Sträucher zu erkennen seien. Überhaupt sei der mittlere Teil des Bildes, auf dem sich keine Figuren befänden, grüner und lichter als der linke Teil, auf dem die StorytellerGruppe und die merkwürdige Zweierkonstellation zu sehen sind; bemerkenswert sei die rote Jacke der liegenden Figur, weil sie herausrage aus den ansonsten eher gedeckten Farben des Bildes. Auch die Stromleitung, die sich – störend – horizontal durch das Bild zieht und die den Himmel trennt von der Erde, war Grund für nachdenkliche Gesprächspassagen. 51 Abb. 5: Jeff Wall, The Storyteller, 1986, Großbilddia in Leuchtkasten, 229 x 437 cm, New York, Metropolitan Museum of Art
Quelle: Archiv des KHI der Freien Universität Berlin
Wall hat sich in seinen Bildarbeiten immer wieder mit denjenigen beschäftigt, die am Rande der Gesellschaft stehen und die zu den Nichtprivilegierten zählen. So auch in Storyteller aus dem Jahr 1986. Die abgebildete Stadtlandschaft ist in Vancouver angesiedelt, und die sechs Figuren gehören der First Nation an, sind 51 Die Studenten greifen genau die Aspekte auf, die aus bildwissenschaftlicher Sicht relevant sind für Jeff Walls ästhetische Gestaltung. Vgl. dazu z.B. Klaus Krüger: »Bild – Schleier – Palimpsest. Der Begriff des Mediums zwischen Materialität und Metaphorik«, in: Ders.: Zur Eigensinnlichkeit der Bilder. Acht Beiträge. Ausgewählt von Matthias Weiß/Britta Dümpelmann/Wolf-Dietrich Löhr/Friederike Wille, München 2017, S. 205-240 [zuerst erschienen 2004].
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also Mitglieder der indigenen Bevölkerung Kanadas.52 Sie werden in dieser Szene als »ausgegrenzte, ›fremde‹ Wesen gezeigt, deren soziale und kulturelle Existenzgrundlage nicht mehr« vorhanden ist.53 Sie sitzen und liegen in einer zentralperspektivisch gestalteten Landschaft, die zwar an die Tradition der pastoralen Landschaftsmalerei erinnert,54 die diese idyllischen Vorbilder aber verkehrt in eine mit den Auswüchsen der Zivilisation verunstaltete Stadtszenerie. Dass die Gestalten, die da so verloren in der trostlosen Gegend hocken, zu einer Volksgruppe gehören, die in Kanada unter den schlechtesten Lebensbedingungen leidet, ist genauso wichtig für ein noch genaueres Verstehen des Bildes wie auch die Tatsache, dass gerade ihnen die Tradition des Geschichtenerzählens zugeschrieben wird: »Was im Motiv der Figurengruppe vorne links mit der jungen Frau, die gestikulierend zu den beiden Männern spricht, zunächst sehr unscheinbar als das Erzählen einer Geschichte figuriert, offenbart sich vor diesem Hintergrund als Anspielung darauf, dass das kulturelle Gedächtnis dieser indianischstämmigen Volksgruppe maßgeblich auf oraler Überlieferung basiert und damit ebenso von der Überformung, Verdrängung und allmählichen Auslöschung bedroht ist wie die Gemeinschaft derer selbst, die als Träger dieses mündlich verwahrten Traditionsbesitzes bereits ein sichtbar entfremdetes Dasein fristen.«55
Dass es eine junge Frau ist, die an die einer anderen Zeit angehörenden Figur des Erzählers erinnert, kann ebenfalls als bedeutungsvolles Statement verstanden werden. Überhaupt wird mit der Figurengruppe, die dem Bild seinen Titel gegeben hat, auf ein Gemälde hingewiesen, auf dem eine vergleichbar angeordnete Konstellation zu sehen ist: Le Déjeuner sur l’Herbe (1863) von Edouard Manet, einem Maler, der im 19. Jahrhundert moderne Bildkonzepte geschaffen hat und der für Walls Arbeiten ein wichtiges Vorbild ist.56 Während bei Manet weiß52 Vgl. dazu auch die kurzen Ausführungen bei Abraham/Sowa: »Bilder lesen und Texte sehen«, S. 4. 53 Rolf Lauter_Jeff Wall: »Figures & Places«, in: Rolf Lauter (Hg.): Jeff Wall. Figures & Places. Ausgewählte Werke von 1978 bis 2000, München 2001, S. 13-125, hier S. 87. 54 Krüger: »Bild – Schleier – Palimpsest«, S. 212-213. 55 Ebd., S. 213. 56 Dass noch weitere Bildtraditionen in Jeff Walls Dia versteckt sind, zeigt Klaus Krüger auf, der u.a. auf Giorgiones Ländliches Konzert hinweist wie auch auf George Seurats Une Baignade, Asnière und La grande Jatte; die Gemälde von Seurat werden als Vorbild für die beiden anderen Figurengruppen in Storyteller genannt, Baignade für die
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weibliche Nacktheit mit schwarz-männlicher Zugeknöpftheit konfrontiert wird, ist die Erzählerin in Walls Dia die einzige Gestalt, die mit ihrer redendgestikulierenden Tätigkeit ein Publikum findet und damit einen Kontrast bildet zu dem Melancholiker, der allein und weit entfernt auf den Steinen unter der Brücke sitzt.57 Abb. 6: Edouard Manet, Le Déjeuner sur l’Herbe (Das Frühstück im Grünen), 1862-63, Öl auf Leinwand, 208 x 264 cm, Paris, Musée d’Orsay
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%C3%89douard_Manet_-_Le_D%C3% A9jeuner_sur_l%27herbe.jpg (Public domain)
Zweiergruppe und Jatte für die einsam-melancholische Gestalt unter der Brücke. Krüger: »Bild – Schleier – Palimpsest«, S. 206-211. 57 Die beiden Gegenübersitzenden – sowohl der Mann als auch die Frau – wirken aufmerksam und scheinen der Redenden zuzuhören, aber selbst die etwas entfernteren Figuren der Zweierkonstellation wenden sich mit Haltung und Blicken – neugierig? – der Erzählerin zu; einzig die Gestalt unter der Brücke schaut nicht in ihre Richtung.
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Die knappen kunsthistorischen Ausführungen machen einmal mehr deutlich, dass das Sehen, Verstehen und Deuten eines Bildes – wie das eines Textes – auf verschiedenen Ebenen erfolgen kann, dass aber die Berücksichtigung wissenschaftlicher Forschungen auf jeden Fall zu einer erweiterten Arbeit mit dem Bild führt. Beschreibende, erzählende und kreative Schreibaufgaben können profunder und differenzierter entwickelt werden, wenn solche Kenntnisse einbezogen werden – und zwar je nach Grad der Komplexität für den Unterricht in allen Jahrgangsstufen. Beispielhaft zeigen das die Arbeiten von Mechthild Dehn, die immer wieder darauf hingewiesen hat, dass schon im frühen Unterricht der Grundschule Bilder einen gleichberechtigten Platz im Deutschunterricht einnehmen und für sprachlich-literale Lernprozesse eine wichtige Rolle spielen können. Sie geht sogar davon aus, dass das Bildverstehen anspruchsvoller sei als das Textverstehen, weil letzteres sukzessive erfolge, ersteres aber als ganzheitlicher Akt ausdrückliche und willentliche Aufmerksamkeit erfordere.58 Wichtig ist ihr, schon früh mit anspruchsvollen Bildern zu arbeiten: z.B. mit einem Gemälde des norwegischen Malers Edvard Munch, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Um Mädchen am Meer herum entwickelt sie zusammen mit der Kunstpädagogin Maria Peters ein avanciertes Projekt und erprobt es in Grundschulklassen. Mädchen am Meer aus dem Jahr 1907 wird dabei einer genaueren Analyse unterzogen und in das Gesamtwerk Edvard Munchs eingeordnet, der sich immer wieder mit dem »Thema des ›Weiblichen‹« befasst habe.59 Es wird auf die Maltechnik ebenso hingewiesen wie auch darauf, dass das Bild ursprünglich als Teil eines Frieses zur Ausschmückung eines Konzertsaales in Berlin gedacht war. Ausführlich gehen die Autorinnen auf die beiden Figurengruppen ein, die große auf dem Strand und die kleinere im Boot auf dem Meer. Sie gelangen zu dem Schluss, dass sich »die rote Figur [...] im Prozess der Trennung« befinde und dass sich dabei »Ambivalenzen von Zusammenhalt und Ausgrenzung, aktivem Fortgehen und passivem Verlassenwerden, Gemeinschaft und Einsamkeit, Abschied und Neuanfang« ergäben.60 Auf der Basis dieser Bildinterpretation kann ein anspruchsvoller Unterricht für Grundschulkinder entworfen werden, in dem ein Museumsbesuch ebenso stattfindet wie schriftliche und szenische Gestaltungsarbeiten.
58 Mechthild Dehn: »Unsichtbare Bilder. Überlegungen zum Verhältnis von Text und Bild«, in: Didaktik Deutsch 22 (2007), S. 25-50, hier S. 30. 59 Mechthild Dehn/Thomas Hoffmann/Oliver Lüth/Maria Peters: Zwischen Text und Bild. Schreiben und Gestalten mit neuen Medien, Freiburg 2004, S. 130. 60 Ebd., S. 131.
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Im Rahmen des Projekts »Bildung durch Bilder« haben Karin Kranhold und ich gemeinsam Seminare durchgeführt, die sich an Studierende der Kunstgeschichte und des Lehramts Deutsch gleichermaßen richteten – an zwei Disziplinen also, die innerhalb des Studiums dieser Fächer ansonsten nicht zusammenkommen. Der Dialog war am Anfang nicht ganz einfach, ergab aber während der Semester zunehmend einen fruchtbaren Austausch, weil aus unterschiedlichen Perspektiven auf Texte, vor allem aber auf Bilder geschaut wurde. Ich habe viel gelernt in diesen Seminaren; vor allem bin ich in meiner Auffassung bestätigt worden, dass man eher wie Mechthild Dehn arbeiten muss und dass man einem Bild wie dem Storyteller von Jeff Wall auch deutschdidaktisch und methodisch gerechter werden kann, wenn man bildwissenschaftliche Perspektiven berücksichtigt. Dass dieses Bild – schon wegen seines Titels – einen Platz im Deutschunterricht haben kann – darüber waren sich die Studenten einig; dass dies aber nur sinnvoll geschehen kann, wenn dieses Bild vielleicht sogar noch ernster genommen wird als ein Text – darüber herrschte ebenfalls Einigkeit. Ich hoffe, dass unsere Tagung einen weiteren Beitrag leisten kann, um Bildung durch Bilder in allen Disziplinen zu fördern und zu festigen. (Elisabeth K. Paefgen)
P ERSPEKTIVEN FÜR G ESCHICHTSDIDAKTIK UND G ESCHICHTSUNTERRICHT Die Perspektiven, Herausforderungen und didaktischen Möglichkeiten, die sich durch einen die Kompetenzen der Kunstgeschichte berücksichtigenden Einsatz von Bildern im Geschichtsunterricht zeigen, lassen sich – wie kann es anders sein – am besten durch den Blick auf ein Bild aufzeigen und problematisieren – und zwar auf eine Fotografie, die in fast jedem Schulgeschichtsbuch in Deutschland zu sehen ist, in diesem Fall in der Expedition Geschichte des DiesterwegVerlags aus dem Jahr 2007.61 Es handelt sich um eine Fotografie aus dem sogenannten Auschwitz-Album, dem einzigen erhaltenen fotografischen Zeugnis für den Prozess der Ankunft von deportierten Juden in Auschwitz-Birkenau, ihrer sogenannten Selektion, der Konfiszierung ihres Eigentums und der Vorbereitungen für den Massenmord. Das einzigartige Dokument wurde Yad Vashem von Lilly Jacob-Zelmanovic Meier überlassen. Die Fotos wurden Ende Mai oder Anfang Juni 1944 von Ernst
61 Florian Osburg/Dagmar Klose/Pedro Barcelo/Uwe Uffelmann (Hg.): Expedition Geschichte, Bd. 4, Braunschweig 2007, S. 207.
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Hofmann oder Bernhard Walter aufgenommen, zwei SS-Männern, deren Aufgabe es war, Erkennungsfotos von den Gefangenen (außer von den Juden, die direkt in die Gaskammern geschickt wurden) anzufertigen und ihnen Fingerabdrücke abzunehmen. Das Bild zeigt die Ankunft ungarischer Juden aus der Karpato-Ukraine. Viele von ihnen kamen aus dem Ghetto Berehovo, das ein Sammelpunkt für Juden aus mehreren anderen kleinen Städten war.62 Abb. 7: Fotografie aus dem sog. Auschwitz-Album, Jerusalem, Yad Vashem, das Foto wurde 1944 von Angehörigen der SS, Ernst Hofmann oder Bernhard Walter, aufgenommen
Quelle: Florian Osburg/Dagmar Klose/Pedro Barcelo/Uwe Uffelmann (Hg.): Expedition Geschichte, Bd. 4, Braunschweig 2007, S. 207.
Das Schulgeschichtsbuch verschweigt die konkrete Quellenherkunft und gibt als Bildquelle das »Bildarchiv Preuß. Kulturbesitz Berlin« an. Die Bildüberschrift erklärt: »So erfolgte die Selektion (= Auswahl) durch die SS in Auschwitz«. Als 62 Vgl. auch die ausführlichen Informationen auf den Internetseiten von Yad Vashem: http://www.yadvashem.org/yv/en/exhibitions/album_auschwitz/index.asp vom 21.12. 2017, sowie ferner: Christophe Busch/Stefan Hördler/Robert Jan van Pelt (Hg.): Das Höcker-Album: Auschwitz durch die Linse der SS, Darmstadt 2016. Israel Gutman/Bella Gutterman (Hg.): Das Auschwitz-Album. Die Geschichte eines Transportes, 2. überarb. Aufl., Göttingen 2015. Stefan Hördler/Christoph Kreutzmüller/Tal Bruttmann: »Auschwitz im Bild. Zur kritischen Analyse der Auschwitz-Alben«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), H. 7/8, S. 609-632.
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Arbeitsauftrag ist zu lesen: »Warum wirkt dieser schreckliche Vorgang auf dem Bild so friedlich-normal?«63 Es ist augenfällig, was an einem solchen Umgang mit der Fotografie als einer komplexen historischen Quelle problematisch erscheint: • Das Ergebnis der Bildinterpretation (ein schrecklicher Vorgang, der friedlich
normal wirkt) wird durch den Arbeitsauftrag bereits vorweggenommen. • Die Bildquelle scheint hier eins-zu-eins eine historische Wirklichkeit abzubilden, denn es heißt ja in der Überschrift »So erfolgte die ...«. Dass die Fotografie kaum mehr ist als eine perspektivische Quelle auf das Ereignis, bleibt auf diese Weise unberücksichtigt. • Die beiden Urheber der fotografischen Quelle, also die beiden Fotografen, Ernst Hofmann und Bernhard Walter, werden nicht genannt. Auf diese Weise wird gegen eine der wohl etabliertesten Regeln der äußeren Quellenkritik verstoßen. • Das Bild, das uns hier als ein Abbild historischer Wirklichkeit präsentiert wird, zeigt nicht nur ein Verbrechen, es ist in der Logik seiner Dokumentation auch Teil des Verbrechens selbst. Dass uns hier jedoch eine explizite Täterperspektive auf den Holocaust gezeigt wird, die die Opfer zu bloßen passiven Objekten macht und die Komplexität von Täterschaft sogar verschleiert, scheint das Schulgeschichtsbuch nicht zu interessieren. Dieser Umgang mit einer fotografischen historischen Quelle in einem Schulgeschichtsbuch passt zu dem, was laut Gerhard Paul über die Verwendung des Bildbegriffes in der fachhistorischen Forschung vor dem viel zitierten Visual Turn festzustellen ist. Paul führt aus: »Bis Ende der 1990er Jahre folgte die Geschichtswissenschaft somit weitgehend einem verkürzten Bild-Begriff, der sich primär auf das trägergebundene stehende Bild reduzierte und dieses oft ausschließlich in widerspieglungstheoretischer Manier als passiven Spiegel der Zeitläufte, kaum einmal jedoch das Bild als Medium und Bildakt, das selbst wiederum Einstellungen, Mentalitäten und Geschichtsbilder etc. generiert, zum Gegenstand machte.«64
63 Osburg/Klose/Barcelo/Uffelmann (Hg.): Expedition Geschichte, S. 207. 64 Gerhard Paul: »Von der historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung«, in: Ders. (Hg.): Visual History. Eine Einführung, Göttingen 2006, S. 7-36, hier S. 18.
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»Bilder«, so Paul weiter, »würden zumeist ›inhaltistisch‹ gelesen, ›ohne dass der Ästhetik eine sinngebende Rolle zugedacht wird.‹«65 Die von Paul benannten Monita, die sich zweifellos im betrachteten Beispiel des Schulgeschichtsbuchs zeigen, gelten jedoch nicht für den Umgang mit dem Medium Bild in der Geschichtsdidaktik. Denn bei Debatten um Medien und Methoden historischen Lernens haben Bilder und das besondere Potenzial ihrer Verwendung im Geschichtsunterricht immer wieder eine Rolle gespielt. Zuletzt hat Christoph Hamann im Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts gezeigt, dass es bereits seit den 1950er Jahren eine umfassende Reflexion zum Thema Bilder im Geschichtsunterricht gibt. Er wagt sogar die These: »Im Gegensatz zur empirischen Geschichtsforschung war das Bild in der Didaktik der Geschichte schon zu den Zeiten ihrer eigenen Konstituierung als Wissenschaft ein Gegenstand der Reflexion.«66 So ist laut Hamann insgesamt zu konstatieren:67 • Schon Mitte der 1950er Jahre legte Hans Ebeling eine Publikation zur Arbeit
mit Bildern im Unterricht vor. Diese befasste sich auch mit dem Film im Unterricht und nutzte schon damals den Begriff des »Bilderlesens«.68 • Seit längerem liegen von Jürgen Hannig (Fotografie), Klaus Bergmann und Gerhard Schneider (Plakat) Aufsätze im Handbuch für Geschichtsdidaktik bzw. im Handbuch Medien im Geschichtsunterricht vor (1997/1999). 69 • Die Fachzeitschriften Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Geschichte lernen sowie Praxis Geschichte widmeten jeweils mehrere Themenhefte dem Bild.
65 Gerhard Paul: »Von der historischen Bildkunde zur Visual History«, S. 18. 66 Christoph Hamann: »Bildquellen im Geschichtsunterricht«, in: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Historisches Lernen in der Schule, Schwalbach/Ts. 2012, S. 108-124, hier S. 111. 67 Die Skizzierung des Forschungsstandes bezieht sich auf die umfassende Erhebung des Umgangs der Geschichtsdidaktik mit Bildern und Bildquellen von Christoph Hamann in seiner wegweisenden Dissertation: Christoph Hamann: Bilderwelten und Weltbilder: Fotos, die Geschichte(n) mach(t)en, Teetz 2002. 68 Z.B. Hans Ebeling/Hermann Wacker: Anschauen, Behandeln, Begreifen. Zur Didaktik und Methodik der Arbeit mit Bildern im Unterricht, 4. neu bearb. u. erw. Auflage, Hannover 1971. 69 Z.B. Jürgen Hannig: »Wie Bilder ›Geschichte machen‹. Anmerkungen zum Umgang mit ›Dokumentarfotos‹ in Geschichtsbüchern«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 40 (1989), H. 1, S.10-32.
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Methoden für den Geschichtsunterricht importieren häufig implizit oder explizit das Schema der Bildinterpretation des Kunsthistorikers Erwin Panofsky (vorikonographische Beschreibung, ikonographische Analyse, ikonologische Interpretation), auf das auch Michael Sauers Vorschlag in seinem Buch zum Bild im Geschichtsunterricht70 (2000) aufbaut. Das Schema sieht drei Schritte vor: Bildbeschreibung – Ersteindruck, was ist zu sehen? Bildanalyse – Was sind Inhalt und Thema, welche Personen sind zu erkennen, welche Darstellungsmittel werden eingesetzt? Bildinterpretation – Wie ist das Bild in seinem historischen Kontext zu deuten? Das freilich wird oft – und vielleicht zu Recht – belächelt, denn es spiegelt natürlich keinesfalls den state of the art gegenwärtiger Methoden wider, die in den Kunstwissenschaften und in der Kunstgeschichte für die Analyse von Bildern angewendet werden. Aber immerhin: Wer die Praxis des Unterrichts kennt, der weiß, dass das systematische Durchhalten des Dreischritts nach Panofsky ein nach wie vor anspruchsvolles Vorhaben ist, das sich deutlich von einer Bildverwendung unterscheidet, die Bilder als bloße Abbildungen vergangener Wirklichkeiten missbraucht. Das Panofsky’sche Schema wurde von Bodo von Borries erweitert, indem er Herstellungsprozess und Rezeption eines Bildes thematisieren möchte. Zuletzt haben auch Überlegungen von Hans-Jürgen Pandel für Diskussionen gesorgt, die sich grundlegend mit der Frage beschäftigt haben, ob und inwieweit Bildern – so Pandel – die Fähigkeit der Narrativität fehle, sodass es im Geschichtsunterricht dann darum gehen solle, das Bild narrativ einzubetten – also zu erarbeiten, was dem Bild voranging und was ihm folgte. Die Didaktik der Geschichte steht also keinesfalls am Anfang, wenn es darum geht, Bildern einen eigenen Stellenwert zu geben. Im Projekt Bildung durch Bilder soll insbesondere der Ästhetik eine sinngebende Rolle zugedacht werden (ein Umstand, auf den bereits Gerhard Paul hingewiesen hat). Es geht also um die anspruchsvolle Aufgabe, nicht nur über Ästhetik zu sprechen, sie zu erkennen und beschreiben zu können, sondern sie auch als etwas historisch Gewordenes zu begreifen, ihr also Historizität und Alterität zuweisen zu können. (Martin Lücke)
70 Michael Sauer: Bilder im Geschichtsunterricht. Typen – Interpretationsmethoden – Unterrichtsverfahren, Seelze 2000.
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L ITERATUR Abraham, Ulf/Sowa, Hubert: »Bilder lesen und Texte sehen. Symbiosen in Deutsch- und Kunstunterricht«, in: Praxis Deutsch 39 (2012), H. 232, S. 419. Aleker, Wolfgang/Krebsbach, Kirsten/Kuntz, Elfriede (Hg.): Blickfeld Deutsch. Oberstufe, Paderborn 2010. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hg.): Lehrplan für das Gymnasium in Bayern. Jahrgangsstufen-Lehrplan 11/12, Kunst, http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?Story ID=26204 vom 05.09.2017 Below, Irene (Hg.): Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975. Dies.: »Probleme der ›Werkbetrachtung‹ – Lichtwark und die Folgen«, in: Dies. (Hg.): Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975, S. 83-135. Bering, Kunibert/Niehoff, Rolf: Vom Bilde aus … Beiträge des Faches Kunst für andere Fächer, Oberhausen 2007. Ders./Niehoff, Rolf: Bildkompetenz. Eine kunstdidaktische Perspektive, Oberhausen 2013. Ders./Niehoff, Rolf (Hg.): Bild-/KunstGeschichte. Kunstpädagogische Anregungen, Oberhausen 2016. Ders.: »Zwischen gestalterischer Praxis und Bildanalyse. Die Rolle der Kunstgeschichte im kunstpädagogischen Diskurs«, in: Michael Sauer u.a. (Hg.): Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen, Göttingen 2016, S. 53-63. Billmayer, Franz: »Viele Bilder, überall – Bildkompetenz in der Mediengesellschaft«, in: Gabriele Lieber (Hg.): Lehren und Lernen mit Bildern. Ein Handbuch zur Bilddidaktik, 2. Aufl., Baltmannsweiler 2013, S. 72-80. Blumensath, Heinz/Voigt, Gerhard: »Bilder. Eine methodische Hilfe im Literaturunterricht. Basisartikel«, in: Praxis Deutsch 15 (1988), H. 87, S. 12-22. Busch, Christophe/Hördler, Stefan/Pelt, Robert Jan van (Hg.): Das HöckerAlbum: Auschwitz durch die Linse der SS, Darmstadt 2016. Buschkühle, Carl-Peter: Künstlerische Bildung. Theorie und Praxis einer künstlerischen Kunstpädagogik, Oberhausen 2017. Busse, Klaus-Peter: Kunst unterrichten. Die Vermittlung von Kunstgeschichte und künstlerischem Arbeiten, Oberhausen 2014. Dehn, Mechthild: »Unsichtbare Bilder. Überlegungen zum Verhältnis von Text und Bild«, in: Didaktik Deutsch 12 (2007), H. 22, S. 25-50. Dies./Hoffmann, Thomas/Lüth, Oliver/Peters, Maria: Zwischen Text und Bild. Schreiben und Gestalten mit neuen Medien, Freiburg/Breisgau 2004.
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Fantastisches Mittelalter? Geschichtswahrnehmung und -vorstellung am Beispiel mittelalterlicher Buchmalerei1 C LARA K AHN /N ICHOLAS B ECKMANN
›Don’t judge a book by its cover!‹ – so wird redewendend davor gewarnt, anhand des Äußeren voreilige Schlüsse über das Innere zu ziehen. Dass ein Buch wörtlich sehr wohl nach seinem Einband beurteilt werden kann und manchmal auch sollte, wird in der Filmadaption der fiktiven Zauberwelt J. K. Rowlings Harry Potter deutlich: Das Monsterbook of Monsters (erstmals in HARRY POTTER: THE PRISONER OF AZKABAN, 2004) verkörpert seinen Inhalt im wahrsten Sinne des Wortes.2 Ist erst einmal die Gürtelschnalle gelöst, die das bereits vielversprechend knurrende, mit scharfem Gebiss und neugierigen Augen ausgestattete Buch zusammenhält, gibt es für die auf- und zuklappenden Buchdeckel kein Halten mehr. Die eigenen Seiten (und die Nasen unvorsichtiger Leser*innen) fallen dem Buchdeckelgebiss zum Opfer. Gefahrlos handhaben lässt sich das störrische Buch, wie sich herausstellt, nur unter entsprechenden Vorkehrungen – ihm den Rücken zu streicheln: ein lebendiges, ja aggressives Buch, das seinem Inhalt über Monster nicht nur in der äußeren Form entspricht, sondern ihn regelrecht verteidigt.
1
Vorstellung eines Unterrichtskonzepts in der Faksimilesammlung Dr. Detlef M. Noack am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin. Präsentation der Sammlung durch Prof. Dr. Karin Gludovatz und Dr. Tina Bawden, Projektgestaltung und -ausführung von Nicholas Beckmann, Luise Römer, Yara Matea Schäl und Clara Kahn.
2
Vgl. Katherine A. Fowkes: The Fantasy Film, West Sussex 2010, S. 165.
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Abb. 1: The Monster Book of Monsters, Harry Potter: The Prisoner of Azkaban
Quelle: © Warner Bros., 2004, http://fanaru.com/harry-potter/image/187549/the-monsterbook-of-monsters-wallpaper/
Dass Buch und Einband eine Eigenständigkeit erhalten, die weit über den bekannten Buchgebrauch hinausgeht und eine sorgfältige Handhabung erfordert, ist nicht nur in der Sphäre von Zauberschulen und Phantasiewelten zu verorten. Nicht zuletzt im Zuge des spatial turn gewinnt der Zusammenhang zwischen Innerem und Äußerem, Bild, Text und Einbandgestaltung mittelalterlicher Handschriften eine neue Bedeutung in der Forschung3, die neben der Materialität auch Handhabung und Bildrezeption mit einschließt.4 Prachteinbände aus Gold, Silber, Elfenbein, Edelsteinen und anderen wertvollen Materialien umgeben das mittelalterliche Buch »mit einer Ehrfurcht gebietenden Aura«,5 die »jede Berührung als Sakrileg«6 erscheinen lässt. Wie sich ein Monsterbuch zähnefletschend 3
Vgl. Susanne Wittekind: »Neue Einbände für alte Handschriften«, in: Zeitschrift für
4
Vgl. hier u.a. Publikationen wie Wolfgang Christian Schneider: »Geschlossene Bü-
Kunstgeschichte, 80 (2017), H. 2, S. 176-200, hier S. 176. cher – offene Bücher. Das Öffnen von Sinnräumen im Schließen der Codices«, in: Historische Zeitschrift 271 (2000), H. 3, S. 561-592. Stephan Müller/Lieselotte E. Saurma-Jeltsch/Petra Strohschneider (Hg.): Codex und Raum, Wolfenbüttel 2009. Forschungsprojekt des Exzellenzcluster TOPOI der Freien Universität Berlin: »Buch und Raum im (frühen) Mittelalter« (http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/khi/forsch ung/projekte/sonderforschung/projekt_topoi/index.html). Interdisziplinäre Graduiertentagung »Das Buch als Medium – Mittelalterliche Handschriften und ihre Funktionen «, Institut für Kunstgeschichte Universität Wien, 01.-02.09.2017. 5
David Ganz: Buch-Gewänder: Prachteinbände im Mittelalter, Berlin 2015, S.7.
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Ganz: Buch-Gewänder, S. 7.
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dem Gebrauch entzieht, entziehen Prachteinbände den mittelalterlichen Codex einer praktischen, gewohnten Benutzung.7 Abb. 2: Sog. Krönungsevangeliar, Inv.-Nr. WS XIII 18, Handschrift auf Pergament, 236 ff, 324 x 249 mm, vor 800, Einband in Goldschmiedearbeit um 1500, Wien, Schatzkammer
Quelle: Michal Maňas, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Imperial_Bible.jpg (Public Domain)
Dabei dient der Prachteinband des Buches nicht nur der materiellen Aufwertung: Ähnlich wie das Zauberbuch in seiner äußeren Erscheinung das verkörpert, was als Information zwischen den Buchdeckeln zu finden ist, kann der Einband eines mittelalterlichen Buches zu einem Zeichen seines Inhalts werden und so dem Ansinnen des Stifters oder der Repräsentation einer bestimmten Idee dienen.8 Ein bekanntes Beispiel, das als Faksimile auch Teil der Präsentation im Projekt
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Vgl. ebd.
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Vgl. Wittekind: Neue Einbände, S. 180.
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war, stellt das Krönungsevangeliar aus Wien9 dar, dessen Buchblock, auf purpurgefärbtem Pergament in Gold- und Silberschrift beschrieben, von einem prachtvollen Einband aus Goldschmiedearbeit umgeben wird. Die prunkvolle Handschrift der Hofschule Karls des Großen und der um 1500 geschaffene, nicht minder prunkvolle Deckel, der Gottvater im Kaiserornat zeigt, weisen das Evangeliar eindeutig in seiner herrschaftsstiftenden, aber auch performativen Rolle aus – als Teil der Reichsinsignien des Heiligen Römischen Reiches wurde der Eid bei der Kaiserkrönung auf dieses Buch abgelegt.10 Der Prachteinband eines wertvollen mittelalterlichen Buches lässt dieses nicht nur durch die Materialität, sondern auch die Ikonographie im geschlossenen Zustand als zeichenhaften und bedeutungsvollen Repräsentationsgegenstand erscheinen.11 Und dass mittelalterliche Codices neben einer Funktion als Textträger ebenso Objekte waren, denen Kraft zugesprochen wurde, zeigt die Überlieferung kleinformatiger Bücher, die als Amulette getragen wurden.12 Dabei verstärkt mitnichten nur das Äußere die Wirkung eines Buches. Auch Schrift wird zu einer selbstständigen und bildlichen Repräsentation, unabhängig davon, ob sie gelesen werden kann (oder sollte).13 Ornament- oder Textteile und Initialen können zu ›zeichenhaften‹ Bildern werden. Eine Initialzierseite hebt den Textanfang durch eine großformatige oder seitenfüllende Initiale oder Initialligatur hervor (insbesondere in der frühmittelalterlichen Buchmalerei)14 und lässt dem Buchstaben damit eine eigene »sakrale
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Sog. Krönungsevangeliar, Inv.-Nr. WS XIII 18, Handschrift auf Pergament, 236 ff, 324 x 249 mm, vor 800, Einband in Goldschmiedearbeit um 1500, Wien, Schatzkammer.
10 Vgl. u.a. Helmut Trnek: »Das Krönungsevangeliar«, in: Kunsthistorisches Museum Wien (Hg.): Weltliche und Geistliche Schatzkammer, Bildführer, 2. durchg. Aufl., Wien 1991, S. 166-168. Genauer gesagt, so die Forschung, wurde der Eid mit Berühren der ersten Seite des Johannesevangeliums abgelegt. Vgl. ebd. 11 Vgl. Henry Mayr-Harting: Ottonische Buchmalerei: Liturgische Kunst im Reich der Kaiser, Bischöfe und Äbte, Stuttgart 1991, S. 168. 12 Vgl. Michael Curschmann: »Das Buch am Anfang und am Ende des Lebens«, in: Stephan Müller/Lieselotte E. Saurma-Jeltsch/Petra Strohschneider (Hg.): Codex und Raum, Wolfenbüttel 2009, S. 11-42, hier S. 17. 13 Vgl. Margaret Bridges: »Mehr als ein Text. Das ungelesene Buch zwischen Symbol und Fetisch«, in: Michael Stolz/Adrian Mettauer (Hg.): Buchkultur im Mittelalter. Schrift – Bild – Kommunikation, Berlin 2005, S. 103-121, hier S. 121. 14 Vgl. Christine Jakobi-Mirwald: Buchmalerei, Terminologie in der Kunstgeschichte, 4. überarb. Aufl., Berlin 2015, S. 33.
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Wirkung«15 zukommen. Das geschriebene Wort wird zu einem belebten Bild,16 indem es innerhalb von historisierten oder bewohnten Initialen Raum für figürliche Ausstattung bietet. Dieser performative Aspekt einer direkten Ansprache der Leser*innen insbesondere durch szenische Ausstattungen der Initialen ist nach Jeffrey F. Hamburger konstitutiv für die Aussagekraft und in gewisser Weise Subjektivierung mittelalterlicher Handschriften – »Books themselves could be construed as having a speaking ›voice‹.«17 Nicht nur das Format Codex18 und dessen künstlerische Ausstattung, sondern auch der handwerkliche Herstellungsprozess ist in die Metamorphose eines mittelalterlichen Buches vom Schriftträger zum körperlichen Objekt eingebunden: Sowohl das organische Material Pergament19 als Verweis auf die Inkarnation Christi und die Farbe als Sinnbild der Wunden, als auch das geschriebene Wort als Chiffre der exegetischen Deutung Christi als inkarnierter »Logos«,20 ließen das religiöse Buch im Mittelalter ›Fleisch werden‹21 – eine innere und äußere Körperhaftigkeit, die zwar nicht bedrohlich, aber für Rezipient*innen möglicherweise so greifbar war, wie es das lebendige Monsterbook of Monsters für Zauberschüler*innen (und Filmzuschauer*innen) heute ist. Wo der mittelalterliche Codex als eigenständiger Corpus gesehen wird, dessen Wirkung auf dem Zusammenhang von Wort, Versprachlichung und Bild basiert,22 ist ein sich verselbstständigendes Buch nur allzu bekannt als Stilmittel etlicher FantasyErzählungen: Leser*innen können buchstäblich in Bücher eintauchen, wie z.B. in Michael Endes Die Unendliche Geschichte, und nicht immer (und erst recht nicht aus jedem Buch) sollte unbedingt laut vorgelesen werden. Man denke zum
15 Mayr-Harting: Ottonische Buchmalerei, S. 65. 16 Vgl. Jeffrey F. Hamburger: Script as Image, Paris u.a. 2014, S. 1-2. 17 Ebd., S. 10. Der Autor bezieht sich an dieser Stelle auf Sandra Linden: »Das sprechende Buch. Fingierte Mündlichkeit in der Schrift«, in: Andreas Laubinger/Brunhilde Geddert/Claudia Dobrinski (Hg.): Text – Bild – Schrift. Vermittlung von Information im Mittelalter, München 2007, S. 83-100. 18 Zu der performativen Einbindung des Akts des Blätterns in die Bild- und Textgestaltung, die das Codexformat ermöglicht, vgl. Schneider: Geschlossene Bücher, S. 592. 19 Vgl. zu Pergament u.a. Keith Houston: The Book – A Cover-to-Cover Exploration of the Most Powerful Object of Our Time, New York 2016, S. 31-33. 20 Hamburger: Script as Image, S. 10. Zu der Differenzierung des Logos-Begriffs vgl. u.a. Jan Dochhorn: »Altes und Neues Testament«, in: Volker Henning Drecoll (Hg.): Trinität. Themen der Theologie, Bd. 2, Tübingen 2011, S. 11-79. 21 Hamburger: Script as Image, S. 10. 22 Vgl. ebd., S. 6.
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Beispiel an die Jugend-Fantasy Trilogie Tintenherz von Cornelia Funke, in der das Vorlesen Figuren aus Büchern heraustreten lässt, oder an H. P. Lovecrafts fiktives Necronomicon, dessen Lektüre unangenehme Geister heraufbeschwört. Abb. 3: Screenshot aus dem Videospiel Kindom Come: Deliverance
Quelle: Warhorse Studios, 2017. https://press.warhorsestudios.cz/press/projects/kingdomcome-deliverance/gallery#screenshots
Gerade in Videospielen und Filmen zeigt sich das wirkmächtige Buch in Anlehnung an den mittelalterlichen Codex augenfällig. Die mediale Divergenz zwischen ›altem‹ und ›neuem‹ Bildmedium, die innerhalb der filmischen Inszenierung von Buch und Schrift entsteht, erzeugt eine Alteritätserfahrung gegenüber dem Buch oder der (Hand)Schrift.23 Die im Film gezeigten Bücher, obwohl im Alltag vertraut, werden als außergewöhnlich und neuartig wahrgenommen, sie »erscheinen oft als das Andere, kulturell Fremde«24 und lassen eine Distanz entstehen, wenn »das vertraute Medium wie durch einen ungewohnten Schleier« wahrgenommen wird.25 Diese Divergenz der Medien kann auch genutzt werden, um kontrastierende Zeitformen, alt und modern, Handarbeit und Technik gegen23 Annette Simonis: Intermediales Spiel im Film: Ästhetische Erfahrung zwischen Schrift, Bild und Musik, Bielefeld, 2010, S. 16-17. 24 Ebd., S. 16-17. Einen kurzen unterhaltsamen (filmischen) Überblick über die Präsenz von Büchern in Filmen bietet das Filmmagazin Blow Up des Kultursenders Arte TV: Filmmagazin Blow Up: DAS BUCH IM FILM, Frankreich 2017, 18 min.: http://cinema. arte.tv/de/artikel/das-buch-im-film vom 12.09.2017. 25 Annette Simonis: Intermediales Spiel im Film, S. 16-17.
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überzustellen. Gerade auf das mittelalterliche Buch bezogen, spielt der Aspekt des Medienunterschiedes in der (zumindest scheinbaren) Ablösung des Buchmediums durch digitale Möglichkeiten eine verstärkte Rolle. Kerzen, Pergament, Feder und Tinte gehören zum Motivinventar der filmischen Inszenierung von Handschrift und stehen dem Medium Film oder dem digitalen Bild diametral gegenüber. Befassen sich Schüler*innen mit mittelalterlichen Handschriften, kann es für sie durchaus von Interesse sein, genauer auf die moderne Medienlandschaft und die Inszenierung des Buches in unterschiedlichen Filmgenres zu achten. Der Blick auf mittelalterliche Bücher ist zum einen durch diese Inszenierungen in modernen Bildmedien bereits geprägt; zum anderen bieten die digitalen Bilder oder die Filme, die das Buch als wirkmächtigen Gegenstand inszenieren, die Möglichkeit, es als eigenständiges und durchaus mächtiges Objekt so (neu) zu verstehen und wahrzunehmen.
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MITTELALTERLICHE
B ÜCHER ?
Die Wirkung der medialen Repräsentation von mittelalterlichen Kunstobjekten, insbesondere Codices, tritt vielfach in den Fantasy-Narrativen zeitgenössischer Filme auf und wurde so zu den Grundfragen des Projekts gewählt, das mit Schüler*innen im Geschichtsleistungskurs (11. Klasse) zum Thema Mittelalter stattfand. Die Idee eines historischen Mittelalters26 in der visuellen Vorstellung basiert besonders bei Schüler*innen auf (historischen) Filmen, digitalen Bildmedien oder Videospielen.27 Dass – und wie – dabei oft die Grenzen zwischen
26 Zu der (notwendigen) Problematisierung des Epochenbegriffs ›Mittelalter‹ kann hier keine Analyse geboten werden; Im Folgenden bleibt der Begriff Mittelalter bestehen, da auch die Schüler*innen im Geschichtsunterricht mit diesem Epochenbegriff arbeiten. Eine ausführliche Diskussion des Mittelalterbegriffs nehmen unter vielen folgende Publikation vor: Thomas Martin Buck/Nicola Brauch (Hg.): Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis, Münster 2011. Volker Mertens/Carmen Stange (Hg.): Bilder vom Mittelalter. Eine Berliner Ringvorlesung, Göttingen 2007. Valentin Groebner: Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München 2008. 27 Vgl. Nicola Brauch/Gerhild Löffler: »Die Wirklichkeit des Mittelalters in der Schulpraxis. Erfahrungsbericht und kompetenzdidaktische Überlegungen«, in: Thomas Martin Buck/Nicola Brauch (Hg.): Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis, Münster 2011, S. 255-267, hier S. 264. Allgemein konstatiert Christian Kiening: »Kein anderes
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empfundener historischer Realität und Fantasy verschwimmen28 und die mediale Inszenierung auf bestimmte historische Narrative der Geschichtsschreibung verweist, sollten Schüler*innen in diesem Projekt anhand eines direkten Vergleichs mittelalterlicher Buchmalerei mit modernen Bildmedien erschließen. Der Kontakt mit mittelalterlichen Handschriften wird nicht nur für Schüler*innen dadurch erschwert, dass über den Rücken streicheln, durchblättern, überhaupt in die Hand nehmen alter Manuskripte in den meisten Fällen aus konservatorischen Gründen unmöglich ist. Eine Ausstellungssituation wiederum ist, dem Objekt Buch geschuldet, immer selektiv. Bücher sind dafür konzipiert, durchgeblättert zu werden. Eine Möglichkeit, sich mit mittelalterlichen Büchern auseinanderzusetzen, bieten daher Faksimiles, die, je nach Qualität auch Luxusobjekte,29 bei weitem zugänglicher sind als Originale. Dem Wesen des mittelalterlichen Buches können Schüler*innen sehr viel näherkommen, wenn sie selbst den Eindruck von Format, Gewicht, Dicke der Seiten und Farbigkeit an einem tatsächlichen Buch erleben. Indem sie im aktiven Umgang mit den Faksimiles Handschriften unterschiedlicher Entstehungszeit und Ausstattung kennenlernen und sie in Hinblick auf Format, Gestaltung von Text und Bild und Materialien
Medium bestimmt das allgemeine Bild des Mittelalters im 20. und 21. Jahrhundert mehr als der Film.« Christian Kiening: »Einleitung I. Mittelalter im Film, Teil 1«, in: Ders./Heinrich Adolf (Hg.): Mittelalter im Film, Berlin 2006, S. 3-53, hier S. 3. Vgl. auch: Meriem Pagès/Karolyn Kinane: »Introduction: Television Medievalisms«, in: Dies. (Hg.): The Middle Ages on Television: Critical Essays, North Carolina 2015, S. 1-11. Carl Heinze: »Simulierte Geschichte. Zur Mittelalterdarstellung im Computerspiel«, in: Thomas Martin Buck/Nicola Brauch (Hg.): Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis, Münster 2011, S. 171-181. 28 Stefanie von Schnurbein verweist auf die die populäre Imagination vom historischen Mittelalter beeinflussende Rolle von Fantasyliteratur wie bspw. J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings (1955): Stefanie von Schnurbein: »Neuheidentum und Fantasyroman«, in: Volker Mertens/Carmen Stange (Hg.): Bilder vom Mittelalter. Eine Berliner Ringvorlesung, Göttingen 2007, S. 137-153, hier S. 139. Siehe auch zu der Verbindung von Mittelalter und Fantasy im Film, hier GAME OF THRONES (2011-) und THE LORD OF THE RINGS (2001-2003): Pagès/Kinane: Introduction, S. 1-6. 29 Der Preis für das bereits benannte Wiener Krönungsevangeliar (SCHK.XIII.18, Kunsthistorisches Museum, Weltliche Schatzkammer, Wien) liegt, laut Verlag, bei stolzen 23.900 € (Mindestgebot) – ist dafür aber auch mit dem ebenfalls faksimilierten Prachteinband in Goldschmiedearbeit ausgestattet. (Angebote bei: Ziereis Faksimiles: https://www.ziereis-faksimiles.de/)
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untersuchen konnten, war es ihnen möglich, ihre anfänglich geäußerte Skepsis30 gegenüber mittelalterlichen Handschriften abzubauen. Die Faksimiles boten den Schüler*innen nicht nur einen Einblick in die – wider Erwarten – sehr farbenfrohe Welt der mittelalterlichen Buchmalerei, sondern sprachen auch ihr eigenes ästhetisches Empfinden an. Die zu Beginn wahrnehmbare Hemmschwelle der Schüler*innen und die Erwartungshaltung entsprachen dem Stereotyp eines ›düsteren Mittelalters‹,31 das durchweg mit Abgrenzung besetzt ist – eine Vorstellung, der dieses Projekt dezidiert anhand moderner Visualisierungen innerhalb der medialen Inszenierung von Geschichtsbildern nachgehen wollte. Um sich diesen Themen anzunähern, wurde das Projekt in zwei Sektionen erarbeitet, die jeweils dem ›alten‹ und dem ›neuen‹ Bildmedium gewidmet waren. Im Mittelpunkt der ersten Sektion stand der Besuch der Faksimilesammlung, das Kennenlernen mittelalterlicher Handschriften, deren Herstellungsmethoden und Gebrauch und das anschließende Erschließen ausgewählter Handschriften in Eigenarbeit mit Fokus auf illuminierten Handschriften vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. In der zweiten Sektion legten die Schüler*innen anhand von selbst ausgewähltem Bildmaterial aus aktuellen Medien, Filmen oder Büchern dar, inwiefern ihrem Empfinden nach Mittelalter heute visuell konstruiert und inszeniert wird. Ausgehend davon entwarfen die Schüler*innen selbst ein Konzept für ein Videospiel, für das sie eine Auswahl der betrachteten Manuskripte und Bildbeispiele als visuelle Grundlage heranzogen. In zwei Gruppen entstanden dabei unterschiedliche Spielideen: Als Grundlage eines Spielkonzepts wählten die Schüler*innen der ersten Gruppe selbstständig ein historisches Ereignis, den Gang nach Canossa Heinrichs IV., aus. Eine Krönungsszene in der Miniatur eines französischen Psalters und das prominente Christusbildnis auf der Ebstorfer Weltkarte wurden als Inspirationsquelle für die thematische Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen weltlicher und kirchlicher Herrschaft genannt. Dabei wurde die Auswahl dieser und weiterer Bildbeispiele anhand ihrer Information bezüglich Kleidung, Architektur und Farbigkeit begründet. Die Schüler*innen wählten die Bilder, die sie in diesem Fall als ›Quellen‹ nutzten, in Hinblick auf ein bestimmtes (visuelles) Ziel aus,
30 Nicola Brauch und Gerhild Löffler sprechen von einer »historische[n] Alteritätserfahrung«, der Schüler*innen im Umgang mit Mittelalter im Unterricht begegnen und die hier als Begründung einer Skepsis gegenüber mittelalterlicher Kunst gesehen werden kann. Brauch/Löffler: Wirklichkeit des Mittelalters, S. 265. 31 Zu dem Klischee des ›düsteren Mittelalters‹ vgl. u.a. Valentin Groebner: Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter, München/Wien 2003, insbes. S. 13-26.
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das ihrer Geschichtswahrnehmung entsprach. Im Spielentwurf der zweiten Gruppe sollten Spieler*innen in der Rolle von Zeitreisenden aufgefordert werden, wertvolle mittelalterliche Handschriften in ihrer Entstehungszeit zu bergen und für die Zukunft, aus der sie gereist seien, aufzubewahren. Die Schüler*innen verfuhren hier weniger selektiv: Wunderwesen wie Kynokephale und der Kampf mit einem (verzauberten) Bären inspiriert durch eine Miniatur des Codex Manesse sowie die fiktionale Zeitreise sollten in einer Synthese aus Historie und Fantasy einen Platz in dem Spiel erhalten. Trotz dieses fantasievollen Exkurses bevorzugten alle Schüler*innen im nachstehenden Gespräch eine Darstellung von Vergangenheit, die durch wörtliches Re-Konstruieren von Geschichte in bestmöglicher Anlehnung an Quellen die subjektive Wahrnehmung nach Möglichkeit reduziere.32 Für das Videospiel bedeutet das, je enger visuell oder fotorealistisch Animation und Grafik mit einem als historisch gesehenen Gegenstand verknüpft sind, desto ›akkurater‹ wird auch das Spiel und das Erlebte wahrgenommen und vice versa33 – eine Form der visuellen Darstellung, die auch die Schüler*innen ganz selbstverständlich für ihre Entwürfe wählten. Der Modus der Visualisierung stellte für sie eine wichtige Komponente der Wahrnehmung, in diesem Fall auch Glaubwürdigkeit, des Gesehenen dar. Die Schüler*innen äußerten ihr Bewusstsein dafür, an ein bestimmtes Bildgedächtnis – das im Rahmen moderner Bildmedien gesehen wurde – anschließen zu wollen und dies auch mit Rücksicht auf eine Wiedererkennbarkeit durch potenzielle Konsument*innen zu müssen. Deutlich wurde, dass sie sich durchaus bewusst waren, als Spieleentwickler*innen die Verantwortung für ein visuelles historisches Narrativ zu tragen. Die Umsetzung von Bildmaterial in das Medium Videospiel erforderte von ihnen also, die Rolle der Erzähler*innen einzunehmen und ein Narrativ zu generieren – ein Narrativ, das, wie sie selbst feststellten, die Grenzen zwischen historischem Empfinden und Fiktion durchaus aufbrechen konnte.34
32 Tara Jane Copplestone beschreibt diese quellenaffine und damit (scheinbar) objektive historiographische Herangehensweise als reconstructionist approach: Tara Jane Copplestone: »But that’s not accurate: The differing perceptions of accuracy in culturalheritage videogames between creators, consumers and critics«, in: Rethinking History 21 (2017), H. 3, S. 415-438, hier S. 418. 33 Vgl. ebd., S. 418. 34 Damit, um bei Copplestone zu bleiben, wäre gewissermaßen die historiographische Herangehensweise des deconstructionist approach erreicht, ein Aufbrechen der normativen Wahrnehmung von Geschichtsschreibung und die Darlegung dieser als Konstruktion einer Autorität, eines bestimmten Ziels oder Publikums und das damit ein-
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G ESCHICHTE IM MODERNEN B ILDMEDIUM DES V IDEOSPIELS »Schreibe deine Geschichte neu und werde zum Helden!«35 In diesen aktiven Part sollen Spieler*innen des Videospiels KINGDOM COME: DELIVERANCE (Warhorse Studios, 2017) eintreten. Ähnlich lautet der Aufruf für eine ganze Kollektion der Spielserien ASSASSIN’S CREED: THE EZIO COLLECTION (Ubisoft, 2017): »Schreibe in dieser umfassenden [Spiele-]Sammlung Geschichte«36, ist hier zu lesen. Videospiele wie CALL OF DUTY: WW II, ASSASSIN’S CREED, FOR HONOR, AGE OF EMPIRES oder BATTLEFIELD machen einen nicht unerheblichen Marktanteil der Spielebranche aus – und sie alle nehmen Bezug auf historische Ereignisse durch die Bandbreite der Geschichtserzählung. Ähnliche Popularität genießen Filme, die historische Szenarien verarbeiten. Die Formen und Einflüsse der (Re-) Inszenierung von Geschichte in Filmen und Spielen sollten auch mit den Schüler*innen diskutiert werden. Hierbei trat die Frage nach der empfundenen historischen Authentizität des Wahrgenommenen auf, die auch die Schüler*innen in Anbetracht ihrer eigenen Bildauswahl der als mittelalterlich empfundenen visuellen Eindrücke bewegte – wie viel Eingriff oder Veränderung zu Gunsten einer Unterhaltungssteigerung ist erlaubt? Bis zu welchem Grad darf Geschichte »auffrisiert«37 werden? Hafte doch gerade dem historischen Film im Gegensatz zu dem als neutral empfundenen Geschichtsbuch ein (oftmals abwertender) Verdacht der Inszenierung an.38 Dabei ist der historische Film, wie Robert A. Ro-
hergehende Aufzeigen von Konstruktion und Rezeption eines Geschichtsnarrativs. Vgl. Copplestone: But that’s not accurate, S. 418. 35 KINGDOM COME: DELIVERANCE, Warhorse Studios, 2017: https://www.kingdom comerpg.com/de vom 17.09.2017. 36 ASSASSIN’S CREED: THE EZIO COLLECTION, Ubisoft Entertainment 2017, Spielbeschreibung bei: Ubisoft Official, Franchise, Assassin’s Creed, Assassin’s Creed: The Ezio Collection: https://www.ubisoft.com/de-de/franchise/assassins-creed/ vom 21.09.2017 37 Äußerung im Zusammenhang mit der filmischen Inszenierung von Geschichte: »Wir reden uns ein, wir seien viel humaner als im Mittelalter«, Interview von Paul Katzenberger mit dem Regisseur Uwe Janson zum Spielfilm zu Martin Luther (ZDF 2017), Süddeutsche Zeitung, 31. Oktober 2017, 9:33 Uhr. http://www.sueddeutsche.de/me dien/zwischen-himmel-und-hoelle-im-zdf-wir-reden-uns-ein-wir-seien-viel-humanerals-im-mittelalter-1.3730172 vom 31.10.2017. 38 Robert A. Rosenstone verweist hier auf die traditionelle Autorität, die in der Geschichtsschreibung dem geschriebenen Wort und damit dem Buch zukomme: Robert
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senstone deutlich macht, ein visuelles Werk, das eine eigene Form des historischen Denkens und einen eigenen Umgang mit Geschichte aufzeigt39 – nicht mehr und nicht weniger glaubwürdig als geschriebene Geschichte, betrachtet man diese ebenfalls als Narrativ, das gesellschaftlich und diskursiv festgelegt ist.40 Und dass Geschichtsschreibung auch selektiv ist,41 (sie ließe sich mit der Ausstellungssituation eines Buches vergleichen) macht sie, wie den Film, zu einem persönlichen Konstrukt, einem Narrativ, in dem der*die Historiker*in selbst die Rolle eines*einer Erzähler*in einnimmt.42 Haben diese narrative Funktion und damit die Deutungshoheit in Medien wie Büchern, Geschichten, Filmen und Serien immer Historiker*innen oder Produzierende inne, gestatten Videospiele Spieler*innen dagegen ein aktiveres Eingreifen in das Narrativ. Indem sie innerhalb des Spielrahmens Entscheidungen treffen, die ihrem eigenen historischen Verständnis entsprechen, können sie selbst aktiv mit den gebildeten Narrativen umgehen oder sie beeinflussen. Das Videospiel bildet nach Adam Chapman eine Form des selbstständigen Umgangs mit Geschichte und ermöglicht Spieler*innen in gewissem Rahmen, in der spielerischen Immersion ein historisches Narrativ zu konstruieren oder zu dekonstruieren.43 Die Konstruktion des Spielrahmens und die Konstruktion eines Narrativs sollten in diesem Projekt Schüler*innen eine Grundlage zur eigenen Reflexion bieten, indem sie sowohl die Perspektive der Entwickler*innen als auch der Konsument*innen einnehmen konnten und sich sowohl mit historischen, als auch visuellen und ästhetischen Motiven beschäftigen mussten.
A. Rosenstone: »The History Film as a Mode of Historical Thought«, in: Ders./Constantin Parvulescu (Hg.): A Companion to the Historical Film, West Sussex 2013, S. 71-87, hier S. 73. Ders.: »History in Images/History in Words: Reflections on the Possibility of Really Putting History onto Film«, American Historical Review 93 (1988), H. 5, S. 1173-1185. 39 Rosenstone: The History Film, S. 86. 40 Ebd. Vgl. auch: Keith Jenkins: Re-thinking History: With a new preface and conversation with the author by Alun Munslow, London 2003, S. 11. 41 Jenkins: Re-thinking History, S. 11-14. 42 Ebd., S. 14. 43 Adam Chapman: Digital Games as History: How Videogames Represent the Past and Offer Access to Historical Practice, New York 2016, S. 34. Wohlgemerkt, darauf weist Chapman hin, findet dies nur innerhalb des Spielrahmens statt, der eine wichtige Konstante des (historischen) Spiels darstellt. Ebenso ist darauf hinzuweisen, dass Spielentscheidungen auch rein persönlicher oder strategischer Natur sein können. Vgl. ebd. S. 30-41.
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UND M ONSTRÖSITÄT : A USSTATTUNG MITTELALTERLICHER B ÜCHER UND DAS M ONSTER ALS A BGRENZUNGSPHÄNOMEN Sowohl in der Ausstattung mittelalterlicher Bücher als auch in bereits genannten modernen Unterhaltungsmedien finden sich Formen des Fantastischen oder Monströsen, und das nicht nur im Monsterbook of Monsters. Figürliche Ausstattungen christlicher Texte, die scheinbar profanen Charakter innehaben und dennoch in die Seitengestaltung eingebunden sind, finden sich nicht nur in Initialen, sondern ab dem 13. Jahrhundert verstärkt in den Randzonen der Seitengestaltung44 und gehören, wie auch in der Architektur, zum Bildrepertoire des gotischen Mittelalters.45 Monster, Phantasiewesen und Drachen sind dabei auch den Schüler*innen aufgefallen und sicherlich nicht ohne Grund fiel dabei die scherzhafte Bemerkung, diese topographisch in J. R. R. Tolkiens Mittelerde einzuordnen. Gehören diese Wesen denn nur dahin?46
44 Vgl. Lilian M. C. Randall: »Exempla as a source of gothic marginal illumination«, in: The Art Bulletin 39 (1957), H. 2, S. 97-107, hier S. 97. Allgemein Michael Camille: Image on the Edge: The Margins of Medieval Art, London 1992. Elisabeth Klemm: »Zwischen Moral, Didaktik und Satire: Beobachtungen zu Tieren und Monstren in der Buchmalerei«, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 46 (1993), S. 287-302. Bettina Bildhauer/Robert Mills (Hg.): The Monstrous Middle Ages, Cardiff 2003. 45 Peter K. Klein: »Rand- oder Schwellenphänomen? Zur Deutung der Randbilder in der mittelalterlichen Kunst«, in: Ulrich Knefelkamp/Kristian Bosselmann-Cyran (Hg.): Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter: 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt an der Oder, Berlin 2007, S. 166-187, hier S. 166. Zu den verschiedenen Deutungen der Randfiguren in der Forschung vgl. u.a. Randall: Exempla. S. 102-103. Klemm: Zwischen Moral, Didaktik und Satire. Michael Camille: Image on the Edge. Bildhauer/Mills (Hg): The Monstrous Middle Ages. 46 Über die Historisierung von heute als Fabelwesen bezeichneten Gestalten und deren Behandlung in den Naturwissenschaften siehe Bernd Roling: Drachen und Sirenen: Die Rationalisierung und Abwicklung der Mythologie an den europäischen Universitäten, Leiden/Boston 2010.
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Abb. 4: Wilder Mann in einem Bas-de-Page des Lutrell Psalters, Detailansicht, England, 1325-1340, Pergament, London, British Library, Add MS 42130, fol. 70r
Quelle: http://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Add_MS_42130
Abb 5: Drache in einer Bordüre des Rutland Psalters, Detailansicht, ca. 1260, Pergament, London, British Library, Add MS 62925, fol. 14r
Quelle: http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=add_ms_62925_fs001r
Drachen und Wunderwesen sind die Protagonisten des heutigen Fantasy Genres und ein erkennbar hoher Anteil moderner Fantasyliteratur und -filme spielt in mittelalterlichen, vormodernen settings.47 Der romantisierende Mittelalterdiskurs des 19. Jahrhunderts und die Gleichsetzung der Epoche Mittelalter mit einem primitiven ›Goldenen Zeitalter‹ gelten als Ursprünge des Fantasy Genres:48 Ein
47 Kim Selling: Why are Critics Afraid of Dragons? Understanding Genre Fantasy, Saarbrücken 2008, S. 1. 48 Fowkes: The Fantasy Film, S. 15.
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Impetus des Antimodernen, der bis heute existiert und lebhaft der Rhetorik des Fantastischen inne ist.49 Gleichzeitig scheint auch die distinktive Figur des Monströsen im Bildrepertoire des Mittelalters und im Fantasy Genre ähnliche Rollen einzunehmen: wie düstere, deformierte, und knurrend kommunizierende Monster im Film eindeutig zeigen, auf ›wessen Seite sie stehen‹, gewissermaßen Zeichen sind,50 ist auch der Begriff des Monströsen im Mittelalter durch körperliche Andersartigkeit geprägt, der monströse Körper ist allein »durch seine auffällige Andersartigkeit in der Lage, Dinge sichtbar zu machen.«51 Und dabei ist das monstrum im Mittelalter selbst ein gesellschaftliches Konstrukt, nicht unähnlich moderner Bildinszenierungen, das medial vermittelt wird und als ein Abgrenzungsphänomen vom Menschen »zu dem, was nicht mehr menschlich angesehen wird«52 besteht, als »Randphänomen«, als ein Zeichen des Ausgeschlossenen und Auszuschließenden.53 Ein Bezug, den Bettina Bildhauer und Robert Mills auf den Epochenbegriff des Mittelalters selbst beziehen: »[I]f the Middle Ages is popularly imagined as a time full of monsters, then it can also be said to operate itself as a kind of historiographic monster, challenging ideas of modernity as radically different.«54 ›Zustände wie im Mittelalter‹ gelten noch immer als gängige Abgrenzung gegenüber Sichtweisen, politischen Systemen oder gesellschaftlichen Zuständen, die konträr und in negativem Verhältnis zu einer ›modernen westlichen Gesellschaft‹ stehen: Das Mittelalter wird als deformierter, monströser Gegensatz zu unserer modernen Welt inszeniert, als »Chiffre für exotisch-barbarisches Anderes.«55 Und auch das Fantasy Genre entspricht der Zuschreibung eines ›Anderen‹, irrational, unrealistisch, und im (negativen) Ge-
49 Selling: Why are Critics Afraid of Dragons? S. 93. 50 Fowkes: The Fantasy Film, S. 136. 51 Gabriela Antunes/Björn Reich: »(De)formierte Körper, die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter: Eine Einleitung.«, in: Dies. (Hg.): (De)formierte Körper – die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter, Göttingen 2012, S. 9-30, hier S. 10. Zum etymologischen Ursprung des Monströsen im Mittelalter vgl. Volker Scior: »Monströse Körper: Zur Deutung und Wahrnehmung von monstra im Mittelalter«, in: Gabriela Antunes/Björn Reich (Hg.): (De)formierte Körper – die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter, Göttingen 2012, S. 31-49, hier S. 33. 52 Scior: Monströse Körper, S. 32. 53 Klein: Rand- oder Schwellenphänomen? S. 180. 54 Bettina Bildhauer/Robert Mills: »Introduction: Conceptualizing the Monstrous«, in: Dies. (Hg.): The Monstrous Middle Ages, Cardiff 2003, S. 1-27, hier S. 2. 55 Vgl. Groebner: Ungestalten, S. 25.
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gensatz zu einer rationalen Welt der Moderne.56 Wenn das Monsterbook of Monsters sich im Fantasyfilm verselbstständigt und seine potenziellen Leser*innen angreift, dann handelt es sich hierbei um ein Phänomen, das nach rationalem Denken nicht erklärbar ist – und demnach auch in die Sphäre außerhalb der Realität verlagert wird. Auch wenn sich verselbstständigende Bücher, monströse Körper und Phantasiefiguren als visuelle und künstlerische Produkte einer Gesellschaft in ihrer Evidenz historisierbar sind – ein Film, in dem Ritter und Drachen vorkommen, lässt sich von den Schüler*innen nicht in ein Geschichtsbild einordnen. Filmbeispiele wie GAME OF THRONES und DER HERR DER RINGE wurden als visuelle Eindrücke zwar mehrfach benannt, allerdings als Derivat des Fantasy Genres wieder ausgeschlossen – auch wenn in Bezug auf die Handschriften gestalterische Ähnlichkeiten wie Architektur oder Ornamentik auffielen. Die diversen Gestalten und Drôlerien in den Handschriften wurden gezielt übergangen und dem Bereich des Fantasy Genres zugeordnet. Wie schwer die Grenze zwischen historischer Erzählung und Fantasie zu ziehen ist, haben die Schüler*innen in ihren eigenen Entwürfen diskutieren können. Besteht eine Hemmschwelle gegenüber mittelalterlicher Kunst, so kann und muss die Bezugnahme auf moderne Bildmedien und Genres eine Möglichkeit bieten, die Ursachen für das Gefühl einer zeitlichen, gesellschaftlichen und medialen Differenz zu erkennen und den Bezug von Fantasy und Mittelalter als Produkt eines Geschichtsbildes zu diskutieren. In ihrer Rolle zwischen Objekthaftigkeit und medialer Inszenierung können mittelalterliche Bücher als eigenständige Kunstwerke betrachtet werden, deren innere und äußere Gestaltung auf die Bandbreite an Bild- und Kunstproduktion mittelalterlicher Buchmaler*innen verweist und Schüler*innen somit einen Zugang zu einem erweiterten Kunst- und Epochenverständnis des ›Mittelalters‹ ermöglichen kann. (Clara Kahn)
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Betrachtet man heutige Mittelaltervorstellungen, so begegnet man auch hier monströsen Figuren, und zwar nicht ausschließlich im Fantasy-Bereich. Vor allem in der Spiele-Industrie und in der Populärkultur erfreuen sich mittelalterliche Themen großer Beliebtheit, auch im Hinblick auf Monströses. Dass fiktive
56 Kim Selling sieht diese Abgrenzung ebenso in der Polarität Science Fiction/Fantasy verbildlicht. Selling: Why are Critics Afraid of Dragons? S. 22.
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Figuren in unseren Mittelalterimaginationen überhaupt erscheinen, lässt sich durch die Kontinuität dieser Elemente begründen, zugleich sind Fiktionen als kulturelle Objektivationen fester Bestandteil57 der (Geschichts-)Kultur selbst: So folgen das Gesellschaftsspiel Dungeons and Dragons, die Fernsehserie GAME OF THRONES, die Buch- und Filmreihe Harry Potter oder Videospiele wie Skyrim – diese nur als besonders prominente Beispiele – einer Bild-Tradition, deren grundlegende Elemente schon in der Buchmalerei auszumachen sind. Diese Bilder dienten damals und heute auch – aber nicht ausschließlich – der Unterhaltung. Darin ähneln die aktuellen Medien der historischen Buchmalerei. Die heutigen Spiele-Entwickler*innen und Film- und Serienproduzent*innen setzen sich, ebenso wie auch die mittelalterlichen Buchmaler*innen, aktiv, künstlerisch und kreativ mit Geschichte auseinander und schaffen damit Geschichtskultur, die einen Aufschluss darüber gibt, wie damals und heute mit Vorstellungsbildern der Vergangenheit umgegangen wurde und wird. Dass auch vergangene Geschichtskultur(en) existieren und zu betrachten sind, ist keineswegs Konsens in der geschichtsdidaktischen Forschung, doch nach Bernd Schönemann unbedingt notwendig: »Geschichtskultur ist historisierbar und historisierungsbedürftig.«58 Die Spiele wie auch die Buchmalerei sind eine Ausdrucksform dessen, welche Vorstellungsbilder der Vergangenheit bei uns existierten und noch existieren und wie ihnen begegnet wurde bzw. wird: So werden sie zur geschichtskulturellen Quelle. Geschichtskultur ist demnach in jedem Falle historisierbar. Anhand aktueller (Video-)Spiele, Serien, Filme und der Vorstellungsbilder des Mittelalters, die sie produzieren, wird deutlich, dass sich in ihrer Reihe (berechtigterweise?) auch (Vorstellungen über) Monster wie feuerspeiende Drachen und fiktive Wesen wie Zwerge oder Orks befinden. Diese bildlich-künstlerisch artikulierten Vorstellungsbilder fügen sich zu einer Re-Präsentation des Mittelalters, die in entscheidenden Punkten von einem sogenannten ›faktualen‹ und evidenzbasierten Bild abweicht – und doch, so scheint es, sind ebendiese abweichenden und eindeutig fiktionalen Elemente grundlegende Bestandeile der Imagination des Mittelalters. Sie markieren – trotz oder gerade wegen ihres fiktionalen Charakters – eine Kontinuität in unserer Mittelalterimagination. Bei den Artikulationen der Vorstellungsbilder von Vergangenheit handelt es sich um
57 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtskultur, in: Michele Barricelli, Martin Lücke (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1, Schwalbach/Taunus 2012, S. 147-159, hier S. 148. 58 Bernd Schönemann: Erinnerungskultur oder Geschichtskultur, in: Eugen Kotte (Hg.): Kulturwissenschaften und Geschichtsdidaktik, München 2011, S. 53-72, hier S. 58.
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geschichtskulturelle Objektivationen, denen in der Schule adäquat begegnet werden muss. Jörn Rüsen definiert Geschichtskultur als die »praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft«59. Er stellt damit heraus, dass die geschichtskulturelle Kompetenz Geschichtsbewusstsein voraussetzt und zugleich die Fähigkeit umfasst, sich ebendieses bewusst zu machen, es zu artikulieren, um es anschließend (aber) auch reflektieren zu können. Der Geschichtskulturbegriff umfasst drei Dimensionen, die sich wechselseitig beeinflussen: (1) Macht (im Sinne einer politischen Kategorie), (2) Wahrheit (im Sinne einer wissenschaftlichen Kategorie) und (3) Schönheit (als ästhetische Kategorie). Diese Mannigfaltigkeit geschichtskultureller Artikulationen legt einen interdisziplinären Ansatz in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichtskultur nicht nur nahe, sondern fordert diesen durch die dem Theoriebegriff gewissermaßen inhärente Interdisziplinarität, die wechselseitige Beeinflussung und Prägung selbst ein. Der öffentlich artikulierte Umgang mit Geschichte prägt die Geschichtskultur, die uns in kulturellen Situationen und Objektivationen begegnet. Daraus ergibt sich aber, dass Schüler*innen neben der Ausbildung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins eine geschichtskulturelle Kompetenz zu erwerben haben, um ebendiesen Situationen und den darin enthaltenen Deutungsangeboten überhaupt kompetent gegenübertreten zu können. Folgt man Hans-Jürgen Pandel, so sind Schüler*innen geschichtskulturell kompetent, wenn sie die Fähigkeit besitzen, »sich in dem durch Geschichte geprägten Teil der Kultur zu bewegen, d.h. sich in der Vielzahl von kulturellen Situationen, Inszenierungen, Tourismus, Verarbeitungen und auch Kommerzialisierungen bewusst – geschichtsbewusst – zu bewegen.«60 Geschichtskulturelle Situationen sind also von Schüler*innen zunächst als ebensolche zu identifizieren. Sie müssen sich des Konstruktcharakters und der Referentialität der jeweiligen geschichtskulturellen Situation bewusst sein, um sie einerseits in einer kritischen Auseinandersetzung reflektieren und dekonstruieren zu können und andererseits – und dies scheint viel wichtiger – die (historischen) Referenzen auf Gegenstände, Personen oder Situationen und Ereignisse erkennen und in einen Sinnzusammenhang bringen zu können. Konkret heißt das: Geschichtskulturell kompetent sind Schüler*innen dann, wenn sie den historischen Charakter der ihnen begegnenden kulturellen Situation zu er-
59 Jörn Rüsen: Geschichtskultur, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 46 (1995), S.513-521, hier S. 513. 60 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, Schwalbach/Taunus 2013, S. 233. [Herv. i.O.]
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kennen und zu reflektieren wissen – das erfordert nicht nur ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein, sondern auch ein hohes Maß an Sensibilität für diese Thematik. Für die Schule stellt sich die Frage: Wie begegnet man geschichtskulturellen Objektivationen, also Situationen, in denen sich die Produzierenden rein fiktionaler Mittel bedienen, um mit Geschichte umzugehen, im Unterricht? Klar ist: Sie gehören zur Lebenswelt der Schüler*innen, Geschichtskultur wird von ihnen (mehr oder weniger) reflektiert konsumiert. Daraus ergibt sich freilich die Notwendigkeit, einen Umgang mit Geschichtskultur und geschichtskultureller Kompetenz zu einer Aufgabe der aktuellen Geschichtsdidaktik zu machen. Das ist dann besonders fruchtbar, wenn der schulische Horizont erweitert wird, man sich von anderen Disziplinen inspirieren lässt und interdisziplinär arbeitet, begegnet und berührt sich doch insbesondere in der Geschichtskultur ein weites Spektrum unterschiedlichster Blickwinkel aus unterschiedlichsten Disziplinen. Interessant an der interdisziplinären Auseinandersetzung mit Filmen, Serien und Videospielen, die ein mittelalterliches Sujet behandeln, ist, dass in dieser geschichtskulturellen Auseinandersetzung ein Bild des Mittelalters konstruiert wird, in dem die oben genannten monströsen Figuren häufig (nicht nur) am Rande auftreten – und das nicht ausschließlich aus ästhetischen Beweggründen: Sie sind ein etablierter und konstitutiver Teil der Gesamtnarration und fügen sich nicht nur in die präsentierten Vorstellungsbilder ein, sondern formen sie normativ. Die Herausforderung besteht nun darin, den historischen Vorstellungsbildern der Lernenden auf Augenhöhe zu begegnen. Es kann und darf nicht darum gehen, eine Serie, ein Videospiel – generell ein Vorstellungsbild – mit der sogenannten ›historischen Wirklichkeit‹61 zu kontrastieren und aufzuzeigen, woran es diesen Vorstellungsbildern der Schüler*innen mangelt. Es geht viel eher darum, ›Fiktionen‹ zu artikulieren, zu reflektieren und zu dekonstruieren, um sich anschließend zu fragen, was diese Vorstellungsbilder über den individuellen und gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte aussagen. Hier geht es aber vor allem
61 Hier ließe sich mit von Glasersfeld und von Foerster radikal-konstruktivistisch argumentieren, dass eine ontologische, objektive Wirklichkeit nicht festgestellt werden könne, sondern ›Wirklichkeit‹ lediglich als Konstruktion eines bewussten, kognitiven Organismus vorliege, der wiederum die Welt subjektiv wahrnehme und sie dadurch erfinde. Vgl. Ernst von Glasersfeld: Einführung in den radikalen Konstruktivismus, in: Paul Watzlawick (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beitrage zum Konstruktivismus, 10. Auflage, Berlin/München 2016, S. 16-38, hier S. 28f., sowie: Heinz von Foerster: Das Konstruieren einer Wirklichkeit, in: Ebd., S. 39-60, hier S. 39f.
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auch um die Form von Geschichtskultur, um die ästhetische Dimension der geschichtskulturellen Objektivationen. Zugleich ergibt sich in einer geschichtskulturellen Diskussion des Mittelalters und der eigenen Vorstellungsbilder über das Mittelalter die Chance, Lernende (spielerisch) einen Perspektivwechsel vornehmen zu lassen. Denn das Einfühlen in eine andere Perspektive ist nicht nur eines der »Hauptmittel historischen Fremdverstehens«62, sondern zugleich dessen Voraussetzung und muss deshalb integraler Bestandteil einer multiperspektivischen Arbeitsweise sein. »Grundsätzlich gilt, dass jede Beschäftigung mit Geschichte immer auch mit der Erfahrung von Andersartigkeit, d.h. einer Alteritätserfahrung, einhergeht.«63 Voraussetzung für die erfolgreiche Bearbeitung einer solchen geschichtskulturellen Thematik ist also ein Grundmaß an Einfühlungsvermögen und Fremdverstehen. Gleichzeitig kann Fremdverstehen in der Behandlung von geschichtskulturellen Objektivationen wie (Video-)Spielen, Serien oder Filmen und Romanen gefördert werden. In jedem Falle kann es als ein wesentlicher Bestandteil der historischen Erkenntnisgewinnung angesehen werden, denn: »Fremdverstehen/ Alteritätserfahrung bedeutet die sorgfältige Durchdringung und mentale Aneignung anderer [in diesem Fall: historischer, N. B.] Lebenswelten mittels ›Empathie‹.«64 Bernd Schönemann beschreibt die wesentliche Problematik für den Geschichtsunterricht, die sich aus einer inadäquaten Auseinandersetzung mit der Geschichtskultur ergibt, wenn er bemerkt: »Wer diese Bildungs- und Eventmaschine [gemeint ist die Institutionenordnung der Geschichtskultur, N. B.] nicht kennt und versteht, wird immer nur staunend ihre Produkte beäugen, aber geschichtskulturell ein Analphabet bleiben.«65 Die Deutungsangebote, die die Geschichtskultur bietet, werden dann nicht reflektiert und/oder dekonstruiert: »Auch nach ihrer Schulzeit werden Jugendliche mit historischen Deutungsange-
62 Bodo von Borries/Lutz Tornow: Fremdverstehen durch systematische Einübung in Perspektivenwechsel? Von gelegentlich ›multiperspektivischer‹ Quellenarbeit zu konsequent ›kontroverser‹ Behandlung, in: Andreas Körber (Hg.): Interkulturelles Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung. Konzeptionelle Überlegungen und praktische Ansätze, Münster 200, S. 227-238, hier S. 233. 63 Michael Sauer: Geschichte Unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik. 4. Aufl., Seelze-Velber 2005, S. 64. 64 Borries/Tornow: Fremdverstehen durch systematische Einübung in Perspektivenwechsel?, S. 231. 65 Schönemann: Erinnerungskultur oder Geschichtskultur, S. 71.
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boten konfrontiert und sie sind Instrumentalisierungen von Geschichte ausgesetzt.«66 Was benötigt wird, ist eine Perspektiv(en)erweiterung und eine Modernisierung der Unterrichtsinhalte mit Blick auf die Geschichtskultur. Nicht nur im Theater oder im Museum werden geschichtskulturelle Themen verhandelt, sondern eben auch in den populärkulturellen Medien, die von den Schüler*innen konsumiert werden. Diese Medien können und müssen selbst zum Unterrichtsgegenstand werden, nur so kann eine Teilhabe von Schüler*innen an der Geschichtskultur systematisch begleitet und gefördert werden. Was also haben Drachen im Geschichtsunterricht zu suchen? Im Zweifelsfall mehr als man eingangs denken möchte: Schüler*innen benötigen (und erwerben) geschichtskulturelle Kompetenz sowohl in der Schule als auch in der Berührung mit Geschichtskultur in ihrem außerschulischen Alltag. Sie erfahren im Umgang mit Geschichtskultur Alterität sowohl im Sinne einer historischen Alterität als auch bezogen auf die Andersartigkeit von Vorstellungsbildern ihrer Mitschüler*innen, die jeweils durch spezifische Zugriffe und bestimmtes Vorwissen geprägt sind. Die Schule kann Angebote schaffen, um eine kritische Rezeption geschichtskultureller Medien zu ermöglichen und die Interpretationen, die diesen Medien inhärent sind, dekonstruierbar zu machen und für die kritische Reflexion zugänglich zu machen. Die Schüler*innen werden so befähigt, das Verhältnis von Fiktion und ›historischer Wirklichkeit‹ im geschichtskulturellen Diskurs zu reflektieren, und lernen zu differenzieren: Der Gang nach Canossa gehört in das Mittelalter, Drachen definitiv nicht – und irgendwie doch, denn sie finden in unseren Vorstellungsbildern einen Platz, der nicht klar definiert ist. (Nicholas Beckmann)
66 Daniel Münch: Geschichtskultur im Geschichtsunterricht – Deutungen reflektieren oder Inhalte vermitteln?, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2017), S. 167-182, hier S. 168. https://doi.org/10.13109/zfgd.2017.16.1.167
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L ITERATUR
UND
S PIELE
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Die Herren Goethe und Gainsborough oder »Wo sich Text zum Bilde find’t.« Zu Subjekt und Landschaft im späten 18. Jahrhundert D ANIEL M AYR
In apodiktischer – und entsprechend zitierfreundlicher – Manier notiert Goethe 1823 in den Maximen und Reflexionen: »Wort[] und Bild sind Correlate [sic], die sich immerfort suchen«1. Wie auch sonst gilt hier nicht weniger, dass wer sucht, nicht immer auch tatsächlich findet, doch um eines jener Aufeinandertreffen, in denen diese jahrhundertealte und doch ewig junge Suche2 einen glücklichen Ausgang nimmt, wo sich also – in Abwandlung von Theodor Fontane – nicht (nur) Herz zum Herzen, sondern darüber hinaus auch Text zum Bilde find’t,3 soll es an dieser Stelle gehen. Es handelt sich bei diesem Fallbeispiel um ein im Sommer 2015 mit zwei Oberstufenklassen durchgeführtes Projekt. In einer Gegenüberstellung von Goethes Gedicht Mailied von 1775 und – als Übung vor
1
Johann Wolfgang Goethe: »Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen«, in: Harald Fricke (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, Frankfurt/M. 1993, S. 9-447, hier S. 22.
2
So äußert sich, wenngleich im Modus der Konkurrenz statt der Koexistenz, Ernst Rebel: »Sehen und Sagen. Vorbemerkungen zu einem ewig jungen Kompetenzstreit«, in: Ders. (Hg.): Sehen und Sagen. Das Öffnen der Augen beim Beschreiben der Kunst, Ostfildern 1996, S. 7-11. Ergänzen ließe sich hier, dass nicht nur Wort und Bild mitunter in Streit geraten können, sondern es sich auch vor Bildern über Wörter streiten lässt – die ja im Übrigen auch zuerst einmal gesucht werden müssen.
3
Siehe Theodor Fontane: »Frau Jenny Treibel oder ›Wo sich Herz zum Herzen find’t‹«, in: Walter Keitel/Helmuth Nürnberger (Hg.): Theodor Fontane. Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Band 4, o.O. 2002, S. 297-478.
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dem Original – dem 1787 entstandenen Porträt der Marsham-Kinder von Thomas Gainsborough aus der Berliner Gemäldegalerie fragte es nach Gemeinsamkeiten in der Darstellung des Verhältnisses von Subjekt und Landschaft, um in die vergleichende Betrachtung von Literatur und bildender Kunst einzuführen4 und im Zuge dessen zugleich allgemein Funktion und Wert von Bildern in einem deutschdidaktischen Kontext zu erproben. Im Folgenden möchte ich zum einen den Ablauf des Projekts nachzeichnen, dabei aber zum anderen auch immer wieder idealtypisch das inhaltliche Potenzial dieses Vergleichs andeuten. Im Zentrum stand eine doppelte Frage: einerseits, mit welchen spezifischen und das heißt zunächst einmal unterschiedlichen Darstellungsmitteln Goethes Gedicht und Gainsboroughs Gemälde in der Gestaltung der Beziehung von Subjekt und Landschaft arbeiten, sowie andererseits, welche Berührungspunkte zwischen Text und Bild sich dabei doch ergeben. Zuallererst ging es also darum, Text und Bild – vor allen Bemühungen um ihre Annäherung – zunächst in ihrer jeweils besonderen ästhetischen Strukturiertheit ernst zu nehmen und zu eigenem Recht kommen zu lassen. Gegen die Gefahr einer gegenseitigen Verdunklung, wenn sich Text und Bild entweder im Licht stehen oder aber umgekehrt das Ausleuchten potenzieller Analogien das Spezifische in den Schatten zu stellen droht, stand das Vorhaben einer »wechselseitigen Erhellung der Künste«5, das Verbindungslinien gerade durch die Berücksichtigung und Herausarbeitung von Differenzen ins Licht zu rücken versuchte.6
4
Eine übersichtliche Einführung in das Forschungsfeld bietet nach wie vor Ulrich Weisstein: »Einleitung. Literatur und bildende Kunst: Geschichte, Systematik, Methoden«, in: Ders. (Hg.): Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebiets, Berlin 1992, S. 11-31. Für eine ergänzende neuere Perspektive vgl. etwa Wilhelm Voßkamp/Brigitte Weingart: »Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse«, in: Dies. (Hg.): Sichtbares und Sagbares, Köln 2005, S. 7-22.
5
So der häufig als Schlagwort gebrauchte Titel eines 1917 gehaltenen Vortrags von Oskar Walzel (Ders.: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Grundbegriffe, Berlin 1917). Vgl. zu den ursprünglichen Hintergründen von Walzels Vortrag Gerhard Kluge: »Stilgeschichte als Geistesgeschichte. Die Rezeption der Wölfflinschen Grundbegriffe in der deutschen Literaturwissenschaft«, in: Neophilologus 61 (1977), H. 4, S. 575-586.
6
Vgl. methodologisch zur Praxis des Vergleichens Johannes Grave: »Vergleichen als Praxis. Vorüberlegungen zu einer praxistheoretisch orientierten Untersuchung von Vergleichen«, in: Angelika Epple/Walter Erhart (Hg.): Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt/M. u.a. 2015, S. 135-159 und zu Grauzonen (nicht
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J OHANN W OLFGANG G OETHE : M AILIED ( UM 1771/1775) Das Projekt begann mit Goethes um 1771 entstandenem und 1775 veröffentlichtem Mailied, das die Schüler*innen zuvor bereits als reguläres Thema im Deutschunterricht behandelt hatten.7 1
Wie herrlich leuchtet
2
Mir die Natur!
3
Wie glänzt die Sonne!
4
Wie lacht die Flur!
5
Es dringen Blüten
6
Aus jedem Zweig
7
Und tausend Stimmen
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Aus dem Gesträuch
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Und Freud’ und Wonne
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Aus jeder Brust.
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O Erd’! o Sonne!
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O Glück! o Lust!
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O Lieb’! o Liebe!
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So golden-schön,
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Wie Morgenwolken
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Auf jenen Höhn!
nur) kunsthistorischen Vergleichens Peter Geimer: »Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? Analogie und Differenz in kunsthistorischen Bildvergleichen«, in: Lena Bader/Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.): Vergleichendes Sehen, München 2010, S. 45-69. 7
Nachdem er das Gedicht anfänglich als Maifest veröffentlicht hatte, änderte Goethe für die Erstausgabe seiner Werke den Titel zu Mailied. Als Textgrundlage dient hier: Johann Wolfgang Goethe: »Mailied«, in: Karl Eibl (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799, Frankfurt/M. 1987, S. 287-289. Alle Zitate stehen im Fließtext mit Nennung der Verszahl. – Ich folge in der Deutung weitgehend dem Konsens der neueren Forschung, namentlich Thorsten Valk: Der junge Goethe. Epoche – Werk – Wirkung, München 2012, S. 86-89 und der ausführlicheren Analyse bei Theo Buck: »Johann Wolfgang Goethe. ›Mailied‹ (1771)«, in: Ders.: Streifzüge durch die Poesie. Von Klopstock bis Celan. Gedichte und Interpretationen, Köln 2010, S. 34-45.
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Du segnest herrlich
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Das frische Feld,
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Im Blütendampfe
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Die volle Welt.
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O Mädchen, Mädchen,
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Wie lieb’ ich dich!
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Wie blickt dein Auge!
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Wie liebst du mich!
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So liebt die Lerche
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Gesang und Luft,
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Und Morgenblumen
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Den Himmelsduft,
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Wie ich dich liebe
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Mit warmem Blut,
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Die du mir Jugend
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Und Freud’ und Mut
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Zu neuen Liedern
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Und Tänzen gibst.
36
Sei ewig glücklich,
37
Wie du mich liebst!
Zum Einstieg bietet es sich an, sich dem Text durch eine Beschreibung der Sprechsituation anzunähern. Grundlegend gilt es hierbei zunächst, die Sprecherinstanz des Gedichts als ein konkret fassbares und deutlich markiertes Ich zu identifizieren und damit den Text als Inszenierung einer subjektiven Aussprache zu lesen. Zwei formensprachliche Details heben die beiden Eingangsverse heraus. Zum einen findet sich im zweiten Vers ein Senkungsprall: Entgegen dem ansonsten überwiegend regelmäßigen Metrum mit durchgehend zweihebigen, auftaktig alternierenden Versen und wechselnden Kadenzen stoßen im »Mir die Natur« des zweiten Verses zwei Senkungen unvermittelt aufeinander, was das Personalpronomen »mir« besonders akzentuiert. Dieses »mir« nun verdankt sich zum anderen einem Neologismus, nämlich der Transitivierung des eigentlich intransitiven Verbes »leuchten«: Wohingegen es im alltäglichen Sprachgebrauch lediglich ein Subjekt benötigt, erhält es hier als zusätzlichen Aktanten das »mir« zugewiesen. Indem sie auf metrischer und lexikalischer Ebene also bereits ver-
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dichtet exponieren, was der Text im Folgenden eingehender entfaltet, führen die Anfangsverse die Leser*innen bereits zur Kernaussage des Textes hin: dem Gedanken einer wechselseitigen Bezugnahme von Subjekt und Natur. Ausgehend von diesem prägnanten, symptomatischen Detail als Einstieg lässt sich der Text genauer analysieren und seine Struktur nachzeichnen. Nachdem die ersten Verse die Natur als abstrakte Ganzheit aufgebracht haben (V. 2), differenzieren sie die folgenden in die Großbereiche von Himmel und Erde aus (V. 3f.). Die zweite sowie die ersten beiden Verse der dritten Strophe fokussieren dann jeweils in einer aufsteigenden Klimax zunächst die pflanzliche (V. 5f.), dann die tierische (V. 7f.) und schließlich die menschliche Sphäre (V. 9f.). In sämtlichen Seinsbereichen, der aufblühenden Frühlingsnatur ebenso wie den hervorbrechenden Gefühlen des Menschen, gibt sich eine generative und dynamische Kraft zu erkennen, die das Ich in überschwänglichen Ausrufen bejubelt (V. 11f.). Diese empathisch apostrophierte Schöpferkraft identifiziert dann die vierte Strophe als eine kosmische Liebe (V. 13), die das Ich zunächst wiederum in der frühlingshaften Natur ausfindig macht (V. 14-20), bevor es in Strophe sechs unvermittelt seine Liebe zu einem unbekannten Mädchen gesteht (V. 2124). Nachdem es in der siebten und achten Strophe diese zuvor etablierte Verknüpfung von natürlicher und menschlicher Sphäre konsolidiert hat, erkennt das Ich in den Schlussversen, dass es sich durch die Erfahrung der universalen Liebenskraft zu eigenem kreativen Schaffen angespornt fühlt (V. 31-34). Insofern es sie auf die zugrundeliegende natürliche Liebeskraft als gemeinsames Movens zurückführt, setzt das Ich natürliche Prozesse und künstlerisches Tätigwerden in Analogie: In einer poetologischen Wendung inszeniert das Gedicht die Begründung der Kunst aus einem als universell verstandenen Naturzusammenhang.8 Um den das Gedicht insgesamt kennzeichnenden erlebnishaften Sprechton und den Eindruck eines harmonischen Zusammenstimmens, einer Einheit von Ich, Du und Welt, näher zu untersuchen, lässt sich nach einer solchen Skizze des gedanklichen Aufbaus des Textes auf einige sprachliche Gestaltungsmittel zu sprechen kommen. Zunächst suspendiert Goethes Text die Trennung zwischen erlebendem und sprechendem Ich, indem er die aktuell gemachten Erfahrungen und ihre Artikulation zusammenfallen lässt. Statt etwa aus unbeteiligter Distanz retrospektiv über ein vergangenes Geschehen zu berichten, bringt das Ich, so will das Gedicht glauben machen, seine Eindrücke und momentanen Gefühlsregungen intuitiv zum Ausdruck – sozusagen vom Herz durch die Hand direkt aufs Papier. Durch diesen Anschein einer bruchlosen Übertragung von Empfindungen
8
Valk: Der junge Goethe, S. 87-89.
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in Sprache erzielt der Text die Wirkung einer vom Moment inspirierten, spontanen und darum authentischen sprachlichen Expression. Daneben kommen zahlreiche rhetorische Stilinstrumente zum Einsatz, die die Synthese von Mensch und Natur ebenso wie die Gefühlsintensität des Ichs anschaulich machen sollen. So suggerieren Wiederholungen (V. 13, 21), Ausrufe (V. 2-4, 11-13, 22-24), Apostrophen (V. 11-13, 21), Hyperbeln (V. 6f.), Ellipsen (V. 11, 13, 22) und Redundanzen (V. 9, 12), dass das Ich in emotionalem Überschwang die sprachliche Kontrolle aus der Hand gibt, dass es sich wiederholt, abbricht, weglässt und semantische Unterscheidungen vernachlässigt. Anaphern (z.B. V. 1, 3f., 15, 22-24; V. 6, 8, 10; V. 11-13, 15, 21) und Vergleiche (V. 1416, 25-29) parallelisieren inneres und äußeres Geschehen. Ähnliches gilt auch im Hinblick auf die Bildlichkeit. Während der Text einerseits die Frühlingsnatur durch Anthropomorphismen und aktive Verben verlebendigt (V. 1-4 u.a.), überblendet er andererseits Natur- und Stimmungsbilder, was die Unterscheidung von Wahrnehmung und Empfindung bzw. Vorstellung verwischt. Beschreibt etwa die Wendung »So golden-schön, / Wie Morgenwolken / Auf jenen Höhn!« (V.14-16) zunächst offenkundig einen natürlichen Sachverhalt, macht es zugleich auch das »erdabgehobene[], wolkenleichte[] Glücksgefühl«9 des Ichs sinnfällig. Dieselbe Hochgestimmtheit kommuniziert sich ebenso in einer auffälligen Zurücknahme sachlicher Konkretion und in sprachlicher Ungenauigkeit. Statt ein detailliertes Naturbild vor Augen zu stellen, wird der Sachbestand an Naturelementen auf topische Versatzstücke reduziert (z.B. V. 3f.), die als vermeintlich willkürlich herausgegriffene und assoziativ aneinandergereihte Details einen gewissermaßen übervollen und deshalb deskriptiv nicht zu bewältigenden Naturraum evozieren. Ebenso wenig erfährt das namenlose geliebte Mädchen – als sekundäre »personale Ausfüllung«10 der Liebesempfindung ohnehin erst spät im Text auftretend – keine genauere Charakterisierung. Als einziges äußerliches Merkmal benennt der Text ihr Auge (V. 23), was sich allerdings mit gleichem Recht als metaphorische Umschreibung auf ein natürliches Phänomen, die Sonne, beziehen ließe (vgl. V. 3): Menschliche und natürliche Liebe verschwimmen, individuelles Fühlen geht auf in der Erfahrung eines universell gültigen Naturprinzips. Gerade dass es der Zustand des Ichs also augenscheinlich erst gar nicht gestattet, sich auf eine ausführliche Naturdeskription einzulassen oder seine
9
Hiltrud Gnüg: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität. Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit, Stuttgart 1983, S. 74.
10 Buck: Goethe. ›Mailied‹, S. 41.
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emotionale Befindlichkeit reflektiert zur Sprache zu bringen, erzeugt emotionale Emphase und die Illusion ungefilterter Gefühlsaussprache.11 Diesem Eindruck arbeitet nicht zuletzt auch eine metrische und syntaktische Dynamik zu, die das innere Erleben des Ichs nachbilden und für die Leser*innen erfahrbar machen soll. Trotz ihrer zwar nicht literaturgeschichtlich normierten, aber durchaus gebundenen Form produzieren die auffällig kurz gehaltenen Verse über das Metrum und die geringe Silbenanzahl eine rhythmische Bewegung.12 Zusätzlich zu diesen temporeichen, atemlos wirkenden Parataxen überspielen Enjambements die Versgrenzen und beschleunigen auf diese Weise die sprachliche Bewegung (V. 1f., 5-10 u.a.). Dem entsprechen syntaktisch die überwiegend kurz gehaltenen Sätze und die Häufung Aktivität vermittelnder Verben, wobei die zwei längeren, mehrere Verse überspannenden Satzperioden des Textes als Ergänzung fungieren, indem sie die äußeren Geschehnisse explizit mit dem inneren Erleben des Ichs koordinieren (V. 5-10, 25-35). Insgesamt sollten Analyse und Deutung von Goethes Gedicht für die Fragestellung zentrale Merkmale des Textes bewusst machen und den Blick der Schüler*innen für die textlichen Darstellungsstrategien schärfen. Was sich in exaltiertem Sprachgestus zunächst als impulsive Artikulation intensiver Liebesgefühle und eines kosmischen Totalitätserlebnisses präsentiert, sollte als sorgfältig organisierter Text begreiflich gemacht werden, der die thematisierte Erfahrung keineswegs abbildet, sondern ihre authentische Wiedergabe in einem spontanen, unkontrollierten Sprechen vielmehr durch hohen rhetorischen Aufwand zu simulieren versucht. Es gelang den Schüler*innen, diese elaborierte Textfiktion und ihre spezifische Machart nachzuvollziehen, wobei es vor allem darauf ankam, die Beobachtungen in konkreten Eigenheiten des Textes und deren Wirkung festzumachen, die Eindrücke also in analytische Aussagen zu überführen.
11 Gnüg: Lyrische Subjektivität, S. 73f. 12 Vgl. dazu August Langen: »Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts«, in: Karl Richter/Gerhard Sauder/Gerhard SchmidtHenkel (Hg.): August Langen. Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur, Berlin 1986, S. 21-86, hier S. 36-72.
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T HOMAS G AINSBOROUGH : D IE M ARSHAM -K INDER (1787) Im Anschluss an die Besprechung von Goethes Gedicht folgte als zweite Komponente des Projekts die Auseinandersetzung mit Thomas Gainsboroughs Bildnis der Marsham-Kinder von 1787 (Abb. 1). Abb. 1: Thomas Gainsborough, Die Marsham-Kinder, 1787, Öl auf Leinwand, 242,9 x 181,9 cm, Berlin, Gemäldegalerie
Quelle: bpk / Gemäldegalerie, SMB / Jörg P. Anders
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Um einen ersten Zugang zu gewinnen, eignet sich die Frage, mit welcher Gattung von Bild es die Betrachter*innen eigentlich zu tun haben. Grundsätzlich handelt es sich zunächst um ein Porträt; seine titelgebenden Protagonist*innen sind schnell benannt. Das Gemälde zeigt die vier Kinder der Marshams, einer wohlhabenden, zu Beginn des 18. Jahrhunderts geadelten englischen Familie, in einer spätsommerlichen Landschaft: von links nach rechts zuerst die drei Töchter – Amelia Charlotte, Frances und Harriet –, dann den einzigen Sohn, Charles.13 Diese Feststellung zieht nun zum einen Fragen nach der sozial und geschlechtsspezifisch kodierten Charakterisierung der Figuren nach sich.14 Unübersehbar nimmt Charles, von seinen Schwestern abgesondert, ihnen aber zugleich zugewandt, eine dominante Position im Bild ein: In seiner expansiven räumlichen Präsenz und Aktivität ist er offenkundig bereits als zukünftiges Familienoberhaupt inszeniert. Demgegenüber halten sich Frances und Harriet eng umschlungen – ein im wörtlichen Sinn greifbarer Ausdruck besonderen Zusammenhalts und Einvernehmens, was anschaulich auch in der weitgehend ähnlichen Physiognomie sowie den in Bodennähe fast ununterscheidbar verschmelzenden Kleidern zutage tritt. Ihrem Alter gemäß nimmt dabei Frances, von ihrer zu ihr aufblickenden jüngeren Schwester aufmerksam beobachtet, eine Vorbildfunktion ein, die auch der schon stärker an die Erwachsenenmode erinnernde Hut signalisieren mag. Die jüngste Tochter schließlich, Amelia Charlotte, sitzt, umringt von den beiden Hunden der Familie, klein und abseits am linken Bildrand, wie eingezwängt in das schmale Raumsegment, das ihre Geschwister übrig lassen. Gleichwohl verliert sie sich nicht in der Bildperipherie, nimmt sie doch – als einzige Figur – direkten Blickkontakt mit den Betrachter*innen auf. Wie in der Berliner Gemäldegalerie ein Blick zur Seite, zum Bildnis des George Clive und seiner Familie von Gainsboroughs Zeitgenossen und Rivalen Sir Joshua Reynolds (Abb. 2), zeigt, spielt bei Gainsborough neben den porträtierten Kindern auch ihre Umgebung eine Rolle – und, das macht der Kontrast zu Reynolds’ handlichem, säuberlich eingerahmtem Landschaftssplitter, distanziert und zum Attribut des weitsichtigen Mannes funktionalisiert, ersichtlich, keine geringe. Tatsächlich begegnet in Die Marsham-Kinder ein zwar von der Por-
13 Henning Bock: »Thomas Gainsborough. Die Marsham-Kinder. 1787«, in: Gesine Asmus/Rainald Grosshans (Hg.): Gemäldegalerie Berlin. 200 Meisterwerke, Berlin 1998, S. 470f., hier S. 470. 14 Sie steht fraglos im Kontext der gesellschaftlichen Repräsentationsfunktion des Bildnisses für die bürgerliche Oberschicht im England des späten 18. Jahrhunderts – ein Aspekt, der im Projekt wie hier aber aus pragmatischen Gründen größtenteils außen vor bleiben musste und muss.
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trätmalerei Anthonis van Dycks vorbereiteter, im 18. Jahrhundert jedoch zunehmend populärer und insbesondere für Gainsboroughs Malerei charakteristischer Bildtypus, das Landschaftsporträt, das die Figuren vor oder in eine Landschaft setzt, die bisweilen denn auch mehr als bloß den Hintergrund abgibt.15 Abb. 2: Sir Joshua Reynolds, George Clive und seine Familie mit einer indischen Dienerin, um 1765-1766, Öl auf Leinwand, 140,8 x 173,7 cm, Berlin, Gemäldegalerie
Quelle: bpk / Gemäldegalerie, SMB / Jörg P. Anders
Diese Gattungszuordnung lenkt zum anderen das Augenmerk auf das Verhältnis der Figuren zu dem sie umgebenden Raum: einer kleinen Lichtung, eingefasst von einem Haselnussbaum rechts und einem kleineren Strauch links, nach hinten etwas Getreide, am Boden abgefallenes Holz, ein Baumstumpf, loses Gesträuch. Ins Auge fällt hier, dass die Kinder offensichtlich nicht nur in der Natur agieren und interagieren – ohne Begleitung und auch in verhältnismäßig lockerer Kleidung –, sondern in beinahe ostentativer Weise auch mit der Natur: Dieselbe 15 Vgl. Bettina Gockel: Kunst und Politik der Farbe. Gainsboroughs Portraitmalerei, Berlin 1999, S. 19-28, 34f.
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Blume, die Amelia Charlotte neben ihrem Hund so ernsthaft umfasst hält, trägt ihre älteste Schwester am Kleid, in das wiederum der Junge, einen Ast umgreifend und ein Bein im dichten Unterholz, einige Haselnüsse fallen lässt. Offensichtlich bemüht sich Gainsborough also ins Bild zu setzen, wie die MarshamKinder im spielerischen Umgang miteinander und mit der Natur als natürlich erscheinende Verhaltensformen ausbilden und einüben. Von solchen Beobachtungen ausgehend, lassen sich auch schwerer zu fassende formalästhetische Qualitäten in den Blick nehmen. In Kleingruppen untersuchten die Schüler*innen drei wesentliche Dimensionen von Gainsboroughs Gemälde, nämlich Komposition, Farbgebung und Malduktus.16 Die kompositorische Gliederung deutet ein Figur und Landschaft umspannendes und zusammenschließendes Oval an, das sich über die Figur des Jungen und die am Boden liegenden Astreste zum sitzenden Mädchen entwickelt und sich aufwärts fortsetzt in dem Strauch, der sich schließlich den bogenförmig geneigten Zweigen des Baumes rechts annähert. Prominent wiederholt sich diese Form, die Verbundenheit der Kinder visuell betonend, im Spiel der Hände in der geometrischen Mitte des Bildfeldes, die die zwei deutlich artikulierten Bilddiagonalen zusätzlich in den Fokus rücken. Auch findet sich das Oval als eine Art formales Grundmodul des Bildes ebenfalls in einigen Details, beispielsweise den beiden Hüten. Zahlreiche formale Korrespondenzen prononcieren die Zusammengehörigkeit von Mensch und Natur. Antizipieren etwa die beiden Hunde in einer aufsteigenden Zickzackbewegung das Sitzmotiv des kleinen Mädchens, sodass ihr Kopf gewissermaßen als Krönung einer senkrechten Linie über jenen ihrer beiden Tiere erscheint,17 nimmt der Stamm, an dem sich der Junge festhält, wie ein formales Echo seine Körperneigung auf, der weit nach links ausgreifende Ast unterstreicht seinen ausgestreckten rechten Arm. Ähnliche Wechselbeziehungen ergeben sich im Kolorit. Generell bestimmen warme, erdige Farbtöne das Bild, vor allem ein vielfältig variiertes Braun und Rot, zu denen begleitend vereinzelt kältere Töne hinzutreten, etwa das stellenweise bläuliche Grün der Blätter oder das ins Violett spielende Grau im Weiß der Kleidung. In der Ausdifferenzierung und Modulation der einzelnen Töne
16 Ich stütze mich im Folgenden auf die beiden maßgeblichen jüngeren Arbeiten zu Gainsborough: Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, zu Gainsborough vor allem S. 177f., 377-379, 430-448, 463-465. und Gockel: Kunst und Politik. 17 Vereinfachend schlage ich hier die beiden Hunde dem Bereich der Natur zu, tatsächlich wären sie treffender als eine hybride Form domestizierter, wenn nicht durch Kultur im engeren Sinn hergestellter, so doch zumindest modellierter Natur beschrieben.
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entfaltet das Gemälde ein komplexes System farblicher Äquivalenzrelationen, das unterschiedliche, auch entfernt liegende Bildbereiche optisch verbindet. Während sich etwa die Farbtöne von Kleidung und Haar des Jungen in der Vegetation sowie im Boden wiederfinden, antwortet der Ausschnitt wolkigen Himmels auf die Kleider, der Dämmerungsstreifen auf das Inkarnat der Mädchen. Wie schon Reynolds formulierte, konstituieren derartige farbliche Korrespondenzen eine Harmonie der Farbgebung (»harmony of colouring«)18, die optische Kohärenz erzeugt.19 Zu diesem Eindruck trägt auch die experimentelle Farbbehandlung bei. Über eine helle Grundierung legt Gainsborough meist mehrfach dünne Schichten von Ölfarbe, der er zudem flüssige Bindemittel zur Steigerung der Transparenz beimengt. Mithilfe dieses Verfahrens erreicht er nicht nur eine Vereinheitlichung des farblichen Gesamteindrucks, sondern überdies auch eine Mischung und Durchdringung unterschiedlicher Farben, die eine vibrierende, die Lichtverhältnisse im Außenraum simulierende Farbwirkung provozieren.20 Die Kleider der beiden älteren Mädchen etwa tragen helles Blau und Grauviolett ebenso in sich wie grünliches Braun und sogar rötliche Töne. Insofern sie die Augen der Betrachter*innen in permanenter Bewegung hält, verlangt diese farbliche Fluktuation nach einer aktiven visuellen Rezeption, die auch dann zum Tragen kommt, wenn sich durch die unregelmäßig übereinander geschichteten Farblagen die Konturen der Bildgegenstände tendenziell auflösen. In der Überblendung etwa von Kleidung und Gesträuch beginnen die Grenzen von Figur und Umraum zu dissoziieren, die Körper in die Natur auszufransen und umgekehrt. Ähnliche Effekte von Unschärfe insbesondere in den Gesichtspartien der Kinder sollen die Betrachter*innen animieren, sich die tatsächlich bewegliche und bewegte Mimik
18 Joshua Reynolds: »Discourse XIV«, in: Edmond Malone (Hg.): The Work of Sir Joshua Reynolds, Band 1, London 1797, S. 291-312, hier S. 301. [Übers. D. M.] 19 Busch: Das sentimentalische Bild, S. 446-448. Gockel: Kunst und Politik, S. 28-37. Werner Busch spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer »Sinnstiftung durch Farbe« (Ders.: »Gainsboroughs ›Blue Boy‹ – Sinnstiftung durch Farbe«, in: Städel-Jahrbuch 17 (1999), S. 331-348.). 20 Gockel: Kunst und Politik, S. 47-56, 60-72, 82-87. Zu den naturwissenschaftlichen Parallelen dieses neuen Farb- und Lichtverständnisses vgl. Annik Pietsch: »Farbentheorie und Malpraxis um 1800. Die handwerkliche Produktion des künstlerischen Kolorits nach den ›Gesetzen der Ästhetik und Physik‹«, in: Werner Busch (Hg.): Verfeinertes Sehen. Optik und Farbe im 18. und frühen 19. Jahrhundert, München 2008, S. 15-40, hier S. 15-21.
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der realen Person zu imaginieren, wodurch die Porträtierten eine gesteigerte physische Präsenz und Lebendigkeit gewinnen.21 Zu Bildkomposition und Farbgestaltung, die eine Übereinstimmung von Figur und Natur zu vermitteln versuchen, tritt schließlich der Malduktus, also die spezifische malerische Handschrift. Wie schon bei Goethe liegt das Augenmerk auch bei Gainsborough nicht darauf, eine ausgearbeitete Landschaftsansicht zu entwerfen. Vielmehr vernachlässigt seine summarische, skizzenhafte Malweise, die einzelne Pinselzüge mitunter sichtbar stehen lässt, dingliche Details, um stattdessen transitorische Naturphänomene wie die atmosphärischen Lichtverhältnisse oder das vom Wind bewegte Laubwerk zu vergegenwärtigen.22 Über ihre referenzielle Funktion hinaus intensivieren die überwiegend diagonal geführten Striche zudem den Figur und Landschaft zusammenbindenden kompositorischen Bewegungsimpuls, lassen dessen Dynamik auf das gesamte Bild übergreifen23 – wiederum anders als bei Reynolds, dessen Lady Sunderlin nicht nur farblich abgesetzt, sondern ebenso durch die präzisere Malweise gestochen scharf auch im übertragenen Sinn vor der lässig behandelten, sichtlich in die zweite Reihe verwiesenen Landschaft steht (Abb. 3). Die geöffnete malerische Faktur von Gainsboroughs Gemälde, die noch die Spuren ihrer handwerklichen Verfertigung erkennen lässt, verfügt schließlich gleichfalls über eine rezeptionsästhetische Dimension, zwingt sie doch die Betrachter*innen, die mitunter isolierten Pinselstriche in einer optischen Synthese zusammenzusehen, sie als konkretes Objekt zu identifizieren. Im Anschluss an zeitgenössische Theorien zur Funktionsweise der menschlichen Sinneswahrnehmung, denen zufolge der Verstand eine primär wahrgenommene Konfiguration von Formen und Farben erst nachträglich zu benennbaren Gegenständen umdeute, simuliert Gainsboroughs Gemälde auf diese Weise den natürlichen Wahrnehmungsprozess, arbeitet also analog zur menschlichen Wahrnehmung
21 Gockel: Kunst und Politik, S. 21-46 sowie Dies.: »Bedeutungsstiftung durch Wahrnehmung. Zur Rolle der Farbe im modernen Porträt: Thomas Gainsborough, Joshua Reynolds und Francis Bacon«, in: Anne Hoormann/Karl Schawelka (Hg.): Who’s afraid of… Zum Stand der Farbforschung, Weimar 1998, S. 158-190, hier S. 169-171 und Oliver Jehle: »›A kind of magick‹: Gainsborough, Priestley und die Dynamik der Farben«, in: Walter Pape (Hg.): Die Farben der Romantik. Physik und Physiologie, Kunst und Literatur, Berlin 2014, S. 40-56, hier S. 45-54. 22 Tatsächlich entstanden die Landschaftshintergründe von Gainsboroughs Gemälden entgegen ihres Augenscheins nicht in der freien Natur, sondern im Atelier, wollen Natur also mehr als allgemeines Konzept denn als konkret bestimmten Ort aufrufen. 23 Busch: Das sentimentalische Bild, S. 446-448.
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und damit zur Natur selbst. In der immer neuen Aktualisierung dieses im Bild angelegten Sehakts integriert es die Betrachter*innen massiv in die Bildgenese, insofern es das Sehen als subjektive Leistung bewusst macht und sie zu einer »Selbstaufklärung […] über Sehen und Gesehenes«24 führt.25 Abb. 3: Sir Joshua Reynolds, Dorothea Malone, Lady Sunderlin, 1786, Öl auf Leinwand, 238,5 x 147,9 cm, Berlin, Gemäldegalerie
Quelle: bpk / Gemäldegalerie, SMB / Jörg P. Anders
24 Bettina Gockel: »Die Oberfläche bei Gainsborough und das Wissen ›unserer gänzlichen Unwissenheit‹«, in: Horst Bredekamp/Gabriele Winter (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1/2: Oberfläche der Theorie, Berlin 2003, S. 95-104, hier S. 103. Gainsboroughs Gemälde stellt sich somit als Schöpfung im steten Übergang zwischen Werden, Vergehen und Neuentstehen dar, es oszilliert, wie Werner Busch (Das sentimentalische Bild, S. 178) treffend formuliert, vom »Ungestalteten zum Gestalteten und vom Gestalteten zum Ungestalteten«. 25 Gockel: Kunst und Politik, S. 82-87, 131-139. Jehle: ›A kind of magick‹, S. 54-56.
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Gleichwohl geht diese in der Nachbildung der sensuellen Wahrnehmung gründende Natürlichkeit paradoxerweise auf eine gesteigerte Künstlichkeit zurück.26 Denn so sehr die offene Pinselschrift auf der einen Seite eine große darstellerische Suggestionskraft entfaltet, so sehr exponiert sie das Gemälde durch die partielle Verselbstständigung der bildnerischen Darstellungsmittel auf der anderen Seite gleichzeitig in seiner Gemaltheit. Buchstäblich führt ein Gemälde wie die Marsham-Kinder somit vor Augen, wie sich bildliche Dinglichkeit allererst aus Malerei konstituiert: In der Bewegung vor dem Bild, dem Wechsel von Distanz und Nähe, beginnen sich die Bildobjekte in einzelne Pinselzüge aufzulösen und wieder zu gegenständlichen Formen zusammenzusetzen.27 Der Natürlichkeitseffekt von Gainsboroughs Gemälde verdankt sich daher gerade der Künstlichkeit, der souveränen Handhabung des künstlerischen Handwerkszeugs. Treten die Pinselstriche auf diese Weise aber als eigenwertige Elemente hervor, so kommen sie zuletzt auch als indexikalische Spuren der Künstlerhand und damit als poietische Referenzen auf den Malakt selbst zu Bewusstsein. Dabei halten die einzelnen touches nicht nur den künstlerischen Schaffensprozess im fertigen Bild präsent, sondern geben damit implizit auch vor, den Gemütszustand des Malers während des Malens abzubilden.28 Ihre Dynamik soll einen entsprechend temperamentvollen Charakter und eine emotional aufgeladene Arbeitsweise assoziieren lassen, die sich über die Motorik der Künstlerhand scheinbar direkt in der Beschaffenheit der materiellen Oberfläche des Gemäldes niederschlägt.29
26 Auf diesen doppelseitigen Status der offenen Malweise hat vor allem Werner Hofmann hingewiesen (Ders.: Grundlagen der modernen Kunst. Eine Einführung in ihre symbolischen Formen, Stuttgart 1987, S. 166-178.). 27 Busch: Das sentimentalische Bild, S. 339f. Nicht zufällig forderte Gainsborough für seine Bilder eine Hängung auf Augenhöhe, wodurch den Betrachter*innen dieses fortwährende Changieren zwischen Illusionsstiftung und Illusionsaufhebung unmittelbar einsichtig gemacht wird (Bettina Gockel: »Gemalte Sehweisen. Sehen in Kunst, Ästhetik und Naturwissenschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«, in: Gabriele Dürbeck/Dies./Susanne B. Keller u.a. (Hg.): Wahrnehmung der Natur – Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001, S. 199-219, hier S. 201-205, 217-219. Gockel: Kunst und Politik, S. 82-87.). 28 Zu solchen Bedeutungsdimensionen poietischer Kunstpraxis Valeska von Rosen: »Poiesis. Zum heuristischen Nutzen eines Begriffs für die Künste der Frühen Neuzeit«, in: Dies./David Nelting/Jörn Steigerwald (Hg.): Praktiken der Kreativität in den Künsten der Frühen Neuzeit, Zürich/Berlin 2013, S. 9-41, hier S. 26-30. 29 Jehle: ›A kind of magick‹, S. 54.
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Wie lassen sich nun die Ergebnisse der Analyse von Goethes Gedicht und Gainsboroughs Gemälde zusammenführen? Inwiefern lässt sich berechtigterweise von einer »wechselseitigen Erhellung« von Goethes Gedicht und Gainsboroughs Gemälde sprechen? In Anbetracht der doch handgreiflichen motivischen Differenzen funktioniert der hier vorgeschlagene Vergleich vor allem als eine Beschreibung gemeinsamer formaler Merkmale, die darin zugleich jedoch auch die jeweiligen Möglichkeiten und das Wirkungspotenzial der unterschiedlichen darstellerischen Mittel vor Augen zu führen hilft. Insbesondere für das Porträt der Marsham-Kinder stellte diese Argumentationsebene Herausforderungen an die Projektteilnehmer*innen, zumal unter dem Eindruck von Goethes Gedicht generalisierende Gleichsetzungen nahelagen und die literaturgeschichtlich begründeten, abstrakten Vorkenntnisse der Schüler*innen über die Epoche der Empfindsamkeit den Blick zunächst in eine andere Richtung lenkten. Dennoch gelang es, mit der schrittweisen Einübung einer Betrachtungsweise, die sich auf das Gemälde als »Anschauungstatsache[]«30 einlässt, das heißt seiner genuinen Erscheinungsqualität und dessen Wirkungsweise Rechnung trägt, über vage Gemeinsamkeiten – wie etwa die Bezugnahme auf ›Natur‹ im weitesten Sinn – hinaus durchaus Berührungspunkte zu identifizieren. Hier kamen dann auch inhaltliche Impulse der Besprechung von Goethes Gedicht fruchtbar zum Tragen, etwa im Hinblick auf ein Entsprechungsverhältnis von Natur und Subjekt, einen scheinbar spontanen künstlerischen Schaffensprozess oder das Bemühen, Natur als dynamische, schöpferisch tätige Kraft zur Darstellung zu bringen, statt ihrer sinnlichen Faktizität deskriptiv nachzugehen. Als Ergebnisse des Vergleichs lassen sich also – hier mit der notwendigen Reduktion stichwortartig zusammengefasst – folgende Aspekte herausheben: (1) die Inszenierung einer Korrespondenz von Subjekt und Natur sowohl auf motivischer als auch auf formaler Ebene, (2) die Integration der Rezipient*innen: Text und Bild setzen damit ein zentrales Anliegen der Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts um, die das Kunst-
30 Max Imdahl: »›Autobiographie‹«, in: Gottfried Boehm (Hg.): Max Imdahl. Reflexion – Theorie – Methode. Gesammelte Schriften Band 3, Frankfurt/M. 1996, S. 617-643, hier S. 626. Freilich unterschlägt der Begriff die Dynamik der Interaktion mit den Betrachter*innen.
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werk primär als sinnlich-emotionalen Appell an die Empfindung des Menschen versteht,31 (3) die Parallelisierung von Kunst und Natur und die Konzeption von Kunst als zweite Natur,32 (4) eine artifizielle Natürlichkeit: Text und Bild bemühen sich jeweils, die sensuellen und emotionalen Wirkungen der Natur nachzubilden; sie fassen Mimesis also nicht als naturgetreue Nachahmung, sondern als »kunstgemäße Nachschöpfung«33 einer als natura naturans begriffenen Natur auf,34 (5) die Thematisierung des Subjekts – als Figur, Künstler wie auch als Betrachter*in – in seiner sinnlichen Wahrnehmung und Empfindung und eine darauf aufbauende Ästhetik des Gefühls,35
31 Frank Büttner: »Der Betrachter im Schein des Bildes. Positionen der Wirkungsästhetik im 18. Jahrhundert«, in: Herbert Beck/Peter C. Bol/Maraike Bückling (Hg.): Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung, Ausst. Kat. Frankfurt/M., Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, München 1999, S. 341-349, hier S. 341-345. 32 Norbert Rath: Zweite Natur. Konzepte einer Vermittlung von Natur und Kultur in Anthropologie und Ästhetik um 1800, Münster u.a. 1996, hier vor allem S. 67-75. Die Konventionalität der Natürlichkeit im 18. Jahrhundert und den produktiven Umgang damit entwickelt auch Jan von Brevern anhand der Praxis des Spaziergangs (Ders.: »Gainsboroughs Spaziergänge. Natürlichkeit als Aufgabe um 1800«, in: Albrecht Koschorke (Hg.): Komplexität und Einfachheit. DFG-Symposion 2015, Stuttgart 2017, S. 79-103, hier vor allem S. 90-100.) 33 Diese prägnante Wendung hat Sybille Ebert-Schifferer (Dies.: Geschichte des Stillebens, München 1998, S. 256.) für die Stillleben Jean Siméon Chardins geprägt, sie scheint mir aber für die sich hier abzeichnende Auffassung von Mimesis generell zutreffend. 34 Vor allem mit Blick auf die Landschaftshintergründe in den späten GainsboroughPorträts ließe sich in diesem Kontext auch an den englischen Landschaftsgarten denken, der zwar die Geometrie des französischen Barockgartens aufgab, ohne deshalb doch gänzlich auf Eingriffe verzichten zu wollen, das vorhandene Naturmaterial also nicht weniger bestimmten (wenn auch anderen) Gestaltungsidealen unterwarf. 35 Simone Roggendorf: »Die Feminisierung und Marginalisierung von Thomas Gainsborough – Eine Neubewertung der späten Landschaftsporträts im Kontext der Kultur der Empfindsamkeit am Beispiel von Mr and Mrs William Hallett«, in: Dies./Sigrid Ruby (Hg.): (En)gendered. Frühneuzeitlicher Kunstdiskurs und weibliche Porträtkultur nördlich der Alpen, Marburg 2004, S. 170-190, hier S. 172-174. Vgl. Marianne Wünsch: »MAIFEST im literatur- und denkgeschichtlichen Kontext der frühen Lyrik
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(6) die Auseinandersetzung mit den gleichermaßen ästhetischen wie gesellschaftlichen Idealen von Lebendigkeit36, Bewegung37 und Simplizität oder Einfalt38. Letztere etwa ist im späten 18. Jahrhundert mit dem Motiv des Kindes ebenso verknüpft wie mit dem in Goethes Gedicht bemerkbaren Bemühen um eine einfache, als ›natürlich‹ angesehene Sprechweise. Zum Abschluss möchte ich kurz Einbindung und Ertrag des Themas im Deutschunterricht umreißen. Zunächst eignet sich Gainsboroughs Gemälde meiner Einschätzung nach als paradigmatisches Beispiel für einen Umgang mit Bildern im Deutschunterricht, der sie in ihrer bildlichen Eigenlogik ernst nimmt, statt sie auf eine bloß illustrative Funktion zu reduzieren. Gerade weil sie auf mitunter komplexe formale Eigenheiten abzielt, eröffnet sich in der Auseinandersetzung mit den Marsham-Kindern den Schüler*innen die Gelegenheit, ihre Sensibilität für die Eigenheiten bildlicher Formgebung und deren Sinnpotenzial zu erproben und zu verbessern. Auch scheint mir die Einübung in die sprachliche Arbeit am konkreten Bild hilfreich, um Sprachbewusstsein und sprachliche Fähigkeiten zu fordern und zu fördern und damit nicht zuletzt auch Reflexionen über das Leistungsvermögen wie die Grenzen des Sprechens über Bilder anzuregen. Der Vergleich zwischen Text und Bild eröffnet schließlich ebenfalls die Möglichkeit, anhand des konkreten Beispiels literatur- und kunstgeschichtliche Epochenbegriffe zunächst einmal zu plausibilisieren und zu profilieren, dann aber auch zu problematisieren oder zu revidieren. Über den begrenzten Rahmen
Goethes«, in: Gerhard Sauder (Hg.): Goethe-Gedichte. Zweiunddreißig Interpretationen, München/Wien 1996, S. 11-24, hier S. 14-16. Valk: Der junge Goethe, S. 15-27. 36 Vgl. einführend Frank Fehrenbach: »Lebendigkeit«, in: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler-Lexikon Kunstwissenschaft, Stuttgart 2003, S. 222-227. 37 Vgl. zur Bewegung als »übergreifende[m] ästhetische[m] Paradigma« in Dichtung und Dichtungstheorie im 18. Jahrhundert Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist, München 2007, hier vor allem S. 53-75 (Zitat S. 66). Zu den Hintergründen dieses Diskurses um Bewegtheit und Lebendigkeit in einem gewandelten Verständnis von Natur vgl. Heinz-Dieter Weber: »Die Verzeitlichung der Natur im 18. Jahrhundert«, in: Ders. (Hg.): Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, S. 91-131 und Wolf Lepenies: »Die Dynamisierung des Naturbegriffs an der Wende zur Neuzeit«, in: Jörg Zimmermann (Hg.): Das Naturbild des Menschen, München 1982, S. 285-300. 38 Vgl. dazu Wolfgang Stammler: »›Edle Einfalt‹. Zur Geschichte eines kunsttheoretischen Topos«, in: Gustav Erdmann/Alfons Eichstaedt (Hg.): Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag, Berlin 1961, S. 359-382.
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des Projekts hinaus ließe sich die Gegenüberstellung von Goethe und Gainsborough somit als Einstieg in die ästhetischen und gesellschaftlichen Diskurse des späten 18. Jahrhunderts ausbauen, der neben den oben skizzierten, primär kunsttheoretischen Entwicklungen beispielsweise auch aufklärerische Erziehungsideale oder die Herausbildung eines Kanons dezidiert bürgerlicher Verhaltensnormen entlang des Natürlichkeitsideals in den Blick nehmen könnte.
L ITERATUR Primärliteratur Goethe, Johann Wolfgang: »Mailied«, in: Karl Eibl (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1756-1799, Frankfurt am Main 1987, S. 287-289. Sekundärliteratur Bock, Henning: »Thomas Gainsborough. Die Marsham-Kinder. 1787«, in: Gesine Asmus/Rainald Grosshans (Hg.): Gemäldegalerie Berlin. 200 Meisterwerke, Berlin 1998, S. 470f. Brevern, Jan von: »Gainsboroughs Spaziergänge. Natürlichkeit als Aufgabe um 1800«, in: Albrecht Koschorke (Hg.): Komplexität und Einfachheit. DFGSymposion 2015, Stuttgart 2017, S. 79-103. Buck, Theo: »Johann Wolfgang Goethe. ›Mailied‹ (1771)«, in: Ders.: Streifzüge durch die Poesie. Von Klopstock bis Celan. Gedichte und Interpretationen, Köln 2010, S. 34-45. Büttner, Frank: »Der Betrachter im Schein des Bildes. Positionen der Wirkungsästhetik im 18. Jahrhundert», in: Herbert Beck/Peter C. Bol/Maraike Bückling (Hg.): Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung, Ausst. Kat. Frankfurt am Main, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, München 1999, S. 341-349. Busch, Werner: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993. Ders.: »Gainsboroughs ›Blue Boy‹ – Sinnstiftung durch Farbe«, in: StädelJahrbuch 17 (1999), S. 331-348. Ebert-Schifferer, Sybille: Geschichte des Stillebens, München 1998. Fehrenbach, Frank: »Lebendigkeit«, in: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler-Lexikon Kunstwissenschaft, Stuttgart 2003, S. 222-227.
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Fontane, Theodor: »Frau Jenny Treibel oder ›Wo sich Herz zum Herzen find’t‹«, in: Walter Keitel/Helmuth Nürnberger (Hg.): Theodor Fontane. Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Band 4, o.O. 2002, S. 297-478. Geimer, Peter: »Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? Analogie und Differenz in kunsthistorischen Bildvergleichen«, in: Lena Bader/Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.): Vergleichendes Sehen, München 2010, S. 45-69. Gnüg, Hiltrud: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität. Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit, Stuttgart 1983. Gockel, Bettina: »Bedeutungsstiftung durch Wahrnehmung. Zur Rolle der Farbe im modernen Porträt: Thomas Gainsborough, Joshua Reynolds und Francis Bacon«, in: Anne Hoormann/Karl Schawelka (Hg.): Who’s afraid of… Zum Stand der Farbforschung, Weimar 1998, S. 158-190. Dies.: Kunst und Politik der Farbe. Gainsboroughs Portraitmalerei, Berlin 1999. Dies.: »Gemalte Sehweisen. Sehen in Kunst, Ästhetik und Naturwissenschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«, in: Gabriele Dürbeck/Dies./Susanne B. Keller u.a. (Hg.): Wahrnehmung der Natur – Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001, S. 199-219. Dies.: »Die Oberfläche bei Gainsborough und das Wissen ›unserer gänzlichen Unwissenheit‹«, in: Horst Bredekamp/Gabriele Winter (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1/2: Oberfläche der Theorie, Berlin 2003, S. 95-104. Goethe, Johann Wolfgang: »Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen«, in: Harald Fricke (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, Frankfurt am Main 1993, S. 9-447. Grave, Johannes: »Vergleichen als Praxis. Vorüberlegungen zu einer praxistheoretisch orientierten Untersuchung von Vergleichen«, in: Angelika Epple/Walter Erhart (Hg.): Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens, Frankfurt am Main u.a. 2015, S. 135-159. Hofmann, Werner: Grundlagen der modernen Kunst. Eine Einführung in ihre symbolischen Formen, Stuttgart 1987. Imdahl, Max: »›Autobiographie‹«, in: Gottfried Boehm (Hg.): Max Imdahl. Reflexion – Theorie – Methode. Gesammelte Schriften Band 3, Frankfurt am Main 1996, S. 617-643. Jehle, Oliver: »›A kind of magick‹: Gainsborough, Priestley und die Dynamik der Farben«, in: Walter Pape (Hg.): Die Farben der Romantik. Physik und Physiologie, Kunst und Literatur, Berlin 2014, S. 40-56.
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Kluge, Gerhard: »Stilgeschichte als Geistesgeschichte. Die Rezeption der Wölfflinschen Grundbegriffe in der deutschen Literaturwissenschaft«, in: Neophilologus 61 (1977), H. 4, S. 575-586. Langen, August: »Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts«, in: Karl Richter/Gerhard Sauder/Gerhard SchmidtHenkel (Hg.): August Langen. Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur, Berlin 1986, S. 21-86. Lepenies, Wolf: »Die Dynamisierung des Naturbegriffs an der Wende zur Neuzeit«, in: Jörg Zimmermann (Hg.): Das Naturbild des Menschen, München 1982, S. 285-300. Oschmann, Dirk: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist, München 2007. Pietsch, Annik: »Farbentheorie und Malpraxis um 1800. Die handwerkliche Produktion des künstlerischen Kolorits nach den ›Gesetzen der Ästhetik und Physik‹«, in: Werner Busch (Hg.): Verfeinertes Sehen. Optik und Farbe im 18. und frühen 19. Jahrhundert, München 2008, S. 15-40. Rath, Norbert: Zweite Natur. Konzepte einer Vermittlung von Natur und Kultur in Anthropologie und Ästhetik um 1800, Münster u.a. 1996. Rebel, Ernst: »Sehen und Sagen. Vorbemerkungen zu einem ewig jungen Kompetenzstreit«, in: Ders. (Hg.): Sehen und Sagen. Das Öffnen der Augen beim Beschreiben der Kunst, Ostfildern 1996, S. 7-11. Reynolds, Joshua: »Discourse XIV«, in: Edmond Malone (Hg.): The Work of Sir Joshua Reynolds, Band 1, London 1797, S. 291-312. Roggendorf, Simone: »Die Feminisierung und Marginalisierung von Thomas Gainsborough – Eine Neubewertung der späten Landschaftsporträts im Kontext der Kultur der Empfindsamkeit am Beispiel von Mr and Mrs William Hallett«, in: Dies./Sigrid Ruby (Hg.): (En)gendered. Frühneuzeitlicher Kunstdiskurs und weibliche Porträtkultur nördlich der Alpen, Marburg 2004, S. 170-190. Rosen, Valeska von: »Poiesis. Zum heuristischen Nutzen eines Begriffs für die Künste der Frühen Neuzeit«, in: Dies./David Nelting/Jörn Steigerwald (Hg.): Praktiken der Kreativität in den Künsten der Frühen Neuzeit, Zürich/Berlin 2013, S. 9-41. Stammler, Wolfgang: »›Edle Einfalt‹. Zur Geschichte eines kunsttheoretischen Topos«, in: Gustav Erdmann/Alfons Eichstaedt (Hg.): Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag, Berlin 1961, S. 359-382. Valk, Thorsten: Der junge Goethe. Epoche – Werk – Wirkung, München 2012. Voßkamp, Wilhelm/Weingart, Brigitte: »Sichtbares und Sagbares. Text-BildVerhältnisse«, in: Dies. (Hg.): Sichtbares und Sagbares, Köln 2005, S. 7-22.
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Walzel, Oskar: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Grundbegriffe, Berlin 1917. Weber, Heinz-Dieter: »Die Verzeitlichung der Natur im 18. Jahrhundert«, in: Ders. (Hg.): Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, S. 91-131. Weisstein, Ulrich: »Einleitung. Literatur und bildende Kunst: Geschichte, Systematik, Methoden«, in: Ders. (Hg.): Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebiets, Berlin 1992, S. 11-31. Wünsch, Marianne: »MAIFEST im literatur- und denkgeschichtlichen Kontext der frühen Lyrik Goethes«, in: Gerhard Sauder (Hg.): Goethe-Gedichte. Zweiunddreißig Interpretationen, München/Wien 1996, S. 11-24.
»Die Hauptschwierigkeit war natürlich Gott.« Passionsbilder als Objekte einer zeitgemäßen Bildvermittlung? B ARBARA W ELZEL
1. »Bei uns gab es nur Ethik, und in der Klasse waren sechzehn Atheisten inklusive mir, und auch die, die Protestanten waren, die haben nicht wirklich an Gott geglaubt. Glaube ich. Jedenfalls nicht so, wie Leute daran glauben, die wirklich an Gott glauben, die keiner Ameise was zuleide tun können oder sich riesig freuen, wenn einer stirbt, weil er dann in den Himmel kommt. Oder die mit einem Flugzeug ins World Trade Center krachen. Die glauben wirklich an Gott.«1
Mit diesen wenigen Worten umreißt Maik Klingenberg, der Ich-Erzähler in tschick von Wolfgang Herrndorf, seine Vorstellung von »Gott«, von Glauben und Religion: Viel weiter kann man davon vielleicht wirklich nicht weg sein. Es scheint nicht ansatzweise ein theologisch rückgebundenes Konzept von Religion auf; Christentum und Islam werden nicht unterschieden; der Glaube an ein Leben nach dem Tod und eine pazifistische Lebenspraxis gehören irgendwie dazu; 1
Wolfgang Herrndorf: tschick, Berlin 2010; hier zitiert in der 23. Auflage Berlin 2013, S. 24-25. [Herv. i.O.]. Die folgenden Überlegungen stehen im Kontext des Teilprojekts »Kulturelles Erbe interkulturell« von »DoProfiL«, dem Dortmunder Profil für inklusionsorientierte Lehrer/-innenbildung, das im Rahmen der gemeinsamen »Qualitätsoffensive Lehrerbildung« von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert wird; www.doprofil.tu-dortmund.de. Für Gespräche danke ich Katharina Christa Schüppel sowie Birgit Franke.
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Extremismus aber auch. Konfrontiert wird Maik Klingenberg mit »Gott« in der Schule, im Deutschunterricht: »[...] ein Deutschaufsatz bei Schürmann, sechste Klasse. Thema Reizwortgeschichte. Falls jemand nicht weiß, was das ist, Reizwortgeschichte geht so: Man bekommt vier Wörter, zum Beispiel ›Zoo‹, ›Affe‹, ›Wärter‹ und ›Mütze‹, und dann muss man eine Geschichte schreiben, in der ein Zoo, ein Affe, ein Wärter und eine Mütze vorkommen. Wahnsinnig originell. Der reine Schwachsinn. Die Wörter, die Schürmann sich ausgedacht hatte, waren ›Urlaub‹, ›Wasser‹, ›Rettung‹ und ›Gott‹. Was schon mal deutlich schwieriger war als mit dem Zoo und dem Affen, und die Hauptschwierigkeit war natürlich Gott.«2
Was würde sich wohl im Kopf von Maik Klingenberg abspielen, nähme ihn jemand mit in ein Kunstmuseum – sagen wir in Berlin in die Gemäldegalerie, in die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, das Museum Unterlinden in Colmar oder ins St. Annen-Museum in Lübeck, das auch noch in den Räumen eines ehemaligen Klosters untergebracht ist? Was ginge in ihm vor, wenn er durch Bildersäle streifen würde, in denen beinah ausschließlich Werke mit christlicher Ikonographie – begleitet von wenigen Porträts, vielleicht noch einer Darstellung antiker Mythologie (was aber auch Götter wären!) – ausgestellt sind? Oder würde es ihn dorthin nur im Kontext von Schule verschlagen, also mit einer Führung, bei einem Schulausflug oder eingebettet in einen Fachunterricht: Kunst, Geschichte oder Deutsch? Fände er das, was er sich dann anhören sollte, auch einfach: »Wahnsinnig originell. Der reine Schwachsinn.«? Maik Klingenberg macht noch etwas Weiteres deutlich: Obwohl ihm »Gott« als »Reizwort« im Deutschunterricht begegnet, erwartet er Aufklärung von einem Religionsunterricht: »Bei uns gab es nur Ethik«, aber – so lässt sich diese lakonische Bemerkung ergänzen – nicht Religion. Legt man neben diese literarische Verortung eines jungen, fiktiven Einwohners aus Berlin-Marzahn die amtliche Statistik des Jahres 2016 für Berlin, so listet diese zwar einen durchschnittlichen Anteil der Mitglieder der Evangelischen Kirchen und der Römisch-Katholischen Kirche von 27,4%, belegt aber zugleich eine sehr ungleiche Verteilung im Stadtgebiet: Die östlichen Teile der Stadt rangieren fast alle in den Gruppen »unter 10%« und »10-20%«.3 Diesen Stadtteilen vergleichbar ist der statistische Befund für Brandenburg (erhoben
2
Herrndorf: tschick, S. 24.
3
https://www.statistik-berlin-brandenburg.de/publikationen/stat_berichte/2016/SB_A0 1-05-00_2016h01_BE.pdf, S. 42 vom 06.09.2017.
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2011): 3% Katholiken, 17% Protestanten.4 2016 wurde – um noch eine weitere Statistik zu zitieren – die Religionszugehörigkeit in ausgewählten deutschen Städten erhoben. Erwartungsgemäß befinden sich in den Städten der neuen Bundesländer die Mitglieder der christlichen Kirchen in der Minderheit, sie stellen zwischen 12 und 21% der Bevölkerung. Aber auch in den westlichen Bundesländern steigt die Zahl der Großstädte, in denen Mitglieder der christlichen Kirchen unter 50% der Bevölkerung ausmachen: Schon 2003 waren Hamburg, Frankfurt am Main und Berlin zu nennen, hinzugekommen sind Stuttgart, Düsseldorf, München und Hannover.5 Die Ruhrgebietsstädte Essen und Dortmund gehören – neben Nürnberg und Köln – zu den Städten mit den größten Anteilen von Kirchenmitgliedern in der Bevölkerung; in Dortmund waren ca. 29% der Einwohner/-innen evangelisch und ca. 27% römisch-katholisch.6 Bereits Alltagserfahrungen – noch vor jeder statistischen Erhebung – etwa in Universitätsseminaren zeigen allerdings, dass Kirchenzugehörigkeit religiöses oder theologisches Wissen nicht unbedingt einschließt.7 Umfragen bestätigen, dass Wissen über die christliche Religion nicht selbstverständlicher Teil von Allgemeinbildung ist: »Lediglich knapp die Hälfte (47 Prozent) der Bundesbürger verbindet mit Ostern die Auferstehung Christi und damit die Verheißung ewigen Lebens. Und nur für ein gutes Drittel (37 Prozent) gehört ein Gottesdienst-Besuch zum Osterfest dazu. Eine repräsentative Emnid-Befragung ergab, dass 15 Prozent der 20- bis 29-Jährigen glauben, dass an Ostern die Geburt Jesu gefeiert wird. Drei Prozent dieser Altersgruppe glaubten sogar, dass Jesu Hochzeit der Anlass von Ostern sei. Neun Prozent aller Befragten wissen überhaupt nichts vom religiösen Hintergrund des Festes.«8
Für Zugewanderte und Geflüchtete aus Afrika und dem Nahen Osten, die einer christlichen Kirche angehören, spielt Religion hingegen oft eine bestimmende
4
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/201622/umfrage/religionszugehoerigkeitder-deutschen-nach-bundeslaendern/ vom 06.09.2017.
5
https://fowid.de/meldung/religionszugehoerigkeit-bevoelkerung-ausgewaehlten-stae dten vom 06.09.2017.
6
Ebd. Die Angaben korrespondieren zum amtlichen Zensus von 2011: https://www. it.nrw.de/statistik/z/daten/tab6_html.html vom 06.09.2017.
7
Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Kirchendämmerung: Wie die Kirchen unser Vertrauen
8
FAZ vom 18.04.2003; www.faz.net/aktuell/gesellschaft/umfrage-nur-jeder-zweite-ver
verspielen, München 2011. bindet-ostern-mit-auferstehung-christi-199512.html vom 12.10.2017.
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Rolle. Und dann kommt – um einen weiteren Parameter einzuführen – noch das religiöse Wissen derjenigen als Faktor hinzu, die keiner der christlichen Kirchen (wobei die zitierten Statistiken nur die beiden großen Konfessionen abfragen, nicht aber zum Beispiel die orthodoxen Kirchen) angehören, die aber religiös sind. Noch einmal in Zahlen: Ende 2015 lag der Anteil der Muslime in Deutschland zwischen 5,4 und 5,7%.9 Aus ganz anderen Gründen ist für diese Menschen das Sprechen über den christlichen »Gott« eine »Hauptschwierigkeit«.
2. Bilder der Passion sind – um diesen Themenkreis aus der christlichen Bilderwelt exemplarisch herauszugreifen – in Europa weit verbreitet, mehr noch: in der vormodernen Bildproduktion gehören die Szenen der Passion (noch vor den Szenen aus dem Leben der Maria) zu den wichtigsten und am weitesten verbreiteten Bildthemen. Wohl jedes Museum mit Bildern der Vormoderne bewahrt in seinen Beständen Bilder des Gekreuzigten; auch kulturhistorische Sammlungen dürften zuverlässig Objekte mit Passionsszenen besitzen. Es mag ein ganz prosaischer Grund sein, sich mit diesen Werken und ihren Themen in Vermittlungskontexten auseinanderzusetzen: dass man nicht an so vielen Objekten, die alle diese verschiedenen über den ganzen Kontinent verteilten Sammlungen in ihrem Überlieferungsauftrag miteinander verbinden, vorbeieilen möchte. Ganze Räume müsste man links liegen lassen, wenn man in einem Museum keinen Passionsdarstellungen begegnen möchte – ja oft würden ganze Abteilungen unzugänglich. Es könnte aber im Gegenteil ein Anliegen sein, gerade die immer wiederkehrenden Themen und Objekte besser zu verstehen.10 Denn diese Darstellungen finden sich ja nicht nur in Museen, sondern haben einen noch viel größeren Verbreitungsradius. Passionsdarstellungen finden sich in Kirchen, in Schlössern, es gibt Wegekreuze – und aktuell, im Sommer 2017, wurde darüber gestritten, ob auf dem Neubau des Berliner Stadtschlosses, mithin im Zentrum der Hauptstadt, das Kreuz ›wiedererrichtet‹ werden soll – und wenn ja, was dieses Symbol dann an diesem Ort bedeutet. Mit anderen Worten: Bedingt ein Teilhabeanspruch an der Überlieferung nicht, dass diese Objekte und Bilder angeschaut und
9
www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp71-zahlmuslime-deutschland.pdf?__blob=publicationFile vom 06.09.2017.
10 Stellvertretend: Barbara Welzel: »Kunstgeschichte, Bildung und kulturelle Menschenrechte«, in: Claudia Hattendorff/Ludwig Tavernier/Barbara Welzel (Hg.): Kunstgeschichte und Bildung, Norderstedt 2013, S. 63-84.
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besprechbar gemacht werden?! Es hieße nichts weniger, als Europa in seiner schlicht vorhandenen – wie immer man dazu stehen mag – christlich imprägnierten Geschichte zu thematisieren. Doch: Wie darüber sprechen, wenn »Gott« eine Hauptschwierigkeit ist? Anders ausgedrückt: Religion ist eine zunächst erst einmal unüberwindliche Schwelle für Teilhabe am kulturellen Erbe. Diese Schwelle ist nicht nur hoch. Immer wieder finden sich auch Wächter, die sie bewachen. Ein besonders aussagekräftiges Beispiel solchen Wächtertums waren 2009 die Einsprüche, die von Kirchenvertretern gegen Navid Kermani erhoben wurden, der sich als explizit gläubiger Moslem öffentlich zu einem Kreuzigungsbild von Guido Reni geäußert hatte: Er habe »fundamentale und unversöhnliche Angriffe auf das Kreuz als zentrales Symbol des christlichen Glaubens« geäußert.11 Dezidiert bringt Kermani in diesem Text, der beinah einer Liebeserklärung an das christliche Kunstwerk gleichkommt, seine religiöse Außenansicht zum Ausdruck: »Für mich aber ist das Kreuz ein Symbol, das ich theologisch nicht akzeptieren kann, akzeptieren für mich, meine ich, für die Erziehung meiner Kinder. Andere mögen glauben, was immer sie wollen; ich weiss es ja nicht besser. Ich jedoch, wenn ich in einer Kirche bete, was ich tue, gebe acht, niemals zum Kreuz zu beten. Und nun sass ich vor dem Altarbild Guido Renis in der Kirche San Lorenzo in Lucina und fand den Anblick so berückend, so voller Segen, dass ich am liebsten nicht mehr aufgestanden wäre. Erstmals dachte ich: Ich – nicht nur: man –, ich könnte an ein Kreuz glauben.«12
Vorausgestellt hatte Kermani die allgemeine Feststellung: »Kreuzen gegenüber bin ich prinzipiell negativ eingestellt. Nicht, dass ich die Menschen, die zum Kreuz beten, weniger respektiere als andere betende Menschen. Es ist kein Vor-
11 Eine Dokumentation der Debatte: www.chbeck.de/fachbuch/zusatzinfos/dokumen tationhessischerkulturpreis.pdf vom 06.09.2017; vgl. zum Folgenden Barbara Welzel: »Das Museum als Denkwerkstatt: Christliche Kunst im transkulturellen Gespräch«, in: Andrea von Hülsen-Esch/Dagmar Täube (Hg.): »Luft unter die Flügel...« Beiträge zur mittelalterlichen Kunst. Festschrift für Hiltrud Westermann-Angerhausen, Hildesheim/Zürich/New York 2010, S. 1-10. 12 Navid Kermani: »Bildansichten: Warum hast du uns verlassen? Guido Renis ›Kreuzigung‹«, in: Neue Zürcher Zeitung 14. März 2009. Die »Bildansichten« sind jetzt, in veränderter Form, eingearbeitet in Navid Kermani: Dein Name. Roman, München 2011. Vgl. auch Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München 2015.
100 | B ARBARA W ELZEL wurf. Es ist eine Absage. Gerade weil ich ernst nehme, was es darstellt, lehne ich das Kreuz rundherum ab. Nebenbei finde ich die Hypostasierung des Schmerzes barbarisch, körperfeindlich, ein Undank gegenüber der Schöpfung, über die wir uns freuen sollen, auf dass wir den Schöpfer erkennen. Ich kann im Herzen verstehen, warum Judentum und Islam die Kreuzigung ablehnen. Sie tun es ja höflich, viel zu höflich, wie mir manchmal erscheint, wenn ich Christen die Trinität erklären höre und die Wiederauferstehung und dass Jesus für unsere Sünden gestorben sei. Der Koran sagt, dass ein anderer gekreuzigt worden sei. Jesus sei entkommen. Für mich formuliere ich die Ablehnung der Kreuzestheologie drastischer: Gotteslästerung und Idolatrie [...].«13
Verhandelt wurde in diesem Konflikt 2009 nicht zuletzt Deutungshoheit: Wer darf über Christentum und konkret über Bilder des Gekreuzigten sprechen? Aus welcher Perspektive darf darüber gesprochen werden? Darf nur von Gläubigen gesprochen werden – bedarf es also, pointiert gesagt, des Religionsunterrichts, um über »Gott« zu sprechen? Oder: Darf nur der ›abendländische‹ Blickwinkel eingenommen werden? Geht es um ›Identität‹, zu der das christliche Abendland zumindest als Bildungshintergrund gehört? Das ist – nicht nur – aus (kunst-) wissenschaftlicher Perspektive klar und unstreitig zu verneinen. Und doch: Wie lässt sich Teilhabe an – um bei diesem Beispiel zu bleiben – Bildern der Passion in einer Gesellschaft eröffnen, in der Menschen zu einem sehr großen Teil auch dann das theologische Wissen nicht teilen, wenn sie Mitglied einer christlichen Kirche sind, oder die einem anderen Glauben angehören – und hier mitunter die Berührung mit aus ihrer Perspektive ›Ungläubigen‹ ablehnen? Gehören Hauptwerke der Museen und der kulturellen Überlieferung zur Kulturellen Bildung, in schulische Curricula? Oder weichen die Akteure – wenn sie überhaupt ›Hochkultur‹ in Bildungsprozesse integrieren – aus, indem sie Landschaftsbilder besprechen und gegenstandslose Kunst behandeln? Schon Porträts sind in der interkulturellen Kommunikation nicht konfliktfrei; Mythologie und ihre häufigen Aktdarstellungen noch viel weniger. Können also – am Beispiel gefragt – Passionsdarstellungen in Bildungsprozesse integriert werden, wenn gilt: »Die Hauptschwierigkeit war natürlich Gott«?
13 Kermani: Guido Renis »Kreuzigung«.
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3. In staatlich gerahmten Bildungskontexten lässt sich (mit Ausnahme eines bekenntnisorientierten Religionsunterrichts) – über christliche Bilder, etwa über Passionsdarstellungen, nur sprechen, wenn dies säkular, also nicht bekenntnisorientiert geschieht. Allerdings ist – stellvertretend – die Unterstellung Maik Klingenbergs zurückzuweisen, dass, wer keinen Religionsunterricht hat, über »Gott« nichts zu sagen weiß. Doch wie kann das konkret aussehen? Zur Rede stehen auch und im Kontext der Kulturvermittlung mit Nachdruck – und darauf soll im vorliegenden Kontext die Aufmerksamkeit liegen – nicht zuletzt die gebräuchlichen kunstwissenschaftlichen Narrative. In welchem ›Echoraum‹ wird etwa in Museumsbeschriftungen argumentiert? Stellvertretend sei die Beschreibung der Kreuzigung im Isenheimer Retabel des Matthias Grünewald in Colmar aus dem Wikipedia-Eintrag zitiert: »Die Darstellung der Kreuzigungsszene war ein häufiger Bildtopos gotischer Andachtsbilder. Matthias Grünewalds Darstellung hebt sich von der seiner Vorgänger und Zeitgenossen dadurch ab, dass niemals zuvor der Vorgang auf Golgota [sic!] derart schmerzhaft und schockierend als Ereignis von Not und Qual dargestellt wurde. Vier Personen sind Zeugen des Sterbens auf Golgota: Die Gottesmutter Maria, der Jünger Johannes, Maria Magdalena und Johannes der Täufer. Die einzelnen Personen heben sich scharf umrissen von dem Dunkel des Hintergrunds ab.«14
Weiter heißt es: »Von Schmerz verkrampft öffnen sich die Hände Christi gegen den Himmel; der ungewöhnlich groß dargestellte Nagel, der die Füße am Kreuz befestigt, zerreißt das Fleisch des Spanns, Blut tropft von den Zehen und der Fußunterseite auf das Kreuz hinab. Das Haupt Jesu ist von einer ungewöhnlich großen Dornenkrone gekrönt und voller Blut und Wunden. Die Lippen sind blau angelaufen; Zunge und Zähne sind sichtbar. Stacheln stecken im Oberkörper und in den Armen als Hinweis auf die erlittene Geißelung. Der Leib weist eitrige Schwären auf, und der gesamte Körper ist in einer grüngelblichen Färbung gemalt. Das herabfließende Blut, die Dornenkrone und der zerfetzte Lendenschurz kennzeichnen die völlige Zerstörung und Erniedrigung der menschlichen Natur Christi. Die grausame, detailgetreue Darstellung der Leiden war bewusstes Bildprogramm. Es sollte zur ›Compassio‹, zum Mitleiden, auffordern.«15
14 https://de.wikipedia.org/wiki/Isenheimer_Altar#Die_Kreuzigung vom 06.09.2017. 15 Ebd.
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Abb. 1: Matthias Grünewald, Isenheimer Altar (geschlossene Ansicht), vermutlich zwischen 1506 und 1515, Lindenholz, Maße der Kreuzigung: 269 x 307 cm, Colmar, Musée Unterlinden
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Grunewald_Isenheim1.jpg (Public domain)
Möchte man sich wirklich vorstellen, was in Maik Klingenberg vorginge, wenn ihm diese Beschreibung zu Ohren käme? Doch sei das Gedankenspiel noch ein wenig weitergetrieben. Dieser Romanheld war – wenn man die Informationen, die der Text liefert, weiterimaginiert – sicher noch nie in einem Kunstmuseum. Vermutlich hat er noch nie ein Gemälde der Kreuzigung Christi gesehen: nicht den Isenheimer Altar im Colmarer Unterlinden-Museum, aber auch kein Werk in der Berliner Gemäldegalerie oder im Bode-Museum auf der Berliner Museumsinsel, obwohl er in Berlin-Marzahn lebt – so viel zu kultureller Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit.16 Doch weiter: Würde er den ›Mann am Holzbalken‹, wie ihn mit fragendem und ratlosem Blick junge Menschen immer wieder bezeich16 Vgl. Barbara Welzel: »Den Schwur für die öffentlichen Kunstmuseen erneuern!«, in: Kulturpolitische Mitteilungen II (2016), H. 153, S. 34-36. Barbara Welzel: »Living together in dignity in cultural diverse societies«, in: Europarat (Hg.): Shared histories for a Europe without dividing lines, http://shared-histories.coe.int, 2014, S. 458-473.
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nen, als Jesus benennen können? Aber woher sollte er diesen Jesus und seine Geschichte kennen? Und wenn er dann auf eine Museumsbeschriftung oder auf seinem Handy ins Internet schauen würde, könnte es ihm helfen zu lesen: »Matthias Grünewalds Darstellung hebt sich von der seiner Vorgänger und Zeitgenossen dadurch ab, dass niemals zuvor der Vorgang auf Golgota [sic!] derart schmerzhaft und schockierend als Ereignis von Not und Qual dargestellt wurde.«? Würde er erschrecken ob der Gewalttätigkeit, von der das Bild Zeugnis ablegt? Weniger coole Jugendliche als der 14-jährige Maik Klingenberg haben bei Bildbegegnungen gefragt: Ist das echt? Warum haben die das gemacht? Sie haben reagiert auf die ungeheure Bildsuggestion, die – im Falle des Isenheimer Altars – die lebensgroße Figur besitzt, auf das Heranrücken an die ästhetische Grenze und damit an den Raum vor dem Bild, gerade bei den Händen mit den verkrampft abgespreizten Fingern vor dem dunklen Grund. Und was wäre, wenn Maik Klingenberg einer Jugendlichen begegnen würde, die ihn fragt, ob sie ihm die Geschichte vom »Propheten Jesus« erzählen solle? Den weiteren Fantasiereisen mit der Romanfigur sind keine Grenzen gesetzt; alle hier erfundenen Anekdoten basieren allerdings auf realen Begebenheiten in Dortmunder Bildungsprojekten.17
4. Der sogenannte Berswordt-Altar in der Dortmunder Marienkirche – um ein Beispiel aus dieser Ruhrgebietsmetropole zu wählen –, entstanden wohl in den Jahren um 1385, zeigt auf seiner Mitteltafel ebenfalls den Gekreuzigten.18
17 Zu diesen Projekten stellvertretend Welzel: Kunstgeschichte. 18 Zuletzt eine Charakterisierung des Werkes in seiner historischen Kontextualisierung und im Zusammenhang der Kirchenausstattung der Dortmunder Marienkirche: Thomas Schilp/Barbara Welzel (Hg.): St. Marien in Dortmund, Bielefeld 2012. Noch immer: Andrea Zupancic/Thomas Schilp (Hg.): Der Berswordt-Meister und die Dortmunder Malerei um 1400. Stadtkultur im Spätmittelalter, Bielefeld 2002. Matthias Ohm/Thomas Schilp/Barbara Welzel (Hg.): Ferne Welten – Freie Stadt. Dortmund im Mittelalter, Ausst. Kat. Dortmund 2006, Bielefeld 2006, Kat. 74 und passim. Götz J. Pfeiffer: Die Malerei am Niederrhein und in Westfalen um 1400. Der Meister des Berswordt-Retabels und der Stilwandel seiner Zeit, Petersberg 2009.
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Abb. 2: Berswordt-Altar (geöffnete Ansicht), um 1385, Maße der Kreuzigung 117,5 x 167,8 cm, Dortmund, Marienkirche
Quelle: Rüdiger Glahs, Dortmund
Es ist dies aber nicht der »Prophet Jesus«, wie eine junge Betrachterin beschrieb. Bemerkenswert – und Thema für weiterführende kultur- und bildwissenschaftliche Forschung – ist in diesem Bildgespräch, dass vor der Folie einer bildlosen Religion, aber sozialisiert in einer bilderreichen Kultur die Figur unmittelbar identifiziert und narrativ eingebunden wird.19 Zwar ist die erzählte Geschichte weitgehend dieselbe, nicht aber ihre heilsgeschichtliche Bedeutung. Der Berswordt-Altar wurde ursprünglich für eine christliche Kirche geschaffen, in diesem Kontext sollten die Bilder ihre Bedeutung entfalten. Auch wenn dieses konkrete Werk noch immer in einem solchen Kontext aufgestellt ist (allerdings in einer evangelischen Kirche auf einem unbenutzten Seitenaltar), so besaßen auch die vielen musealisierten Altarwerke oder Kreuzigungsdarstellungen – etwa der Isenheimer Altar im Colmarer Unterlinden-Museum oder die Kreuzigung Grünewalds in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe – ursprünglich christliche Kirchen als intendierte Resonanzräume. Zumindest ihre historische Bedeutung lässt 19 Als diskursive Referenz: Barbara Lutz-Sterzenbach/Ansgar Schnurr/Ernst Wagner (Hg.): Bildwelten remixed. Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern, Bielefeld 2013.
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sich nicht unabhängig davon rekonstruieren. Der gekreuzigte Jesus ist nach christlichem Verständnis der Messias, der Erlöser der Welt von der Erbsünde (was dann auch noch einmal erklärt werden müsste...), der geopfert wird – ein Opfer, das im katholischen Messritus in jeder Messfeier unblutig wiederholt wird, weshalb das prominent im Bild inszenierte Blut Jesu Christi, das aus den Wundmalen der Hände herabtropft, das Bild mit dem Geschehen auf dem Altar, den das Altarwerk schmückte, verwoben hat. Zur Linken des Gekreuzigten ist ein Mann ins Bild gebracht, der bedeutungsperspektivisch gegenüber den umgebenden Figuren vergrößert und außerdem bildrhetorisch hervorgehoben ist, weil er von keiner anderen Figur überschnitten wird und sich im Redegestus unmittelbar an die Betrachter wendet. Seine Worte sind auf seinem Schriftband wiedergegeben: »Vere filius dei erat iste«. Man wird in den meisten Vermittlungssituationen erklären müssen, dass das Latein ist. Es ist ein römischer Hauptmann, der hier spricht – auch die historische Figur »römischer Hauptmann« wird Lateinisch gesprochen haben. Aber das ist nicht der Grund, dass dieses Schriftband in lateinischer Sprache erläutert: »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen«; hier geht es vielmehr um Latein als Sprache der Kirche und der Liturgie, des Rechts sowie weiterhin der gebildeten Welt Europas, als verbindende Sprache über alle Regional- und Landesgrenzen hinweg. Ist eine solche Kulturvermittlung also »Reizwortgeschichte« aus dem Munde der Lehrer/-innen und Kulturvermittler/-innen? Oder geht es um anderes und mehr? Zur Rechten des Gekreuzigten ist – so lässt sich bei ausführlichem, möglicherweise auch erst bei gelenktem Sehen beschreiben –, ein blinder Mann zu sehen gegeben. Ihm wird dabei assistiert – und nun braucht es Vergleichsbeispiele und die Kenntnis der Geschichte, um die Beschreibung fortzusetzen –, mit einer Lanze Jesus die Seitenwunde beizubringen. Doch ist diese Seitenwunde schon gezeigt, obwohl doch die Bildnarration sie erst einen Moment später plausibilisiert. Bereits zum zweiten Mal – nach der bedeutungsperspektivischen Inszenierung des römischen Hauptmanns – ist über Bildlogik zu sprechen: Die Darstellung eines Gekreuzigten mit allen fünf Wundmalen, also auch der Seitenwunde, ist das ›richtige Bild‹: So muss er repräsentiert werden, auch wenn es der Narration widerspricht. Mindestens die historischen Betrachter/-innen haben diese Darstellung also offenbar nicht als ›film-still‹ eines Handlungsablaufes befragt. Hinterlegen lässt sich diese Beobachtung mit der Feststellung, dass zwar das Beibringen der Seitenwunde in der biblischen Überlieferung verankert ist, in der späteren Legendenüberlieferung aber erst mit einer Person, die dann auch eine Geschichte einbringt, angereichert wurde: Der Blinde ist jetzt Longinus, der durch die Berührung mit dem Blut, das aus der Seitenwunde spritzt, geheilt und
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– im wörtlichen wie im spirituellen Sinn – sehend wird. Die materielle Heilswirksamkeit des Blutes Jesu, wie sie in der katholischen Eucharistiefeier geglaubt wird, ist hier – so behaupten Legende und Bild – also im Kreuzigungsgeschehen bereits Wirklichkeit. Das biblische Geschehen wird also mit der Messtheologie, die die Kirche entwickelt hat, und der Deutung der Handlungen am Altar, den das Bildwerk schmückt, verschränkt. Genauer: Theologische Legitimation wird ins biblische Geschehen zurückprojiziert und im Medium des Bildes durch Anschaulichkeit beglaubigt. Schließlich gehörte die Heilige Lanze zu den Reichskleinodien, also in jene sakralisierte Objektgruppe, die untrennbar Teil des Krönungszeremoniells der Könige des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war.20 Dieses Bedeutungsgeflecht ist denkbar weit weg von der »Geschichte des Propheten Jesus«. Kaum deutlicher könnte die Rolle von Bildern in Sinnstiftungs- und Gruppenbildungsprozessen (»...daran glauben wir gemeinsam!«) werden.21 Die Vernetzung des Gemäldes mit dem Erzählgewebe des Alten Europa ließe sich fortsetzen.22 Doch eröffnet sich ein weiteres, wichtiges Feld, sobald man thematisiert, wo man heute in der Regel auf historische Gemälde trifft – und warum diese überhaupt erhalten sind. Der ›kanonische‹ Begegnungsort ist – wenn man denn einem Original und nicht nur einer Reproduktion begegnet – ein Museum. Hier aber haben Kunstwerke mit christlichen Themen keine religiöse Aussageintention mehr; im Museum werden sie aus dem Bekenntniszusammenhang Religion herausgenommen und in den Resonanzraum von Kultur und in die Narrative der Kunstwissenschaft gestellt. Es ist dies – wie die Sammlungs- und Wissenschaftsgeschichte hinlänglich weiß, die Museumsvermittlung aber zumeist nur voraussetzt, nicht jedoch thematisiert – eine grundstürzende Umcodierung. An diesem Ort wird kulturwissenschaftlich, mithin säkular über religiöse
20 Stellvertretend: Gunther Wolf/Franz Kirchweger: Die Heilige Lanze in Wien: Insignie, Reliquie, Schicksalsspeer, Wien/Mailand 2005. 21 Als exemplarische Studie: Barbara Welzel: »Bilder – Kontexte – Identitäten. Die Marienbilder des Conrad von Soest im spätmittelalterlichen Dortmund«, in: Thomas Schilp/Barbara Welzel (Hg.): Dortmund und Conrad von Soest im spätmittelalterlichen Europa, Bielefeld 2004, S. 309-328. 22 Barbara Welzel: »Zwischen den Bildern der Passion: Visualität und Dynamik«, in: Renate Dürr/Annette Gerok-Reiter/Andreas Holzem/Steffen Patzold (Hg.): Religiöses Wissen im vormodernen Europa. Schöpfung – Mutterschaft – Passion, Paderborn (im Druck).
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Themen gesprochen.23 Spätestens mit der Zerstörung der Buddha-Skulpturen in Bamyan durch radikal-islamische – und hier kommt es an auf: fundamentalistisch religiöse – Taliban werden die säkularen Rahmungen der Aufklärung, des Denkmalbegriffs und des Museums, der Welterbedefinition der UNESCO und auch der Wissenschaft verstärkt in den Blick genommen.24 Deutlich wird, dass diese säkularen Rahmungen gewissermaßen zur DNA moderner Demokratien gehören. Das lässt sich in Bildungskontexten aber nicht durch ein Vermeiden – um im fachlichen Kontext der Kunst- und Bildvermittlung zu bleiben – von Werken mit christlichen Themen aufzeigen; im Gegenteil: Gerade an diesen Werken lässt sich vielmehr sowohl die Umcodierung von religiöser Kunst in kulturelles Erbe als auch das säkulare Sprechen über religiöse Inhalte und Sinnstiftungsprozesse deutlich machen und einüben. In Maik Klingenbergs Welt kommen noch Christen vor – wenn es auch Protestanten sind, von denen keiner mehr so recht an »Gott« glaubt. Selbst er würde auf das Reizwort »Gott« vermutlich anders reagieren als auf »Poseidon« – jenen Poseidon, den Cees Nooteboom vor wenigen Jahren noch einmal fragte, wie es eigentlich gewesen sei, als er bemerkt habe, dass niemand mehr an ihn glaubt.25 Es geht mithin um die säkulare Sprachfähigkeit über eine Religion, die für die einen so weit weg ist wie der Glaube an die antiken Götter, die für andere hingegen gelebter Glaube ist – und für noch andere, die Mitglieder einer anderen Religion sind, ein fremder Glaube. Für den Berswordt-Altar sind noch zwei weitere Wendungen zu nehmen. Zunächst: Das Altarwerk befindet sich in einer Kirche, die seit dem 16. Jahrhundert evangelisch ist. Die Verweise auf die katholische Messtheologie laufen heute also ins Leere, mehr noch: Diese Messtheologie war zentraler Streitpunkt der Reformation – und bis heute, 500 Jahre nach der Reformation, sind die Differenzen in der Abendmahlstheologie nicht ausgeräumt. Bis zur Epochenschwelle an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hatte die Stifterfamilie Berswordt eine katholische Kapelle in der evangelischen Marienkirche behalten; seither aber findet sich ein ererbtes Kunstwerk, dem auch konfessionell-katholische Botschaften eingeschrieben sind, in einem evangelischen Kirchenraum: eine
23 Barbara Welzel: »Kunst oder Botschaft? Postsäkulare Fragen an die Kunstgeschichte und einige Thesen zur Praxisrelevanz kunsthistorischer Methodendiskussionen«, in: Steffen Bogen/Wolfgang Brassat/David Ganz (Hg.): Bilder – Räume – Betrachter. Festschrift für Wolfgang Kemp zum 60. Geburtstag, Berlin 2006, S. 332-347. 24 Vgl. Finbarr Barry Flood: »Between Cult and Culture: Bamiyan, Islamic Iconoclasm and the Museum«, in: The Art Bulletin 84 (2002), Nr. 4, S. 641-659. 25 Cees Nooteboom: Briefe an Poseidon. Essays, Frankfurt/M. 2012.
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Situation, die sich heute in vielen evangelischen Kirchen beobachten lässt. Die Umcodierung der Kunstwerke, die auch jenseits einer Bekenntnisorientierung einen Kunst- und Altertumswert besitzen, macht vor den Kirchen nicht halt. Hier kommen Institutionen wie der Denkmalschutz ins Spiel, die zu vermitteln ebenfalls ein Bildungsziel ist. Es spielen sich in ein und demselben Raum konkurrierende, aber friedlich und koexistent ausgehandelte Bedeutungszuschreibungen ab: Diese gegenwärtig gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Selbstverständlichkeit in ihrem kulturellen und zivilisatorischen Wert zu thematisieren, wäre – so die Anforderung an eine zeitgemäße Bildvermittlung – Teil des Bildungsauftrags. Die Bilder wären dann nicht freigestellt gegenüber ihren gesellschaftlichen und institutionellen Rahmungen; die Kunstwerke und ihre demokratisch gesicherten Zugänge würden in Bildungsprozessen vielmehr aufeinander bezogen. Die zweite noch zu nehmende Wendung der Bildvermittlung gilt daher den Schwellen der Institutionen. Im Falle des Berswordt-Altars ist das nicht die Schwelle des Museums, sondern einer gottesdienstlich bis heute genutzten Kirche, die zugleich Denkmal, mithin säkular definierter Ort ist. Sie ist ein doppelt codierter Ort, der außerhalb des Gottesdienstes – mit Respekt vor der Religion – religiös neutral zu nutzen ist.26 Die Bilder in diesem Raum können im Kontext säkularer Kunstvermittlung aufgesucht werden – auch von Menschen, die nicht religiös sind oder einem anderen Glauben angehören. Nicht anders lassen sich Formulierungen wie diejenige in der Präambel des Denkmalgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen verstehen: »Sie [die Denkmäler] sollen der Öffentlichkeit im Rahmen des Zumutbaren zugänglich gemacht werden.«27 Und zugleich gilt es, um das Berliner Gesetz zu zitieren, »den Denkmalgedanken und das Wissen über Denkmale zu verbreiten.«28 Erfahrungsgemäß benötigt solche ›Arbeit an der Schwelle‹ Zeit und prägnante Erläuterung. Zugleich ist sie Voraussetzung dafür, das kulturelle Erbe Europas als »Öffentlichkeit« anzunehmen und Teilhabe zu eröffnen, wie es in Denkmalgesetzen heißt: als »Öffentlichkeit«, die so heterogen zusammengesetzt ist, wie in den oben zitierten statistischen Erhebun-
26 Dieses Modell wurde in den letzten Jahren in Dortmund zunächst von Barbara Welzel vorgeschlagen und dann in zahlreichen Experimenten im Team Kunstgeschichte (und darüber hinaus) erprobt; vgl. zuletzt auch Barbara Welzel: »Zugehörigkeit vor Ort: Stadt als Bildungsraum«, in: Jahrbuch Historische Bildungsforschung 22 (2017), S. 81-104. 27 Denkmalschutzgesetz §1: https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen?v_id=57200 31106092634017 vom 06.09.2017. 28 Denkmalschutzgesetz §1: https://www.berlin.de/ba.../politik.../denkmalschutz/denk malschutzgesetz-berlin.pdf vom 06.09.2017.
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gen aufscheint. Immer deutlicher dürfte werden, dass eine solche Gesellschaft die säkulare Sprechfähigkeit über Religionen und eine Verständigung über die Verfasstheit des öffentlichen Raumes unabhängig von religiösen Bekenntnissen benötigt. Die wissenschaftlich begründete Bildung durch Bilder vermag dazu beizutragen, dass nicht die »Hauptschwierigkeit« der kulturellen und gesellschaftlichen Verständigung »Gott« ist. Eine solche Kunstvermittlung vermag im gleichen Atemzug – auch das macht ein Blick auf den Berswordt-Altar in besonderer Weise deutlich – den ästhetischen Eigensinn von Bildern aufzuzeigen, die bewusst, viele auch mit künstlerischem Anspruch, gestaltet sind. Sie kann damit die fiktionalen Freiräume zugänglich machen, welche über die Zeiten hinweg »Denkräume der Besonnenheit«, wie Aby Warburg es genannt hat,29 eröffnen. Innerhalb des original erhaltenen Holzrahmens des dreiteiligen Flügelretabels ist jeweils in denjenigen Passagen, in denen Goldgrund die Bildhandlungen hinterfängt, ein zusätzlicher brauner Rahmenstreifen gemalt. Auf den Seitenflügeln betreten Figuren den Bildraum nun zwischen dem gemalten und dem geschnitzten Rahmen hindurch. Bis heute belegt das um 1385 entstandene, mithin mehr als 600 Jahre alte, ›mittelalterliche‹ Gemälde, dass seine Auftraggeber und Rezipienten offenbar von diesem Kunstwerk mehr erwarteten als eine fundierte und überzeugende Darstellung von Heilsgeschichte, mithin der verwobenen Wiedergabe von biblischer Geschichte, Theologie und Weltdeutung. Sie wollten – so lässt sich diese Beobachtung deuten – zugleich malerische Virtuosität bewundern und Kunstfertigkeit wertschätzend genießen.
5. Zum Schluss sei mit wenigen Worten ein weiteres Feld aufgemacht, das sich etwas zugespitzt bezeichnen ließe als: Kunstgeschichte für alle – und außerhalb der Metropolen. Wie können Schulen, die nicht in der Nähe einer Stadt mit einem bedeutenden Museum gelegen sind, ihrem Bildungsauftrag der Teilhabe am kulturellen Erbe nachkommen – auch wenn selbstredend der Ausflug oder die Klassenfahrt in eine größere Stadt mit Museum oder/und eine europäische Metropole in einer Schülerbiografie einen Ort haben sollten? Wie oft ist im Alltag zu hören: Ja, ihr in Berlin (oder Frankfurt am Main, München, Stuttgart, Dresden etc.) habt es gut; bei euch gibt es große Museen, ihr könnt mit euren
29 Stellvertretend: Martin Treml/Sabine Flach/Pablo Schneider (Hg.): Warburgs Denkraum. Formen. Motive. Materialien, München 2014.
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Schüler/-innen im Laufe eines Schulalltags Gemälde von Rembrandt, von Picasso etc. anschauen. Und weiter: Unsere Schule liegt nicht einmal in der Nähe eines Bahnhofs, sodass wir – wenn wir denn die Finanzierung auftreiben – an einem Tag dorthin und wieder nach Hause fahren könnten. Nicht einmal in der Reichweite eines eintägigen Schulausflugs lässt sich unseren Schüler/-innen diese Teilhabe eröffnen. Zu fragen ist daher – auch wenn das noch einmal ein eigenes Thema wäre –, ob etwa Landesmuseen ihrem Auftrag noch gerecht werden, wenn sie faktisch nur für die Schüler/-innen aus der Landeshauptstadt (oder aus der Stadt ihres Standortes) und der an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossenen Umgebung offenstehen. Hier gilt es, alle Outreach-Angebote, beispielsweise Museumsbusse, systematisch auszubauen.30 Auch das Bauen von Brücken zwischen Museen und Stadtbezirken, in denen die Museumsschätze in aller Regel nicht als kulturelles Erbe in Anspruch genommen werden, ist ein wichtiges Unterfangen: Beispiel Berlin-Marzahn, wo Maik Klingenberg zur Schule geht.31 Ziel all dieser Anstrengungen ist es, dass Kulturvermittlung und die Vermittlungen kulturellen Erbes nicht unfreiwillig und paradoxerweise zur Bestätigung einer Selbstwahrnehmung des Abgehängtseins beitragen.32 Hier könnten Kirchen als Erinnerungsorte Europas ins Spiel kommen. Mit ihren Bauten und Ausstattungen gehören sie – das wäre viel breiter in den Blick zu nehmen – zu den bedeutendsten Überlieferungsträgern Europas. Und: Es gibt sie fast überall. An beinahe jedem Ort lassen sich in erreichbarer Nähe historische Kirchenbauten mit immer wieder herausragenden Kunstwerken aufsuchen, untersuchen und besprechen. In Begegnungen wird regelmäßig deutlich, wie groß zunächst das Erstaunen ist, am eigenen Ort einen Ankerpunkt der ›großen‹ europäischen Kunstgeschichte vorzufinden. Hier könnte gerade die Kunstgeschichte wichtige Beiträge leisten. Justierungen an den eingeschliffenen Narrati-
30 Stellvertretend genannt sei der Museumsbus in Köln, der Schüler/-innen gerade nicht nur aus der Stadt Köln abholt und zum Museum bringt; www.museenkoeln.de/ downloads/home/museumsbus%20koeln%20Flyer.pdf vom 21.8.2017; es gibt auch auf dem Land – etwa Schwalm-Aue (Schwalm-Eder-Kreis, Hessen) – vergleichbare Angebote. 31 Als Modell: »Museum für alle! Die Nulis-Maske in Marzahn«; https://www. articipate.de/marzahn/ vom 21.08.2017. Ich danke Gabi Dolff-Bonekämper für den Hinweis und Gespräche über dieses Projekt. 32 Vgl. Kathrin Hohmaier: »›Hässlich wie ein modernes Kunstwerk‹. Die Praxis eines Kunstvermittlungsprojektes für museumsferne Besuchergruppen«, in: Dagmar Danko/Olivier Moeschler/Florian Schumacher (Hg.): Kunst und Öffentlichkeit, Wiesbaden 2015, S. 167-186.
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ven, die Vermittlungskontexte, Museumsbeschriftungen, Schulbücher, aber auch Wikipedia-Einträge etc. dominieren, würden diesen Intentionen zuarbeiten. So findet sich in solchen Texten regelmäßig das beinah reflexhafte Hervorheben von Innovationen, ohne dass die Vergleichsüberlieferung, die solche Bewertungen erst erlauben und belegen könnte, auch nur ansatzweise genannt würde. Als Beispiel mag noch einmal aus dem Wikipedia-Eintrag zum Isenheimer Altar zitiert werden: »Matthias Grünewalds Darstellung hebt sich von der seiner Vorgänger und Zeitgenossen dadurch ab, dass niemals zuvor der Vorgang auf Golgota [sic!] derart schmerzhaft und schockierend als Ereignis von Not und Qual dargestellt wurde.« Neuere Forschungen würden sicherlich stärker auf die Geschichte von Affekten und Emotionen abheben und die Unterschiede zu älteren Darstellungen herausarbeiten, statt Grünewalds Bilderfindung als Überbietung schlechthin der (eben auch nicht beschriebenen) Tradition zu charakterisieren. Wissenschaftlich ist der Abschied vom Geniekult dann doch erheblich weiter fortgeschritten als in solchen Einträgen. Gleichwohl wird weithin Geschichte, auch Kunstgeschichte, entlang der Inventionen erzählt. Nicht minder prägend für eine Epoche und für eine Kultur war und ist aber, was ›üblich‹ ist, mit welchen Erbschaften gelebt wird und welche Bilder nebeneinander existieren und sich wechselseitig kommentieren. So wäre – nimmt man diesen Befund ernst – auch nach dem Gemeinsamen etwa des Isenheimer Altars und des Berswordt-Altars zu fragen. Zu nennen ist dann – neben der generellen Körperdisposition am Kreuz – die Monumentalisierung des Gekreuzigten oder die Inszenierung der schmerzverkrampften Hände. Auf beiden Tafeln kniet Maria Magdalena prominent unter dem Kreuz, fängt der rotgewandete Jünger Johannes die vor Schmerz ohnmächtig werdende Maria im weißen Gewand auf. Mit dem Herausarbeiten der Gemeinsamkeiten und dann selbstredend auch der Unterschiede von Bildtraditionen ließen sich die ungezählten Passionsdarstellungen, die an nahezu jedem europäischen Ort überliefert sind, miteinander in ein Gewebe des »shared heritage«33 einschreiben. Die Tatsache ihrer Überlieferung bis heute wird lesbar als ein Prozess beschreibbarer, wiederum vernetzter Umcodierungen. Die Säkularisierung der institutionellen Kulturüberlieferung gehört zu diesen Bildungsinhalten ebenso wie die säkulare Sprechfähigkeit über Religion. Hinzu kommt die Erarbeitung einer ›Landkarte‹, die es leistet, den jeweils eigenen Ort – wo auch immer etwa sich die einzelne Schule befindet – als einen Ort innerhalb der großen Geschichte Europas lesen zu können. In diesem Sinne könnten gerade Passionsbilder besonders geeignete Objekte einer zeitgemäßen Bildvermittlung sein.
33 So der Titel des Europäischen Kulturerbejahrs 2018; https://sharingheritage.de/ vom 06.09.2017.
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»D IE H AUPTSCHWIERIGKEIT WAR NATÜRLICH G OTT .«
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Bilder und serielles Erzählen
Kabel, Kameras, Kommunikation Sozialwissenschaft mise en scène in THE WIRE (2002-2008) T ANJA M ICHALSKY
Dass »Bildung durch Bilder« auch unhinterfragt ständig am Werk ist, setzt die Kunst- bzw. Bildgeschichte voraus, weil sie sich mit der Wirkmacht von Bildern im sozialen historischen Kontext beschäftigt. Es wird jedoch angesichts der allseits konstatierten Bilderflut in diversen Medien zunehmend relevant, das Potenzial von Bildern nicht nur akademisch zu hinterfragen, es politisch und didaktisch zu nutzen, sondern bereits in der Schule Methoden zu vermitteln, die für den Umgang mit Bildern sensibilisieren. Dazu gehört jenseits der einzelnen Interpretation und der Vermittlung der Kontexte, in denen Bilder produziert und rezipiert werden, in erster Linie, dass man Bilder ganz konkret als solche in den Mittelpunkt stellt, sie ernst nimmt und gerade nicht nur durch ihre Oberfläche hindurch an ihre Bedeutung gelangen bzw. ihre Repräsentationsleistung einer vermeintlich jenseits davon gelagerten Wirklichkeit überprüfen möchte. Eine Aufgabe der Kunstgeschichte, die an deutschen Schulen (etwa im Unterschied zu Italien) kein eigenes Schulfach ist, könnte es sein, nicht nur dichte Interpretationsangebote bereitzustellen, sondern Möglichkeiten aufzuzeigen, wie insbesondere künstlerisch anspruchsvolle Bildmedien dahingehend untersucht werden können, wie sie selbst die Produktion von Wirklichkeit verfolgen und in manchen Fällen auch thematisieren. Die amerikanische Fernsehserie THE WIRE (2002-2008) bietet sich in diesem Zusammenhang an, weil es zu ihrem Konzept gehört, die prekäre soziale Realität Baltimores im Narrativ einer langwierigen Polizeiermittlung gegen Drogendealer regelrecht zu dekonstruieren, wobei der Repräsentationsstatus von diegetisch motivierten Bildern hinterfragt wird und die verwirrende Komplexität aus In-
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formationen an die Stelle einer einheitlichen Weltversion tritt.1 Während die polizeiliche oder detektivische Ermittlung unter Verwendung von Fotos zum Repertoire der Filmgeschichte gehört und Kriminalfilme ihre Spannung häufig aus der visuellen Rekonstruktion eines Tatherganges beziehen, zeichnet sich die Serie dadurch aus, dass sie die Vernetzung von Daten und Personen in den Vordergrund holt, dass sie Techniken der Kommunikation gegeneinander ausspielt und nicht zuletzt dadurch, dass sie gleichsam die DNA der amerikanischen Gesellschaft anhand einzelner Institutionen analysiert. Der Aufbau der Serie kommt einer Strukturanalyse sehr nahe und die Qualität liegt darin begründet, dass die filmische Sprache selbst zum analytischen Instrument wird. Wie aber kann diese Filmsprache im Sinne von Bildung durch Bilder aus Sicht einer Kunsthistorikerin fruchtbar gemacht werden? Bekanntlich bereitet das analytische Sprechen über Film spezifische Probleme, weil man – anders als bei stillen und stummen Bildern – das Ansehen des Films und die Analyse voneinander trennen muss, da man a) nicht über das bewegte Geschehen und seine Tonspur hinwegsprechen kann bzw. sollte, und da b) die Dauer des Filmes genuin zum Medium gehört, sie daher respektiert und ebenfalls in der Analyse bedacht werden muss. Über Serien zu sprechen verschärft diese Problematik nicht unerheblich, weil es sich z.B. bei THE WIRE um eine Serie mit sechzig Episoden von einer Stunde in fünf Staffeln handelt, die
1
Die längst bis ins Unüberschaubare angewachsene Literatur zur Serie kann in diesem Zusammenhang nicht in Gänze berücksichtigt werden. Zur Einführung und mit der wichtigsten weiterführenden Literatur sei verwiesen auf: Rafael Alvarez: The Wire. Truth Be Told, Edinburgh u.a. 2009 (mit einem Vorwort von David Simon). Brian G. Rose: »The Wire«, in: Gary Richard Edgerton/Jeffrey P. Jones (Hg.): The Essential HBO Reader, Lexington 2008. Tiffany Potter/C. W. Marshall (Hg.): The Wire. Urban Decay and American Television, New York/London 2009. David Bzdak/Joanna Crosby/Seth Vannatta (Hg.): The Wire and Philosophy: This America, Man, Chicago 2013. Daniel Eschkötter: The Wire, Zürich 2012. Liam Kennedy/Stephen Shapiro (Hg.): The Wire. Race, Class, and Genre, Ann Arbor 2012. Jens Schröter: Verdrahtet. The Wire und der Kampf um die Medien, Berlin 2012. Martin Urschel: The Wire. Netzwerke der Gewalt, Baden-Baden 2013. Zum Metanarrativ vgl. insb. Helena Sheehan/Sheamus Sweeney: »The Wire and the World: Narrative and Metanarrative«, in: Jump Cut 51 (2009). (http://www.ejumpcut.org/archive/jc51.2009/index.html vom 10.10.2017. Zu einzelnen Argumenten wird jeweils nur auf die jüngsten Artikel Bezug genommen.
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man schon der Dauer wegen nicht im Unterricht gemeinsam ansehen kann.2 Die Serie auch in Zeiten des »binge watching«, also des Konsums mehrerer Episoden am Stück, in Gänze einfach vorauszusetzen und dann über die Inhalte zu sprechen, kann aber ebenfalls nicht das Mittel der Wahl sein, weil so die Analyse der Bedingungen des Mediums aus dem Blick geraten würde.3 Aus privaten Unterhaltungen ist hinlänglich bekannt, in welche wirre Weiten das unsystematische Sprechen »aus der Erinnerung« über Film führen kann, da insbesondere die Ebenen der Erzählung, der sehr unterschiedlich beobachteten und bewerteten ästhetischen Mittel, der intendierten Aussage, der schauspielerischen Leistung und darüber hinaus auch noch die Ebene des Vergleiches mit anderen mehr oder weniger bekannten Filmen schnell und stetig durcheinander geraten. Lehrer*innen stellt sich daher das Problem, wie überhaupt von einem Artefakt zu sprechen ist, das wahrscheinlich nur wenige überhaupt und von denen wiederum nur ganz wenige im vollen Umfang kennen. Dessen eingedenk soll in diesem Rahmen der Versuch unternommen werden, lediglich implizit medienkritisch und -analytisch, explizit jedoch an wenigen Sequenzen und Rahmenvergrößerungen einen Zugang zum kritischen Potenzial der Serie vorzustellen.
2
Zur Interpretation von Serien allgemein vgl. Kathrin Rothemund: Komplexe Welten: Narrative Strategien in US-amerikanischen Fernsehserien, Stuttgart 2013. Dustin Breitenwischer/Claudia Lillge/Jörn Glasenapp/Elisabeth K. Paefgen (Hg.): Die neue amerikanische Fernsehserie. Von Twin Peaks bis Mad Men, Paderborn 2014, darin Elisabeth K. Paefgen: »There Are No Second Acts in American Lives. The Wire«, S. 155-177. Christoph Ernst/Heike Paul (Hg.): Amerikanische Fernsehserien der Gegenwart. Perspektiven der American Studies und der Media Studies, Bielefeld 2015, hier Elisabeth Bronfen: »Shakespeare’s Wire«, S. 89-109, zu den theatralen Mustern der Figurenkonstellation in THE WIRE. Markus Schleich/Jonas Nesselhauf: Fernsehserien. Geschichte, Theorie, Narration, Tübingen 2016. Mit didaktischem Ansatz Kristina Wacker: Filmwelten verstehen und vermitteln, Stuttgart 2017. Vgl. exemplarisch die dichte Interpretation einer einzelnen Episode vor dem Hintergrund der intermedialen Verweise der Serie THE SOPRANOS: Tanja Michalsky: »›The Mother Country. Here They Make it Real‹. Serienhelden auf der Suche nach ihren Wurzeln: THE SOPRANOS:
COMMENDATORI«, in: Henry Keazor/Fabienne Liptay/Susanne Marschall (Hg.):
Filmkunst, Marburg 2011, S. 304-317. 3
Schleich und Nesselhauf rechnen THE WIRE zu Recht zu jenen Serien, in denen das Gesamtnarrativ im Fokus stehe, es jedoch – wie in allen Serien dieses Formats – der Gefahr des Vergessens ausgesetzt sei (Schleich/Nesselhauf: Fernsehserien, S. 132, 206f.). Zum Phänomen des binge-watching, ebd. 210.
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Die folgenden knappen und in Teilen bewusst deskriptiven Ausführungen sind insofern als Vorschlag für eine Unterrichtseinheit mit Schüler*innen der Oberstufe zu verstehen. Da das Medium des gedruckten Aufsatzes eine direkte Interaktion unterbindet, ist es leider unmöglich, die Leser*innen in die Rolle der Schüler*innen zu versetzen, die selbstredend an der Analyse beteiligt würden, nachdem sie zumindest eine kleine Einführung in die Methoden der Filmanalyse erhalten hätten.4
D IE S ERIE THE WIRE ist inzwischen zumindest in der englischsprachigen Welt berühmt.5 Die vor nunmehr fünfzehn Jahren gestartete Serie wird trotz vieler neuer Produktionen noch immer als ›die beste‹ gehandelt – und unabhängig von diesem Werturteil ist es von weiterreichendem Interesse, dass die Serie an amerikanischen Colleges inzwischen als Lehrstoff im Rahmen der Soziologie verwendet wird.6
4
Hingewiesen sei hier auf die Arbeiten von David Bordwell, die filmhistorisch argumentieren, ein ausreichendes Augenmerk auf die spezifisch filmischen Mittel wie Mise en Scène, Schnitt, Ton etc. legen, aber stärker als viele andere auch die Bildgestaltung und -komposition zur Interpretation heranziehen. David Bordwell: Making Meaning. Inference and Rhetoric in the Interpretation of Cinema, Cambridge, Mass. 1989. Ders.: Visual Style in Cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte, Frankfurt/M. 2001. Kristin Thompson/David Bordwell: Film History. An Introduction, Boston 2010. Vgl. auch Helmut Korte: Einführung in die systematische Filmanalyse, Berlin 2010. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart 2012. Rüdiger Steinmetz: Filme sehen lernen, Frankfurt/M. 2005. Steinmetz bietet das Fachvokabular anhand von Filmbeispielen auf DVD und ist dadurch besonders anschaulich.
5
Die Rezeption in Deutschland hat später eingesetzt. Ein großes Problem besteht für das deutsche Publikum darin, dass der Black-Baltimore-Slang selbst mit Untertiteln oft nur schwer zu verstehen ist, aber es lohnt die Mühe sich einzuhören, da diese Sprache auch der Ausdruck einer partikularen Welt ist, die sich nur auditiv vermittelt.
6
Vgl. z.B. Kenneth W. Warren: »Sociology and The Wire«, in: Critical Inquiry 38 (2011), H. 1, S. 200-207. Sarah Lageson/Kyle Green/Sinan Erens: »The Wire Goes to College«, in: Contexts 10 (2011), H. 3, S. 12-15. Ruth Penfould-Mounce/David Beer/Roger Burrows: »The Wire as Social Science-fiction?«, in: Sociology 45 (2011), H. 1, S. 152-167. Andrew Moore: »Teaching HBO’s The Wire«, in: Transformative Dialogues: Teaching & Learning Journal 5 (2011), H. 1. oder http://www.law. miami.edu/news/2011/march/innovative-seminar-uses-hbos-wire-lens-explore-
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Dies liegt daran, dass THE WIRE trotz eines Rasters an konventionellen Inszenierungen der sozialen Realität im Baltimore des frühen 21. Jahrhunderts (also einer Welt des Post-9/11 und der Rust Belts, also der Krise der ehemals florierenden Industrieregionen im Nordosten der USA) einerseits einen dokumentarischen Duktus pflegt, und dass sie andererseits gleichsam als filmische Umsetzung einer strukturalistischen Institutionsanalyse verstanden werden kann. Sie konzipiert Individuen und ihre Handlungen als Teile einer Welt, die ihrerseits von Kapitalismus, Technik, Institutionen und familiären Strukturen charakterisiert ist.7 Als geradezu plakative Repräsentation von Relationen kann eine Rahmenvergrößerung aus dem Vorspann der dritten Staffel dienen (Abb. 1). Hier sind auf einem Computerbildschirm der Polizei, der an der starken Verpixelung als ein älteres Modell erkannt werden kann, als Ergebnis einer Netzwerkanalyse die Verbindungen zwischen jenen Handys visualisiert, die Drogendealer in Baltimore nutzen, um den Straßenverkauf zu organisieren. Das Bildschirmfoto zeigt (zur leichteren Wiedererkennbarkeit für die Zuschauer als Icons programmierte) Handys mitsamt ihren Nummern innerhalb eines Netzwerks, das die Anzahl der ein- und ausgehenden Verbindungen der Telefone abbildet. Reflektiert man, was der ›erste Blick‹ bietet, zeigt sich, dass das Netzwerk aus Dealern weit verzweigt ist, dass es eine Hierarchie von mehr oder weniger oft gewählten Nummern gibt, und auch, dass die Polizei, die das Diagramm mit modernen Technologien erstellt hat, zunächst einmal nur die nackten Nummern, aber keine Namen oder Personen zur Verfügung hat. Darüber hinaus steht das Bild für die parallel entwickelte Technik von Handys im Dienst der Dealer und jene der Überwachung im Dienst der Polizei – einen Wettlauf von Hase und Igel, der die Serie durchzieht, denn die Kriminellen sind meist ein Stück voraus, während die Polizei die je neu gewachsenen Strukturen der Kommunikation erst beobachten muss und dann nachzeichnen kann.
intersection-race-and-law
vom
10.10.17
oder
Artikel
vom
24.01.2013
in
http://old.ubyssey.ca/culture/class-on-the-wire235/ vom 10.10.2017. Die Serie hält in der relativ aussagekräftigen Internet Movie Database bis heute (17.08.17) einen score von 9,3 Punkten und wird auf dem Seriensektor momentan nur von der jüngeren HBO-Produktion BREAKING BAD mit 9,5 übertroffen. 7
Vgl. Alasdair McMillan: »Heroism, Institutions, and the Police Procedural«, in: Tiffany Potter/Courtney W. Marhall (Hg.): The Wire. Urban Decacy and Television, New York 2009, S. 50-63.
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Abb. 1: Netzwerkanalyse als Resultat der Abhörung (The Wire, III, 3)
Quelle für alle Abbildungen dieses Beitrags: Warner Home Video
Die Serie wurde 2002-2008 ausgestrahlt. Finanziert wurde sie vom Bezahlsender HBO. Heute konsumiert man sie auf DVD und weil der aufklärerische bzw. didaktische Impetus in der Diskussion überhandgenommen hat, reflektiert man kaum noch, dass Serienkonsum selbst eine soziale Praxis geworden ist, die ihrerseits einer kapitalistischen Logik folgt.8 Die beiden Autoren David Simons und Ed Burns haben die Serie entworfen, produziert und teils auch gedreht. Sie begleiteten und lenkten zudem die Rezeption in zahlreichen Interviews und Publikationen.9 Beide stehen für die viel beschworene Authentizität der Inhalte, denn sie kennen Baltimore aus eigener
8
Vgl. Frank Kelleter: »The Wire and Its Readers«, in: Liam Kennedy/Stephen Shapiro (Hg.): The Wire. Race, Class an Genre, Ann Arbor 2012, S. 33-70. Leigh Claire LaBerge: »Capitalist Realism and Serial Form: The Fifth Season of The Wire«, in: Criticism 52 (2010), S. 547-567. Schleich/Nesselhauf: Fernsehserien, zu ›Quality Television‹, S. 88-94 mit Lit.
9
Exemplarisch David Simons/Edward Burns: The Corner. A Year in the Life of an Inner-City Neighbourhood, Edinburgh 2009.
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Berufserfahrung in den Bereichen Polizei, Presse und Schule. Eine hervorstechende Qualität der Serie besteht darin, dass die fünf Staffeln – getragen vom Narrativ der Ermittlung (also einer genretypischen Form der Erkenntnis) – jeweils einzelnen Institutionen gewidmet sind: • dem Drogenhandel auf der Straße, dessen Strippen erst in langsamen und
•
•
•
•
mühsamen Schritten von der Polizei entwirrt werden. Der Titel der Staffel Listen carefully bezieht sich dabei sowohl auf den Jargon als auch auf die ersten Abhörunternehmungen,10 dem Hafen als einem Mikrokosmos des Handels, in dem Waren versetzt und geschmuggelt werden, wobei die Korruption diese Welt zu vielen anderen sozialen Bereichen öffnet – es ist ein »new case« –, aber er steht in direktem Zusammenhang mit den übrigen Mechanismen, der Utopie einer gewaltfreien Zone, in der Drogen und Prostitution geduldet werden, die jedoch dazu führt, dass die Einwohner unter dem zynischen Blick von Politikern und Polizei in einer höllengleichen Situation verelenden. In diesem Fall wurde von den Autoren kein Untertitel angegeben – der Titel der Folge III, 4, Hamsterdam, wie dieses Viertel in Anlehnung an Amsterdam von den Polizisten genannt wird, hat sich jedoch als übergreifendes Motto durchgesetzt, der Schule als einem Ort der Hoffnung, der jedoch ebenfalls längst von der sozialen Ungerechtigkeit und den Bedingungen des Drogenhandels durchdrungen ist. No corner left behind referiert ironisch auf das von Präsident George W. Bush initiierte Gesetz, das Schulbildung für alle ermöglichen sollte, das jedoch nichts an der Realität auf der Straße (mit ihren von Drogenbanden besetzten Ecken, den corners) änderte.11 der Presse, die Nachrichten für den eigenen Profit, aber auch im Dienst von Politikern erfindet, was man between the lines lesen kann. In dieser letzten, am deutlichsten selbstreflexiven Staffel, die die Repräsentation von Realität (also den ›Realismus‹ des eigenen Mediums) noch genauer unter die Lupe nimmt, beginnt der Polizist McNulty, Morde zu erfinden, indem er tote Obdachlose als Opfer des Drogenkrieges inszeniert, um auf diese Weise die finanziellen
10 Vgl. Eschkötter: The Wire, S. 11. Zusätzlich ist jeder Episode ein Zitat vorangestellt, vgl. Schleich/Nesselhauf: Fernsehserien, S. 193, zur Funktion solcher Epigraphen in Serien. 11 Vgl. James Trier: »Representations of Education in HBO’s The Wire, Season 4«, in: Teacher Education Quarterly 37 (2010), H. 2, S. 179-200.
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Mittel zur Ermittlung in seinem alten Fall zu erschleichen. Besonders zynisch reflektiert die Serie so die Welt als Erzählung und zugleich die kapitalistische Logik, die auch vor der Polizeiarbeit nicht Halt macht. Hier zeigt sich bereits die Historizität der Serie, denn während es vor neun Jahren noch als aufklärerisch gelten konnte, die Presse in ihrer Neutralität zu hinterfragen, ist diese heute längst von einer anderen Bedrohung eingeholt worden – nämlich derjenigen, von einigen überhaupt nur noch als fake news angegriffen zu werden. David Simons hat es 2009 selbst so ausgedrückt: THE WIRE zeigt eine Welt, in der das Kapital gesiegt hat und die Arbeit marginalisiert wurde. Finanzinteressen haben so viel politische Infrastruktur gekauft, dass Reformen verhindert werden können. Es ist eine Welt, in der die Regeln und Werte des freien Marktes und des maximierten Profits mit einem gesellschaftlichen Rahmen verwechselt werden. Eine Welt, in der die Institutionen sich selbst genügen und gewöhnliche Menschen immer weniger bedeuten. Die für unseren Zusammenhang relevanten Fragen lauten: • • •
Mit welchen Mitteln analysiert die Serie die gesellschaftlichen Zusammenhänge? Wie verbinden sich Kriminalfilm und soziale Analyse? Welche Analysemethoden zur Rezeption solcher Filme sind adäquat und können in der Schule eingesetzt werden?
D ER E INSTIEG Wie bei fast jeder Filminterpretation bietet den besten konkreten Einstieg der Anfang der Serie.12 Um einen ersten Eindruck vom Thema, seiner Gestaltung und der Medienreflexion zu bekommen, genügen die ersten vier Minuten, die mehrfach unter verschiedenen Gesichtspunkten angesehen und diskutiert werden sollten. Es sei an dieser Stelle auf Rahmenvergrößerungen verzichtet, um von vorneherein darauf zu verweisen, dass das filmische Medium nicht stillgestellt reproduziert werden kann. Ohne mich also auf einzelne Einstellungen zu beziehen, stark verkürzend erzählt, aber den Rhythmus des Schnitts zumindest ansatzweise nachahmend, könnte es etwa so lauten: Blut, das vom Licht des Strei-
12 Vgl. dazu den Beitrag von Elisabeth K. Paefgen in diesem Band.
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fenwagens rhythmisch belebt scheint, rinnt die Straße herab. Ein Polizist nimmt Beweismaterial auf. Drei Kinder sehen neugierig zu. Ein Protokoll wird geschrieben. McNulty unterhält sich ausführlich mit einem Freund des Opfers über dessen Namen »Snotboogie«, in etwa »Rotzpopel«. Der Polizist, der hier als recht naiv eingeführt wird, befindet dies äußerst unspezifisch und verharmlosend für »unfair«, während der Freund des Opfers fatalistisch anmerkt, so habe es anscheinend einfach zu sein. Auf die Frage, wer Snot erschossen habe, erntet McNulty nur: dass er auf keinen Fall vor Gericht gehe. »I ain’t going in no court«. Wir erfahren, dass Snolich immer Geld von den anderen gestohlen habe, dafür aber bislang nur mit Schlägen bezahlt habe. McNulty kann nicht glauben, dass das schon lange so gehe – und die ebenso entwaffnende wie emblematisch für die Serie stehende Antwort ist: »Got to. this America, man«.13 In der letzten Einstellung kommt die Leiche im Vordergrund scharf ins Bild, dann wird der Zoom dergestalt auf das Paar auf der Treppe verlagert, dass gleichsam eine räumliche Beziehung zwischen den Figuren hergestellt wird. Nach dieser kurzen Szene, im eigentlichen Vorspann, zerfällt diese Welt sodann in schnell montierte Schnipsel, die dem Rhythmus von Tom Waits’ Way down in the hole folgen, der in dieser Staffel von den »Blind boys of Alabama« interpretiert wird.14 Wir sehen die Displays der Aufzeichnungsmedien in ihrer eigenen Ästhetik der Wellen und des Ausschlags, Augen, einen gleichsam ›normalen‹ Kamerablick, also den Blick aus einem Polizeiauto, in extremer Nahsicht Drogenproduktion, -distribution und -konsum, Tod und Gleichgültigkeit. Dazwischengeschaltet werden als lebendige Protagonisten die Polizisten am Tatort, stellvertretend für technische Apparate die Überwachung aus fest installierter Kamera und Fotoapparat, getrennt davon die von diversen Kameras produzierten eingefrorenen Schwarz-Weiß-Bilder und nicht zuletzt die ausgedruckten Fotos auf dem Tisch der Ermittler. Omnipräsent ist die Bürokratie, derer es zur Abhörung bedarf: Eine schier nicht enden wollende Menge an Dokumenten. Die Montage aus Telefon, Münzen, Kabel, Tape und Polizei schließt mit einem Steinwurf auf die Kamera.15 Und gen Ende häufen sich die Bilder des Rauschens – Wellen auf
13 Vgl. Bzdak/Crosby/Vannatta: The Wire and Philosophy, die dieses Zitat für den Titel des Sammelbandes gewählt haben. 14 Bezeichnenderweise wurden passend zum Thema der einzelnen Staffeln fünf unterschiedliche Interpreten des gleichen Songs gewählt. Vgl. dazu James Braxton Peterson: »The Depth of the Hole: Intertextuality and Tom Wait’s ›Way down in the hole‹«, in: Criticism 52 (2010), NR. 3-4, S. 461-485. 15 Vgl. dazu Michael Ravenscroft: »Through a Cracked Lens: CCTV and the Urban Crisis in HBO’s The Wire«, in: History and Technology 29 (2013), H. 3, S. 301-307.
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dem Monitor, verpixelte Bilder. Donald Trump würde sich bestätigt sehen: »This world is a mess«. Aber hier spricht nicht Trump, hier sind vielmehr Filme-/Serienmacher am Werk, die sich darauf verstehen, die Konstruktion von Welt, die sie selbst in den einzelnen Episoden vornehmen, zu analysieren und sie zugleich zu einem Werbefilm für das eigene Unterfangen zu machen – das Unterfangen, die Welt als eine Struktur aus Beziehungen zu zeigen, die von ganz verschiedenen Kabeln (wires) aufrecht erhalten werden. Man könnte vieles davon als ›genretypisch‹ erklären – im Vordergrund steht die Überwachungstechnologie, die Bilder und Töne von der Straße (den ›corners‹) bietet und dann von der Polizei in ein kohärentes Erklärungsmuster überführt wird. Das Besondere von THE WIRE besteht aber darin, dass Montage von Einzelheiten und Erzählung bewusst nebeneinandergestellt und somit die sozialen Bande samt ihrer Welten in den Vordergrund geholt werden: Zunächst einmal werden wir mit filmischen Mitteln wie der Großaufnahme des rinnenden Blutes im blinkenden Licht der Streife gleichsam körperlichmateriell an das Verbrechen herangeführt. Funkgeräusche und Blaulicht repräsentieren die Polizei vor Ort mit der Macht ihrer Zeichen und der Ohnmacht ihrer Instrumente. Ein Gespräch, das für Nicht-Geübte kaum zu verstehen ist, führt den Ermittler ein und dabei zugleich auch sein Instrument des Interviews, in dem es bezeichnenderweise um den Spitznamen des Toten, also seine Identität in der Gruppe geht. Obgleich Erkenntnis diegetisch das Ziel ist, beobachten wir das pure Unverständnis für ein Verhalten, das vom cornerboy als typisch amerikanisch eingeordnet wird. Intention und Ergebnis könnten kaum deutlicher differieren. Die Kommunikation zwischen dem zwar wohlwollenden, aber außenstehenden Polizisten und dem tatsächlich involvierten Bewohner der Sozialbauten funktioniert nicht. Ethnologen würden nach teilnehmender Beobachtung rufen, die Erkenntnis über das Verhalten der kleinen Drogendealer verspricht, aber die Polizei wird (genretypisch) einen anderen Weg wählen: Welchen, das erklärt der Vorspann: Kommunikation innerhalb der Gruppe kann abgehört und analysiert werden. Mit welch fragwürdigem Erfolg diese Aktion gesegnet sein wird, das beantwortet nur die ganze Serie. Erst bei mehrfachem Sehen, wenn die Diegese in den Hintergrund tritt, kann beobachtet werden, wie viel Zeit in der Eingangssequenz für das Gespräch zwischen Polizisten und Zeugen verwendet wird, wie die Kamera (im Rahmen des Genretypischen, aber zugleich prononciert mit der Etablierung des Gesprächs durch das Einfangen von Redner und Zuhörer in einer sehr nahen Overshoulder-Aufnahme) die beiden Protagonisten umrundet und ihnen auf den Pelz rückt, wie sie sie in den Rahmen der vermauerten Haustür setzt, und nicht zu-
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letzt, wie sie sozialen Raum etabliert. Um die Interpret*innen mit der eigenen Erinnerung an den bewegten Film zu konfrontieren, die jede Analyse mitbestimmt, die aber nicht in einem anderen Medium zu reproduzieren ist, sollte die erste Analyse auf dem mehrfachen Sichten der Eingangssequenz basieren. »This film, man« sozusagen.
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VON
E RMITTLUNG
Um andererseits die Mise en Scène in den Mittelpunkt zu rücken, sollten jedoch ebenfalls Rahmenvergrößerungen herangezogen werden. Beispiele aus unterschiedlichen Staffeln können im hiesigen Rahmen verdeutlichen, wie die polizeiliche Konstruktion der Welt (dabei in einer langen Tradition des Kriminalfilms stehend) diegetisch motiviert mit Hilfe von Bildern vorgenommen wird. Lester Freamon, der Denker in der Gruppe, verortet Gespräche und Personen auf einer Karte (Abb. 2). Obgleich auch dies ein vertrautes Mittel des Genres ist, zeichnet THE WIRE aus, wie die Schwierigkeit thematisiert wird, Information auf den Raum zu beziehen. Neben der Karte sehen wir kleine Steckbriefe (Abb. 3), die die Fotos der Beteiligten mit den Informationen in Beziehung setzen – und v.a. sehen wir, wie Paul Farber 2010 herausgearbeitet hat, immer Menschen, die die Bilder zueinander in Beziehung setzen.16 Die Gruppe ist gemeinsam an der Arbeit (Abb. 4). Prezbelwesky, ein besonders unbeholfener Polizeibeamter, der erst als Lehrer seine eigentliche Berufung in der vierten Staffel erkennen wird, sitzt im Vordergrund mit seinem Laptop, dessen Bildschirm die Telefonverbindungen zeigt. Die Erstellung eines Fahndungsfotos wird konterkariert, da einige der Polizisten sich einen Spaß daraus machen, hier falsche Informationen einzuspeisen, die die Kids mit Freude am Rechner umsetzen (Abb. 5). Häufig wird ein Gerät im Gebrauch der Gruppe inszeniert, die unter Zuhilfenahme der Technologie gemeinsam eine spezifische Version der Realität entwirft. Selbst in einer Nahaufnahme, die das Nummernschild eines Tatfahrzeuges herausfiltert, ist der umgebende Raum durch die Schrägstellung des Laptops noch präsent – das Bild steht nicht allein und schon gar nicht für die Realität, sondern es bleibt Teil einer Untersuchung, die von Technik und Menschen vorangetrieben wird.
16 Vgl. Paul M. Farber: »The Last Rites of D’Angelo Barksdale: The Life and Afterlife of Photography in ›The Wire‹«, in: Criticism 52 (2010), Nr. 3-4, S. 413-439.
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Abb. 2: Lester Freaman ordnet Informationen auf der Pinnwand (The Wire III, 8)
Abb. 3: Informationen werden manuell auf einer Karte georeferenziert (The Wire III, 8)
Abb. 4: Informationen werden im sozialen Raum des Polizeibüros geteilt (The Wire III, 8)
Abb. 5: Ein Phantombild entsteht als Produkt des gemeinsamen Spiels am Bildschirm (The Wire III, 8)
Abb. 6: Fotos dienen der Überzeugung von Verwandten der Täter (The Wire III, 8)
Abb. 7: Der Bürgermeisterkandidat bei der Justierung des eigenen Fernseh-Bildes (The Wire III, 8)
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Fotos von Leichen dürfen in Krimis nicht fehlen (Abb. 6). McNulty zeigt in III, 8, »Moral Midgetry«, der Mutter eines im Gefängnis ermordeten KartellMitglieds die Beweise für Fremdeinwirkung, die sie davon überzeugen sollen, dass ihr Sohn sich nicht selbst umgebracht hat, sondern von Bandenmitgliedern ermordet worden ist.17 Es bedarf des Dialoges, um diesen Kontext zu verstehen, denn sie liegen auf dem Kopf auf dem Tisch, sodass wir Zuschauerinnen sie nicht richtig sehen können, sie damit für uns ihre konkrete visuelle Beweiskraft verlieren. Zu beobachten ist hier auch nicht die Beweiskraft der Bilder selbst, sondern ihr gut getimter Einsatz, um die Mutter gegen den Clan aufzubringen. Selbstverständlich folgt die Reaktion der Mutter sofort, denn Bilder haben ihre Wirkung und man wird verfolgen können, wie sie ihr Schweigen bricht. Um die Wirkung von Bildern weiß auch der Kandidat für das Bürgermeisteramt, Carcetti, der sich in einer längeren Sequenz die Aufnahmen seines Auftritts ansieht (Abb. 7). Er ist im Profil als Zuschauer und zugleich auf dem Bildschirm präsent. Der Gegenschnitt offenbart das selbstzufriedene Gesicht gerahmt von zwei Fernsehapparaten. Erneut können wir eine Gruppe beobachten, die am Bild des Kandidaten arbeitet, die ihm Handlungsanweisungen für die Telekommunikation gibt, bei der das Spiel der Blicke eine besondere Rolle einnimmt. In einem anderen Beispiel hört die hierarchisch gestaffelte Einsatzgruppe ihrem Chef vor der Pinnwand aufmerksam zu. Lester Freamon hält das Foto von D’Angelo Barksdale hoch (Abb. 8), das er der Nummer eines Pagers zuweisen kann, weil er einen Zettel mit ›D‹ und Nummer gefunden hat (Abb. 9). Deixis in Reinkultur stößt uns auf das visuell entfaltete Argument, denn Lesters Hand weist auf das Foto vor dem Zettel – It’s him (Abb. 10). Wieder kann man von den Modi des Genres sprechen, aber selten wird die Aktion des Ermittlers so klar in Szene gesetzt, wird Erkenntnis aus der Kombination von Bildern so nah aufgenommen und explizit montiert.
17 Vgl. Kevin McNeilly: »Dislocating America: Agnieszka Holland Directs ›Moral Midgetry‹«, in: Potter/Marshall (Hg.): The Wire, S. 203-216.
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Abb. 8-10: Kombination von Informationen: Abb. 8: Das Foto des Anrufers in der Hand des Polizisten (The Wire I, 4)
Abb. 9: Der Zettel mit der Nummer eines Pagers und seiner Initiale (The Wire I, 4)
Abb. 10: Visualisierung der Identi fikation » It’s him« (The Wire I, 4)
Geradezu didaktisch aufbereitet wird die ermittlungstechnische Problematik des Einsatzes von Fotos in einer Sequenz aus I, 4 »Old cases«, in der McNulty und sein Kollege Bunk einen ›alten Fall‹ anhand von Fotos neu aufrollen.18 Die Ermittler kehren an den längst wieder leer geräumten Ort des Geschehens zurück und versuchen, das, was die Fotos zeigen, im Raum zu verorten, um daraus weitere Schlüsse auf das Geschehene ziehen zu können. Dementsprechend legen sie die Fotos angeordnet nach der Perspektive auf deren Objekte auf den Boden des ehemaligen Tatorts, wobei sie ungewollt, aber unmittelbar die differierenden Maßstäbe von Bildern und aktueller Raumwahrnehmung offenbaren. Dennoch
18 Ich folge hier in weiten Teilen der Untersuchung von Farber: Last Rites. Vgl. auch John Kraniauskas: »Elasticity of Demand. Reflections on The Wire«, in: Kennedy/Shapiro (Hg.): The Wire, S. 170-192, bes. S. 178-179.
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versuchen die Polizisten, ihren aktuellen Raum und seine Ablichtung vor langer Zeit gleichsam verschmelzen zu lassen, wobei auf einer Metaebene die konkrete Frage nach dem Referenten der Fotos in das Bild-Regime des Filmes überführt wird. Mit Roland Barthes wird zwar oft konstatiert »Es-ist-so-gewesen«, da Fotos grundsätzlich eine »reale Sache« zum Ausgangspunkt haben, die ReInszenierung des Tatortes offenbart jedoch ein medientheoretisches wie kriminaltechnisches Problem, die Frage nämlich, was genau der Referent des Fotos ist,19 und in einem zweiten, hier noch wichtigeren Schritt, wie die Information des Fotos auf den Raum bezogen werden kann. McNulty konsultiert die umfangreichen Akten mit den Fotos der Ermordeten und nachdem er einige davon im Raum verteilt hat, macht er sich an die Rekonstruktion der Schusslinie. Nach dem Blick auf Fotos von Vorder- und Rückseite der Leiche überträgt McNulty die Informationen auf den eigenen Körper (Abb. 11). Überdeutlich zur Unterstützung des eigenen Denkvorgangs, aber vor allem für die Zuschauer zeigt er auf seinem Körper auf die mögliche Eintrittsstelle der Kugel, zeigt vorsichtshalber noch einmal auf das Foto (Abb. 12), um die Überlagerung der Körper sicherzustellen, und überlässt es seinem Kollegen, wiederum mit einem Foto die Einschussstelle im bereits reparierten Fenster zu rekonstruieren (Abb. 13). Trotz des Close-up ist der Handelnde mit seiner Hand im Bild, sodass nicht das Foto allein die Evidenz liefert, sondern allein die Kombination der Ermittler. Nicht von ungefähr hantiert McNulty ungeschickt mit dem Metermaß, um die Objekte der maßstäblich disparaten Fotos mit der räumlichen Kontinuität in Einklang zu bringen (Abb. 14). Die Qualität der Szene bemisst sich daran, dass mit Aufmaß, Rekonstruktion des Schusses und körperlichem Einsatz der Polizisten tradierte Techniken der Authentizitätsgewinnung zwar angewendet, aber zugleich dekonstruiert werden. Die gesamte Szene ist bezeichnenderweise ohne einen regelrechten Dialog konzipiert. Erkenntnis wird nicht verbalisiert, sondern gezeigt. Typisch für THE WIRE ist dabei, dass das Erstaunen über die eigenen Einsichten in einer beispiellosen Variation von Ausrufen des Wortes »fuck« begleitet wird, gleichsam eine Street-Level-Version der nicht in regelrechte Sprache zu fassenden Erkenntnis. Bunk weist nach den Verrenkungen von McNulty noch einmal auf das Foto des Einschusslochs im Fenster (Abb. 15) – wir vervollständigen die Rekonstruktion automatisch und sehen gleichsam die Flugbahn vor uns, müssen aber auch einsehen, auf welch verworrenen Wegen sie rekonstruiert worden ist.
19 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M. 1985, S. 86-87.
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Abb. 11: McNulty erprobt am eigenen Leib den Weg der Kugel (The Wire I, 4)
Abb. 12: McNulty zeigt auf die Eintrittsstelle der Kugel auf dem Foto des Opfers (The Wire I, 4)
Abb. 13: Bunk Moreland zeichnet anhand des Fotos das Einschussloch im Fenster ein (The Wire I, 4)
Abb. 14: McNulty vermisst die Schusslinie am Tatort (The Wire I, 4)
Abb. 15: Bunk Moreland verifiziert erneut die Schusslinie anhand des Fotos am Tatort (The Wire I, 4)
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McNulty zeigt ein letztes Mal am eigenen Körper die Bahn der Kugel. Diese kongruiert mit dem, was die Fotos am Fußboden noch immer zeigen, welche nun aber eine ganz neue Evidenzstufe erhalten haben. Es sind letztlich nicht die Fotos allein, sondern das Reenactment der Tat, das die räumliche Kombination und damit den letzten Beweis dafür liefert, wohin die Kugel flog. Dass Bunk dabei McNulty skeptisch über die Schulter schaut, weil er der Verkörperung des Täters durch seinen Kollegen misstraut, erweist sich erst in der letzten Staffel als gerechtfertigt, werden die Grenzen zwischen Tätern, Ermittlern und Opfern doch durchlässig in einer Welt, in der es v.a. auf das Narrativ ankommt. In THE WIRE können die Fotos keine eigene Realität für sich in Anspruch nehmen, sondern sie werden immer von Menschen eingesetzt, die sie für ihre Argumentation gebrauchen: für die Identifikation einer Person mit einer Telefonnummer und damit einer Position im System, für das Image des Bürgermeisterkandidaten, für die Erweichung einer Zeugin, die ihren Sohn verloren hat, und für die Rekonstruktion eines Tatherganges, der mit den Fotos von einem älteren Zeitpunkt den aktuellen Raum neu mit der Tat besetzt. Der konkrete Umgang mit Bildern wird in diesen Sequenzen thematisiert – und das könnte Thema einer Untersuchung im Unterricht sein. THE WIRE zeigt, dass es sich bei der Nutzung von Fotografien um eine soziale Praxis handelt, die ihrerseits zu analysieren wäre. Fotos zeigen eben nicht einfach die Realität, sie sind vielmehr interpretationsbedürftig und sie müssen kontextualisiert werden. Interpretationen dieser Art lassen sich besser mit stillstehenden Bildern belegen, denn so, wie gerade vorgeführt, können sie kommentiert und verglichen werden, tritt das Bild gegenüber der Erzählung selbst in den Vordergrund. Nichtsdestotrotz sollte man im Unterricht die stillgestellten Fotos immer mit den Szenen kombinieren, da erst die Montage und die Tonspur verdeutlichen, wie sie im Film selbst eingesetzt werden.
B ETWEEN
THE LINES
Es würde den Rahmen sprengen, hier – so wie im Vortrag oder so wie in einer Unterrichtsstunde – sämtliche Einstellungen des Vorspannes der letzten Staffel einzeln abzubilden und zu besprechen. Im Vertrauen auf die Verifikation am bewegten Bildmaterial soll daher zusammengefasst werden, wie in der fünften Staffel »Between the Lines« das Tableau einer stets medial und sozial verfassten Welt im gewohnt schnellen Schnitt des Vorspanns aufbereitet und später in verführerische Totalen überführt wird.
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Dem übergreifenden Thema geschuldet, also der Presse, deren Aufgabe ›eigentlich‹ in der Information besteht, stellt der Vorspann Bilder aus Herstellung, Vertrieb und Werbung der Sun neben bekannte und erneuerte Versionen der polizeilichen Ermittlung sowie solche der Misere der öffentlichen Räume und ihrer Bewohner. Die Presse wird vertreten durch Reporter im Büro an ihren derweil moderneren Computerbildschirmen, die der Technik der Polizei voraus sind. Strukturell ähneln ihre Arbeitsbedingungen jenen der Polizei, denn auch sie recherchieren im Netz, vor Ort und bei vermeintlichen Zeuginnen – und auch sie müssen schnell eine wahrscheinliche Version der Realität produzieren. Der filmische Topos der vom Band laufenden Neuausgaben darf nicht fehlen, wird aber ergänzt um das Werbe- und Vertriebssystem auf den Highways der Stadt. Hier ist auf billboards die aktuelle Titelseite zu sehen, hier stehen Menschen mit dem prekären Job, in der Hoffnung auf Trinkgeld die Zeitungen an die Autofahrer zu verkaufen. Neben die Zeitung ist längst das Fernsehen getreten, das in stetig aktualisierten Ausgaben mit attraktiven Moderatorinnen News direkt in die Wohnzimmer bringt und so der langwierigen Recherche Konkurrenz macht (Abb. 16). Die Rahmenvergrößerung zeigt die Vervielfachung der Monitore im Studio, den zugleich deutlich vergrößerten privaten Flachbildschirm sowie die Beiläufigkeit des Fernsehens, das keinen konkreten Zuschauer hat, sondern ebenso wie die Stehlampe zur Ausstattung einer beliebigen Wohnung gehört. Wie immer subtil und unaufdringlich geben diese Montagen eine, wenngleich nicht hinreichende Erklärung für die Verflachung der Presseinformationen, die ihrerseits Marktinteressen unterworfen sind. Dazwischen sind Bilder unklarer Herkunft aber verständlichen Inhalts geschnitten. Wir sehen Politiker neue Areale eröffnen, indem sie Bänder durchschneiden. In den Vororten brennt es – mal aus Akteursperspektive mit brennendem Streichholz, mal mit einer Rauchwolke im Hintergrund einer Neubausiedlung. Die Totalen des Außenraums werden von Strom- und Telefonmasten dergestalt verstellt, dass die Kommunikationskabel auch visuell die gemeinsame Welt durchkreuzen (Abb. 17). Zugleich werden sie von einer müde im Wind wehenden Fahne der USA hinterfangen, die den Fond für eine gelbe Tatortabsperrung bietet – dem Pendant der Eröffnungsbänder, die beide den öffentlichen Raum zugleich definieren als auch verschließen. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, die einzelnen Einstellungen zu analysieren, die – nach einer ersten Sichtung – dazu eingesetzt werden, die privaten wie die öffentlichen Räume in ihrer Verschränkung zu offenbaren. Ein nicht zu unterschätzendes kritisches Potenzial der gesamten Vorspannmontage liegt darin, dass ein Teil der Bilder die mediale Bildprodukti-
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on thematisiert, während ein anderer Teil eben diese im Unklaren belässt und so den Referenzrahmen aller Bilder gleichsam einklammert. Abb. 16: Die Fernseh-Nachrichten im Wohnzimmer (The Wire V, 1)
Abb. 17: Der öffentliche Raum gezeichnet von Strommasten, Tatortabsperrung und amerikanischer Fahne (The Wire V, 1)
Abb. 18: Erfolge der langfristigen Ermittlung in der Überblendung von Fotos unterschiedlicher Über wachungsetappen (The Wire V, 1)
Die Polizei ermittelt derweil in immer schneller blinkenden Büroräumen, mit mehr oder weniger gut versteckten Kameras und deutlich gekennzeichneten Überwachungssystemen im städtischen Raum. Sehr schnell – und erst bei mehrmaligem Betrachten wirklich wahrzunehmen – geistern die Fotos der längst bekannten Drogenbosse und ihrer Zuarbeiter durch die Bilderflut. Sie stehen für die bereits geleistete Identifikationsarbeit sowie für die Geschichten der einzelnen Täter und ihrer Netzwerke. Eine Überblendung, die für wenige Sekunden zu sehen ist (Abb. 18), visualisiert dies besonders eindrücklich: Die Hände eines Ermittlers halten das Foto von D’Angelo Barksdale am öffentlichen Telefonapparat, das wir bereits aus einer älteren Episode kennen. Hier ist es jedoch mit dem Polizeifoto seines Onkels Avon Barksdale überblendet, demjenigen, der längst als Strippenzieher entlarvt ist. Dieses visuelle Mittel ist im Kriminalfilm spätestens seit dem film noir etabliert – gerade des-
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wegen kann es hier gleichsam beiläufig eingesetzt werden, ohne pathetisch als Entdeckung stilisiert zu werden. Hier ist ein solches Bild hingegen emblematisch für kommunikative Vernetzung (Telefon), für Episteme der Polizeiarbeit und zugleich für die konkrete polizeiliche physische Arbeit an der Erkenntnis zu verstehen. Die Dealer und ihre Kunden sind derweil zum Alltag übergegangen. Die Spielplätze sind wieder leer, weil die Kinder erneut als Kuriere an den Straßenecken arbeiten. Bosse und Kuriere treffen sich vorsichtshalber face to face oder verwenden neue Verschlüsselungstechniken, wie die Smartphone-Aufnahme einer Uhr zeigt, deren Zeitangabe vom Empfänger entschlüsselt werden kann. Neben der Presse geraten nun die Obdachlosen ins Blickfeld, allerdings im wahrsten Sinne des Wortes nur am Rande bzw. unter dem Highway, denn ihnen wird nicht etwa geholfen, sie dienen lediglich als menschliche Masse in der Aufklärungsstatistik der Polizei. Und schließlich begegnet uns als letzter Akteur in der mannigfaltigen Gesellschaft dieses Potpourris ein Zeitungsleser, der gemütlich die für ihn aufbereiteten Informationen konsumiert, ohne jene Nachfragen zu stellen, die der Vorspann insinuiert. Dieser für die letzte Staffel konstitutive Vorspann eignet sich für eine Untersuchung in der Schule, weil er das Amalgam des sozialen Raumes in der Montage verdichtet vor Augen stellt. Es ist ein Raum, der von Zeichen durchsetzt ist – ein Raum, der von Akteuren geschaffen wird, hinter deren Oberfläche wir nicht sehen können –, ein durch und durch mediatisierter Raum, der nur durch Narrative zusammengehalten wird, von denen die Serie selbst mehrere bietet, ohne einem davon die Oberhand zuzugestehen. Ausgerechnet in der letzten Episode, in der wir ohne eine befriedigende Lösung mit den Figuren aus dem Experiment entlassen werden, sind einige Stadtansichten in das Tableau gemischt, die Baltimore morgens, abends oder nachts in weich zeichnendem Licht als einen scheinbar friedlichen, vornehmlich durch Gebäude definierten Raum inszenieren. Sie wurden – wie einige andere Szenen auch – auf 35 mm gedreht und dann auf Bildschirmformat heruntergerechnet. In langsamen Bildern scheint die Sonne aus einem bleiernen, aber hohen Himmel herab und durch die Scheiben eines Vorortzuges (Abb. 19). Anonyme, aber wohltuend abwechslungsreich gestaltete Hochhäuser ragen in den Himmel, als wären sie einem Modell entsprungen (Abb. 20). Downtown-Baltimore passt sich den Ansichten amerikanischer Städte an. Ein versöhnlicher Mond scheint auf friedliche Stadtlandschaften (Abb. 21). Selbst das Gebäude der Sun, dessen Lichter langsam zu erlöschen scheinen, wirkt angenehm friedlich (Abb. 22), und blutrot geht die Sonne in der Nähe einer Fabrik unter (Abb. 23).
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Abb. 19: Einfahrt nach Baltimore im Zug (The Wire V, 10)
Abb. 20: Das ›normale‹ Baltimore: Die Skyline aus gewöhnlicher Perspektive (The Wire V, 10)
Abb. 21: Der Mond steht am Himmel über Baltimore (The Wire V, 10)
Abb. 22: In der »Sun« gehen die Lichter aus (The Wire V, 10)
Abb. 23: Sonnenuntergang in Baltimore (The Wire V, 10)
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Diese im Vergleich monumental und auf den ersten Blick versöhnlich und bekannt wirkenden Bilder fallen ästhetisch so stark aus der sonstigen Erzählweise heraus, dass sie nur als kritischer Kommentar zum sozialen Raum und seinen Ansichten verstanden werden können. Die Zuschauer*innen haben längst kennengelernt, was sich hinter den Fassaden abspielt, was die städtische Gesellschaft zusammenhält oder vergiftet. Der visuelle Stilbruch, Bilder der Stadt als einer Ansammlung von Baukörpern im sich wandelnden Tageslicht zu zeigen, hilft erneut dabei, den Status auch solcher Bilder zu hinterfragen. Ein weiterer Aufsatz wäre nötig, um zu zeigen, wie diese Ansichten Klischees bedienen und variieren – hier muss es genügen, den Blick darauf zu lenken, dass es innerhalb der visuellen Sprache dieser Serie möglich war, scheinbar harmlose Stadtansichten für verdächtig zu erklären – weil der soziale Raum hier eher verschleiert wird. THE WIRE bietet sich geradezu dafür an, im Schulunterricht behandelt zu werden, da sie jenseits der Missstände, die sie aufzeigt, die Aufmerksamkeit auf den sozialen Raum und seine filmische Konstruktion lenkt. Sowohl die Kompetenz der Film- als auch der Medienanalyse sollten heute zum allgemeinen Rüstzeug gehören. Es spricht vieles dafür, diese gerade an einem so komplexen Fall wie THE WIRE zu erproben, da hier die Medienreflexion filmisch umgesetzt wird, ohne je zu behaupten, es gäbe eine leichte Lösung, mit der man die Welt erfassen könnte. Eine solche Analyse kann die Sozialwissenschaft nicht ersetzen, wie manche Autoren euphorisch behaupteten, weil sie hier die eigenen Theorien umgesetzt sahen. Vielmehr muss es darum gehen, gerade ihre Mise en Scène zu untersuchen, die einen scheinbar leichten Zugang zu den soziologischen Phänomenen bietet, die aber ihrerseits einem Genre verpflichtet ist, dessen Regeln der Narration interpretiert und in ihrem Einsatz für das aufklärerische Projekt dekodiert werden müssen.
L ITERATUR
UND
S ERIEN
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(Eis)Kalte Eröffnung! – Wie fangen Serien an? Erster Versuch zu einer Didaktik des Anfangs1 E LISABETH K. P AEFGEN
Für Harry Brittnacher, dem Co-Showrunner in einigen Serien-Seminaren
1. (C OLD ) O PENING Verwischte Großaufnahme einer wehenden (amerikanischen) Flagge und Blicke auf ein Gebäude, das schnell den amerikanischen Regierungssitz erkennen lässt, zumal es in der nächsten obersichtigen totalen Einstellung aus dem nächtlichen Stadtbild weiß herausleuchtet. Der Schriftzug THE WEST WING wird gleich zu Beginn eingeblendet, deutlich als Titel der Serie erkennbar. Mit der nächsten Einstellung wird unvermittelt in das Gespräch zweier Männer gewechselt, die am Tresen einer gediegenen Bar sitzen und über einen Caldwell bzw. Josh reden und darüber, ob letzterer entlassen wird. Klar wird auch noch, dass der eine – Billy – ein Journalist ist und der andere – Sam – nichts Zitierfähiges sagen will und dass er durch die Blicke einer Frau abgelenkt wird. Verlinkt werden die beiden Szenen durch dezente Klaviertöne, die in der Bar als Hintergrundmusik fungieren. Bilder einer Wüstenlandschaft. Durch den grellblauen Himmel fliegt eine Khakihose, die von einem metallischen Klang auf der Tonspur begleitet wird. Die Hose landet auf einer sandigen Landstraße, bevor sie von einem riesigen 1
Viele Anregungen für diesen Aufsatz entstammen Seminaren und Seminarsitzungen, die an der Freien Universität Berlin stattgefunden haben; insbesondere die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Seminare, die im Sommersemester 2017 stattfanden, haben mit ihren Kommentaren und Deutungen zu einer Präzisierung der nachfolgenden Ausführungen beigetragen.
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Wohnwagen überfahren wird. Am Steuer sitzt ein Mann in weißer Unterhose, der eine Gasmaske trägt und in einem aberwitzigen Tempo über die Landstraße rast. Eine Straße bei Nacht in einem städtischen Wohnviertel. Mit Holzplatten vernagelte Fenster und Türen deuten auf Verwahrlosung hin. Ein Polizist beschäftigt sich mit einer auf der Straße liegenden Leiche. Ein anderer Mann, der in seinen dreißiger Jahren sein mag und mit einer Lederjacke bekleidet ist, sitzt neben einem Jugendlichen, der mit seiner wuchtigen Winterjacke und der Wollmütze deutlich andere Kleidungssignale aussendet. Beide sitzen auf den Treppenstufen eines städtischen Wohnhauses. Zu hören sind das Gespräch zwischen den beiden Sitzenden und die normalen Stadtgeräusche. Mit diesen Bildern und Tönen beginnen drei der fernsehseriellen Erzählunternehmen, die in den 2000er Jahren entstanden sind und die weit über Amerika hinaus ein großes Publikum und viele Interpreten gefunden haben. Bereits diese ersten Einstellungen zeigen, dass in THE WEST WING, BREAKING BAD und THE WIRE auf ungewöhnliche, überraschende und komische Weise erzählt wird und dass wir es in diesen Serien mit originellen Protagonisten zu tun haben, die auf eigenwillige Weise agieren. Zusammen mit einigen anderen Serien, zu denen u.a. THE SOPRANOS, SIX FEET UNDER, THE SHIELD, LOST, MAD MEN, HOMELAND, GAME OF THRONES oder HOUSE OF CARDS u.a.m. gehören,2 bilden sie mittlerweile eine Gruppe von Erzählwerken, die auch in akademischen Zusammenhängen Aufmerksamkeit gefunden haben. Wenngleich sich diese neuen Fortsetzungsgeschichten im Einzelnen unterscheiden, so ist für alle gleichermaßen charakteristisch, dass sie nicht länger episodisch abgeschlossene Teile präsentieren, sondern mit großen Erzählbögen operieren, die sich über eine Staffel oder sogar über die gesamte Serie erstrecken können; dass sie ein ambivalentes Figurenensemble präsentieren, das widersprüchlich, unberechenbar und jenseits von stereotypen Festlegungen agiert; und nicht zuletzt, dass mit unvermittelten Pro- und Analepsen ebenso gearbeitet wird wie mit elliptischen Erzählweisen, autoreferentiellen Anspielungen und avancierten filmischen Techniken, die jenseits einer konventionellen Fernsehästhetik angesiedelt sind. Die populäre
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Markus Schleich und Jonas Nesselhauf sprechen gar von »vier kanonischen Serien« und zählen THE SOPRANOS, THE WIRE, MAD MEN und BREAKING BAD dazu: Markus Schleich/Jonas Nesselhauf: Fernsehserien. Geschichte, Theorie, Narration, Tübingen 2016, S. 50-51. Mit solchen kanonischen Festschreibungen sollte man allerdings vorsichtig sein, zumal jeder seinen eigenen Kanon hat, der durchaus abweichen kann von dem hier vorgeschlagenen.
(E IS )K ALTE E RÖFFNUNG ! – W IE
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»Wiederholungskunst«3 Serie hat sich somit in den letzten Jahren als »ein Experimentierfeld [erwiesen], in dem neue ästhetische Figurationen [...] in Form von ›neuen‹ Gesamt(kunst)werken [...] ausgelotet werden.«4 Weil insgesamt das Wie der Darstellung wichtiger geworden ist als das Was des Erzählten,5 ergeben sich entscheidende Folgen für den Rezeptionsprozess: Die neuen Serien sind zum Teil so anspruchsvoll und komplex erzählt, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer sogar zu »Amateur-Narratologen« werden müssen,6 um die einzelnen Folgen und plots verstehen zu können. Wenn also in deutschunterrichtlichen Curricula inzwischen auch die Einführung in filmisches Erzählen vorgesehen ist – dann liegt mit diesen seriellen Gestaltungen das geeignete filmästhetische Material vor, das sich sowohl für analytische Lernprozesse eignet als auch für die Fragen der Rezeptionsorientierung und -wirkung.7 Inzwischen liegen auch im deutschsprachigen Raum zahlreiche Deutungen dieser neuen amerikanischen Fernsehästhetik vor, die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen entstammen.8 In der vorliegenden Ausarbeitung soll
3
Umberto Eco: »Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien«, in: Ders.: Streit der Interpretationen [engl.: The Limits of Interpretation, Bloomington 1990], übers. v. Rolf Eichler, München 2005, S. 83-111, hier: S. 85.
4
Arno Meteling/Isabell Otto/Gabriele Schabacher: »Previously on...«, in: Dies. (Hg.): »Previously on...«. Zur Ästhetik der Zeitlichkeit neuerer TV-Serien, München 2010, S. 7-16, hier: S. 7.
5
Vgl. dazu den noch immer grundlegenden Aufsatz: Jason Mittell: »Narrative Komplexität im amerikanischen Gegenwartsfernsehen«, in: Frank Kelleter (Hg.): Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Berlin 2012, S. 97-122. Vgl. auch: Jason Mittell: Complex TV. The Poetics of Contemporary Television Storytelling, New York u.a. 2015.
6
Mittell: Narrative Komplexität, S. 119.
7
Vgl. z.B. als jüngere didaktische Publikation zu diesem Thema: Ingo Kammerer: »›Dachten Sie, ich hätte Sie vergessen?‹ House of Cards oder: die schöne Intrige«, in: Praxis Deutsch 44 (2017), H. 261, S. 48-53.
8
Vgl. z.B.: Meteling/Otto/Schabacher (Hg.): »Previously on...«. Christoph Dreher (Hg.): Autorenserien. Die Neuerfindung des Fernsehens. Auteur Series. The Reinvention of Television, Stuttgart 2010. Frank Kelleter (Hg.): Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Berlin 2012. Claudia Lillge/Dustin Breitenwischer/Jörn Glasenapp/Elisabeth K. Paefgen (Hg.): Die neue amerikanische Fernsehserie. Von Twin Peaks bis Mad Men, Paderborn 2014. Jörg Ahrens/Michael Cuntz/Lars Koch/Marcus Krause/Philipp Schulte (Hg.): The Wire. Analysen zur Kulturdiagnostik populärer Medien, Wiesbaden 2014.
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an diese Arbeiten angeknüpft werden, soll aber auch Frank Kelleters Forderung nach spezifischen »serienästhetischen Analysekriterien« deutlicher Beachtung finden.9 Dabei wird die vergleichende Gegenüberstellung der ersten Szenen dreier Serien genutzt, um den Blick auf spezifische Inszenierungsstrategien zu schärfen und serieneigene Charakteristika zu verdeutlichen. Die Konzentration auf die Anfänge begegnet gleichzeitig einem didaktischen Problem, das sich bei der außerordentlichen Länge dieser Erzählungen immer wieder stellt, weil die kurzen, aber konzentrierten openings eine gut begründete Reduktion ermöglichen auf wenige Sequenzen, denen gleichzeitig mit ihrer Präposition eine erhebliche Bedeutung und Aussagekraft zukommt. Schließlich richten sich die ersten Bilder sowie die Pilotfolge insgesamt besonders stark an das Publikum, das angesprochen werden soll, um zumindest der ersten Staffel und möglichst noch weiteren folgen zu wollen. Wie schon den eingangs zitierten Anfangssequenzen entnommen werden kann, arbeiten die Macher an diesen Stellen immer wieder mit special effects. Eine genauere Untersuchung der Sequenzen, die den credits vorangestellt sind, soll zum einen zeigen, welch unterschiedliche Informationen sich den »beginnings« 10 (nicht) entnehmen lassen, welche Darstellungsrisiken eingegangen und nicht zuletzt wie expressiv bzw. indirekt Figuren, Schauplätze und plots präsentiert werden. Kurz: Wie stark oder wie verhalten wird expositorisch gearbeitet?11 Insofern ermöglichen diese drei- bis fünfminütigen Kurzfilme
– Petra Anders/Michael Staiger (Hg.): Serialität in Literatur und Medien, Bd. 1. Theorie und Didaktik, Bd. 2, Modelle für den Deutschunterricht, Baltmannsweiler 2016. Die Reihe diaphanes booklet, die im Schweizer Diaphanes Verlag erscheint, »liefert nach, was in den DVD-Boxen fehlt: Lektüren« zu einzelnen Serien (so die tagline auf der letzten Seite jeder Ausgabe), und zwar u.a. zu THE SOPRANOS über SIX FEET UNDER
hin zu BREAKING BAD, das 2015 von der Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch
analysiert wurde. Inzwischen liegen Ausgaben zu vierzehn Serien vor (Stand am 21.2.2017). 9
Frank Kelleter: »Populäre Serialität. Eine Einführung«, in: Ders. (Hg.): Populäre Serialität, S. 11-46, hier: S. 23.
10 So der Titel eines Kapitels in Mittell: Complex TV, S. 55-85. 11 Der Begriff Exposition entstammt der Dramentheorie und erläutert, welche Informationen über die Figuren, den Gegenstand der Handlung sowie über – eventuell wichtige – Ereignisse der Vorgeschichte den ersten Szenen eines Dramas entnommen werden können. In Anlehnung an diese Definition wird Exposition im Rahmen der nachfolgenden Ausführungen allgemeiner verstanden, und zwar als Konstruktion des Beginns eines diegetischen Entwurfs, der mit den Erwartungen des Lesers/Zuschauers in besonderer Weise spielt. Die Ausweitung der Definition ist umso mehr gerechtfertigt, als
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eine Einführung in neue Formen des filmischen Erzählens und bieten das Material für einen intensiven Kompaktkurs, der die aus dem Literaturunterricht bekannten Fragen aufgreift, diese aktualisiert und sie wieder anbindbar macht an die Auseinandersetzung mit weiteren schriftlichen und filmischen Erzählungen und Dramen. Ausgewählt wurden die drei seriellen Projekte auch aus dem Grund, weil sie mit mehr oder weniger ›kalten‹ cold openings starten, also mit Szenen, die dem Vorspann vorgeschaltet sind. Diese Form der Eröffnung entstammt dem Genre der seriellen sitcom, die seit den 1960er Jahren häufig mit dieser Form des überraschenden Auftakts arbeitet.12 Wenn es für diese auf komische Effekte angelegte Form der seriellen Gestaltung naheliegt, mit einem Eklat zu beginnen, um unmittelbare Heiterkeitserfolge zu erzielen, so kann eine kalte Eröffnung für epische Serien andere Funktionen erfüllen. Auf die unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten sowie die damit verbundenen Aussagen soll zunächst allgemein und dann speziell mit Bezug auf die drei Serien eingegangen werden: mit einem eingehenden Blick auf die tatsächlichen ersten Szenen und mit einem Überblick über die Formen der Anfangsgestaltungen, wie sie für die nachfolgenden Episoden und Staffeln der jeweiligen Serie charakteristisch sind. Insgesamt geht es dabei auch um die Frage, wie die Mühen des Anfangens gemeistert und welche Akzente in den Anfangsszenen gesetzt werden.
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»Die Eröffnung ist eine Gefahrenzone für den Diskurs: das Einsetzen [...] ist ein schwieriger Akt: der Ausgang aus dem Schweigen. In Wirklichkeit gibt es keinen Grund, eher hier als dort zu beginnen, und dieses Gefühl der Unendlichkeit [...] ist [...] in allen Eröffnungsriten [...] anzutreffen.«13 Der französische Litera-
filmisch-serielles Erzählen zwischen Drama und Epik angesiedelt ist und Elemente beider Formen aufgreift und anverwandelt. Inzwischen werden sogar Bezüge zur Lyrik diskutiert; vgl. dazu: Sean O’Sullivan: »Broken on Purpose. Poetry, Serial Television, and the Season«, in: Storyworlds 2 (2010), S. 59-70. 12 Schleich/Nesselhauf: Fernsehserien, S. 109-110. 13 Roland Barthes: »Die strukturale Erzählanalyse«, in: Ders.: Das semiologische Abenteuer [frz.: L’aventure sémiologique, Paris 1985], übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt/M. 1988, S. 223-250, hier S. 237. Das Zitat ist gekürzt um die Passagen, die sich auf Sprache und Sprechen beziehen, weil davon ausgegangen wird, dass ein metapho-
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turtheoretiker Roland Barthes, von dem dieses Zitat stammt, hat sich in seinen ungewöhnlichen Arbeiten immer wieder mit Anfängen beschäftigt und diesen Passagen des Textes besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In einer detailgenauen, ja versessenen Analyse einer längeren Erzählung von Honoré de Balzac geht er intensiv auf den Titel sowie auf den ersten Satz des Textes ein, um festzustellen, dass in diesen wenigen Worten bereits die Basis für die gesamten nachfolgenden Ausführungen zu finden ist.14 Wichtig sei die Untersuchung von Erzähleröffnungen, weil »es hochinteressant [ist] zu wissen, welche impliziten Informationen in einem Anfang enthalten sind, da dieser Stelle des Diskurses keine Informationen vorausgehen.«15 Wenngleich Roland Barthes von schriftlichen Erzählungen spricht, lassen sich seine Beobachtungen ohne Probleme auf filmische oder filmserielle Erzählungen übertragen, weil für diese Werke dieselben Phänomene zutreffen.16 Gerade für serielle Unternehmen kommt dem Anfang eine besondere Rolle zu, weil sie durch die ihnen eigenen Episoden- und Staffel-Segmentierungen immer wieder neu anfangen müssen.17 Aufgrund der unvermeidlichen gaps bestehen Serien aus ununterbrochenen Anfängen. Die Zäsuren, die Serien von ihrer Konstruktion her eigen sind, führen zwangsläufig dazu, dass solche Übergänge in besonderer Weise markiert sind.18 Dabei macht
rischer Gebrauch dieser Begriffe vorliegt und dass Barthes’ Überlegungen auf alle Anfänge (des Erzählens) übertragbar sind. 14 Roland Barthes: S/Z [frz.: S/Z, Paris 1970], übers. v. Jürgen Hoch, Frankfurt/M. 1987, S. 23. 15 Barthes: Die strukturale Erzählanalyse, S. 237. [Herv. E.K.P.]. Vgl. auch: Roland Barthes: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.«, in: Ders.: Das Rauschen der Sprache [frz.: Le Bruissement de la langue, Essais critiques IV, Paris 1984], übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt/M. 2005, S. 307-320. 16 Vgl. die Ausgabe zum Thema »Anfänge und Enden« in Filmen von montage/AV 12 (2003) H. 2. 17 Sie müssen auch immer enden, aber das ist ein eigenes Untersuchungsunternehmen, das in diesem Zusammenhang mehr oder weniger ausgeklammert bleiben soll. Vgl. dazu: Vincent Fröhlich: Der Cliffhanger und die serielle Narration. Analyse einer transmedialen Erzähltechnik, Bielefeld 2015. 18 Vgl. dazu die Überlegungen von O’Sullivan: Broken on Purpose, 2010. Vgl. auch: Judith Lehmann: »›Good Morning, Cicely‹ – Serien-Anfänge, -Expositionen, -Ursprungsmythen«, in: Meteling/Otto/Schabacher (Hg.): »Previously on…«, S. 7594. Vgl. auch: Michael Staiger: »Anfang und Fortsetzung. Zur Funktion der Erzählanfänge in der Fernsehserie Game of Thrones«, in: Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek (2014), H. 1, S. 13-20. Dass sich die Rezeption
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es einen Unterschied, ob die Serien mit einem ›Was bisher geschah‹ arbeiten, ob die credits den Anfang bilden oder ob es ein unvermittelt einsetzendes cold opening gibt, das den Zuschauer in irgendeinen Teil des Erzählgeschehens hineinwirft und ihn ohne jede Einleitung in die jeweilige diegetische Welt entführt – man könnte auch sagen, um die Heftigkeit des Vorgangs zu unterstreichen – ›kidnappt‹! Serien machen mit ihrer jeweiligen Gestaltung des Eingangs unmittelbar sichtbar, wie stark sie auf den Effekt (und die Entlastung) der Wiederholung setzen bzw. wie sehr sie sich um überraschend-innovative Strategien bemühen. • Ein ›Was bisher geschah‹ oder previously on ist eine sanfte Einführung in die
neue Episode, weil sie den Zuschauer entlastet und ihm die Mühen des Erinnerns nimmt. Es bietet ein immer wieder neu komponiertes Potpourri von Versatzstücken lange oder gar schon länger zurückliegender Episoden und bereitet den Zuschauer darauf vor, dass es gerade diese Erzählteile sind, die in der neuen Folge eine Fortsetzung erfahren werden.19 • Vorspänne oder credits hingegen sind eine ritualisierte Form des Eingangs, die einen starken Wiedererkennungswert haben, v.a., wenn sie sowohl in der musikalischen als auch der bildlichen Gestaltung immer gleich bleiben und damit die Funktion eines zuverlässigen, vertrauten und bekannten Signals übernehmen: Hier beginnt etwas, das wir kennen, das uns zunächst einmal keine Überraschung bietet! Das gilt im Übrigen auch dann, wenn jede season mit einer neuen Gestaltung der credits aufwartet, weil es dann zumindest für die Folgen dieser Staffel die – ziemliche – Sicherheit dieses Anfangs gibt; das gilt auch, wenn innerhalb der Staffel eine Neuausrichtung des Vorspanns vorgenommen wird oder wenn leichte Veränderungen der credits eine intradiegetische Funktion für die jeweilige Folge übernehmen können, weil insgesamt der Stil ge-
von Serien in den DVD-Fassungen bzw. in streaming-Sendern inzwischen anders gestaltet, ändert nichts an der Tatsache, dass es eine markierte Pause gibt zwischen den Episoden und Staffeln, wenngleich diese kürzer ist als während der Ausstrahlung im Fernsehen bzw. von den Zuschauern selbst gestaltet werden kann. 19 »Die im jeweiligen previously on vorgenommene Selektion des Serienwissens ist nicht nur eine zusätzliche Hilfestellung oder Kompensation für Nicht-Erinnertes. Sie ist eine unverzichtbare Aktualisierung derjenigen Kontexte, die in der Episode, die dem previously on folgt, von Bedeutung sind und ohne die diese zum Teil nicht zu verstehen wäre. Zwar operiert das previously on mit bereits gesendetem Material, aber für den Zuschauer ist es in dieser Zusammenstellung und Montage ›neu‹ und gerade nicht ›redundant‹.« Meteling/Otto/Schabacher (Hg.): »Previously on...«, S. 8.
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wahrt und ein gleichbleibendes Ankommen in der Serie garantiert bleibt. Man könnte in diesem Zusammenhang überlegen, ob solche und andere Neugestaltungen der credits nicht auch ein Bestandteil des dem seriellen Erzählen innewohnenden Paradoxes ist, das darin besteht, »Reproduktion als Innovation zu betreiben.«20 Inwiefern credits nur eine paratextliche Funktion übernehmen oder doch indirekt Teil der erzählten Welt sein können, wäre eine weitere Untersuchung wert. • Ein cold opening hingegen wird als avancierteste Form der Anfangsgestaltung verstanden, weil es nicht nur die größte Bandbreite an Variationen bietet, sondern weil es mit Unvertrautem, Unbekanntem, Neuem arbeitet. Eine Szene, die mehr oder weniger ohne paratextliche Vorbereitung den Zuschauer übergangslos in die diegetische Welt entführt, arbeitet zielstrebig mit Überraschung und gerade nicht mit dem serieninhärenten Prinzip der Repetition. Zwar haben die vorhergehenden Episoden oder Staffeln schon Informationen geboten, zwar findet kein »gänzlicher Ausgang aus dem Schweigen« statt, aber es gibt gleichwohl – in der Regel – immer wieder eine ganz andere Information. Wenn man erneut das »dialektische Verhältnis von Wiederholung und Innovation«21 als Maßstab nimmt, so realisiert die Form des ›kalten Beginns‹ die Forderung nach Erneuerung besonders extrem. Während die anderen Anfänge in unterschiedlicher Form ›wiederholende Übergänge‹ sind, ist ein cold opening ein ›brutaler‹ Anfang, der so tut, als hätte es kein Ende gegeben. Die ›eiskalte Öffnung‹ akzentuiert den Bruch zwischen ›Diegese und Alltag‹ immer wieder mit neuen Effekten und in einer unendlichen Bandbreite von Variationen. Ein cold open mutet dem Publikum am meisten zu und nimmt es besonders ernst!22
20 Andreas Jahn-Sudmann/Frank Kelleter: »Die Dynamik serieller Übertreibung. Amerikanische Fernsehserien und das Konzept des Quality-TV«, in: Kelleter (Hg.): Populäre Serialität, S. 205-224, hier: S. 207. 21 Eco: Serialität, S. 96. 22 Dass dem Publikum immer mehr zugetraut werden kann, kann man auch daran sehen, dass in der Fernsehfassung von THE WIRE (2002-2008) noch mit previously on gearbeitet wurde, während BREAKING BAD (2008-2013) auf diese sanfte Einführung schon verzichten konnte.
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Sieben Thesen zu cold openings • Cold openings werden mit ihrer Prä-Position betont, hervorgehoben, markiert.
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Es sind keine normalen Szenen, die hier gezeigt werden, sondern ihnen kommt mit dieser Voranstellung eine besondere Bedeutung zu. Cold openings können so sehr für sich stehen, dass sie singuläre Ereignisse zeigen, die nicht mehr aufgegriffen werden im nachfolgend Erzählten. Cold openings können allegorisch für die Episode, für die Staffel oder sogar für die ganze Serie stehen. Cold openings sind besonders gut geeignet, um achronologisch zu erzählen, indem sie ein Ereignis zeigen, das in der Vergangenheit oder in der Zukunft angesiedelt ist. Cold openings können eng mit dem Ende der vorausgehenden Episode verbunden sein und als Scharnier zwischen den beiden, ja eigentlich getrennten Erzählteilen fungieren. Sie können aber auch mit dem Ende der Episode verbunden sein, die sie einleiten, sodass die Anfänge manchmal nicht ohne Enden zu haben sind. Cold openings können aus der formalen Gestaltung der übrigen Serie so radikal ausbrechen, dass sie auch auf der Darstellungsebene als Stück für sich stehen. Cold openings richten sich zwar an den Zuschauer, aber sie richten sich immer wieder anders an ihn, weil er mit dem Sehen jeder Episode herausgefordert wird, sich neu zu orientieren in der diegetischen Welt. Ihm wird zwar die Sicherheit des Anfangs geboten, gleichzeitig wird er immer wieder konfrontiert mit der Unsicherheit eines ›Wie fängt es dieses Mal an?‹ Eiskalte Eröffnungen nehmen den Zuschauer (besonders) ernst und muten ihm am meisten zu! Und besonders ernst nehmen sie ihn, wenn gleich zu Beginn des Unternehmens (eis)kalt gestartet wird und ohne jede weitere paratextliche Vorbereitung ins diegetische Geschehen hineingesprungen wird.
Dass sich gerade solche Eingangspassagen anbieten für deutschunterrichtliche Vermittlungsprozesse soll an drei Sequenzen genauer aufgezeigt werden, und zwar an solchen, mit denen die Erzählprojekte tatsächlich starten. Wenn dabei sowohl entlegenere als auch populär-bekannte Beispiele gewählt werden, so soll gerade die kontrastive Gegenüberstellung der unterschiedlichen Erzählstrategien genutzt werden, um die Wirkung der jeweiligen Darstellungsweisen deutlich zu machen.
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3. »P OTUS IN A BICYCLE ACCIDENT ?«: T HE W EST W ING (1999-2006) Ein rätselhafter Name und unverständige bzw. hastige Reaktionen auf ihn: So ließen sich die ersten vier Minuten von THE WEST WING zusammenfassen, die gerahmt werden von einer männlich-weiblichen Begegnung. Neben den ersten Blicken auf das Weiße Haus werden sechs weitere Schauplätze präsentiert: eine Bar, ein großbürgerliches Wohnhaus, das als einziges von außen und innen gezeigt wird, ein Fitnessstudio, ein Büro, die Kabine eines Flugzeugs und ein Schlafzimmer. Ganz unterschiedliche Orte werden mit den Gestalten in Verbindung gebracht, und diese locations erlauben keine sichere Zuordnung, weil alle und jedermann sich dort aufhalten könnten; wäre nicht die klischeebehaftete Postkartenaufnahme des nächtlichen Washington mit dem strahlend erleuchteten Regierungsgebäude in der Mitte. Sie gibt einen Hinweis auf den Regierungskontext. Wir erfahren auch, dass die Szenen zwischen fünf und sechs Uhr am Morgen spielen, dass man also früh auf den Beinen ist: beim Frühstück, beim Fitnesstraining, schlafend im Büro, in dem schon geputzt wird, kurz vor der Landung auf dem Washington Airport und unmittelbar nach dem morgendlichen Duschen. Dass demjenigen, der sich hinter dem Namen versteckt, einige Wichtigkeit zukommt, lässt sich vor allem der Tatsache entnehmen, dass die Nachricht über seinen Fahrradunfall sogar ins Cockpit eines Flugzeugs geschickt wird.23 Diese Nachricht wird erst in der fünften Szene bekannt gegeben, während zuvor kryptische Andeutungen gemacht werden, dass etwas Wichtiges passiert sein muss: Die junge Frau, die gerade noch geprahlt hat, dass sie durchaus persönliche Zeitzonen am Tag einbauen könne, gerät auf dem Laufband aus dem Takt und stolpert, während der im Büro Nächtigende hektisch zum Telefonhörer greift, nachdem beide auf ihre beeper geschaut und eine offensichtlich elektrisierende Nachricht empfangen haben. Bemerkenswert ist, dass der junge Mann nicht vom Geräusch des – sehr lauten – Staubsaugers wach wird, sondern erst vom – vergleichsweise leisen – des technischen Nachrichtengeräts: Damit sind die Prioritäten seiner – unbewussten – Wahrnehmung geklärt.
23 Ein Student vermutet denn auch in der Nachricht einen Geheimcode für einen ganz anderen Sachverhalt, der eben nicht öffentlich gemacht werden sollte.
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Abb. 1: Gleich reagiert jemand auf: »Potus in a bicycle accident«
Quelle: The West Wing, I:1, 0.02.20, Warner Home Video
Eingeführt werden in dieser Szene zwar auch die Figuren selbst, aber wesentlicher erscheint der abwesende Potus, und wesentlicher erscheint der wie immer konturierte Zusammenhang, in dem die Figuren mit ihm zu tun haben: Es gibt Zeichen von hoffnungsloser Überarbeitung, engem Zeitmanagement und es gibt Zeichen davon, dass die handelnden Figuren selbstbewusst, smart und redegewandt sind, ein Faktum, das auch für einige komische Effekte zuständig ist. Erst ganz am Ende dieses Anfangs wird die Verbindung zu dem Anfangsbild gezogen, wenn das rätselhafte Akronym aufgelöst und geklärt wird, dass Potus eine Kurzform ist für »President of the United States«.24 Es ist interessant, dass die Auflösung in einem sehr privaten, intimen Raum öffentlich gemacht wird: so als solle der Deckname doch eher geheim bleiben. Diesen Präsidenten bekommen wir in den opening scenes gar nicht zu sehen,25 und die auftretenden Figuren
24 Inzwischen ist diese Kurzform bekannt, aber zum damaligen Zeitpunkt war sie es offensichtlich noch nicht in einer vergleichbar breiten Form. 25 Das hängt allerdings auch damit zusammen, dass Martin Sheen, der den Präsidenten Josiah Bartelt spielt, ursprünglich nur eine Randfigur sein sollte, sich dann aber als so
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werden nur indirekt eingeführt, sie werden uns nicht vorgestellt. Über ihre Beziehungen zu Potus erfahren wir am Schluss, dass er ihr boss ist. Sie werden einzeln gezeigt, aber wir haben einige Gründe zu vermuten, dass es Potus ist, der die Gestalten verbindet. Allerdings wird diese Kurzform nur bei drei Figuren genannt, während die heftige Reaktion der Fitnessfrau und die hastige von Josh Lyman – der einzige übrigens, der Vor- und Nachnamen bekommt – nicht unmittelbar mit der ›Potus-Ursache‹ in Verbindung gebracht werden. Wir können nach diesem Anfang kaum vermuten, wer der Protagonist der nachfolgenden Geschichte sein wird bzw. ob es überhaupt einen geben wird. Das Figurentableau, das vor uns ausgebreitet wird, erlaubt Spekulationen, aber keine sichere Zuordnung. Es sagt viel über die Show, in der es zwar um einen fiktiven Präsidenten geht, in der aber die engsten Berater und Mitarbeiter des Präsidenten ebenfalls im Mittelpunkt stehen. Angedeutet wird auch der charakteristische Stil der Serie, die vor allem für ihre rasant-schnellen, intelligent-witzigen und sprachlich-elaborierten Dialoge bekannt geworden ist; aber auch dafür, dass sie ein gewisses Pathos nicht scheut und eine linksliberale Einstellung verbindet mit einem patriotischen Bekenntnis.26 Das deutet sich vielleicht an in der unmerklich lauter werdenden dramatischen Musik, die die anfängliche intradiegetisch unmerklich begründete ablöst, und die fast schon orgiastisch-erlösend anschwillt, wenn zum eigentlichen Beginn der Episode das im Portalboden eingelassene Emblem des Weißen Hauses gezeigt wird. Aber das gehört schon nicht mehr zum cold open und soll hier nur erwähnt werden, um zu zeigen, wie die Tonspur die Szenen verbindet und wie mit der ersten Einstellung der Episode wieder zurückgekehrt wird zu den ersten Einstellungen der Eröffnungssequenz: In dieser wird uns das Weiße Haus von außen bzw. von oben gezeigt, am Anfang der eigentlichen Folge sehen wir ein wichtiges Detail des Fußbodens, mit dem endlich in den wichtigsten Schauplatz der Serie eingeführt wird: in die Innenräume des Regierungssitzes der Vereinigten Staaten. Von der Anlage her handelt es sich bei dieser Sequenz um ein cold opening, weil wir unvorbereitet und ohne genauere Kenntnisse mit unterschiedlichen Schauplätzen sowie mit Figuren und deren augenblicklichen Problemen konfrontiert werden. Wir werden in jeder Beziehung mitten in das Geschehen hineinge-
»unentbehrlich« erwies, dass er eines der Zentren der Serie wurde. Vgl. dazu: Simon Rothöhler: The West Wing, Zürich 2012, S. 54. 26 Melanie Lörke spricht von einem »fröhliche[n] Nationalismus«: Melanie Lörke: »›What’s next?‹ The West Wing als positive Gegenwelt«, in: Lillge/Breitenwischer/Glasenapp/Paefgen (Hg.): Neue amerikanische Fernsehserie, S. 229-252, hier: S. 240.
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worfen, in die Dialoge und Tätigkeiten der Protagonisten, in denen es um mehr oder weniger wichtige Angelegenheiten geht, die wir gar nicht oder nur in Ansätzen verstehen können. Wenn dieser Anfang trotzdem nicht als kaltes cold opening akzeptiert wird, dann vor allem wegen der kurzen Einblendung des Titels sowie des Fahnen-Logos der Serie ganz zu Beginn. Damit wird eine Angabe dieser ersten Szene vorausgeschickt, die bei einem echten kalten Anfang fehlt, weil paratextliche Informationen in diesem gar nicht gemacht werden.27 Außerdem wird der Ort der Handlung doch unmissverständlich präsentiert, sodass wir zumindest wissen, in welchem Umkreis die unvermittelt eingeführten Figuren einzuordnen sind. Insofern hat THE WEST WING innerhalb des hier zusammengestellten Korpus die Funktion, sowohl die überraschenden Momente zu veranschaulichen als auch die traditionellen, die für die Gestaltung solcher Eröffnungen genutzt werden; und wenn diese fünf Minuten Film vielleicht etwas intellektuell und sperrig anmuten, so ist das bei der nachfolgenden filmischen Eingangssequenz ganz anders.
4. »M Y NAME IS W ALTER H ARTWELL W HITE «: B REAKING B AD (2008-2013) Die ersten Bilder von BREAKING BAD deuten den Ort der Handlung an: Pflanzen und Licht weisen auf eine Wüstenlandschaft hin. Die Künstlichkeit der Inszenierung wird betont, wenn da eine Hose durch die Luft fliegt, ohne dass gezeigt wird, wie es zu deren Flug kommt. Weil nicht gesprochen wird, wirkt der in einer Kombination von Unterhose und Gasmaske mehr als eigentümlich bekleidete wild durch die Wüste rasende Fahrer eines riesigen Wohnwagens noch wahnwitziger; auf dem Beifahrersitz befindet sich eine weitere männliche Person, ebenfalls mit einer Gasmaske ausgerüstet und offensichtlich ohnmächtig. In einer totalen Aufnahme sehen wir das Fahrzeug auf einer Sandstraße unter grellblauem Himmel dahinfahren, bis sein Fahrer es in ein Gebüsch steuert und zum Halten bringt. Er flüchtet ins Freie, nimmt die Maske ab und schnappt nach Luft. Als weit hinten eine Sirene ertönt, ist der Mann alarmiert, wirft sich ein grünes Hemd über, steigt mit angehaltener Luft in den Wagen, entwendet einer dort liegenden Leiche eine Pistole und holt aus dem Handschuhfach eine Videokame-
27 Und gerade dieser Paratext wird dann für die eigentliche Serie ausgestaltet und mit den Klängen dramatischer Trommeltöne unterlegt: Eine grafische Andeutung der amerikanischen Flagge weht in Großaufnahme ziemlich pathetisch vor dem Weißen Haus im Hintergrund.
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ra und sein Portemonnaie. Die Pistole steckt hinten in seiner Unterhose, wenn er in die Kamera spricht und aufgeregt, aber artig seinen vollständigen Namen wie auch seine genaue Wohnadresse nennt. Er betont, dass es sich bei dem Folgenden nicht um ein Schuldgeständnis handle, deutet aber an, dass einige komische Dinge über ihn ans Tageslicht kommen könnten. Dann richtet er eine pathetische Liebeserklärung an seine Frau und seinen Sohn. Die verwackelten Bilder der dilettantischen Videoaufnahme sorgen für einen Mise-en-abyme-Effekt und schaffen eine gewisse Distanz zu dem Redenden und dem Family-Pathos, das mit seinen Worten verbunden ist. Gebrochen wird die Ernsthaftigkeit der Szene auch durch die immer noch unvollständige Bekleidung des Protagonisten, der – nachdem er seine Ausweispapiere demonstrativ neben die Kamera gelegt hat – auf die Straße geht und in Manier eines Westernhelden mit gezückter Pistole auf den näherkommenden Feind wartet. Unvermittelt setzt der kurze Vorspann ein, die Szene endet mit einem cliffhanger und lässt den Zuschauer im Ungewissen darüber, wer da kommt und warum.28 Abb. 2: Eine zweigeteilte Persönlichkeit
Quelle: Breaking Bad, I:1, 0.01.37, Sony Pictures Home Entertainment
Wir haben es in diesem eiskalten cold opening mit einer Mischung von existenzieller Gefährdung und überraschender Komik zu tun: Es geht ums Ganze, aber dieses Ganze wird immer wieder gebrochen durch grotesk überzeichnete Einla28 Vgl. auch die Analyse dieser Szene in Gertrud Koch: Breaking Bad, Zürich 2015, S. 23-28.
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gen, die nicht passen zu den tödlichen Bedrohungen. Zahlreiche aufeinander stoßende Kontraste erzeugen die Inkongruenzkomik der Szene: die abgelegeneinsame Landschaft und die rasante Hektik im Fahrstil eines riesigen Wohnmobils; eine ungewöhnliche Bekleidung, die überhaupt nicht eingeordnet werden kann, und bekannte Attribute des Alltagslebens wie Portemonnaie mit Kreditkarten und Ausweisen; die Bekleidung und die braven Angaben zur Person, die eine sichere namentliche Identifizierung des Protagonisten ermöglichen; und nicht zuletzt die leichte Bekleidung und die todbringende Waffe. Wie wichtig die ungewöhnliche Kostümierung der Hauptfigur ist, wird einmal mehr an dieser Gegenüberstellung deutlich. Wäre der Mann nach gängigen Vorstellungen bekleidet, wäre dieses cold opening vielleicht auch noch überraschend und ungewöhnlich, aber nicht so komisch. Wir können auch keine Genrezuordnung treffen, sodass unsere Vermutungen über die mögliche Geschichte, die nach diesem Eingang folgt, vage und unsicher bleiben. Zwar erfahren wir von dem Protagonisten seinen Namen und seinen Familienstand, bleiben aber im Ungewissen darüber, wie diese bürgerlichen Bestandteile zusammenpassen wollen mit unvollständiger Kleidung, Gasmasken, giftig-gefährlichen Dämpfen, einer Pistole, möglichen Leichen und einem alten Wohnwagen, der in der Wüste auch nicht am richtig-gewohnten Platz ist. Auch dieser Anfang ist kennzeichnend für das gesamte Erzählunternehmen von BREAKING BAD, in dessen Mittelpunkt zweifelsohne Walter White steht, der vom harmlosen Highschool-Chemielehrer zum Drogenfabrikanten wird. Dass es sich bei diesem Protagonisten um einen facettenreichen Helden handelt, wird bereits im opening deutlich, wenn wir den Wandel vom risikobereiten Wagenlenker zu einem Mann sehen, der angestrengt bemüht ist, seiner Familie gegenüber den Schein zu wahren und für seinen guten (Nach-)Ruf zu sorgen. Das zeigt sich auch daran, dass er sich für seine Videoinszenierung das grüne Alltagshemd überwirft und so zumindest oben herum normal aussieht. Die abgelegene Wüstenlandschaft ist zwar nicht der einzige Schauplatz der Serie, aber in ihr spielen immer wieder entscheidende Szenen, nicht selten von ähnlicher Dramatik wie bei diesem rasanten Beginn. Auch die Tatsache, dass Bilder im Vordergrund stehen und Dialoge fehlen, lässt sich auf die gesamte Serie übertragen, die mit einem eigenwilligen und experimentierfreudigen filmischen Stil arbeitet. Und die Form der Inkongruenzkomik, die fast immer in der Nähe zu einem tödlichen Abgrund angesiedelt ist, bleibt für BREAKING BAD bis zu ihrem Ende hin konstitutiv. Deutlich wird übrigens beim Beginn der eigentlichen Episode, die nach dem sehr kurzen Vorspann mit dem insert »Five weeks earlier« beginnt, dass es sich bei diesem Anfang um eine Prolepse handelt, die erst zum Ende der ersten Episode ihre Auflösung erfährt. Mit solchen prolepti-
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schen Einlagen wird in der Serie des Öfteren gearbeitet, sodass dieser Anfang sowohl inhaltlich als auch stilistisch ein charakteristisch treffender eiskalter Auftakt ist.
5. »T HIS A MERICA , M AN «: T HE W IRE (2002-2007) THE WIRE beginnt mit einem wire, einer blinkenden Blutspur, die uns zu einer Leiche führt. Wir sehen sie von hinten, können nur eine unförmige Jacke erkennen. Es ist auf jeden Fall dunkel, abends oder gar spät in der Nacht. Dann sehen wir eine mit einem Plastikhandschuh bekleidete Hand, die Kugeln aufsammelt und sie in eine Plastiktüte legt. Bevor wir dann den Polizisten mit Gesicht und Uniform zu sehen bekommen, wird uns eine Gruppe von drei – ziemlich kleinen – afro-amerikanischen Kindern gezeigt, die offensichtlich trotz der Dunkelheit noch auf der Straße sind. Der Blick auf den schreibenden cop wird begleitet von dem Dialog zwischen einem Mann im mittleren Alter und einem Jugendlichen; beide sitzen nebeneinander und schauen auf den Ort des Verbrechens: der Ältere ist weiß und mit einer Lederjacke bekleidet, der Jüngere afro-amerikanischer Herkunft und mit Mütze und Jacke im selben Stil angezogen wie der Tote auf der Straße. Der Erwachsene sinnt über den street name des Toten – Snotboogie – nach. Detailaufnahmen der beiden Gesichter werden gezeigt, als es um den möglichen Mörder von Snotboogie geht bzw. darum, dass der junge Mann nicht vor Gericht aussagen will. Der nächste shot zeigt uns die beiden in der Totale, auf einer Treppenstufe sitzend, in leichter Untersicht vor einem mit Brettern zugenagelten Haus. Es folgt der entscheidende Part des Gesprächs, in dem der Junge erzählt, dass er und seine Freunde sich jeden Freitagabend zum Würfelspiel hinter einem Hotel treffen und dass der Tote es nicht lassen konnte, jedes Mal zu versuchen, das Geld zu stehlen, das sich durch das Wettspiel angesammelt hatte; aber man habe ihn immer nur verprügelt, mehr habe man nie getan. Auf die erstaunte Frage des Erwachsenen, warum man denn Snotboogie stets habe mitspielen lassen, auch wenn man wusste, dass er am Ende versuchen würde, mit dem Geld davonzulaufen, antwortet der Jugendliche lakonisch: »Got to. This America, Man.«29 Und erst wenn der Junge diese Antwort gegeben hat, die den Erwachsenen verstummen lässt, sehen wir das Gesicht des – afroamerikanischen – Toten, so scharf fokussiert, dass wir ihn erkennen können.
29 Daniel Eschkötter weist darauf hin, dass es sich bei diesem Dialog um ein Zitat aus David Simons Buch »Homicide« handelt. Daniel Eschkötter: The Wire, Zürich 2012, S. 69.
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Abb. 3: Der Tote bekommt einen Namen und eine Geschichte
Quelle: The Wire, I:1, 0.02.47, Warner Home Video
Das ist der vorletzte shot des openings: der Blick auf das Gesicht des Toten, der in diesen wenigen Filmminuten mehr Identität bekommt als die lebenden Figuren. Auf jeden Fall bekommt er einen Namen, einen bürgerlichen und einen street name, während wir die Namen der beiden Redenden nicht erfahren. Aus diesem Grund ist eine Wiedergabe der Szene wie diese nicht ganz korrekt: »A cop and a drug dealer are sitting on a stoop in front of a boarded-up vacant, talking about a murdered man on the street before them. [...] The cop, Jimmy Mc Nulty, contemplates the body on the ground.«30 Dieser Kommentar, der aus der Sicht desjenigen verfasst ist, der die Serie kennt, wird dem cold open nicht gerecht, weil er sich weder auf den Inhalt noch die Gestaltung der Szene einlässt und schon gar nicht die Perspektive des Erstsehers berücksichtigt, der all das nicht wissen kann und auch nicht erfährt, wenn er The Target – so der Titel der ersten Episode – schaut. Weder erfährt er sicher, dass es sich bei dem Lederja30 Courtney W. Marshall/Tiffany Potter: »I am the American Dream. Modern Urban Tragedy and the Borders of Fiction«, in: Tiffany Potter/Courtney W. Marshall (Hg.): The Wire. Urban Decacy and American Television, New York 2009, S. 1-14, hier S. 1.
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ckenträger um einen cop handelt,31 noch ist zweifelsfrei geklärt, dass der Junge ein drug dealer ist,32 noch wird der Name Jimmy McNulty erwähnt. Wenn man unvoreingenommen schaut, können dieser kleinen Szene ganz andere aussagekräftige Details entnommen werden: Das erste Bild zeigt Blut, ein Zeichen, das in seiner gleichermaßen ikonischen, indexalischen wie auch symbolischen Verweisfunktion äußerst bedeutungsträchtig ist und das zu vielfältigen Auslegungen einlädt,33 die nicht auf einen glücklichen Kontext hindeuten. Das Blut führt zu der Leiche, die im Mittelpunkt der nachfolgenden Handlung steht. Wir haben somit einige Anhaltspunkte, dass wir in eine cop show eingeführt werden; gleichwohl ist der Dialog zwischen dem erwachsenen Mann und dem Jugendlichen ungewöhnlich, weil nur der Anfang der Verhörtradition folgt, sich dann ein fast gleichberechtigtes Gespräch entwickelt. Die beiden sitzen nebeneinander auf den Stufen eines Hauses; eine hierarchische Abstufung ist nicht erkennbar. Die Kamera bemüht sich um Gleichbehandlung der beiden Sprechenden sowohl in der Dauer der Großaufnahmen als auch in der Präsentation der beiden Gestalten überhaupt. Die Redeanteile der beiden sind gleich, vielleicht erhält der Freund des Erschossenen sogar Gelegenheit, noch ausführlicher zu reden. Er spricht im Übrigen in seiner Sprache, die – dialektal und soziolektal eingefärbt – einige »Dekodierungsanforderungen an die Zuschauerschaft« stellt.34 Der Erwachsene lässt sich auf die Geschichte ein, fragt neugierig nach und ist auch an Nebensächlichkeiten interessiert.35 Festhalten kann man auch, dass nur er und der Poli-
31 So äußerte einer meiner Studenten in einem Seminar, in dem wir die Szene ausführlicher analysierten, dass der Mann in der Lederjacke fast die Manieren eines Sozialarbeiters an den Tag lege. Er kannte die Serie nicht und hatte die Eingangsszene zum ersten Mal gesehen, ohne jede Einleitung und Einführung. 32 Diese Zuschreibung, die hier ohne jede zweifelnde Einschränkung erfolgt, ist vorurteilsbeladen und geht an der spezifischen Darstellungsweise, mit der in THE WIRE gerade versucht wird, solche sicheren Urteile zu hinterfragen, vorbei. 33 Diesen Hinweis verdanke ich Sylvia Mieszkowski, die während eines kleinen Workshops zu THE WIRE Anfang November 2013 an der Universität Zürich auf diesen semiotischen Kontext aufmerksam machte. 34 Eschkötter: The Wire, S. 11. 35 Über dieses Gespräch habe ich viele kontroverse Seminardiskussionen geführt; einige Studierende beharrten darauf, dass die Machtverhältnisse von Anfang an klar seien und dass mit dem gut aussehenden weißen Mann und dem Jungen in der wattierten Jacke Klischees bedient würden. Andere hingegen betonten die Ambivalenz der Beziehung zwischen dem Mann und dem Jugendlichen; ersterer verhielte sich fast väterlich dem Jüngeren gegenüber und sei keineswegs als klarer Vertreter der Polizei zu
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zist weiß sind, dass aber alle (lebenden und toten) Kinder und Jugendlichen in dieser Sequenz afro-amerikanischer Herkunft sind; auch das ist eine Aussage über den Schauplatz, der sowieso nur sehr indirekt eingeführt wird: ein toter Jugendlicher freitagnachts auf der Straße; zugenagelte Häuser und Kinder im Dunkeln noch alleine in der Öffentlichkeit. Einen richtigen establishing shot, der uns ein Gesamtbild der Szenerie zeigte, gibt es nicht; wir bekommen immer nur Ausschnitte zu sehen und müssen die Puzzleteile zusammensetzen, um ein Gesamtbild zu erhalten. Wenngleich wir also zum Ende des openings nicht wissen, wo wir genau sind, wissen wir nach der letzten Aussage des jungen Mannes immerhin, dass wir in Amerika sind. Mit dem lakonischen Kommentar des »This America« wird gleichzeitig die eigenwillige Komik der Serie vorgestellt, die zustande kommt durch den Blick des Jugendlichen auf seine Welt. Wenn man die Serie allerdings bis zum Ende gesehen hat, dann trägt dieser Beginn schon die Handlung um die Drogenszene in Baltimore mit ihren vielen gewaltsam Getöteten und mit den (vergeblichen) Versuchen der Polizei, diese Verbrechen einzudämmen oder gar zu beenden.36 Auch die eigenwillige Aufklärungsmethode, die angewendet wird, um den Täter dingfest zu machen,37 ist kennzeichnend für die Arbeitsweise der Polizisten, die z.T. selbst kriminell werden müssen, um überhaupt erfolgreich arbeiten zu können. Und die Tatsache, dass die Mehrheit des Schauspielerensembles in THE WIRE afro-amerikanischer Herkunft ist – wie auch die Mehrheit der Einwohner Baltimores –, wird schon im beginning deutlich. Stilistisch ist es ebenfalls ein gelungener Auftakt, weil in der Serie immer wieder mit ungewöhnlichen Figurenpräsentationen gearbeitet wird, mit zahlreichen elliptischen Sprüngen wie auch damit, dass zahlreiche (wichtige) Szenen auf den Straßen und Plätzen Baltimores stattfinden, also in der
erkennen. – Meine Analyse der Szene kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Inszenierung des openings in jeder Beziehung um Gleichbehandlung der beiden Redenden bemüht, dass aber das Weltwissen der Rezipienten so dominant ist, dass diese filmischen Anstrengungen nicht wahrgenommen werden können; d.h. dass die Vorurteile der Zuschauer die Bilder überlagern und es letztere schwer haben, dagegen anzukommen. 36 Es ist interessant, dass ein Student nach dem ersten Sehen schon bemerken konnte, dass auf der Uniform des Polizisten der Name der Stadt Baltimore zu erkennen sei. Ich hatte die Szene bis zu dem Zeitpunkt schon unzählige Male gesehen, dieses Detail aber nicht bemerkt. 37 Lakonisch teilt der Lederjackenmensch seinem Kollegen in der ersten Szene nach dem Vorspann mit, dass er den Jungen mit Zigaretten und Softdrinks bestechen konnte und er sich daraufhin dann doch bereit erklärt habe, vor Gericht auszusagen.
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Stadtöffentlichkeit. Nach Kenntnis des Ganzen passt der Anfang, aber als purer Anfang erzeugt er eher Befremden als eine Ahnung davon, wovon die Serie handelt.38
6. (C OLD )
ENDING
Mit cold openings wird das Anfangen nicht neu erfunden, aber es können neue Gestaltungsmöglichkeiten ausprobiert werden für diesen Übergang zwischen der Welt des Alltags und der Diegese. Cold openings akzentuieren das Beginnen neu, fordern die Aufmerksamkeit des Zuschauers ein und betonen die Wirklichkeit des Fiktiven. Es stellen sich bisher drei Momente heraus, die für die Analyse dieser und zukünftiger Anfänge eine Rolle spielen können: An erster Stelle sollte das Moment der Komik genannt werden, das keinesfalls selbstverständlich ist für den Start in eine fiktionale Welt. Aber komische Passagen fallen in den cold openings auf; sie stehen vielleicht damit im Zusammenhang, dass diese Form des Beginnens den auf komische Effekte ausgerichteten sitcoms entstammt. Allerdings unterscheiden sich die komischen Gestaltungen der ausgewählten drei Beispiele erheblich und erfüllen unterschiedliche Funktionen: In THE WEST WING sind es vor allem die Dialoge, die Witz anklingen lassen und die einen besserwisserischen Gestus erkennen lassen; ist es die Vermischung von politischen Fragen mit Flirtinteressen; ist es die slapstickEinlage auf dem Laufband, die kontrastiert zu der Aussage, die gerade getätigt wurde; ist es vielleicht auch der Gegensatz am Ende, wenn nach der ersten Nacht eines Paares am anderen Morgen der Präsident der Vereinigten Staaten indirekt im Schlafzimmer anwesend ist. In THE WIRE kann man tragikomische Tendenzen feststellen, weil Tod und Leben zu unmittelbar aufeinanderprallen, während die Komikkonstruktion in BREAKING BAD mit einer grotesken Übertreibung zu tun hat, weil zu viele ungewöhnliche Elemente kombiniert werden, die man in dieser Zusammenstellung noch nicht gesehen hat. Komik wirkt wie ein Scharnier zwischen den eigentlich ja sehr getrennten Bezirken des Alltags und der Diegese, erleichtert das Eintreten wie auch das Verweilen. Das fällt besonders bei THE WIRE auf, wenn die Tragik an ihrem Ende gebrochen wird und eine überraschende punch line Snotboogies Leben und Sterben in einen fast schon (amerikanisch-)mythischen Kontext rückt.
38 Studierende vermuteten z.B., dass in der nachfolgenden Handlung der Fall des toten Jungen im Mittelpunkt stehen werde bzw. dass der junge Mann, der da so ausführlich zu Wort kommt, eine wichtige Rolle einnehme; beides ist nicht der Fall.
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Bei aller Bereitschaft zum Experiment zeigt ein Blick in die Eröffnungen nämlich auch eine gewisse Treue zum Althergebrachten: Charaktere werden häufig mit ihrer namentlichen Identität vorgestellt. Insbesondere der Beginn von BREAKING BAD folgt diesem Prinzip, wenn unvermittelt aus einer wilden, unüberschaubaren Aufregung übergewechselt wird in ein konventionelles Vorstellungsritual: Da wird Neues mit Altem gemischt, da wird das Wagnis des radikalen Nichtwissens und Nichtverstehens abgefedert und gemildert: Es handelt sich bei diesem halbnackten Gasmaskenträger immerhin um eine Gestalt mit einer bürgerlichen Identität, einem festen Wohnsitz, einer Familie und Ausweispapieren. Aber die namentliche Identifizierung führt nicht zu einer Klärung des Durcheinanders, sondern zu einer Steigerung der Verwirrung, sodass diese überkorrekten Angaben fast schon wieder ironisch wirken. Dass ein Verzicht auf Namen nicht zur totalen Desorientierung führen muss, zeigt sich am Beispiel von THE WIRE. Dass wir den Namen des Mannes in der Lederjacke nicht kennen,39 stört eigentlich nicht und lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den eigentlichen Helden des openings: den Toten. Der gewaltsame Tod eines Jugendlichen steht im Mittelpunkt dieses Anfangs und die lapidar-banalen Gründe, die zu diesem Mord geführt haben. Diese Ereignisse haben auch eine expositorische Funktion, aber nur eine indirekte: So deutet die Geschichte von den regelmäßigen Würfelspielen am Freitagabend im Hinterhof eines Hotels auf ein Leben auf der Straße hin, und dass ein solches Leben nicht ungefährlich ist, wird durch die Leiche des jungen Mannes bestätigt. Bei THE WEST WING spielt ein Name eine wichtige Rolle; damit wird ein Abwesender vorgestellt, der einem Teil des Publikums bekannt sein dürfte, dessen endgültige Identität aber erst am Ende sicher geklärt wird. Die anderen Figuren werden uns nur in Andeutungen präsentiert: als womanizer; als pingelig und genau; als strukturiert und organisiert; als sympathischer Wirrkopf und als intelligenter Alleswisser. Genaue Namen und Funktionsbezeichnungen spielen nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle. Der Regierungszusammenhang ist durch die ersten Einstellungen markiert, wird aber im Folgenden immer nur indirekt aufgerufen und verlangt vom Zuschauer die Füllung von Leerstellen. Was für die (namentliche) Einführung der Charaktere gilt, gilt auch für die (namentliche) Vorstellung der Schauplätze. Auch diese erfolgt in unterschiedlicher Deutlichkeit und kann im hier diskutierten Zusammenhang als weiteres Indiz genannt werden für die Experimentierfreudigkeit der jeweiligen Eingangs-
39 Wir erfahren ihn im Übrigen auch erst in der 17. Filmminute; und der jugendliche Gesprächspartner, der eine so exponierte Rolle in diesen drei Minuten spielt, kommt in der gesamten Serie nie wieder vor.
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sequenzen: Vom Weißen Haus über Wüstenpflanzen und grellblauen Himmel hin zu einer Blutspur und zugenagelten Häusern. Washington und der Regierungssitz der Vereinigten Staaten werden in THE WEST WING als Schauplatz deutlich aufgerufen, aber die im Detail gezeigten Orte wollen nicht recht zu diesem setting passen. Vom Hauptschauplatz über Nebenschauplätze wieder hin zum Hauptschauplatz – so könnte man die örtliche Einführung bezeichnen. Sowohl in THE WEST WING als auch in BREAKING BAD übernehmen Bilder die Ortsbezeichnung, wobei die Wüstenlandschaft wesentlich ausführlicher und exponierter in Szene gesetzt wird. Dass diese weiten Sandflächen und der knallblaue Himmel in BREAKING BAD eine größere Rolle spielen werden, kann man nach den ersten Einstellungen berechtigterweise vermuten. Dass diese Region dann sogar noch einen Namen bekommt, steigert ihre Bedeutung: Walter White nennt bei seiner Videoaufzeichnung sowohl den Namen seines Wohnorts – Albuquerque – als auch den des Bundesstaats – New Mexico –, womit die Wüstenandeutungen der Anfangssequenz einen Stadt- und Staatsnamen bekommen. Sogar die genaue Wohnadresse mit Haus- und Codenummer wird ordentlich angegeben.40 Bei THE WIRE hingegen ist die Genrezuordnung ziemlich schnell klar; allerdings werden uns die (lebenden) Protagonisten so gut wie gar nicht vorgestellt und auch der (genaue) Ort bleibt unklar: Von Baltimore ist nicht die Rede, obwohl diese Stadt ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Mitspieler in der Serie ist.41 Die knapp drei Minuten dieses cold openings demonstrieren gleichzeitig, was in wenigen Filmsequenzen gezeigt werden kann, wenn doch so viel verschwiegen wird: Wenngleich uns der Name des Ortes nicht genannt wird, wissen wir, dass es sich um ein soziales Krisengebiet handelt, in dem tödliche Konflikte auf den Straßen ausgetragen werden. Lernen können die Schülerinnen und Schüler viel, wenn sie diese ca. fünfzehn Minuten Film genauer betrachten. Sie werden sensibilisiert für die Besonderheit der Anfangssequenzen, sowohl in seriellen, aber auch in filmischen, dramatischen oder epischen Gestaltungen, die nach anderen, aber vergleichbaren
40 Ein Student merkte an, dass mit der Nennung dieser Adresse ein weiterer wichtiger Schauplatz der Serie aufgerufen werde, derjenige nämlich, an dem sich Walts (klein)bürgerliches Leben abspiele und an dem er die ganze Zeit über versuche, so normal wie eben möglich weiterzuleben. Der Wüsten-Schauplatz hingegen, den wir im opening sehen, sei repräsentativ für die Breaking-bad-Seite von Walter Whites Existenz. 41 Vgl. dazu: Elisabeth K. Paefgen: »There are no second acts in American lives. The Wire«, in: Lillge/Breitenwischer/Glasenapp/Paefgen (Hg.): Neue amerikanische Fernsehserie, S. 151-180, hier S. 151-155.
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Gesetzen funktionieren; und sie werden eingeführt in moderne filmische Ästhetiken, die zwischen Tradition und Innovation schwanken und die intellektuelle Herausforderungen mit Unterhaltungspotenzial mischen. Dass die populäre und auch von Jugendlichen intensiv rezipierte Serie BREAKING BAD kontrastiert wird mit zwei unbekannteren und sperriger gestalteten Serien, nutzt die spannend und komisch gestaltete Geschichte um Walter White, um auf die differenten filmischen Inszenierungen und deren Wirkungen aufmerksam zu machen. Gerade im Vergleich mit den beiden anderen Anfängen wird deutlich, dass der so frech und forsch daherkommende, halbnackte Chemielehrer mit den Erwartungen an eine Exposition spielt, ihnen ein wenig gehorcht, um sie gleichzeitig wieder zu unterlaufen und sie zu durchbrechen.
L ITERATUR
UND
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Literatur Ahrens, Jörg/Cuntz, Michael/Koch, Lars/Krause, Marcus/Schulte, Philipp (Hg.): The Wire. Analysen zur Kulturdiagnostik populärer Medien, Wiesbaden 2014, doi: http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658-01240-3 Anders, Petra/Staiger, Michael (Hg.): Serialität in Literatur und Medien, Bd. 1. Theorie und Didaktik, Bd. 2, Modelle für den Deutschunterricht, Baltmannsweiler 2016. Barthes, Roland: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.«, in: Ders.: Das Rauschen der Sprache [frz.: Le Bruissement de la langue, Essays critiques IV, Paris 1984], übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt am Main 2005, S. 307320. Ders.: »Die strukturale Erzählanalyse«, in: Ders.: Das semiologische Abenteuer [frz.: L’aventure sémiologique, Paris 1985], übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1988, S. 223-250. Ders.: S/Z [frz.: S/Z, Paris 1970], übers. v. Jürgen Hoch, Frankfurt am Main 1987. Dreher, Christoph (Hg.): Autorenserien. Die Neuerfindung des Fernsehens. Auteur Series. The Re-invention of Television, Stuttgart 2010. Eco, Umberto: »Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien«, in: Ders.: Streit der Interpretationen [engl.: The Limits of Interpretation, Bloomington 1990], übers. v. Rolf Eichler, München 2005, S. 83-111. Eschkötter, Daniel: The Wire, Zürich 2012.
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O’Sullivan, Sean: »Broken on Purpose. Poetry, Serial Television, and the Season«, in: Storyworlds 2 (2010), S. 59-70. Paefgen, Elisabeth K.: »There are no second acts in American lives. The Wire«, in: Claudia Lillge/Dustin Breitenwischer/Jörn Glasenapp/Elisabeth K. Paefgen (Hg.): Die neue amerikanische Fernsehserie. Von Twin Peaks bis Mad Men, Paderborn 2014, S. 151-180. Rothöhler, Simon: The West Wing, Zürich 2012. Schleich, Markus/Nesselhauf, Jonas: Fernsehserien. Geschichte, Theorie, Narration, Tübingen 2016. Staiger, Michael: »Anfang und Fortsetzung. Zur Funktion der Erzählanfänge in der Fernsehserie Game of Thrones«, in: Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek (2014) H. 1, S. 13-20. Filme/Serien BREAKING BAD, 5 Staffeln (USA 2008-2013, AMC) THE WEST WING, 7 Staffeln (USA 1999-2006, NBC) THE WIRE, 5 Staffeln (USA 2002-2008, HBO)
Bilder in Geschichtskultur und -unterricht
Geeignet oder ungeeignet? Bilder in aktuellen Schulbüchern für den Geschichtsunterricht B ERNHARD J USSEN
1. H ISTORISCHES D ENKEN ALS POLITISCHES D ENKEN NACH DEM E NDE DES K ALTEN K RIEGS Anfang 2017 hat Michael Thumann, der außenpolitische Korrespondent der Wochenzeitschrift DIE ZEIT, die 54. Münchener Sicherheitskonferenz kommentiert. Besonders auf die Rede des russischen Außenministers Sergej Lawrow hat er sich konzentriert, denn die Rede hat wider aller Erwartung nicht provoziert, sondern nur lustlos Statements aufgezählt, die der Korrespondent und die Redaktion der Wochenzeitung längst selbst verbreiten: »Die Nato sei eine Institution des Kalten Krieges – das habe ich schon mal gehört; das Ende der westlich-liberalen Dominanz der Welt sei da – das schreiben wir in der ZEIT selbst. Es komme eine ›gerechtere‹, postwestliche Ordnung. Hätte er das ›gerecht‹ weggelassen, hätte ich sogar genickt. Kein Schocker, keine Dreistigkeit.«1
Kein Dissens also in der Sache – die ZEIT schreibt es schon lange. Viele andere orchestrieren es ebenso, etwa im Jahr 2016 der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer in der Süddeutschen Zeitung:
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Michael Thumann: »Kein Schocker, keine Dreistigkeit. Für die Russen ist es eine ungewohnte Rolle: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz stehen nicht sie im Zentrum des Interesses. Der Bad Boy heißt jetzt Trump, nicht Putin«, in: Die Zeit vom 19.02.2017.
172 | B ERNHARD J USSEN »Wir wissen heute, dass die Zeitenwende von 1989/90 zugleich das Ende jener Weltordnung eingeleitet hat, die aus den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist […] und auf westlicher Dominanz gründete. Damit ist es vorbei, unwiderruflich! Was wir aus heutiger Sicht klarer sehen können, ist, dass damals eine lange Phase eines historischen Übergangs angebrochen ist, weg von der bipolaren Welt der Nachkriegszeit nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts hinein in eine globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts, deren Konturen mit neuen Weltmächten und Akteuren sich bereits heute absehen lassen, deren Details aber noch nicht wirklich fassbar sind. Die zentrale Achse von Weltpolitik und Weltwirtschaft verschiebt sich vom Atlantik in den Pazifik, also weg von Europa.«2
In den internationalen Geisteswissenschaften ist diese fundamentale Transformation der politischen und kulturellen Tektonik der Welt schon seit Jahrzehnten das dominante Kriterium für Themenzuschnitte und Deutungskategorien auf der Suche nach einer post-eurozentrischen Erneuerung des historischkulturwissenschaftlichen Denkens. Seit dem Ende des Kalten Krieges ersetzt zunehmend eine polyzentrisch gedachte Weltgeschichte jenes historische Denken in westlichen Kategorien, das sich in den Jahrhunderten der europäischen Expansion und der Aufklärung, insbesondere seit dem 18. Jahrhundert, durchgesetzt hat. Der russische Außenminister des Jahres 2017 hat nur in der Arena internationaler Diplomatie erneut formuliert, was in den Kulturwissenschaften längst breit diskutiert wird. Natürlich ist die Herausforderung auch in der Bildungspolitik angekommen: Die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges – man mag sie »posteurozentrisch«, »postsäkular«, »postimperial« oder »postkolonial« nennen – muss für die nächsten Generationen deutbar gemacht werden. Wenn Schulen und Universitäten den Perspektivenwechsel nicht leisten, wenn sie weiterhin nutzlos gewordene Deutungskategorien aus dem 18. Jahrhundert lehren, dann versagen Kulturwissenschaften, Bildungsexpertise und Bildungspolitik gleichermaßen. Deutsche und Europäische Geschichte nach dem Eurozentrismus Wer der nächsten Generation im Geschichtsunterricht Handlungs- und Deutungskompetenz vermitteln will, kommt an der – inzwischen jahrzehntealten – fundamentalen Transformation des historischen Denkens nicht vorbei. Unsere
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Joschka Fischer: »Der Anfang der Geschichte. Mit dem Fall der Mauer begann das pazifische Zeitalter. Europa wird darin keine Rolle spielen, wenn es sich jetzt nicht einigt«, in: Süddeutsche Zeitung vom 01.09.2016.
G EEIGNET
ODER UNGEEIGNET ?
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Nachkommen leben – genau wie jene, die heute lehren – nicht mehr in den Jahrhunderten der europäischen Expansion, der Erfindung von Nationen und der fieberhaften Suche nach deren »Wurzeln«,3 nicht mehr in den Jahrhunderten der westlichen Dominanz. Sie können die Deutungsmuster der alten »Aufklärer« aus der Zeit des Ancien Régime (mit denen Schulbücher, akademische Lehrbücher, Curricula an Schulen und Universitäten immer noch arbeiten) nicht mehr brauchen, um ihre Umwelt zu begreifen. Seit zumindest einer Generation ist augenfällig, dass man deutsche, europäische oder globale Geschichte nicht mehr durch den lateineuropäischen Tunnelblick als »Antike – Mittelalter – Neuzeit« betrachtet kann.4 Was sehen wir davon bislang in Schulbüchern für den Geschichtsunterricht und in jenen universitären Lehrbüchern, mit denen sich zukünftige Geschichtslehrer und -lehrerinnen wappnen? Die Frage, was wir »sehen«, kann man für die Interessen dieses Buches wörtlich nehmen: Es geht hier primär darum, welchen Anteil an den Erzählmustern und Deutungsmustern – den überholten alten ebenso wie den dringend nötigen neuen – die Bilder in den Lehrbüchern haben. Manches ändert sich in Schulbüchern deutlich schneller als in universitären Handund Lehrbüchern. So sind in aktuellen Schulbüchern die Abschnitte zur Geschichte der arabischen Welt signifikant gewachsen,5 in den gängigen universitä-
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Zur Geschichte der Idee Nation: Andreas Fahrmeir: Die Deutschen und ihre Nation.
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Dazu mit älterer Literatur knapp Bernhard Jussen: »Wer falsch spricht, denkt falsch.
Geschichte einer Idee, Ditzingen 2017. Warum Antike, Mittelalter und Neuzeit in die Wissenschaftsgeschichte gehören«, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften/Matthias Steinmetz (Hg.): Spekulative Theorien, Kontroversen, Paradigmenwechsel, (Debatte, 17) Berlin 2017, S. 38-52 (https://edoc.bbaw.de/frontdoor/index/index/docId/2672). Ausführlicher: Bernhard Jussen: »Richtig denken im falschen Rahmen? Warum das ›Mittelalter‹ nicht auf den Lehrplan gehört«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 67 (2016), S. 558-576. Und mit Blick auf Kampfbegriffe wie »Abendland«: Bernhard Jussen: » ›Abendland‹ – ›Lateineuropa‹ – ›Provincializing Europe‹: Bemerkungen zum poströmischen Europa zwischen alten und neuen Deutungsmustern, in: Dirk Ansorge (Hg.): Pluralistische Identität. Beobachtungen zu Herkunft und Zukunft Europas, Darmstadt 2016, S. 24-34. 5
Vgl. z.B. mit 37 Seiten: Karin Laschewski-Müller/Robert Rauh (Hg.): Kursbuch Geschichte. Von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin: Cornelsen 2010, S. 102-139. Dass die Bildstrecke dieses Kapitels über den Islam in ein Bild der explodierenden Twin Tower am 11.9.2001 in New York mündet, wäre eine kritische Diskussion wert, gehört aber nicht zum Thema dieses Beitrags.
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ren Lehrbüchern, Studienordnungen und Professurdenominationen der Geschichtswissenschaft hingegen kaum. Doch das bloße Addieren neuer Inhalte nützt wenig. Solange sich die Erzählmuster nicht ändern, mit denen die Geschichte des lateinischen Westens vermittelt wird, bleiben Schulbuchseiten über die arabischen Kulturen bestenfalls gut gemeinte Ergänzung ohne Einfluss auf das grundsätzliche Problem eines Makronarrativs, das nichts mehr erklärt. Es geht nicht um Ergänzung fehlender Inhalte, sondern um den Austausch der makrohistorischen Erzählmuster. In Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht geht es um Entschlüsselungstechniken, mit denen die jeweilige Umwelt historisch gedeutet werden kann, etwa: Warum heiraten junge Berlinerinnen und Berliner in Stadtteilen mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil zu einem großen Prozentsatz ihre Cousinen und Cousins, in Stadtteilen mit hoher lateinisch-christlicher Sozialisation hingegen nicht? Wenn jene Nachbarn, die häufig Verwandte heiraten, fragen, warum die Heirat eines Wildfremden besser sein solle als eine Heirat im Kreis der Vertrauten, was wäre die typische Antwort ›lateinisch‹ Sozialisierter? Warum wird bei jenen Nachbarn aus einem nicht-lateinisch-westlichen kulturellen Zusammenhang Vertrauen eher durch Verwandtschaft erzeugt (wie auch immer diese konzipiert sein mag) als – wie in der lateineuropäischen Tradition – über normative Modelle wie »Rechtsstaat«? Warum halten es immer wieder junge Männer für ihre Pflicht, die Familienehre zu retten (und dafür bisweilen ihre Schwestern zu töten), während in den Umfeldern von Kindern aus dem Kontext der lateinischen Zivilgesellschaften »Ehre« – gar »Familienehre« – als Kategorie gar nicht vorkommt? Keine dieser Fragen – und man kann die Liste leicht erweitern – wird erklärt mit dem Lehrstoff, der heute in den Schulgeschichtsbüchern steht. Ein exemplarisches Corpus Um die Stoffauswahl der Schulbücher und ihre Makrostrukturierungen beobachten zu können, stützt sich dieser Beitrag auf ein Corpus, das in sehr ähnlicher Form in allen Bundesländern anzutreffen ist: Das Corpus der 2016 im hessischen Geschichtsunterricht für das »Mittelalter« in der Sekundarstufe II zugelassenen Schulbücher.6 Es umfasst neun verschiedene Lehrbücher von fünf deutschen Verlagen und einem französischen (im Folgenden mit Verlag/Titel/Jahr zitiert).7
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Die entsprechende Liste ist im Juli 2015 publiziert worden, sie wird jährlich erneuert; die Kataloge der zugelassenen Schulbücher des je aktuellen Jahres bietet der »Deutsche Bildungsserver« (https://www.bildungsserver.de/Zugelassene-Lernmittel-undSchulbuecher-522-de.html), die zugelassenen Schulbücher vergangener Jahre bietet
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2. B ILDUNG DURCH B ILDER ? E IN B LICK AUF DIE P ROGRAMMBILDER Üblicherweise ist im Schulbuch jedem Großabschnitt, etwa dem sogenannten »Mittelalter«, eine programmatische Seite oder Doppelseite kondensierend vorgeschaltet mit der take home message. Die Seiten enthalten Leitstichworte und – darauf kommt es im Folgenden besonders an – Leitvisualisierungen. Prinzipiell ist einleuchtend, dass ein großer Zeitabschnitt programmatisch in einem Bild konzentriert wird und dass Merkvokabeln für einen Zeitabschnitt auf einer ersten Seite zusammengefasst werden. Man darf aber erwarten, dass über die Auswahl dieser Bilder und Schlagworte besonders gründlich nachgedacht wird. Darum sind diese Seiten ein guter Ausgangspunkt, um zu beobachten, wie Schulbücher mit Bildern umgehen. Drei programmatische Bebilderungen der 2015/16 in Hessen genutzten Geschichtsbücher seien im Folgenden diskutiert. Zwei sind den Abschnitten »Mittelalter« vorangestellt worden in Kursbuch Geschichte des Cornelsen Verlags (1. Aufl. 2010) und Horizonte des Westermann Verlags (1. Aufl. 2008), eines ist für den Buchdeckel von Geschichte und Geschehen des Klett Verlags (1. Aufl. 2008) ausgesucht worden.
eine
Datenbank
des
Georg-Eckert-Instituts
für
Schulbuchforschung
(gei-
dzs.edumeres.net). 7
Maximilian Lanzinner (Hg.): Buchners Kolleg Geschichte – Ausgabe Hessen/ Qualifikationsphase. Unterrichtswerk für die gymnasiale Oberstufe, (Buchners Kolleg Geschichte – Ausgabe Hessen), Bamberg: Buchner 2013. Annette Adelmeyer u.a. (Hg.): Geschichte und Geschehen. Gesamtband, Stuttgart: Klett 2012 (Hessen: 2013). Rainer Bendick/Daniel Henri/Guillaume LeQuintrec/Peter Geiss (Hg.): Histoire/Geschichte. Europa und die Welt von der Antike bis 1815, Leipzig: Klett/Nathan 2011. Laschewski-Müller/Rauh (Hg.): Kursbuch Geschichte. Frank Bahr (Hg.): Horizonte. Geschichte für die Sekundarstufe II in Hessen, Braunschweig: Westermann 2008. Maximilian Lanzinner (Hg.): Buchners Kompendium Geschichte. Von der Antike bis zur Gegenwart; Lehr- und Arbeitsbuch für die Oberstufe, Bamberg: Buchner 2008. Frank Behne u.a.: Geschichte und Geschehen, Stuttgart: Klett 2007. HansJürgen Lendzian (Hg.): Zeiten und Menschen. Geschichte Oberstufe. Paderborn: Schöningh 2007. Ernst Hinrichs: Von der Antike bis zur frühen Neuzeit. (Kursbuch Geschichte, Einführungsphase), Berlin: Cornelsen 2006.
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Das Ständeschema und der Geldwechsler Auf die römische Kaiserzeit folgt im Kursbuch Geschichte des Cornelsen Verlags, das seit 2010 auf dem Markt ist, das sogenannte »Mittelalter«. Vorgeschaltet ist programmatisch der »Epochenüberblick«. Zwei Bilder sind auf gegenüberliegenden Seiten angeordnet und kondensieren die Opposition von »Mittelalter« und »Neuzeit«: Für »Mittelalter« steht ein Holzschnitt mit einem sogenannten »Dreiständebild« aus einem Buch mit astrologischen Weissagungen, der Pronosticatio des Johannes Lichtenberger (ca. 1440-1503). Ein Gemälde des flämischen Malers Marinus van Reymerswaele (gest. 1567) mit einem Geldwechsler und seiner Frau in übertrieben modischer Kleidung steht für »Neuzeit«. Programmatisch werden die tausend Jahre von 500 bis 1500 von der eigenen Gegenwart der Schülerinnen und Schüler abgekoppelt durch den Kontrast der beiden Bilder: Das modisch gekleidete Ehepaar mit dem Geld auf dem Tisch hat etwas mit ›uns‹ zu tun, die 1000 Jahre davor hingegen – wie man sieht – ziemlich wenig. Abb. 1: Programmseite aus Cornelsen, Kursbuch Geschichte (erstmals 2010), S. 60-61: Das Ständeschema ist die visuelle Kurzformel für »Mittelalter«, der Geldwechsler mit seiner Frau steht für »Neuzeit«
Quelle: Laschewski-Müller/Rauh (Hg.): Kursbuch Geschichte, S. 60-61
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Für das bis zum Endes des Kalten Krieges herrschende Narrativ ist der Holzschnitt aus Lichtenbergers Pronosticatio geradezu kanonisch. So gibt es kaum ein Schulbuch (nicht nur im hessischen Corpus zugelassener Schulbücher), in dem dieser Holzschnitt fehlt. Kein anderes Bild bringt es auf eine annähernd ähnliche Stabilität in Geschichtsbüchern für den Schulunterricht. Simpler und buchstäblich holzschnitthafter lässt sich die Botschaft nicht visualisieren: Christus weist die soziale Ordnung mit drei Imperativen an – »Du bete demütig« (tu supplex ora), »du beschütze« (tu protege) »und du arbeite« (tuque labora). So sieht eine gottgewollte Ordnung aus. Wie in diesem Schulbuch, so wird das Bild durchweg als repräsentativ für das sogenannte »Mittelalter«, also die Zeit von etwa 500 bis 1500, verwendet. Dabei verschweigt die Bildbeischrift dieses Schulbuches (aber keineswegs aller Schulbücher) nicht, dass der »mittelalterlich« anmutende Holzschnitt und das vergleichsweise »modern« anmutende flämische Gemälde im Abstand von kaum 40 Jahren entstanden sind. Als der »mittelalterliche« Holzschnitt im Jahr 1488 erstmals im Druck erschien, war der erste große Held der »Neuzeit« – Martin Luther – fünf Jahre alt. In keinem Buch wird erwähnt, dass die Karriere jenes Ständeschemas, das die Schulbücher als »mittelalterlich« verkaufen, zu eben jener Zeit begann, als auch der erste »neuzeitliche« Held von Wittenberg aus seine Karriere startete. Über 50 vollständige Druckausgaben von Lichtenbergers Pronosticatio sind bekannt, die meisten aus dem 16. Jahrhundert, dazu 29 Druckausgaben von Auszügen, zumeist aus dem 17. Jahrhundert. Noch die Zeitgenossen Friedrichs des Großen (Ausgaben von 1748 und 1758), der französischen Revolutionäre (1793) oder Napoleons (1810) kauften Lichtenbergers Weissagungen und Holzschnitte. Eine »mittelalterliche« Karriere hat dieses Bild – oder auch nur die Bildidee – nie gemacht, wohl aber eine »neuzeitliche«.8
8
Dietrich Kurze: »Prophecy and History. Lichtenberger’s Forecasts of Events to Come (From the Fifteenth to the Twentieth Century). Their Reception and Diffusion«, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 21 (1958), S. 63-85., zu den Auflagen bes. S. 63-64; auch für das derzeit am weitesten verbreitete universitäre Lehrbuch des Geschichtsstudiums hielt man dieses Bild anscheinend für unverzichtbar; im Text wird es genutzt, um die Distanz von »Realität« und »Deutungsmuster« zu thematisieren. Dabei wird es zur Illustration eines Deutungsmusters herangezogen, das seit dem 11. Jahrhundert kursierte – allerdings kaum einmal bildlich. Dass die Karriere dieses spezifischen Holzschnittes und generell die Geschichte dieses Bildmotivs letztlich kein Thema eines Buches oder Abschnittes zum »Mittelalter« sein sollte, sondern zur »Neuzeit«, wird auch hier übergangen; vgl. Matthias Meinhard/Andreas
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Weshalb also ist diese Visualisierung der ständischen Gesellschaft so unverzichtbar. Die Antwort liegt nahe: Wo »Mittelalter« draufsteht, muss »Ständegesellschaft« drin sein, also Unfreiheit, geboren werden in ein ständisches Schicksal, göttlich legitimierte, hierarchische Herrschaft, und so fort. Das Bild ist nötig, um das Narrativ des epochal Anderen der Zeit vor 1500, eben des »Mittelalters«, visuell zu kondensieren. Das Ständeschema funktioniert im Schulbuch ähnlich wie die vielen Bilder von Königen, die ebenso notorisch wie das Ständeschema das Kapitel »Mittelalter« illustrieren. Dass in jedem heutigen Schulbuch gerade dieses eine, immer gleiche, seit 1488 publizierte Ständebild genutzt wird, das erst in der »Neuzeit« Karriere gemacht hat, deutet auf das Problem dieser Bildauswahl: Es gibt kaum Früheres.9 Sehr leicht aber könnte man spätere Bilder finden – »neuzeitliche« also – etwa eine Darstellung des Kölner Malers Bartholomaeus Bruyn des Älteren aus den 1540er Jahren. Bartholomaeus oder sein Auftraggeber waren keineswegs anachronistische Wiederholer einer alten – »mittelalterlichen« – Bildidee, sie waren zeittypische Akteure im Umgang mit einer Bildidee, die erst zu eben jener Zeit Karriere machte. Jacques Le Goff hat die Geschichte dieser Bildidee schon vor Jahrzehnten auf den Punkt gebracht: »Das 16. Jahrhundert ist das große Jahrhundert der Ikonographie der dreigeteilten Gesellschaft« – das 16. Jahrhun-
Ranft/Stephan Selzer (Hg.): Oldenbourg Geschichte Lehrbuch Mittelalter, München 2007 (2. Aufl. 2009), S. 284-285. 9
Zwei frühere, vielleicht vergleichbare Entwürfe werden bisweilen in universitären Lehrbüchern oder populären Synthesen abgebildet: Eine Bilderzählung in vier Segmenten aus der Chronik des John of Worcester (Corpus Christi College, Cambridge MS 157, fol. 382/3, vor 1140) zeigt eine Vision (oder einen Albtraum) des englischen Königs Heinrich I., der im Schlaf in den ersten drei Bildsegmenten von je einem der drei Stände bedroht wird und im vierten Segment in Todesangst in einem Boot auf stürmischer See gelobt, seine Politik zu ändern; da die drei Stände in der Handschrift nicht auf einer Seite vereint dargestellt sind, zudem das vierte Segment stört, wird das Bild kaum einmal als Ganzes genutzt, bisweilen wird es sogar auf kuriose Weise manipuliert; in Robert Bartlett: Die Welt des Mittelalters. Kunst, Religion, Gesellschaft. Enzyklopädie mit 800 Bildern, Stuttgart 2001 (und 2015), S. 100, ist die in vier Kassetten über zwei Seiten dargestellte Bilderzählung so manipuliert, dass der Eindruck eines einseitigen, dreiteilig übereinander angeordneten Ständeschemas entsteht; bisweilen abgebildet wird ferner eine Initiale »C« für »Clergie« (Klerus) im Livres dou Sante (British Library Sloane 2435 f. 85, Ende 13. Jh.), die neben einem Kleriker auch einen Ritter und einen Bauern zeigt.
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dert, nicht das sogenannte »Mittelalter«.10 Die Schulbücher nutzen also als visuelle Kondensation für das »Menschenbild« des »Mittelalters« eine Darstellung, die sich bis zum 15. Jahrhundert gar nicht finden lässt, dafür aber umso häufiger nach 1500, in der sogenannten »Neuzeit«. Abb. 2: Bartholomaeus Bruyn d. Ä., Die drei Stände der Christenheit, 1540er Jahre, Öl auf Eichenholz, 137 x 97,6 cm, Bonn, Rheinisches Landesmuseum
Quelle: Archiv des Kunsthistorischen Instituts der Freien Universität Berlin
10 Jacques LeGoff: »Les trois fonctions indo-européennes, l’histoire et l’Europe féodale«, in: Annales – ESC 34 (1979), S. 1187-1215., S. 1202: »Le XVIe siècle est le grand siècle de l’iconographie de la société tripartie, ce dont témoignent par exemple les illustrations de la Pronosticatio du moine allemand Johannes Lichtenberger qui connut 42 éditions entre 1488 première édition Heidelberg et 1587«; vgl. etwa Tomislav Vignjevic: »Darstellungen der drei Stände an der Schwelle zur Neuzeit. Zum Verhältnis von bildlicher Darstellung und gesellschaftlicher Realität«, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 57 (2008), S. 31-50.
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»Personenverbandsstaat« – »Reichskirchensystem« – »Lehnswesen« Der Text, der den Holzschnitt von 1488 als »Epochenüberblick« umgibt, hebt die wichtigsten Merkworte der »Epoche« hervor. Farbig unterlegt und fett gedruckt werden Stichworte, die die Mehrheit der geschichtswissenschaftlichen Forschung mit guten Gründen seit zumindest einer Generation ausgemustert hat. Der Holzschnitt wird zunächst verschlagwortet als »Ständegesellschaft«. Natürlich lassen sich die lateinischen Kulturen in den 1000 Jahren nach dem Ende des römischen Imperiums als Ständegesellschaften deuten, aber sinnvoll ist dies wohl nur, wenn zugleich deutlich wird, dass auch die alte römische Gesellschaft eine »Ständegesellschaft« war, und besonders: dass im längsten Teil der sogenannten »Neuzeit« erst recht eine »Ständegesellschaft« zu finden ist. So ist nicht klar, wie das Wort »Ständegesellschaft« das sogenannte »Mittelalter« von der sogenannten »Neuzeit« trennen soll.11 Wichtiger noch wäre zu erklären, dass das Stichwort »Ständegesellschaft« allenfalls die halbe Geschichte jener 1000 Jahren markiert, die man gerne als »mittelalterlich« von der eigenen Erfahrungswelt abgrenzt. Die andere – für die Genese Lateineuropas entscheidende – Hälfte wäre in Stichworten wie »Stadtrepublik« und »urbane Gesellschaft« zu fassen.12 Das Republikanische oder Kommunale aber ist auf den meisten Programmseiten nicht visualisiert (vgl. aber Abb. 8), oft nicht einmal in den Kapiteln. Was das lateinische Europa bis heute ausmacht – seine rund tausend Jahre währende
11 Dazu grundlegend Otto Gerhard Oexle: »Art. Stand. Klasse I-VI«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. 6 Bände, Stuttgart 1982, S. 156-200. Otto Gerhard Oexle: »Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens«, in: František Graus (Hg.): Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme (Vorträge und Forschungen, 35), Sigmaringen 1987, S. 65-117. 12 Am deutlichsten herausgearbeitet ist dies im Feld allgemeiner Handbücher und Synthesen zum Mittelalter bei Willem Peter Blockmans/Peter Hoppenbrouwers: Introduction to Medieval Europe, 300-1550. 1. Aufl. London, New York 2007, ähnlich in der zweiten, deutlich konservativer strukturierten Auflage (London u.a. 2014); vgl. auch die dritte Auflage 2018; in der deutschsprachigen Literatur geht der Aspekt des Republikanismus/Kommunalismus in Synthesen zum »Mittelalter« meist unter. Nur wenn man direkt zur (üppig vorhandenen) Stadtgeschichtsforschung greift, ist die politische Bedeutung der Stadtverfassung für die Genese der modernen Gesellschaften deutlich artikuliert; vgl. zum Beispiel den Forschungsüberblick von Hagen Keller: »Die Erforschung der italienischen Stadtkommunen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts«, in: Frühmittelalterliche Studien 48 (2015), S. 1-38.
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Geschichte des Republikanismus oder Kommunalismus seit dem elften Jahrhundert – wird bildlich weitgehend übergangen zugunsten des – verglichen mit »Antike« und »Früher Neuzeit« unspezifischen – Erklärungsmodells »Ständegesellschaft« (vgl. unten Abs. 3). Bedenklicher als »Ständegesellschaft« ist das Merkwort »Personenverbandsstaat«. Aus den Handbüchern ist es seit langem verschwunden, das Schlagwort ist eine Erfindung der NS-Zeit, eingeführt von Theodor Mayer, einem Wissenschaftler, dem nach dem Krieg die Universitätskarriere ebenso verwehrt wurde wie die Rückkehr auf seinen alten Posten als Präsident der MGH.13 Als Mayer – im Jahr 1939 – die »Grundlagen des modernen deutschen Staates« erklären wollte, galt sein Interesse am »Personenverbandsstaat« der »schöpferischen Kraft des deutschen Volkes unter der Führung seiner großen Kaiser«.14 Sollte es belanglos sein, dass das Gros der Geschichtswissenschaft das Stichwort längst – und ausdrücklich – meidet?15 Ein Blick in Wikipedia reicht aus, um zu verstehen, dass Vorsicht geboten ist: »Als Personenverbandsstaat bezeichnet man den Staat des Früh- und Hochmittelalters, bei dem sich die Herrschaft auf ein gegenseitiges, persönliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lehnsherrn und Vasallen gründet. Der Begriff Personenverbandsstaat wurde unter dem Eindruck des Nationalsozialismus von dem österreichischen Historiker Theodor Mayer (1883-1972) entwickelt und
13 Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. 1. Aufl., München 1989, s.v. Theodor Mayer; Johannes Fried (Hg.): Vierzig Jahre Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte, Sigmaringen 1991. 14 Theodor Mayer: »Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter«, in: Historische Zeitschrift 159 (1939), S. 457-487, S. 487; dass in dieser Art historischen Denkens über »Grundlagen des modernen deutschen Staates« die Genese der städtischen (d.h. republikanischen) Kultur gar nicht vorkommt, hat betont: Jörg Rogge: »Politische Räume und Wissen. Überlegungen zu Raumkonzepten und deren heuristischen Nutzen für die Stadtgeschichtsforschung (mit Beispielen aus Mainz und Erfurt im späten Mittelalter)«, in: Ders. (Hg.): Tradieren – Vermitteln – Anwenden. Zum Umgang mit Wissensbeständen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften Bd. 6), Berlin 2008, S. 115-154. S. 125. 15 Vgl. Gerd Althoff: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter, Darmstadt 1990, S. 5-9. – Anne Christine Nagel: Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970 (Formen der Erinnerung, 24), Göttingen 2005, zum Personenverbandsstaat bes. S. 173-174.
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dem ›institutionellen Flächenstaat‹ (dem Territorialstaat) der Neuzeit gegenübergestellt, bei welchem die Herrschaft mithilfe öffentlicher Einrichtungen und in einem zusammenhängenden Territorium ausgeübt wird. Mittlerweile ist der Begriff in der modernen Mediävistik überholt.«16 Ähnliches gilt für das Konzept »Reichskirchensystem«, erfunden von dem »großdeutsch« orientierten Österreicher Leo Santifaller, nach dem Krieg im Jahr 1954 publiziert und nur für einen kleinen Abschnitt des »Mittelalters« (die sogenannte »ottonisch-salische« Zeit) in Anspruch genommen. Das Schulbuch macht daraus das »mittelalterliche Reichskirchensystem«. Dabei lernte man schon in den 1980er Jahren quer durch die Republik im Proseminar, dass die (damals!) »neuere Forschung« dieses Konzept verabschiedet habe. Weshalb also gehört es immer noch zu den Programmvokabeln im Epochenüberblick, um das ständische »Mittelalter« zu profilieren?17 Hier und dort ist in dem Überblick von »Traditionen« oder »Kontinuitäten« die Rede, aber zuerst einmal wird Otherness betont. Das Bild der ständisch organisierten traditionalen Gesellschaft (»Personenverbandsstaat«, »Reichskirchensystem«, »Ständegesellschaft«) im Zeichen eines Gottes, der ansagt, wer was zu tun hat, liefert das nötige Alteritätsmodell. Authentifiziert werden diese Leitstichworte des Narrativs auf den Programmseiten des Kursbuch Geschichte vor dem Kapitel »Mittelalter« durch zwei Texte – Luthers Von der Freiheit eines Christenmenschen und Kants Was ist Aufklärung. Genau so steht es in den Lehrplänen, etwa im letzten hessischen Lehrplan: »Sein Ziel erreicht der Unterricht aber erst dann, wenn die Ergebnisse dieser Wandlungsund Veränderungsprozesse zum Gegenstand einer detaillierten Reflexion gemacht sind, bei der bewußt wird, wo Kontinuitäten bestehen und worin das spezifisch »Neuzeitliche«
16 https://de.wikipedia.org/wiki/Personenverbandsstaat vom 18.10.2017. 17 Leo Santifaller: Zur Geschichte des ottonisch-salischen Reichskirchensystems. Vorgelegt in der Sitzung am 4. November 1953 (Sitzungsberichte/Österreichische Akademie der Wissenschaften Philosophisch-Historische Klasse, 229,1), Wien 1954 (2. Aufl. 1964); einflussreicher war die Kritik von Timothy Reuter: »The ›Imperial Church System‹ of the Ottonian and Salian Rulers. A Reconsideration«, in: Journal of Ecclesiastical History 33 (1982), S. 347-374. Josef Fleckenstein: »Problematik und Gestalt der ottonisch-salischen Reichskirche«, in: Karl Schmid (Hg.): Reich und Kirche vor dem Investiturstreit, Sigmaringen 1985, S. 83-98; heute wird das Modell nur noch als Relikt der Wissenschaftsgeschichte dargestellt; vgl. z.B. Claudia Märtl: Die 101 wichtigsten Fragen – Mittelalter (Beck’sche Reihe, 1685), München 2006, S. 42-43.
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zu sehen ist, dasjenige also, was von den Schülerinnen und Schülern als historischer Schritt hin zu ihrer eigenen Lebenswelt erkannt und begriffen werden kann.«18
Unangefochten legitimiert das Identitätsnarrativ des 18. Jahrhunderts die Erwartung, dass man sich vor der »Entdeckung des Individuums«, vor »Renaissance – Reformation – Aufklärung« ein ständisches und traditionales »Mittelalter« vorzustellen habe. Eine solche Darstellung mag der Lebenswirklichkeit der »Aufklärer« im Ancien Regime entsprochen haben. Sie ist aber sehr weit entfernt vom Erklärungsbedarf heutiger Lehrsituationen und sehr weit entfernt von dem, was die Geschichtswissenschaft nach dem Ende des »westlichen Skripts« diskutiert. Wenn es darum geht, die historischen Bedingungen dessen zu erklären, was in unserer Gesellschaft derzeit verteidigenswert erscheint (pluralistische Zivilgesellschaft, Herausbildung der Gleichheitsvorstellungen, Stellung der Frau, universale Menschenrechte, Toleranz, Pluralismus), dann sollte es sich verstehen, dass die Anfänge der Republik besondere Aufmerksamkeit verdienen. Die Anfänge dieses politischen Formats der (Stadt-)Republik oder Kommune findet man im 11. und 12. Jahrhundert, also nach dem herrschenden Denkmodell mitten im »Mittelalter«, mitten in jener Zeit, die in diesem Schulbuch auf »Personenverbandsstaat«, »Reichskirchensystem« und »Ständegesellschaft« zugespitzt ist. Die Genese des republikanischen Denkens, der Parität, der Legitimität durch Wahl, des profanen politischen Raums seit dem 11. Jahrhundert – gehört dies nicht zum Kern dessen, was es zu verstehen gilt? Wo finden wir es in den Schulbüchern, textlich und bildlich? Ein zurechtgeschnittenes Weltgericht aus der deutschen Provinz Das zweite Beispiel einer programmatischen Doppelseite stammt aus dem 2008 publizierten Buch Horizonte des Westermann Verlags für die Sekundarstufe II. Das Kapitel »Das Mittelalter« wird durch eine Doppelseite eingeleitet, deren linke Hälfte von einer Weltgerichtszene aus dem Jahr 1470 eingenommen wird. Rechts führt ein einseitiger Text in das Kapitel »Das Mittelalter« ein. Dieser Text verzichtet nicht nur auf Merkstichworte im Stil des ersten Beispiels, sondern er diskutiert auch sogleich auf der ersten Seite die Epocheneinteilung als ein historisches Produkt der Aufklärung, dessen Deutung sich im Laufe der Zeit verändert hat. Zudem bietet der Text in den ersten beiden Absätzen eine instruk-
18 Lehrplan Geschichte Hessen. Gymnasialer Bildungsgang. Gymnasiale Oberstufe, Hessisches Kultusministerium 2010, S. 36. [Herv. B.J.]
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tive Erklärung des Bildes (das ansonsten ohne Bildbeischrift auskommen muss). Das »Mittelalter« wird hier auf die religiöse Logik von Sünde und Endgericht zugespitzt. Abb. 3: Programmseite aus Westermann, Horizonte (erstmals 2008), S. 82-83: Das instruktive Programmbild, ein Epitaph von 1470 mit Weltgericht aus dem Stadtmuseum Nördlingen, an dem sich viele Details besprechen lassen und in dem »Mittelalter« plausibel kondensiert ist, wird auf der Textseite umsichtig besprochen. Das Bild wurde aber rechts und links beschnitten, wichtige im Text besprochene Teile fehlen. Zudem ist es (ebenso wie Christus als Ausschnitt auf dem Buchdeckel) seitenverkehrt, offenbar in manchen Editionen bis heute, jedenfalls selbst heute noch auf den Buchdeckeln der Verlagswebseite (und auf Buchhandelswebseiten)
Quelle: Bahr (Hg.): Horizonte, S. 82-83
Grundsätzlich dürfte ein Weltgericht gut geeignet sein als Programmbild, zumal es sehr viele verschiedene Weltgerichtsbilder gibt, die man vergleichen kann. Insgesamt kann man – im Sinne dieses Programmbildes – zunächst die lateinische Kultur seit dem Ende der römischen Welt als eine auf ständige Buße zielende Kultur entwickeln, ein plausibles, wichtiges Narrativ, das man von frühen Heiligenbildern bis zu Ablässen durchbuchstabieren und an einem detailreichen Weltgericht wie dem hier gezeigten gut diskutieren kann. Auch wichtige formale
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Aspekte der Bildproduktion wie das Verschwinden des Goldgrundes und die Durchsetzung des Erfahrungsraumes als Bildraum (und damit die Herausforderung, in diese ›realen‹ Erfahrungsräume transzendente Themen einzubauen) lassen sich diskutieren. Doch auch dieses, an sich überzeugende Programmbild verweist auf grundsätzliche Probleme beim Umgang mit Bildern in Schulbüchern. Dreierlei sei hervorgehoben: Die Erlösten zur Linken Christi Immer wieder passiert es, selbst in kunsthistorischen Standardwerken, dass ein Bild seitenverkehrt gedruckt wird; ein bloßes Versehen sollte man nicht zu stark gewichten. Allerdings haben Weltgerichtsdarstellungen ein so offensichtliches Rechts-Linksschema, dass seitenverkehrte Abbildungen selbst dann auffallen, wenn man die (hier besonders umfangreichen) Textteile des Bildes nicht beachtet. Christus hebt üblicherweise nicht (wie in diesem Schulbuch) die Linke, sondern die Rechte, die Erretteten steigen üblicherweise zur Rechten Christi in den Himmel, die Verdammten stürzen zu seiner Linken in die Höllenqualen. Ein Ausschnitt dieses Bildes, die Figur Christi samt kleinen Textteilen, ziert auch den Buchdeckel, auch dort seitenverkehrt. Symptomatisch daran ist zumindest, dass der Bebilderung offensichtlich weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als den Texten. Im Jahr 2017, neun Jahre nach Erscheinen des Buches, findet sich auf der Webseite des Verlages zwar auch eine korrigierte Variante, aber immer noch verschiedene Versionen des Buchtitels mit dem seitenverkehrten Christus.19 In diesem Schulbuch geht es nur um eine Seitenverkehrung und einen unglücklichen Beschnitt, in anderen Büchern aber geht es auch um Bilder mit erstaunlichen Fantasieerklärungen. So nutzen verschiedene Schulbücher Darstellungen aus den Handschriften des »Jungfrauenspiegels«, eines für den Bedarf von Frauenklöstern verfassten geistlichen Textes des 12. Jahrhunderts (Abb. 4). In den Handschriften ist stets ein ganzseitiges Ständeschema gezeichnet, in dem in drei übereinander angeordneten Segmenten die drei Stände der Jungfrauen, Witwen und Verheirateten ihren himmlischen Lohn ernten. Je nach irdischem Verhalten – also nach dem Grad ihrer Enthaltsamkeit – sammeln dem biblischen Gleichnis vom 30-60-100-fachen Lohn folgend (Mt 13, 1-9) die Jungfrauen 100fache, die Witwen 60-fache und die Verheirateten 30-fache Ernte ein.
19 Geprüft am 13.11.2017
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Abb. 4: Die Darstellung der drei Stände der Jungfrauen, Witwen und Verheirateten in einer Handschrift des »Jungfrauenspiegels« (Speculum Virginum) orientiert sich kaum noch an der Aufgabe dieses Bildes. Das in unterschiedlichen Varianten überlieferte Bild soll ein religiöses Thema vor Augen führen: unterschiedliche Ernte im Jenseits für unterschiedliches irdisches Verhalten. Die in den drei Bildsegmenten dargestellten Stände ernten im Jenseits je nach dem Grad ihrer Enthaltsamkeit das 100-fache (Jungfrauen, oben), das 60-fache (Witwen, Mitte) und das 30-fache (Verheiratete, unten). Schulbücher versetzen das religiöse Bild durchweg in Kapitel zu Grundherrschaft, sozialen Krisen und bäuerlichem Leben. (Fragment eines Jungfrauenspiegels, Speculum Virginum, Szene: Erntebild, um 1310, Pergament, 33.8 × 24.4 cm, Bonn, Rheinisches Landesmuseum)
Quelle: Archiv des Kunsthistorischen Instituts der Freien Universität Berlin
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Buchners Kompendium Geschichte (seit 2008, S. 37) bildet nur das mittlere Segment ab, in dem Witwen die Ernte ihrer Enthaltsamkeit sammeln. Doch verwechselt das Buch die Darstellung von Witwen, die Lohn einfahren, mit der Darstellung von Bauern, die Tribut zahlen: »Bauern leisten ihre Abgaben an den Grundherrn«. Das Bild findet sich auf der Programmseite zu »Mittelalter«: »Mensch und Gesellschaft im Europäischen Mittelalter«. In einer früheren Auflage des »Kompendium Geschichte«20 finden sich die beiden unteren Segmente des dreigliedrigen geistlichen Schemas im Kapitel »Funktion und Organisation der Grundherrschaft« mit der Behauptung: »Lediglich der Spaten ist noch einem Mann überlassen, alle anderen Feldarbeiten werden von Frauen erledigt«. Keinen Hinweis liefert die Bildbeischrift darauf, dass hier Jungfrauen, Witwen und Verheiratete (also im Wesentlichen: Frauen) einem biblischen Gleichnis folgend ihren himmlischen Lohn ernten – bei den Verheirateten darf auch ein Mann dabei sein. Das Stichwort »Ernte« scheint so eng mit »Bauer« und »Grundherrschaft« verbunden zu sein, dass man das für die religiöse Kultur durchaus instruktive Bild geradezu misshandelt. Dabei wäre spätestens für das Verständnis der Reformation eine Visualisierung der sogenannten »Verdienstfrömmigkeit« besonders nützlich.21 Ein Weltgericht aus der deutschen Provinz Wer sich näher mit dem (zweifellos aufschlussreichen und für die Lehre nützlichen) Weltgericht von 1470 befassen will, stößt auf weitere systematische Probleme der Bebilderung von Schulbüchern. Das den Weltenrichter dreimal umkreisende Spruchband trägt einen deutschsprachigen Text (O Mensch bedenck dein Zeit ...), auch die aus ihren Gräbern kletternden Nackten sprechen deutsch, die Fanfaren der Engel tönen lateinisch: »Ihr seid die Verdammten« (vos estis maledicti), »Euch lobt Gott« (vos laudat dominus). Man könnte Teile lesen, eventuell auch mit Schülern. Dafür aber muss man eine gute Abbildung suchen. Die Datierung und die wenigen Erklärungen im Fließtext reichen kaum aus, um Informationen zu finden. Wo befand sich das Bild, in welchem Kontext, wie groß ist es, was steht auf den sehr vielen Textbändern, und wo ist es heute? Handelt es sich um einen Ausschnitt? Wie findet man ein Digitalisat für die Unterrichtsarbeit,
20 Elisabeth Fuchshuber-Weiß: Von der attischen Demokratie bis zum aufgeklärten Absolutismus (Buchners Kolleg Geschichte), Buchner, 3. Aufl., Bamberg 2006, S. 168; das Buch gehört nicht zum Corpus dieses Aufsatzes. 21 Auch in »Geschichte und Geschehen« (Klett, seit 2007, S. 219) ist eine Version des Ständeschemas eingebaut, auch hier im Kapitel »Bäuerliches Leben«, allerdings mit einer zum Bild (aber nicht zum Kapitel) passenden Beischrift.
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wenn jegliche Angaben fehlen? Die Bildnachweise in Schulbüchern sind für derartige Fragen sehr mühsam und oft nutzlos, zumeist wird auf eine Bildagentur verwiesen. In Fall dieser Abbildung führt die lästige Suche durch die stets unübersichtlichen Nachweise am Ende des Buches zu »Stadtmuseum, Nördlingen«. Die Websuche führt zur miserablen Webseite des Stadtmuseums Nördlingen mit einer ebenso miserablen Datenbank. Wer sich auskennt, findet im Institut für Realienkunde (Krems, Österreich) ein weiteres schlechtes Digitalisat, dazu immerhin eine Zuschreibung zu Auftraggeber und Künstler, eine spröde Erfassung aller Figuren und Gegenstände, aber auch hier nicht einmal Größenangaben. Die beiden schlechten Abbildungen reichen immerhin aus, um zu sehen, dass das Bild beschnitten ist. Gerade das, was deutschen Schulbüchern besonders wichtig ist, das Ständische des »Mittelalters«, hat der Maler leider für die Ansprüche des Satzspiegels zu weit an die Ränder gemalt. Statt das Bild horizontal in den Satzspiegel einzupassen, wird es vertikal eingepasst, sodass die Darstellung der Geretteten und der Verdammten am rechten und linken Rand weggeschnitten ist. Nicht nur, dass man Engel und Teufel nicht sieht, man sieht auch nicht, dass die Geretteten (ein Königspaar, ein Mönch) wie die Verdammten (verschiedene Geistliche), nachdem sie wie üblich nackt aus dem Grab geklettert sind, an ihren Auferstehungsleibern wieder ihre irdischen ständischen Markierungen tragen – Krone, Tonsur, Mitra. Selbst im Himmel behält man zu jener Zeit seinen ständischen Status – zumindest auf diesem Bild.22 Dass die Schüler dies nicht sehen, ist auch dem Autorenteam aufgefallen: »Engel und Dämonen (außerhalb des Bildausschnittes) weisen die Wege, wobei oft auch die Päpste der Hölle nicht entgehen, was wohl nach heutigen Maßstäben einer Form der politischen Kritik bedeutet.«
An sich bietet das Bild viel plausiblen Diskussionsstoff für eine Einführung in jenes Jahrtausend. Was machen die beiden Figuren neben Christus? Warum sind noch die Auferstehungsleiber vom irdischen Leben, sozial wie körperlich, gezeichnet? Wer mag das betende Skelett sein, warum ist es so groß? Was soll das Wappen im Bild? Auch die Gestaltung der Erdkugel zu Füßen Christi ließe sich diskutieren. Sie ist augenscheinlich der Versuch, im Rahmen einer Jenseitsdarstellung, einer Darstellung des Unsichtbaren, die seinerzeit noch neue erfahrungsräumliche Darstellungsweise dort einzusetzen, wo es um die diesseitige Welt geht. Man könnte noch mehr Themen an diesem Bild abarbeiten. Aber
22 Eine Abbildung gibt es in Harry Kühnel: Alltag im Spätmittelalter, Graz/Wien/Köln 1986, S. 149.
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sinnvolle Arbeit mit Bildern verlangt nicht nur eine Ausbildung, die im Geschichtsstudium bislang noch keinen systematischen Platz hat. Sie verlangt auch Infrastruktur. Wer für ein Schulbuch eine Abbildung auswählt, die – wie das Jüngste Gericht aus Nördlingen – nicht zum Pool des immer wieder Abgebildeten gehört, muss das Deutungsinstrumentarium zur Verfügung stellen – vom hochauflösenden Digitalisat bis zur Sachinformation. Ein beschnittenes Bild, dem wichtige Bildteile ebenso fehlen wie die notwendigsten Informationen, das zudem ohne erheblichen Aufwand nicht zu finden ist, ist nicht hilfreich. Lehrende müssen wenigstens die Chance haben, sich zu informieren. Dieses an sich geeignete Bild kann eine Lehrerin oder ein Lehrer nicht mit zumutbarem Aufwand vorbereiten, also kaum besprechen. Bildung durch Bildreihen Ein weiteres grundsätzliches Problem des Bildgebrauchs im Schulbuch wird an diesem, prinzipiell besonders gut gewählten Bildthema deutlich: Das Weltgericht, das hier das Kapitel »Mittelalter« einleitet, ist wenige Jahre vor Luthers Geburt in Auftrag gegeben worden. Es ist in allen seinen Details ein perfektes Kontrastbild zum Erarbeiten des Themas »Reformation«. Man braucht es nur dem mit Abstand wichtigsten, schlechthin dominanten Programmbild der frühen Wittenberger Bewegung gegenüberstellen, dem dogmatischen Lehrbild »Gesetz und Evangelium« (Abb. 5). Aus dem Vergleich der beiden Bilder ließe sich das meiste dessen, was man im Feld des Religiösen zu »Reformation« verstehen muss, entwickeln. Rund 320 Versionen dieses gegen 1529 entworfenen, mit der Autorität des Wittenberger Ursprungs ausgestatteten Bildmotivs sind heute noch vorhanden.23 Aber nur eines der Schulbücher im hier beobachteten Corpus bietet eine Version des Bildprogramms, und zwar gerade jenes, das insgesamt nicht den Standards deutscher Schulbücher folgt: das deutsch-französische Schulbuch Histoire/Geschichte der Verlage Klett und Nathan (seit 2011). Jenseits dieses hessischen Corpus findet sich das Bild zwar bisweilen, aber ein gezieltes Denken in Bildreihen ist kaum zu erkennen.
23 Umfassend gesammelt und besprochen bei Miriam Verena Fleck: Ein tröstlich gemelde. Die Glaubensallegorie »Gesetz und Gnade« in Europa zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, 5), Korb 2010.
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Abb. 5: Das sehr weit verbreitete Programmbild der frühen Wittenberger Bewegung in einem aktuellen Schulbuch: Lucas Cranach d. Ä., Gesetz und Evangelium, nach 1529, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Abbildung aus dem deutsch-französischen Schulbuch Klett und Nathan, Histoire/Geschichte (seit 2011), S. 166
Quelle: Bendick/Henri/LeQuintrec/Geiss (Hg.): Histoire/Geschichte, S. 166
»Gesetz und Evangelium« gilt üblicherweise als ein dogmatisches Lehrbild, in welchem theologische Positionen bildlich verhandelt werden. Demgegenüber markiert das sogenannte Konfessionsbild – ein gegen 1600 aufkommender Bildtyp – den Schritt von den Auseinandersetzungen um ›richtige‹ Theologie und Frömmigkeit (im Programmbild »Gesetz und Evangelium«) zur Repräsentation der institutionellen Abspaltung, also zur Bildung einer neuen religiösen Institution mit eigenen religiösen Vollzügen. Als das ausgefeilteste Bild gilt inzwischen die Version in der Schweinfurter Johanniskirche von etwa 1620/30 (Abb. 6). Das Konfessionsbild inszeniert bildlich die Institutionalisierung der Protestbewegung. Im Bildvordergrund wird das Augsburger Bekenntnis von 1530 memoriert, der gesamte übrige Bildraum zelebriert die Institutionalisierung der neuen Glaubensgemeinschaft, wie sie im gottesdienstlichen Vollzug manifest wird – Zentralität der Predigt, Abendmahl in beiderlei Gestalt (Brot und Wein), und so weiter.
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Abb. 6: Konfessionsbild, etwa 1620/30, Schweinfurt, Johanniskirche
Quelle: Brückner: Lutherische Bekenntnisgemälde, Tafel 27
Kurz: Vom Jüngsten Gericht (Abb. 3) über das massenhaft kopierte dogmatische Lehrbild aus Wittenberg (Abb. 5) zur Repräsentation der neuen religiösen Institution etwa im Schweinfurter Konfessionsbild (Abb. 6) kann eine Bildstrecke abgeschritten werden, die im Medium des Bildes die Transformationen der religiösen Kultur vor Augen führt. Bisweilen findet man hier und dort in einem Schulbuch Aspekte davon, aber kaum so strukturiert, dass sie als Bildreihen für den systematischen Vergleich taugen. Zudem wird der Erkenntniswert von Konfessionsbildern unnötig verschenkt, wenn aus der großen Auswahl an Konfessionsbildern immer wieder auf ein anonymes (wohl zu Unrecht Georg Balthasar von Sand zugeschriebenes), nach 1630 entstandenes Gemälde aus der Coburger St. Moriz Kirche zurückgegriffen wird, das nur noch in einer Kopie des 19. Jahrhunderts erhalten ist (Abb. 7). Diese Version zeigt zwar die Versammlung der Fürsten vor Karl V. auf dem Augsburger Reichstag 1530. Sie zeigt aber gerade nicht, was die Konfessionsbilder (Abb. 6) üblicherweise ausmacht, nämlich die Institutionalisierung der neuen Religion im spezifisch eigenen kirchlichen Vollzug.24 Auch in Coburg waren beide Aspekte – das Ereignis von 1530 24 Grundlegend Wolfgang Brückner: Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die illustrierte Confessio Augustana (Adiaphora, 6), Regensburg 2007; hier S. 159-204 eine ausführliche Interpretation der Darstellungen gottesdienstlichen Vollzüge; zu Abb. 8 und 9 vgl. bes. Kat. Nr. 22 und 34, S. 275f, 280f.
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und die gottesdienstlichen Vollzüge – ins Bild gesetzt, allerdings in Form eines Diptychons oder Pendantbildes. Der Teil, auf dem die gottesdienstlichen Vollzüge dargestellt sind, ist noch im Original erhalten, wird aber nie abgebildet. Durch diese Halbierung des Bildmotivs wird ohne jede Not die Chance des Vergleichs vertan. Die aussagekräftigen, auch für Schüler lesbaren Konfessionsbilder sind ein eigenes Bildthema, sie liegen in ausreichender Zahl vor und gehören zum akademischen Standardwissen. Insgesamt ist auffällig, dass in Schulbüchern zwar hier und dort Bilder verglichen werden, dass der Vergleich aber nicht systematisch angelegt wird, dass bei der Auswahl kaum in Bildserien gedacht wird und dass nicht zum diachronen Betrachten von Bildstrecken motiviert wird. Abb. 7: Ein besonders ungeeignetes (und untypisches) Konfessionsbild wird in Schulbüchern bevorzugt verwendet, ein anonymes (zumeist Georg Balthasar von Sand zugeschriebenes) Gemälde, das ursprünglich in der Coburger Moriz Kirche hing. Heute existiert nur noch die Kopie des 19. Jahrhunderts, die wir in Schulbüchern finden. Das Gemälde zeigt gerade die wichtigsten Aspekte von Konfessionsbildern nicht: die spezifisch protestantischen gottesdienstlichen Vollzüge (Kommunion in beiderlei Gestalt usw.). Diese Vollzüge, die zum Kern der Bildaussage gehören, fehlen auch in Coburg nicht, sie sind aber auf einem Pendantbild dargestellt. Wo nur eines der beiden Pendants abgebildet wird, gehen Aussage und Erkenntniswert verloren, so wie in dieser Abbildung in Buchner, Kompendium Geschichte (erstmals 2008), S. 101; die 121 x 171,8 cm messende Kopie des 19. Jh. befindet sich in der Kunstsammlung der Veste Coburg.
Quelle: Lanzinner (Hg.): Buchners Kompendium Geschichte, S. 101
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Ein falsches Bild für das falsche Narrativ Abb. 8: Gott krönt den falschen Herrscher im falschen Jahrhundert. Der Klett Verlag markiert den Band »Antike und Mittelalter« seiner Schulbuchreihe »Geschichte und Geschehen« (erstmals 2008) mit einem Ausschnitt des Krönungsbildes Herzog Heinrichs des Löwen und seiner Frau Mathilde aus dem berühmten Evangeliar Heinrichs des Löwen, dessen Datierung in die Jahre 1188/9 heute nicht mehr umstritten ist. Ein bildlicher Ausdruck für die göttliche Legitimation »mittelalterlicher« Königsherrschaft ist dieses Bild nicht, nicht nur, weil es gar keinen König zeigt, sondern einen längst entmachteten Herzog ohne Ambitionen auf das Königtum, sondern auch, weil am Ende des 12. Jh. schon seit Generationen kein Königshof mehr zu derartigen Bildideen gegriffen hat.
Quelle: Behme (Hg.): Geschichte und Geschehen, Buchdeckel
Das dritte Programmbild stammt aus dem Buch »Geschichte und Geschehen« des Klett Verlags, erstmals 2008 publiziert. Das Buch ist »Antike und Mittelalter« gewidmet, die Eingangsseite zum Mittelalter (»Mensch, Zeit und Raum im
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Mittelalter«) ist unbebildert, sodass hier das Bild des Buchdeckels als Programmbild betrachtet sei. Der Buchdeckel zeigt einen Ausschnitt aus dem Krönungsbild Heinrichs des Löwen, also den Ausschnitt einer sehr berühmten Illumination aus einem sehr berühmten Buch – dem Evangeliar Heinrichs des Löwen. Man sieht Heinrich und seine Gemahlin kniend, während sie von Gottes Händen gekrönt werden, hinter ihnen jeweils einige Verwandte. Schulbücher gegen Postkarten Schwerer als mit dem Krönungsbild aus Heinrichs des Löwen Evangeliar kann man es den Lehrenden im Oberstufenunterricht nicht machen. Das Bild zeigt einen Herzog (Heinrich den Löwen), keinen König, die Deutung gehört zu den umstrittensten der letzten Jahrzehnte. Der lange und heftige Streit hängt an der Datierung. Obgleich die Datierungen nur um 15 Jahre differieren, haben sie im Falle dieses Bildes erhebliche Auswirkungen. Das 2008 publizierte Schulbuch schließt sich den sogenannte »Frühdatierern« an (1173/4) und macht aus dem Bild ein politisches Statement: Der Herzog war zu jener Zeit sehr mächtig und forderte den Kaiser, seinen Vetter Friedrich Barbarossa, heraus. Aber »Frühdatierer«, die in dem Bild ein politisches Statement sehen, waren 2008 kaum noch zu finden, durchgesetzt hatten sich längst die »Spätdatierer«. Als Bernd Schneidmüller im Jahr 2003 eine Bilanz des Streits publizierte, verwies er auf die in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, dem Aufbewahrungsort des Evangeliars, verkauften Postkarten. Postkartenkäufern in der ehrwürdigen Bibliothek wurde nur noch die »Spätdatierung« angeboten.25 Die sogenannten »Spätdatierer« (1188/9) müssen dem Bild einen Sinn geben zu einer Zeit, in der der Herzog zwar aus dem Exil in England zurückgekehrt war, aber seine Herzogtümer verloren hatte, den Herzogstitel nicht mehr führen durfte und weitgehend auf Braunschweig beschränkt war. So sehen sie in der Krönung Heinrichs und seiner Gemahlin durch Gott ausschließlich ein religiöses Bild. Kurz, man braucht nicht lange zu suchen, um zu bemerken, dass dieses Schulbuch mit einem Bild arbeitet, das nicht zeigt, was es zeigen soll. Es handelt sich um ein religiöses Bildprogramm eines exzentrischen, entmachteten, gebannten Herzogs, dessen Bild- oder Skulpturenproduktion (Braunschweiger Löwe) nicht nur im Fall dieses Evangeliars, sondern insgesamt alles andere als exemplarisch für
25 Bernd Schneidmüller: »Kronen im goldglänzenden Buch. Mittelalterliche Welfenbilder und das Helmarshausener Evangeliar Heinrichs des Löwen und Mathildes«, in: Ingrid Baumgärtner (Hg.): Helmarshausen. Buchkultur und Goldschmiedekunst im Hochmittelalter (Die Region trifft sich – die Region erinnert sich), Kassel 2003, S. 123-146.
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seine Zeit war. Niemand zwingt einen Verlag oder ein Autorenteam dazu, das komplizierteste und für die Botschaft am wenigsten geeignete Krönungsbild auszuwählen, das sich finden lässt. Bilder, die eine Königskrönung durch Gott oder Christus zeigen, die also plausibel visualisieren, was die Schulbücher sagen wollen, gibt es genug, viele sind geradezu kanonisch. Hundertfünfzig Jahre zu spät Als das Krönungsbild Heinrichs des Löwen gemalt wurde (egal, ob früh- oder spätdatiert), war diese Art der herrschaftlichen Repräsentation – Gott oder Christus krönen einen Herrscher – schon seit vielen Generationen aus dem Repertoire verschwunden. Nur bis zum Beginn des elften Jahrhunderts hat man derartige politische Repräsentationen genutzt, begonnen hat man erst um die Mitte des neunten Jahrhunderts. Das Bildmotiv hatte also eine Lebensdauer von kaum mehr als 150 Jahren. Zudem finden wir dieser Art von Bildern nur in einer einzigen Textsorte – dem Liturgiebuch. Mehr als 100 Jahre nach »Canossa«, am Ende des 12. Jahrhunderts, dachte kein Herrscher mehr daran, mit derartigen Darstellungen ein politisches Statement zu platzieren. Als politisches Statement, wie es in dem Buch gedeutet wird, wäre das Bild des Herzogs also ausgesprochen skurril gewesen. Wenn man im Schulbuch mit diesem Bildtypus arbeiten will, dann wäre eine geeignete Botschaft, dass der Bildtyp seit der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts ausgedient hatte, seit Beginn der Auseinandersetzungen zwischen Königen und Päpsten, oder: seit Beginn der Trennung des politischen und des religiösen Raumes. Von nun an ließen die Königshöfe gerade keine von Gott gekrönten Könige mehr malen. Der gebannte Herzog aus Norddeutschland hat ein Motiv verwendet, das schon sehr lange nicht mehr relevant war als politisches Statement. Würde man das Verschwinden des »christozentrischen« (wie man seit Kantorowicz sagt), des auf Christus bezogenen Herrscherbildes im elften Jahrhundert herausarbeiten, wäre dies ein eingängiges Zeichen dafür, dass sich seit jener Zeit ein profaner Raum des Politischen und ein religiöser Raum ausdifferenzierten. Die Kultur, in der das Religiöse zugleich das Politische war, verschwindet seit dem frühen elften Jahrhundert. Üblicherweise visualisiert man – seit Ernst Kantorowicz – diese Herausbildung eines profanen politischen Raumes mit Bildern Kaiser Friedrichs II., des »Jungen aus Apulien« (gest. 1250). Als das »Krönungsbild« des gebannten Herzogs im späten 12. Jahrhundert entstand, war der politische Prozess der Profanisierung des politischen Raumes schon in vollem Gang. Kurz: Das Bild auf dem Buchdeckel des Schulbuchs visualisiert in mehrfacher Hinsicht die falsche Geschichte. Es mag heute berühmt sein, aber es ist – nicht umsonst – singulär in seiner Zeit.
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Gleichwohl kann man nachvollziehen, dass Schulbuchautoren das Krönungsbild Heinrichs des Löwen auswählen. Die Jahrhunderte des »Mittelalters« sind diejenigen, in denen geschichtswissenschaftliche Handbücher und Synthesen sich mit der Entwicklung der (göttlich legitimierten) Königsmacht in Auseinandersetzung mit Adligen und Päpsten befassen. Politische Theorie, so lernen wir es seit Ernst Kantorowicz’ »Die zwei Körper des Königs« bis heute,26 war zuerst auf Gott oder Christus zentrierte Theorie des Königtums (christ centered kingship), dann seit dem frühen 13. Jahrhundert aufs Recht zentrierte Theorie des government/Regierens (law centered kingship), dann eine auf die beherrschten Kollektive (body politic) statt die herrschenden Personen zentrierte Theorie des Regierens (body politic centered kingship), die im Übergang zur »Neuzeit« in die monarchische Reichsverfassung mündete. Nochmals: Politische Geschichte im Konzept »Mittelalter« ist spätestens im Handbuch (und eben auch im Schulbuch) immer Königsherrschaft. Zwar ist das Krönungsbild Heinrichs des Löwen für dieses gängige Narrativ nicht brauchbar (weil viel zu spät), doch es gäbe genug passende Bilder aus der Zeit bis ins frühe 11. Jahrhundert. Zu fragen ist allerdings, wie zweckmäßig dieses Narrativ überhaupt ist – womit das Thema des letzten Abschnitts erreicht ist.
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Als Konsens seien – mit Blick auf Lehrpläne und Kerncurricula – bestimmte Lernziele vorausgesetzt: Dass es im Geschichtsunterricht inhaltlich um die Genese der pluralistischen Zivilgesellschaften geht, um die Herausbildung der Gleichheitsvorstellungen, der Stellung der Frau, der universalen Menschenrechte, Toleranz, Pluralismus, Republik, und so fort. Wenn dem so ist, dann kann auch vorausgesetzt werden, dass die Anfänge der Republik besondere Aufmerksamkeit verdienen. Das Bild Heinrichs des Löwen auf dem Cover eines Schulbuches mag deshalb für mehr stehen als für die Unachtsamkeit, die falsche göttliche Krönung gewählt zu haben. Es mag für eine generell zu beobachtende gravierende Lücke in den Bildprogrammen der Schulbücher stehen: Wo sind die Bilder zur Geschichte der republikanischen Verfasstheit? Das politische Format der (Stadt-)Republik oder Kommune hat sich genau in jener Zeit ausgedehnt im
26 Ernst Hartwig Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs: Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990. Ders.: The King’s Two Bodies. A study in mediaeval political theology, Princeton 1957; zu Kantorowicz’ Konzept vgl. Bernhard Jussen: »The King’s Two Bodies Today«, in: Representations 106 (2009), S. 102-117.
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lateinischen Europa, in dem die von Gott gekrönten Könige verschwunden sind – im 11. und 12. Jahrhundert. Die Zeit zwischen 1000 und 1300 wird als »Urbanisierung der mittelalterlichen Gesellschaft« gefasst, »Autonomie und Freiheit« sind geschichtswissenschaftliche Leitstichworte für die Darstellung der überall entstehenden neuen, urbanen politischen Systeme. Die Stadtgeschichtsforschung ist sich trotz aller Korrekturen der letzten Jahrzehnte nach wie vor einig: »Die Kommunebewegung verwandelte die bisherige Gesellschaftsordnung in einer geradezu revolutionären Weise«. Die frühe Stadtgeschichte ist fundamental wichtig für das politische Verständnis des lateinischen Westens: »Das Neue sind die Vorstellungen von der städtischen Gemeinschaft sowie ihre Verankerung in der Verfassung der Kommunen, eine durch Wahl delegierte, zeitlich begrenzte und gesetzlich definierte Amtsgewalt der jeweils Regierenden über alle Bürger, eine ungewöhnlich breite Beteiligung der Bürgerschaft an Beratungen, Entscheidungen und Verwaltungsaufgaben, die durch kurzfristige Rotation in allen Ämtern und Funktionen garantiert wird; der Zwang zur Legitimierung politischer Entscheidungen und die institutionalisierte Kontrolle von Amtshandeln.«27
Kein Bild für die Stadtkommune Wie also ist dieses umstürzend neue, für die Genese der heutigen Zivilgesellschaften zentrale politische System in den Lehrbüchern bildlich vermittelt? Zunächst ist einzuräumen, dass aus der frühen Geschichte der Stadtrepubliken im 11. und 12. Jahrhundert nur Textmaterial, kein Bildmaterial erhalten ist. Dieses Fehlen des Bildmaterials in den ersten gut zwei Jahrhunderten der Republik ändert nichts daran, dass die Hälfte dessen, was man »Mittelalter« nennt, die Zeit des 11. bis 15. Jahrhunderts, gezeichnet ist von der Ausbreitung neuer – eben nicht monarchischer, sondern republikanischer und kommunaler – Formen des Politischen. Wer diesen Teil der politischen Geschichte nicht visualisiert, stattdessen unentwegt Könige, Lehnspyramiden, ständische Dreiteilungen und ähnliches ins Bild setzt, lenkt die Aufmerksamkeitsökonomie ab von einer unbestritten zentralen, geradezu revolutionären, für das Verständnis des lateinischen Westens entscheidenden politischen Veränderung. Seit dem frühen 13. Jahrhundert gibt es bildliche Zeugnisse dieser neuen, städtischen politischen Ordnungen. Man mag etwa auf die Reste von Wandgemälden mit Vertretern der Kommune im großen Saal des Mailänder Ratsgebäudes (Palazzo Della Ragione) verweisen aus den 1230er/40er Jahren, die »so etwas wie eine gemalte Volksversammlung« zeigen, eine »wehrhafte Kommu-
27 Mit den Worten des Forschungsrückblicks von Keller: Erforschung, S. 17.
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ne«, »gewissermaßen ein imaginäres Abbild der Kommune«; es handelt sich um einigermaßen gleich große, miteinander kommunizierende, unterschiedliche Waffen tragende Gestalten, gemalt an den Wänden eines Gebäudetyps, der sich zu eben jener Zeit in Europa als Manifestation des politischen Systems »Kommune« durchgesetzt hat – des Rathauses.28 Geeigneter mögen frühe Stadtsiegel sein, Stadtsiegel mit Gruppen gleich gestalteter und gleich großer, paritätisch nebeneinander sitzender Ratsherren/Konsuln, bisweilen umgeben von Rathausarchitektur.29 Schulbücher nutzen in den Kapiteln über die Stadt zwar gerne Siegel, aber sie verzichten darauf, Siegel zu nutzen, die etwas über die Verfasstheit, über das Neue der Stadt aussagen wollen. Sie zeigen Madonna mit Christus vor Kathedrale (Speyer), einen reitenden Ritter (Marburg) oder den Kaiser, der das Stadtprivileg verlieh (Gelnhausen). Müssen die Siegel im Schulbuch aus der Region der Schüler stammen, aus Hessen oder wenigstens aus Deutschland, selbst wenn Siegel aus Flandern deutlich artikulieren, was es zu verstehen gilt, und selbst, wenn es sich um ein europäisches Phänomen handelt? Die politische Verfasstheit der Stadt seit dem 11. Jahrhundert wird durchaus in den Schulbüchern thematisiert. Aber die Aufmerksamkeit wird nicht bildlich auf dieses zentrale Phänomen gelenkt. Bilder zur politischen Geschichte der Stadt fehlen – ganz im Gegensatz zur Geschichte des Königtums. Die Stadt wird auf allerlei Weise illustriert – Frauen oder Händler – aber nicht ihre republikanische oder kommunale Verfasstheit. Wiederum gibt es – wie für die »Ständegesellschaft« (Abb. 1) – ein Bild, mit dem in den Kapiteln zur Stadt die politische Eigenart visualisiert wird. Und wiederum ist es wenig geeignet: Auffallend häufig findet sich im Schulbuch, bisweilen auch im universitären Lehrbuch, eine Illustration von Jörg Breu dem Jüngeren im Augsburger Consulatenehrenbuch. Es zeigt den Einzug der Zünfte in den Rat im Jahr 1368. Die Zeichnung illus-
28 Vgl. Dieter Blume: »Zur Entstehung und Entwicklung einer politischen Bildersprache in den italienischen Kommunen«, in: Jörg Oberste (Hg.): Repräsentationen der mittelalterlichen Stadt (Studien/Forum Mittelalter, 4), Regensburg 2008, S. 109-128, Zitate S. 112. 29 Vgl. etwa das zweite Siegel von Saint-Omer vom Beginn des 13. Jhs. (diskutiert bei Christoph Winterer: »An den Anfängen der Stadtsiegel. Das Volk und seine Anführer zwischen Helligkeit und feudaler Ordnung«, in: Markus Späth (Hg.): Die Bildlichkeit korporativer Siegel im Mittelalter. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch (Sensus, 1), Köln u.a. 2009, S. 185-209, hier Abb. 8); ähnlich Figeac (Dietrich W. Poeck: Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa (12.18. Jahrhundert) (Städteforschung Reihe A, Darstellungen, 60), Köln 2003, Abb. 50) und andere.
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triert mithin die sogenannte »Zunftrevolution«, den Moment, in dem Handwerker und Kaufleute sich Partizipation an der Augsburger Stadtregierung erstritten hatten. Gegen das Bildthema der innerstädtischen Auseinandersetzungen um Partizipation wäre an sich nichts einzuwenden. Aber kann ein Bild über innerstädtische Auseinandersetzungen als Ersatz für ein politisches Programmbild der Kommune genutzt werden? Sollte man nicht zunächst einmal im Bild sehen, wie die Kommune zu jener Zeit – also vom 11. bis 15. Jahrhundert – repräsentiert wurde, wie sich ihre Verfasstheit von der sogenannten Ständegesellschaft unterscheidet? Für die politische Theorie des Königtums gibt es in jedem Buch ein ganzes Bündel von Bildern, für die politische Theorie der Stadt kaum mehr als Breu. Dabei stammt das von Jörg Breu gemalte Bild (was viele Schulbücher verschweigen) nicht aus dem Umfeld der Zunftrevolution des Jahres 1368, sondern ist erst im Jahr 1545 publiziert. Wir verdanken es der Tatsache, dass man in Augsburg diese Ereignisse fast 200 Jahre später im Consulatenehrenbuch durch ein Bild besonders betonen wollte, in einem kritischen Moment, kurz bevor diese »Revolution« des Jahres 1368 im Jahr 1547 rückgängig gemacht wurde. Das Bild ist also weniger ein Ausdruck »mittelalterlicher« Auseinandersetzungen, als eher ein Zeugnis des kollektiven Gedächtnisses in einem Moment, in dem – in der sogenannten »Neuzeit« – diese Errungenschaft wieder abgeschafft wurde. Das Augsburger Bild ist also unproduktiv, es kann allenfalls dazu dienen, die bildliche Inszenierung einer vergleichsweise paritätischen Versammlung zu besprechen – und zwar in einer im 16. (aber nicht im 14.) Jahrhundert des Öfteren zu findenden Bildkonvention.30 Nötig wäre statt dessen ein Bild zur Theorie der Stadt in der Art, in der die Bücher mengenweise Bilder zur Theorie des Königtums einsetzen, ein Bild, bei dem es genug zu interpretieren und diskutieren gibt.
30 Dazu insgesamt Mathias Franc Kluge: Die Macht des Gedächtnisses: Entstehung und Wandel kommunaler Schriftkultur im spätmittelalterlichen Augsburg. Winner of the »Universitätspreis der Regierung von Schwaben 2013«, Leiden 2014, mit mehreren weiteren Bildbeispielen des 16. Jahrhunderts.
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Abb. 9: Schöning 2007, Zeiten und Menschen, S. 92-93. Die Programmseite stellt bildlich zwei Formen von Herrschaft gegenüber: monarchische, durch Gott verliehene Herrschaft durch das berühmte Trikliniumsmosaik des Lateran in Rom (gegen 800), sodann kommunale, paritätische, durch Wahl verliehene Herrschaft mit einem von Jörg Breu dem Jüngeren geschaffenen (beschnittenen) Bild im Augsburger Consulatenehrenbuch von 1546. Der sehr ausführliche Textund Materialienteil (S. 121-128) zur städtischen Verfasstheit geht auf das Bild nicht ein, das Entstehungsdatum des Bildes wird verschwiegen, genannt wird nur das Datum des dargestellten Ereignisses im Jahr 1368. Dieses Bild wird in Schulbüchern besonders häufig im »Mittelalter«-Kapitel zur Visualisierung der Stadtverfassung benutzt, obgleich es aus dem 16. Jahrhundert stammt. Auch das »Kursbuch« von Cornelsen (seit 2010, S. 87) bietet eine – stark beschnittene – Version, die Beischrift nennt weder Entstehungsdatum noch Bildthema. Dagegen bietet das »Kolleg Geschichte« des Buchner Verlags (seit 2013, S. 86) das Bild unbeschnitten mit ausführlichem Kommentar zum Bildthema »Zunftrevolution« und mit korrekter Datierung ins 16. Jahrhundert. Die erhellende Überschrift des Bildes wird zwar nicht abgebildet, aber zitiert: »Der sechs gesandte(n) erwerbung des zunftliche(n) Regime(n)ts«.
Quelle: Lendzian (Hg.): Zeiten und Menschen, S. 92-93
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Abb. 10: Die Allegorie der guten Regierung von Ambrogio Lorenzetti im Rathaus von Siena ist zwar heute sehr berühmt als Bild gewordenes Programm der Stadtkommune, schafft es aber nicht in deutsche Schulbücher (und akademische Lehrbücher der Geschichtswissenschaft). Allenfalls die Darstellung der Effekte guter Regierung auf der rechten Seite des Ratssaals findet man; Ambrogio Lorenzetti, Allegorie der guten und der schlechten Regierung, 1338/9, Siena, Palazzo Pubblico, Sala Dei Nove, Stirnwand.
Quelle: Archiv des Kunsthistorisches Instituts der Freien Universität Berlin
Mögen die oben genannten frühen Beispiele, das Mailänder Fresko oder die vielen aussagekräftigen Siegel, aus dem einen oder anderen Grund didaktisch ungeeignet erscheinen (was hier nicht zu beurteilen ist), so bleibt doch erstaunlich, dass das heute mit Abstand berühmteste Bild städtischer politischer Repräsentation, Lorenzettis Allegorie der guten und der schlechten Regierung im Rathaus (Pallazzo Pubblico) in Siena aus den Jahren 1338/9, es in kein einziges Schulbuch schafft. Allenfalls ein Ausschnitt der rechten Längswand des Sieneser Ratssaals (Sala dei Nove) mit dem glücklichen Leben in der gut regierten Stadt wird bisweilen aufgenommen. Ist die Allegorie zu kompliziert für ein Schulbuch? Ist es zu kompliziert, dass die sitzende Personifikation der Eintracht ausgerechnet einen übergroßen Hobel auf dem Schoß liegen hat, auf dem CONCORDIA steht, und dass die Stadtbürger links neben ihr aussehen, als seien sie alle auf gleiche Größe ›gehobelt‹? Ist es zu kompliziert, dass die Personifikation des Friedens sich angesichts des politischen Systems demonstrativ entspannt auf dem Sofa zurücklehnen kann? Ist es zu kompliziert, dass hier (wie in der Stadtansicht auf der rechten Längswand) weder Kleriker noch Mönche zu sehen sind, und dass in der Stadtansicht nur sehr klein im Hintergrund über den Dächern der Stadt die Kuppe des Sieneser Dom zu
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sehen ist?31 Ist es zu kompliziert, dass nur ein winziger, unauffälliger Kopf Christi wie ein Zuschauer durch einen kleinen Spalt im Himmel auf diese Allegorie blickt ? Ist es zu kompliziert, dass die große Personifikation der Stadtherrschaft ihre Legitimation nicht durch Gott, sondern durch die Stadtbürger bekommt, die vermittelt durch die Hand der Concordia ein Seil von der Personifikation der Gerechtigkeit (Iustitia) bekommen, dieses Seil von Hand zu Hand weiterreichen, bis es ins Zepter der personifizierten Stadtherrschaft mündet? Die Waagschalen der Iustitia hält die Personifikation der Weisheit (Sapientia) in Händen, nicht wie beim Jüngsten Gericht ein Engel. Verstehen Jugendliche dies nicht, oder ist es zu langweilig, oder dauert es zu lange? Weshalb fehlt dieses sehr berühmte, unendlich oft besprochene, detailreiche, Beobachtungsmaterial wie Diskussionsstoff bietende, leicht in hochauflösenden Detailabbildungen zu findende Bild durchweg? Oder sollte Siena zu weit weg von »Deutschland« sein, sollte das »Mittelalter« im Schulbuch so deutsch wie möglich sein müssen? Kann man in der Schule wirklich mehr anfangen mit einem Memorialbild des 16. Jahrhunderts zu einem Zunftaufstand 200 Jahre zuvor, mit einem Bild, das ikonographisch kaum etwas zur Verfasstheit der Kommune hergibt, dessen Herstellungsdatum in vielen Büchern vorsichtshalber verschwiegen wird (denn man lehrt mit dem Bild das »Mittelalter«) und das die Intuition »Mittelalter-Neuzeit« auf den Kopf stellt (die Abschaffung der Partizipation findet in der »Neuzeit« statt). Für das, was es über die Formierung der pluralistischen Zivilgesellschaft zu lernen gibt, ist im Geschichtsbuch die sogenannte »Neuzeit« zuständig, nicht das »Mittelalter«, das gerade über Alterität definiert ist.
4. »B ILDUNG DURCH B ILDER « – B ILDUNG DURCH B ILDREIHEN Es ist hier nicht der Ort des Nachdenkens darüber, welchen Anteil Ministerien, Schulbuchverlage, Bildrechte, Autorinnen und Autoren, das föderale Bildungssystem (mit seinem Zwang zu unüberschaubarer Variantenvielfalt) jeweils an den Konzepten der Schulbücher haben. Einen erheblichen Anteil haben jedenfalls jene, die das Geschichtsstudium verantworten, die geschichtswissenschaftlichen Institute der Universitäten und ihre Lehrenden. Jenseits der Fachdidaktik finden Studierende im Geschichtsstudium bei ihren Lehrenden praktisch kein
31 Buchner, Kolleg Geschichte (seit 2013), S. 82/3 bietet einen Ausschnitt aus Lorenzettis Darstellung des städtischen Lebens und leitet die Nutzer zu Beobachtungen an, die auf das Fehlen von Klerikern und Mönchen zielen.
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Interesse dafür, dass die Hälfte von ihnen das Lehramt anstrebt und später mit einem konkreten, vorgeschriebenen Bestand an Schulbüchern arbeiten muss (in denen oft ihre akademischen Lehrer als Berater oder Autoren fungieren). Es gibt unter Lehrenden und in den Studienordnungen kaum Interesse dafür, wie sich Makronarrative und Detaildarstellungen dieser Bücher zu denen der Lehr- und Handbücher des Geschichtsstudiums verhalten, erst recht keines dafür, wie diese Bücher mit Bildern ausgestattet sind. Arbeiten mit Bildern hat kaum jemand gelernt. Wer versucht, trotzdem mit Schulbüchern zu arbeiten, bemerkt schnell, wie aufwändig (trotz des Deutschen Bildungsservers und trotz des Georg Eckert Instituts für internationale Schulbuchforschung) schon die simpelste Vorarbeit ist – die Zusammenstellung valider empirischer Corpora anhand der Schulbuchlisten verschiedener Bundesländer und Jahre. Wer sich in Schulbücher für Geschichte und ihre Bebilderungen vertieft, wird schnell bemerken, wie die Verantwortlichen mit den Herausforderungen kämpfen, wie sie zu verändern versuchen, mit Vorschriften kämpfen, Neues – wie die islamische Welt – einbauen, bisweilen auch die zentralen Kategorien (z.B. die Epochenmodelle) zu historisieren suchen, und so fort. Trotzdem sind derzeit besonders im Bereich des Bildmaterials die Schulbücher wenig überzeugend, der Umgang mit Textmaterial ist weit besser durchgearbeitet, die Arbeitsanweisungen zum Textmaterial sind fundierter; Bilder sind bisweilen überzeugend gewählt, viele durchaus exemplarisch für das behandelte Thema. Zu oft aber sind sie für die behandelte Zeit und die zu lernende ›Botschaft‹ deplatziert, bisweilen – wie im Fall des Jungfrauenspiegels – sind sie Produkte blühender Fantasie. Etwas ratlos steht man auch vor der Masse an Portraits, insbesondere für die Zeit nach 1500. Was sollen Schülerinnen und Schüler an Portraits lernen? Nicht einmal unterhaltsam dürften die Betroffenen diese Bilder finden. Mancher guten Auswahl steht mangelnde Infrastruktur für den Zugriff auf qualitätsvolle Vorlagen im Weg. Nicht nur zum Weltgericht in Abb. 3, auch zu vielen anderen Abbildungen findet man eine vollständige, unbeschnittene Version gar nicht oder nur mit sehr hohem Aufwand (z.B. zu Abb. 9). Wer ein Bild besprechen will, muss die Details erkennen können und statt eines Ausschnitts das Gesamtbild zur Verfügung haben. Abhilfe durch Onlineservices für Lehrende wäre wohl nur eine Frage des Willens. Selbst der Satzspiegel ist bisweilen Grund genug , Bilder so zu verstümmeln, dass wichtige Beobachtungen nicht möglich sind; auch dies zu beheben erfordert keine große Infrastruktur.32
32 So würde eine gute Abbildung von Jörg Breus Bild im Augsburger Consulatenehrenbuch (Abb. 8) zeigen, dass an beiden Wänden religiöse Gemälde hängen, anscheinend, soweit es die verfügbaren Abbildungen hergeben (Kluge: Die Macht des Ge-
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Aufwändiger, aber besonders hilfreich wäre es, nicht in Einzelbildern zu denken, sondern in Bildreihen (wie oben Abb. 4–5). Prinzipiell ist zum Beispiel gegen die beliebten Bilder von Herrschern des 10. oder frühen 11. Jahrhunderts (wie Otto III. oder Heinrich II.), die von Gott gekrönt oder legitimiert werden, nichts einzuwenden. Diese Bilder funktionieren aber nur dann, wenn sie vergleichbar sind mit Bildern früherer Herrscher des 6. bis 9. Jahrhunderts (etwa Münzen des Merowingers Theudebert I. und Karls des Großen), die sich bildlich wie römische Kaiser stilisierten, und mit Bildern späterer Herrscher seit spätestens dem 13. Jahrhundert, die wiederum auf die römische Kaiserzeit zurückgriffen (Friedrich II.) und wieder mit Reiterstatuen arbeiteten (Standbild Ottos I. auf dem Magdeburger Markt, 13. Jh.). Auf das Evangeliar des absonderlichen Herzogs aus Braunschweig (Abb. 8), der sich noch gegen 1200 von Gott krönen ließ (wenn auch aus religiösen statt politischen Motiven), würde man dann eher verzichten.
Q UELLEN
UND
L ITERATUR
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»Sehen kann jeder!« Zu einem Irrtum der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation M ARKUS B ERNHARDT
In der geschichtsdidaktischen Diskussion über die Verwendung von BildanalyseSchemata im Rahmen des Historischen Lernens lassen sich zwei unterschiedliche Positionen ausmachen. Auf der einen Seite stehen die Verfechter des adaptierten Modells von Erwin Panofsky, wie Hans-Jürgen Pandel1 und Michael Sauer.2 Sie erblicken darin eine generalisierbare Methode, die von Schülerinnen und Schülern gelernt werden kann, um alle möglichen Bildquellen zu erschließen. Unter diesem Blickwinkel erscheint das Panofsky-Modell als ein Lerninhalt, dessen Struktur aus dem Unterrichtsgegenstand »Bild« abgeleitet wird und von Lernenden zur Interpretation von Bildquellen anzuwenden ist. Diese gegenstandszentrierte Position bestimmt den Markt der geschichtsdidaktischen Handbuch- und Einführungsliteratur sowie den der Schulbücher und damit die Ausbildung von Lehramtsstudierenden und Schülern. Auf der anderen Seite stehen zum Beispiel Christoph Hamann,3 Kristina Lange4 und ich,5 die die Funktion von Bildern im Lernprozess und dessen Opti-
1
Hans-Jürgen Pandel: Bildinterpretation. Die Bildquelle im Geschichtsunterricht.
2
Michael Sauer: Bilder im Geschichtsunterricht. Typen, Interpretationsmethoden,
3
Christoph Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der
4
Kristina Lange: »Schülervorstellungen zur Bildquellenarbeit im Geschichtsunterricht
Bildinterpretation I, Schwalbach/Taunus 2008. Unterrichtsverfahren, Seelze 2000. historisch-politischen Bildung, Herbolzheim 2007. – ›Ja, aber so lernen wie Rechnen oder Lesen muss man das, denke ich mal, nicht‹«, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), H. 1, S. 27-45.
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mierung in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellen. Diese Sichtweise orientiert sich am Schüler oder an der Interaktion des Schülers mit Bildern, also am Lernprozess. Grundlage für diese Position sind empirische Untersuchungen.6 Diese belegen die »geringe Verarbeitungstiefe beim Lernen mit Bildquellen […] [und] geradezu groteske Missverständnisse bei der Wahrnehmung von Bildquellen«7 inzwischen sehr gut. Im Rahmen dieses Forschungsansatzes ist auch die Verwendung des dreigliedrigen Analyseschemas von Erwin Panofsky empirisch untersucht worden. Die Ergebnisse sind hier ebenfalls außerordentlich eindeutig. »Der empirische Befund«, so Kristina Lange, »zeigt […], dass erkennende, analysierende und interpretierende Prozesse zeitgleich und in hohem Maß individuell unterschiedlich verlaufen.«8 Panofsky hat sein Modell, das er seit den 1930er Jahren entwickelte, nicht für Kinder und Heranwachsende entworfen. Selbst bei der »vorikonographischen Beschreibung« hatte er den akademisch gebildeten Bürger im Auge, dem durchaus bewusst ist, dass es sich bei einem Bild um ein künstlerisches Produkt und keineswegs um die Abbildung der Wirklichkeit handelt. Kinder und Jugendliche glauben aber zu einem ganz erheblichen Teil genau das: Ein Bild zeigt die Wirklichkeit.9 Angesichts dieser Vernachlässigung der Perspektive der Nutzer sind Zweifel an einer schematischen Abarbeitung von Bildinterpretationsmodellen angebracht, und im Hinblick auf das Historische Lernen spricht vieles für eine stärkere Berücksichtigung der Schülerinnen und Schüler bzw. der Interaktion zwischen Schüler und Gegenstand innerhalb des Lernprozesses.
5
Markus Bernhardt: »Bild und Sprache. Zum Verhältnis von Anschauung und Denken in der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation. Zugleich eine Antwort auf HansJürgen Pandel«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), H. 11/12, S. 732-746.
6
Markus Bernhardt: »Vom ersten auf den zweiten Blick. Eine empirische Untersuchung zur Bildwahrnehmung von Lernenden«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), H. 7/8, S. 417-432.
7
Edda Grafe/Hilke Günther-Arndt/Carsten Hinrichs: »Bildliche Quellen und Darstellungen«, in: Hilke Günther-Arndt/Meik Zülsdorf-Kersting (Hg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, 6., überarb. Neuaufl. Berlin 2014, S. 100-131, hier S. 100.
8
Lange: Schülervorstellungen, S. 42.
9
Markus Bernhardt: »›Wer sieht was auf historischen Gemälden?‹ Eine explorative Studie zur Bildwahrnehmung Alter Meister«, in: Susanne Popp/Bernd Schönemann (Hg.): Historische Kompetenzen und Museen, Idstein 2009, S. 121-132.
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Ein Anstoß, diese Nutzer-Perspektive stärker in das Forschungsinteresse zu stellen, kommt aus der in Deutschland kaum rezipierten Interview-Studie How We Understand Art von Michael J. Parsons (1987),10 in der der Autor bei seinen Probanden fünf (kognitive) Entwicklungsstufen des Kunstverständnisses festgestellt hat. Es spricht wenig dagegen, solche Stufen des Verstehens auch für die Wahrnehmung von Bildquellen anzunehmen, also davon auszugehen, dass aufgrund ihres kognitiven Entwicklungsstandes nicht alle Kinder und Jugendliche in jedem Alter in der Lage sind, umstandslos eine »vorikonographische Beschreibung« vorzunehmen – und zwar, weil einem großen Teil von ihnen nicht bewusst ist, dass ein Bild ein künstlerisch gestaltetes Produkt ist.11 Um dieses Argument zu stützen, wird im Folgenden zunächst das adaptierte PanofskyModell vorgestellt. Daran schließen sich zwei zentrale Kritikpunkte an, die sich auf den im Titel des Beitrags angesprochenen Irrtum in der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation beziehen. Nach der Erläuterung dieser Kritikpunkte rundet ein kurzes Fazit mit zwei Forderungen an den Geschichtsunterricht die Ausführungen ab. Zunächst also die Frage, wie Hans-Jürgen Pandel Bildinterpretation als Methode konzipiert. Seiner Auffassung liegt ein spezifischer Interpretationsbegriff zugrunde. Interpretation sei das Verfahren, aus »kulturellen Gebilden menschlicher Lebensäußerungen« Sinn zu entnehmen. Von Interpretation könne man erst dann sprechen, wenn diese Sinnentnahme Schwierigkeiten bereite. »Ohne Verständnisschwierigkeiten wäre Interpretation überflüssig.«12 Interpretation sei deshalb »Verstehen unter Schwierigkeiten«. Die Aufgabe der Geschichtsdidaktik bestehe darin, »die Voraussetzungen zu klären, unter denen eine Interpretationsfähigkeit angebahnt werden kann, um die Schwierigkeitsbarrieren beim Verste-
10 Michael J. Parsons: How We Understand Art. A Cognitive Developmental Account of Aesthetic Experience, Cambridge u.a. 1987. 11 Markus Bernhardt: »Die visuelle Wahrnehmung des Historischen. Zur theoretischen und empirischen Begründung einer Wahrnehmungskompetenz«, in: Michele Barricelli/Axel Becker/Christian Heuer (Hg.): Jede Gegenwart hat ihre Gründe. Geschichtsbewusstsein, historische Lebenswelt und Zukunftserwartung im frühen 21. Jahrhundert. Hans-Jürgen Pandel zum 70. Geburtstag, Schwalbach/Taunus 2011, S. 153-163. 12 Hans-Jürgen Pandel: »Bildinterpretation. Zum Stand der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation«, in: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hg.): Visualität und Geschichte, Berlin 2011, S. 69-87, hier S. 74.
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hensprozeß zu überwinden«.13 Pandel orientiert sich an dem geschichtswissenschaftlichen Interpretationsmodell des Historikers Rainer Wohlfeil und der Historikerin Brigitte Tolkemitt,14 die eine entsprechende Vorlage des Kunsthistorikers Erwin Panofsky für den Gebrauch zur historischen Interpretation von Bildquellen zur »Historischen Bildkunde« weiterentwickelt haben.15 Der Geschichtsunterricht habe anhand dieses Modells die »Schülerinnen und Schüler zum geschulten historischen Denken zu befähigen« und sie dafür in das Verfahren der Bildinterpretation einzuführen.16 Man könnte auch sagen: Interpretation muss weh tun. Den Gedanken, dass Heranwachsende bei der Ausbildung ihres dazu notwendigen kognitiven Apparates erst unterstützt werden müssen, hält Pandel für eine der Geschichtsdidaktik heteronome Aufgabe. Sein eigenes Modell zur Interpretation von Bildquellen besteht aus vier Schritten, die ersten beiden entsprechen Panofskys »vorikonographischer Beschreibung« und »ikonographischer Analyse«. Die beiden anderen hat er hinzugefügt. Das Modell leite die »Interpretation als methodisch geregelten Prozess«. Dabei müssen die Lernenden unterschiedliche »Sinnschichten« durchlaufen: 1. Erscheinungssinn, 2. Bedeutungssinn, 3. Dokumentensinn, 4. Erzählsinn. Im Sinne seiner semiotischen Auffassung seien im ersten Schritt alle Bildelemente sprachlich zu benennen, also Bildzeichen in Sprache zu transformieren. Hierzu sei lediglich die praktische Alltagserfahrung notwendig, da auf dieser Ebene alle Bilddetails von Betrachtern erkannt und benannt werden könnten. Der Bedeutungssinn werde anschließend »unter Einbeziehung des historisch-kulturellen Gedächtnisses« entschlüsselt. Dafür müssten die Lernenden etwa Lexika oder Handbücher heranziehen.17 Bei der Entschlüsselung des Dokumentensinns – hier schließt er an die Historische Bildkunde an – habe der Betrachter eine historische Perspektive einzunehmen, indem das Bild als Dokument für einen historischen Sachverhalt gedeutet werde. Das Bild stehe auf dieser Ebene gewissermaßen stellvertretend für einen historischen Kontext. Den vierten Schritt der Bildinterpretation bezeichnet Pandel als »narrative Analyse, die den Zeit- bzw. Erzählsinn des Bildes heraus-
13 Hans-Jürgen Pandel: »Vorüberlegungen zu einer geschichtsdidaktischen Theorie der Interpretation«, in: Klaus Bergmann/Jörn Rüsen (Hg.): Geschichtsdidaktik. Theorie für die Praxis, Düsseldorf 1978, S. 85-113, hier S. 96. 14 Rainer Wohlfeil/Brigitte Tolkemitt: Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele, Berlin 1991. 15 Pandel: Bildinterpretation, Bildquelle im Geschichtsunterricht, S. 114. 16 Pandel: Stand der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation, S. 77, [Herv. i.O.]. 17 Ebd., S. 75.
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arbeitet«. Auf dieser Ebene geht es um eine Art Verflüssigung des Bildes im Zeitverlauf, weil es lediglich »einen eingefrorenen Augenblick in einem Prozess« darstelle. Damit soll das Nicht-Prozesshafte, mithin das Unhistorische eines Bildes aufgehoben werden, um aus dem Bild oder aus einem Vergleich mit weiteren Bildern eine Geschichte zu machen.18 Diesen Schritt hat Pandel bezeichnenderweise aus den narratologischen Befunden der Analytischen Philosophie der Geschichte von Arthur C. Danto (1965) entwickelt,19 ohne dessen kunsttheoretische Schriften zu erwähnen, in denen sich Danto unter anderem mit dem kategorialen Unterschied von Kunst und Nicht-Kunst beschäftigt.20 Das macht deutlich, dass sämtliche ästhetische Aspekte von Bildern für Pandel zweitrangig, wenn nicht unbedeutend sind. Er pflegt eine rein rationale Beziehung zu Bildern. Abb. 1: Bildinterpretationsmodell nach H.-J. Pandel
Quelle: Pandel, Hans-Jürgen: Bildinterpretation. Die Bildquelle im Geschichtsunterricht. Bildinterpretation I, Schwalbach/Taunus 2008, S. 137
18 Pandel: Stand der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation, S. 76. 19 Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte, [engl.: Analytical Philosophy of History, Cambridge/Mass. 1965], übers. v. Jürgen Behrens, Frankfurt/M. 1974. 20 Stefan Majetschak: Ästhetik zur Einführung, Hamburg 2007, S. 158.
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Der gesamte Prozess der Bildinterpretation, um das zusammenzufassen, ist für ihn eine Transformation von visuellen Zeichen in Sprache. Bilder werden danach wie Texte gelesen. Die Wirklichkeit der Bilder geht über die Sprache nicht hinaus. Die Bilder selbst fungieren lediglich als passive Objekte, die dem Betrachter als Trägermedium einer »Botschaft« dienen, welche außerhalb des Bildes liegt und auch als Sprache vermittelt und rezipiert werden könnte.21 Bilder werden so als Dokument eines Sinns gelesen, der sich in ihnen spiegelt, ohne dass er durch sie begründet worden wäre. Dieser eindimensionale Rationalismus ignoriert, dass Bilder Wirkungen auslösen, die nicht nur kognitive Bereiche der menschlichen Wahrnehmung berühren, sondern ebenso affektive oder emotionale. »Bilder […] sind nicht nur kommunikative, sie sind auch ›lebendige Dinge‹. Sie waren und sind immer mehr als Repräsentationen von etwas, als die sie gerade Historiker noch immer primär betrachten. Sie waren und sind auch mehr als Medien, die Botschaften und Deutungen transportieren. Und sie sind mehr als passive Objekte der Anschauung. Bilder machen etwas mit uns, mit ihren Betrachtern.«22
Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass Bilder uns grundsätzlich »anspringen«, »faszinieren« oder sich »in unser Gedächtnis einbrennen«, wie Gerhard Paul es formuliert. Bilder können uns auch gleichgültig sein, wir können achtlos an ihnen vorübergehen oder einfach ihre Existenz konstatieren, ohne uns dabei etwas zu denken. Gleichwohl besitzen Bilder die Anmutung von Evidenz, was die Herstellung einer unmittelbaren subjektiven Beziehung deutlich vereinfacht.23 Dazu kommt, dass die Bedeutung von Bildern nicht nur durch das Dargestellte, sondern auch durch das Darstellende, also die Form, den Stil, konstituiert wird. Dieses Problems entledigt sich Pandel, indem er abstrakte Bilder nicht zu den historisch relevanten Bildquellen zählt.24
21 Martina Heßler: »Bilder zwischen Kunst und Wissenschaft. Neue Herausforderungen für die Forschung«, in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), H. 2, S. 266-292, hier S. 269. 22 Gerhard Paul: »Visual History und Geschichtsdidaktik – Grundsätzliche Überlegungen.«, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 9-26, hier S. 15. 23 Majetschak: Ästhetik, S. 168 u. S. 165. 24 Pandel: Stand der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation, S. 73. »Für Historiker sind Bilder solche Flächen, die einen Bezug zu natürlichen und imaginären Gegenständen (Sachen und Personen) haben. Monochrome und ungegenständliche Gemälde sind demnach für Historiker keine Bildquellen.«
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Dazu ist Folgendes zu sagen: Die Interpretation von Bildern bewegt sich nicht ausschließlich in den Bahnen eines sprachlichen Denkakts, sondern sie beruht – im Sinne Wilhelm Diltheys – auf dem Verhältnis von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen.25 Das heißt, es geht nicht nur um den »Ausdruck« des in Rede stehenden Objektes, der mit Vernunft als bloßer Denktätigkeit »verstanden« wird. Es geht vielmehr um den ganzen Menschen, der mit all seinen Kräften als wollendes, fühlendes und vorstellendes Wesen der Erkenntnis zugrunde gelegt werden muss. Nur in solchem »Erlebnis« ist es möglich, dem Sinn eines Bildes näherzukommen, sofern wiederum das Verstehen das subjektive Erlebnis auf eine allgemeinere kulturelle Ebene hebt. Das ist oft missverstanden worden. Denn im trivialisierten reformpädagogischen »Erlebnisunterricht« wurde und wird das Erkennen mit dem Erleben gleichgesetzt. Nach Dilthey vollzieht sich das Erkennen demgegenüber aber im Wechsel von Erleben und Verstehen, »wobei im Verstehen das Erlebnis von subjektiven Trübungen befreit, in allgemeine Zusammenhänge eingeordnet wird. Verstehen ist bei ihm [Dilthey] eine intellektuelle Anstrengung, die Erleben auf einer neuen Stufe ermöglicht.«26 Im Zusammenhang mit Bildern ist demnach gerade nicht intuitives »Einfühlen« in die »Wahrheit des Werkes« gemeint, es geht nicht um »das direkte, unvermittelte Sehen und Erkennen des Charakters des Kunstwerks«, wie es kunsthistorische Ansätze zur Zeit des Nationalsozialismus formulierten.27 Vielmehr muss, gerade für Kinder und Jugendliche, die »visuelle Evidenz« eines Bildes selbst Gegenstand der Reflexion werden. Andernfalls erliegt man ihrer Manipulation. Aber dazu muss man diese Art der Wahrnehmung in Worte fassen können.
25 »Die Menschheit wäre, aufgefaßt in Wahrnehmung und Erkennen, für uns eine physische Tatsache, und sie wäre als solche nur dem naturwissenschaftlichen Erkennen zugänglich. Als Gegenstand der Geisteswissenschaften entsteht sie aber nur, sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden.« [Herv. M.B.]. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1970 [1910], S. 96-98. 26 Jochen Huhn: »Geschichtsdidaktik in der Weimarer Republik«, in: Klaus Bergmann/Gerhard Schneider (Hg.): Gesellschaft – Staat – Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer Geschichte der Geschichtsdidaktik und des Geschichtsunterrichts von 15001980, Düsseldorf 1982, S. 218-260, hier S. 248. 27 Sabine Bohde: »Kulturhistorische und ikonographische Ansätze in der Kunstgeschichte im Nationalsozialismus«, in: Ruth Heftrig/Olaf Peters/Barbara Schellewald (Hg.): Kunstgeschichte im »Dritten Reich«. Theorien, Methoden, Praktiken, Berlin 2008, S. 189-204, hier S. 195-196.
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An dieser Stelle setzt die Kritik an Pandels Bildinterpretation an. Bilder sind nicht das Gleiche wie Sprache, Bildhermeneutik ist nicht das Gleiche wie Texthermeneutik. In der Methodik des Geschichtsunterrichts von Bernhard Stohr, lange Jahre das Standardwerk in der DDR, findet sich die Beschreibung eines Experiments mit Schülern. Ein Lehrer liest dort den Schülerinnen und Schülern die Beschreibung einer Hellebarde vor und fordert sie dann auf, den so beschriebenen Gegenstand zu zeichnen. Dabei entstand eine Sammlung von höchst amüsanten Bildern (Abb. 2), die alle einen Gegenstand darstellen, der mit Haken und Ösen sowie mit Beilen und Stielen versehen ist, aber nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Hellebarde hat. Der Schüler f hatte vermutlich schon einmal eine Hellebarde gesehen. Alle anderen waren nicht in der Lage, aus der Sprache eine Vorstellung zu generieren, die dem Aussehen einer Hellebarde nahekommt. Abb. 2: Schülerzeichnungen nach einer sprachlichen Beschreibung einer Hellebarde (bei Stohr: »Subjektive Gesamtvorstellungen einer Hellebarde«)
Quelle: Bernhard Stohr: Methodik des Geschichtsunterrichts, Berlin 1968, S. 124
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Aus dem Gesagten ergeben sich zwei zentrale Kritikpunkte. Erstens halte ich die Annahme, eine Bildbeschreibung sei einfach, für falsch. Mit der Behauptung »Sehen kann jeder!« ist die Arbeit bei einer Bildbeschreibung keineswegs treffend gekennzeichnet. Zweitens bin ich davon überzeugt, dass der Vorgang der Symboldeutung auf der Ebene des Bedeutungssinns dazu neigt, Deutungen in das Bild im wahrsten Sinne »hineinzulesen«, die es selbst nicht hat. Beide Einwände sollen an einem Beispiel demonstriert werden. Dazu ist ein Bild von Peter Paul Rubens gewählt worden, Der Raub der Töchter des Leukippos (im Hintergrund von Abb. 3 und Abb. 4). Rubens hat hier eine antike Geschichte ins Bild gesetzt, die sicher kaum im Geschichtsunterricht thematisiert wird, aber eine wichtige Rolle in dem bekannten Sketch Eheberatung des deutschen Komikers Loriot spielt. Die von Evelyn Hamann gespielte Eheberaterin bittet darin das von Loriot und Ingeborg Heydorn dargestellte Ehepaar Blöhmann, das Bild zu beschreiben. Abb. 3: Die Eheberaterin (Evelyn Hamann) vor einer Kopie des Rubensbildes
Quelle: Die Eheberatung (Deutschland 1977, R: Loriot), mit freundlicher Genehmigung von Radio Bremen
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Der Ehemann fasst das Bild mit den Worten »Zwei Herren geben zwei Damen Reitunterricht« zusammen. Die Ehefrau ergänzt die Einschätzung: »Mehr so Urlaub, mit Reiten und so.« Der Ehemann formuliert schließlich: »Die Herren sind den Damen irgendwie behilflich.« Der Witz der Situation entsteht daraus, dass die Ehepartner nur einige ihnen relevant erscheinende Aspekte des Bildes herausgreifen und diese auf Basis ihrer Alltagstheorien deuten. Schülerinnen und Schüler sind in der Regel in einer ähnlichen Situation wie die Blöhmanns. Auch von ihnen wird verlangt, aus dem Stand etwas zu einem ihnen völlig unbekannten Bild zu sagen. Auch bei ihnen verläuft die Beschreibung von Bildern, wie in vielen empirischen Erhebungen festgestellt worden ist, auf einem ähnlichen Niveau wie hier.28 Sie beschreiben Bilder unvollständig und kommen trotz einer nur lückenhaften Beschreibung relativ schnell zu Deutungen auf Basis ihrer Alltagserfahrungen. Ob das an der mangelnden Kenntnis des Panofsky-Modells liegt, ist fraglich. Die Probleme der Schülerinnen und Schüler befinden sich an zwei anderen Stellen. Das erste Problem ist die Gleichsetzung von Sehen und Wahrnehmen, die Panofsky bereits vornahm und Pandel in seinem Modell übernommen hat. »Die Fähigkeit zur visuellen Wahrnehmung ist bei Schülerinnen und Schülern zu Beginn des Geschichtsunterrichts schon ausgebildet. Sie können schon sehen.«29 In dieser Gleichsetzung von – rezeptivem – Sehen und – aktivem – Wahrnehmen ist sein fundamentales Missverständnis schon zu erkennen.30 Pandel behauptet: Der »Phänomensinn [von Bildern kann] von Schülern und Schülerinnen aller
28 Bernhardt: Vom ersten auf den zweiten Blick. Ders.: »Die Subjektseite der visuellen Begegnung. Vom Nutzen qualitativer empirischer Untersuchungen für die Entwicklung fachspezifischer Kompetenzen«, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Jahresband 2007, S. 108-124. Ders.: »Bildwahrnehmung und Bildungsstandards. Ein qualitatives empirisches Forschungsprojekt an der Universität Kassel zur Entwicklung fachspezifischer Kompetenzen«, in: Béatrice Ziegler/Jan Hodel (Hg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 07«, Bern 2009, S. 208-220. Ders.: »›Ich sehe was, was Du nicht siehst!‹ Überlegungen zur Kompetenzentwicklung im Geschichtsunterricht am Beispiel der Bildwahrnehmung«, in: Handro/Schönemann (Hg.): Visualität und Geschichte, S. 37-53. Kristina Lange: Historisches Bildverstehen oder Wie lernen Schüler mit Bildquellen? Ein Beitrag zur geschichtsdidaktischen Lehr-Lern-Forschung, Berlin 2011. 29 Pandel: Bildinterpretation, Bildquelle im Geschichtsunterricht, S. 78. 30 Peter Bernhard: »Aisthesis«, in: Eckart Liebau/Jörg Zirfas (Hg.): Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung, Bielefeld 2008, S. 19-34, hier S. 23.
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Altersstufen […] geleistet werden«.31 Panofsky hat sich ganz ähnlich dazu geäußert: »Jedermann kann die Gestalt und das Verhalten menschlicher Wesen, von Tieren und Pflanzen erkennen, und jedermann kann ein zorniges Gesicht von einem fröhlichen unterscheiden.«32 Das Gegenteil ist der Fall. Man muss Sehen erst lernen. Die Auffassung, das sei nichts Besonderes, ist eine sehr erwachsene Vorstellung und ignoriert die Tatsache, dass Kinder diese Leistungen eben nicht automatisch vollbringen können. Man muss vielleicht an dieser Stelle nochmals betonen, dass Panofsky sein Modell nicht für Kinder entworfen hat. In diesem Kontext weise ich zunächst auf eine Untersuchung amerikanischer Psychologen hin. Dort ist festgestellt worden, dass die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden und mit ihnen umgehen zu können oder die Gefühlszustände anderer an ihrer Mimik zu erkennen und Empathie zu entwickeln, kein angeborenes Programm ist, sondern in sozialen Situationen erlernt wird. Dafür muss man Begriffe entwickeln, um diese Zustände in entsprechenden Situationen kommunizieren zu können.33 Dieser Zusammenhang zeigt sich beispielsweise auch in dem Programm »Faustlos«, das in vielen Kindergärten angeboten wird. Dort lernen Kinder unter Anleitung, was bestimmte Gesichtsausdrücke bedeuten, wie man die dahintersteckende Emotion nennt und sich entsprechend verhält.34 Schülerinnen und Schüler sind demnach häufig nicht in der Lage, den »Erscheinungssinn« von Bilddetails zu erfassen. Sie verfügen nicht über die Begriffe, bestimmte Phänomene auf Bildern sprachlich zu benennen. Sie sehen auch keine Notwendigkeit darin. Michael J. Parsons belegt in seiner Interview-Studie überzeugend, dass viele Kinder affirmativ mit Bildern umgehen. Auf der ersten Entwicklungsstufe des favoritism zeigten sie »freewheeling associative response to subject matter« und hätten die Annahme, dass alle das betrachtete Bild genauso sehen wie sie selbst. »The common characteristic is the happy acceptance of whatever comes to mind, not distinguishing between what is and is not rele-
31 Pandel: Bildinterpretation, Bildquelle im Geschichtsunterricht, S. 120. 32 Erwin Panofsky: »Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance«, in: Ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst [engl.: Meaning in the Visual Arts, New York 1955], übers. v. Wilhelm Höck, Köln 1975, S. 36-50, hier S. 43. 33 Elizabeth Lemerise/William F. Arsenio: »An integrated model of emotion processes and cognition in social information processing«, in: Child Development 71 (2000), H. 1, S. 107-118, hier S. 112. 34 Manfred Cierpka: Faustlos – Wie Kinder Konflikte gewaltfrei lösen lernen, Freiburg i.Br. 2005.
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vant.«35 Deshalb müssen sie das Sehen erst lernen. Denn man sieht nur das, was man sprachlich benennen kann. Sie müssen das von ihnen auf einem Bild Wahrgenommene in angemessenen Begriffen fassen können. Worin besteht nun der Irrtum der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation? Pandel hält es für möglich, dass sich Bildbeschreibungen als Basis der Interpretation theorieunabhängig formulieren lassen. Eine solche Sichtweise ist aber stark positivistischen Vorstellungen verhaftet, die von einer methodischen und sinnlichen Gewissheit in der Erfahrung ausgehen. Tatsächlich ist es aber so, dass Theorievorgaben ohne Absicht in die Beschreibungen einfließen, sodass in einer Beschreibung nur jene Elemente herausgegriffen werden, die das Muster eines bereits bestehenden Theoriegerüsts bedienen.36 Und gerade das passiert bei den Schülerinnen und Schülern. Da ihnen keinerlei und nur unzureichende Kontextangaben vorliegen, passen sie die Auswahl der Elemente ihrem bereits vorhandenen Theoriegerüst an. Die alltagstheoretische Grundierung ihrer kognitiven Operationen ist oft nachgewiesen worden.37 Dass ein Bild für etwas anderes gedeutet werden soll, ist ihnen (noch) nicht bewusst. Das heißt, den Schülerinnen und Schülern wird ein schon erkenntnistheoretisch umstrittenes Konzept umstandslos als quasi »natürliches« Schema zur Nachahmung empfohlen. Das Uneindeutige, das Amorphe, das Unentschiedene, das Imaginäre, also typisch ikonische Wahrnehmungen, bleiben dabei auf der Strecke. Aber gerade diese Überschneidungsbereiche zwischen Dargestelltem und Darstellendem, zwischen Inhalt und Form, sind die produktiven Elemente von Bildern, aus denen sich ihre Deutungsangebote speisen.38 Es würde also helfen, wenn man zunächst auch »Vorurteile« und andere affektive Einlassungen der Schülerinnen und Schüler zulassen und diese produktiv in dialektischen und diskursiven Verfahren für die Bildinterpretation nutzen würde. Ich habe in diesem Zusammenhang den Vorschlag unterbreitet, zur Einübung dieser für die Beschreibung notwendigen Kooperation »Auge – Sprache« im
35 Parsons: How We Understand Art, S. 22. 36 Art. »Beschreibung«, in: Martin Gessmann (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, 23., vollständig neu bearb. Aufl. Stuttgart 2009, S. 92. 37 Hilke Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb, in: Dies./ZülsdorfKersting: Geschichtsdidaktik, S. 24-49. 38 Klaus Krüger: »Geschichtlichkeit und Autonomie. Die Ästhetik des Bildes als Gegenstand historischer Erfahrung«, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch, Göttingen 1997, S. 55-90.
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Unterricht handlungsorientierte Methoden einzusetzen.39 So kann etwa durch die Methode des Vervollständigens von Sätzen eine nur sehr unvollständige Wahrnehmung des Bildes verhindert werden. Zum Beispiel wird durch die Weiterführung der Satzanfänge »Ich frage mich, […], ich befürchte, […], ich hoffe, […]« ermöglicht, dass sich die Schülerinnen und Schüler länger mit dem Bild beschäftigen und mehr Elemente erkennen und benennen. Auch wenn sich ein Schüler beispielsweise vor dem Rubensbild fragt, was das für eine komische Schnur ist, die das Pferd im Mund hat, ist der Zügel oder das Zaumzeug genannt. Solche Begriffe, die auch im Sinne Panofskys zulässig wären, kann man auf diese Weise einführen. Beließe man es dagegen bei der Pandelschen Formulierung »Beschreibt das Bild. Nennt nur das, was ihr sehen könnt. Lasst euer Vorwissen beiseite. Wer die dargestellten Personen sind oder was sie bedeuten, lässt sich nicht aus dem Bild ablesen«,40 würden die Schülerinnen und Schüler bei vielen Elementen nichts sagen können, weil sie die Begriffe nicht kennen, oder sie hätten Angst, etwas Falsches zu sagen. Darüber hinaus kommt bei diesem Verfahren nichts heraus, wenn eine Interpretationshinsicht nicht wenigstens in Ansätzen durch eine historische Kontextualisierung des Bildes festgelegt wird. Wie soll man sich denn einigermaßen zielgerichtet mit einem Bild wie dem Leukippiden-Raub beschäftigen, wenn man nicht vorher schon weiß, dass hier eine barocke Deutung einer antiken Sage ins Bild gesetzt wurde? Zusammengefasst: Wahrnehmen ist bereits auf der Stufe des Sehens (von Bildern) oder Verstehens (von Texten) ein Prozess, der erlernt werden muss. Sprache und Anschauung gehören unmittelbar zusammen, Erkenntnis findet nur statt, wenn beide Modi gleichberechtigt an dem Erkenntnisprozess beteiligt sind. Wir sehen nur das, was wir mit Begriffen benennen können. Umgekehrt kommen wir gedanklich nicht weiter, wenn wir von Begriffen keine Anschauung haben. Mir scheint es deshalb sinnvoll zu sein, den ersten Schritt der Bildbeschreibung wiederum in zwei verschiedene Phasen aufzuteilen. Ich folge hier dem Kunsthistoriker Oskar Bätschmann, der sich in seiner viel gelesenen Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik auch mit der Frage beschäftigt, ob Bilder Texte seien, also gelesen werden können. Er kommt zu dem Schluss, dass dabei
39 Markus Bernhardt: »Verführung durch Anschaulichkeit – Chancen und Risiken bei der Arbeit mit Bildern zur mittelalterlichen Geschichte«, in: Ders./Gerhard HenkeBockschatz/Michael Sauer (Hg.): Bilder – Wahrnehmungen – Konstruktionen. Reflexionen über Geschichte und historisches Lernen. Festschrift für Ulrich Mayer zum 65. Geburtstag, Schwalbach/Taunus 2006, S. 47-61. 40 Pandel: Bildinterpretation, Bildquelle im Geschichtsunterricht, S. 137.
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ein trügerischer Analogieschluss vorliege und die Lese-Metapher bestenfalls auf ein kognitives Bildverstehen abziele, aber keineswegs auf ein alltagsweltliches Sehen: »Man muss ihn [Poussins Brief] konfrontieren mit der Unterscheidung zwischen zwei Arten des Sehens, dem Sehen als einfache und natürliche Tätigkeit und dem Sehen als aufmerksame Betrachtung und als Geschäft der Vernunft.«41 Diese Zweiteilung entspricht einer Unterteilung des Bildverstehens, die der Wahrnehmungspsychologe Bernd Weidenmann vorgenommen hat.42 Er sieht einen Unterschied zwischen einem ersten und einem zweiten Blick, wofür er die Begriffe »Ökologisches« und »Indikatorisches Bildverstehen« gebildet hat. Das ökologische oder natürliche Bildverstehen folgt in Analogie zur Wahrnehmung der realen Umwelt, bei der es darauf ankommt, eine Situation möglichst schnell zu erfassen. Vor diesem Hintergrund ist die Wahrnehmung eines Bildes nichts anderes als das, was man bei einem Blick aus dem Fenster sieht. Das alles geschieht ohne größere Aufmerksamkeit. Erst beim indikatorischen Verstehen werden auf einer kognitiven, vernunftgeleiteten Ebene die Steuerungselemente eines Bildautors erfasst. Es geht bei den handlungsorientierten Methoden der Bilderschließung gewissermaßen darum, diese folgenden – kognitiven, rationalen – Schritte vorzubereiten, Bildelemente zu benennen, Kenntnislücken zu schließen und auch das emotionale Vermögen der Lernenden für die Interpretation zu nutzen. Damit bin ich bei dem zweiten Problem. Ich hatte vorhin bereits erwähnt, dass Bilder Vorstellungen in unserem mentalen Apparat erzeugen, die ganzheitlich und nicht linear interpretiert werden müssen. Was das bedeutet, will ich wieder an dem Bild des Leukippiden-Raubes erläutern.
41 Oskar Bätschmann: Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Die Auslegung von Bildern, Darmstadt 2009, S. 43. 42 Bernd Weidenmann: Psychische Prozesse beim Verstehen von Bildern, Bern u.a. 1988, S. 76-84.
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Abb. 4: Peter Paul Rubens: Der Raub der Töchter des Leukippos. Um 1618, Öl auf Leinwand, 224 × 211 cm. München, Alte Pinakothek
Quelle: bpk / Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Die bekannte Kunsthistorikerin Svetlana Alpers deutete nach umfangreichen Quellen- und Motivstudien Rubens Bild Raub der Töchter des Leukippos als eine »Hochzeitsallegorie«. Sie begründete das damit, dass auf dem Bild »neither a clear expression of passion nor a clear dramatic action« zu erkennen sei. »The complicated and lively gestures of the two men and women are strangely stripped of emotions.« Sie zog daraus den Schluss, dass das Bild gar nicht das bedeute, was es darstelle.43 Mit anderen Worten, sie gab dem Bild die Bedeutung »Hochzeit«, obwohl davon auf dem Bild gar nichts zu sehen ist. Wie ist die Interpretin auf diese, dem Dargestellten widersprechende Aussage gekommen? Sie konstruierte mithilfe ihrer sprachlichen Quellen- und Motivforschung eine 43 Svetlana L. Alpers: »Manner und Meanings in some Rubens Mythologies«, in: Journal of the Warburg and the Courtauld Institutes 30 (1967), S. 272-295, hier S. 285289.
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nur mittelbare gedankliche Vorstellung, der sie aber mehr Vertrauen entgegenbrachte als dem, was sie unmittelbar auf dem Bild hätte sehen können. Der Kunsthistoriker Reinhard Liess urteilt: »Dies ist einer der eklatantesten Fälle von ›Sinngebung‹ durch Blindheit, häufig genug auch sonst in der ikonologischen Forschungsmanier nachzuweisen, die Kunstwerke zu Pictogrammen macht […]. Niemals kann ein Rubensbild in seiner Ganzheit etwas bedeuten, was es selbst nicht ist, indem es zum Beispiel ›Raub‹ darstellt und ›Hochzeit‹ meint.« 44
Aufgrund der fehlenden Rückkoppelung an die Einheit des Dargestellten und sinnhaft Gemeinten zwinge Alpers »das Bild in fremde, ihre eigenen Verhältnisse«. Damit ist dem Anachronismus, einem der schlimmsten Feinde der historischen Hermeneutik, Tür und Tor geöffnet. Diese Erläuterung erschließt, was ich eindimensionalen Rationalismus nenne. Alpers hat sicher das Analysemodell Panofskys sauber abgearbeitet. Aber die kognitive Flucht in die Symbole, deren Bedeutung sie aus Texten, Traditionen und Begriffen erschlossen hat, hat sie dazu verleitet, ihren Texten mehr zu glauben, als dem, was sie auf dem Bild hätte sehen können. Die Ursache für solche sprachlich verursachten Fehldeutungen von Bildern liegt auch in dem blinden Vertrauen, das dem Interpretationsschema von Erwin Panofsky entgegengebracht wird. Bei der »ikonographischen Analyse« fordert es zur symbolischen Deutung der im Bild vorgefundenen Details auf. Panofsky selbst hatte dazu das Konzept eines »disguised symbolism«, des verschleierten Symbolismus, entworfen, das ihm dazu diente, in den Werken der altniederländischen Malerei Äquivalenzen zu entdecken und zu übergreifenden Erklärungen zu gelangen. Das Konzept des »disguised symbolism« gilt als ein »hermeneutisches Modell« für das Verständnis wichtiger Aspekte der altniederländischen Malerei. Mithilfe dieses Instruments war es Panofsky möglich, den mit traditionellen Sujets brechenden Naturalismus dieser Malerei einer »spiritualisierenden Deutung« zu unterwerfen und das darin aufscheinende Sinnliche durch das Geistige zu domestizieren.45 Diese anti-sinnliche Variante des »disguised symbolism« hat zu einer übertriebenen, ja doktrinären Suche nach Symbolen geführt, die es erlaubte, nun wirklich allem eine symbolische Deutung zu unterstellen.
44 Reinhard Liess: Die Kunst des Rubens, Braunschweig 1977, S. 384-385. 45 Willibald Sauerländer: »›Barbari ad portas‹. Panofsky in den fünfziger Jahren«, in: Bruno Reudenbach (Hg.): Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992, Berlin 1994, S. 128-130.
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»In den fünfziger Jahren brach eine wahre Flucht in die Symbole aus, die offenbar tief sitzenden Affekten gegen das bloß Natürliche, Konkrete und Gewöhnliche entsprach, das durch symbolische Deutung überhöht, geweiht oder verdrängt werden sollte.«46 Eine derartige intellektualistische Dogmatik beruht auf einem Vorgehen, das die für Textquellen entwickelte Hermeneutik umstandslos auf Bildquellen anwendet und von einer »Lesbarkeit des Bildes« spricht.47 Solche Analogien führen aber letztlich dazu, das, was Bilder ausmacht, nämlich ihre Ästhetik und ihre Wirkung auf die Betrachter auszuüben, aus der Interpretation zu eliminieren. Oder Bilder werden, wie bei Alpers gesehen, einem anderen Kontext untergeschoben. Solche Verwendungen von Bildern kann man auch in neueren historischen Publikationen immer wieder beobachten. So findet sich in der dritten Auflage einer Überblicksdarstellung zum deutschen Kaiserreich von 2011 über Anton von Werners Kaiserproklamation, die gleichsam als Schaufenster in die Vergangenheit beschrieben wird, folgende Aussage: »[Der Maler] hat die entscheidende Szene im Spiegelsaal später auf einem der bekanntesten deutschen Historiengemälde festgehalten. Auf seinem Bild ist der Höhepunkt der Zeremonie vom 18. Januar zu sehen, nämlich der Moment, in dem der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck die Proklamation Wilhelms I. zum deutschen Kaiser verlesen hat, woraufhin der Großherzog von Baden einen Hochruf ausbringt, in welchen die Versammlung einfällt […]. Im Zentrum des Gemäldes steht, breitbeinig und selbstbewusst, zudem besonders auffällig durch eine weiße Uniform, Otto von Bismarck.«48
Der Autor spricht hier, verleitet durch die realistische Malweise, wie von einer Fotografie. Dabei ist das in Rede stehende Gemälde 1885, also vierzehn Jahre nach der abgebildeten Zeremonie, entstanden und von Kaiser Wilhelm I. Bismarck zu dessen 70. Geburtstag geschenkt worden. Der Jubilar wurde deswegen mit einer weißen Uniform gebührend hervorgehoben und nicht, weil er 1871 bereits diese Rolle besaß.
46 Sauerländer: Barbari ad portas, S. 131. 47 Gabriele Sprigrath: »Lesbarkeit des Bildes? Rezension zu: Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992. Hrsg. von Bruno Reudenbach. Berlin: AkademieVerlag 1994«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 42 (1997), S. 129-143. 48 Winfrid Halder: Innenpolitik im Kaiserreich 1871-1914, 3. Aufl. Darmstadt 2011, S. 2-3.
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Ein kurzes Fazit lautet: Das Panofsky-Modell »Beschreiben – Deuten – Interpretieren« bietet als ein regulatives Verfahren sicher eine Orientierung für die Interpretation von Bildern. Gleichwohl besitzt es erhebliche Schwächen, wenn es im dogmatischen Sinn auf den Schulkontext übertragen wird. Wir müssen bei der Beschreibung von Bildquellen von Anfang an mehr auf die Kooperation »Auge – Sprache« achten, gegebenenfalls unbekannte Begriffe einführen. Und wir sollten auch vor frühen Deutungen nicht zurückschrecken, wenn diese auf dem Status von Vorläufigkeit bleiben und für dialektische oder diskursive Verfahren offen sind. Besonders die Überschneidungsbereiche von Form und Inhalt lassen sich dafür produktiv nutzen. Diese Phase kann man gut durch den Einsatz von spielerischen Methoden bewältigen, welche die Lehrperson nicht zu dauernden demotivierenden Korrekturen zwingt. Zweitens dürfen wir die Schülerinnen und Schüler nicht mit der Deutung von Bildelementen allein lassen. Das führt nur zu einer Bilderrätselraterei. Stattdessen müssen sie früh mit der Hintergrundstory des Bildes vertraut gemacht werden. Frühe Kontextinformationen ersetzen eine Interpretation keineswegs, sondern sie helfen vielmehr, den Dokumentensinn eines Bildes besser zu erfassen. Denn Erklären geht dem Verstehen voran.
L ITERATUR Alpers, Svetlana L.: »Manner und Meanings in some Rubens Mythologies«, in: Journal of the Warburg and the Courtauld Institutes 30 (1967), S. 272-295, doi: https://doi.org/10.2307/750746 Bätschmann, Oskar: Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Die Auslegung von Bildern, 6. Aufl. Darmstadt 2009. Bernhard, Peter: »Aisthesis«, in: Eckart Liebau/Jörg Zirfas (Hg.): Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung, Bielefeld 2008, S. 19-34, doi: https://doi.org/10.14361/9783839409107-002 Bernhardt, Markus: »Verführung durch Anschaulichkeit – Chancen und Risiken bei der Arbeit mit Bildern zur mittelalterlichen Geschichte«, in: Ders./Gerhard Henke-Bockschatz/Michael Sauer (Hg.): Bilder – Wahrnehmungen – Konstruktionen. Reflexionen über Geschichte und historisches Lernen. Festschrift für Ulrich Mayer zum 65. Geburtstag, Schwalbach/Taunus 2006, S. 47-61. Ders.: »Vom ersten auf den zweiten Blick. Eine empirische Untersuchung zur Bildwahrnehmung von Lernenden«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007) H. 7/8, S. 417-432.
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Ders.: »Die Subjektseite der visuellen Begegnung. Vom Nutzen qualitativer empirischer Untersuchungen für die Entwicklung fachspezifischer Kompetenzen«, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Jahresband 2007, S. 108-124. Ders.: »›Wer sieht was auf historischen Gemälden?‹ Eine explorative Studie zur Bildwahrnehmung Alter Meister«, in: Susanne Popp/Bernd Schönemann (Hg.): Historische Kompetenzen und Museen, Idstein 2009, S. 121-132. Ders.: »Bildwahrnehmung und Bildungsstandards. Ein qualitatives empirisches Forschungsprojekt an der Universität Kassel zur Entwicklung fachspezifischer Kompetenzen«, in: Béatrice Ziegler/Jan Hodel (Hg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 07«, Bern 2009, S. 208-220. Ders.: »Die visuelle Wahrnehmung des Historischen. Zur theoretischen und empirischen Begründung einer Wahrnehmungskompetenz«, in: Michele Barricelli/Axel Becker/Christian Heuer (Hg.): Jede Gegenwart hat ihre Gründe. Geschichtsbewusstsein, historische Lebenswelt und Zukunftserwartung im frühen 21. Jahrhundert. Hans-Jürgen Pandel zum 70. Geburtstag, Schwalbach/Taunus 2011, S. 153-163. Ders.: »›Ich sehe was, was Du nicht siehst!‹ Überlegungen zur Kompetenzentwicklung im Geschichtsunterricht am Beispiel der Bildwahrnehmung«, in: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hg.), Visualität und Geschichte, Berlin 2011, S. 37-53. Ders.: »Bild und Sprache. Zum Verhältnis von Anschauung und Denken in der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation. Zugleich eine Antwort auf HansJürgen Pandel«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013) H. 11/12, S. 732-746. Bohde, Sabine: »Kulturhistorische und ikonographische Ansätze in der Kunstgeschichte im Nationalsozialismus«, in: Ruth Heftrig/Olaf Peters/Barbara Schellewald (Hg.): Kunstgeschichte im »Dritten Reich«. Theorien, Methoden, Praktiken, Berlin 2008 (= Schriften zur modernen Kunsthistoriographie, Band 1), S. 189-204. Cierpka, Manfred: Faustlos – Wie Kinder Konflikte gewaltfrei lösen lernen, Freiburg im Breisgau 2005. Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte, [engl.: Analytical Philosophy of History, Cambridge/Mass. 1965], übers. v. Jürgen Behrens, Frankfurt am Main 1974. Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1970 [1910]. Gessmann, Martin (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, 23., vollständig neu bearbeit. Aufl. Stuttgart 2009.
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Pandel, Hans-Jürgen: »Vorüberlegungen zu einer geschichtsdidaktischen Theorie der Interpretation«, in: Klaus Bergmann/Jörn Rüsen (Hg.): Geschichtsdidaktik. Theorie für die Praxis, Düsseldorf 1978, S. 85-113. Ders.: Bildinterpretation. Die Bildquelle im Geschichtsunterricht. Bildinterpretation I, Schwalbach/Taunus 2008. Ders.: »Bildinterpretation. Zum Stand der geschichtsdidaktischen Bildinterpretation«, in: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hg.): Visualität und Geschichte, Berlin 2011, S. 69-87. Panofsky, Erwin: »Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance«, in: Ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts), Köln 1975, S. 36-50. Parsons, Michael J.: How We Understand Art. A cognitive developmental account of aesthetic experience, Cambridge u.a. 1987. Paul, Gerhard: »Visual History und Geschichtsdidaktik – Grundsätzliche Überlegungen«, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 9-26, doi: https://doi.org/10.13109/zfgd.2013.12.1.9 Sauer, Michael: Bilder im Geschichtsunterricht. Typen, Interpretationsmethoden, Unterrichtsverfahren, Seelze 2000. Sauerländer, Willibald: »›Barbari ad portas‹. Panofsky in den fünfziger Jahren«, in: Bruno Reudenbach (Hg.): Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992, Berlin 1994, S. 128-130. Sprigrath, Gabriele: »Lesbarkeit des Bildes? Rezension zu: Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992. Hrsg. von Bruno Reudenbach. Berlin: Akademie-Verlag 1994«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 42 (1997), S. 129-143. Stohr, Bernhard: Methodik des Geschichtsunterrichts, Berlin 1968. Weidenmann, Bernd: Psychische Prozesse beim Verstehen von Bildern, Bern u.a. 1988. Wohlfeil, Rainer/Tolkemitt, Brigitte: Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (= Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 12), Berlin 1991.
Autorinnen und Autoren
Nicholas Beckmann, Studium der Fächer Geschichtswissenschaften und Deutschen Philologie im Master of Education an der Freien Universität Berlin. Zuvor Bachelorstudium an der Universität Potsdam sowie an der FU Berlin. Seit 2015 Studentische Hilfskraft im Projekt Bildung durch Bilder. Daneben Tätigkeiten als Studentische Hilfskraft und Tutor am Arbeitsbereich Didaktik der deutschen Sprache und Literatur von Prof. Dr. Elisabeth K. Paefgen, FU Berlin. Teilnahme an internationalen Austauschprogrammen zu globalem historischem Lernen und öffentlichen Erinnerungspraktiken an der University of Education in Winneba und der Hebrew University in Jerusalem. Seit 2016 Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Seine Interessen umfassen interdisziplinäre Perspektiven in Geschichtstheorie und Geschichtsdidaktik sowie die Geschichtskultur, das Verhältnis von Fiktionalität und Faktualität, Geschichtskonstruktivismus, Erzähltheorie und die ›soziale Frage‹ des 19. und 20. Jahrhunderts. Markus Bernhardt, seit 2011 Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Lehramtsstudium der Fächer Geschichte und Latein an der Universität Gießen, wo er 1989 promovierte. Nach langjähriger Tätigkeit im Schuldienst zunächst wissenschaftlicher Assistent an der Universität Kassel. 2007 Habilitation zu Justizpolitik und politischer Justiz in Braunschweig zwischen 1879 und 1919/20. Im Anschluss Vertretungsprofessor für Geschichtsdidaktik an der Universität Frankfurt/Main und Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sein Forschungsinteresse gilt der Geschichte des deutschen Kaiserreichs, der neueren deutschen Rechtsgeschichte und der deutschen Geschichte nach 1945 sowie Strukturen und Rezeption populärer Geschichtsdarstellungen. Daneben empirische Forschungen zum Kompetenzerwerb und zur Metakognition im Geschichtsunterricht.
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Bernhard Jussen, seit 2008 Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main. Studium der Geschichte, Philosophie und Katholischen Theologie an den Universitäten München und Münster, 1988 Promotion. Danach wissenschaftlicher Referent am Max-PlanckInstitut für Geschichte in Göttingen, 1999 Habilitation über die Semantik der mittelalterlichen Bußkultur. Zunächst Vertretungsprofessor für Mittelalterliche Geschichte an der Technischen Universität Dresden, danach Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Bielefeld. Gastprofessuren an University of Michigan, Ann Arbor, und der École Normale Superieure, Paris. Visiting Scholar u.a. an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (ÉHÉSS) und der Maison des Sciences de l’Homme (MSH) in Paris, am Wolfson College, Oxford, und an der Harvard University. 2007 Auszeichnung mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, seit 2016 Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Clara Kahn, Masterstudium der Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. Zuvor Bachelorstudium der Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 2016 Studentische Hilfskraft im Projekt Bildung durch Bilder. Ihre Interessen umfassen sakrale Kunst des Mittelalters; Buchmalerei vom frühen Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit; das Verhältnis von Text und Bild in der Buchausstattung vom frühen Mittelalter bis heute; Rezeptionsgeschichte (insbesondere mittelalterlicher) Kunst in Nord- und Westeuropa; gesellschaftliche, historische und gender- sowie diversitätsrelevante Dynamiken bildlicher Repräsentation in Malerei, Fotografie, Film und Videospiel sowie medienübergreifenden Bildformen. Karin Kranhold, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin. Magisterstudium der Kunstgeschichte, Soziologie und Publizistik an den Universitäten Göttingen, Pavia und Berlin. Seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin, Konzeption internetbasierter Lehr- und Lerneinheiten sowie spezifischer Blended learningModelle für das kunsthistorische Studium, seit 2006 Koordinatorin des Kooperationsprojektes Bildung durch Bilder zwischen dem Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin und Schulen in Berlin und Brandenburg. Zudem freie Mitarbeit als Dozentin im kunsthistorischen Programm des Weiterbildungszentrums der Freien Universität Berlin. Ihre Interessen liegen im Bereich der Kunstvermittlung, der Geschichte und Theorie der Skulptur sowie der Kunst der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Italien.
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Klaus Krüger, seit 2003 Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. Studium der Kunstgeschichte, Deutschen Literaturwissenschaft, Philosophie und Italianistik an der Universität München. Nach der Promotion 1987 Stipendiat und wissenschaftlicher Assistent an der Bibliotheca Hertziana – MaxPlanck-Institut für Kunstgeschichte in Rom, anschließend wissenschaftlicher Assistent an der Technischen Universität Berlin. Dort 1997 Habilitaton mit einer Arbeit über ästhetische Illusion und bildliche Selbstreflexion in der Malerei der Frühen Neuzeit in Italien. Nach einer Vertretungsprofessur an der Universität Frankfurt/Main Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität Greifswald, danach Ordinarius an der Universität Basel. Gast- und Forschungsprofessuren sowie Fellowships u.a. an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (ÉHÉSS) in Paris, der Columbia University in New York, am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien sowie an der Bibliotheca Hertziana. Seit 2012 Co-Sprecher der DFG-Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Theorie und Geschichte des Bildes, der Skulptur und der visuellen Medien in Mittelalter und Früher Neuzeit, der italienischen Kunst vom Mittelalter bis zum Barock, der Bildanthropologie und kulturellen Semantik in der Vormoderne sowie in Gegenwartskunst, Kunst und Film und der Methodengeschichte. Martin Lücke, seit 2010 Universitätsprofessor für Didaktik der Geschichte an der FU Berlin. Lehramtsstudium der Fächer Geschichte und Deutsch an der Universität Bielefeld. Im Anschluss Tätigkeit als Studienreferendar in Berlin. 2007 Promotion zur Geschichte der männlichen Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik an der Universität Bielefeld, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter für Fachdidaktik Geschichte der Universität Leipzig und Studienrat am Hans-Carossa-Gymnasium in Berlin sowie Lehrkraft für besondere Aufgaben am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Freien Universität Berlin. 2014 Gastprofessur am Center for German Studies der Hebrew University in Jerusalem sowie seit 2015 Advisory Professor am Research Center for Comparative History Education der East China Normal University in Shanghai. Seine Forschungsinteressen umfassen die historische Diversitätsforschung, insbesondere die Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte, Shoah und historisches Lernen sowie Theoriedebatten in der Geschichtsdidaktik. Daniel Mayr, Masterstudium der Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin und an der Sorbonne, Paris. Zuvor Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Jena. Diverse Tätigkeiten als freier Mitarbeiter in der Kunstvermittlung. Seit 2016 Mitarbeit im Projekt Bildung durch Bilder. Seine Interessen
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liegen im Bereich der Kunst und Kunsttheorie des 18. und 19. Jahrhunderts vor allem in Frankreich und Deutschland, epistemologischen Funktionen von Bildern sowie in Methodenfragen der Kunstgeschichte. Tanja Michalsky, seit 2014 Direktorin an der Bibliotheca Hertziana – MaxPlanck-Institut für Kunstgeschichte in Rom. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik in Trier und München, dort 1995 Promotion. Danach wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Frankfurt/Main. 2004 Habilitation zu Landschaftsmalerei und Geographie in den Niederlanden im 17. Jahrhundert an der Universität Düsseldorf. Nach einem Fellowship an der Italian Academy for Advanced Studies in America der Columbia University, New York, Hochschuldozentin an der Universität Frankfurt/Main und Professorin an der Universität der Künste Berlin. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Memorialkultur, Skulptur und politische Bildsprache des Mittelalters in Italien, Malerei, Kunsttheorie und Kartografie in den Niederlanden in der Frühen Neuzeit sowie Gegenwartskunst und Film. Elisabeth K. Paefgen, seit 2003 Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Freien Universität Berlin. Studium der Germanistik und Politologie an der FU Berlin, danach Unterrichtstätigkeit an Berliner Schulen. Zunächst wissenschaftliche Mitarbeiterin, nach der Promotion 1989 wissenschaftliche Assistentin in der Fachdidaktik Deutsch an der Technischen Universität Berlin. 1994 Habilitation über Schreiben und Lesen als ästhetische Arbeitsformen. Zuerst Vertretungsprofessorin, dann Professorin für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität Hannover. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen die Theorie des Lehrens und Lernens von Film und Literatur in Lernkontexten, serielle Erzählformen sowie Lyrik nach 2000. Barbara Welzel, seit 2001 Professorin für Kunstgeschichte an der Technischen Universität Dortmund, seit 2011 Prorektorin Diversitätsmanagement. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Musikwissenschaft in Bochum und Berlin, 1989 Promotion. Nach einem Volontariat am Kupferstichkabinett und an der Gemäldegalerie der Staatliche Museen zu Berlin Wissenschaftliche gAssistentin an der Universität Marburg, dort 1997 Habilitation zum Fünfsinne-Zyklus von Peter Paul Rubens und Jan Brueghel d. Ä. im sammlungsgeschichtlichen Kontext. 2009-2017 im Vorstand des Verbands Deutscher Kunsthistoriker, seit 2016 im Board des Internationalen Kunsthistorikerverbands (CIHA); 2012-2014 Expertin beim Europa-Rat im Projekt Shared Histories for a Europe without Dividing Lines; seit 2013 Mitglied im Vorstand des Kulturwissenschaftlichen Insti-
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tuts Essen, seit 2016 Co-Leitung von DoProfiL – Dortmunder Profil zur inklusionsorientierten Lehrer/-innenbildung (im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung). Veröffentlichungen u.a. zur Kulturgeschichte der mittelalterlichen Stadt und zur Kunst im Hanseraum, zu Sammlungsgeschichte, zum kulturellen Gedächtnis und zu Erinnerungsorten sowie zu Kunstgeschichte und Bildungsfragen. Zahlreiche kunsthistorische Bildungsprojekte.
Kunst- und Bildwissenschaft Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)
Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3
Heike Engelke
Geschichte wiederholen Strategien des Reenactment in der Gegenwartskunst – Omer Fast, Andrea Geyer und Rod Dickinson Oktober 2017, 262 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3922-3 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3922-7
Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.)
»Clear the Air«. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren Interdisziplinäre Positionen Oktober 2017, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3640-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3640-0
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Kunst- und Bildwissenschaft Astrit Schmidt-Burkhardt
Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas Juli 2017, 372 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3631-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3631-8
Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.)
Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 Juli 2017, 312 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3585-0 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3585-4
Monika Leisch-Kiesl, Max Gottschlich, Susanne Winder (Hg.)
Ästhetische Kategorien Perspektiven der Kunstwissenschaft und der Philosophie Juni 2017, 440 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3591-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3591-5
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