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German Pages 312 Year 2022
Phillip D. Th. Knobloch, Johannes Drerup (Hg.) Bildung in postkolonialen Konstellationen
Pädagogik
Phillip D. Th. Knobloch (Dr. phil.), geb. 1976, ist Akademischer Rat a.Z. in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft an der Technischen Universität Dortmund und vertritt die Professur für Historische und Vergleichende Pädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Johannes Drerup (Dr. phil.), geb. 1981, ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildungstheorie an der Technischen Universität Dortmund und Gastprofessor an der Vrije Universiteit Amsterdam.
Phillip D. Th. Knobloch, Johannes Drerup (Hg.)
Bildung in postkolonialen Konstellationen Erziehungswissenschaftliche Analysen und pädagogische Perspektiven
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Inhalt
Bildung in postkolonialen Konstellationen: Einleitung Johannes Drerup & Phillip D. Th. Knobloch ........................................... 7
Kritisch-dialogischer Kosmopolitismus Fundament einer postkolonial orientierten Global Citizenship Education Werner Wintersteiner............................................................... 23
Dekolonialer Feminismus als Gegenpädagogik Doris Gödl.......................................................................... 47
Die Herausforderungen postkolonialer Erziehungswissenschaft Notwendige Reflexionen theoretischer Grundlagen und Anmerkungen aus einer relationalen Perspektive Iris Clemens ....................................................................... 67
›Epistemizid‹, ›epistemische Gewalt‹ und ›epistemische Emanzipation‹ in der post- und dekolonialen Theorie Kai Horsthemke .................................................................... 93
Das Anthropozän dekolonialisieren Perspektiven für die Erziehungswissenschaft Madeleine Scherrer................................................................. 117
Kinder ohne Kindheit? Plädoyer für die Dekolonisierung der Kindheitsforschung und Kinderrechtspraxis Manfred Liebel .................................................................... 139
Geschichte der Pädagogik dekolonial? Empirische Gestalt und Perspektiven eines Genres Sebastian Engelmann .............................................................. 177
Religionspädagogik, religiöse Bildung und ihre Medien in postkolonialen Konstellationen Überblick, beispielhafte Impulse und Forschungsdesiderate Julia Henningsen und Jan-Hendrik Herbst ......................................... 195
Zur postkolonialen Kritik globaler demokratischer Bildungsgerechtigkeit Julian Culp........................................................................ 235
Intersektionaliät und postkoloniale politische Bildung im Zeitalter der Klimakrise Tobias Müller...................................................................... 261
Modernity, Coloniality und Identitti Eine pädagogische Lektüre Phillip D. Th. Knobloch............................................................. 281
Autor*innen ................................................................... 307
Bildung in postkolonialen Konstellationen: Einleitung Johannes Drerup & Phillip D. Th. Knobloch
Die aktuelle Debatte über die Folgen, das Nachleben und die fortdauernde Präsenz des europäischen Kolonialismus in der Gegenwart hat seit einigen Jahren Konjunktur in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Man denke z.B. an Kontroversen über die kolonialen Verstrickungen philosophischer Klassiker (etwa Locke, Mill und auch Kant), über die Umbenennung von Straßennamen und den Sturz von Denkmälern, die Rückgabe geraubter Kunst- und Kulturgüter (Holfelder 2020), über Identitätspolitik, Rassismus und rassistische Strukturen im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung, an erinnerungspolitische Kontroversen über deutsche Kolonialgeschichte (z.B. die Aufarbeitung des Völkermords an den Herero und Nama; Schilling 2014), über historische Kontinuitäten zwischen Kolonial- und NS-Verbrechen, die Frage nach dem spezifischen Ort, der Singularität, der Vergleichbarkeit und der normativen Bedeutung des Holocaust in der deutschen und internationalen Erinnerung (z.B. Rothberg 2009; Assmann 2016; Diner 2020), über das Werk des Philosophen Achille Mbembe und über die Frage, »ob es zulässig ist, Israel und den Zionismus (…) als ›kolonialistisch‹ zu bezeichnen« (Brumlik 2021: 8). Während das Problem, wie man sich zur (eigenen) Kolonialgeschichte und dem Fortwirken der kolonialen Vergangenheit in der Gegenwart verhalten sollte, mittlerweile, wenn auch arg verspätet, einen festen Platz im Diskurshaushalt der deutschsprachigen Öffentlichkeit und auch vieler wissenschaftlicher Disziplinen hat (etwa Philosophie, Politik- und Literaturwissenschaft), gilt dies nicht in gleichem Maße für die deutschsprachige Erziehungswissenschaft. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf. Dies überrascht nicht nur angesichts der offenkundigen erziehungs- und bildungstheoretischen Relevanz (post-)kolonialer Fragen und Themen (etwa für Debatten über die ›Provinzialisierung‹ und ›Dezentrierung‹ erziehungswissenschaftlicher Grundbegriffe und Leitorientierungen und über die Aufgaben
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Johannes Drerup & Phillip D. Th. Knobloch
schulischer und außerschulischer politischer, historischer, philosophischer und kultureller Bildung), sondern auch deshalb, weil sich historische Varianten des Kolonialismus mit guten Gründen als ein – zumindest dem ideologischen Anspruch nach – groß angelegtes Erziehungsprojekt deuten lassen (Osterhammel/Jansen 2009), dessen genuin pädagogische Begründungsmuster man bis heute in gewandelter Form als ›civilizing mission‹ in pädagogischen Programmatiken wiederfinden kann.1 Eine erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem kolonialen Erbe erscheint schließlich auch deshalb geboten, weil »die Etablierung einer kolonialen Pädagogik von enormer Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Gewaltherrschaft war und Hand in Hand mit der Ausformulierung pädagogischer Prinzipien in Europa ging, die heute noch leitend sind« (Castro Varela 2016: 152). Mit den Begriffen Postkolonialismus (vgl. Kerner 2017; Castro Varela/ Dhawan 2015; Struve 2012) und Kolonialität (Quijano 2016; Mignolo 2012) werden dem gängigen Verständnis nach Phänomene angesprochen, die auf den historischen europäischen Kolonialismus zurückgeführt werden können und über die Kolonialzeit hinaus, mitunter bis in die Gegenwart hinein, fortwirken. Postkoloniale Theorien und Studien2 richten ihr Augenmerk daher vor allem auf das Fortwirken (post-)kolonialer Herrschafts- und Machtverhältnisse in der Gegenwart. Analysiert und kritisiert werden in diesem Zusammenhang asymmetrische, repressive, diskriminierende und rassistische – ökonomische, soziale, kulturelle, epistemologische etc. – Strukturen und Praktiken, Selbst- und Weltverhältnisse, Wissens-, Denk- und Lebensformen, Begriffe und Theorien. Relevant werden diese Perspektiven für die
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Die Kolonisierten galten gemäß gängiger liberaler Geschichts- und Entwicklungsvorstellungen als rückständig, als Akteure, die sich ähnlich ›wie Kinder‹ noch nicht selbst regieren können, auch weil ihre aus europäischer Sicht fremd anmutenden kulturellen Praktiken sich vermeintlich nicht so ohne weiteres mit als universell gültig postulierten Rationalitätsstandards vereinbaren ließen (vgl. Pitts 2005; McCarthy 2009; Kohn/ Reddy 2017; Koerrenz et al. 2017). Postkoloniale Theorien sind selbstverständlich nicht als monolithischer Block zu verstehen, die sich durch eine einheitliche methodologische, epistemologische und politische Ausrichtung auszeichnen, wie sich an einer Reihe von Kontroversen zeigt, die z.B. die Universalisierbarkeit und Tauglichkeit ›westlicher‹ Referenztheorien und -konzeptionen für die postkoloniale Agenda betreffen (etwa Chakrabarty 2008; Chibber 2013; Mignolo 2012), die nicht zuletzt auch von dekolonialen Theorieansätzen in Frage gestellt wird.
Bildung in postkolonialen Konstellationen: Einleitung
Erziehungswissenschaft, wenn pädagogische und erziehungswissenschaftliche Grundprobleme, Grundbegriffe, Theorien und Kontroversen vor dem Hintergrund postkolonialer Konstellationen reflektiert, kritisiert und, so der Anspruch, epistemisch ›dekolonialisiert‹, reformuliert und neujustiert werden. Zur Debatte stehen damit u.a. – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – post- und dekolonial orientierte Kritiken an historischen und aktuellen westlichen Konzeptionen von Erziehung, Bildung und Kindheit und damit verbundener Leitkonzeptionen (etwa Debatten über die eurozentrische Provinzialisierung von Konzeptionen von Mündigkeit und personaler Autonomie; die Debatte über eine ›global competence‹ im Rahmen der PISA-Studien). Kritisiert werden westliche Kanones, tradierte Formen des Umgangs mit Klassikern, ›westliche‹ Konzeptionen von Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Gefordert wird, Kolonialismus als Thema der Globalgeschichte der Erziehung und Bildung in Universität und Schule zu etablieren (etwa: Diallo/Niemann/Shabafrouz 2021), um so dazu beizutragen, das Verhältnis von Erziehungswissenschaft und Pädagogik zur Vergangenheit und zur Gegenwart von unterschiedlichen Formen des Kolonialismus und Imperialismus aufzuklären. Einzubeziehen sind Überlegungen zum Verhältnis post- und dekolonialer Theorieansätze zur kritischen Erziehungswissenschaft und zu rassismuskritischer Pädagogik (etwa auch Fallstudien zum Fortwirken rassistischer und kolonialer Sichtweisen in Kinderbüchern und Schulbüchern etc.), Konzeptionen post- und dekolonialer Bildung und Erziehung in Theorie und Praxis (etwa auch: Fragen der Integration in Curricula) und Auseinandersetzungen zum Verhältnis von eher dekonstruktiven und eher konstruktiv-normativen Positionen in der Debatte über postkoloniale Bildung, Macht und (globale) Gerechtigkeit. Ob die Auseinandersetzung mit diesen und anderen Problemvorgaben tatsächlich zu einer Revision tradierter Leitorientierungen von Erziehungswissenschaft und Pädagogik führt, welche disziplinären, pädagogischpraktischen und gesellschaftspolitischen Lernprozesse damit verbunden sein können und wie tragfähig einzelne postkoloniale Kritiken am Ende sind, ist derzeit noch weitgehend offen und Gegenstand fortlaufender Debatten. Normativ allzu eindeutige, durch einen eher ambivalenzfreien und unreflektierten politischen Moralismus geprägte Positionierungen und Kritiken, die sich sowohl auf Seiten post- und dekolonialer Theorie als auch auf Seiten ihrer Kritiker finden, dürften einer differenzierten und sachlichen Klärung der relevanten Problemlagen jedenfalls kaum zuträglich sein. Hierzu zählen etwa essentialisierende Globaldiagnosen über ›den Westen‹ (zur Kritik:
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Enslin/Horsthemke 2015), die oftmals mit problematischen, »losen Äquivalenzketten (praktische Vernunft = Fortschrittsnarrativ = Imperialismus)« (Dübgen 2017: 167) operieren und so von der dann selbst als eurozentristisch qualifizierbaren Sichtweise ausgehen, bestimmte ›dem Westen‹ zugeschriebene Merkmale (Vernunft, Säkularismus etc.) und Rationalisierungsprozesse »seien an einen geographischen und kulturellen Kontext gebunden« (ebd.: 165). Die Fallstricke solcher Formen der Kritik, die die normativen Kriterien der Kritik vermutlich auch deshalb nicht ausweisen und begründen können, weil dies auf performative Selbstwidersprüche hinausliefe, da diese Kriterien und ihre Verwendung sich selbst als ›westlich‹ und damit als imperialistisch erweisen könnten, dürften auch auf die kontrovers diskutierte ›liaison dangereuse‹ vieler postkolonialer Theorien mit poststrukturalistischen und -modernen Theorieansätzen zurückzuführen sein (Maffetone 2011)3 . Diese – und dies verdeutlicht wiederum das Problem – sind nun einmal in der Regel ›westlicher‹ Provenienz bzw. entspringen der Selbstkritik des ›Westens‹. Einige postkoloniale Theoretiker_innen praktizieren den Essentialismus, den sie – essentialistisch – dem Westen bzw. der westlichen Epistemologie attestieren, und geben so unfreiwillig nicht nur partikularistisch und kommunitaristisch orientierten, sondern auch repressiven Regimen Argumente gegen westliche Kritik an die Hand (Vickers 2019). Aber auch die populäre Kritik an postkolonialer Theorie ist häufig sehr einseitig. Man fokussiert sich eher auf überspannt-spekulative Theoriekonstruktionen, Formen von heruntergekommener epistemologischer Identitätspolitik und zeitdiagnostisch eingebettete ideologisch motivierte Kuriositäten (die manche Spielarten dieser Kritik auch hervorbringen) als auf die Sache selbst, deren Relevanz schließlich kaum in Abrede gestellt werden kann. Eine analytisch abgeklärte Kontroverse über die normativen Streitpunkte und die historischen und kontemporären Sachverhalte, um die es schließlich geht oder gehen sollte, vermisst man dagegen häufig, was einer Klärung des Topos und auch der Rechtfertigung und Durchsetzung pädagogischer Programmatiken einer ›Bildung in postkolonialen Konstellationen‹ kaum zuträglich sein dürfte.
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Angesichts der in erziehungswissenschaftlichen Debatten oftmals immer noch eher devoten Verehrung poststrukturalistischer und postmoderner Autor_innen ist auch bei der Übernahme der Thesen relevanter Meisterdenker_innen von Said bis Mbembe selbstverständlich – wie in anderen wissenschaftlichen Debatten auch – Vorsicht geboten, was allein deshalb gilt, weil sie in vielen Fällen offenkundig falsch lagen (z.B. die historischen Thesen Saids zum Orientalismus: Heehs 2003).
Bildung in postkolonialen Konstellationen: Einleitung
Folgt man einschlägigen Positionen post- und dekolonialer Theorie (Mignolo 2012; de Sousa Santos 2018), so ist es in Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Fragen der Erziehung und Bildung in postkolonialen Konstellationen jedenfalls unabdingbar, den ›locus of enunciation‹ der jeweiligen Beiträge und Beitragenden stets in die Überlegungen einzubeziehen. So macht es etwa einen grundlegenden Unterschied, ob man sich aus der Position ehemals kolonisierter oder kolonisierender Länder mit dem Thema Postkolonialismus auseinandersetzt, oder ob beispielsweise die Kolonialgeschichte Lateinamerikas, Indiens oder Deutschlands als Referenzpunkt der Überlegungen dient. Entsprechend verweisen dekoloniale Theorien lateinamerikanischer Prägung auf große Unterschiede, die zwischen ihren eigenen Theorieansätzen und den vorwiegend auf die englische Kolonialgeschichte fixierten postkolonialen Theorien festzustellen sind. Für eine Standortbestimmung ist es demnach von großer Bedeutung, die jeweils verwendeten post- und dekolonialen Grundlagentheorien und deren Besonderheiten, Einseitigkeiten und blinde Flecken zu thematisieren. Zu bedenken gilt in diesem Zusammenhang jedoch auch, dass es durchaus umstritten ist, ob wesentliche Unterschiede zwischen post- und dekolonialen Konzepten wirklich vorliegen (Castro Varela/Dhawan 2015). Auch weil es also durchaus diskussionswürdig ist, ob und wie derartige Standortbestimmungen eingegrenzt und mitbedacht werden können und sollen, sind entsprechende Verortungen und Verortungsvorgaben kritisch zu prüfen, da nicht immer offensichtlich sein dürfte, was aus ihnen – und nicht nur nach ihnen – jeweils in epistemologischer, methodologischer und auch bildungs- und erziehungstheoretischer Hinsicht für die Thematisierung von (Post-)Kolonialismus folgt. Während (Post-)Kolonialismus und Kolonialität in der Erziehungswissenschaft lange Zeit vor allem im Hinblick auf ehemalige Kolonien und in begrenztem Maße auch für ehemalige Kolonialmächte als relevant erachtet wurden, wird mittlerweile immer deutlicher, dass die Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld auch oder gerade für den ›Rest der Welt‹ nicht nur aufschlussreich, sondern geradezu geboten ist. Zwar ist es sicherlich wichtig, sich – in vielen Fällen: endlich! – mit der jeweils ›eigenen‹ Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen bzw. diese überhaupt als solche anzuerkennen, doch handelt es sich bei den hier angesprochenen (post-)kolonialen Konstellationen zugleich um ein Phänomen, das – so eine grundlegende Einsicht post- und dekolonialer Theorie – die gesamte moderne Welt prägte und prägt, wenn auch natürlich jeweils mit unterschiedlichen Auswirkungen in verschiedenen Zeiten, Räumen und Gesellschaften (Osterhammel/Jansen 2009; Conrad/
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Randeria/Römhild 2013; Tharoor 2018; Tschurenev 2019; Manjapra 2020). Globale oder zumindest globalere Perspektiven, als sie in weiten Teilen der Erziehungswissenschaft immer noch vorherrschen, drängen sich in diesem Zusammenhang geradezu auf.4 Während die Relevanz der Themen Postkolonialismus und Kolonialität in Bezug auf viele ehemals kolonisierte Länder relativ unstrittig ist, da die Folgen des Kolonialismus dort omnipräsent sind, müssen entsprechende Diskussionen jedoch insbesondere in sogenannten ›westlichen‹ Ländern teilweise überhaupt erst noch in Gang gesetzt und umfassend geführt werden (etwa in Deutschland: Terkessides 2019, oder Belgien: Manjapra 2020). In Auseinandersetzung mit post- und dekolonialen Theorieansätzen gilt es neue Zugänge zu Fragen einer Bildung und Erziehung in postkolonialen Konstellationen zu entwickeln, die nicht nur in Bezug auf den modernen Kolonialismus historisch informiert sind, sondern auch das Fortwirken kolonialer Strukturen, Effekte und Phänomene in der Gegenwart in den Blick nehmen (vgl. Baquero Torres 2012). Die in diesem Band versammelten Artikel sollen hierzu einen Beitrag leisten. Sie konzentrieren sich vorwiegend auf den ›westlichen‹, ›europäischen‹ und vor allem den deutschsprachigen Raum, um in diesem Rahmen zu klären, was Bildung in postkolonialen Konstellationen derzeit bedeutet und bedeuten sollte.
Zu den Beiträgen Werner Wintersteiner diskutiert in seinem Beitrag Grundlagen einer postkolonialen Pädagogik, die er als postkolonial orientierte Global Citizenship Education (GCED) bezeichnet. Dazu verweist er zunächst auf die postkoloniale Herausforderung für jede sich als kritisch verstehende Pädagogik, auch kritische Positionen des Globalen Südens aufnehmen zu müssen. Nach einem 4
Eine entsprechende Entwicklung zeigt sich bereits mehr oder weniger deutlich in unterschiedlichen erziehungswissenschaftlichen Bereichen. Exemplarisch genannt werden können hier u.a. Publikationen aus dem deutschsprachigen Raum, etwa Beiträge zur Geschichte der Pädagogik (Koerrenz et al. 2017; Knobloch 2020b; Spieker 2015), zur Bildungstheorie (Rieger-Ladich 2019), zu Global Citizenship Education (Wintersteiner et al. 2014; Drerup 2019; Knobloch 2019), zu Globalem Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung (Danielzik 2013), zur Migrationspädagogik (Mecheril et al. 2010; Knobloch 2020a), zur erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung (Scherrer 2018), Kindheitsforschung (Liebel 2017), Epistemologie (Clemens 2020; Horsthemke 2019; Forster 2017) und Disziplingeschichte (Knobloch 2016).
Bildung in postkolonialen Konstellationen: Einleitung
kurzen Überblick über vorliegende Konzepte einer GCED wird ein Verständnis von kritischem Kosmopolitismus entwickelt, das für Wintersteiner den Kern einer postkolonialen GCED ausmacht. Davon ausgehend werden insbesondere in Hinblick auf den Globalen Norden pädagogische Konsequenzen formuliert. Im Ausblick wird unterstrichen, wie wichtig der Dialog in und jenseits akademischer und pädagogischer Sphären zwischen all jenen ist, die sich kritisch äußern und offen für neue Argumente sind – und zwar unabhängig davon, wie sie zur postkolonialen Kritik stehen. Wintersteiner schließt seine Überlegungen mit dem Hinweis, dass postkoloniale Pädagogik als ein unabgeschlossenes und unabschließbares Projekt verstanden werden sollte. Um der Frage nachzugehen, was unter Bildung in postkolonialen Konstellationen zu verstehen ist, setzt sich Doris Gödl in ihrem Beitrag mit dem Zusammenhang von moderner Zeitvorstellung und postkolonialer Theorie auseinander. Dabei wird zunächst die Bedeutung des Präfix »post« analysiert und auf ein damit in Verbindung stehendes und für die westliche Moderne charakteristisches Fortschrittsdenken verwiesen. Dieser Zusammenhang zwischen moderner Fortschrittsidee und modernem Zeitkonzept wird dann in einem zweiten Schritt unter Bezugnahme auf postkoloniale und feministische Theorien vertieft diskutiert. In einem dritten Schritt wird aufgezeigt, wie die normative Orientierung an diesem modernen Fortschrittsdenken und die Übertragung dieses westlichen Konzepts auf heterogene Gesellschaften, insbesondere auf solche des Globalen Südens, realpolitisch zu einer ideologischen Schließung von adäquaten Zukunftsvisionen beigetragen hat. Betont wird dabei, dass sich die dekoloniale und feministische Kritik nicht generell gegen westliche Ideale wendet, und die dort artikulierte Kritik an universellen und normativen modernen Kategorien als Plädoyer für eine Öffnung der Zukunft verstanden werden kann. Der Beitrag schließt mit dem Fazit, dass die im Artikel diskutierten dekolonialen und feministischen Konzepte für eine zukunftsoffene Gegen-Pädagogik plädieren, die sich gegen die von Rita Segato beschriebene Pädagogik der Grausamkeit wendet. Iris Clemens beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit aktuellen Herausforderungen einer postkolonialen Erziehungswissenschaft. Koloniale Strukturen, so ihre Ausgangsprämisse, durchziehen das globale Bildungs- wie das Wissenschaftssystem auch heute und betreffen selbstverständlich auch die Erziehungswissenschaft, und zwar in doppelter Hinsicht: mit Bezug auf die Bildungsinhalte und -konzepte (bspw. mit Bezug auf ihre globale Durchsetzung
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in kolonialen und postkolonialen Konstellationen), die Gegenstand von Erziehungswissenschaft sind, und mit Bezug auf Erziehungswissenschaft und ihre epistemologischen Grundlagen selbst (etwa partikulare, westlich konnotierte Prämissen in erziehungswissenschaftlichen Theorien, die zur Legitimation von Hierarchien und Dominanzverhältnissen genutzt werden), deren Dekolonialisierung bis heute noch weitgehend aussteht. Ausgehend von der internationalen Debatte diskutiert ihr Beitrag anhand von Beispielen und vor allem mit Bezug auf die zweite der beiden Problemdimensionen, was eine Dekolonialisierung von erziehungswissenschaftlichen Theorien bzw. von Theorien, die in der Erziehungswissenschaft verwendet werden, bedeuten kann und was hieraus im Einzelnen jeweils folgt. Darauf aufbauend stellt sie mit einem relationalen Ansatz eine alternative Möglichkeit der Theoriearbeit in postkolonialen Konstellationen zur Debatte. Kai Horsthemke setzt sich in seinem Beitrag mit der Bedeutung der Begriffe Epistemizid, epistemische Gewalt und epistemische Emanzipation auseinander. Dabei analysiert er, wie diese Begriffe in postkolonialen Theorie- und Debattenbeiträgen verstanden und verwendet werden. Diese Begriffsverständnisse werden dann in Bezug auf Diskurse, Diskussionen, Meinungen und Kontexte bezogen und diskutiert, die aus dem Globalen Süden, insbesondere aus Afrika, stammen, dort verortet werden können bzw. dortige Perspektiven artikulieren. Die Analysen und Überlegungen führen zu dem Ergebnis, dass in den betrachteten Beiträgen und Aussagen, die aus post- und dekolonialen Theorien stammen, diesen nahestehen bzw. in eine Nähe zu diesen gebracht werden können, die Begriffe Epistemizid, epistemische Gewalt und epistemische Emanzipation tendenziell undifferenziert und missverständlich verwendet werden. Daher betont Horsthemke, dass es in Hinblick auf die erziehungswissenschaftliche Rezeption post- und dekolonialer Theorien und Beiträge unverzichtbar ist, klar zwischen hinreichend approbiertem und begründetem Wissen und Nicht-Wissen sowie zwischen verschiedenen Wissensebenen zu unterscheiden. Nur so könne verhindert werden, dass Ignoranz und Unwissenheit unreflektiert zu einer Form von sogenanntem alternativen Wissen oder alternativer Wahrheit stilisiert und damit unangemessen nobilitiert werden. Madeleine Scherrer plädiert in ihrem Beitrag für eine erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des Anthropozäns, da es mit Hilfe dieses Begriffs möglich wird, die globale Klimakrise als Bil-
Bildung in postkolonialen Konstellationen: Einleitung
dungsherausforderung zu begreifen. Hinderlich sei jedoch das bisher in der Diskussion vorherrschende Begriffsverständnis, da Mensch und Natur hier in Opposition gedacht werden, und dadurch die enge Verbindung zwischen dem Menschlichen und dem Natürlichen aus dem Blick zu geraten droht. Um dieser Entwicklung entgegenzutreten schlägt Scherrer vor, in Anlehnung an Epistemologien des Südens auch solche Wissensformen aus dem Globalen Süden in die Diskussion über das Anthropozän aufzunehmen, die das enge Verhältnis von Mensch und Natur thematisieren und bisher in den dominanten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen ignoriert wurden. Diese Neuausrichtung der Diskussion sollte insofern als ein wichtiger Prozess kognitiver Dekolonialisierung begriffen werden, als die Pluralisierung relevanter Wissensformen eine Voraussetzung für kognitive, soziale und klimatische Gerechtigkeit sei. Veranschaulicht wird die Idee der kognitiven Dekolonialisierung exemplarisch anhand von Beiträgen Gary Snyders, die unter Einbezug von indigenen amerikanischen Kosmologien, Traditionen und Lebensweisen zu einem Nachdenken in unterschiedlichen und anderen Zeithorizonten anregen können. Der Beitrag schließt mit der Feststellung, dass die Auseinandersetzung mit den Themen Klimakrise und Anthropozän in der pädagogischen Praxis und in der Erziehungswissenschaft durch eine Bezugnahme auf sowohl rational-wissenschaftliches als auch emotionales, spirituelles und traditionelles Wissen profitieren könnte, da auf diesem Weg vielfältige Wissensökologien bedacht und berücksichtigt werden. Manfred Liebel analysiert in seinem Beitrag in welcher Weise die Kindheitsforschung und Kinderrechtspraxis mit der Kolonialisierung und ihren postkolonialen Nachwirkungen verstrickt ist, um davon ausgehend die Notwendigkeit ihrer Dekolonisierung zu begründen und mögliche Wege zu skizzieren, wie diese zu erreichen ist. Zu diesem Zweck stellt er relevante sozialwissenschaftliche Forschungsansätze vor, die sich als methodologische Grundlage für eine dekolonisierte Kindheits- und Kinderrechtsforschung eignen. Darüber hinaus diskutiert er einige der Herausforderungen, die sich aus seinem Plädoyer für eine Dekolonisierung von Kindheitsforschung und Kinderrechtspraxis für die Theorie und Praxis der interkulturellen Bildung ergeben. Sebastian Engelmann setzt sich in seinem Beitrag mit dem Genre der Geschichte der Pädagogik auseinander, mit der Frage, inwiefern der Vorwurf des Eurozentrismus in Hinblick auf derartige Werke gerechtfertigt ist und welche Möglichkeiten zur Dekolonialisierung gegebenenfalls bestehen. Dazu
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nimmt er drei Geschichten der Pädagogik aus der Zeit vor 1933 als empirische Forschungsgegenstände in den Blick und analysiert die jeweiligen Abschnitte zur Antike sowohl hinsichtlich eurozentrischer Blickverengungen als auch möglicher Ansatzpunkte für dekoloniale Optionen. Dabei stellt sich heraus, dass eine postkoloniale Kritik bei diesen Abhandlungen im Großen und Ganzen zwar angemessen ist, dass die dargestellten Positionen teilweise aber offener und reflexiver, die erwähnten Einflüsse aus unterschiedlichen Regionen und Kulturen auf die europäische Pädagogik vielfältiger, komplexer und uneindeutiger sind, als es gängige postkoloniale Kritikmuster erwarten ließen. Betrachtet man Werke zur Geschichte der Pädagogik, so sollte man laut Engelmann daher nicht immer wieder nur die gleichen postkolonialen Kritikpunkte monieren, sondern auch in den Werken selbst nach Anschlusspunkten für dekoloniale Optionen suchen. Darüber hinaus wird vorgeschlagen, Geschichte der Pädagogik als Praxis zu begreifen, die insofern pädagogisch orientieren kann, als die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Pädagogik eine kritische Perspektive auf die Geschichte dieses Genres beinhaltet. Die Reflexion und Aufarbeitung der Kolonialzeit spielt heute auch und gerade für die Religionspädagogik eine wichtige Rolle. Religion als Gegenstand religiöser Bildung ist, so Julia Henningsen und Jan-Hendrik Herbst in ihrem Beitrag, von Beginn an in die Zusammenhänge verstrickt, denen sich postkoloniale Theorien widmen. Vor diesem Hintergrund diskutieren sie die Frage, wie sich die Wissenschaft der Religionspädagogik und ihr Gegenstand, religiöse Bildung, in postkolonialen Konstellationen denken lassen. Sie geben zunächst einen allgemeinen Überblick über die bisherige Rezeption postkolonialer Theorien in der christlichen Theologie und Religionspädagogik, um sodann exemplarisch das Konzept der ›Repräsentation‹ aus einer ideologiekritischen Perspektive auf den Prüfstand zu stellen. Abschließend skizzieren sie mögliche Impulse postkolonialer Theorien für die Religionspädagogik. Julian Culp setzt sich in seinem Beitrag mit einer möglichen postkolonialen Kritik an der von ihm entwickelten demokratischen Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit auseinander. Diese Kritik bezieht sich insbesondere auf die Frage der universellen Geltung der normativen Grundsätze seiner Konzeption und besagt, dass diese Grundsätze letztlich ›provinziell‹, d.h. partikular und pseudo-universalistisch seien, weil sie auf einer willkürlichen Extrapolation demokratischer Ideen und Prinzipien von westlichen auf nichtwestliche Kontexte beruhen. Ausgehend von einer Rekonstruktion zentra-
Bildung in postkolonialen Konstellationen: Einleitung
ler Leitorientierungen postkolonialer Theorie, entwickelt er eine Verteidigung der Prinzipien seiner universalistischen und demokratischen Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit. Phillip Knobloch veranschaulicht in seinem Beitrag grundlegende pädagogische Ideen der dekolonialen Theorie Walter Mignolos, indem er diese Theorie mit dem zeitgenössischen Roman »Identitti« von Mithu Sanyal konfrontiert. Dabei wird auf die in der Erziehungswissenschaft etablierte Methode der pädagogischen Lektüre zurückgegriffen. Nach einer kurzen Erläuterung dieser Methode werden zunächst Grundzüge der dekolonialen Theorie vorgestellt und die Bedeutung der dort zentralen Begriffe modernity und coloniality umrissen. Die nachfolgende pädagogische Lektüre des Romans, der sich im Kern um den teilweise absurd anmutenden Versuch einiger junger Studentinnen dreht, ihre Seele mit Hilfe einer Professorin für Postkoloniale Theorie zu dekolonialisieren, veranschaulicht exemplarisch, was man sich derzeit hierzulande unter kolonialer Pädagogik und unter dem von Mignolo geforderten dekolonialen Grenzdenken bzw. unter dekolonialen Bildungsprozessen konkret vorstellen kann. Betont wird abschließend, wie wichtig es ist die Bedeutung der Entstehungs- und Anwendungskontexte zu reflektieren, wenn man sich hierzulande pädagogisch an postkolonialen Theorien aus dem Globalen Süden orientieren will. Abschließend möchten wir allen Autorinnen und Autoren ausdrücklich danken, die es mit ihren Beiträgen ermöglichen, aus verschiedenen Perspektiven und von unterschiedlichen Standorten aus eine Vorstellung davon zu entwickeln, was Erziehung und Bildung in postkolonialen Konstellationen gegenwärtig bedeuten kann und vor allem auch sollte. Ein besonderer Dank gilt Louisa Kolb, die die Beiträge formatiert hat.
Literatur Assmann, Aleida (2016): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, München: C.H. Beck. Baquero Torres, Patricia (2012): Postkoloniale Pädagogik. Ansätze zu einer interdependenten Betrachtung von Differenz, in: Reuter, Julia/Karentzos, Alexandra (Hg.), Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden: Springer VS, S. 315-326.
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Bildung in postkolonialen Konstellationen: Einleitung
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Kritisch-dialogischer Kosmopolitismus Fundament einer postkolonial orientierten Global Citizenship Education Werner Wintersteiner
1.
Statt einer Einleitung: Der Umgang mit der Afghanistan-Tragödie – ein Lehrstück in Sachen Global Citizenship (Education)
Der Abzug der US- und anderen westlichen Truppen aus Afghanistan im August 2021 war das Eingeständnis des neuerlichen Scheiterns aller Versuche, mit militärischen Mitteln und großem finanziellen Aufwand in einem Land der »Dritten Welt« ein westliches Gesellschaftsmodell durchzusetzen. Zugleich stellt die neuerliche Machtergreifung der Taliban eine Tragödie dar, die viele Freiheitsrechte, vor allem von Frauen und nicht an der Macht befindlichen ethnischen Gruppen, bedroht und vernichtet. Die westlichen Reaktionen auf diese Entwicklung sind jedenfalls ein Lehrstück in Sachen Global Citizenship (Education). Besonders auffällig ist die Haltung der österreichischen Bundesregierung – ein Musterbeispiel für ein nationalstaatlich-egoistisches Vorgehen: Bis zum 15. August 2021, dem Tag, als die Taliban Kabul einnahmen, betonten der damalige Innenminister und jetztige Bundeskanzler Nehammer und Außenminister Schallenberg, dass sie die »Rückführung« abgewiesener afghanischer Asylwerber*innen fortzusetzen gedenken, unabhängig von der Menschenrechtslage. Alles andere käme eine Einladung an alle Flüchtlinge gleich, sich nach Österreich aufzumachen. Seit dem Machtantritt der Taliban tritt die Regierung für »Abschiebezentren« in den Nachbarstaaten von Afghanistan ein. Ihr ausschließliches Interesse besteht darin, ob dieser Konflikt das eigene Land, vor allem durch Flüchtlingswellen, tangieren könnte. Es müsse daher alles getan werden, um diese (angebliche) Gefahr hintanzuhalten, zu-
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mal Österreich bereits die zweithöchste Rate an afghanischen Asylwerber*innen innerhalb der EU aufweise. Wenn der Innenminister das Wort Migration in den Mund nimmt, dann immer nur mit einem epiteton ornans – illegale Migration. Die Menschenrechte werden bei dieser Betrachtung als ein Hindernis gesehen, das es durch neuartige Konstruktionen (Asylzentren in den Nachbarländern) zu umgehen gelte. Andere Staaten, die direkter in den Konflikt eingegriffen haben, können sich nicht so einfach aus der Affäre ziehen. Sie kritisieren Österreich für seine mangelnde Solidarität, betonen die Verantwortung für alle, die sich gezwungen fühlen, Afghanistan zu verlassen und bedauern den »überhasteten« Abzug der USA. Allerdings ist auch diese Haltung problematisch. Warum fragen diese »Kosmopolit*innen« nicht, was die USA (und vorher die Sowjetunion) in Afghanistan eigentlich zu suchen hatten? Warum wird nicht darüber debattiert, dass der ursprüngliche Rachefeldzug der USA nach dem 11. 9. 2001 schnell in eine zivilisatorische Mission umgedeutet wurde? Warum war es den Alliierten in 20 Jahren und trotz riesiger Mitteleinsätze nicht möglich, die Bevölkerung von den Vorteilen des von ihnen installierten Systems zu überzeugen? Wieso wird das Land vor der sowjetischen und später der westlichen Intervention als relativ friedlich, offen und tolerant beschrieben? Wurde Afghanistan nicht auch deshalb das, was es heute ist, weil es zum Spielball der Sowjetunion, der USA, Pakistans und anderer Mächte wurde? Eine kritischpostkoloniale Haltung steht also vor viel mehr Widersprüchen, Dilemmata und offenen Fragen als eine simple Menschenrechtsgesinnung, die die eigene Position nicht reflektiert. Damit wird auch die Afghanistan-Frage zu einem Musterbeispiel der Herausforderungen, vor denen ein kritischer Kosmopolitismus und damit Global Citizenship Education bzw. jede engagierte Pädagogik steht.
2.
Postkoloniale Herausforderung an die Pädagogik
Warum muss sich jede kritische Pädagogik nicht nur in diesem konkreten Fall, sondern generell der postkolonialen Herausforderung stellen? Weil Postkolonialismus mit dem Anspruch einer grundlegenden Kritik einer ungerechten Weltordnung angetreten ist. Grundlegend ist, dass die Stimme und der Blickwinkel der Subalternen, der Erfahrungen aus dem Globalen Süden, zu Gehör gebracht werden. Grundlegend ist ferner, dass Postkolonialismus eine systematische Dekolonisierung nicht nur der politischen und ökonomi-
Kritisch-dialogischer Kosmopolitismus
schen Machtbeziehungen, sondern auch des Wissens und der Wissenschaft, die nicht minder von Machtbeziehungen geprägt sind, anstrebt: »Decolonization is not simply one more option or approach among others. …Rather, it is a fundamental imperative« (Abdulla et al. 2019: 130). Denn es gilt: »We need to be aware that colonialism is not just a historical legacy; it is a continued experience for many of us as our life world is being subjected to colonization by the system worlds of market, authoritarian state and varieties of communication fundamentalism.« (Giri 2006: 1284) Man kann, wenn man seinen eigenen kritischen Anspruch ernst nimmt, zwar bestimmte Einschätzungen postkolonialer Theoretiker*innen kritisch sehen, bestimmte Behauptungen zurückweisen, aber man muss sich auf das Prinzip ihrer Argumentation einlassen. Mehr noch: Man kann keine kritische Pädagogik (oder Sozialwissenschaft) betreiben, ohne die von der postkolonialen Kritik angestoßene Infragestellung westlicher Paradigmen von Wissenschaft, in unserem Falle auch speziell der Pädagogik, aufzunehmen und kritisch zu integrieren. Man muss sich das Anliegen der systematischen und epistemischen Kritik der vorherrschenden (westlichen) Wissenschaft zu eigen machen. Postkoloniale Kritik ist, wenn auch noch längst nicht allgemein die Gegenwart der Erziehungswissenschaften, so doch sicher ihre Zukunft. Es wäre demnach ein Irrtum zu meinen, dass Postkolonialismus eine besondere Nische in Anspruch nehmen möchte oder einen Zusatz zu bestehenden Konzepten darstellen will. Der Anspruch ist vielmehr der, in dialogischer Weise eine neue Normalität zu begründen. Dieses dialogische, selbstreflexive Element ist ganz entscheidend – auch wenn dies nicht alle Postkolonialist*innen betonen. Deshalb wäre es ebenso ein Irrtum zu meinen, dass die postkoloniale Kritik ein konkret abgrenzbarer, einmaliger Schritt wäre, der eine neue Denkweise ein für alle Mal etablieren würde. Postkolonialismus ist vielmehr eine permanente Suchbewegung, und er ist kein geschlossenes Konzept, sondern ein Arbeitsfeld, mit verschiedenen, einander bisweilen auch widersprechenden Positionen, mit Mainstream und Peripherie, wie in allen lebendigen Wissenschaften. (Albrecht 2020) Postkolonialismus sollte auch nicht als eine neue Wahrheit angesehen werden, die verbreitet werden muss, sondern eher als Instrument, um unangefochtene Wahrheiten kritisch zu hinterfragen. Wie Patricia Baquero Torres (2012) noch vor wenigen Jahren feststellte, ist Postkolonialismus im Mainstream der Erziehungswissenschaften noch keineswegs angekommen. Lediglich im Bereich der Interkulturellen Pädagogik sieht sie die Tradition eines anschlussfähigen Diskurses, nämlich in seinem
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Antirassismus. Inzwischen ist einiges in Bewegung gekommen, es finden einschlägige Symposien und Fachtagungen1 pädagogischer, aber auch fachdidaktischer Ausrichtung statt, zahlreiche Publikationen wie auch neue Buchreihen2 zeigen, dass der Diskurs lebhafter geworden ist. Wie aber sieht es mit den »politischen« Pädagogiken aus, deren erklärtes Ziel immer Gesellschaftskritik war? Während man in der Friedenspädagogik den Eindruck hat, dass postkoloniales Denken erst langsam und schrittweise rezipiert wird (z.B. Golding 2017; Zembylas 2018; Hajir/Kester 2020), ist die Debatte im Bereich Globales Lernen/Global Citizenship Education (GCED) schon viel breiter entwickelt, und zwar nicht nur im englischsprachigen, sondern auch im deutschsprachigen Raum (Aktion Dritte Welt 2012; Andreotti 2006; Andreotti/de Souza 2012; Danielzik 2013; Danielzik/Kiesel/Bendix 2013; Drerup 2019; Knobloch 2019; Pashby/Sund 2020; Pashby et al. 2020;Wintersteiner 2019a).
3.
GCED – ein umstrittenes Feld
GCED ist, je nach Auffassung, eine pädagogische Aufmerksamkeitsrichtung oder Teildisziplin, die sich aus verschiedenen Quellen speist: development education, multicultural education, global education, peace education, environmental education/education for sustainable development, education for liberation, und die sich besonders im englischsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten etabliert hat. Im deutschsprachigen Raum ist GCED erst seit der Rede des damaligen UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon (2012) und den dadurch ausgelösten Aktivitäten der UNESCO, die GCED zu einer ihrer Leitlinien gemacht hat, stärker sichtbar. Seither löst der Term den besser eingeführten Begriff Globales Lernen, als dessen kritische Zuspitzung sich GCED meist versteht, ab bzw. verschmilzt immer mehr mit ihm. Entsprechend entzieht sich GCED auch einer Definition, die von allen Akteur*innen geteilt würde. Als kleinsten gemeinsamen Nenner könnte man aber vielleicht die Definition verwenden, die Oxfam als Charakteristikum eines/einer global citizen gibt, nämlich »an understanding of how the world
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Z.B. https://www.uni-flensburg.de/zebuss/veranstaltungen/abgeschlossene-veranstalt ungen/closed-symposium-postkoloniale-bildung-in-europa/; https://www.hsozkult.de/ event/id/event-92959. https://www.peterlang.com/view/serial/IPPT.
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works economically, politically, socially, culturally, technologically and environmentally«, sowie »willing to act to make the world a more equitable and sustainable place« (Oxfam 1997). Eine Besonderheit von GCED im Gegensatz zu anderen, sich kritisch verstehenden Pädagogiken besteht in der außergewöhnlichen Breite der politischen Richtungen, die den Begriff verwenden – von neoliberalen Ansätzen bis zu kritischen und postkolonialen (für eine Übersichtung dieser unterschiedlichen Ansätze siehe Andreotti 2006, Shultz 2007, Wintersteiner 2019b und vor allem Pashby et al. 2020). GCED ist somit ein »floating signifier« (Mannion et al. 2011: 444). Allerdings beansprucht jede Richtung eine kritische Orientierung alleine durch die Tatsache, dass sie sich als Kämpferin gegen einen »methodologischen Nationalismus« (Beck 1997: 115) und Vertreterin eines Kosmopolitismus versteht. Umso wichtiger ist es angesichts dieser unübersichtlichen Situation, klare Kriterien für eine kritische GCED zu entwickeln. In einer ausführlichen Metaanalyse bestehender Typologien von GCED (Pashby et al. 2020) kommen die Autorinnen zu der Einschätzung, dass in der GCED, mit zahlreichen Überlappungen, drei Haupttendenzen zu beobachten sind – eine neoliberale, eine liberale und eine kritische. Alle drei verbleiben allerdings, so die Studie, innerhalb desselben Denkrahmens, nämlich im Rahmen dessen, was sie in Anlehnung an Walter Mignolo »the colonial imaginary«3 nennen: »neoliberal, liberal, and even critical discursive orientations are generally framed, and thus limited, by a common metanarrative: the modern/colonial imaginary. This metanarrative naturalises a Western/European standpoint and corresponding set of colonial and capitalist social relations, projecting a local (Western/European) perspective as a global design (Coulthard 2014; Mignolo 2000; Silva 2007). The effect is to present as universal and inevitable an economic system organised by (racialised) capitalist markets, a political system organised by nation-states, a knowledge system organised by a single (European) rationality, and a mode of existence premised on autonomy and individualism.« (Pashby et al. 2020: 146) Dieses »colonial imaginary« macht sich vor allem im jeweiligen Kosmopolitismus bemerkbar, der den GCED Ansätzen zugrunde liegt. Aus einem doppelten Grund muss also dem Kosmopolitismus die Hauptaufmerksamkeit der 3
Walter Mignolo hat, in Anlehnung an Édouard Glissant, diesen Begriff ausführlich erläutert (Mignolo 2001).
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Kritik gelten: zum einen, weil er das Kernstück jedes GCED Ansatzes ausmacht, und zum anderen, weil im Kosmopolitismus das westlich-koloniale Imaginäre konzentriert zum Ausdruck kommt.
4.
Kritischer Kosmopolitismus als Kern einer postkolonialen GCED
Spielarten des Kosmopolitismus Kosmopolitismus ist ein historisch bereits lange gebräuchliches, mit unterschiedlichen Ideologien aufgeladenes schillerndes Konzept, das heute – als Ausdruck von, als Begleitung der oder als kritische Antwort auf die Globalisierung – besonders häufig diskutiert wird (vgl. v.a. Archibugi 2003; Appiah 2009; Beck 2004; Benhabib 2016; Bhambra/Narayan 2017; Broszies/Hahn 2010; Cheah/Robbins 1998; Delanty 2014; Giri 2018; Morin/Kern 1999; Nussbaum 2020; Rovisco/Nowicka 2011). Eduardo Mendieta gibt die wohl knappeste und allgemeinste Definition, zugleich mit einer historischen Dimension: »to be cosmopolitan was to think oneself citizen of the entire world. The implicit claim was that one’s loyalty should be to a larger ›we‹ than that of one’s local city-state, ethos, nation, or even empire. Nothing human would be stranger to the cosmopolitan citizen of the world.« (Mendieta 2009: 242) Entscheidend ist dabei der normative Anspruch. Kosmopolitismus ist niemals nur die Feststellung, dass wir in einer Weltgesellschaft leben, sondern immer eine bestimmte (kritische) Haltung zur bestehenden Welt: »[…] cosmopolitanism cannot be entirely separated from the normative vision of an alternative society and that this imaginary is also present as a cultural model within the cultural traditions of societies.« (Delanty 2006: 32) Das bedeutet aber nicht, dass Kosmopolitismus automatisch als gesellschaftskritisches Korrektiv fungieren würde. Dazu gibt es ihn in zu vielen Schattierungen. Die Kernfrage ist somit, auch für GCED, welche Form des Kosmopolitismus vertreten wird, welches Verständnis von Welt, von der Idee von global citizenship vorherrscht. Das Komplexe besteht darin, dass es hier nicht nur eine, sondern mehrere Spaltungslinien gibt: zunächst jene zwischen einem kosmopolitischen Herangehen, das letztlich dem (eigenen) Nationalstaat verbunden bleibt (»good international citizenship«, Cabrera 2010: 21) und einer Perspektive, die von Anfang an darüber hinausgeht (»global ethic« bzw. »institutional global citizenship«, Cabrera 2010: 26ff.). Das ist nicht gleichbedeutend mit der
Kritisch-dialogischer Kosmopolitismus
Frage, welche Rolle Nationalstaaten in einer kosmopolitischen Vision spielen sollen, worüber die Meinungen ebenfalls weit auseinandergehen: von der Betonung der Notwendigkeit der Beibehaltung der Staaten (Nussbaum 2020) bis hin zur »democratic global governance« (Archibugi/Held 2011). Beck und Grande (2007: 35) wiederum treten für einen »reflexiven Kosmopolitismus« ein, der »die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeiten« mitbedenkt. Viele Autor*innen knüpfen bei Immanuel Kant an, um ihn weiterzuführen und kritisch zu erneuern. Autoren wie Gerard Delanty (2006, 2014) entwickeln, ohne auf postkoloniale Kritiken Bezug zu nehmen, dennoch zahlreiche ähnliche Einsichten. Tatsächlich wesentlich weiter geht die postkoloniale Kritik am Kosmopolitismus. Ohne die weltbürgerliche Idee zu verwerfen, arbeitet sie doch an der Infragestellung ihrer bisherigen Fundamente und damit an einer Neubegründung. Eduardo Mendieta formuliert die Aufgabe so: »In our age of globalizations and exclusions, we are in need of a different form of cosmopolitanism, one that emerges from below, from the below of those who are the majority of the planet. This form of cosmopolitanism is one that speaks from the standpoint of what Boaventura de Sousa Santos has called ›subaltern cosmopolitanism‹, but which combined with Mignolo’s call for a ›decolonized‹ and ›decolonial cosmopolitanism‹, has become reflexive of its own epistemic standpoint as well as of those with whom it aims to engage in a solicitous hermeneutics of mutual understanding. This form of cosmopolitanism is what I call dialogical cosmopolitanism, and it is the cosmopolitanism of the other.« (Mendieta 2009: 243) Neben Santos/Rodriguez-Garavito (2005), Giri (2006), Harvey (2009), Mendieta (2009), Bosco/Harris (2020) oder Uimonen (2020) haben auch verschiedene Autor*innen in den Sammelbänden von Archibugi (2003) und Cheah/Robbins (1998) wichtige Beiträge zu einem postkolonialen Kosmopolitismus geleistet. Das wohl weitestreichende und meistdiskutierte Konzept stammt von Walter Mignolo (2000, 2010, 2011a und 2011b). Es soll hier als Grundlage ausführlicher referiert werden.
»The Many Faces …«: Walter Mignolos Dekolonialisierung des Kosmopolitismus Walter Mignolo setzt seine Darstellung des Kosmopolitismus bewusst nicht – wie es die meisten europäischen Historiographien tun – bei der griechi-
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schen Antike an, sondern mit dem 16. Jahrhundert. Er möchte zeigen, dass der europäische Kosmopolitismus wenig mit dem griechischen zu tun hat. Er sieht ihn vielmehr als das Zusammenspiel zwischen aufsteigendem Kapitalismus zunächst in der Mittelmeer- und schließlich in der Nordatlantik-Region und dem Kolonialismus in anderen Weltteilen. Dabei unterscheidet er zwei kosmopolitische Strömungen, die – in verschiedenen Formen – bis heute auftreten, und die er global designs und cosmopolitanism nennt: »Narratives of cosmopolitan orientation could be either managerial (what I call global designs—as in Christianity, 19th century imperialism, or late 20th century neoliberal globalization), or emancipatory (what I call cosmopolitanism—as in Vitoria, Kant, or Karl Marx, leaving aside the differences in each of these projects) […]« (Mignolo 2000: 722, Herv. i.O.). Der cosmopolitanism, wie Mignolo ihn versteht, ist somit die kritische Begleitmusik zu globalen Expansionsbestrebungen des Globalen Nordens (der nicht immer so benannt wurde). Diese Kritik richtete sich gleichermaßen gegen die global designs wie auch gegen nationalistisch-partikulare Ambitionen [(»fundamentalist projects that originated and justified themselves in local histories, both national and religious.« (Mignolo 2000: 724)] Allerdings, so Mignolo, reichte und reiche diese Kritik niemals weit genug, sie verbleibe im Denkuniversum der westlichen Moderne. Es komme daher darauf an, über die Kritik an den global designs aus einer inneren Perspektive der Moderne hinaus eine Kritik von außen, vom Standpunkt der »colonial difference« (ebd.), zu entwickeln. Dann erst zeige sich, so der Autor, dass die Matrix für global designs bereits mit der Eroberung der Amerikas und ihrer kritischen Rechtfertigung durch die iberischen Intellektuellen, die Schule von Salamanca, entwickelt wurde. Sie habe den Kolonialismus kritisiert, zugleich aber die colonial difference festgeschrieben und trug somit ohne es zu wollen zur historischen Begründung dessen bei, was Mignolo »modernity/coloniality« nennt – eine Konstellation, die bis heute besteht. (Mignolo 2000: 723ff.) Mignolo unterscheidet drei Entwicklungsstadien des kosmopolitischen Projekts (die er nicht unbedingt als sich ablösende Phasen denkt, sondern als einander überlappende Konzepte): In der Phase der Eroberungen haben der spanische Theologe Francisco de Vitoria und die Schule von Salamanca die Herausforderung der Begegnung mit den »Anderen« aufgenommen. Sie haben die Rechte der Indios in den eroberten Gebieten insofern verteidigt, als sie darauf bestanden, dass ihnen als Menschen die gleichen Rechte zustün-
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den wie allen anderen. Zugleich aber haben sie die Theorie von ihrer Unterentwicklung vertreten, die eine Rechtfertigung ihrer Beherrschung, Christianisierung und Zivilisierung durch die Europäer*innen wurde. Damit wurde die Idee der westlichen kulturellen Überlegenheit, der »colonial difference« begründet. In der Epoche des sich entwickelnden Kapitalismus und des beginnenden Kolonialismus hat Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden eine Neuformulierung des Kosmopolitismus entworfen, die bis heute sehr wirkungsmächtig geblieben ist und auf die sich die Vertreter*innen aller heutigen Spielarten des Kosmopolitismus beziehen. Kants Idee ist ein Bund von republikanisch verfassten Staaten, der Kriege zwischen ihnen unmöglich machen soll. Scharf kritisiert er die Ausbeutung der Kolonien. Doch bleibt er konzeptionell auf dem Standpunkt der Überlegenheit der europäischen Völker und stützt damit die Idee der Zivilisierung der »Barbaren«. Dazu gehört auch, dass er die Existenz von Nationalstaaten im europäischen Sinn als das allgemeine Modell gesellschaftlicher Ordnung sieht, an dem die gesamte Welt gemessen und ausgerichtet werden solle. Das lokale europäische Verständnis von Staatlichkeit setzt sich somit als universal und begründet einen globalen Herrschaftsanspruch, wie Mignolo ausführt: »Kant cosmopolitanism and its legacy propose the universalization of Western Nativism/Localism.« (2010: 126) Kant wirke damit indirekt an der »imperial difference«, der kolonialen Expansion des 19. Jahrhunderts, mit, als es nicht mehr nur um das Verhältnis zu den Amerikas ging, sondern der Orientalismus als Ideologie der hierarchischen Einordnung Asiens entwickelt wurde. Zugleich verschiebt sich der Schwerpunkt in Europa nach Norden und an den Nordatlantik, was mit einer Abwertung des europäischen Südens einhergeht. Auch die marxistische Kapitalismuskritik verbleibt, so Mignolo, innerhalb dieses Paradigmas. Die Sowjetunion hat schließlich auf diese Weise die asiatischen Völker in ihrem Einflussbereich »zivilisiert« und einer europäischen Ordnung unterworfen. Mignolo betont die Kontinuität des sich wandelnden kosmopolitischen Projekts, des global designs. Das dritte Stadium ist nach Mignolo die heutige neoliberale Globalisierung. Vitoria und Kant waren sozusagen die Vorläufer des heutigen Projekts der planetaren liberalen Demokratie. Der neue neoliberale Kosmopolitismus hat als seine Ideologie die Menschenrechte und global citizenship. Im Kalten Krieg wurden Menschenrechte gegen den Kommunismus eingesetzt – gegen das neue Andere, gegen den »Nachfolger« der Heiden, Ungläubigen, Barbaren oder unzivilisierten Frem-
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den. Auch nach dem Kalten Krieg werde dasselbe ideologische Arsenal im Kampf gegen den »Terrorismus«, »Schurkenstaaten« wie auch »failed states« eingesetzt. Die Menschenrechte würden als Ausweis westlicher moralischer Überlegenheit und Rechtfertigung von humanitären Interventionen eingesetzt, global citizenship richte sich gegen nationalistische Strömungen im Westen selbst wie auch gegen jeden national auftretenden Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung. Daher der progressive Anstrich des neoliberalen Kosmopolitismus. So gelangt Mignolo zusammenfassend zu drei Phasen des Kosmopolitismus, »three stages of cosmopolitan projects of the modern/colonial world system or, if you prefer, of modernity/coloniality. In the first, cosmopolitanism faced the difficulties of dealing with pagans, infidels and barbarians. It was a religious and racial configuration. In the second, cosmopolitanism faced the difficulties of communities without states and the dangers of the foreigners that, at that point in time, were the foreigners at the edge of the Europe of nations. In the third stage, communists replaced pagans and infidels, barbarians and foreigners, as the difficulties of cosmopolitan society were reassessed. Today, the scenario that Kant was observing has changed again with the »dangers« presented by recent African immigration to Europe, and Latin Americans to the United States.« (Mignolo 2000: 739-740) Mignolos Alternative ist »border thinking«, das heißt ein neuer Kosmopolitismus, entworfen aus der Perspektive des Globalen Südens und damit der lokalen Erfahrungen, die mit dem global designs, also den kolonialen und imperialen Eroberungen und Besitznahmen, gemacht wurden. Diese Erfahrungen sind lokal verwurzelt, aber das ist für Mignolo kein Gegensatz zu einer globalen Perspektive. Gerade die Bewegungen der Subalternen sieht er als ein erneuertes kosmopolitisches Projekt: »[…] the recognition and transformation of the hegemonic imaginary from the perspectives of people in subaltern positions. Border thinking then becomes a ›tool‹ of the project of critical cosmopolitanism.« (Ebd.: 737) Er verwirft also weder Vitorias interkulturelle Diaologbereitschaft noch Kants Bemühen um eine friedliche Weltordnung oder heutigen demokratischen Kosmopolitismus, aber er stellt all diese Ansätze in einen gänzlich neuen, postkolonialen Rahmen: »Critical cosmopolitanism must negotiate both human rights and global citizenship, without losing the historical dimension in which each is reconceived, today, in the colonial horizon of modernity.« (Ebd.: 725)
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Mignolo (wie auch die meisten anderen postkolonialen Denker*innen) verwirft also keineswegs die Idee der Menschenrechte, der Demokratie und global citizenship (wie ein oft geäußerter Vorwurf lautet). Er besteht aber darauf, von der »colonial difference«, den bestehenden Machtbeziehungen und globalen Spaltungslinien, auszugehen: »Instead of cosmopolitanism managed from above (that is, global designs), I am proposing cosmopolitanism, critical and dialogic, emerging from the various spatial and historical locations of the colonial difference.« (Ebd.: 741) Das Ziel sei epistemische »Diversalität« (diversality) statt Universalismus, oder anders gesagt, »diversity as a universal and cosmopolitan project, in which everyone participates instead of ›being participated.‹ Such a regulative principle shall replace and displace the abstract universal cosmopolitan ideals (Christian, liberal, socialist, neoliberal) that had helped (and continue to help) to hold together the modern/colonial world system and to preserve the managerial role of the North Atlantic.« (Ebd.: 744)
Die postkoloniale Erneuerung des Kosmopolitismus Mit einer teils gleichen, teils vergleichbaren Terminologie sind andere Autor*innen zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen. Ihre Ansätze werden in der folgenden Zusammenfassung mit berücksichtigt. Die postkolonialen Kritiker*innen gehen von folgenden Einschätzungen aus bzw. vertreten vor allem folgende Anliegen: •
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Weltgeschichte als Ko-Evolution: Ein anderes Geschichtsverständnis, das den Aufstieg Europas zum Zentrum der Welt nicht aus einer inneren Entwicklung aufgrund einer überlegenen Kultur betrachtet, sondern als direkte Folge der kolonialen Eroberungen; »narrating a silenced history, the history of the formation and transformation of the colonial matrix of power«. (Mignolo 2010: 125) Europa als Weltzentrum könnte somit als eine KoKonstruktion des Nordens und Südens verstanden werden. Aber die neokolonialen Machtverhältnisse bestehen bis heute und reproduzieren sich weiter. Ohne ihre Kritik ist keine kritische Gesellschaftstheorie und kein Kosmopolitismus als emanzipatorische Vision zu haben. Epistemische Dekolonialisierung: Die Vorstellungen von Fortschritt, Moderne, Zivilisation, aber auch von anderen Hochwertbegriffen wie Menschenrechten und Demokratie haben sich als Kernbestandteile westlicher Herrschaftsideologien und damit als epistemische Gewalt (Brunner 2020)
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erwiesen. Anders gesagt, liegt all diesen sozialwissenschaftlich fundierten Schlüsselkonzepten, liegt dem gesamten westlichen »imaginary«, ein epistemischer Rassismus zugrunde. Die westlichen Vorstellungen sollen aber nicht verworfen, sondern »provinzialisiert« werden, d.h. es wird auf ihren westlichen Kontext, in dem sie entstanden sind und der sie gefärbt hat, aufmerksam gemacht. Auf diese Weise sollen neue Leitbilder mit nicht-westlichen Traditionen entwickelt, aber auch westliche Leitbilder, wie die Menschenrechte, kritisch neu begründet werden (z.B. Castro Varela/Dhawan 2020). Wie in allen Bereichen, strebt der Postkolonialismus auch dabei den Dialog mit allen kritischen Autor*innen an, die innerhalb des kolonialen Paradigmas verbleiben. Dies ist ein komplexer und keineswegs linearer Prozess. Kritisch-dialogischer Kosmopolitismus: Ein anderes Verständnis von Kosmopolitismus selbst, der kein imperialer Kosmopolitismus sein will, sondern die Erfahrungen und Bestrebungen der Völker des Südens mit einbezieht. Das ist auch die Absage an jeden Universalismus, d.h. einer Verabsolutierung der Paradigmen des führenden Zentrums, stattdessen heißt die Lösung diversality (Mignolo, Maldonado Torres) oder multiversality (Giri) – aber zugleich ohne den kosmopolitischen Anspruchs aufzugeben, »jenseits von Relativismus und Universalismus« (Giri 2006) bzw. »beyond nationalism and colonialism« (Grosfoguel 2008: 1). Das ist ein immer neu auszuhandelndes Gleichgewicht. Ein anderes Verständnis von Ökonomie und Politik: Das Ziel heißt »global justice«. Dazu braucht es »the critique of all possible fundamentalism (Western and non-Western, national and religious, neoliberal and neosocialist) and on the faith in accumulation at any cost that sustains capitalist organizations of the economy« (Mignolo 2000: 743); ein »multiverse of transformation« (Giri), das die »global coloniality« (Grosfoguel 2008: 1) überwindet und eine »transmodern world« (ebd.) eröffnet, das aber mit »the inclusion of the other« (Giri) beginnt und sich in verschiedenen Formen des Dialogs realisiert. »Cognitive justice« (Santos 2007): ein breiteres Spektrum an Wissen und neue Maßstäbe für das, was als Wissen anerkannt wird, somit ein »alternative thinking about alternatives« (ebd.). Es sollte eine »ecology of knowledge« (ebd.) entstehen, also die Akzeptanz aller Formen von Wissen, wobei ausdrücklich die Beschränkung auf rationales Wissen und der Ausschluss von spirituellem Wissen zurückgewiesen wird: »Throughout the world, not only are there very diverse forms of knowledge of matter,
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society, life and spirit, but also many and very diverse concepts of what counts as knowledge and the criteria that may be used to validate it. In the transitional period we are entering, in which abyssal versions of totality and unity of knowledge still resist, we probably need a residual general epistemological requirement to move along: a general epistemology of the impossibility of a general epistemology« (Santos 2007: 12). »Cross-species dignity«: Etliche Autor*innen plädieren auch für eine Ausdehnung des Kosmopolitismus über die menschliche Gemeinschaft hinaus: für die Respektierung dessen, was Martha Nussbaum (2006) »crossspecies dignity« nennt. Der Anthropozentrismus des traditionellen Kosmopolitismus müsse überwunden werden. Eine echte Weltdemokratie müsse auch das Wohlergehen aller Lebewesen und damit die Tierrechte mit berücksichtigen. Globale Gerechtigkeit sei unvollständig, wenn sie sich nicht auch auf non-humans erstreckt. (Nussbaum 2006; Campbell 2008; Cooke 2014) Der Philosoph Steve Cooke (2014: 942) argumentiert mit dem Kant’schen Prinzip des Hospitalitätsrechts, das allen Fremden zukommt: »If we think of some of the basic human rights as an implementation of the Kantian principle of the right of hospitality, and if we imagine non-human animals as almost perpetual strangers, then the animal liberation movement can be conceived of as the natural end point of cosmopolitanism. Being humanitarian should not just mean protecting the human; it should also mean acting with humanity towards all sentient beings.« Mit der Differenzierung zwischen global citizenship und planetary citizenship wird versucht, diesen Rechten der Nicht-Menschen bzw. der Natur insgesamt Rechnung zu tragen. (Wintersteiner 2021)
Fazit: Die postkoloniale Kritik teilt die emanzipatorische Idee einer gerechten Weltordnung, sie richtet sich aber gegen die unausgesprochenen Implikationen vieler Ansätze, die eine solche Ordnung für sich reklamieren: gegen eine implizite Annahme westlicher Überlegenheit (kulturell, in Sachen Demokratie und Menschenrechte, zivilisatorisch), gegen das Schweigen gegenüber realen ökonomischen und politischen Machtverhältnissen im Weltmaßstab (Neokolonialismus, Neoliberalismus) sowie gegen die Kombination von Kosmopolitismus und Universalismus, was bedeutet, dass das westliche Gesellschaftsmodell auf der gesamten Welt durchgesetzt werden soll. Die Frage, wie sich die Idee der (wie immer gearteten politischen) Einheit der Welt mit der Realität der politischen, kulturellen, ökonomischen Verschiedenheit der Völker und Zivilisationen vereinbaren lässt, ist damit gestellt,
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aber noch längst nicht beantwortet; sie muss auch immer neu beantwortet werden. Das ist eine Herausforderung, die sich auch der Pädagogik stellt.
5.
Pädagogische Konsequenzen
Als eine Konsequenz aus diesen Einsichten treten viele postkoloniale Pädagog*innen dafür ein, sich vornehmlich dem Globalen Süden zuzuwenden und eine entsprechende GCED zu entwickeln, die auf den Erfahrungen aufbaut, die die Menschen des Südens mit der »kolonialen Matrix der Macht« gemacht haben, wie auch auf den Epistemologien, Traditionen und Politiken indigener Völker (z.B. Andreotti et al. 2019). Das ist eine sehr wichtige Orientierung, von der letztlich auch die Pädagogik des Nordens großen Nutzen ziehen kann. Zugleich aber müssen im Globalen Norden auch andere Aufgaben angegangen werden. Die postkoloniale Kritik stellt GCED im Globalen Norden vor die Aufgabe eines radikalen Umbaus der eigenen Grundlagen – ohne deswegen erreichte Einsichten aufzugeben, und ohne selbst wieder einen unhinterfragten scheinbar ortlosen, nun eben postkolonialen Standpunkt einnehmen zu wollen (das wäre nur eine neue Variante eines imperialen Kosmopolitismus). Diese Aufgabe kann nur als selbstkritisches und zugleich dialogisches Vorhaben ausgeführt werden: »Radical critique should take dialogical forms. It should also take the form of radical self-questioning and radical dialogue.« (Maldonado Torres 2004: 51) Für Vanessa Andreotti stehen dabei drei Fragen im Vordergrund: »The first is how educators imagine the ›globe‹ in global citizenship and education. The second is how educators imagine themselves as ›global educators‹ and their students as ›global citizens‹. The third is how educators imagine knowledge and learning beyond Eurocentric paradigms.« (Andreotti o.J.: 12) Pashby et al. (2020) stellen ähnliche Fragen. Sie sollen daher im Zusammenhang diskutiert werden. Andreottis erster Punkt betrifft vornehmlich die kognitive Dimension, das Verständnis von Kosmopolitismus. Hier geht es um die Überwindung des Eurozentrismus und die Entwicklung eines kritisch-dialogischen Kosmopolitismus. Pashby et al. (2020: 158,159) präzisieren:
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»Whose definitions of citizenship tend to dominate in GCE discourses, and why? How might we redefine and repurpose the concept of global citizenship to advocate for more inclusive forms of representation, and the redistribution of resources? How can our ideas of global citizenship be informed not just by the national citizenship formations of Western nation-states, but also of other countries and other kinds of political communities (e.g. Indigenous nations)?« So allgemein formuliert wird das wohl nicht sehr viel Widerspruch erregen. Es ist daher ganz nützlich, auch die sehr konkreten Fragen, wie sie Nelson Maldonado Torres stellt, hinzuzufügen: »Why not engaging seriously Muslim intellectuals? Why not trying to understand the deeply theoretical claims that have emerged in contexts that have known European coloniality? Why not breaking with the model of the universal or global and furthering the growth of an epistemically diverse world?« (Maldonado Torres 2004:50) Die zweite Frage bezieht sich darauf, wie ein neues Weltverständnis auch das Verständnis der eigenen Rolle als Pädagog*in verändert. Es geht in erster Linie darum, den scheinbar ortlosen, neutralen und universalen Standpunkt aufzugeben, der der typische Standpunkt des Eurozentrismus ist. Das bedeutet, sich über die Voraussetzungen des eigenen Sprechens und Denkens Rechenschaft abzulegen, sich den eigenen Standpunkt bewusst zu machen. Andreotti erläutert: »Where is one speaking from as a ›global citizen‹ or ›global educator‹? How is one socially and historically constituted in this position (e.g. as a dispenser or receiver of knowledge, rights, charity etc. – who is helping, researching or studying who, why and how come)?« (Andreotti o.J.: 13) Damit sind zugleich die Machtverhältnisse in so einem Diskurs angesprochen: »Whose epistemology forms the basis of this project? Whose perspectives or epistemologies could have been silenced or absent in this project? […] How can we undo the ›consciousness of superiority lodged in the self‹ (Spivak, 2004: 534) through over socialisation ›on this side of the line‹ that affirms that ›the price of greatness is responsibility for the other‹ (ibid)?« (Andreotti o.J.: 14) Daraus sollte sich eine andere, bescheidenere und offenere Haltung den anderen gegenüber, vor allem den anderen des Globalen Südens, ergeben. Die-
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se Haltung schließt das Bewusstsein der eigenen Mit-Verantwortung für die globalen Ungerechtigkeiten ein. Andrew Dobson hat dies in seinem Konzept eines »Thick Cosmopolitanism« auf die Formel »Less Empathy, More Causal Responsibility« gebracht (Dobson 2006: 172). Das ist ein Appell an unsere Verantwortung, die nicht auf Mitgefühl und Generosität basiert, sondern auf der Einsicht, dass wir – das politische und ökonomische System wie auch unsere imperiale Lebensweise – mit zu vielen Problemen und Missständen des Globalen Südens beigetragen haben. Pashby et al. ziehen daraus pädagogische Konsequenzen, wieder in Frageform: »How can we imagine a responsibility towards others (both human and other-than-human beings), rather than a responsibility for others? What kinds of analyses can enable students to understand how they are a part of global problems, and how they can work to mitigate or eradicate these problems at a structural level (e.g. the impact of consumption levels on climate change, the role of Western military interventions in prompting migration, the racialised and gendered international division of labour etc.)?« (Pashby et al. 2020: 158) Der dritte Punkt fragt danach, wie Lernprozesse gestaltet werden müssen und welche Inhalte sie enthalten sollen: »There is much in the world to learn from others who have been rendered invisible by modernity. This moment should be more about examining our complicity with old patterns of domination and searching for invisible faces, than about searching for imperial roots; more about radical critique than about orthodox alignments against what are persistently conceived as the barbarians of knowledge.« (Maldonado Torres 2014: 51) »How can we learn to learn from different ways of knowing in order to imagine the world differently?« (Pashby et al. 2020: 158,159) Als eine weitere, vierte Aufgabe kommt m.E. noch die Kritik an unserem System der Wissensproduktion und der Bildung hinzu, die den imperialen Kosmopolitismus ständig reproduzieren. Zumindest im deutschsprachigen Raum scheint Global Citizenship Education – verstanden als Bemühung um ein kritisch-kosmopolitisches Weltbild der Lernenden – noch sehr unverbunden mit Interkulturellem Lernen und Antirassismus – verstanden als Kritik an der (Bildungs-)Benachteiligung marginalisierter Gruppen – zu sein. Ein postkolonialer Ansatz würde zeigen, dass es sich hier durchaus um zwei Seiten derselben Medaille handelt. Die Rahmenbedingungen von Bildung als Gegen-
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stand der postkolonialen Kritik zu betrachten und über die notwendige ideologische Rassismus-Kritik hinaus zu einer fundamentalen Kritik am strukturellen Rassismus des Bildungswesens überzugehen, diese Aufgabe steht großteils noch aus. Der monolinguale und monokulturelle Habitus der Schule wurde zwar ausgiebig kritisiert, aber im Allgemeinen ohne den postkolonialen Kontext zu beleuchten. Und diese Kritik hat leider auch keineswegs die notwendigen bildungspolitischen Folgen gezeitigt. Im Gegenteil, es wird die eigene »Leitkultur« hervorgehoben und die Schulsprachenpolitik ignoriert weitgehend die Sprachen der Migration in ihrer bildungspolitischen Bedeutsamkeit. Politisch wird ein Verständnis von »Integration« von Geflüchteten gefördert und praktiziert, das einer Assimilation gleichkommt. Zusammen mit dem Fehlen kosmopolitisch orientierter Lehrpläne, dem Fehlen von GCED als Unterrichts-Prinzip und Grundlage der Lehrpläne wird »the colonial difference« (Mignolo 2010) perpetuiert. GCED hat dies noch längst nicht zu einem zentralen Gegenstand ihrer Kritik gemacht. Es ist wichtig, aber nicht ausreichend, den Rassismus als Ideologie zu erkennen und zu bekämpfen, sondern es muss auch die Kritik am systemischen Rassismus erfolgen. Generell gesprochen, ist wohl die »hyper-self-reflexivity« (Andreotti o.J.: 16) die wichtigste Konsequenz für eine GCED, die die postkolonialen Ansprüche ernst nimmt. Dazu gehören auch die besorgten Überlegungen, die Vanessa Andreotti abschließend anstellt. Vor allem geht es ihr darum: Wie kann man es bei der Infragestellung bisheriger Narrative und der Öffnung für neue vermeiden, eine Romantisierung des Globalen Südens oder in einen absoluten Relativismus zu entwickeln? Wie kann man eine kritische Haltung einnehmen, ohne dabei in Selbstgerechtigkeit und ein neues binäres Denken zu verfallen? (Andreotti o.J.: 15f.)
6.
Ausblick: Entwicklung des Dialogs
Eine postkoloniale GCED ist bislang eher als akademisches Konzept und viel seltener als pädagogische Praxis entwickelt worden. Die theoretische Aufgabe ist enorm, aber im Grunde das einfachere Problem. Die eigentliche Schwierigkeit, so scheint mir, liegt darin, sich selbst als Pädagogin und Pädagoge zu verändern – und das innerhalb eines Systems, das die »colonial difference« ungerührt beibehält und damit auch die subjektiven Haltungen der Akteur*innen beeinflusst. Das bedeutet, dass es schwierig ist, die eigene privilegierte Position als solche zu erkennen, und wohl noch schwieriger, nicht
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in eine Haltung des großzügigen Helfens zu verfallen. Ohne Hilfe dort, wo sie möglich ist, zu verweigern, müssen wir uns jedenfalls fragen: Ist dieses Syndrom des Helfen-wollens nicht nur ein Zurückschrecken vor der Radikalität, mit der die eigene Gesellschaftsordnung geändert werden müsste? Ist nicht die eigentliche Aufgabe eines kritischen Kosmopolitismus im Globalen Norden, an einem radikalen Umbau der eigenen Gesellschaft zu wirken? Auch das stellt vor große pädagogische Herausforderungen: Wie soll man Menschen – Lernende – dazu bringen, gegen das zu arbeiten, was sie wohl die längste Zeit als »ihre eigenen Interessen« verstehen, und auf ihre Privilegien zu verzichten? Wie können die Lehrenden selbst lernen, eine solche Transformation vorzunehmen? Wie können sie an dieser Aufgabe arbeiten und zugleich vermeiden, pädagogische Allmachtsphantasien zu entwickeln und zu meinen, politische Veränderungen pädagogisch durchsetzen zu können? Die Schlüsselaufgabe ist wohl der Dialog, und das in vielfacher Hinsicht: der schon erwähnte akademische Dialog mit allen, die, ohne die postkoloniale Kritik zu teilen, dennoch wichtige Kritikpunkte äußern; ebenso wie der Dialog mit allen Lernenden und Lehrenden, die anderer Meinung sind, aber offen für neue Argumente. Vor allem aber geht es um den Dialog mit all den Stimmen, die bislang nicht gehört werden, mit allen Subalternen in der Terminologie von Spivak. Das bedeutet in Perspektive die Organisation eines tatsächlich breiten Dialogs mit Aktivist*innen, Forscher*innen und Pädagog*innen des Globalen Südens. Ananta Kumar Giri schlägt dafür die Formel »cosmopolitanism as planetary conversations« (2006: 1289) vor und meint, dass es dazu unter anderem auch »planetary truth and reconciliation commissions« brauche, »commissions on such experiences of our common humanity as annihilation of cultures and people, colonialism, slavery, the Holocaust, the dropping of atom bombs in Hiroshima and Nagasaki, and the violence perpetrated by and in the name of modern science, technology and nation-state« (ebd.: 1290). Das ist eine faszinierende Idee, die weitere Denkräume öffnet. Freilich sollte man darüber aber das Potential nicht übersehen, das die Marginalisierten im eigenen Land als Dialogpartner*innen darstellen – vor allem Migrant*innen und Geflüchtete, die meist pauschal der Rückständigkeit verdächtigt werden und von denen man vermutet, dass sie eigene Probleme, aber »uns« nichts zu sagen haben. Natürlich haben diese Dialoge da und dort längst begonnen, und es wäre wichtig, ihre Schwierigkeiten und Erfolge auszuwerten, um sie auf breitere Basis stellen zu können. Denn eine postkoloniale Pädagogik ist ein unabgeschlossenes und unabschließbares Projekt, und nur als solches kann sie ihren progressiven Charakter bewahren.
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Dekolonialer Feminismus als Gegenpädagogik Doris Gödl
1.
Einleitung
Die Einladung einen Beitrag zum Thema »Bildung in postkolonialen Konstellationen« zu schreiben klingt verlockend und spannend. Beim Lesen und Reflektieren des Titels tauchen erste Fragen auf. Von welcher Bildung ist hier die Rede und was ist unter »postkolonialen Konstellationen« zu verstehen? Allein die theoretischen Debatten zu Bildung bzw. die Diskussionen um einen kritischen Bildungsbegriff füllen Bibliotheksregale in erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Instituten. Obwohl die Diskurse zu postkolonial/ Postkolonialität im bildungspolitischen Kontext im deutschsprachigen Raum noch nicht auf eine so lange Theorietradition verweisen können, sind sie mittlerweile doch im Bildungsdiskurs angekommen. Sie tragen damit zu einer Erweiterung und Öffnung der Disziplin bei. Aber, so stellt sich die Frage, wie kann angesichts der Heterogenität des Feldes und der Dichte der Diskurse eine Fragestellung entwickelt, eine Positionierung vorgenommen werden? Sollen ausgewählte Theorien aus dem Forschungsfeld aufgegriffen und kritisch diskutiert werden? Oder ist eine Beschäftigung mit den im Titel ausgewiesenen Begriffen ›Bildung‹ und ›postkoloniale Konstellation‹ eine Möglichkeit, sich dem Thema zu nähern? Da ich mich schon längere Zeit mit Fragen zu Begriffen herumschlage, die mit dem Präfix ›Post‹ (etwa Postsozialismus, Postdemokratie) beginnen, nütze ich die Gelegenheit dieses Beitrages, um am Beispiel des Begriffes ›postkolonial‹ der Frage nachzugehen, was es mit der Bezeichnung ›post‹ auf sich hat. Was bezeichnet das ›Post‹, auf was bezieht es sich? Von was oder wem soll das ›Post‹ abgrenzen und wer bestimmt über diese Grenzziehungen? Meine Auseinandersetzung mit dem ›Post‹ fokussiert auf die Frage, wie dieses Präfix mit der Strukturierung von Zeit und Zeiterfahrungen zusammenhängt. Ausgehend von Zeiterfahrungen im ›postkolonialen‹ Kontext, richtet sich mein
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Interesse auf den Zusammenhang zwischen der Strukturierung von Zeit und deren epistemologische Grundlegung in der westlichen Moderne. Zwei literarische Stimmen aus dem postkolonialen Algerien eröffnen meine Überlegungen zur kolonialen Strukturierung von Zeit und Zeiterfahrungen. »Ich bleibe ein Mensch vom Mittelmeer, für den die Zeit anders vergeht als in anderen Gegenden.« (Daoud 2020: 145) »Aber die unbeweglichen Menschen langweilten sich derart, dass sie die Zeit mit kleinen Tagesbruchstücken bezifferten (…). Sie setzten der Zeit Schranken, so wie sie Mauern errichteten, um ihre Schritte zu begrenzen. Ging man darüber hinaus, fiel man aus ihrer gefangenen Zeit heraus, sagten sie: ›Es ist zu spät!‹« (Mokeddem 1993: 31) Der beiden Textstellen dienen als literarische Beispiele, um Zeitvorstellungen und -erfahrungen aus einem postkolonialen Kontext zur Sprache zu bringen. Beide Autor*innen verweisen in ihren Texten auf veränderte Zeiterfahrungen, die sich während französischen Kolonialregimes durchgesetzt haben. In ihrem Text Die blauen Menschen legt die algerische Autorin Malika Mokeddem eine eindrückliche Beschreibung eines verdoppelten, gesellschaftlichen Transformationsprozesses vor. Zum einen geht es um das SesshaftWerden der Beduinen während der kolonialen Besatzung, zum anderen wird gezeigt, wie dieser Prozess im algerischen Befreiungskampf mündet und im postkolonialen Algerien seinen Endpunkt findet. Mokkeddem beschreibt das Sesshaft-Werden als räumliche Gefangennahme, die parallel zur Gefangennahme durch das koloniale Zeitregime verläuft. So erlebt die junge Protagonistin den Eintritt in die französische Schule zwar als Befreiung von ihrem engen familiären Umfeld, aber gleichzeitig wird sie gezwungen, in eine streng getaktete Zeit einzutreten, die quer zu ihrem gewohnten Zeitrhythmus verläuft. Der Blick auf die Uhr zwingt sie, ihren Eigenrhythmus brechen, ihr Denken und Handeln in ein abstraktes Zeitschema zu zwängen. Mit Foucault (vgl. Foucault 1993) kann gesagt werden, dass über dieses Zeitregime eine Machtstruktur eingerichtet wird, die auf Disziplinierung und Kontrolle des Verhaltens abzielt. Die Uhr kann an dieser Stelle als Symbol für die Unterwerfung unter ein Zeitregime angesehen werden, das in der ›westlichen Moderne‹ nicht nur zur Steigerung kapitalistischer Produktionsweisen beigetragen hat, sondern dient auch als Versprechen für eine bessere Zukunft dient. Der moderne Mensch, so Zygmunt Baumann, pilgert durch die Zeit, in der er angehalten wird, sich ein festes Ziel zu setzen und dieses, unter dem Opfer des Befriedigungsaufschubs, hartnäckig zu verfolgen. Nur so können
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die Früchte des lebenslangen Arbeitens genossen werden. (vgl. Kron et al. 2011) Während Mokeddem in ihrem Roman eindrücklich die komplexen, postkolonialen Transformationsprozesse beschreibt, hebt Kamel Daoud in seinem Text die Verbindung zwischen der Region, in seinem Fall das postkoloniale Algerien, und der individuellen Zeiterfahrung hervor. Er kann damit an Walter Mignolo anknüpfen, der in seinem Aufsatz the Geopolitics of Knowledge den Zusammenhang von Zeit und Ort thematisiert. »Since (…) the early modern period or emergence of the modern/colonial world—time has functioned as a principle of order that increasingly subordinates places, relegating them to before or below from the perspective of the ›holders (of the doors) of time.‹‹ (Mignolo 2002: 67) Diese Textstellen sollen in das Thema einführen, indem sie auf die Bedeutung der erfahrenen, gelebten Zeit und auf die Veränderungen dieser individuellen Zeiterfahrungen und Zeitrhythmen durch die jeweiligen Kolonialmächte hinweisen. Am Beispiel des Begriffes ›postkolonial‹ werde ich der Frage nachgehen, wieviel ›Kolonialität der Macht‹ (Quijano 2019) noch immer im Begriff der ›Postkolonialität‹ steckt. Aus der Fülle der theoretischen Literatur werde ich mich auf philosophische und feministische Ansätze beziehen und eine kritische Perspektive auf hegemoniale Zeitvorstellungen entwickeln. Der Beitrag gliedert sich in fünf Kapitel: im ersten Kapitel wird in die Thematik eingeführt. Im Kapitel zwei wird das Präfix ›post‹ diskutiert und eine Problematisierung der Zeit vorgenommen. Aus philosophischer Perspektive wird eine Dekonstruktion der linearen, chronologischen Zeitkonzepte vorgenommen und ihre epistemologische Verankerung (Binarismus, Universalismus) in der westlichen Moderne aufgezeigt. Im Kapitel drei werden die im Kapitel eins identifizierten epistemischen Bausteine (Linearität, Chronologie) mit einer kritischen Diskussion des Begriffes ›Fortschritt‹ erweitert. Die epistemologische Verknüpfung ›moderner‹ Zeitkonzepte mit der Idee des ›Fortschritts‹ wird einer Kritik aus dekolonialer und feministischer Kritik unterzogen. Dabei werden Fragen nach dem methodischen Vorgehen, sowie nach der (Selbst)Positionierung der Kritiker*innen in die Diskussion miteinbezogen. Kapitel vier ist der kritischen Diskussion des ›Fortschritts‹ aus einer philosophischen und politischen Perspektive gewidmet. Die Schliessung der Zukunft durch Ideologien und Utopien im Namen des ›Fortschritts‹ stehen dabei im Fokus.
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Im Kapitel vier fünf wird aus einer feministischen und dekolonialen Perspektive für eine offene, unbestimmte Zukunft plädiert. Spivak spricht in diesem Kontext von einem ›Modus des Künftigen‹ (vgl. Spivak 2008), Rajchman wiederum von einer ›Philosophie des Werdens‹ (vgl. Rajchman 1999). Gemeinsam ist ihnen, dass sie der Schliessung der Zukunft durch die hegemoniale Ideologie der Zeit eine Absage erteilen. Welchen Einfluss diese vorgenommene Öffnung der Zeit auf das pädagogische Denken und Handeln hat, wird anhand der ›Pädagogik wider die Grausamkeit‹ (vgl. Segato 2021) aufgezeigt.
2.
Das Problem mit dem Präfix ›Post‹
Am Beginn meiner Auseinandersetzung mit dem Begriff ›postkolonial‹ steht die Frage nach möglichen Bedeutungen des Präfixes ›post‹. Ein Präfix, das im akademischen Diskurs mittlerweile dominant geworden ist. Die Rede ist von Posthumanismus, Postfeminismus, Postmoderne oder eben Postkolonialismus. Die Aufzählung könnte fortgesetzt werden… Es lohnt sich also, dieses Präfix zu befragen. Was ist mit ›post‹ gemeint? Ist damit eine historische Beziehung gemeint, die auf ein vorher und nachher verweist? Was bedeutet das Präfix in Bezug auf das vorher bzw. auf das nachher? Wie wird die Grenze zwischen beiden den beiden Zeitsetzungen bestimmt? Nicht zu vergessen die Frage, von wem diese Grenzziehung mit welchem Ziel ausgeht? Diese Fragen machen deutlich, dass das Präfix ›post‹ auf ein relationales Verhältnis verweist, da es sich offensichtlich auf etwas, das als Vergangen gedeutet wird, bezieht. »So unterschiedlich auch das Spektrum des Gebrauchs jedes einzelnen Post-Wortes ist, so unzweideutig ist jedoch, dass Post-X – nur dies begründet das P-Präfix – in einem bestimmten Verhältnis zu X steht: ›nach X‹.« (Mecheril 2014: 107) Dieser Ansatz eröffnet ein Diskursfeld, in dem die der Relation inhärenten Zeitvorstellungen zur Diskussion gestellt werden können. In den folgenden Ausführungen wird der Frage nachgegangen, wie das Präfix ›post‹ auf eine Zeitvorstellung verweist, die in der westlichen Moderne begründet ist. Mit Peter Osborne verstehe ich die zeitliche Dimension der Moderne als ›historische Zeit‹, die auf einer phänomenologischen Ebene eine Verlinkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft »within the dynamic and eccentric unity of a single historical view« darstellt. (Osborne 1995: IX) Die Problematisierung der Zeit, so der Philosoph, ist kein neues Phänomen. Zwar wurde von Philosophen ›in Europa‹ ab dem 19. Jahrhundert die zeitliche
Dekolonialer Feminismus als Gegenpädagogik
Dimension der Moderne, verstanden als historische Periodisierung verbunden mit der Idee des Fortschritts, als Problem erkannt und diskutiert, aber ein Nachdenken über die zeitliche Struktur der Moderne hat bislang gefehlt. (vgl. Osborne 1995: 4) In seiner Arbeit The Politics of Time unterzieht Osborne die Zeitlichkeit der Periodisierung einer Kritik. Es gelte die Idee der Modernisierung, als ›homogene Kontinuität der historischen Zeit‹, die ›magic of chronology‹ zu hinterfragen. (vgl. Osborne 1995: 16) Im Gegensatz zu Vertreter*innen der ›Postmoderne‹ spricht Osborne von der Moderne als unabgeschlossenem Projekt und bezieht sich dabei auf Ausführungen von Adorno, der die ›Moderne als eine qualitative, und nicht als eine chronologische Kategorie‹ bestimmt (vgl. Adorno in Osborne 1995: 9). Diesen Gedanken von Adorno aufgreifend geht Peter Osborne in seinem Text der Frage nach, was dieser Kategorienwechsel für das der Moderne inhärente Beziehungsgefüge zwischen Vergangenheit und der Gegenwart bedeutet. Ist dieses Gefüge durch eine kontinuierliche Vorwärtsbewegung in Richtung Fortschritt bestimmt? Aber, so Peter Osborne, »the ›next‹ is not necessarily the ›new‹; or, at least, the ›next as new‹ is never simply the chronologically next: by what scale – seconds, hours, days, months, years?« (Osborne 1995: 15) Mit diesem Einwurf wird einmal mehr deutlich, dass nicht klar ist, wer anhand welcher Kriterien über die Vorwärtsbewegung, den sogenannten Fortschritt entscheidet? Diese Fragen greifen tief in die Wissensproduktion der ›westlichen Moderne‹ ein. Sie zeigen, dass mit dem Konzept des Fortschritts, verstanden als unterschiedliche Skalen von Entwicklung, nicht nur eine Machtasymmetrie in der Produktion von Wissen, sondern auch – wie später noch gezeigt wird – eine ökonomische und politische Asymmetrie einhergeht. Es ist die Idee des Fortschritts, in der die Gegenwart des ›entwickelten‹ Westens zum Massstab für die Zukunft des ›nicht-entwickelten‹ Rests wird. Dieser universelle Anspruch der ›westlichen Moderne‹ basiert auf binär strukturierten Hierarchisierungen und führt zu einer Homogenisierung von Zeit und Raum. Aber, so Peter Osborne, »there is no inherent reason why the West/non-West opposition should determine the geographic perspective of modernity except for the fact that it definitely serves to establish the unity of the West, a nebulous but commanding positivity whose existence we have tended to take for granted so long« (Osborne 1995: 16). Mit seinem Ansatz eröffnet Osborne ein Überdenken der räumlichen Beziehungen zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen, woraus neue Figurationen der Moderne entstehen können. Nicht nur im Westen, sondern auch im Nicht-Westen. Es entstehen konkurrierende Formen der Moderne, die von Homi Bhabha als ›postkoloniale Gegen-Moderne‹ beschrieben wur-
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den (vgl. Bhabha 2011). Die Arbeiten der argentinischen Anthropologin Rita Segato zur ›kolonialen Moderne‹ (vgl. Segato 2016) weisen in eine ähnliche Richtung. Ihr feministisch-dekolonialer Einsatz kämpft gegen ein Wissensmonopol, in dem es nur eine Wahrheit gibt. Sie wendet sich gegen den Binarismus, die Dualität und den Universalanspruch der westlichen Moderne. »There is no universal referent, the world is trans in many ways.« (Segato 2016: 616) Die hier von Bhabha und Segato angedeutete Kritik an der hegemonial gewordenen eurozentristischen Wissensproduktion wird im folgenden Kapitel vertieft. Das Interesse richtet sich auf eine kritische Diskussion des Begriffes ›postkolonial‹ und orientiert sich an ausgewählten feministischen und dekolonialen Ansätzen.
3.
Postkoloniale Einlassungen
Bereits 1992 eröffnet Anne McClintock ihre Diskussion um den Begriff von ›postkolonial‹. Ihre Kritik weist einmal mehr darauf hin, dass das Präfix ›post‹ auf die Idee eines historischen Fortschritts verweist, dem eine bestimmte Zeitvorstellung zugrunde liegt. Die Verwendung von ›post‹ entspreche einer ›binären Zeitachse‹, in der Machtfragen und unterschiedliche Formen von Kolonialismus ausgeblendet werden. »The world’s multitudinous cultures are marked, not positively by what distinguishes them, but by a subordinate, retrospective relation to linear, European time.« (McClintock 1992: 86) Diese Zentrierung der globalen Geschichte rund um die Europäische Zeit, wurde von Vertreter*innen der Postcolonial Studies vielfach kritisiert. (vgl. Amin 2021; Hall 1996; Mbembe 2001, 2021 oder Trinh T. Min-ha 1995, 2010) Obwohl diese Kritik aus unterschiedlichen Perspektiven und Positionen formuliert wird, weist sie doch eine Gemeinsamkeit auf. Es geht allen Kritiker*innen um die Dekonstruktion binärer Einteilungssysteme, wie sie die europäischen Moderne hervorgebracht, und als einzigen Weg zur Modernisierung definiert hat (vgl. Amin 2010). So fokussiert etwa die vietnamesische Filmemacherin und Literaturtheoretikerin Trinh T. Min-ha ihre Kritik auf jene »patriarchal diskursiven Formationen«, welche die Grundlage für das moderne Denken bilden. Mit der an Derrida angelehnten Methode der ständigen Verschiebungen, werden von Trinh postkoloniale Diskurse mit der Sprache des Feminismus ›infiltriert‹ (vgl. Babka in Trinh 2010: 10). Diese Form der Kritik verhindert, dass Gegenpositionen zu einem Dogma erhoben werden, was zu einer Schliessung der Auseinandersetzungen führt und damit ›Herrschafts-
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und Unterdrückungsmuster unangetastet‹ bleiben (vgl. Trinh 2010: 83). Als Beispiel für das Vermeiden einer (Ein)Schliessung in binäre Denkstrukturen greift Trinh auf die im postkolonialen Diskurs vieldiskutierte Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie zurück. In ihrer Diskussion um diese Relation fordert sie dazu auf, beide Positionen beizubehalten, da sich beide wechselseitig bedingen. Marginalität wird bei Trinh die Bedingung für das Zentrum. »The center itself is marginal. Margins within the center and centers within the margins.« (Trinh 1995: 216) Auch Achille Mbembe thematisiert in seinem 2001 erschienen Buch On the Postcolony die asymmetrische Beziehung zwischen Peripherie und Zentrum. Er weist darauf hin, dass in postkolonialen Gesellschaften über das koloniale Schulsystem das Regime einer ›abstrakten Zeit‹ eingeführt wurde. Der Roman Die blauen Menschen von Malika Mokeddem zeichnet diesen Prozess eindrücklich nach und kann daher auch als Grundlage für die von Mbembe beschriebene ›peculiar time‹ angesehen werden. In seinem Konzept zur ›peculiar time‹ versucht Mbembe die ›abstrakte Zeit‹ in die Lebensroutinen und Lebenserfahrungen der Menschen einzubinden. »To account for time as lived, not chronically, but in its multiplicity and simultaneities, its presence and absences, beyond the lazy categories of permanence and change beloved of so many historians.« (Mbembe 2001: 8) Diese Absage an die Linearität der Zeit sowie sein Plädoyer für eine ›gelebte Zeit‹, wird von Donna Haraway geteilt. Sie beschreibt die moderne Zeit als ›Containerzeit‹, in der alternative Zeitkonzepte und -strukturen nicht vorgesehen sind. Haraway argumentiert für ein verstricktes, aber offenes Zeitkonzept. In Staying with the trouble spricht sie von »entangled times of past/present/yet to come« (Haraway 2016: 11). »Living in the wake of« nennt Christina Sharpe ihre kritische Haltung gegenüber geschlossenen, linear verlaufenden Zeitregimen und plädiert, ähnlich wie Trinh und Mbembe, für eine Gleichzeitigkeit von »inhabiting and rupturing this epistemic« (Sharpe 2016: 20). Die Kritik der Literaturwissenschaftlerin Cooppan Vilashini setzt an der Zeitvorstellung der herrschenden Geschichtsschreibung an. Diese, so Cooppan beschreiben Geschichte als singuläres Ereignis, das progressiv verläuft. Im Gegensatz dazu entwirft sie das Konzept einer ›political temporality‹ (vgl. Cooppan 2019: 413), die auf einen Bruch der ›eurochronological time-map‹ (vgl. Cooppan 2019: 411) abzielt. Das Konzept der ›political temporality‹ plädiert für eine Dynamisierung der Zeit, in der die Linearität der herrschenden Zeitvorstellung durch dynamische Bewegungen (vor und zurück, seitlich, quer) unterbrochen und offener wird (vgl. Cooppan 2019). Dieses Verständnis von Zeit wird von der französischen Fe-
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ministin Francoise Vergès aufgegriffen und auf seine Bedeutung für die Geschichtsschreibung befragt. In ihrem Text Dekolonialen Feminismus geht sie davon aus, dass ein im Sinne der vorgetragenen Kritik verändertes Zeitkonzept eine Neuinterpretation politischer Kämpfe ermögliche. Denn, so Vergès, die herrschende »Geschichtsschreibung erzählt die Kämpfe der Unterdrückten als eine Folge von Niederlagen und zwingt ihnen eine Linearität auf, in der jeder Rückschritt bloss als Beweis dafür erfahren wird, dass der Kampf falsch geführt wurde, anstatt darin vielmehr die Entschlossenheit reaktionärer und imperialistischer Kräfte zu erkennen, jede abweichende Meinung zu vernichten. (…) In dieser Zeitlichkeit verorte ich den Feminismus dekolonialer Politik.« (Vergès 2020: 18) Auch wenn die westliche Moderne in sich viel heterogener ist, als sie hier dargestellt wird1 , wurden anhand der bisherigen Ausführungen ihre epistemologischen Grundlegungen einer Kritik unterzogen. Die Kritiker*innen verweisen nicht nur auf die Unabschliessbarkeit historisch-zeitlicher Prozesse, sondern erteilen jeglichen Kolonisierungsversuchen von Zeit durch Fortschritts- und Entwicklungsideologien eine deutliche Abfuhr. Der universale Anspruch der europäischen Moderne wird aus unterschiedlichen Perspektiven einer epistemischen Kritik unterzogen, seine ideologische Macht aufgezeigt und die daraus abgeleiteten Machtansprüche hinterfragt. Die Analyse dieser asymmetrischen Beziehungen, die sich durch eine ›asymmetrische Ignoranz‹ (vgl. Varela, Dhawan 2009: 15) auszeichnen, hat die Verschiebung und Entwirrung binär konstruierter Einteilungssysteme und normativer Ordnungsmodelle zum Ziel (vgl. Bhabha 2011, Trinh 2010). Es geht den Kritiker*innen nicht um radikale Verwerfungen, sondern sie ringen um eine Position, die mit Chela Sandoval als »›breaking with ideology‹ while at the same time also speaking in and from within ideology« beschrieben werden kann (Sandoval 2020: 44). Wenn aber keine Position des Ausserhalb möglich ist, dann stellt sich die Frage, wie eine Kritik aussehen muss, die der Reproduktion herrschender Wissensproduktionen widersteht? Während Trinh T. Min-ha mit ihrer Kritik die Dogmatisierung binärer Oppositionsbildungen adressiert, bestimmt Chela Sandoval das Binäre als etwas Fluides, Bewegliches. Beide Ansätze versuchen damit zu einer Dynamisierung des 1
Eine differenzierte Diskussion der ›westlichen Moderne‹ aus feministischer Perspektive habe ich an anderer Stelle geführt. (vgl. Goedl 2016)
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Binären beizutragen. Sie schlagen vor, das Dichotome als etwas zu verstehen, das nicht fixiert ist, sondern als bewegliche Pole zwischen denen man sich hin und her bewegen kann. Dieser Ansatz einer inhärenten Kritik wird im nächsten Kapitel anhand der Diskussion um den Begriff des Fortschritts vertiefend weitergeführt.
4.
Fortschritt und Entwicklung als Schliessung der Zukunft
Die Vorstellungen vom unaufhaltbaren Fortschritt und einer stetig voranschreitenden Entwicklung sind fest im Bild der westlichen Moderne verankert. Sie wurden als Motor für Industrialisierung, Wirtschaftswachstum und Demokratisierung angesehen und damit zum politischen Leitbild einer ganzen Epoche. Sie waren, so der deutsche Umwelt- und Klimaforscher Wolfgang Sachs, »das weltpolitische Programm der postkolonialen Epoche« (Sachs 2020: 80). Die Entstehung der ›modernen Welt‹ ist untrennbar mit einem Glauben an Fortschritt und Entwicklung verknüpft. Aber, so ist zu fragen, wer bestimmt über Konzepte und Begriffe? Wer dominiert die Diskurse und wie ist der postkoloniale Diskurs von diesen Konzepten geprägt? Die Auseinandersetzung um diese Begriffsdefinitionen sind mittlerweile Legion. Als Beispiel für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff des Fortschritts werden zunächst die Arbeiten von Wolfgang Sachs herangezogen, da sie sich durch Einlassungen aus postkolonialer Perspektive auszeichnen (vgl. Sachs 1988/2010; Sachs 2020). In den Schriften von Sachs und den von ihm herausgegebenen Sammelbänden wird der unerschütterliche Glaube an den Fortschritt als bedeutend für die Entstehung der westliche Moderne bestimmt. »Our deep reverence for science and technology was inextricably linked up with this faith in progress«. (Sbert 2012: 218) Die westliche Moderne erzählt eine Entwicklungsgeschichte vom globalen historischen Fortschritt und dem universalen Anspruch auf ein sozial-kulturelles Lernen. Wie bereits deutlich gemacht wurde, basiert dieses Entwicklungsnarrativ auf einer linearen Zeitvorstellung und einer Chronologisierung von Geschichte, die entlang der binären Zeitachse des ›vor‹ und ›danach‹ organisiert werden. In Folge haben auf der politischen Ebene diese Präfixe wesentlich zu einer Zweiteilung der Welt beigetragen: der ›entwickelte‹ Westen und der ›unterentwickelten‹ Rest. »With the timely arrival of development, the term ›progress‹ was subsequently applied only to what the self-designated First World had already achieved (…) and was not yet available to the rest of the world. The Third World had to de-
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velop first – before even thinking about real progress.« (Sbert 2010: 215) Sbert weist nicht nur auf den Machtanspruch der ›ersten Welt‹ hin, er fordert auch dazu auf, die beiden Begriffe unter Anführungszeichen zu setzen, um darauf hinzuweisen, dass sie nicht unhinterfragt eingesetzt werden können. Dieser Anspruch ist insofern von Bedeutung, da die Idee des ›Fortschritts‹ politisch eine starke Wirkmächtigkeit hat(te). So wurde etwa von der politischen Elite nach den erfolgreichen Befreiungsbewegungen dieser Glaube an die Macht des ›Fortschritts‹ oft kritiklos übernommen. In seinem Namen wird eine Politik durchgesetzt, in der die ›Kolonialität der Macht‹ (vgl. Quijano 2019) fast ungebrochen weiterwirkt. ›Entwicklung‹ und ›Fortschritt‹ werden dabei zu normativen Konzepten, die ohne kritische Analyse über heterogene gesellschaftliche Phänomene, gelegt werden (vgl. Ziai 2010; Sbert 2010). Gleichzeitig ist auf den chronopolitischen Aspekt von Zeit verwiesen, indem eine allgemein gültige, kontinuierliche Vorwärtsbewegung propagiert wird. »Die imaginierte Zeit ist linear; indem sich diese ausbreitet, werden Völker wie etwa die Rajasthanis in Indien oder die Aymara in Peru unausweichlich in die Perspektive des weltweiten Fortschritts gezogen.« (Sachs 2020: 80) Die Diskurse um ›Entwicklung‹ und ›Fortschritt‹ sind aber spätestens seit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung im Jahr 1989 in eine politische und epistemologische Krise geraten. Die Zielgerichtetheit des ›Fortschritts‹ hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Vorstellungen der Zukunft überdeterminiert, nicht mehr offen waren (vgl. McClintock 1992). Der Kommunismus als Versprechen für eine bessere Welt hat in seiner politischen Realisierung wesentlich zu dieser Schliessung beigetragen. In ihrem Dialog über den Kommunismus, den Kapitalismus und die Zukunft der Demokratie diskutieren die französischen Philosophen Alain Badiou und Marcel Gauchet die Frage, wie nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regimes nach 1989 noch über eine linke Politik, mit einer klaren Zukunftsvorstellung nachgedacht werden kann. In ihrem Fazit kommen beide Diskutanten zu dem Schluss, dass durch den Wegfall ideologischer Ansprüche, die Zukunft wieder als offen gedacht werden kann (vgl. Badiou/Gauchet 2014). Fragen nach der Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe des Kommunismus sowie nach seinem Gerechtigkeitsanspruch bleiben in dieser Zukunftsvision offen. Das ist insofern interessant, als Jaques Derrida bereits 2004 mit Marx‹ Gespenster einen wichtigen Beitrag zur Debatte um das Ende des Kommunismus geleistet hat. In diesem Text unternimmt der französische Philosoph eine Analyse des Kommunismus, in der im Gegensatz zu Badiou und Gauchet keine prinzipielle Offenheit postuliert wird. Vielmehr geht er der Frage nach,
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wie mit dem historischen Erbe des Marxismus umzugehen ist. In Anspielung an das Leitmotiv des Kommunistischen Manifests (ein Gespenst geht um in Europa) setzt er die Figur des Gespenstes als philosophischen Topos, um sich zu fragen, worin »nun genau der Unterschied zwischen der vergangenen Welt – als das Gespenst noch eine zukünftige Drohung darstellt – und einer gegenwärtigen Welt, heute, wo das Gespenst eine Drohung darstellt, von der manche gern glauben möchten, dass sie vergangen sei, und deren Rückkehr man immer noch, immer noch in der Zukunft, bannen müsste« (Derrida 2004: 61). Die Gegenwart als Link zwischen Vergangenem und Zukünftigen wird von Derrida wiederum als komplexes Geflecht angesehen, das von Vor- und Rückläufen durchdrungen wird. Vergangenheit und Zukunft stören als ›Heimsuchung‹ und ›Wiederkehr‹ die zeitlichen (An)Ordnungen und verweisen damit auf »die Unsicherheit jeglicher Ordnung« (Sternad 2013: 33). Die Figur des Gespensts kann als epistemologische Unruhestifterin angesehen werden, da sie sich der Vereinnahmung durch festgelegtes Denken und Handeln entzieht. Mit Gudrun-Axeli Knapp kann auch von einer Öffnung der Struktur gesprochen werden, die neue Denkräume eröffnet (vgl. Knapp 2009). Um diese Öffnung zu veranschaulichen, werden die Arbeiten der Philosophin Amy Allen herangezogen. Aus der Tradition der Kritischen Theorie kommend, versucht sie in ihrem 2015 erschienen Buch The End of Progress die Kritische Theorie für dekoloniale Ansätze zu öffnen. Sie bedient sich der Methode der immanenten Kritik, um der Frage nachzugehen, warum Vertreter der Kritischen Theorie in ihren gesellschaftskritischen Arbeiten keinen Bezug zum Kolonialismus herstellen. »I am trying to answer a specific question within critical theory (…), how it can secure its normative foundations without appealing to progressive historical or universalistic metanarratives that are vulnerable to postand decolonial critique.« (Allen 2018: 22) Als Ausgangspunkt ihrer kritischen Überlegungen zieht Allen die Konvergenz eurozentristischer Geschichtstheorien − mit ihren Leitmotiven ›Fortschritt‹ und ›Entwicklung‹ − mit kolonialen Machtstrukturen heran. Anhand der Analyse des ›Fortschritts‹, wie er in der Kritischen Theorie konzipiert wurde, versucht die Philosophin ihre normative Begründung im Kontext der westlichen Moderne herauszuarbeiten. »Critical theory stands in need of decolonization insofar as its strategy for grounding normativity relies on the notion of historical progress; thus, if critical theory is to be decolonized, it will have to find another strategy for grounding normativity and another way of thinking about progress« (Allen 2015: 36). Die-
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ser Ansatz unterscheidet sich von anderen Diskursen, als Allen der gängigen Gleichsetzung von ›geistigem und historischem Fortschritt‹ eine klare Absage erteilt. Sie bringt Adorno und Foucault in einen Dialog, um ein anderes Konzept von Normativität zu begründen, eines, das nicht im Eurozentrismus verankert ist (vgl. Leeb 2018). Allen übt eine rigorose Kritik am rückwärtsgewandten (›backwards-looking‹) Konzept von Fortschritt und plädiert für ein Konzept, in dem die Zukunft relativ offen, als Streben nach einer besseren Gesellschaft gedacht werden kann. Um diesem Anspruch nach Offenheit gerecht zu werden, unterscheidet Allen zwei Konzeptionen von ›Fortschritt‹. »The backward-looking conception of history as a progressive, developmental story that leads up to ›us‹ and the forward-looking conception of the possibility of achieving a more just or less oppressive social world« (Allen 2015: 248). Um diesem binär strukturierten Konzept von ›Fortschritt‹ zu entgehen, muss eine Trennung der zeitlichen Bestimmungen vorgenommen werden. Nur so kann es gelingen, »to live up to the normative inheritance of modernity (…), without viewing such inheritance as superior to pre-modern and non-European cultures« (Leeb 2018: 4). Die Diskussion um ›metanormative Begründungen‹2 von ›Fortschritt‹ beinhaltet nicht nur eine Kritik am Eurozentrismus, sondern thematisiert auch die damit einhergehenden Aporien. »In order to affirm the discourse of progress, one must criticize it. This means not only that one must adopt a humble unleash their history, understand their entanglement with power, and, I would add, thematize their irreducible ambivalence.« (Zambrana 2017: 1053) Es ist der Verdienst von Amy Allen, dass sie die ›normativen Begründungen‹ der westlichen Moderne aufgezeigt und einer Kritik unterzogen hat. Wenn es, wie Allen und die kritischen Kommentare zu ihrem Text zeigen, keine absolute Begründung für normative Verpflichtungen gibt, dann müssen in der dekolonialen und feministischen Forschung diese Begründungen selbst zum Thema einer kritischen Analyse werden. Gemeinsam ist den Autor*innen, dass es nicht um eine generelle Zurückweisung westlicher Ideale geht, sondern um eine deutliche Absage an die Konstruktion universeller und normativer Kategorien. Zudem verweisen die Kritiker*innen auf die notwendige Arbeit an den sogenannten blinden Flecken im eigenen Forschungsfeld.
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Als Philosophin beschäftigt sich Allen in dieser Arbeit mit normativen Begründungen der Kritischen Theorie. Sie entwickelt ein Konzept des ›metanormative contextualism‹, indem sie für eine epistemische und moralische Bescheidenheit sowie einer Öffnung für Andere plädiert. (vgl. Allen 2015; Zambrana 2017)
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Mit der Methode der permanenten Verschiebung, der Ent- und Verwirrung, gelingt es, den normativen Gehalt universal vorgestellter Epistemologien freizulegen. Denn »›der Kern der Sache‹ ist immer anderswo als vermutet, es gibt (…) kein Bedürfnis nach einem gradlinigen Fortschritt, der die bequeme Illusion erwecken könnte, man wüsste wo es lang geht« (Trinh 2010: 9). Dies kann als Plädoyer für eine Öffnung der Zukunft verstanden werden, in der die ›falsche Sicherheit der Epistemologie‹ (vgl. Zerilli 2015) als ›Heimsuchung‹ erkannt werden kann, da »chronology alone could never be the measure of historical progress« (Osborne 1995: 19).
5.
Die Öffnung der Zukunft – Plädoyer für eine ›radikal plurale Welt‹
Ausgehend von einer Verwobenheit von Vergangenheit und Zukunft sowie der westlichen und nicht-westlichen Welt gibt es für Rita Segato kein ›vor‹ oder ›zurück‹, sondern nur eine ›radikale plurale Welt‹ (vgl. Segato 2018:14). Diese Forderung ist bei Segato keine leere Formel, sondern ist mit einem konkreten Anspruch verbunden: die Aufhebung der Trennung von akademischem und nicht-akademischem Wissen. Es stellt sich also die Frage, wie akademisch generiertes Wissen in ein gesellschaftliches Handeln umgesetzt werden kann, ohne ›die falsche Sicherheit der Epistemologie‹ zu reproduzieren (vgl. Zerilli 2015; Nagar 2014). Als Beispiel für eine gelungene Verschränkung von kritischer Wissensproduktion und gesellschaftlichem Engagement wird im Folgenden auf die Textsammlung Wider die Grausamkeit von Rita Segato eingegangen (vgl. Segato 2021). Basierend auf ihren Forschungen zu den steigenden Femiziden in Lateinamerika, insbesondere in Mexiko, entwickelt die in Brasilien lehrende Ethnologin eine Gesellschaftskritik, in der sie für ein feministisches und dekoloniales Denken und Handeln plädiert. Ausgehend von den Arbeiten von Aníbal Quijano zur ›Kolonialität der Macht‹ (vgl. Quijano 2019) verbindet sie Kapitalismuskritik mit feministischen Ansätzen, um die strukturelle Gewalt in patriarchalen Gesellschaften freizulegen. Die gesellschaftlichen Transformationen vom Kolonialismus zum kapitalistisch-patriarchalen ›Postkolonialismus‹ werden von Segato als soziale Zurichtungsprozesse gefasst und als ›Pädagogik der Grausamkeit‹ beschrieben. »Wenn ich von einer Pädagogik der Grausamkeit spreche, beziehe ich mich auf etwas sehr Präzises, nämlich das Arretieren von etwas zuvor Schweifen-
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den und Unvorhersehbaren wie es das Leben ist, um an seiner Stelle die Trägheit und Sterilität einer Sache zu implementieren, die messbar, verkaufbar, erwerbbar und anachronistisch ist – ganz so wie es für den Konsum in dieser apokalyptischen Phase des Kapitals gut ist.« (Segato 2021: 16) Mit dem Konzept der ›Pädagogik der Grausamkeit‹ gelingt es Segato jene gesellschaftlichen Mikroprozesse in den Blick zu nehmen, in denen das Lebendige und Vitale in verwertbare Dinge verwandelt werden. Wie bei Malika Mokeddem spielt auch bei Segato das Bild der ›geraubten Zeit‹ in der Verdinglichung und Entfremdung des Lebendigen eine wesentliche Rolle. Aber, so Rita Segato, »wir können etwas von der kreativen Ungewissheit, die in der Zeit liegt, zurückerobern« (Segato 2021: 14). Diese Aufforderung zum Denken und Handeln wird in den Ausführungen zu den ›Pädagogiken wider die Grausamkeit‹ skizziert. Darin entwirft Segato eine ›Gegen-Pädagogik‹, in der sie gegen das bequeme Einrichten in Denk- und Handlungsgewohnheiten ihre Stimme erhebt. Sie prangert eine Denkfaulheit an, die wesentlich zum Aufrechterhalten beziehungsweise zur Reproduktion bestehender Ordnungen beiträgt. Welche Konsequenzen eine solche Haltung nach sich zieht, demonstriert Segato am Beispiel der Femizide in Lateinamerika. In ihrer Analyse hebt sie die politische Bedeutung einer Trennung von akademischem Wissen und gesellschaftlichem Handeln hervor. Um gesellschaftliche Relevanz zu gewinnen, so Segato, muss aber die Trennung zwischen akademischen und nicht-akademischen Wissensproduktionen aufgehoben werden. In dieser Verlinkung beider Wissensformen spielen Subversion und Ungehorsam eine zentrale Rolle und werden für Segato zum Leitmotiv ihrer ›GegenPädagogik‹. Mit Subversion verweist Segato nicht nur auf den ›epistemischen Ungehorsam‹ (vgl. Segato 2019), vielmehr versteht sie Subversion als eine Bewegung, als ›ein Gleiten aus der Ordnung‹. »Der Weg ist jener der Subversion, der haarfeinen Ungehorsamkeiten (…). Ein Weg der Verweigerungen, der ungehörigen Praktiken, des Gleitens aus der Ordnung und der konstanten Abweichungen, mit denen wir die destabilisierenden Hierarchien aushöhlen können, jene Realität also, die, so wie sie heute existiert, unser Fühlen und Denken strukturiert.« (Segato 2021: 88) Mit dem subversiven Ungehorsam verweist Segato einmal mehr auf die Bedeutung der Analyse jener gesellschaftlichen Mikroprozesse, in denen die ›Kolonialität der Macht‹ immer noch verankert ist. Forschung und Lehre sind davon nicht ausgenommen. Auch sie erfordern eine ›Gegen-Pädagogik‹ – die
Dekolonialer Feminismus als Gegenpädagogik
Ausrichtung gegen ›die Kolonialität der Macht des Wissens‹ (vgl. Segato 2019, 2021). Die in diesem Beitrag vorgestellten Diskussionen können als ›GegenPädagogik‹ positioniert werden. Auch wenn die Perspektiven variieren, so ist ihnen eine kritische Haltung gegenüber herrschenden Ideologien und Epistemologien gemeinsam. Sie alle wenden sich gegen vorgefasste Utopien, die eine Schliessung der Zukunft zur Folge haben. Anhand der Diskussion des ›Fortschritts‹ im Kontext der westlichen Moderne wurden normative Schliessungsprozesse beschrieben, die ihren Ursprung in der europäischen Aufklärung, in der westlichen Moderne haben. Gemeinsam ist den hier vorgestellten Positionen, dass sie für eine Öffnung der Zukunft plädieren. Das ist kein neuer Gedanke, aber die hier vorgestellten Positionen sind insofern bemerkenswert, als sie ihre Kritik nicht als radikale Gegenposition formulieren, sondern in einen Diskurs eintreten, in dem das Unvorhergesehene und die Unbestimmtheit nicht als ›Gespenst‹ erfahren, sondern als inhärenter Bestandteil der gelebten Erfahrung angesehen werden kann. Es gilt, »der Selbstherrlichkeit einer vorgefassten Utopie abzuschwören«, um »den tragischen Geist zu verstehen und zu ertragen (…), der für das menschliche Leben charakteristisch ist, den die Moderne aber leugnet. Es bedeutet also zu lernen, in der ›Ungewissheit‹ zu leben, in der Unbestimmtheit, in einem Raum der Unentscheidbarkeit.« (Segato 2021: 89) Aber, so stellt sich resümierend die Frage, wie kann es gelingen, diesen Raum ungewiss und unentschieden zu halten? Wie kann die Reproduktion des Kritisierten verhindert werden? Und wie kann ein Diskurs eröffnet werden, in dem der Zweifel nicht mit einer vermeintlichen Gewissheit beantwortet wird? Wenn in diesem Beitrag für eine Öffnung unserer Denk- und Wissensstrukturen plädiert wird, so kann das als Aufforderung verstanden werden, die (falsche) Sicherheit der Epistemologie zu verlassen. Es geht um den ›Kollaps dominanter Kategorien‹ (vgl. Zerilli 1998: 438), um die Möglichkeit für ein Denken und Handeln zu schaffen, das von Rita Segato als ›subversiv‹ und ›ungehorsam‹ beschrieben wird. Um einer resümierenden Schliessung dieses Beitrags entgegen zu wirken, werde ich meine Ausführungen mit dem Text Was ist Politik von Hannah Arendt (1993) gegenlesen, um die von Segato geforderte ›Unbestimmtheit‹ und ›Unentschiedenheit‹ aufrecht zu erhalten, die sie für subversives Denken und Handeln als bedeutsam ansieht. Wie Segato geht Arendt von »der Tatsache der Pluralität der Menschen« aus (vgl. Arendt 1993: 9). Beide Denkerinnen plädieren für ein »Zusammen- und Miteinander-Sein
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der Verschiedenen« (ebd.), das sie als Grundlage für die Hervorbringung des Politischen ansehen. Wie Hannah Arendt gehen die hier versammelten Denker*innen von einer prinzipiellen Wirkmächtigkeit menschlichen Handelns aus. Sie sind davon überzeugt, dass Menschen die Fähigkeit besitzen, jederzeit etwas Neues schaffen zu können (vgl. Arendt 1992, 1993; Segato 2021). Diese Konzeption des Politischen kann zunächst als offen und unbestimmt gedeutet werden. »Es gibt so wenig ein objektiv korrektes politisches Handeln – etwa im Namen der Frauen zu sprechen –, wie es ein objektiv richtiges Regelfolgen gibt.« (Zerilli 2015: 97) In dieser Befreiung des Denkens und Handelns wird etwas Wesentliches deutlich: die Epistemologie geht dem Handeln nicht voraus. »Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, sie ist also dem menschlichen Handeln nicht vorgelagert, sondern entsteht durch das Handeln.« (Arendt 1993: 11) In den Ausführungen zum Politischen liegt die Aktualität des Denkens von Hannah Arendt und macht es für den dekolonialen und feministischen Diskurs interessant. Um es mit der britischen Politikphilosophin Margaret Canovan zu sagen: »Menschen brauchen Räume, Ideen auch.« (Canovan 1996: 95)
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Die Herausforderungen postkolonialer Erziehungswissenschaft1 Notwendige Reflexionen theoretischer Grundlagen und Anmerkungen aus einer relationalen Perspektive Iris Clemens
1.
Moderne Dominanzen und Hierarchisierungen im Bildungsund Wissenschaftssystem
Koloniale Strukturen durchziehen das globale Bildungs- wie das Wissenschaftssystem auch heute und betreffen die Erziehungswissenschaft, um die es hier gehen soll, daher sozusagen doppelt: Im Bildungssystemen etwa auf inhaltlicher und konzeptioneller Ebene, wenn es beispielsweise um Bildungsinhalte geht oder darum, welche Bildungskonzepte auch global durchgesetzt und welche dadurch marginalisiert werden. In der Erziehungswissenschaft als Reflexionstheorie des Bildungssystems (Luhmann 2002) steht eine Dekolonisierung ihrer epistemologischen Grundlagen ebenfalls größtenteils noch aus. Wesentliche Grundkonzepte der Disziplin wie z.B. das Bild vom Menschen als Individuum gründen relativ unreflektiert und wenig in Frage gestellt auf bestimmten Theorietraditionen mit christlichen Konnotationen (detaillierter Clemens 2015). Die Dekolonisierung der Wissenschaft ist eine Aufgabe, die langsam stärker in das Bewusstsein vieler Disziplinen tritt, auch in der Erziehungswissenschaft. Kolonialismus verweist auf verschiedene Formen moderner Dominanzen, so etwa der Soziologe Boaventura de Sousa 1
Dem Anliegen des Sammelbandes und dieses Beitrages gemäß, dekoloniale Perspektiven in der Erziehungswissenschaft zu stärken, habe ich mich bewusst dafür entschieden, im Beitrag weniger die Diskussion innerhalb der deutschen Erziehungswissenschaft abzubilden, sondern mich auf Autoren aus dem sogenannten Global South zu beziehen. Damit wird die/der Leser*in vermutlich einige gewohnte Referenzen vermissen.
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Santos (2021). Dekolonialisierung sei dementsprechend eine intellektuelle Intervention, um sich mit den unterschiedlichen Formen der modernen Dominanzen, nämlich Kapitalismus, Kolonialismus und Patriachat auseinanderzusetzen (ebd.: 17), wobei alle drei untrennbar miteinander verwoben seien. Entsprechend geht es darum, solche Hierarchisierungen und Dominanzen auf allen Ebenen wissenschaftlicher Aktivitäten zu analysieren, wie etwa die Rezeption oder Ignoranz bestimmter Literatur und Konzepte (auch Zitationen), der Arbeitsweisen und Projektorganisationen, der Personalfragen oder der epistemologischen Referenzen (um nur diese zu nennen), und an ihrer Überwindung zu arbeiten. Das wissenschaftliche System wird noch immer massiv von dem sogenannten Westen oder dem Globalen Norden dominiert (Raina 2009, 2011, 2016; Sousa de Santos 2014). Alle drei von de Santos genannten Dominanzen haben ebenfalls eine lange Tradition im Bildungssystem. Während Genderfragen und damit zusammenhängende Diskriminierungsdynamiken bereits länger breit diskutiert werden (vgl. Goedl in diesem Band), werden Auswirkungen des Kapitalismus erst allmählich in den Blick genommen. Vor allem auf globaler Ebene werden aber zunehmend Bildung ökonomisierende Tendenzen herausgearbeitet (Höhne 2015; Münch 2009, 2018). So sieht z.B. Radtke (2015) durch die Bildungsreformen rund um die Einführung der großen internationalen Schülerleistungsvergleiche und dem Literacy-Konzept der letzten Jahre eine Ökonomisierung der wissenschaftlichen Konzeptionen und der Organisation des Bildungssystems. Bildung soll beispielsweise eine möglichst große Anpassung an den globalen Arbeitsmarkt aufweisen und damit universell einsetzbar werden (so etwa die OECD), oder Schulen werden wie Unternehmen geführt einschließlich definierter Benchmarks und Leistungskontrollen. Schulen müssen dann durch landesweite, standardisierte Leistungstestergebnisse ihrer Schüler ihre Effizienz beweisen. In Amerika müssen sie andernfalls Kürzungen hinnehmen oder sind gar von der Schließung bedroht (McGoey 2015: 119). Aber die ökonomischen Interessen können auch sehr viel handfester benannt werden, wenn etwa Rupert Murdoch vorhersagt, dass der digitale Bildungsmarkt in den nächsten Jahren um 500 Milliarden Doller wachsen könnte (McGoey 2015: 133). Anhand extrem einflussreicher sogenannter Philanthrokapitalisten wie etwa Bill Gates kann hier auch die Verwobenheit der verschiedenen von de Sousa Santos benannten Dominanzen pointiert aufgezeigt werden (hier von Kapitalismus und Kolonialismus), sowie die globalen Verflechtungen. Aufgrund monopolähnlicher kapitalistischer Strukturen ist die Gates Fondation mit einem Budget ausgestattet, dass das Bruttoinlandsprodukt mancher
Die Herausforderungen postkolonialer Erziehungswissenschaft
Länder des sogenannten Globalen Südens übersteigt, in denen die Stiftung interveniert. Dies ermöglicht es ihr, global bestimmte Bildungskonzepte und -organisationen durchzusetzen, etwa die sogenannten Charterschools oder die ›Messung‹ der Effizienz der Lehrer durch Leistungstests der Schüler. Ganz in kolonialer Manier wird hier vorgeblich zum Wohle derer argumentiert, denen man diese Konzepte aufoktroyiert, und dies, obwohl diese Konzepte und Maßnahmen auch im amerikanischen Kontext höchst umstritten sind und keineswegs die positiven Ergebnisse zeitigen, die man sich von ihnen erwartet hat (McGoey 2015). Kolonialismus und das Bildungssystem sind tief und vielschichtig miteinander verwoben. Kolonialmächte wie beispielsweise Großbritannien haben in den von ihnen kolonialisierten Ländern wie Indien bestehende Bildungssysteme und -konzepte mehr oder weniger zerstört oder marginalisiert und allenfalls solche Bildungsinstitutionen etabliert, die ihren Bedürfnissen angepasst waren, nicht jedoch an die der kolonisierten Bevölkerung (Balagopalan 2002; Kattumuri 2011). Es handelte sich um eine reduzierte, simplifizierende Version der Bildungsinstitutionen und -inhalte im Herkunftsland. Es wurde gerade genug Wissen an gerade so viele Absolventen vermittelt, wie die englischen Kolonialisten für den Betrieb ihres Ausbeutungssystems für zumeist einfache Positionen im Getriebe des Unterdrückungsunternehmens der East India Company benötigten. Zu entsprechenden Konsequenzen haben die damit einhergehenden Bildungskonzepte und das vermittelte Wissen auch auf der kognitiven Ebene geführt, wie etwa Alatas (2004) pointiert mit seinem Konzept des ›captive mind‹ dargestellt hat, geführt. Er beschreibt damit, dass Bildungsformen und -inhalte, die keinen oder kaum Bezug zum primären sozio-kulturellen, auch ökonomischen Kontext haben, das Denken der Lernenden dahingehend begrenzen, dass es Absolventen erschwert wird, eigene Lösungen für eigene Problemstellungen und spezifische, sozio-kulturell-ökonomische Herausforderungen zu finden. Man lernt stattdessen sozusagen Beschreibungen von Problemen und Lösungen anderer und wird für die eigenen Herausforderungen und Spezifika blind. Absolventen entfernen sich dann von adäquaten Analysen und entsprechenden Reaktionen darauf, weshalb nach Alatas der captive mind dazu führt, Kreativität und ihre kognitive Entstehung zu verhindern. Es etablieren sich also ausgerechnet durch Bildung kognitive Konzepte, so Alatas, die dysfunktional in den vormals kolonialisierten Kontexten sind und kreatives, kontextsensitives Denken und Handeln erschweren oder sogar unterbinden. Bis heute gibt es vielschichtige und vielstimmige Kritik an diesen Bildungsinstitutionen und -konzepten, und ihre Dysfunktionalität in
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Kontexten, in denen sie nicht ursprünglich emergierten, wird hervorgehoben (z.B. Berlant 2011; Jeffery 2010; Jeffrey et.al. 2004; Roder 2017; für eine Zusammenfassung Clemens 2021 oder Clemens/Biswas 2019). Sie werden häufig als inadäquate Überbleibsel der Kolonialzeit angesehen, wobei eine Dekolonialisierung des Bildungssektors auch für Länder diskutiert wird, die nicht direkt besetzt und kolonialisiert wurden (Woldegiorgis 2021), da kolonisierende Strukturen deutlich komplexer sind. Übersehen wird dabei bisher jedoch oft, dass solchermaßen hierarchisierende, koloniale Denkmuster und Konzepte auch in den wissenschaftlichen Theorien und Konzepte existieren, die innerhalb der Erziehungswissenschaft genutzt werden und mit denen folglich deren Erkenntnis generiert wird. Ob sie nun fortbestehen, was Kontinuität beinhalten und implizieren würde, dass sie mehr oder weniger unverändert weiter existieren, oder ob immer wieder neue Formen der Dominanz und Diskriminierung emergieren, muss dabei gar nicht entschieden werden. Anhand des Beispiels der sogenannten indigenen Theorien oder des indigenen Wissens habe ich schon früher auf dieses Problem innerhalb der Erziehungswissenschaften hingewiesen (Clemens 2009). Solche Ansätze fordern die Ansprüche auf Universalität wissenschaftlicher Theorien und Modelle des sogenannten Westens2 heraus und verweisen auf kontextspezifische Relationen jedweder wissenschaftlicher Konzeptionen (Mukherji/Sengupta 2004). Indigene Theorien fordern kultursensitive, soziokulturell-ökonomische (und temporale) Differenzen berücksichtigende Ansätze innerhalb der Wissenschaft und Theoriebildung. Jedes Wissen ist dann indigen, auch das der minority world (Clemens 2009). Jahrzehntelange Erfahrungen der Nichtpassung und Dysfunktionalität von Theorien und Modellen aus der minority world in Kontexten wie Indien verdeutlichen deren mangelnde Angemessenheit in anderskulturellen Umgebungen. Kann beispielsweise eine Theorie wie die von Freud, die im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts unter den Eindrücken dieser spezifischen Gesellschaft und Klasse emergierte, tatsächlich das Verhalten von Menschen in Indien erklären? Und können die Menschen dort damit wirklich sinnvoll therapiert werden (Mukherji
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Im Folgenden folge ich dem Vorschlag von Dasen/Akkari (2008) und spreche von der minority (sog. Globale Norden) und der majority world (sog. Globaler Süden), auch, um globalen Gewichtungen Ausdruck zu verleihen, die nicht wie selbstverständlich von einer Seite aus argumentieren. Dies wird weiter unten anhand des Konzeptes von Zentrum und Peripherie noch weiterverfolgt.
Die Herausforderungen postkolonialer Erziehungswissenschaft
2004)? Ist ein Schulsystem und sein spezifisches Konzept von Lehren und Lernen, dass zu Hochzeiten des europäischen Nationalismus breit implementiert und ausgestaltet wurde, tatsächlich geeignet, junge Menschen an das Lernen heranzuführen, die in ganz anders strukturierten Gesellschaften leben (Dasen/Akkari 2008)? Damit stellen indigene Theorien gleichzeitig auch die Universalität von wissenschaftlichen Theorien und Konzepte in Frage und kritisieren den Prozess deren globaler Verbreitung und Adaption. Aufgrund dominierender Semantiken wurden Konzepte aus der minority world in divergierenden Gesellschaften implementiert, die aber in ihrer Funktionalität für diese Kontexte mit differenten sozio-kulturell-ökonomischen Strukturen nicht überzeugen (Mukherji 2004). Dies hat aber nicht nur Konsequenzen für die Kontexte, in denen diese Konzepte implementiert werden und sich als dysfunktional erweisen, sondern auch für die Konzepte selbst, für deren nun problematisierten Universalitätsanspruch wie auch für die Aufdeckung ihrer räumlichen, zeitlichen und sozialen Kontingenz. Die Diskussion um indigenes Wissen verweist darauf, dass jedes Wissen indigen ist, und damit wiederum darauf, dass jedes Wissen relational zu seinem sozio-kulturellökonomischen Kontext in der Zeit gesehen werden muss. Damit stellt indigenes Wissen eine epistemologische Grundsatzfrage. Eben diese Frage möchte ich in meinem Beitrag aufgreifen und beispielhaft einige Punkte aufzeigen, an denen eine Dekolonisierung der Erziehungswissenschaft hinsichtlich ihrer theoretischen Grundlagen geboten wäre. Im Fokus dieses Sammelbandes stehen nicht die Auswirkungen des Kolonialismus in den ehemals kolonialisierten Ländern, sondern die Konsequenzen dieser Dominanzen und Hierarchisierungen in der Erziehungswissenschaft im bundesdeutschen Kontext.
2.
Theorien und epistemologische Grundlagen der Erziehungswissenschaft dekolonialisieren: Das Beispiel des Konzeptes der Diffusion
Das Konzept der globalen Diffusion von Wissen scheint geeignet, das (Fort-)Wirken von hierarchisierenden und diskriminierenden, kolonialen Strukturen im Wissenschaftssystem aufzuzeigen und damit auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam zu machen. Dabei schließe ich an die oben kurz skizzierten Überlegungen von Alatas (2004) zu kognitiven Restriktionen durch dominierende Konzepte an. Andernorts habe ich die Notwendigkeit
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einer basal dekolonialisierenden Perspektive auf Wissen und seine Emergenz ausführlich diskutiert (Clemens 2020), hier kann dies nur verkürzt erfolgen. Am Beispiel des Konzeptes der Diffusion, welches etwa auch in der internationalen und interkulturell vergleichenden Erziehungswissenschaft prominent genutzt wird (Schriewer/Caruso 2005), lässt sich pointiert zeigen, wie sehr die Definition, Emergenz und Mobilität von Wissen sowie die entsprechenden Beschreibungen dieser Prozesse global durch Dominanzen und hierarchische Strukturen geprägt sind. An diesem Beispiel wird so deutlich gemacht, wie sehr (erziehungs-)wissenschaftliche Erklärungsansätze zum Teil auf diskriminierende Denkstrukturen und Wissensproduktionsprozesse aufruhen bzw. diese nicht überwinden, sondern bisweilen reproduzieren. Daran anschließend wird ausgelotet, welches Modell stattdessen genutzt werden könnte, und mit den trading zones of knowledge wird eine dekolonialisierende Perspektiven einbezogen. Die so erarbeitete Basis kann genutzt werden, um einerseits exemplarisch ein adäquates Konzept für eine dekoloniale Analyse von globalen Wissenstransfers im Bildungssektor zu entwickeln und zum anderen darüber hinaus wichtige epistemologische Grundlagen (erziehungs-)wissenschaftlicher Theorien zu diskutieren und das Relationale Paradigma auf seine Potentiale hin zu befragen. Wissenschaftliche Theorien, Modelle, Apparate und Konzepte emergieren immer in Wissenskulturen (Knorr-Cetina 2002), dies wird mittlerweile breit diskutiert. Es gibt dabei solche Konstrukte, die sich durchsetzen und solche, die das nicht tun, unabhängig davon, ob sie ihren Gegenständen nun besser oder schlechter angemessen sind. Semantiken, und damit Ideen, Theorien etc. setzen sich grundsätzlich aufgrund ihrer Anschlussfähigkeit im jeweils gegebenen sozio-ökonomisch-kulturellen Kontext durch, nicht etwa weil sie wahrer sind als andere (Luhmann 1998). Niklas Luhmann spricht deshalb auch davon, dass Semantiken oder Wissen kulturell valide sein müssen, was wissenschaftliche Theorien einschließt (ebd.). Innerhalb des Wissenschaftssektor sind bestimmte Faktoren ausschlaggebend dafür, ob Konzepte aufgegriffen und weiterverwendet werden, wie schon Kuhn (1967) dargelegt hat. Später haben Autorinnen wie Donna Haraway (1995) auf weitere hierarchische und diskriminierende Dynamiken bei der wissenschaftlichen Wissensproduktion hingewiesen. Ich möchte im Folgenden nun zunächst einige der hierarchisierenden und kolonialisierenden Denkstrukturen anhand des Beispiels des Konzeptes der Diffusion verdeutlichen. Wenn es darum geht, globale Entwicklungen und Zusammenhänge im Bildungssystem aufzuzeigen, wird das Konzept der Diffusion bspw.
Die Herausforderungen postkolonialer Erziehungswissenschaft
innerhalb des world polity-Ansatzes auch in den Erziehungswissenschaften genutzt (Schriewer/Caruso 2005). Vereinfachend gesagt basiert das Konzept zunächst auf einem zentralistischen Modell, in dem Wissen in bestimmten Regionen der Welt produziert wird – dem Zentrum oder den Zentren – und von dort in die Welt diffundiert (Meyer/Ramirez 2003). Wenn Konzepte diffundieren entstehen in den neuen Kontexten sogenannten Mythen, so der world polity-Ansatz. Die Konzepte würden dann als Zeichen vorgeblicher Modernität aufgegriffen. Beispielsweise wurden weltweit bestimmte Managementkonzepte wie etwa total quality management (TQM) in Krankenhäusern, Unternehmen, Bildungsinstitutionen, in der Verwaltung usw. implementiert. Hiermit wollen die Organisationen dann zeigen, dass sie die neusten internationalen Standards erfüllen und sozusagen auf der Höhe der Zeit, also modern sind. Dabei ist im world polity-Ansatz von Meyer (ebd.) das Zentrum zumeist die minority world, und die Peripherie alle anderen, insbesondere auch die ehemals kolonialisierten Länder der majority world. Dieses Zentrum-Peripherie-Denken ist durchaus typisch für das Problem, um das es hier gehen soll.3 In dieser Perspektive wird als modern tituliertes Wissen – auch dies beispielsweise mit Latour (1995) oder Haraway (1995) gesprochen an sich ein weiteres, höchst problematisches Konzept – in der minority world produziert, und von dort reist es dann in die vorgebliche Peripherie. Diese Sinnkonstrukte können sich dann global eben deshalb durchsetzen, weil sie als modern gelten und man ihnen zuschreibe, den Weg in diese Moderne zu weisen. Diese Moderne wird im world polity-Ansatz also als singulär betrachtet, statt verschiedene Modernitätsvorstellungen zu betrachten, die in unterschiedlichen Zivilisationen entstehen (Krücken 2005). Dies ist ein weiterer problematischer Aspekt aus einer dekolonialisierenden Perspektive. Der world polity-Forschung liege damit letztlich ein »zu gradliniges Modell gesellschaftlicher Rationalisierung zugrunde« (Krücken 2005a: 102), und der Weg führt nur in eine Zukunftsrichtung, die der sogenannten westlichen Moderne. Dies habe zur Folge, dass »Prozesse der weltweiten Strukturangleichung überbetont [werden IC], während Differenzen, Heterogenitäten und Ambivalenzen gesellschaftlicher Entwicklungsverläufe unterbelichtet bleiben« (ebd.). Statt also diverse Verläufe und gesellschaftliche Transformationen zu sehen, sieht man eine sich durchsetzende Entwicklung. Die vorgebliche Peripherie wird mit dem vermeintlichen Zentrum und seinen 3
Das Diffusionsdenken ist dabei in der minority world in den unterschiedlichsten Disziplinen und hinsichtlich stark variierender Themen weit verbreitet.
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Spezifika verglichen. Es wird dann ein Konzept aus der minority world zugrunde gelegt und andere Kontexte werden dahingehend beobachtet, ob es sich dort findet. Krücken kritisiert, dass das Konzept der Diffusion sowie die entsprechende, vorliegende Forschung nur erlaube, »zwischen der Annahme und der Ablehnung kultureller Prinzipien und ihrer Strukturformen zu unterscheiden, während Rekombinationen und Hybridisierungen nicht erfasst werden können« (Krücken 2005a: 102). Diffundieren aber Sinnkonstruktionen aus der minority world in andere Kontexte mit alternativen soziokulturell-ökonomischen Realitäten, Sinndimensionen und Konstellationen, kommt es immer zu Rekombinationen oder Hybridisierungen, schlimmsten Falls zu Fehlkopien dieser mobilen Wissenskonstruktionen, so Krücken (2005a). Auch dies bleibt seiner Meinung nach unterbelichtet. Das Beispiel der Verbreitung des Konzeptes der Universität in der Kolonialzeit und danach kann dies anschaulich verdeutlichen. Diese Institution emergierte in den unterschiedlichsten Kontexten (vgl. Rothblatt/Wittrock 1993), jedoch mit teilweise erheblichen Transformationsprozessen, wie Raina und Habib (2004) beispielhaft am indischen Kontext gezeigt haben. Dort habe das Aufkommen der ›big sciences‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade zur Marginalisierung der Universitäten als Ort der Forschung geführt. Während im Konzept der Universität in Europa die Einheit von Forschung und Lehre das Wesen dieser Institution ausmacht, wurde sie in Indien zu einem examining body (ebd.). Andere sozio-kulturell-ökonomische Bedingungen und Strukturen vor Ort führten zu anderen Entwicklungen. Politische und wirtschaftliche Motive wie etwa der Ehrgeiz, eine Atommacht zu werden, führten dazu, dass man zum einen sehr spezifisch vor allem bestimmte wissenschaftliche Forschung massiv unterstützte zu Lasten anderer Themen und Disziplinen, und dass man zum anderen für diese Forschungsgebiete eigene, besonders gut ausgerüstete Institute gründete, in denen wesentlich bis heute eine elitäre Forschung bis heute stattfindet (ebd.). Den Universitäten dagegen blieb allenfalls die Aufgabe der reinen Ausbildung, oder sogar, wie kritisch für den ehemals kolonialisierten Kontext allgemein vermerkt wird, eher die einer reinen »status factory« (Alatas 2004: 90). Es zeigen sich damit kulturspezifische Entwicklungen sowohl auf der Organisationsebene wie auf der Konzeptionsebene. Jedoch unterstützt der Umstand, dass die in Kontexten der majority world oft eher dysfunktionale Institution Universität trotzdem Statusproduzent sein kann, u.U. das Argument der Mythosbildung. Obwohl also die Abschlüsse dieser Institutionen wie auch das dort erlernte Wissen nicht per se zu einer Verbesserung der ökonomischen Lage
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der Absolvent*innen oder allgemein gesprochen zu einer Anschlussfähigkeit an die Gesellschaft beitragen, verschafft der Abschluss einen Statusvorteil (Alatas 2004) dank eines mitlaufenden Mythos über vorgeblich moderne, ›hohe‹ Bildung. So kann man durchaus fragen, ob in manchen Kontexten der majority world hier nicht eine ›Fehlkopie‹ im Sinne Krückens vorliegt. Im Bildungssektor sind die Schülerleistungstests wie PISA und die damit einhergehenden kognitiven Konzepte wie das der literacy (Vollmer 2021 sowie deren Verwobenheit mit Vorstellungen einer employability [Alber/Clemens 2020]) ebenfalls mögliche Beispiele für Diffusionsprozesse. Jedoch kann man auch hier massive Hybridisierungsprozesse beobachten. Wie Vollmer (ebd.) zeigt, ist der Prozess der (einmaligen) Einführung des PISA-Tests in Indien weitaus komplexer und vor allem interrelativer als das Diffusionsmodell beschreiben kann. An anderer Stelle habe ich zudem die mindestens partielle Dysfunktionalität dieses Konzeptes der Beschäftigung für Kontexte der majority world wie etwa Indien bereits ausführlich diskutiert (Clemens/Biswas 2019). Ohne die Vorstellung einer globalen Beschäftigungsfähigkeit macht jedoch das literacy-Konzept wenig Sinn: wenn global nicht von einem in etwa vergleichbaren Arbeitsmarkt ausgegangen werden kann, wie ist dann ein global einheitliches Modell von Grundkompetenzen, die jeder 15-jährige Mensch haben sollte, zu rechtfertigen (ebd.)? Auch hier könnte man daher durchaus Anwärter auf die von Krücken (2005) beschriebenen Fehlkopien vermuten. Der Mythos der Beschäftigungsfähigkeit und damit des sozio-ökonomischen Aufstiegs durch eine spezifische formale Bildung – Stichwort Statusfabrik Universität bei Alatas (2004) s.o. – überzeugt in Kontexten mit völlig anderen Arbeitsmarktstrukturen der majority world immer weniger. Absolvent*innen finden aufgrund eines völlig anders strukturierten Arbeitsmarktes (Clemens 2017) keine oder keine befriedigende Arbeit. Der durch Bildung ausgelöste ›grausame Optimismus‹ (Berlant 2011) hat Familien bewogen, vergleichsweise große Ressourcen in diese spezifische Bildung ihrer Kinder zu investieren. Doch das Investment zahlt sich vielfach nicht aus, es kommt zu keiner sozialen Mobilität durch Bildung, und die jungen Menschen sind ihren Gemeinschaften und deren Produktionsweisen und Lebensformen entfremdet (Jeffrey et al. 2004). Es scheint, dass die mangelnde Anschlussfähigkeit dieser Semantik und die fehlende kulturelle Validität mehr und mehr deutlich wird. Dabei geht auch der world polity-Ansatz keinesfalls von einer reibungslosen Umsetzung der Konzepte im neuen Kontext aus. Diffundierende Mythen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, ob die Strukturen und die Organisation der Institutionen sich tatsächlich in gewünschter weise wandeln, so der world
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polity-Ansatz, weshalb eben auch von Mythen gesprochen wird, die von den Organisationen aufgegriffen werden. Der ablaufende Prozess sei vielmehr eine mimetische Adoption solcher Modernitätsmythen, der gleichzeitig immer von Widerstand in den Organisationen begleitet sei. Wir sehen also, dass auch im Konzept der Diffusion natürlich keinesfalls angenommen wird, die diffundierenden Konzepte aus der minority world würden im Ankunftskontext unverändert übernommen und eine globale Gleichschaltung oder Homogenisierung durchsetzen. Dies ist jedoch nicht das eigentlich Problematische an dem Konzept der Diffusion. Als größten Nachteil dieses Ansatzes diagnostiziert etwa Raina (2016a) die zugrundeliegende Annahme einer singulären Moderne statt diverser Modernen (Eisenstadt 2000), sowie, wesentlich gravierender, die Singularität des Ortes der Wissensproduktion. Wissen wird in diesem Konzept mehr oder weniger in einem Zentrum, der minority world, hergestellt und diffundiert von dort in die angeblichen Peripherien. Schon in dem Begriff der Peripherien offenbart sich ja eine Hierarchisierung und Dominanz: Peripherie, der Ort weit weg vom Geschehen, ist immer außerhalb der eigenen Sphäre. Gerade auch aus dekolonialisierenden Perspektive wird kritisiert, dass wie selbstverständlich zumeist davon ausgegangen wird, Wissen reise oder diffundiere wie in einer Einbahnstraße immer in eine Richtung (Raina 2016a), von der minority world zur majority world. Es werde angenommen, dass sich westliche Kultur- und Strukturmuster wie ein Gas ausbreiten würden: »Beginnend mit Regionen, die eine hohe Konzentration seiner Moleküle aufweisen, findet bei ungehindertem Fluss eine gleichmäßige Verteilung im Raum statt« (Krücken 2005a: 108). Die damit verbundene Vorstellung einer hierarchischen Ordnung und eines geradlinigen Entwicklungsmodells müsse zurückgewiesen werden. Diese Rezipientenlogik übersieht den Beitrag diverser Konstellationen, Akteure und Kontexte zu globalen Wissensproduktionen, die globalen Netzwerke, in denen Wissen und Wissensinstitutionen emergieren (Raina 2015). Das Beispiel der Diffusion für Dominanzen und Hierarchisierungen in den Theorien der (Erziehungs)Wissenschaft ist nur eines unter vielen. Ein weiteres, das in dekolonialer Perspektive diskutiert wird, kann hier nur kurz angesprochen werden, nämlich das der kulturübergreifenden Komparatistik. Hier wird aus dekolonialer Perspektive kritisiert, dass viel zu häufig der Kulturen überspannende Dialog (etwa zwischen unterschiedlichen philosophischen Traditionen, die durch ihre basalen Reflexionen des Wesen des Seines und des Gewussten oder Wissbaren Grundlagen für alle Sozial- und Geisteswissenschaften berühren) in einem Rahmen geführt wurde, der von
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den philosophischen Traditionen der minority world gesetzt wurde, so der indische Wissenschaftssoziologe und Wissenschaftshistoriker Dhruv Raina (2009: 623ff.). Diese schreiben dann vorab die Regeln, das Vokabular und die Grammatik bereits fest, in die sich andere Traditionen einfinden oder in die sie übersetzt werden mussten. Dies hat oft erhebliche Deformationen und eindeutige Dominanzen zur Folge, wie man am Beispiel der Definition dessen, was Wissen und wissenschaftliches Wissen ist, sehen kann (Clemens 2020, 2021). So wurde etwa der indischen Philosophie aus einer minority world-Perspektive lange abgesprochen, überhaupt Philosophie zu sein (Gokhale 2012; Clemens 2020), eben weil sie mit der europäischen Philosophie und ihren Grundlegungen verglichen wurde. Das Problem mit der sogenannten komparativen Methode sei besonders deutlich, so Raina, da der Vergleich immer aus der Sicht der westlichen Perspektive gezogen wurde. In Konsequenz habe das ›Fremde‹ immer das Problem gehabt, in diesen Rahmen anderer Logiken, Grammatiken, und Denkfiguren und -muster passen zu müssen. Selbst gutgemeinte Dialoge würde nur selten den systematischen Ebenen, auf denen der Dialog organisiert ist, Beachtung schenken (Raina 2009). Allgemein sind globale Zentrum- und Peripherie-Modelle mit entsprechenden Hierarchisierungsmomenten, die die minority world klar bevorzugen in wissenschaftlichen Theorien weit verbreitet. Ein letztes Beispiel hierfür, das ich bereits früher analysiert habe und hier nur skizzenhaft darstellen möchte, ist das systemtheoretische Konzept der Weltgesellschaft und ihre mit ihr korrespondierenden Selbstbeschreibungen. Dabei geht es also um die Emergenz der Weltgesellschaft und die diese Emergenz begleitenden Ideen oder Semantiken zu eben jener Weltgesellschaft, die beschreiben, was eine Weltgesellschaft ist und was sie ausmacht (detailliert Clemens 2010). Systemtheoretisch gefasst benötigen soziale Systeme immer solche Selbstbeschreibungen, sie sind ein basaler Bestandteil des Systems und nötig für dessen Reproduktion. Mit einem sozialen System (hier die Weltgesellschaft) entsteht also im evolutiven Prozess immer eine Semantik, die dieses System beschreibt. Für die Weltgesellschaft liegen die Ursprünge dieser sie beschreibenden Semantiken nach Stichweh (2000) und im Anschluss an Niklas Luhmann (1998) weit zurück in der europäischen Geschichte. Bestandteile einer solchen Selbstbeschreibung sind etwa Konzepte und Ideen bezüglich des Fremden und wie er zu behandeln sei (z.B. ein Recht auf Gastfreundschaft, zunächst in Griechenland, dann in Rom). Mit Stichweh (2008) geht es also um das Recht des Fremden, »die Besuchs- und Aufenthaltsrechte, die sich mit diesem Recht verknüp-
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fen, und das Völkerrecht als eine Verlängerung dieser Tradition« (25). Zudem ist für die Weltgesellschaft die Idee des Weltbürgers (Kosmopolit) konstitutiv sowie die »Frage der Spezies-Sympathie und damit die der Existenz einer quasi-natürlichen Gemeinschaft, der viele oder alle menschliche Bewohner der Erde zugehören« (ebd.), also die Idee einer singulären, alle inkludierenden Menschheit. Stichweh beschreibt diese Versatzstücke als wichtige Grundlage und Voraussetzung, damit etwas wie ein Bewusstsein einer Weltgesellschaft überhaupt entstehen konnte. Wenn es um die Quellen dieser Ideen geht, wird wiederum ausschließlich auf die europäische Antike Bezug genommen, etwa für den Kollektivbegriff des Menschengeschlechts: Eine »Tradition, die erneut bis in die Antike zurückreicht«, wobei der beschriebene Weg der Ideen stets über Griechenland nach Rom und in die europäische Gegenwart führt (Stichweh 2008: 32). Wie selbstverständlich findet sich hier das Argument, dass diese Ideen im alten Europa entstanden sind und von hieraus global diffundierten. Die ›Anderen‹ sind einmal mehr Peripherie. Dagegen konnte dargelegt werden, dass sich beispielsweise in Inschriften auf den Säulenedikten des antiken Herrschers Ashoka (ca. 304 – 232 v.Chr.) auf dem indischen Kontinent vergleichbare Ideen finden lassen, die jedoch eindeutig auf buddhistischen Konzepten und Gedanken aufruhen und keinesfalls ein europäischer Import sind (detailliert Clemens 2011). Es scheint sich also um einen parallelen Emergenzprozess zu handeln. Dies belegt einmal mehr den kolonialen Impetus von Diffusionsmodellen, die mit globalen Zentrum-Peripherie-Konzepten arbeiten sowie generell den großen Anteil von oft unreflektierten, hierarchisierenden und diskriminierenden Versatzstücken in den Theorien, mit denen auch die Erziehungswissenschaft arbeitet. Ich habe dieses letzte Beispiel jedoch noch aus zwei weiteren Gründen gewählt, die die bisherige Perspektive erweitern sollen. Zunächst wird daran deutlich, dass Wissen global parallel emergieren kann, die Frage nach der singulären Quelle hier also einmal mehr verfälschend und dysfunktional ist. Vielleicht noch wichtiger ist jedoch, dass, anders als im europäischen Pendant, bei Ashoka schon vor ca. 2200 Jahren sowohl Frauen und Sklaven, als auch Tiere und Pflanzen in den Kreis der Anwärter auf eine mögliche Mitgliedschaft in der Weltgesellschaft gehörten. Dies ist eine wesentliche, konsequent dekoloniale Erweiterung der Perspektive auf Wissen und Welt, die helfen könnte, eine der letzten und massivsten Dominanzen und diskriminierenden Hierarchien im Realgeschehen wie in der wissenschaftlichen Theoriebildung zu überwinden: die zwischen Menschen und nicht-Menschen. Dies führt mich zu meinen abschießenden Betrachtungen der Attraktivität des relationalen
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Paradigmas für eine konsequent dekoloniale Perspektive am Ende des Beitrages. Wie diese Beispiele zeigen, arbeiten wissenschaftliche Konzepte und Theorien häufig mit dominierenden und hierarchisierenden Denkmodellen und Strukturen. Um solchen globalen, kolonialen Strukturen in der Erziehungswissenschaft entgegenzuwirken ist es deshalb wichtig, ihre wissenschaftlichen Konzepte und Theorien immer wieder einer grundlegenden, kritischen Reflexion und ggf. Revision zu unterziehen und in Konsequenz epistemologische Setzungen neu zu formulieren. Ich möchte dies im Folgenden anhand des zuvor dargestellten Beispiels des globalen mobilen Wissens (oben beschrieben als Diffusion) exemplarisch aufzeigen. Dazu wird zunächst ein alternativer Blick auf das Phänomen der Mobilität von Wissenskonzepten aus einer dekolonial informierten Perspektive erörtert, dem sich eine allgemeine, epistemologische Betrachtung anschließt, die einen Paradigmenwechsel vorschlägt. Dabei wird mein Kernargument sein, dass ein basal auf Relationalität ausgerichteter epistemologischer Fokus mehr Möglichkeiten bietet, die Emergenz von Wissen angemessen und dekolonial zu beschreiben und dass er darüber hinaus in der Lage ist, die Dominanzen und Hierarchisierung zwischen Menschen und nicht-Menschen abzubauen und damit den Anthropozentrismus in Frage zu stellen.
3.
Alternative Perspektiven auf die Emergenz von Wissen: Trading zones of knowledge
Wendet man sich von der Vorstellung der Diffusion und entsprechenden Zentrum-Peripherie-Modellen ab, wird es möglich, den globalen Prozess der Wissensemergenz weniger einseitig zu betrachten und vielfältige Beiträge nicht nur aus der minority world zu berücksichtigen. Insbesondere Dhruv Raina (2016 u.a.) hat hier aus einer dekolonisierenden Perspektive das Konzept der trading zones of knowledge von Galison (1997) in die Diskussion eingeführt. Dieser Ansatz, die Emergenz von Wissen zu beschreiben, stammt ursprünglich aus Analysen der Beziehungen von wissenschaftlichen Subdisziplinen und -kulturen, die sich nahe genug stehen, um Konzepte zu ›handeln‹. Es sind solche Begegnungen zwischen Subdisziplinen, die Wissen herstellen, emergieren lassen. Solche Subdisziplinen teilen also einige Forschungsaktivitäten und -konzepte, auch wenn sie gleichzeitig vielen anderen Aspekten gegenüber erhebliche Differenzen haben und manche Positionen vielleicht
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ablehnen. Sie begegnen sich in einem Handel, in dem weder Einigkeit über die Bedeutung der gehandelten Objekte bestehen muss, noch über den Handel an sich, beides kann von den unterschiedlichen Parteien völlig anders eingeschätzt werden (Galison 1997: 803). Anders als im Konzept der Diffusion, in dem Wissenstransfer mehr oder weniger eine Einbahnstraße von der minority world zur majority world war, reist hier Wissen in alle möglichen Richtungen, und dies auch gleichzeitig. Statt dass Zuschreibungen zu einem Zentrum und zu Peripherien die Richtung der Mobilität festlegen, geht man hier von einem kontinuierlichen Fluss und einer Zirkulation von Wissen von Anfang an aus. Dabei lehnt Galison die Vorstellung, dass diese Dynamiken teleologisch auf eine immer größer werdende Kohäsion von Wissen zulaufen, ab. Es sei vielmehr »altogether possible that, at some moments, fields previously bound, fall apart. Just as some pidgins or creoles die out, so too can scientific interfields atrophy or mutate to the point of being unrecognizable« (Galison, 1997: 805). Wie auch die Beschreibung der trading zones of knowledge schon anzeigt, ist Wissen hier ein störanfälliger, schwer zu durchdringender Prozess und nicht eine abgegrenzte oder abgrenzbare Einheit. Es handelt sich vielmehr um ein Objekt permanenter Kommunikation, als Gegenstand von Verhandlungen und Feilschen, ausgetragen zwischen vielen verschiedenen Knoten, wie die Netzwerkforschung das nennt, was mit Beziehungen verbunden ist4 . Wissen emergiert hier als Zusammenspiel im beständigen gegenseitigen Austausch unterschiedlichster Beteiligter. Deshalb reduziert aus dieser Perspektive eine Suche nach einer ursprünglichen, singulären Quelle oder Urheberschaft eines Konzeptes oder einer Idee die mögliche Analyse oder die Produktion von Wissen unnötig. Jedes Wissen, das wir heute kennen, ist dann immer schon unausweichlich hybrid. Alle Seiten erlegen der Natur des Austausches dabei immer Beschränkungen auf, was wiederum die Emergenz von Wissen mitbestimmt. Wissen wird also konzipiert als ein Produkt dieser kontinuierlichen Dynamiken rund um die trading zones of knowledge vom ersten Moment an. Dabei hat allgemein die Geschwindigkeit der Mobilität und das Ausmaß des zirkulierenden Wissens unzweifelhaft in den letzten Dekaden durch die Neuen Medien und Globalisierungsprozesse zugenommen. Um kolonisierenden
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Ich verwende hier und im Folgenden bewusst den Begriff des Knoten und nicht z.B. den des Akteurs. Damit werden sowohl Menschen als auch Nicht-Menschen bezeichnet. Dies soll die Relativierung der anthropozentrischen Perspektive betonen.
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sozialen und kognitiven Strukturen entgegenzuwirken ist es nicht nur wichtig, diese dynamischen Aushandlungsprozesse und Wege rund um die trading zones of knwledge zu beschreiben, sondern zunächst die Existenz dieser Zusammenhänge als solche wahrzunehmen und die Beiträge unterschiedlichster Knoten zur Emergenz von global zirkulierendem Wissen neben denen aus der minority world zu akzeptieren. Die globalen, vielfältigen Beiträge zu dem Strom aus Wissen – und zwar zu allen Zeiten – müssen bewusst und sichtbar gemacht werden. Dies ist Teil dessen, was Boaventura de Sousa Santos (2014) mit dem Begriff der kognitiven Gerechtigkeit adressiert. Ohne kognitive Gerechtigkeit kann es auch keine andere geben, so de Sousa Santos. Gleichzeitig ermöglicht das Konzept des global zirkulierenden Wissens, nationalisierende Zuschreibungen und Mystifizierungen zu überwinden und dynamische Prozesse der permanenten Begegnung, auch der Konfrontation, eben der trading zones of knowledge wertzuschätzen und ihre wichtige Funktion anzuerkennen. Ich möchte die Argumente der trading zones of knowledge nun in zwei Richtungen weiterführen und aufzeigen, wie gegenwärtige Theorieentwicklungen diese Aspekte aufnehmen und gewinnbringend zusammenführen können. Der Relationale Ansatz (Emirbayer 1997; White 2008; Mische 2011; u.v.m.), der derzeit in verschiedenen Disziplinen mehr und mehr Beachtung erfährt, scheint hier besonders geeignet, dekoloniale Perspektiven einnehmen zu können, da er die Relationen, also die (auch globalen) Zusammenhänge konsequent in den Mittelpunkt stellt. Das relationale Paradigma (Stegbauer 2008) weist jedoch darüber hinaus und ermöglicht es, zugleich auch andere, oben bereits eingeführte Hierarchisierungen und Dominanzen kritisch in den Blick zu nehmen. Diese theoretischen Weiterentwicklungen ermöglicht es, nicht nur die Eurozentrierung in Analysen zur globalen Wissensgesellschaft und der globalen Emergenz von Wissen zunehmend zu überwinden. Darüber hinaus kann mit einer konsequenten relationalen Perspektive die vielleicht letzte und radikalste Hierarchie und Dominanz überwunden werden, nämlich den Anthropozentrismus, und hier an einem Perspektivwechsel mitarbeiten (de Groof 2019; Clemens 2021). In relationalen Ansätzen wird der Kreis möglicher Knoten, die an der Emergenz von Wissen beteiligt sind, deutlich erweitert, und der Mensch wird nur zu einem unter vielen und verliert die Sonderstellung, die er in Kontexten etwa ohne christliche Denktraditionen ohnehin nicht per se hatte.
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4.
Eine relationale Perspektive auf die Emergenz von Wissen und die trading zones of knoweldge
Die folgenden, notwendig verkürzten Erläuterungen basieren im Wesentlichen auf der Netzwerktheorie Harrison Whites (2008; Clemens 2015). Hinzu kommen einige Referenzen zum Neuen Materialismus in Anlehnung an Karen Barad (2015, 2018). Beide Theorien werden als grundsätzlich durchaus kompatibel angesehen (Häußling 2020). Nach der kulturellen Wende in der Netzwerkforschung könnte die Einbeziehung des Neuen Materialismus eine materialistische Wende einleiten, so beispielsweise Häußling. Zwar nennt White materielle Dinge nicht explizit als mögliche Kandidaten für Identitätskonstruktionen und damit als Anwärter darauf, als Knoten zu fungieren, jedoch sei sein Begriff von Identitäten ausreichend abstrakt, um ihn entsprechend auszuweiten (ebd.). Der relationale Ansatz ist besonders geeignet, genau jene Argumentationen aufzugreifen, die oben erläutert wurden, wie z.B., Wissen als Prozess und Produkt kontinuierlicher Dynamiken der Aushandlungen zwischen diversen Knoten aufzufassen. Im relationalen Ansatz ist jedes soziale Phänomen grundsätzlich ein Prozess und keine feststehende Entität, Wissen genauso wie Beziehungen, Aktionen oder Handlungen, Identitäten, Institutionen, Netzwerke usw. Startpunkt aller Betrachtungen ist das Dazwischen, die Beziehungen, Kanten oder eben Relationen, also Prozesse und nicht feststehende Einheiten (für eine relationale Ethnographie siehe z.B. Desmond 2012). Der relationale Ansatz fokussiert auf die jeweils spezifische soziale Einbettung, alle Entitäten werden aus ihren Relationen heraus erklärt, nicht aus einem vermeintlichen Kern oder stabilen Sein. Damit ›ist‹ nichts, sondern alles ›wird‹ beständig, und alle Charakteristika eines sozialen Phänomens werden aus den Relationen, der spezifischen Einbettung des Phänomens erklärt. Damit nun soziale Netzwerke entstehen können, wird immer Sinn benötigt, für White (2008) sind Netzwerke durch Sinn organisiert, weshalb man hier eine kulturelle Wende in der Theorie diagnostiziert. Reine Netzwerkanalysen kommen ohne Sinn aus, Netzwerktheorie oder der relationale Ansatz, wie ich ihn hier in Anlehnung auch an Emirbayer, Mische und andere verstehe, nicht. Ohne Sinn kein soziales Netzwerk, da Sinn Beziehungen erst emergieren lässt. Erst solche Zuschreibungen von Sinn bringen eine Beziehung zur Existenz. Jede Sinnzuschreibung wird nun von einem bestimmten Verknüpfungspunkt (Knoten) aus prozessiert, der den Prozess der Sinngenerierung wiederum beeinflusst. Eine andere Einbettung hätte immer einen
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anderen Sinnprozess zur Folge. Wissen steht also in netzwerktheoretischer Perspektive in einer besonderen, reziproken Beziehung zu den Relationen oder Netzwerken seiner jeweiligen Emergenz. Damit stellt sich die Frage des Ortes von Wissen neu, und die Antwort kann nicht lauten: im Individuum, sondern im Dazwischen, in der je immer einmaligen Beziehungskonstellation, nicht-menschliche Knoten ausdrücklich eingeschlossen (Clemens 2021). Hier wird schon deutlich, dass dieser Ansatz besonders geeignet ist, soziokulturell-ökonomische Diversität der Emergenz von Wissen explizit zu machen. Statt Diffusion ist von je spezifischer, sozial eingebetteter Emergenz von Wissen auszugehen. Die Generierung von Wissen wird hier als ein grundsätzlich immer schon sozial und interaktiv ablaufender Prozess verstanden. Theoretische Überlegungen zu Wissen und Wissensgenerierung müssen daher notwendig immer den Fokus auf Relationalität im sozialen Vollzug legen (Glückler et al. 2017), denn Wissen ist in dieser Perspektive immer ein Prozess, kein Zustand, wie Christopher Powell (2013: 203) formuliert: »… one can never know objects independently of the relations through which one encounters them«. In jedem Moment der Begegnung oder auch Wiederbegegnung mit dem Wissensobjekt muss erneut eine Relationierung stattfinden, und in dieser spezifischen Konstellation wird Wissen neu konstituiert. Damit ist etwa für Powell auch Stasis ein Prozess, der kontinuierlich Aufwand erfordert, in seinen Worten: work. Barad wiederum stellt als Erweiterung klar, dass auch Materie Tätigkeit ist. Materie sei kein Ding sondern eine »Gerinnung von Tätigkeit« (Barad 2018: 40). Welt artikuliere und rekonfiguriere sich in Materie fortlaufend dynamisch (ebd.). Validiert wiederum wird Wissen bei Powell (2013) durch seine Praxistauglichkeit, auch dies also konsequent relational. Knoten sind in relationale Lebenszusammenhänge eingebettet, und dort muss Wissen seine praktische Wirkmacht entfalten. Das Wissen über Objekte wird nicht etwa durch eine Korrespondenz zu einer Welt, die unabhängig von mir existiert, validiert, sondern »by its practical efficacy in a world in which I am embedded and which I work to coproduce« (ebd.: 204). Die Einbeziehung von Materialität ist hier eine wichtige Erweiterung. Bei Barad (2018) ist auch Materie ein aktiver Knoten in ihrer fortlaufenden Materialisierung (ebd.: 41), sie ist agentiv. Materie stehe eben nie still, sondern ist ein »dynamisches intraaktives Werden«, eine »fortlaufende Rekonfiguration, die über jede lineare Auffassung von Dynamik hinausgeht« (ebd.). Damit ist auch Materie an Emergenzprozessen von Wissen sehr viel aktiver beteiligt, als es viele herkömmliche Vorstellungen annehmen (Clemens/Heilig 2020).
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In Geschichten – bei White (2008) stories – wird Sinn schließlich höher aggregiert5 als Voraussetzung dafür, dass Sinn über Netzwerke hinweg in andere zirkulieren kann. So wird schließlich auch die Mobilität von Wissen erklärt, die oben diskutiert wurde. In einer je spezifischen Population emergiert ein Ensemble von Sinnformen durch den kontinuierlichen Austausch in der Kommunikation (Schmitt/Fuhse, 2015), und diese aggregierten Sinnformen sind eng mit dem sozialen Netzwerk verwoben und charakterisieren dieses umgekehrt. Das ist der Grund, warum in unterschiedlichen Netzwerken differenter Sinn prozessiert wird. Sinn ist deshalb zutiefst relational. Es ist deshalb nicht möglich, dass Sinn, Geschichten, Konzepte und Ideen ohne Modifikationen von einem Netzwerk in ein anderes übertragen werden können. Der relationale Ansatz kann damit das theoretische Fundament für die oben dargestellten ›Wissenshandelszonen‹ stellen, und die Dynamik, die Wissen entstehen lässt sowie die Vielheit der Elemente oder Knoten, die daran beteiligt sind, analysieren.
5.
Abschließende Betrachtungen: das relationale Paradigma und die Überwindung der Anthropozentrismus
Dekolonisierung von Erziehungswissenschaft beginnt in der Analyse und mitunter Überwindung hierarchisierender und Dominanzen reproduzierender Theorien der Disziplin. Der relationale Ansatz stellt eine der letzten, größten und folgenreichsten Hierarchisierungen und Dominanzen in den Geistes- und Sozialwissenschaften in Frage: den Menschen als Mittelpunkt, auch in der Theoriebildung der Sozialwissenschaften. Aus einer relationalen Perspektive ist der Mensch als Fixpunkt der Beschreibungen und Erklärungen sozialer Phänomene nicht mehr plausibel. Sie hilft damit, einen Bias der minority world bei der Konzeption wissenschaftlicher Modelle oder Theorien des Sozialen aufzuzeigen und potentiell alles, was an der Emergenz sozialer Phänomene beteiligt ist, in die Betrachtung einzubeziehen. Der anthropozentrischen Perspektive steht in manchen Kontexten der majority world ohnehin eine ›biozentrische‹ Konzeptionierung gegenüber (Crawford 1982; Clemens 2010). Hier hat der Mensch keineswegs diese exponierte Sonderstellung innerhalb der Erklärungsansätze inne. Stets von Prozessen 5
Hier gibt es große Überschneidungen mit Luhmanns Konzept der Semantik (1998), die er als höher aggregierten Sinn beschreibt, worauf ich mich hier beziehe.
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auszugehen statt von vorgelagerten Einheiten ist dort ebenfalls basal. So heißt es etwa im Buddhismus, »there is action, but no agent« (Hiriyanna 2005: 142). Dies führte wie wir gesehen haben dazu, dass bei der Analyse antiker Selbstbeschreibungen der Weltgesellschaft neben dem Umgang mit dem Fremden, der Frage von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit und der basalen Idee einer alle inkludierenden Menschheit der Kreis der Adressaten erweitert werden muss, also auf Tiere, die Natur und Umwelt (Clemens 2010). Ashoka expliziert auch Rechte von Tieren (z.B. auf Heilung). 2300 Jahre später beschäftigen sich Gerichte weltweit mit ähnlich weitgehenden Konsequenzen mit diesem Thema. Das Oberste Gericht des Bundesstaates Kerala in Indien entschied, dass auch nicht-menschliche Lebenwesen »entitled to dignified existence and humane treatment sans cruelty and torture« (Macho 2010: 17). In Neuseeland wurde Menschenaffen das Menschenrecht zugesprochen, nicht gefoltert und getötet werden zu dürfen, und das spanische Parlament entschied, den Menschenaffen die »Grundrechte auf Leben (Tötungsverbot und Schutz natürlicher Lebensräume), Freiheit (Verzicht auf Haltung in Zoo oder Zirkus) und körperliche Unversehrtheit (Verbot von Tierversuchen und Labortests) einzuräumen« (ebd.: 18). Forciert durch die Klimakrise gibt es Hinweise, dass eine biozentrische Perspektive nun kulturübergreifend an Zustimmung gewinnen könnte. Relational betrachtet könnte man dies als überfällig bezeichnen. Aus dieser Perspektive macht es wörtlich genommen keinen Sinn, bei der Erklärung von sozialen Phänomenen nicht-menschliche Knoten auszugrenzen und einzig Menschen einzubeziehen. Dies verkürzt den Blick erheblich. Dekolonisation der Erziehungswissenschaft heißt, Hierarchisierungen und Dominanzen in verwendeten Konzepten herauszuarbeiten wie oben anhand der Beispiele der Diffusion beschrieben, sowie wissenschaftliche Theorien zu priorisieren, die sie vermeiden. Das relationale Paradigma ist eine wissenschaftlich in unterschiedlichen Hinsichten vielversprechende Möglichkeit, Dekolonisierung auf unterschiedlichen Ebenen voranzutreiben.6
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Nicht zufällig liegt es z.B. auch dem dekolonial orientierten Exzellenzcluster »Africa Multiple. Reconfiguring African Studies« an der Universität Bayreuth zugrunde https: //www.africamultiple.uni-bayreuth.de/en/index.html (14.09.2021).
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›Epistemizid‹, ›epistemische Gewalt‹ und ›epistemische Emanzipation‹ in der postund dekolonialen Theorie Kai Horsthemke Imfihlakalo yasemhlabeni iqiniso. (IsiZulu-Sprichwort: »Die Wahrheit ist der Welt Geheimnis.«)
Wissensproduktion im globalen Süden: Das Beispiel Afrika1 Der enorme Tribut, der über Jahrhunderte auf dem afrikanischen Kontinent gefordert wurde, hat unter anderem auch Auswirkungen auf die Wissensproduktion. Nach Jahrhunderten abendländischer (oder westlich entstandener) Negation und Unterdrückung, Verunglimpfung sowie Ausbeutung und Aneignung, die bei vielen Afrikaner*innen auch eine enorme psychologische Auswirkung in Form von verinnerlichter Minderwertigkeit hatte, gab es in den letzten Jahrzehnten eine Bewegung in Richtung Rückgewinnung, Dekolonisierung, Anerkennung, Validierung/Legitimation und Schutz von ›afrikanischem‹ oder ›indigenem‹ Wissen (Horsthemke 2021: 16-23). Diese Bewegung war gekennzeichnet durch eine lautstarke und rechtmäßige Entrüstung sowohl über die Handlungen als auch über die Versäumnisse in der Vergangenheit und Gegenwart, die Afrikaner*innen benachteiligt haben. Sie stützt sich u.a. auf Ideen, die in postkolonialen Theorie- und Dekolonisierungsdiskursen entwickelt worden sind (De Sousa Santos 2007,2014), auf Begriffe wie ›Epistemizid‹, ›epistemische Gewalt‹ und ›epistemische Emanzipation‹, die
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Weil ich jahrzehntelang dort gelebt habe, sind mir die epistemischen Bräuche und Praktiken in sub-Sahara Afrika besonders vertraut und liegen mir aufgrund meiner Arbeit und Reisen dort besonders am Herzen. Meine Ausführungen sind jedoch für alle vom Kolonialismus betroffenen Völker und Regionen relevant.
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gemeinhin als eng miteinander verbunden angesehen werden. Die bewusste, systematische Aberkennung und Zerstörung von Wissen werden mit epistemischer, kognitiver Marginalisierung und Negation assoziiert, während epistemische Emanzipation als Gegenmaßnahme zur gezielten Vernichtung von Wissen(s-Systemen) gilt. Angesichts der umfangreichen, brutalen Prozesse und der Geschichte der Kolonisierung, Versklavung und allgemeinen Unterwerfung auf dem afrikanischen Kontinent sollte es nicht überraschen, dass die Begriffe Epistemizid und epistemische Emanzipation gerade dort eine besondere Resonanz finden, wie auch überhaupt im globalen Süden. In diesem Kapitel möchte ich dazu beitragen, diese wichtigen Schlüsselkonzepte zu klären, wobei es oft recht schwierig ist, die Urheber*in(nen) dieser Begriffe zu bestimmen. Ziel des Kapitels ist es, insbesondere Pädagog*innen theoretische Werkzeuge zur kritischen Reflexion und Befragung sowohl ihrer eigenen als auch der Vorurteile, Annahmen und epistemischen Praktiken und Bräuche anderer an die Hand zu geben. ›Epistemizid‹ und ›epistemische Gewalt‹ sind Begriffe, die in der post- und dekolonialen Theorie weit verbreitet sind und weitgehend unkritischen Zuspruch erhalten haben. Eine Untersuchung dieser Begriffe zielt darauf ab, die Bedingungen zu ermitteln, unter denen es sinnvoll ist, von ›Wissensmord‹ und von ›epistemischer Gewalt‹ zu sprechen.
›Epistemizid‹ Epistemizid wird generell als »Wissens-Mord« (De Sousa Santos 2014: 92) bzw. systematisches »Auslöschen allen alternativen Wissens« definiert, was »die Zerstörung aller sozialen Praktiken und die Disqualifikation der sozialen Akteure, die nach solchen Kenntnissen handeln« (ebd.: 153), beinhaltet. Die ersten mir bekannten Autoren, die diesen Begriff verwendet haben, sind Mogobe Ramose (2004: 1562 ) und Teboho Lebakeng (2004;3 siehe auch Lebakeng et al. 2006). Die Idee des Epistemizids wurde in den Schriften von Boaventura De Sousa Santos ausführlich ausgearbeitet:
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»Die Geschichte der Epistemizide in Südafrika wirft grundlegende Fragen der Gerechtigkeit auf, wie die Frage der epistemologischen Gleichheit aller bestehenden Paradigmen der Völker Südafrikas« (Ramose 2004: 156). Lebakeng (2004: 109) bezeichnet Epistemizid als »Zerstörung afrikanischer Wissenssysteme«.
›Epistemizid‹, ›epistemische Gewalt‹ und ›epistemische Emanzipation‹
»in the name of modern science, many alternative knowledges and sciences have been destroyed, and the social groups that used these systems to support their autonomous paths of development have been humiliated. In short, in the name of science, epistemicide has been committed, and the imperial powers have resorted to it to disarm any resistance of the conquered peoples and social groups.« (2005: xviii; vgl. auch De Sousa Santos 2014: 209, 238) In seinem programmatisch betitelten Buch Epistemologies of the South: Justice Against Epistemicide beschreibt De Sousa Santos eine der schädlichsten Auswirkungen der Globalisierung auf Entwicklungsländer: »Unequal exchanges among cultures have always implied the death of knowledge of the subordinated culture, hence the death of the social groups that possessed it. In the most extreme cases, such as that of European expansion, epistemicide was one of the conditions of genocide.« (2014: 92) Karen Bennett greift diese Ideen auf (2017: 153; vgl. auch Brunner 2020: 34, 52, 60): »Epistemicide, as the systematic destruction of rival forms of knowledge, is at its worst nothing less than symbolic genocide«, und erläutert: »Epistemicide works in a number of ways. Knowledges that are grounded on an ideology that is radically different from the dominant one (as in the case of many of the Third World knowledges that [De Sousa Santos] foregrounds) will by and large be silenced completely. They will be starved of funding, if the hegemonic power controls that aspect (and in the European Union this is increasingly the case); they will remain unpublished, since their very form will be unrecognizable to the editors of the journals and textbooks; and they are unable to be taught in schools and universities, thus ensuring their rapid decline into oblivion. Knowledges that are not so distant as to warrant automatic annihilation, having some historical or cultural overlap with the dominant one, are instead bullied or cajoled into an acceptable shape. This is where the translator comes in. Our job is, essentially, to present the alien knowledge in a form that will enable it to be assimilated into one or another of the readymade categories existing for the purpose, which means ensuring that it is properly structured, that it makes use of the appropriate terminology and tropes – in short, couching it in the accepted discourse.« (Ebd.: 154)
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Dennis Masaka (2017: 442n.3) begreift ›Epistemizid‹ als die teilweise bzw. fast vollständige Zerstörung eines Wissensparadigmas durch hegemoniale Kulturen mit dem Ziel, das eigene als das dominante darzustellen. Zu Recht beklagt er die mangelnde Relevanz der tertiären Bildungslehrpläne auf dem afrikanischen Kontinent. Insbesondere die philosophischen Curricula afrikanischer Universitäten neigen dazu, den philosophischen Schriften, die aus Afrika stammen und sich mit besonders afrikanischen Problemen, Anliegen und Prioritäten befassen, nicht genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Aber beinhaltet ein eurozentrischer (und/oder androzentrischer) Philosophie-Lehrplan notwendigerweise Epistemizid? Dies ist der Fall, wenn die Beiträge afrikanischer oder indigener Wissenschaftler*innen als nicht philosophisch oder als minderwertig, als weniger bedeutsam usw. abgelehnt werden. Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leugnung, Afrika habe irgendeine Geschichte und Relevanz4 , kann durchaus als Epistemizid betrachtet werden, ebenso wie Immanuel Kants rassistische Verunglimpfung von »Negern«.5 Gleiches gilt für jede Leugnung, dass Afrikaner irgendeinen Beitrag zum Wissenskanon leisten können (Masaka 2018: 286). Die Infragestellung und 4 5
»… so verlassen wir hiermit Afrika, um seiner künftig keine Erwähnung mehr zu tun. Denn es hat keine Geschichte.« (Hegel 1992: 129) »Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften. […] Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege.« Mit David Hume fordert Kant dazu auf, »ein einziges Beispiel anzuführen, da ein Neger Talente gewiesen habe«, und behauptet, daß unter den hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel empor schwingen und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein Ansehen erwerben. So wesentlich ist der Unterschied zwischen diesen zwei Menschengeschlechtern, und er scheint eben so groß in Ansehung der Gemüthsfähigkeiten, als der Farbe nach zu sein. Die unter ihnen weit ausgebreitete Religion der Fetische ist vielleicht eine Art von Götzendienst, welcher so tief ins Läppische sinkt, als es nur immer von der menschlichen Natur möglich zu sein scheint. Eine Vogelfeder, ein Kuhhorn, eine Muschel, oder jede andere gemeine Sache, so bald sie durch einige Worte eingeweiht worden, ist ein Gegenstand der Verehrung und der Anrufung in Eidschwüren. Die Schwarzen sind sehr eitel, aber auf Negerart und so plauderhaft, daß sie mit Prügeln müssen aus einander gejagt werden. (Aus der »Physischen Geographie«, in Kants Schriften, Bd. II: 253)
›Epistemizid‹, ›epistemische Gewalt‹ und ›epistemische Emanzipation‹
Beendigung der Epistemizide, wie von Masaka vorgesehen, würde die Schaffung einer »Parität der Epistemologien« beinhalten: »no epistemological paradigm is superior to others« (ebd.: 294). Sabelo Ndlovu-Gatsheni stimmt dieser Argumentation zu. Indem er das Verstummen afrikanischer Stimmen sowohl mit »Epistemiziden (Tötung des Wissens indigener Völker)« als auch mit »Linguiziden (Töten der Sprachen indigener Völker)« verbindet, vollzieht er eine Gleichstellung von der Aberkennung epistemischer Tugend mit der Negierung von Menschlichkeit (2018: 3; siehe auch S. 18-23, 62). Ndlovu-Gatsheni liefert mehrere Beispiele. »The knowledgeable African women were simply discredited as witches«, und: »the forcible and violent conversion to Christianity … was itself a form of epistemicide« (ebd.: 11): »Christianisation constituted a form of education and an epistemicide simultaneously« (ebd.: 12; vgl. auch Lebakeng 2004: 109). ›Epistemizid‹ ist ein Begriff, der eine weite Verbreitung und weitgehend unkritische Befürwortung in der post- und dekolonialen Theorie erhalten hat. Das Hauptproblem, so scheint es mir, liegt im jeweiligen (mangelnden) Verständnis von ›Wissen‹ und ›Epistemologie‹. Es besteht also die Tendenz, den Begriff auf alle Arten von Meinungen und Anschauungen eher undifferenziert anzuwenden – unabhängig davon, ob diese auf Wissen hinauslaufen bzw. einer Erkenntnistheorie entspringen. Was machte diese afrikanischen Frauen, die als Hexen diskreditiert wurde, »knowledgeable« – also sachkundig oder kenntnisreich? Woraus bestand also ihr Wissen? Welches Wissen wurde durch die Christianisierung und andere Formen der Kolonisierung getötet? Ist die Ablehnung von Ansichten, die der Regenmacherei und der Handlungsmacht der Ahnen zugrunde liegen, eine Art von epistemischer Gewalt, gar ›Wissensmord‹? Ist es schon Epistemizid, die Ansichten der Flat Earth Society bzw. geozentrische Weltanschauungen nicht im Geografie-Unterricht zuzulassen? Wie verhält es sich mit der Weigerung, Kreationismus oder ›Intelligent-Design-Theorie‹ im Biologie-Unterricht zu lehren? Oder die mangelnde Bereitschaft, die Ratschläge aktiver Drogendealer oder Zuhälter in Berufsberatungssitzungen einzuholen? Haben indigene afrikanische Frauen Epistemologien?6 Wie sind die Ideen von »alternativem
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In einem Roundtable-Gespräch anlässlich der Jahrestagung der Philosophy of Education Society in San Francisco (2010) stellte Claudia Ruitenberg die Frage, »how should the field of educational research respond to claims about indigenous African women’s epistemologies?« (Code et al. 2012: 137)
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Wissen«, alternativen Kenntnissen, unterschiedlichen Arten des Wissens und von einer »Parität von Erkenntnistheorien« zu verstehen? Die Plausibilität einer Antwort auf diese Fragen hängt vom jeweiligen Verständnis von ›Wissen‹ und ›Epistemologie‹ ab. Wenn tatsächlich das Wissen (im Gegensatz zum bloßen Glauben, unbegründeten wahren Glauben oder begründeten falschen Glauben) afrikanischer Frauen negiert wird, würde dies nicht nur Bedenken über moralische oder soziale Gerechtigkeit aufkommen lassen, sondern auch über epistemische Gerechtigkeit: die Gründe für die Ablehnung wären, dass die jeweiligen Behauptungen von afrikanischen Frauen gemacht werden, und das wäre zutiefst beunruhigend – ja, irrational. Ich möchte an dieser Stelle auf meine eigene Biografie, d.h. unser Leben in Südafrika, zurückgreifen. Unsere beiden Söhne wurden praktisch von Geburt an von Agnes Phoshoko betreut, einer Pedi-Frau, die selbst drei wesentlich ältere Kinder hatte. Sie trug jeden Jungen in einer Decke auf dem Rücken, während sie die Hausarbeit erledigte, was ihnen ein Gefühl von Gesellschaft, Komfort und Sicherheit gab – und die stetige Bewegung schaukelte sie sanft in den Schlaf. Auf meine Frage, wann sie anfangen würde, unseren jüngeren Sohn zu tragen, antwortete sie: »As soon as his spine is strong enough«. Sie berücksichtigte unsere Wünsche und Vorlieben mit der Zubereitung von vegetarischen und veganen Speisen, die sie kannte, wie gedämpfter amadumbe (eine Art afrikanische Kartoffel), morogo (wilder Spinat) und umngqusho (auch bekannt als ›samp and beans‹, einer Kombination von gekochten Maiskörnern und gesprenkelten Backbohnen). Montags war sie oft heiser und erschöpft, nachdem sie den ganzen Sonntag damit verbracht hatte, bei Versammlungen der Zion Christian Church ekstatisch zu tanzen und zu singen. Agnes verfügt also in Bezug auf säuglingsphysiologische Bedürfnisse und kindergerechte Maßnahmen, nahrhafte und schmackhafte Leckereien und viele andere Dinge, wie zum Beispiel die heilenden Eigenschaften bestimmter einheimischer Pflanzen, über einschlägiges Wissen. Andererseits sind ihre religiösen Ansichten, so intensiv sie auch sein mögen, und weiteren metaphysischen Überzeugungen (zum Beispiel in Bezug auf die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Ahnen oder auf böswillige, angststiftende Wesen wie die tokoloshe und die mantindane7 ) nicht als Wissen zu bezeichnen. Außerdem bezweifle ich sehr, dass sie im engeren Sinne eine Epistemologie hat. Nicht viele Menschen, die ich kenne, verfügen tatsächlich über eine Erkenntnistheorie.
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Ich komme später im Kapitel auf diese Phänomene zurück.
›Epistemizid‹, ›epistemische Gewalt‹ und ›epistemische Emanzipation‹
Die Ablehnung oder Zurückweisung der Überzeugungen oder Weltanschauungen einer Person mag unfreundlich, unhöflich, vielleicht sogar respektlos sein, aber sie läuft nur dann auf Epistemizid hinaus, wenn die betroffenen Überzeugungen oder Weltanschauungen tatsächlich auf Wissen, also auf angemessen begründeten wahren Glauben hinauslaufen. Das Konzept des »alternativen Wissens« ist nur im Hinblick auf praktisches Wissen, Know-how (Wissen-wie) oder Fähigkeitswissen sinnvoll. Wenn es auf propositionales Wissen oder Wissen-dass angewendet wird, gehört es in die gleiche Kategorie von Unsinn wie »alternative Fakten«. Betrachten wir den (fiktiven) Fall von Khoisan Z, der Mitte des 17. Jahrhunderts im südlichen Afrika lebt. Kurz nach der Ankunft der ersten weißen Siedler am Kap wird sein hinreichend begründeter wahrer Glaube, alles menschliche Leben sei endlich und nicht nur von gleichem Wert, sondern auch eng mit nicht-menschlichem Leben und der natürlichen Umwelt verbunden, abgewiesen und gewaltsam in ein Glaubenssystem umgewandelt, das auf einer hierarchischen sozialen Ontologie und Ethik beruht, die einigen Menschen die Herrschaft über andere und allen Menschen die Herrschaft über alle anderen Geschöpfe gibt, und einigen Menschen ein herrliches ewiges Leben nach dem Tod verspricht. Hier handelt es sich um Epistemizid. Wie ist nun der Begriff der »Parität der Epistemologien« zu verstehen? Es ist wichtig, sich über die Bedeutung von ›Epistemologie‹ im Klaren zu sein.8 8
»Mit Mona Singer« versteht Brunner (2020: 13) »Epistemologie ›vor allem auch als den Bereich, in dem mit Sinn für epistemische Gerechtigkeit politische und ethische Fragen gestellt werden‹ (Singer 2005: 10). Die Arbeit am Begriff epistemische Gewalt stellt einen Beitrag zur Diskussion solcher Fragen dar. Wenn ich dabei nicht nur von Wissenschaft, sondern auch von Wissen oder Wissen(schaft) spreche, will ich die fließenden Grenzen zwischen mehr oder weniger autorisiertem Wissen in Erinnerung rufen, die ihrerseits von der epistemischen Gewalt moderner Wissenschaften mit hervorgebracht werden, deren Entwicklung von politischen und sozialen Prozessen nicht zu trennen ist.« Mit Singers ›Definition‹ wendet sich Brunner nicht nur gegen das philosophische Verständnis von ›Epistemologie‹ – welche ja immerhin ein Teilbereich der Philosophie ist – sondern schließt auch aus, dass in der Epistemologie Fragen, die nichts mit epistemischer Gerechtigkeit zu tun haben, überhaupt zulässig sind. Dabei gehören Fragen und Forderungen nach epistemischer Gerechtigkeit wiederum nur zu einem (kürzlich etablierten) Teilbereich der Erkenntnistheorie, nämlich der Sozialepistemologie (mehr hierzu später). Der Geltungsbereich ›Gerechtigkeit‹ lässt sich nicht in die Erkenntnistheorie hineindefinieren, ebenso wenig wie epistemologische Fragen das Wesen von Ethik oder Politik ausmachen. Es gibt selbstverständlich Überschneidungen (so stehen
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Im philosophisch relevanten Sinne der ›Erkenntnistheorie‹ oder WissensTheorie ist eine Epistemologie weder eine Reihe von Überzeugungen, d.h. eine Darstellung ihres Inhalts, noch eine Beschreibung, wie Menschen ihre Überzeugungen erwerben oder dazu kommen, sie zu vertreten. Ersteres bezieht sich einfach auf unterschiedliche Glaubenssätze, die von verschiedenen Individuen vertreten werden oder in verschiedenen Gemeinschaften vorherrschen, während letzteres nicht in die Philosophie gehört, sondern das Terrain der sogenannten ›Wissenssoziologie‹9 und vielleicht der Lernpsychologie betrifft.10 Philosophen beziehen sich mit ›Epistemologie‹ jedoch auf ein normatives (im Gegensatz zu einem rein deskriptiven) Forschungsfeld. Ihr Anliegen besteht darin, zu klären, was (nicht) als ›Wissen‹ bezeichnet werden sollte und die Kriterien hierfür zu explizieren. So wird hier sachdienlich zwischen Wissen und Glauben, zwischen bloßem Glauben und gut begründetem (oder hinreichend begründetem) Glauben und zwischen wahrem Glauben und gerechtfertigtem wahren Glauben unterschieden. Die Analyse ist hier im Wesentlichen normativ, zum Beispiel die Bewertung von Überzeugungen und Glaubensstrategien, welche Überzeugungen vertrauenswürdig sind und umgesetzt werden sollen, wie Forscher ihre Ergebnisse validieren sollten, welche Argumentationsformen und welche Arten von Begründung akzeptabel sind, wer (wenn überhaupt) als epistemische Autorität gilt usw. Hier handelt es sich übrigens nicht um ein im Wesentlichen oder ausschließlich ›westliches‹ philosophisches Verständnis von Wissen. Zu beachten ist beispielsweise, dass auch in Yoruba (Nigeria) sachdienlich zwischen gbàgbó (Glaube; die subjektive, private oder persönliche Komponente des Wissens) und mò (Wissen im
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zum Beispiel Kohärenz, Konsistenz und die logische Forderung nach Widerspruchsfreiheit im Vordergrund), aber Epistemologie und Ethik (und auch politische Philosophie) sind unterschiedliche philosophische Disziplinen. Vgl. Brunner passim. Kritik bzw. Skepsis gegenüber »Konzepte[n] epistemischer, struktureller, kultureller, symbolischer und normativer Gewalt« und deren Autor*innen »lässt sich vom gesicherten Terrain einer Monodisziplin aus leichter artikulieren als unter Berücksichtigung [der] Ambivalenz und Ambiguität, die erst mit transdisziplinären Differenzierungen und Weitungen des Gewaltbegriffs offen zutage tritt und damit Widerspruch hervorruft« (Brunner 2020: 26). Hier hat Brunner nicht unrecht: aus philosophischer Sicht ist nicht nur das Epistemologie-Verständnis der Autorin problematisch, sondern auch die Perspektive der Wissenssoziologie, die korrekterweise eher als ›Meinungs‹- bzw. ›Glaubens-Soziologie‹ verstanden werden sollte.
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Sinne von »Wissen-dass«) unterschieden wird. Barry Hallen und J.O. Sodipo (1997: 81) stellen fest, dass gbàgbó, das verifiziert werden kann, gbàgbó ist, das mò werden kann. Gbàgbó, das nicht überprüfbar ist und daher allein auf der Grundlage der Rechtfertigung (àlàyé, papò usw.) bewertet werden muss, kann nicht zu mò werden, und folglich muss seine Wahrheit (òótó) unbestimmt bleiben. Eine zweite philosophische Verwendung von ›Epistemologie‹ versteht diesen Begriff als normative Wissenstheorie. Innerhalb der philosophischen Tradition existieren unterschiedliche Erkenntnistheorien. Daher wird üblicherweise zwischen fundamentistischen (z.B. rationalistischen, empiristischen und positivistischen) und nicht-fundamentistischen (z.B. pragmatischen, konstruktivistischen und Standpoint-)Epistemologien unterschieden. Auch hier ist die Untersuchung normativ. Wie im ersten Sinne im vorherigen Absatz erläutert, geht es darum zu klären, was sinnvoll als ›Wissen‹ bezeichnet werden kann (und was nicht). Diese unterschiedlichen Epistemologien koexistieren bis heute, weil Philosophen immer noch unterschiedlicher Meinung darüber sind, obwohl sie sich in der Regel zumindest darüber einig sind, dass nur eine Position die richtige sein kann. Innerhalb dekolonialer und postkolonialer Diskurse scheint »Parität der Epistemologien« jedoch etwas anderes zu bedeuten, nämlich, dass alle ›Epistemologien‹ gleichermaßen respektabel und gültig sind – und dass folglich kein epistemologisches Paradigma anderen überlegen ist (Masaka 2018: 294). Die Implikationen eines solchen im Wesentlichen symmetrischen Verständnisses unterschiedlicher Epistemologien sind jedoch zutiefst beunruhigend, vom Problem des epistemischen Relativismus einmal abgesehen. Wenn diese angebliche epistemologische Parität von den historisch Entmachteten gegen die Urteile und die Deutungshoheit der Mächtigen eingesetzt werden kann, dann kann sie auch dazu verwendet werden, die Machthaber gegen Kritik der Entmachteten zu immunisieren.
Epistemische Gewalt und kognitive Gerechtigkeit Ähnliche Überlegungen beziehen sich auf die Ideen epistemischer Gewalt und kognitiver Gerechtigkeit. Die erste Idee ist in den vergangenen Jahren intensiv von Claudia Brunner (2016, 2017, 2020; vgl. auch Spivak 1988) behandelt worden, während letztere hauptsächlich mit der Arbeit C. Shiv Visvanathan (1997) in Verbindung gebracht wird:
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»Cognitive justice recognises the right of different forms of knowledge to coexist, but adds that this plurality needs to go beyond tolerance or liberalism to an active recognition of the need for diversity. It demands recognition of knowledges, not only as methods but as ways of life. This presupposes that knowledge is embedded in ecology of knowledges where each knowledge has its place, its claim to a cosmology, its sense as a form of life. In this sense knowledge is not something to be abstracted from a culture as a life form; it is connected to livelihood, a life cycle, a lifestyle; it determines life chances.« (Visvanathan 2009: 6; vgl. auch Ndlovu-Gatsheni 2018) Die Begriffe der kognitiven Gerechtigkeit und der Vielfalt und Ökologie des Wissens sind auch in der Arbeit von De Sousa Santos von erheblicher Bedeutung: »There is no global social justice without global cognitive justice« ist ein oft wiederholtes Mantra (De Sousa Santos et al. 2007: xix; vgl. auch De Sousa Santos 2014: 42, 124, 133, 189, 193, 207, 233). Manchmal ist es plausibel, sich auf diese Begriffe zu berufen, manchmal nicht. De Sousa Santos (2014: 42) betont die Notwendigkeit einer gerechteren Beziehung zwischen den verschiedenen Arten von Wissen. Mit anderen Worten, »there has to be equity between different ways of knowing and different kinds of knowledge« (ebd.: 237). Die Begriffe der kognitiven und epistemischen Gerechtigkeit und ihrer Abwesenheit oder Verletzung (kognitive und epistemische Ungerechtigkeit) gelten nur, wenn es wirklich um Wissen geht – und nicht um bloße Wissensansprüche, Überzeugungen, Eindrücke und dergleichen. Leider versäumt es De Sousa Santos, konkrete Beispiele für (die Verletzung von) kognitiver Gerechtigkeit zu liefern. Beispiele von epistemischer Gewalt sucht man auch bei Brunner vergeblich. Epistemische Gewalt ist eine besondere Art von Gewalt. Angelehnt an Miranda Frickers Theorie der epistemischen Ungerechtigkeit (2007) bietet sich eine Differenzierung an zwischen Aussagegewalt und hermeneutischer Gewalt, welche beide im Wesentlichen ein Unrecht bezeichnen, das einer Person in ihrer Kapazität als Wissende zugefügt wird. So spricht man von Aussagegewalt, wenn die Voreingenommenheit des Hörers dazu führt, den Aussagen der sprechenden Person verminderte Glaubwürdigkeit zuzuschreiben. Hermeneutische Gewalt tritt bereits im Vorfeld auf: zum Beispiel wird eine Person, die auf Grund einer Leerstelle in den kollektiven interpretativen Ressourcen nicht in der Lage ist, die Bedeutung ihrer sozialen Erfahrungen zu verstehen, auf ungerechte Art benachteiligt. Kehren wir zu Khoisan Z zurück. Wenn seine Wissensansprüche von den Kolonialmächten aufgrund seiner Hautfar-
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be oder ethnischen Herkunft, weil er nicht ›einer von ihnen‹ ist, zurückgewiesen werden, ist er ein Opfer von Aussagegewalt. Wenn er und seine Familie und Freunde gezwungen werden, auf ein weniger menschenfreundliches, weniger fruchtbares Terrain umzusiedeln, erleiden sie hermeneutische Gewalt – d.h. eine Form der Gewalt, die über die grobe physische und soziale Gewalt hinausgeht: ihnen fehlt einfach das Konzept der ›Umsiedlung‹ und das macht, was ihnen zustößt, unbegreiflich. Sie können nicht verstehen, was mit ihnen geschieht. Im Mittelpunkt dieser Analyse steht der Begriff der (sozialen) »Macht«11 , die definiert wird als sozial situierte Fähigkeit, anderer Menschen Sichtweisen und Handlungen zu beeinflussen und zu kontrollieren. Diese Art Macht dient dazu, eine bestimmte soziale Ordnung zu schaffen oder zu erhalten, und zeigt sich einerseits in verschiedenen produktiven Formen von Ermöglichung und andererseits in Nichtglaube, Fehlinterpretation und erzwungenem Schweigen. Ferner führt diese Macht dazu, Menschen auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer gewissen Gruppe entweder ein Glaubwürdigkeitsübermaß oder ein Glaubwürdigkeitsdefizit zu verleihen. Die vorrangige Charakterisierung von Aussagegewalt ist im Wesentlichen eine Sache des Glaubwürdigkeitsdefizits und nicht des Glaubwürdigkeitsüberschusses. Diese Analyse von epistemischer Gewalt ist in sich plausibel. Allerdings sind Situationen denkbar, in denen ein Glaubwürdigkeitsüberschuss sich nachteilig auswirkt: zum Beispiel beinhaltet die Beförderung einer Person durch positive Diskriminierung bzw. gezielte Fördermaßnahmen (um z.B. in der Vergangenheit verursachtes Unrecht wiedergutzumachen) auf eine Position, für die sie nicht befähigt oder qualifiziert ist, epistemischen Schaden. Die beförderte Person ist trotz neuer politisch-sozialer Privilegien epistemisch benachteiligt. Frickers Interesse gehört besonders der »Identitätsmacht« und den von dieser durch die Manifestation identitätsbedingter Vorurteile verursachten Schäden. An den Letzteren liegt es, dass gewissen Personen auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird. So beinhaltet die Aussagegewalt eine Ablehnung der Glaubwürdigkeit ihrer Wissensansprüche, während die hermeneutische Gewalt einem allgemeinen Versagen entspringt, die für das Verstehen und Interpretieren dieses Wissens notwendigen kognitiven Ressourcen verfügbar zu machen
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Vgl. auch die Anmerkungen zur »Kolonialität der Macht« in Garbe 2013: 7f.; Quintero/ Garbe 2013; Brunner 2016: 96, 99; Brunner 2017: 150.
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und zu ordnen. Im Ergebnis werden diese Menschen in ihrer Selbstentwicklung und dem Erlangen umfassender Menschenwürde behindert. »Sie werden daran gehindert, zu werden wer sie sind« (Fricker 2007: 5). In weißen patriarchalischen Gesellschaften können derartige epistemische Erniedrigungen das Selbstvertrauen von (schwarzen oder weiblichen) angehenden Wissenden zerstören, welches notwendig ist um eben jene vertrauensvollen Gespräche zu führen, die gut funktionierende epistemische Gemeinschaften kennzeichnen. Laut Fricker hemmen sie tatsächlich das Selbst-Werden (»the very formation of self«; ebd.: 55). Obwohl Aussage- und hermeneutische Gewalt individuell erfahren und praktiziert werden, erzeugen sie nicht nur individuellen Schaden. Sie entspringen einem sozialen Gefüge, das strukturell von Befangenheit und Voreingenommenheit (gegenüber bestimmten Gruppen) gekennzeichnet ist, die diese Arten der Gewalt reproduzieren und aufrechterhalten. Sich dagegen aufzulehnen, erfordert einen kollektiven sozialen und politischen Wandel. Um einen derartigen Wandel voranzutreiben, bedarf es auf der Aussageebene einer reflexiven Bewusstwerdung für die mögliche Präsenz von problematischen Vorurteilen. Diesem Bewusstsein liegt die Tugend der Aussagegerechtigkeit zu Grunde. Sie erscheint als ursprüngliche Wahrheitstugend und gleichzeitig als Gerechtigkeitstugend. Daher müssen Hörer nicht nur von der Kompetenz und Aufrichtigkeit der Sprecher ausgehen können, sondern neben Sensibilität und Empathie auch die Bereitschaft haben, Wahres zu akzeptieren und Unwahrheiten abzulehnen. Hermeneutische Gerechtigkeit ist ebenfalls eine hybride Tugend. Sie soll der hermeneutischen Gewalt entgegenwirken – welche auftritt, wenn (Mitgliedern von) bestimmten Gruppen oder Gemeinschaften die hermeneutischen Werkzeuge fehlen, um den Sinn ihrer sozialen Situation zu verstehen. Wenn etwas ungerecht ist, dann ist es nicht nur schädlich, sondern auch unrechtmäßig – sei es diskriminierend oder unfair. Wo immer es ungleiche hermeneutische Strukturen in wichtigen Bereichen sozialer Erfahrung gibt, werden Mitglieder der benachteiligten Gruppe hermeneutisch marginalisiert. Hermeneutische Gerechtigkeit manifestiert sich in der reflexiv-kritischen Sensibilität des (männlichen/weißen) Hörers gegenüber einem verminderten Verständnis (oder einem Versagen zu verstehen), das bei einer Sprecherin (bzw. einer ›person of colour‹) aufgrund einer Lücke in den kollektiven hermeneutischen Ressourcen entsteht. Mit anderen Worten, der Zuhörer ist sich der Tatsache bewusst, dass das offensichtliche Unverständnis der Sprecherin
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eine Folge einer kollektiven hermeneutischen Verarmung ist, und er passt sein Glaubwürdigkeitsurteil entsprechend an. Im Grunde genommen gibt es allerdings einen Unterschied zwischen Kritik an den Aussagen einer Person mit der bloßen Feststellung, dass sie schwarz und/oder eine Frau ist (ein derartiges Glaubwürdigkeitsdefizit wäre ethisch verwerflich, epistemologisch problematisch und in der Tat irrational – insofern es sich um Ablehnung von Wissen handelt12 ), und Kritik an den Aussagen einer schwarzen und/oder weiblichen Person mit der Begründung, dass sie fehlerhaftem oder trugschlüssigem Denken entspringen (also in Fällen, wo es sich nicht um Wissen sondern bestenfalls um Wissensansprüche handelt). Unsinn und mangelnde Begründung sind schließlich keine kultur-, rassen- oder geschlechtsspezifischen Phänomene. Aus dem gleichen Grund gibt es sicher einen Unterschied zwischen der Akzeptanz von Wissensansprüchen einer Person mit der bloßen Begründung, dass sie Afrikanerin ist (dieser Glaubwürdigkeitsüberschuss wäre nicht nur erkenntnistheoretisch problematisch, sondern auch symbolpolitisch), und der Annahme der Ansprüche, die von einer Afrikanerin geltend gemacht oder geäußert werden, weil sie aus einer klaren Argumentation resultieren, weil sie begründet und wahr sind. Kognitive Gerechtigkeit beinhaltet im Wesentlichen Letzteres – ihr wird durch Glaubwürdigkeitsüberschüsse schlecht gedient.
Epistemische Emanzipation Vielleicht könnte das Diktum von De Sousa Santos et al. wie folgt erweitert werden: ›There is no social emancipation without epistemic emancipation.‹ Was ist also epistemische Emanzipation? Im Folgenden werde ich diese Idee verwenden, weil sie meines Erachtens wichtige Vorteile gegenüber Lebakengs (und Masakas) Vorstellung von »epistemischer Befreiung« bietet (Lebakeng 2004: 112; Masaka 2018: 286) und der von Ndlovu-Gatsheni umfassend dargestellten epistemischen Freiheit: »The definitive entry of descendants of the enslaved, displaced, colonised and racialised peoples into the existing academies across the world, pro12
Was sowie Kolonisator*innen als auch dekoloniale/postkoloniale Theoretiker*innen zu ignorieren scheinen ist die Irrationalität von Verdrängung, Unterdrückung und Ablehnung von Wissen. Wenn es sich hier tatsächlich um Wissen handelt, dann ist es rational unvertretbar, es nicht als solches anzuerkennen und zu würdigen.
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claiming loudly that they are human beings, their lives matter, and that they were born into valid and legitimate knowledge systems, enabled the resurgence of long-standing struggles for epistemic freedom. Thus(,) epistemic freedom speaks to cognitive justice. Epistemic freedom is fundamentally about the right to think, theorise, interpret the world, develop own methodologies, and write from where one is located and unencumbered by Eurocentrism.« (2018: 3) Ndlovu-Gatsheni unterscheidet epistemische Freiheit von akademischer Freiheit. Letztgenannte betrifft: »institutional autonomy of universities and rights to express diverse ideas(,) including those critical of authorities and political leaders. Epistemic freedom is much broader and deeper. It speaks to cognitive justice; it draws our attention to the content of what it is that we are free to express and on whose terms. … Epistemic freedom is about democratising ›knowledge‹ from its current rendition in the singular into its plural known as ›knowledges‹. It is also ranged against overrepresentation of Eurocentric thought in knowledge, social theory and education. Epistemic freedom is foundational in the broader decolonisation struggle because it enables the emergence of the necessary critical decolonial consciousness.« (Ebd.: 4) Ndlovu-Gatsheni scheint hier nicht gebührend zwischen Freiheit und Befreiung zu unterscheiden. Genau betrachtet ist ›epistemische Freiheit‹ jedoch das Ergebnis von Befreiung und Emanzipation. Es ist sozusagen das Produkt der Prozesse von epistemischer Befreiung und Emanzipation. Meine Präferenz für ›Emanzipation‹ gegenüber ›Befreiung‹ ist schnell erklärt. Epistemische Emanzipation greift meines Erachtens den entscheidenden Akt der Selbstbefreiung auf, im Gegensatz zur ›Befreiung‹ durch ehemalige Unterdrücker und Ausbeuter – das heißt, im Gegensatz zur passiven und dankbaren Annahme des angeblichen ›Geschenks‹ der epistemischen Freiheit von den einstigen Wissensmördern. Epistemische Emanzipation ist also der Akt der Emanzipation von mentaler Sklaverei, wie Bob Marley es in seinem Redemption Song so treffend ausgedrückt hat. Ndlovu-Gatsheni ist dahingehend Recht zu geben, wenn er die für die Befreiung unabdingbaren Elemente der Dekolonisierung und Rekultivierung betont, aber sein Verweis auf »gültige und legitime Wissenssysteme« beinhaltet eindeutig eine Tautologie. Ein Wissenssystem kann nur gültig und legitim sein. Es mag nicht anerkannt werden (aus all den ethisch und epistemisch
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zweifelhaften und ungerechten Gründen, die oben angeführt wurden), aber im Gegensatz zu einem Glaubenssystem kann es nicht ungültig oder illegitim sein. Eine zusätzliche Frage zu Ndlovu-Gatshenis Bericht ist, ob epistemische Demokratisierung13 eine Verlagerung von »knowledge« (also in der SingularForm) zu »knowledges« (Plural) erfordert. Das ist nicht offensichtlich. Wie die politische Demokratisierung ist auch die epistemische Demokratisierung weder eine Frage des ›anything goes‹ noch eines ›the more the merrier‹. Während ein Mehrparteiensystem sicherlich einem Ein- oder Zweiparteiensystem vorzuziehen ist, geht dieser Vorteil verloren, wenn die Parteien alle (oder meistens) auf einer Seite des politischen Spektrums angesiedelt sind. Analog dazu sollten alle Überzeugungen oder Weltanschauungen, die als ›Wissen‹ geltend gemacht werden, sorgfältig und kritisch hinterfragt werden. Wenn überhaupt, dann haben ›Crackpot‹-Theorien über den Weltraum, Corona und Klimawandel und über ›gestohlene‹ Wahlen in den USA, Hexerei-Vorwürfe und Aberglauben im Allgemeinen lediglich marginalen epistemischen Wert. ›Emanzipation‹ bezeichnet den Akt oder Prozess der Befreiung von moralischen und sozialen konventionellen Einschränkungen und Zwängen, in der Tat von Sklaverei – natürlich erfordert dies in den meisten Fällen eine kollektive oder gemeinschaftliche Anstrengung. Der Inhalt der Art von Emanzipation, um die es hier geht, ist Wissen. ›Epistemische Emanzipation‹ bezieht sich also auf den Akt der Befreiung (ob individuell oder gemeinschaftlich) von den Konventionen und Einschränkungen, die dem eigenen Wissen und der eigenen Fähigkeit und dem eigenen Status als Wissender von außen auferlegt werden. Dies ist häufig verbunden mit dem rechtlichen Anspruch, in der eigenen Sprache zu denken und zu philosophieren, das Recht auf Wissen auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden konzeptionellen Werkzeuge und Beweise sowie das Recht auf epistemische Unabhängigkeit und Autonomie. Dennoch verkörpert Wissen bestimmte eigene Konventionen, ohne die es schlicht kein Wissen ist. Dazu gehören die Merkmale, die für das Wissen notwendig (wenn auch vielleicht nicht ausreichend) sind: Glaube, Wahrheit und angemessene Begründung. ›Epistemische‹ Unabhängigkeit und Autonomie bedeuten nicht Verzicht auf Rationalität und epistemische Normen und Standards. Wie moralische und politische Unabhängigkeit und Autonomie gehen epistemische Unabhängigkeit und Autonomie nicht nur mit bestimmten Rechten, sondern auch mit bestimmten Pflichten oder Verantwortlichkeiten einher, wie ich im folgenden Abschnitt erläutern werde. 13
Vgl. auch De Sousa Santos 2014.
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Sozialepistemologie, Rechte und Pflichten Wie die vorhergehende Diskussion über epistemische Ungerechtigkeit, kognitive Gerechtigkeit und epistemische Emanzipation gezeigt hat, gibt es häufig eine Verwechslung von erkenntnistheoretischen Fragen mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Es ist leicht, diesen Fehler zu begehen, also werde ich in diesem Abschnitt versuchen, zu zeigen, was in dieser Verwirrung auf dem Spiel steht, und auf die Werkzeuge einer relativ neuen Ergänzung auf dem Gebiet der akademischen Philosophie, der Sozialepistemologie, zurückgreifen. Diese befasst sich mit den zwischenmenschlichen und sozialen Praktiken und Normen, die das Streben nach Erkenntnis, die Suche nach Wissen und Wahrheit und die Vermeidung von Denkfehlern und Irrtümern beeinflussen und leiten. Epistemische Emanzipation beinhaltet kognitive und intellektuelle Autonomie. Wie moralische Autonomie bedeutet dies rationale Selbstbestimmung und wird am besten durch einen Appell an Individualrechte geschützt. Abgesehen davon, dass die Sprache der Rechte einen grundlegenden Rahmen für die Notwendigkeit von Bildung und kognitiver Emanzipation und auch im Hinblick auf das Recht am geistigen Eigentum bietet, hat sie sowohl einen Anwendungsbereich als auch eine politische Wirksamkeit, die im Allgemeinen nicht in vergleichbarer Weise in der Interessenspolitik von ›indigenenWissens‹-Projekten vorhanden sind. Im Großen und Ganzen und am plausibelsten beziehen sich kognitive und epistemische Gerechtigkeit auf die gerechte und gleichmäßige Verteilung kognitiver und epistemischer Vorteile und Verbindlichkeiten. Sie beinhalten die angemessene Anerkennung von Einzelpersonen als Wissende mit entsprechenden Rechten und Pflichten. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich kurz auf die notwendigen Bedingungen oder wesentlichen Komponenten von propositionalem Wissen oder Wissen-dass eingehen. Die erste Komponente, die sogenannte subjektive Bedingung des Wissens, ist die Meinung bzw. der Glaube. Die Freiheit zu denken und zu glauben, was man will, wird oft als demokratisches Recht beansprucht. In der Tat ist das Recht, zu denken und zu glauben, was man will, politisch und moralisch von grundlegender Bedeutung. Demokratische Verfassungen sichern Meinungs- und Weltanschauungsunterschiede, unabhängig davon, ob diese wahr oder richtig sind. Das Recht auf Gedanken-, Meinungs- und Religionsfreiheit umfasst das Recht, die eigenen Überzeugungen und auch die eigene Religion(-sangehörigkeit) jederzeit zu ändern. Das Wesen der Demokratie hängt von diesen Garantien
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ab. Epistemisch ist dieses Recht jedoch erheblich enger zu fassen. Man ist frei (und man hat ein Recht), epistemisch das zu glauben, wofür man eine ausreichende Begründung hat – und im Idealfall das, was auch wahr ist. Aus erkenntnistheoretischer Sicht würde es überhaupt keinen Sinn ergeben, ein epistemisches Recht zu beanspruchen, das zu glauben, was nicht ausreichend gerechtfertigt und/oder was unwahr ist. Wahrheit ist die objektive Bedingung des Wissens. Das ›Recht auf Wahrheit‹ könnte auf mindestens zwei Arten verstanden werden: das Recht, nach Wahrheit zu streben (und Irrtum und Fehler zu vermeiden), und das Recht, die Wahrheit gesagt zu bekommen (also das Recht, nicht belogen zu werden). Wie andere Rechte ist auch letzteres – das Recht auf Wahrhaftigkeit – kein absolutes Recht: Es kann Umstände geben, unter denen es zum eigenen Vorteil ist, nicht ›die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit‹ zu kennen oder zu erfahren. Was Begründung oder Rechtfertigung anbelangt, so stellt angemessene Rechtfertigung eine Brückenbedingung im propositionalen Wissen zwischen Glauben und Wahrheit dar. Eine hinreichend begründete Überzeugung ist eine, auf die eine Person rational Anspruch hat, auf die sie ein Recht hat. Im normativen Vokabular der Sozialepistemologie lässt sich angemessene Begründung als ›Recht auf Gewissheit‹ (das Recht darauf, sicher zu sein; vgl. Horsthemke 2021: 84) definieren. Eine ungerechtfertigte oder unzureichend begründete Meinung hingegen ist eine, die wir allein aufgrund rationaler Erwägungen nicht vertreten sollten. Es gibt einen konzeptionellen Unterschied zwischen dem Recht darauf (rational in der Lage zu sein), sich zu entscheiden, etwas zu glauben oder eine Meinung zu vertreten, und der Pflicht oder Verpflichtung, etwas allein auf der Grundlage rationaler Überlegungen zu glauben. Die Einhaltung unserer epistemischen Verpflichtungen läuft letztendlich darauf hinaus, Verantwortung für die Entstehung unserer Meinungen und Überzeugungen zu übernehmen. Es gibt zwei grundlegende epistemische Verpflichtungen: die Wahrheit zu verfolgen und Irrtümer und Fehler zu vermeiden – obwohl es zweifellos der Fall ist, dass das Streben nach Wahrheit oft mit dem Begehen von Fehlern verbunden ist.14 Aus ethischen und rechtlichen Diskursen wissen wir, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Rechten und Pflichten gibt. Wenn eine Person ein
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Imfihlakalo yasemhlabeni iqiniso, wie es im IsiZulu-Sprichwort heißt: die Wahrheit mag der der Welt Geheimnis sein, aber wir können lernen, Unwahrheiten und Irrtümer zu vermeiden und so dem näher zu kommen, wie die Dinge wirklich sind – oder übrigens auch waren.
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Recht hat, dann haben andere korrelative Verpflichtungen gegenüber dieser Person. Aber kann das Gleiche für das ›Recht auf Gewissheit‹ gesagt werden? Wenn eine Person ein Recht darauf hat, sicher zu sein, wer (wenn überhaupt jemand) hat dann entsprechende Verpflichtungen? Und was wäre der Inhalt dieser Verpflichtungen? Eine der Aufgaben von Pädagog*innen besteht darin, das Verständnis der Lernenden für die Art von Beweisen und ihre Fähigkeit, Evidenz angemessen zu verstehen, zu fördern. Wir haben jedoch auch andere Verpflichtungen, also neben gesetzlichen Pflichten auch praktische, moralische und epistemische Verpflichtungen. Epistemische Verpflichtungen unterscheiden sich, zumindest oberflächlich, von anderen Arten von Verpflichtungen. Pädagog*innen haben zum Beispiel professionelle und praktische Verpflichtungen, ihre Arbeit ordentlich und gewissenhaft zu verrichten und ihren Unterricht interessant und informativ zu gestalten. Kompetenz (bzw. sich diese anzueignen) aufseiten der Pädagog*innen wäre eine solche Verpflichtung. Sie haben auch moralische Verpflichtungen, z.B. Lernende nicht zu diskriminieren und einen gerechten und fairen Umgang im Klassenzimmer zu gewährleisten. Vertrauenswürdigkeit aufseiten der Pädagogen wäre eine derartige Verpflichtung. Epistemische Verpflichtungen scheinen dagegen anders strukturiert zu sein: sie betreffen die Verantwortungsübernahme einer Person für die eigenen Überzeugungen, nicht für die Überzeugungen anderer. Die sogenannte Ethik des Glaubens bzw. das Erreichen epistemischer Exzellenz beinhaltet normative Analyse. Es geht darum, was wir rational glauben dürfen, woran zu glauben wir ein Recht haben. Eine andere Möglichkeit, die Ethik des Glaubens zu verstehen, besteht darin, zu fragen, was wir glauben sollten, was wir glauben müssen. Es ist erwähnenswert, dass unterschiedliche Formen des ›Sollens‹ und ›Müssens‹ – mit anderen Worten, unterschiedliche gesetzliche, praktische, moralische und epistemische Verpflichtungen – möglicherweise nicht übereinstimmen. Während wir eine praktische Verpflichtung haben, etwas nicht zu glauben, können wir eine epistemische Verpflichtung haben, dies zu tun (das heißt, auf die Gefahr von Irrationalität hin). Zum Beispiel kann eine Studierende die praktische Verpflichtung haben zu glauben, dass sie die Aufnahmeprüfung bestehen wird (weil dies ihr wertvolles Selbstvertrauen gibt), aber sie kann zur selben Zeit die epistemische Verpflichtung haben, es nicht zu glauben (angesichts der außergewöhnlich hohen Durchfallquote unter den Prüfungsteilnehmer*innen und/oder der Tatsache, dass sie nicht genug Zeit hatte, sich ausreichend vorzubereiten) (ebd.: 84, 85).
›Epistemizid‹, ›epistemische Gewalt‹ und ›epistemische Emanzipation‹
Ist das Übernehmen von Verantwortung für die Bildung unserer Überzeugungen dasselbe wie das Übernehmen von Verantwortung für die Bildung unserer Werte? Schließlich können wir keine Werte haben oder in Übereinstimmung mit Werten handeln, wenn wir keine entsprechenden Überzeugungen haben. Werte sind in gewisser Weise Überzeugungen: Überzeugungen darüber, was lohnenswert oder gut ist. Menschen geben im Allgemeinen nicht ohne weiteres auf, was sie für wahr halten. Es wäre sicherlich vernunftwidrig zu erwarten, dass jemand seine Werte ändert, nur weil ein populärer Ansatz oder eine neue Regierung ihn dazu auffordert. Aus dem gleichen Grund wäre es irrational, an Werten festzuhalten, die sich als fragwürdig erwiesen haben (ebd.: 86).
»Afrikanische Arten des Wissens«: Tokoloshe und mantindane 1996 veröffentlichte Credo Mutwa15 Isilwane/The Animal, im Wesentlichen einen Bericht über »die Ehrfurcht, in der Tiere nach afrikanischen Ritualen und Traditionen gehalten werden« (1996: Klappentext). Unter den vielen faszinierenden »traditionellen Geschichten«, die im Buch enthalten sind, ist Mutwas Bericht, warum die Katze mehr als nur ein Haustier ist: »treating a cat properly guarantees that it will protect you against the tokoloshe and the mantindane« (ebd.: 31). Seine Beschreibung dieser »furchteinflößenden« Kreaturen ist es wert in Gänze zitiert zu werden: »From the Cape right up to Zaire, there is a fearful creature known as the tokoloshe. It is short, thickset, round-headed and furry, with a round snout and a pair of glowing, bright red eyes. It has pointed ears and a thick, bony ridge extending from above its forehead to the nape of its neck. This creature, short though it is, is extremely aggressive and viciously cruel. It specializes in sexually assaulting women and challenges benighted travellers to stick fights which it triumphantly wins.« (Ebd.) Mutwa schreibt, dass er im Laufe seiner Karriere als traditioneller Heiler »vielen Frauen begegnet ist, die von dieser schrecklichen Kreatur sexuell belästigt
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Mutwa ist laut den Werbeinformationen auf der Rückseite des Buchs (1996) ein »bekannter weiser Mann Afrikas und Sanusi (oberster Sangoma) aller Sangomas [traditionellen Heiler] im südlichen Afrika, [und] respektiert und bekannt unter Menschen auf der ganzen Welt«.
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und sogar vergewaltigt wurden, die sich in jenem Schattenbereich bewegt, in dem sich das Reale und das Unwirkliche, das Sichtbare und das Unsichtbare treffen« (ebd.). Als sanusi hat Mutwa zahllose Menschen behandelt, die von tokoloshe geschlagen und zu Tode erschreckt worden sind: »However, there are some people, especially white sceptics, who believe that the tokoloshe is nothing more than a figment of African superstition and fertile imagination.« (Ebd.: 32) Unter Bezugnahme auf die Tatsache, dass er »über fünfzig Jahre Erfahrung« verfügt, appelliert Mutwa an diese Skeptiker, ihre Einstellung zu überdenken: »The tokoloshe is real – it does exist. I have seen the way it injures men and women who are unfortunate enough to fall into its clutches. When Africans fear the tokoloshe they are not fearing a figment of their imaginations. Instead of being laughed off by sceptics, the tokoloshe deserves investigation.« (Ebd.) Es gäbe noch eine weitere Kreatur, berichtet er, die dem tokoloshe in ihrer Neigung zu Grausamkeit, körperlicher Gewalt und Misshandlung nicht unähnlich und ebenfalls äußerst gefürchtet ist: »Like the tokoloshe, the mantindane stands about three-and-a-half feet tall. Unlike the tokoloshe, which is a powerfully built, almost chimpanzee-like creature, it appears extremely frail. It has a large, bald, egg-shaped head which can be as large as a fully grown watermelon, and it has very weaklooking jaws. Its mouth is little more than a slit and the nose is rudimentary, with nostrils like comma-shaped holes. The creature’s eyes are very strange and resemble beans. They are slanted and covered with what looks like thick, jet-black plastic or horn. It has a very thin neck, narrow shoulders and long, thin arms, and its hands, although resembling those of a human being, are very thin and long. Its long, thin and bony fingers have more joints than those of a human being. The creature’s two spindly legs end in long, delicate feet. The mantindane is civilized and highly intelligent, and unlike the tokoloshe, which appears stark-naked, it always wears some type of garment that reaches from its neck and covers its limbs completely. The colour of this creature’s skin is a strange greyish white with slight pink overtones. Like the tokoloshe, the mantindane treats human beings who fall into its hands cruelly and with utter contempt. It kidnaps males and females and scoops out flesh from their legs, thighs and even buttocks and upper arms. Unlike the
›Epistemizid‹, ›epistemische Gewalt‹ und ›epistemische Emanzipation‹
tokoloshe which is solitary, mantindane operate in groups. There can be as many as twenty of these vicious creatures in one group. Sometimes a gang of mantindane will kidnap a person and ill-treat him or her. They will then release the person, only to kidnap them again a few months or even a few years later.« (Ebd.) Mutwa erklärt, dass er »viele schwarze Männer und Frauen in ganz Afrika« getroffen hat, die mehrmals von diesen Kreaturen entführt wurden und die Narben an ihren Körpern tragen, welche von ihren schrecklichen Qualen durch diese »seltsamen und schrecklichen Wesen« zeugen. »I have personally fallen victim to mantindane,« berichtet er, »not once, but three times – and I still carry scars on my body that testify to the truth of what I say« (ebd.). Bemerkenswert an Mutwas Bericht ist im vorliegenden Kontext seine implizite Anerkennung der notwendigen Bedingungen, von denen allgemein angenommen wird, dass sie erfüllt sein müssen, wenn wir Wissensansprüche aufstellen: Glaube, Wahrheit und angemessene Begründung (»Erfahrung«, Beweise, Zeugenaussagen). Offensichtlich glauben »viele schwarze Männer und Frauen in ganz Afrika«, dass tokoloshe und mantindane wirklich existieren. Ebenso klar ist, dass der Glaube an diese Wesen in Bezug auf vergleichende Studien von kultureller Kreativität und Mythenbildung pädagogisch genutzt werden könnte. Stellen diese Überzeugungen jedoch »afrikanische Arten des Wissens« dar und können (und sollten) sie als »afrikanisches Wissen« gelehrt werden? Bevor man überhaupt diese Fragen beantworten kann, sollte man sich darüber im Klaren sein, was es mit der Beurteilung der Wissensansprüche anderer auf sich hat, insbesondere wenn diese »Anderen« scheinbar erheblich andersartigen erkenntnistheoretischen Traditionen verhaftet sind. Füge ich jemandem »epistemischen Schaden« zu, wenn ich ihre Überzeugungen für unwahr und/oder unzureichend begründet beurteile? Wenn ich tokoloshe oder mantindane als »Produkte afrikanischen Aberglaubens und einer fruchtbaren Vorstellungskraft« bezeichne, bedeutet dies dann »Epistemizid« und »epistemische Gewalt« gegenüber denen, die daran glauben? Offensichtlich wäre die wünschenswerteste Vorgehensweise der Versuch, zu verstehen, wie Menschen mit den betreffenden Überzeugungen diese als plausibel ansehen könnten, der Versuch, die von ihnen verwendeten Konzepte zu verstehen. Dies ist ein einfaches, aber wesentliches Gebot des Respekts.
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Ein kurzes Fazit Wir haben hier mit einer normativen Vorgehensweise zu tun: sie betrifft Wissensprozesse und erklärt auch, welche Prozesse wenig oder nichts mit Wissen zu tun haben. Anders formuliert: propositionales Wissen (Wissen-dass) ist nicht mehrdeutig. Was immer Wissen ausmacht variiert nicht mit den unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten von Menschen oder mit deren Konstrukten, deren »Ordnung« oder ihrer jeweiligen »Politik«. Der hier vorgeschlagene Denkansatz erkennt an, dass Menschen nicht über dieselben kognitiven Ressourcen, Fähigkeiten und Möglichkeiten verfügen. Sie handeln und arbeiten nicht alle ohne Zeitdruck oder unter demselben Zeitdruck. Ihre Situationen sind von unterschiedlichen Niveaus von Sachkompetenz geprägt, unterschiedlichen Möglichkeiten des Zugangs zu und der Verarbeitung von Information, unterschiedlichen Niveaus kognitiver Fähigkeit, Reife und (Aus-)Bildung, von beträchtlichen Unterschieden in der zur Verfügung stehenden Zeit, und auch von unterschiedlichen epistemischen Prioritäten. Diese Einsicht erlaubt uns, von verschiedenen Wissensebenen oder Wissensniveaus zu sprechen, ohne dass dies auf einen Relativismus hinausläuft. Dies ist epistemologisch gesehen kein Fall von ›anything goes‹. Das betreffende Wissen ist auch weiterhin durch die Suche nach Wahrheit und dem Streben nach Fehlervermeidung gekennzeichnet. Die Aussagen eines historisch marginalisierten Menschen sind nur dann ›Wissen‹, wenn sie unter anderem auch wahr sind. Das Gleiche gilt selbstverständlich auch für historisch bevorteilte Menschen. Die Wahrheit variiert nicht zwischen verschiedenen Menschen, sozialen oder ethnischen Gruppen, oder verschiedenen Kulturen. Dies erklärt, warum wir – als Lehrende und Erziehende – in manchen Fällen oder Kontexten nachsichtiger sind als in anderen. Unsere Nachsicht bedeutet allerdings nicht, dass wir über Unwahrheiten hinwegsehen und Unrichtigkeiten stillschweigend billigen. Alternatives Wissen bzw. alternative Wissenswege gibt es bei Lichte betrachtet gar nicht, ebenso wenig wie alternative Fakten oder alternative Wahrheit(en) (vgl. Horsthemke 2021). Es gibt nur Wissen oder Unwissen/ Nichtwissen. Eine Alternative zum Wissen wäre Ignoranz. Alternativwissen ist insofern synonym zu sehen mit Unwissen/Nichtwissen. Ist etwas Wissen, dann ist es nicht alternativ. Ist dies einmal klar, erübrigt sich ein Großteil der Diskussionen über Epistemizid, epistemische Gewalt und epistemische Emanzipation.
›Epistemizid‹, ›epistemische Gewalt‹ und ›epistemische Emanzipation‹
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Das Anthropozän dekolonialisieren Perspektiven für die Erziehungswissenschaft Madeleine Scherrer »It matters what thoughts think thoughts. It matters what knowledges know knowledges. It matters what relations relate relations. It matters what worlds world worlds. It matters what stories tell stories.« (Haraway 2016: 35) »To think new thoughts, by implication, requires moving out of the epistemic space of Western social theory and into the epistemic configurations associated with the multiple relational ontologies of worlds in struggle.« (Escobar 2020: 44)
Im Zusammenhang mit Wissensproduktionen zur globalen Klimakrise spielt der Begriff des Anthropozäns eine zentrale Rolle. Auch in der Erziehungswissenschaft findet eine Auseinandersetzung mit diesem Begriff, dessen Bedeutungshorizont und weitreichenden Implikationen für die pädagogische Praxis und die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung statt (vgl. bspw. jagodzinski 2018; Olvitt 2017; Sippl/Rauscher/Scheuch 2020; Taylor/PaciniKetchabaw 2015). Mit dem Anthropozän wird im Allgemeinen »die gegenwärtige, vom Menschen geprägte geologische Epoche« (Crutzen 2011: 7) bezeichnet. Crutzen (2011) führt die Drastik dessen, was mit diesem Begriff benannt wird, wie folgt vor Augen: »In den letzten drei Jahrhunderten sind die Effekte des menschlichen Handelns auf die globale Umwelt eskaliert. Auf Grund der anthropogenen CO2 -Emissionen dürfte das Klima auf dem Planeten in
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den kommenden Jahrtausenden signifikant von der natürlichen Entwicklung abweichen« (ebd.). Ich möchte in diesem Beitrag in keiner Weise in Abrede stellen, was Crutzen hier als Problem von planetarem Ausmaß und mit Folgen für eine unvorstellbar lange Zeitdauer auf den Punkt bringt. Vielmehr möchte ich einerseits dafür plädieren, die erziehungswissenschaftliche Wissensproduktion zum Anthropozän weiter voranzutreiben, um nicht zuletzt die globale Klimakrise als Bildungsherausforderung denk- und fassbarer zu machen. Andererseits geht es mir darum, ein Unbehagen am Anthropozänbegriff zum Ausdruck zu bringen, das damit zu tun hat, dass der Begriff problematische epistemologische und ontologische Ausschlüsse produziert und dabei verhindert, auch noch weitere Möglichkeiten des Wissens nicht nur über die Welt, sondern mit der Welt in Betracht zu ziehen. Wenn es etwa gelingen würde, ›die Menschen‹ nicht als abgetrennt von ›der Natur‹ – das heißt, ›das Menschliche‹ und ›das Natürliche‹ nicht als voneinander separierte Bereiche, die in Opposition zueinander stehen –, sondern im Sinne von »veränderlichen Gefügen von Menschen und Nichtmenschen« (Tsing 2019: 35) zu verstehen, ließen sich einige dem Anthropozänbegriff inhärente Denkvoraussetzungen hinterfragen. Der in diesem Begriff angelegte ausschließliche Fokus auf menschliche Einflussnahmen auf planetare Prozesse sowie auf andere Seins- und Lebensweisen zementiert die vermeintliche Sonderstellung ›des Menschen‹ und verunmöglicht die Einsicht, dass die menschliche Seinsweise aufs Engste mit nichtmenschlichen tierischen, pflanzlichen und anderen Seinsweisen verbunden ist und von diesen abhängt. Eine Untersuchung oftmals unhinterfragter Denkvoraussetzungen, die dem Anthropozän zugrunde liegen, könnte zur Einsicht führen, dass das Anthropozän kein universelles Konzept mit umfassendem Geltungsanspruch ist und dass andere Wissensproduktionen angesichts der globalen Klimakrise richtungsweisende Antworten auf die ethische Frage liefern, wie wir gegenwärtig und zukünftig mit menschlichen und nichtmenschlichen Anderen auf diesem Planeten zusammenleben können und wollen. Der dekoloniale Theoretiker Boaventura de Sousa Santos (2020) postuliert, dass Veränderungen des gegenwärtigen Zustands dringend geboten seien: Da sich ökologische Krisen zunehmend verschärften und während »political, physical, and ontological violence explodes out of control, it becomes all too evident that more than ever we need alternatives to this nightmarish status quo that thrives on destroying life, both human and nonhuman […]« (118; Herv. i.O.). Der Einsatzpunkt für meine nachfolgenden
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Überlegungen liegt zunächst in zwei kurzen Sätzen von Santos und Meneses (2020a: xxii), welche sich in der Einleitung des Sammelbandes mit dem Titel Knowledges Born in the Struggle: Constructing the Epistemologies of the Global South finden. Santos und Meneses (2020a) heben als Gemeinsamkeiten aller Beiträge des von ihnen herausgegebenen Bandes erstens hervor, dass diese die große epistemologische Diversität der Welt1 veranschaulichten und dass sich zweitens durch alle Beiträge die Einsicht zöge, »that there is no global social justice without global cognitive justice« (ebd.). Im Anschluss daran möchte ich die folgenden beiden Ausgangsthesen für diesen Beitrag formulieren: 1) Es gibt epistemologische Diversität in Bezug auf Wissen zu ökologischen Zusammenhängen und planetaren Vorgängen und es gibt unterschiedliche Zugänge zu einem tieferen Verständnis der globalen Klimakrise, die quer zu Diskurslinien zum Anthropozän liegen können und die es vermögen, oftmals unthematisiert bleibende Denkvoraussetzungen wirkmächtiger Konzepte zu erörtern und gewohnte Sichtweisen zu verändern. 2) Ebenfalls unter Bezugnahme auf Santos und Meneses (2020a: xxii) lässt sich außerdem die folgende These aufstellen: Es gibt keine globale Klimagerechtigkeit (engl. Climate Justice) ohne globale kognitive Gerechtigkeit. Forderungen nach Klimagerechtigkeit, die etwa bei Klimaschulstreiks der Fridays for Future-Bewegung immer wieder laut vorgebracht werden, stehen in einem engen Zusammenhang mit Fragen sozialer Gerechtigkeit. Der Fokus liegt hierbei auf der intragenerationellen Gerechtigkeit zwischen jetzt lebenden Menschen beispielsweise im Globalen Süden und im Globalen Norden. Climate Justice als normative Richtschnur versteht ökologische Krisen nicht allein als Herausforderungen, denen etwa mit technischen Mitteln beizukommen ist, sondern zugleich als grundlegende ethische und politische Probleme (vgl. Almeida 2019; Dawson 2010; Pettit 2004). Vor diesem Hintergrund lauten Forderungen nach mehr Klimagerechtigkeit dahingehend, dass die heute ungleiche Verteilung der Auswirkungen der globalen Klimakrise unter Berücksichtigung des Verursacherprinzips ausgeglichen wird, da jene Bevölkerungsgruppen (mehrheitlich im Globalen Süden), die am wenigsten zur Klimakrise beitragen (und vor allem in der Vergangenheit dazu beigetragen haben),
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Escobar (2020) arbeitet ergänzend die ontologische Dimension der Epistemologien des Südens heraus und konstatiert: »[…] the diversity of the world is infinite; succinctly, the world is made up of multiple worlds, multiple ontologies and realities that are far from being exhausted by the Eurocentric experience or reducible to its terms« (43; Herv. i.O.).
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oftmals am stärksten und ungeschütztesten unter deren Folgen zu leiden haben (und in Zukunft zu leiden haben werden) (vgl. Almeida 2019; Pettit 2004). Bei Diskussionen zu den Folgen der Klimakrise wird soziale Gerechtigkeit ins Zentrum der Überlegungen gerückt und die Einhaltung der Menschenrechte ist eines der zentralen Prinzipien von Climate Justice (vgl. Dawson 2010). Insbesondere in seinem Buch The End of the Cognitive Empire: The Coming of Age of Epistemologies of the South arbeitet Santos (2018) detailliert heraus, weshalb es soziale Gerechtigkeit ohne kognitive Gerechtigkeit nicht geben kann. Kognitive Gerechtigkeit setzt für Santos eine kognitive Dekolonialisierung voraus, die mit Kämpfen gegen unterschiedliche Formen der Unterdrückung einhergeht und diversen »Wissensökologien« (engl. ecologies of knowledges; vgl. hierzu insb. Santos 2016: 188-211) Vorschub leistet: »The ecologies of knowledges are collective cognitive constructions led by the principles of horizontality (different knowledges recognize the differences between themselves in a nonhierarchical way) and reciprocity (differently incomplete knowledges strengthen themselves by developing relations of complementarity among one another).« (Santos 2018: 78; Herv. MS) Globale kognitive Gerechtigkeit wird als Ziel angestrebt und dies würde Folgendes bedeuten: »the unequal relations of cognitive power are gradually replaced by relations of shared authority« (ebd.). Der Autor betont in diesem Zusammenhang wiederholt, dass zahlreiche (Denk-)Alternativen zu westlichen, eurozentristischen Epistemologien existieren würden. Um diese Alternativen allerdings erkennen zu können, sei ein epistemischer Bruch notwendig, und so liegt für ihn der folgende Schluss nahe: »we don’t need alternatives; we need rather an alternative thinking of alternatives« (ebd.: viii; vgl. Santos 2016: 133). Bevor ich diese Überlegungen im Anschluss an Santos’ Verständnis von und Vorschlag für »Epistemologien des Südens« (vgl. insb. Santos 2016, 2018; Santos/Meneses 2020b) und unter Bezugnahme auf Ideen zur pädagogischen Förderung epistemischer Neugier (vgl. Obex/Forster 2021) weiter vertiefen möchte, werde ich zum Einstieg zunächst näher auf den Anthropozänbegriff und einige diesem Begriff zugrundeliegende Denkvoraussetzungen eingehen. In diesen beiden ersten Kapiteln werde ich meine Einsatzpunkte darlegen, von denen ausgehend in den nachfolgenden Kapiteln skizziert werden soll, welche Alternativen des Nachdenkens über globale ökologische Verhältnisse existieren und wie diese zu einer Dekolonialisierung erziehungswissenschaftlicher Perspektiven auf das Anthropozän beitragen könnten. Zur Debat-
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te stellen möchte ich insbesondere Anstöße zum Denken in anderen Zeithorizonten, wobei ich mich vor allem auf Snyder (1990) beziehen werde. Abschließend werde ich darlegen, inwiefern die gegenwärtigen ökologischen Krisen zum Versuch auffordern, selbst das Denken und Wissen anders zu denken, und was dies bedeuten könnte.
Zum Begriff des Anthropozäns Der Begriff des Anthropozäns strahlt mittlerweile über die Sphäre der Wissenschaften hinaus und findet zunehmend auch in künstlerische oder politische Diskurse Eingang. Für dessen Wirkmächtigkeit und Strahlkraft lassen sich wohl mehrere Gründe anführen. Etwas voreilig, durchaus intuitiv und deshalb für zukünftige Revisionen offen, möchte ich die folgenden beiden Gründe hier festhalten: Erstens gibt es von Seiten derjenigen Wissenschaftler_innen, die sich mit den klimatischen Veränderungen unseres Planeten und der globalen Erwärmung, dem Artensterben usw. beschäftigen, keine Zweifel daran, dass der Einfluss von Menschen auf alle diese Prozesse als äußerst bedeutend erachtet werden muss. Ein Erdzeitalter mit dem ánthrōpos in Verbindung zu bringen scheint daher naheliegend zu sein. Der zweite Grund für die Wirkmächtigkeit des Anthropozänbegriffs ist Folgender: Der Begriff gelangte zu einer gewissen Prominenz, da er ursprünglich von einigen renommierten Naturwissenschaftlern in den Diskurs eingebracht wurde. Er geht unter anderem auf Eugene F. Stoermers und Paul J. Crutzens (2000) Artikel mit dem Titel The ›Anthropocene‹ zurück und erlangte durch Crutzens (2002) Artikel Geology of Mankind, der in der angesehenen und vielzitierten Wissenschaftszeitschrift Nature veröffentlicht wurde, zunehmende Bekanntheit. Der anfangs des Jahres 2021 verstorbene Crutzen war Atmosphärenchemiker. Er leitete während zwei Jahrzehnten das Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz und wurde für seine Forschungen zur Ozonschicht 1995 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet (vgl. Leinfelder 2012: 257-258; Schulz 2017: 47). Wichtig herauszustreichen ist bei alledem, dass der wirkmächtige Begriff des Anthropozäns ein aus westlichen, europäischen wissenschaftlichen Kontexten hervorgegangener ist, der die aus dekolonialer Perspektive höchst pro-
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blematische Vorstellung einer »undifferentiated humanity« (Schulz 2017: 49)2 mit sich führt. Damit ist gemeint, dass unterschiedliche soziale Positionierungen von Menschen unberücksichtigt bleiben: Der generelle menschliche Einfluss auf Erdsystemzusammenhänge wird postuliert, wobei beispielsweise nicht zwischen Menschen aus dem Globalen Norden und dem Globalen Süden differenziert wird. Dies ist problematisch, da Menschen in sehr ungleichem Maße dafür verantwortlich sind, wie es um die klimatischen Bedingungen auf der Erde steht. Aus dieser Perspektive wird argumentiert, dass es soziale Differenzierungen brauche, um über die Verantwortung für und die Folgen der Krise nachdenken zu können (vgl. Malm/Hornborg: 2014). In Bezug hierauf sollten insbesondere die Sozialwissenschaften einen Beitrag leisten und der Diskurs um die globale Klimakrise sei nicht nur den naturwissenschaftlichen Disziplinen zu überlassen, wie etwa Lövbrand et al. (2015) sowie Palsson et al. (2013) fordern. An dieser Stelle scheint es angebracht zu sein, noch etwas ausführlicher zu erörtern, was mit dem Begriff des Anthropozäns eigentlich genau bezeichnet wird. Hierbei beziehe ich mich unter anderem auf den bereits erwähnten Nature-Artikel von Crutzen (2002), wo das Anthropozän als neues Erdzeitalter ausgerufen wird und dass dieses nun das bisherige Erdzeitalter des Holozäns ablösen soll: »It seems appropriate to assign the term ›Anthropocene‹ to the present, in many ways human-dominated, geological epoch, supplementing the Holocene […]« (ebd.: 23). Damit wird dem Umstand der massiven anthropogenen Einflüsse etwa auf physikalische und geologische Systemzusammenhänge auf der Erde Rechnung getragen. In demselben Artikel, der notabene bereits vor zwei Jahrzehnten publiziert wurde, postuliert der Autor des Weiteren Folgendes: »Unless there is a global catastrophe – a meteorite impact, a world war or a pandemic – mankind will remain a major environmental force for many millennia« (ebd.).3 »Anthropozän« ist also der Name für ein neues Erdzeitalter, in dem ›der Mensch‹ zum entscheidenden 2
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Schulz (2017) erachtet die Vorstellung eines undifferenzierten Menschheitsbegriffs als mehrdeutig, »because it raises a number of critical questions regarding the political, historical, epistemological, and ontological assumptions that undergird contemporary discussions about the human condition. What does it mean to be ›human‹ in the Anthropocene – and who decides? Who (and what) is included and excluded as soon as notions of a single ›humanity‹ are invoked?« (49) Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags schwelt die bereits seit deutlich länger als einem Jahr anhaltende verheerende Coronavirus-Pandemie nach wie vor und die Worte Crutzens wirken im Rückblick wie eine düstere Vorahnung. Dennoch ist zu
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Faktor geworden ist: Dieses Erdzeitalter trägt »›unseren‹ Namen« (Danowski/Viveiros de Castro 2019: 11), es ist das Menschenzeitalter: »Obwohl […] [diese geologische Epoche, Anm. MS] mit uns begonnen hat, ist es höchstwahrscheinlich, dass sie ohne uns enden wird: Das Anthropozän könnte einer anderen geologischen Epoche nur nach unserem Verschwinden von der Erdoberfläche Platz machen. Unsere Gegenwart ist das Anthropozän; es ist unsere Zeit« (ebd.; Herv. i.O.). Nach diesen ersten Überlegungen zum Anthropozänbegriff möchte ich im Folgenden auf »Epistemologien des Südens« (vgl. insb. Santos 2016, 2018; Santos/Meneses 2020b) sowie den Vorschlag zur Förderung einer epistemischen Neugier (vgl. Obex/Forster 2021) eingehen, um darauf aufbauend zeigen zu können, weshalb Alternativen zum westlichen Anthropozändiskurs bedeutsam sind.
Epistemologien des Südens und epistemische Neugier Denkvoraussetzungen strukturieren das Wissen über Dinge der Welt in spezifischen Weisen vor: Sie führen dazu, dass Dinge so und nicht anders gedacht und gewusst werden (können). Problematisch sind sie unter anderem dann, wenn durch sie verunmöglicht wird, dass auch noch andere Denk- und Wissensweisen in Betracht gezogen werden. Denkvoraussetzungen bleiben oftmals unthematisiert und wenn sie thematisiert werden, gehen sie mit der Notwendigkeit einer Positionierung und Situierung einher. Sie tangieren jedoch nicht bloß den epistemologischen Bereich, sondern betreffen ebenfalls die Ontologie und also ebenso Fragen zu Erkenntnismöglichkeiten von Dingen der Welt wie auch Fragen des Seins von Dingen der Welt. Eines der fundamentalen Anliegen dekolonialer Ansätze besteht in der Veränderung von Denkvoraussetzungen, wobei es Santos und Meneses (2020a: xxii) zufolge nicht zuletzt um Fragen der Restitution gehe: »Being also a process of ontological and epistemological restitution, decolonization is based on the acknowledgement of silenced knowledges and on the reconstruction of humanity. Decolonization processes are witness to the numerous alternatives of modern hegemonic thinking« (ebd.). Eine Auseinandersetzung mit »epistemologies of the South« (vgl. insb. Santos 2016, 2018; Santos/Meneses 2020b), konstatieren, dass diese Pandemie am anthropogenen Einfluss auf den Planeten wohl kaum etwas ändern wird.
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in der Absicht, Wissensproduktionen der westlichen Moderne zu dekolonisieren, würde nach Santos und Meneses (2020a) unter anderem bedeuten, mit und vom Globalen Süden zu lernen, »the global South of alternative struggles, resistance and re-existence, which can only be known and duly recognized from the epistemic South« (xxxvii). Beim Globalen Süden handle es sich demnach um den Süden in einem epistemologischen Sinne und nicht um den geografischen Süden (vgl. ebd.: xvii). Aus Kämpfen um gegenhegemoniale Wissens- und Seinsweisen sowie aus Kämpfen gegen unterschiedliche Formen der Unterdrückung und Diskriminierung, die mit vorherrschenden kapitalistischen, kolonialen und patriarchalen Strukturen einhergehen, ergäben sich multiple Epistemologien, wobei diese Kämpfe sowohl im geografischen Süden wie auch im geografischen Norden ausgetragen würden (vgl. ebd.). Insgesamt fokussieren Epistemologien des Südens »on silenced knowledges or knowledges that are produced as non-existent. They are so considered because they are not created according to acceptable, or even intelligible, methodologies, or because they are created by ›absent‹ subjects, subjects who are conceived of as incapable of producing valid knowledge due to their unpreparedness or even due to their not fully human condition.« (Ebd.: xix-xx) Von der westlichen Moderne zum Schweigen gebrachtes und als nichtexistent betrachtetes Wissen werde in vielfältige »ecologies of knowledges« (Santos 2016: 188-211) miteingebracht, wobei ausdrücklich das Ziel verfolgt werde, »the monoculture of scientific knowledge« (ebd.: 188) aufzubrechen. So werden dem rational-wissenschaftlichen Wissen, dem im Vergleich zu anderen Wissensweisen gemeinhin der höchste Wert beigemessen wird, auch noch Wissensweisen zur Seite gestellt, die eher mit spirituellen oder emotionalen Erfahrungen von Dingen der Welt einhergehen. Spirituelles oder emotionales Wissen wird infolge einer Dekolonialisierung von Wissensweisen nicht länger als minderwertig abgetan, wodurch die hegemoniale Sichtweise »of science as the sole valid source of knowledge« (Santos/Meneses 2020a: xix) zu bröckeln beginnt. Exemplarisch hierfür steht der Vorschlag der Pflanzenökologin und Angehörigen des Potawatomi-Stammes Robin Wall Kimmerer (2002): In ihren Arbeiten plädiert die Autorin für eine Verbindung von westlichem wissenschaftlichem Wissen mit indigenem Wissen und dafür, dass traditionelles ökologisches Wissen (engl. traditional ecological knowledge [TEK]) in schulische und universitäre Biologie-Curricula aufzunehmen sei: »With its worldview of respect, responsibility, and reciprocity with nature, TEK does not compete
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with science or detract from its power but extends the scope of science into human interactions with the natural world« (ebd.: 436). Am Beispiel von Initiativen zum Erhalt der Biodiversität lässt sich gemäß Santos, Nunes und Meneses (2007) aufzeigen, dass es sich bei Forderungen um Anerkennung epistemologischer Diversität um ein umkämpftes Feld handelt, da in diesem »not only contradictory epistemological and cultural conceptions but also contradictory political and economic interests« (ebd.: xli) zusammenlaufen würden. Die Begriffe »Biodiversität« und »epistemologische Diversität« stehen nach diesen Autor_innen insofern in einem Zusammenhang, als dass es bei der Biodiversität nicht nur um die Diversität von Organismen, Genotypen, Spezies und Ökosystemen gehe, sondern ebenfalls um die multiplen »knowledges about that diversity« (ebd.: xlii). Santos (2016: 201) konstatiert in Bezug auf den Bereich des Erhalts der Biodiversität, dass es neben modernen wissenschaftlichen Herangehensweisen noch eine Vielzahl indigener Interventionen gebe, die zwar – angesichts der ökologischen Krisen, die als größte Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu verstehen sind – höchst bedeutsam seien, die jedoch von rein wissenschaftlichen Wissensweisen nicht selten bedroht würden (vgl. hierzu auch Escobar 1998, 1999; Santos/Nunes/Meneses 2007). Hierbei als fundamental erscheinende Divergenzen von Wissensweisen betreffen unter anderem das Verständnis des Verhältnisses zwischen ›Mensch‹ und ›Natur‹, die Frage, wie ›Natur‹ überhaupt gedacht wird sowie die Frage, welcher Stellenwert kosmologischen Weltanschauungen zukommt: »The controversies and conflicts over biodiversity raise new questions concerning the foundational overlap of the discovery of the savage and the discovery of nature. It is hardly by chance that a good deal of the biodiversity of the planet is present in territories inhabited by indigenous peoples, for whom nature never was a natural resource, as the West understands this notion. For these peoples, nature cannot be dissociated from society, within the frame of cosmologies that divide and classify the world in ways that are different from the one enshrined by modern, Western cosmology. Colonialism and, at a later stage, the forms of subalternization that are characteristic of post-colonialism are associated with attempts to destroy these cosmologies and their worlds.« (Santos/Nunes/Meneses 2007: xlvi) Epistemologien des Südens versuchen nun aber nicht, eine absolute Gegenposition zu rational-wissenschaftlichen Wissens- und Vorgehensweisen – beispielsweise in Bezug auf den Erhalt der Biodiversität – einzunehmen
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und wiederum gleichsam nur ein einziges Wissen gelten zu lassen (vgl. Santos/Meneses 2020a: xviii). Vielmehr käme es auf Versuche des Bauens von Brücken an, »bridges between comfort zones and discomfort zones and between the familiar and the alien in the fields of struggle against oppression« (ebd.). Um Brücken zwischen multiplen Wissens- und Seinsweisen entstehen zu lassen, müssten von der westlichen Moderne geprägte Denkvoraussetzungen zur Disposition gestellt werden, wodurch ein dekoloniales Um- und Verlernen derselben erst möglich würde. In Auseinandersetzung unter anderem mit dekolonialen Theorieansätzen sowie mit Gaston Bachelards (1978) Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, plädieren Obex und Forster (2021: 6) für die pädagogische Förderung epistemischer Neugier und sie argumentieren, dass diese Neugier für das wissenschaftliche Denken unabdingbar sei. Die Autor_innen vertreten die Position, dass es bei der wissenschaftlichen Bildung nicht einfach darum gehen könne, immer mehr Wissen zu akkumulieren, sondern dass der Fokus vermehrt darauf zu richten sei, wie eigentlich »gesellschaftlich relevantes Wissen produziert wird« (ebd.: 2), was von der Einsicht geleitet ist, »dass sich Wissen über die Gesellschaft nicht von seiner Produktion trennen lässt« (ebd.: 5). Gemäß Bachelard (1978: 46-58) käme es insbesondere darauf an, sich mit »Erkenntnishindernissen« auseinanderzusetzen und Versuche zu unternehmen, diese zu überwinden. Eine weitere Aufgabe bestünde außerdem im Folgenden: »die wissenschaftliche Bildung muß in einen Zustand permanenter Mobilisierung versetzt werden, an die Stelle des abgeschlossenen und statischen Wissens muß eine offene und dynamische Erkenntnis treten […]« (ebd.: 53). Wissensproduktionsprozesse seien demnach in ihrer grundlegenden Unabgeschlossenheit zu verstehen und im Anschluss an Bachelard impliziere eine epistemische Neugier nach Obex und Forster (2021), »sich nicht durch herrschende Ideen blockieren zu lassen und Fragen neu zu stellen. Erst das ermögliche die Entdeckung von Neuem. Andernfalls gerate der wissenschaftliche Geist zum Stillstand. Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes müsse Beunruhigungen und Umwälzungen zulassen. Wissenschaftliches Denken bewahrt nicht, sondern gestaltet.« (Ebd.: 6) Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Einwände gegen die ›Monokultur des wissenschaftlichen Wissens‹ (Santos 2016: 188) möchte ich den Bereich erweitern, in dem epistemische Neugier quasi zum Einsatz kommt respektive wo sie bedeutsam sein könnte. Ich denke hierbei insbesondere an stärker an Emotionen oder Spiritualität gebundene Erfahrungsweisen von
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Welt, die ebenfalls vom Bereich der Epistemologie tangiert werden und zwar insofern, als dass »[d]ie epistemische Dimension […] sich auf Erzählungen, Deutungsmuster, Begriffe und Kategorien [bezieht], die Erfahrungsräume und Handeln strukturieren sowie den Sinn unseres Tuns begründen« (Obex/ Forster 2021: 2). Neugier kann sich auch auf bislang unbekannte Erzählungen oder Deutungsmuster richten, die neue – etwa spirituelle oder emotionale – Möglichkeiten des Interagierens mit und Intervenierens in die Welt eröffnen. Neugier kann durch die schiere Vielfalt an Wissens- und Seinsweisen geweckt werden, die in der Welt existieren. Für die Multispezies-Theoretikerin Donna Haraway (2008: 36) geht Neugier sowohl mit einer gewissen Beunruhigung als auch mit einer Verpflichtung zur Sorge einher. Im Anschluss hieran lässt sich die Behauptung aufstellen, dass die Andersheit von Wissens- und Seinsweisen zugleich gewohnte Denkmuster aufbrechen und Neugier provozieren kann und dass in dieser Gleichzeitigkeit nicht zuletzt Sorge gegenüber dem Fremden wie dem Eigenen von Bedeutung zu sein scheint. Beunruhigung, Neugier und Sorge sind miteinander verwoben und sie schlagen sich als ethische Positionierung nieder, die »einer Haltung der Indifferenz, der Gleichgültigkeit […] diametral entgegengesetzt« (Scherrer i.E.) ist. Es ist auch eine solche Positionierung, die sich beunruhigen lässt und die auf Neugier und Sorge beruht, welche als Voraussetzung erachtet werden kann, um das eigene Denken und Handeln an Epistemologien des Südens auszurichten, um kognitive Dekolonialisierung voranzutreiben und für globale kognitive Gerechtigkeit sowie mehr Klimagerechtigkeit zu kämpfen. Unter Berücksichtigung dekolonialer Ansätze möchte ich vor diesem Hintergrund nachstehend den Versuch unternehmen, angesichts der globalen ökologischen Krisen Anstöße zum Denken von multiplen Zeitlichkeiten zu formulieren, die zugleich als Alternativen zu wie auch als Erweiterungen von weitverbreiteten Anthropozändiskursen gelesen werden können.
In anderen Zeithorizonten denken Die Lebensspanne eines einzelnen Menschen ist im Vergleich zu physikalischen, chemischen oder geologischen Prozessen aber auch zum Alter von bestimmten Tieren und Bäumen extrem kurz. Auch die Geschichte der Menschheit ist ungemein kürzer als die Geschichte anderer Lebewesen: Die biologische Geschichte von Organismen auf der Erde reicht 3,8 Milliarden Jahre zurück, wohingegen die Geschichte der Art Homo sapiens nicht viel älter als
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70 000 Jahre ist (vgl. Harari 2018: 11). »Vor 70 000 Jahren war der Homo sapiens ein unbedeutendes Tier, das in einer abgelegenen Ecke Afrikas seinem Leben nachging. In den folgenden Jahrtausenden stieg es zum Herrscher des gesamten Planeten auf und wurde zum Schrecken des Ökosystems« (ebd.: 507). So oder ähnlich lauten zahlreiche gängige Anthropozänerzählungen, in denen nachdrücklich darauf hingewiesen wird, dass ›die Menschheit‹ in relativ kurzer Zeit – mit steigender Intensität in den vergangenen paar Jahrzehnten – den Planeten in entscheidender Weise verändert und dass dies sowohl auf menschliche als auch auf nichtmenschliche Lebens- und Seinsweisen erhebliche negative Auswirkungen habe. Einige mit solchen Erzählungen verbundene Schwierigkeiten – insbesondere die implizierte problematische Vorstellung einer ›undifferenzierten Menschheit‹ (Schulz 2017: 49) – wurden weiter oben bereits benannt und sollen im Folgenden nicht mehr im Fokus stehen. Vielmehr werden nun die Fragen zu bearbeiten sein, welche weiteren Zeithorizonte in den Blick kommen können, wenn noch andere Sichtweisen auf die gegenwärtige globale Klimakrise eingenommen werden und was es folglich heißen könnte – unter Bezugnahme auf Epistemologien des Südens und also mit einer von epistemischer Neugier geprägten Haltung – in anderen Zeithorizonten zu denken. Zum Nachdenken in unterschiedlichen Zeithorizonten regt Gary Snyder (1990) in seinem Essayband The Practice of the Wild immer wieder an. In diesem Band finden sich unter anderem unzählige Denkanstöße, wie das sogenannte ›Wilde‹ oder auch ›die Wildnis‹ verstanden werden können. Hierbei ist Snyders Sichtweise keine ausschließlich von der westlichen Moderne geprägte und wie deutlich werden wird, sind insbesondere Kosmologien, Traditionen und Lebensweisen indigener Gemeinschaften Nordamerikas besonders bedeutsame Bezugspunkte seines Denkens. Die nachstehende Passage kann im Sinne einer Anknüpfung an die oben skizzierte »kurze Geschichte der Menschheit« (Harari 2018) und in gleichzeitiger Erweiterung von dominanten Erzählungen zum Anthropozän gelesen werden. Snyder (1990) berichtet von einem Besuch bei Erik Granquist, einem ›Paläotaxidermisten‹, der einen Bison aus dem Pleistozän präpariert hatte. Granquist erzählt dem Autor die Geschichte des Pleistozän-Bisons: Dieser soll während 36 000 Jahren im Permafrostboden konserviert gewesen sein und sei aufgrund von hydraulischem Bergbau schließlich entdeckt worden. Daraufhin schließt Snyder: »Western culture is very brief when measured against one time-transcending bison corpse, or the wandering calligraphy of a river down the Yukon flats, or the archaic circumpolar cosmopolitanism of the traditions that connect with the
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Kuuvangmiut people« (ebd.: 67f.). Zwischen den Zeilen macht der Autor auf vergangenes Unrecht – die den Kolonialismus begleitende Vernichtung der Bisonherden, die während sehr langer Zeit eine wichtige Lebensgrundlage für viele indigene Gemeinschaften gewesen sind – sowie auf gegenwärtig stattfindende gewaltvolle Praktiken wie den Extraktivismus des Bergbaus, die weitere Lebensgrundlagen der heute lebenden Gemeinschaften zerstören, aufmerksam. Unterschiedliche Zeitdimensionen werden aufgerufen, um an vergangenes und gegenwärtiges Leid für menschliche und nichtmenschliche Seinsweisen zu erinnern oder dieses überhaupt erst einmal in den Horizont des Denk- und Erinnerbaren zu rücken. Aufgrund des Erscheinungsjahres des Essaybandes von Snyder (1990) überrascht es nicht, dass darin an unterschiedlichen Stellen von der Ära des Holozäns die Rede ist. Vor drei Jahrzehnten war an den Begriff »Anthropozän« noch nicht zu denken. Es wird jedoch auch deutlich, dass das Nachdenken über Zusammenhänge zwischen sozialen und ökologischen Problemlagen bereits weit vor dem Aufkommen des Anthropozänbegriffs sehr tiefgründig war und Snyder gibt hierfür nur eines von unzähligen Beispielen ab. Vor dem Hintergrund der weiten Verbreitung des Anthropozändiskurses mutet es aus heutiger Perspektive dennoch etwas seltsam an, wenn vom Holozän als dem gegenwärtigen Erdzeitalter gesprochen wird und dies obwohl Debatten darüber, ob das Anthropozän tatsächlich als neue erdgeschichtliche Epoche ausgerufen wird, in internationalen stratigraphischen Fachgemeinschaften und Kommissionen nach wie vor laufen und bis jetzt also nicht definitiv darüber entschieden wurde, ob der begriffliche Vorschlag insbesondere von Paul J. Crutzen überhaupt angenommen wird (vgl. hierzu bspw. Zalasiewicz et al. 2010: 2228). Klar wird hieran jedenfalls, dass Begriffe eine spezifische Zeitlichkeit haben und dass sie aus einer bestimmten Zeit stammen. In diese Richtung geht auch die folgende Überlegung von Snyder (1990), der darauf hinweist, dass nicht nur Begriffe, sondern auch Quellen von Gedanken- und Bildwelten, die aus ›der Natur‹ herrühren, an spezifische Zeiten gebunden sind: »The immediate time frame of human experience is the climates and ecologies of the Holocene – the ›present moment,‹ the ten or eleven thousand years since the latest ice age. […] Animals as characters in literature and as universal presences in the imagination and in the archetypes of religion are there because they were there. Ideas and images of wastelands, tempests, wildernesses, and mountains are born not of abstraction but of expe-
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rience: cisalpine, hyperboreal, circumpolar, transpacific, or beyond the pale.« (Ebd.: 73) Erfahrungen von Dingen der Welt prägen Ideen und Denkweisen über solche Dinge und sie überdauern die Zeit. Gegenwärtige Erfahrungsweisen sind nicht unabhängig von Erfahrungen, die früher – von einem selbst oder auch von Vorfahren – gemacht wurden, an die man sich erinnern kann oder die von Generation zu Generation überliefert werden. Erfahrungsgebundenes Wissen ist an Dinge der Welt geknüpft; an Dinge nämlich, die in der Welt existieren (die da sind) oder existierten (die da waren). Tiere oder Pflanzen beispielsweise, die einmal da waren, können Gedanken- und Bildwelten weiterhin prägen und auch physisch können sie Zeiten gleichsam überdauern und zurückkehren, wie die Geschichte des Pleistozän-Bisons aufzeigt. Snyder (1990) konstatiert, dass ›die Wildnis‹ aufgrund (bisweilen nichtintendierter) zerstörerischer menschlicher Aktivitäten zwar vorübergehend verkomme und dass viele Lebensformen vernichtet würden, dass ›das Wilde‹ aber dennoch weiterhin Bestand haben werde (vgl. ebd.: 15). Ein ›wildes Gespenst‹ gehe auf dem ganzen Planeten um und mit Heimsuchungen aus der Vergangenheit müsse stets gerechnet werden. Dieses Gespenst sind etwa die Samenkörner möglicherweise längst vergessener Pflanzen: »[…] the millions of tiny seeds of the original vegetation are hiding in the mud on the foot of an arctic tern, in the dry desert sands, or in the wind. These seeds are each uniquely adapted to a specific soil or circumstance, each with its own little form and fluff, ready to float, freeze, or be swallowed, always preserving the germ.« (Ebd.) Snyders (1990) Überlegungen sind geprägt von einem Denken in Kreisläufen des Lebens und Sterbens, Zurückkehrens und Vergehens und des erneuten Aufkeimens und wieder Verwelkens. Dieses zyklische Verständnis von multiplen Zeitlichkeiten steht in einem Gegensatz zu einem linearen Zeitverständnis, das sich beispielsweise in »a largely uncritical faith in the notion of continually unfolding progress« (ebd.: 60) manifestiert.4 4
Eine zukunftsweisende Alternative zum westlichen Fortschritts- und Entwicklungsparadigma kann im lateinamerikanischen Konzept des Buen Vivir gesehen werden: »[…] the Buen Vivir grew out of indigenous struggles as they articulated with social change agendas by peasants, Afro-descendants, environmentalists, students, women, and youth. Echoing indigenous ontologies, the Buen Vivir implies a different philosophy of life which enables the subordination of economic objectives to the criteria of ecology,
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Wenngleich der Autor immer wieder das Zyklische betont, so wird doch auch klar, dass damit keineswegs ein Immer-so-weiter gemeint ist, womit die Vorstellung verbunden wäre, dass sich ›das Wilde‹ in der Zukunft quasi fortwährend automatisch erneuern wird, ganz gleich, was Menschen auch tun. Das Denken von multiplen Zeitlichkeiten erweist sich als äußerst komplex, was sich etwa an der nachstehenden Kritik Snyders (1990) am Missmanagement des U.S. Forest Service illustrieren lässt: Die Argumentation setzt mit der Feststellung ein, dass Wälder dauerhaft nachhaltig bewirtschaftet werden müssten, was jedoch gewisse Einschränkungen mit sich bringen würde, die mit ökonomischen Interessen unvereinbar seien. Vor diesem Hintergrund stellt der Autor fest, dass »erneuerbar« (engl. renewable) mit »nachhaltig« (engl. sustainable) verwechselt werde. Daraufhin wird Folgendes vorgebracht, das auch im Hinblick auf das Denken von Zeitlichkeiten interessant erscheint: »[…] just because certain organisms keep renewing themselves does not mean they will do so – especially if abused – forever […], and forever – the length of time a forest should continue to flourish – is changed to mean ›about a hundred and fifty years‹« (ebd.: 133). Das ökonomische Zeitdenken der Forstwirtschaft im Sinne eines »economic speed-trip of modern times (generating faster and faster logging rotations in the woods)« (ebd.: 134) wird dem relativ langsamen Wachsen von Bäumen, den »slow cycles« (ebd.) der Natur, gegenübergestellt und zugleich wird darauf hingewiesen, dass »für immer« offensichtlich nicht für alle dasselbe bedeutet. Das Denken in zyklischen Abfolgen von Leben und Sterben erfährt dann eine Wendung, wenn die Auslöschung von Spezies und die Verhinderung von zukünftiger Neuerung in den Blick kommen. Dann nämlich werden ›natürliche‹ Zyklen zerstört und Zukunft wird verunmöglicht: »A clearcut or even a mile-wide strip-mine pit will heal in geological time. The extinction of a species, each one a pilgrim of four billion years of evolution, is an irreversible loss. […] Death can be accepted and to some degree transformed. But the loss of lineages and all their future young is not something to accept.« (Ebd.: 176)
human dignity, and social justice. The debates about the form Buen Vivir might take in modern urban contexts and other parts of the world, such as Europe, are beginning to take place. Degrowth, commons, and Buen Vivir are ›fellow travelers‹ in this endeavor« (Escobar 2020: 51; vgl. hierzu auch Gudynas 2011; Walsh 2010).
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Über sehr lange Zeitspannen hinweg können gestörte Ökosysteme unter Umständen wieder zu einem neuen Gleichgewicht finden und neue Kreisläufe des Lebens und Sterbens pendeln sich mit der Zeit ein, aber dies ist mit der Irreversibilität des Aussterbens von Spezies nicht vergleichbar: »Death is one thing, an end to birth is something else« (Soule/Wilcox 1980: 8, zit.n. Snyder 1990: 176f.; Herv. i.O.). Mit Santos (2016) kann an dieser Stelle festgehalten werden: »The future is a luxury that only those with a more or less secure present can afford« (239). Epistemologien des Südens legen ein Denken in multiplen Zeitlichkeiten nahe und »the coexistence of different temporalities or durations in different knowledge practices demands an expansion of the temporal frame« (ebd.: 202). Hierbei geht es nicht zuletzt darum, sich an vergangenes Leid zu erinnern und gegenwärtiges Leid anzuerkennen. Dies ist mit Kämpfen verbunden, die zum Ziel haben, zukünftiges Leid zu verhindern und positive Zukunftsvisionen des Zusammenlebens auf der Erde zu generieren. In diesem Zusammenhang verweist Escobar (2020: 47) zum einen auf die Bedeutsamkeit eines Verständnisses von »Anzestralität« und zum anderen auf eine »Futurität«, wobei Letzteres von Ersterem nicht zu trennen ist: »Far from an intransigent attachment to the past, ancestrality stems from a living memory that orients itself to the ability to envision a different future – a sort of ›futurality‹ that imagines, and struggles for, the conditions that will allow them [elders and young activists, Anm. MS] to preserve as a distinct world« (ebd.).
Das Denken und Wissen anders denken Im Sinne eines kurzen Fazits möchte ich in diesem letzten Kapitel noch skizzieren, inwiefern eine Dekolonialisierung erziehungswissenschaftlicher Perspektiven auf das Anthropozän es erforderlich macht, nicht nur in multiplen Zeithorizonten zu denken, sondern ebenfalls das Denken und Wissen grundlegend anders zu denken. Angeleitet wird diese Überlegung von der folgenden Einsicht: »Wie wir die Welt wissen und in ihr Zusammenleben gestalten, bedingen sich gegenseitig« (Hanusch/Leggewie/Meyer 2021: 24; Herv. i.O.). Das Wissen über Dinge der Welt ist erfahrungsbasiert (vgl. Snyder 1990: 39, 73) und es hängt nicht zuletzt davon ab, welche Fragen gestellt werden. Das Fragenstellen läuft nicht automatisch ab, worauf Obex und Forster (2021) im An-
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schluss an Bachelard (1978) hinweisen: »Wer epistemisch denke, versteht Erkenntnis als Antwort auf eine Frage. Fragen stellen sich nicht von selbst, sie sind ein immanenter Bestandteil der Wissensproduktion in den Wissenschaften« (Obex/Forster 2021: 5). Wissenschaftliche Bildung hätte folglich damit zu tun, »die epistemische Neugier zu provozieren und theoretisches und praktisches Wissen über die Wissensproduktion zu erwerben« (ebd.: 6). Eine Dekolonialisierung spezifischer Denkvoraussetzungen ist für Veränderungen erziehungswissenschaftlicher Perspektiven auf das Anthropozän unerlässlich. Hierbei beziehe ich mich auf Kimmerer (2013: 6), die in ihrem Buch Braiding Sweetgrass: Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge and the Teachings of Plants die folgende Geschichte aus ihrem universitären Lehralltag erzählt: In ihrer Vorlesung »General Ecology« ließ sie die Studierenden einen Fragebogen ausfüllen. Diese wurden unter anderem gebeten, eine Einschätzung zu negativen Mensch-Umwelt-Interaktionen abzugeben. Beinahe alle 200 Student_innen waren sich sicher, dass Menschen und Natur »a bad mix« (ebd.) abgäben. Kimmerer ordnet ihre Gedanken hierzu wie folgt ein: »These were third-year students who had selected a career in environmental protection, so the response was, in a way, not very surprising. They were well schooled in the mechanics of climate change, toxins in the land and water, and the crisis of habitat loss. Later in the survey, they were asked to rate their knowledge of positive interactions between people and land. The median response was ›none‹. […] When we talked about this after class, I realized that they could not even imagine what beneficial relations between their species and others might look like. How can we begin to move toward ecological and cultural sustainability if we cannot even imagine what the path feels like?« (Ebd.) Diese Geschichte verdeutlicht, dass kognitive Dekolonialisierung (vgl. Santos 2018: 107-142) nicht nur bedeutet, zu verstehen, wie Wissen produziert wird. Die Studierenden in Kimmerers Vorlesung kennen sich in wissenschaftlichen Diskursen zu ökologischen Fragen bestens aus und sie verfügen über Methodenkenntnisse mittels derer sie forschend weiteres Wissen generieren können. Mindestens genauso wichtig wäre es im Rahmen einer kognitiven Dekolonialisierung, welche kognitive Gerechtigkeit zum Ziel hätte, dass in pädagogischen Settings Möglichkeiten zur Hinterfragung eigener Denkvoraussetzungen eröffnet werden und dass neben rational-wissenschaftlichen Vorgehensweisen zur Wissensproduktion etwa auch emotionalen und spirituellen Wissensweisen gerecht zu werden versucht würde. Für erziehungs-
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wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Anthropozän hieße dies außerdem, dass es nicht ausreicht, dominante Vorstellungen des MenschNatur-Verhältnisses zu problematisieren, vielmehr müsste auch traditionelles ökologisches Wissen (vgl. Kimmerer 2002) Berücksichtigung finden und für institutionalisierte pädagogische Praxis könnte unter anderem die folgende Einsicht Snyders (1990) leitend sein: »It’s not enough to be shown in school that we are kin to all the rest: we have to feel it all the way through« (68). Sowohl in der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung wie auch in der pädagogischen Praxis müssten Wege gefunden werden, um vielfältigen »Wissensökologien« (vgl. Santos 2016) im Zeitalter des Anthropozäns Rechnung tragen zu können. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, stets noch mehr Wissen anzuhäufen. Von einem wissensökologischen Standpunkt aus ist Nichtwissen Santos (2016: 188) zufolge keineswegs unbedingt immer ein Ausgangspunkt oder ein früheres Stadium. Nichtwissen »may well be a point of arrival, the outcome of the forgetfulness or unlearning implied in a learning process« (ebd.) und während Wissensproduktionsprozessen seien stets auch die Fragen zu stellen »if what one is learning is valid and if what one already knows should be forgotten or unlearned and why« (ebd.).
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Kinder ohne Kindheit? Plädoyer für die Dekolonisierung der Kindheitsforschung und Kinderrechtspraxis Manfred Liebel
Einleitung Kindheiten und Kinderrechte wurden bisher selten auf ihre Zusammenhänge mit Prozessen der Kolonialisierung und Dekolonisierung untersucht. Erste Ansätze entstanden unter dem Eindruck der »antiautoritären« Jugendrevolte der 1960er und 1970er Jahre. In seiner Auseinandersetzung mit autoritären Erziehungspraktiken plädierte der Schweizer Psychoanalytiker und Philosoph Gérard Mendel für die »Entkolonisierung des Kindes« (Mendel 1971; dt. 1973). Der österreichische Erziehungswissenschaftler Peter Gstettner wies in seiner Studie Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft (Gstettner 1981) erstmals auf die kolonialen Bezüge der im 19. Jahrhundert aufkommenden Kindheitsund Jugendforschung hin. In den seit den 1990er Jahren entstehenden »neuen sozialen Kindheitsstudien« wurde zwar eine »Dekonstruktion« des mit der bürgerlichen Gesellschaft in Europa entstandenen »westlichen« Kindheitsmusters gefordert (vgl. James/Prout [1990]1997; Hengst/Zeiher 2005), aber Zusammenhänge mit der Kolonialisierung anderer Kontinente und Völker wurden lange nicht beachtet. In diesem Beitrag werde ich der Frage nachgehen, in welcher Weise die Kindheitsforschung und Kinderrechtspraxis mit der Kolonialisierung und ihren postkolonialen Nachwirkungen verstrickt ist, die Notwendigkeit ihrer Dekolonisierung begründen und mögliche Wege skizzieren, wie diese zu erreichen ist. In einem Exkurs werde ich im Besonderen auf die Herausforderungen eingehen, die sich in dieser Hinsicht für die interkulturelle Bildung ergeben. Am Ende werde ich ausführliche einige sozialwissenschaftliche Forschungsansätze darstellen, die sich als methodologische Grundlage für eine
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dekolonisierte Kindheits- und Kinderrechtsforschung eignen. Zunächst gebe ich einen kurzen Überblick zur aktuellen Diskussion in der Kindheits- und Kinderrechtsforschung.
Zur gegenwärtigen Forschungslage Ein bahnbrechender, aber bis heute wenig rezipierter Beitrag zur Dekolonisierung der Kindheitsforschung war das Buch Childhood and Postcolonization: Power, Education, and Contemporary Practice, das die US-amerikanischen Erziehungswissenschaftlerinnen Gaile S. Cannella und Radhika Viruru nach der Jahrtausendwende veröffentlichten (Cannella/Viruru 2004). Darin versuchten die Autorinnen erstmals, grundlegende Gedanken aus den Postcolonial Studies selbst auf die Betrachtung der Kindheit zu übertragen. Der Ausgangspunkt der Überlegungen von Cannella und Viruru besteht darin, dass sich in den im Westen dominierenden Mustern von Kindheit die Hierarchisierungen und Trennungen reproduzieren, die aus postkolonialer Perspektive der europäischen Aufklärung und Moderne und ihrem Universalitätsanspruch angekreidet werden. Diese Kindheitsmuster seien das zeitgleich entstandene Produkt derselben Ideologien, die zur Rechtfertigung der kolonialen Expansion und Eroberungen gedient hätten. Dies drücke sich insbesondere in der parallelen Anwendung des Gedankens der Entwicklung von niederen zu höheren Graden der Vollkommenheit aus. Kindheit werde ebenso wie die nicht-europäischen Weltregionen und ihre Bewohner*innen am unteren Ende der Skala lokalisiert, was sich auch darin zeige, dass die der Kolonialisierung unterworfenen Menschen mit Kindern gleichgesetzt würden, die erst noch zu entwickeln seien. Die Kolonialisierung sei sogar im Namen der Kinder erfolgt, deren Seelen zu retten seien und deren Eltern dazu angehalten werden müssten, ihre Kinder »richtig« im Sinne der modernen Kindheitsvorstellungen zu erziehen. Wie die kolonialisierten Menschen in der ganzen Welt, würden auch die Kinder dazu genötigt, sich mit den Augen derer zu sehen, die über sie Macht haben, und es werde ihnen nicht gestattet, die Hierarchien der Beaufsichtigung, der Beurteilung und der Eingriffe in ihr Leben zurückzuweisen. Selbst zu einer Zeit, in der Diskussionen über Kinderrechte weit verbreitet sind, werde diese hierarchische Beziehung selten in Frage gestellt. Die Unterordnung der Kinder hat nach Auffassung der beiden Autorinnen deshalb so hartnäckig Bestand, weil sie durch »die wis-
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senschaftliche Konstruktion der Erwachsenen-Kind-Dichotomie« (ebd.: 109) untermauert und objektiviert werde (vgl. dazu auch Liebel 2017, 2020). Seit der Jahrtausendwende bildet sich neben der Kindheitsforschung eine Kinderrechtsforschung heraus, die beansprucht, unabhängig und kritisch zu sein sowie die Normen, Werte und Logiken der bisherigen Kinderrechtspraxis zu hinterfragen (vgl. Liebel 2021). Ihr Ausgangspunkt ist »die Unzufriedenheit mit dem dogmatischen Kinderrechts-Aktivismus und der Wunsch, über die intellektuelle Armut einer Kinderrechtsforschung hinauszugehen, die sich ausschließlich auf die Umsetzungslücke als einzige Herausforderung für die Kinderrechte konzentrierte« (Reynaert et al. 2015: 11). Damit wendet sich die kritische Kinderrechtsforschung gegen eine essentialistische Auffassung von Kinderrechten, die die UN-Kinderrechtskonvention als eine Art Bibel betrachtet und selbst nicht mehr auf ihre kulturellen und politischen Voraussetzungen hinterfragt, die sich z.B. in ihrem Kindheitsbild manifestieren. Ähnlich wie die neuen sozialen Kindheitsstudien sieht sie eine wesentliche Aufgabe darin, die Kinderrechte historisch zu kontextualisieren und zu untersuchen, was Kinderrechte in verschiedenen Handlungsbereichen bedeuten und wie die UN-Kinderrechtskonvention als wichtigste internationale Kodifizierung der Kinderrechte in ihrem historischen und kulturellen Kontext zu verorten ist (Quennerstedt 2013). Sie begreift die Kinderrechte selbst als ein Ergebnis soziopolitischer Konflikte und Bewegungen, das ständigem Wandel unterliege und immer wieder kritisch hinterfragt werden müsse (Reynaert et al. 2015). Im Laufe der Jahre sind hierfür Begriffe wie »Kinderrechte von unten« (Liebel 2009, 2012) oder »Living Rights« (Hanson/Nieuwenhuys 2013, 2020) geprägt worden, mit denen die Kinder selbst als Akteur*innen ihrer Rechte ins Zentrum gerückt werden. Dazu gehört auch, des westliche Muster der Kindheit zu hinterfragen, das durch die Globalisierung von oben in der Welt verbreitet wird. Demnach ist die Kindheit eine Lebensphase, die nicht nur strikt vom Erwachsenenleben getrennt ist, sondern auch einen sozialen Status hat, der dem der Erwachsenen untergeordnet ist. Ideologische Grundlage ist die Annahme, dass Kinder im Gegensatz zu Erwachsenen nicht über die nötige Rationalität und Fähigkeiten verfügen, um eigene Entscheidungen zu treffen, insbesondere wenn diese das Leben der Erwachsenen beeinflussen. Von Kindern wird deshalb angenommen, sie müssten in erster Linie geschützt und vorbereitet werden, während die Erwachsenen als vollständige, rationale und kompetente Personen dargestellt werden.
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Ich gehe von der Grundthese aus, dass das neuzeitliche, westliche Kindheitsmuster eine koloniale Konstruktion im dreifachen Sinne ist: a) Es ist der kolonialen Beziehung nachempfunden; b) Es dient der Rechtfertigung kolonialer Eroberung; c) In der postkolonialen Ära dient es dazu, andere Kindheiten, die von der westlichen Norm abweichen, unsichtbar zu machen oder sie als »abweichend« und »rückständig« erscheinen zu lassen. Ich werde meine These mit Blick auf die historischen Epochen des Kolonialismus und Postkolonialismus veranschaulichen und am Ende Fragen der Dekolonisierung mit Bezug auf Kindheiten, Kinderrechte und Kindheitsforschung diskutieren.
Kolonialismus und Kindheiten Es besteht eine negative Dialektik zwischen der Erfindung des westlichen Musters der Kindheit und der europäischen Kolonialisierung außereuropäischer Gebiete und Bevölkerungen. Das westliche Muster der Kindheit entwickelte sich zeitlich parallel zur Kolonialisierung. Es ist als eine Form der Eroberung eines fremden, unbekannten, leeren, natürlichen und unzivilisierten Territoriums konstruiert. In diesem Sinne wurde die Kindheit von dem liberalen Philosophen John Locke ([1690]2008) als »tabula rasa« oder unbeschriebenes Blatt und einige Jahrzehnte später von Jean-Jacques Rousseau ([1755]2010; [1762]1990) als »reine Natur« im Sinne des »edlen Wilden« konzipiert. Der koloniale Blick prägte seit dem 19. Jahrhundert auch die Anfänge der Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaften im Allgemeinen sowie der Kindheits- und Jugendwissenschaften im Besonderen. In seinen Vorlesungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnete Émile Durkheim, einer der Väter der positivistischen Soziologie, Kinder als »Primitive« und »Wilde«, die die soziale Ordnung der modernen Gesellschaft gefährden. Ihm zufolge müssen sie daher von frühester Kindheit an streng »moralisch« erzogen werden, insbesondere durch die Schule (Durkheim [1902/03]1984). In Bezug auf Kinder sprach der einflussreiche US-amerikanische Soziologe und Sozialisationstheoretiker Talcott Parsons in seinem Hauptwerk The Social System von einer »barbarian invasion« (Parson [1951]1991: 143) im Sinne des unablässigen Zustroms neu in sie hineingeborener Mitglieder. Das westliche Kindheitsmuster basiert auf zwei materiell-historischen Voraussetzungen:
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1. Die Ausbeutung der kolonialisierten Gebiete und Völker schafft die materiellen Ressourcen, um Kinder von der Verantwortung für die Produktion und Reproduktion menschlichen Lebens zu trennen und sie einem besonderen sozialen Raum zuzuordnen. Dieser Sozialraum wird im Rahmen der bürgerlichen Familie privatisiert (»Familienkindheit«) und im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft institutionalisiert und pädagogisiert (»Schulkindheit«). 2. Die sich gleichzeitig herausbildende kapitalistische Produktionsweise mit ihren destruktiven Tendenzen macht es notwendig, Kinder vor vorzeitiger Zerstörung zu schützen und sie als zukünftige Arbeitende und Soldaten zu erhalten und vorzubereiten. Dies geht Hand in Hand mit der Entstehung von Nationalstaaten, die die nachfolgenden Generationen als »nationales« Entwicklungspotential betrachten und sie in der sozialen Form der »entwicklungsbezogenen Kindheit«, meist vermittelt durch die Einführung der Schulpflicht, institutionalisieren.
Der ideelle Hintergrund dafür ist die im bürgerlichen Recht objektivierte Vorstellung vom selbstverantwortlichen, autonomen, rationalen Individuum, das aus sich selbst heraus existiert und sich selbst kontrolliert und beherrscht, nach John Stuart Mill ([1859]2011) der »Preis für die Zivilisation«. Diese Vorstellung unterscheidet sich grundlegend von der Vorstellung, dass alle Individuen von Geburt an soziale Wesen sind, die wechselseitig und intersubjektiv aufeinander angewiesen sind und sich aufeinander beziehen. Das westliche Muster der Kindheit wird seinerseits instrumentalisiert, um die koloniale Eroberung zu rechtfertigen. Die eroberten Völker wurden zu Kindern erklärt, ergo »infantilisiert«. So erklärte z.B. Hegel ([1822]1986) in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Afrika zum »Land der Kindheit«, verstanden als Gebiet, das keine Geschichte hat und reiner Naturzustand ist. Dies ermöglicht es den europäischen Kolonialmächten, sich als Retter zu inszenieren (untermauert durch die christliche Heilslehre), die die »Last des weißen Mannes« (Kipling 1899) auf sich nehmen, um die »Naturvölker« aufzuklären und zu zivilisieren. In diesem Sinn verstand und rechtfertigte sich der Kolonialismus als ein Erziehungsprojekt (vgl. Osterhammel/ Jansen 2012: 115). Diese Selbstinszenierung des Kolonialismus verschleierte, dass es um Herrschaft, Kontrolle und Ausbeutung ging. Die Kategorie der Kindheit wurde auf die kolonisierten Völker in dem Sinne angewandt, dass sie von den Kolonialherren in Reservaten (euphemistisch, in Anlehnung an das
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Kindheitsmuster, auch als »Protektorate« bezeichnet) abgesondert und dort einem Leben im Elend überlassen wurden, das wiederum ihre wirtschaftliche Ausbeutung erleichterte. Indem man die kolonisierten Völker insgesamt als Kinder bezeichnete, erübrigte sich eine besondere Berücksichtigung der Kinder dieser Völker als »Kinder«, die nach westlichem Modell Anspruch auf eine »Kindheit« hätten. Sie wurden ebenso ausgebeutet wie Erwachsene unter dem scheinheiligen Rückgriff auf die in nicht-westlichen Kulturen übliche Einbeziehung von Kindern in Prozesse der »geteilten Verantwortung«. Das westliche Muster von Kindheit wird erst in der postkolonialen Phase auf sie angewandt und zum Maßstab ihres Entwicklungsstandes gemacht. Eine Sonderbehandlung wurde Kindern zugedacht, die nicht den von den Kolonialmächten festgelegten Maßstäben von Normalität entsprachen. Dies galt insbesondere für indigene Kinder und solche, die als eine Art Kollateralschaden aus der Begegnung der Eroberer (weiße Männer, manchmal auch Kirchenleute) mit den eroberten indigenen und versklavten Frauen hervorgingen. Selbst die Kinder in den kolonialen Metropolen selbst, die als nutzlos galten, weil sie zu sehr von den Normalitätsmaßstäben der westlichen bürgerlichen Kindheit abwichen, wurden einfach in die Kolonialgebiete deportiert, dort (manchmal mit Hilfe von Wohlfahrtsorganisationen) als billige Arbeitskräfte ausgebeutet und gleichzeitig als »weiße« Bevölkerungsreserve für die Europäisierung der Kolonialgebiete genutzt (vgl. Liebel 2017: 162ff.).
Kindheiten unter den Bedingungen von Postkolonialismus und Kolonialität Postkolonialismus verstehe ich hier mit Sarada Balagopalan (2019: 20), als die »koloniale Vergangenheit in der Gegenwart«. Die koloniale Vergangenheit hinterlässt viele Spuren in den ehemaligen Kolonialgebieten und setzt sich in verschiedenen Formen in der Ungleichheit der Machtverhältnisse zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden fort. Dekoloniale Perspektive bedeutet in diesem Zusammenhang, diese Spuren und Formen aufzudecken und ihnen entgegenzuwirken. Die postkoloniale Machtkonstellation wird damit theoretisch und praktisch infrage gestellt. Ich beziehe mich in erster Linie auf dekoloniale Ansätze, die sich seit den 1990er Jahren in Lateinamerika herausgebildet haben. Einer der wichtigsten Ansätze geht auf den peruanischen Soziologen Anibal Quijano (2000, 2008) zurück. Quijano spricht von der Kolonialität der Macht und sieht diese in engem
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Zusammenhang mit dem, was er Kolonialität des Wissens nennt. Die Kolonialität der Macht hat somit eine materielle und epistemologische Dimension. Die materielle Dimension spiegelt sich darin wider, dass auch nach dem Ende des Kolonialismus der Machtunterschied und die materielle Ungleichheit zwischen den ehemaligen Metropolen und den kolonialisierten Gebieten ungebrochen bleiben. Die Ungleichheit hat andere, weniger sichtbare Formen angenommen, aber sie hat sich nicht verringert. Nach den verfügbaren Wirtschaftsdaten war die materielle Ungleichheit zwischen verschiedenen Teilen der Weltbevölkerung noch nie in der Geschichte der Menschheit so groß wie heute. Obwohl die Armut relativ zurückgegangen ist und die Kindersterblichkeit gesunken ist, hat die absolute Zahl der Menschen in prekären Lebenslagen zugenommen (vgl. UNDP 2019; World Inequality Lab 2018; Kaltmeier 2020a; Piketty 2020). Die Folgen der Klimakatastrophe, verursacht durch die extraktivistische kapitalistische Wirtschaft und die imperiale Lebensweise, betreffen die Menschen im Süden ebenfalls viel stärker als im Norden (vgl. Brand/Wissen 2017). Wenn auch bedacht wird, dass in den Ländern des Südens der Bevölkerungsanteil der Kinder viel größer ist als in den nördlichen Teilen der Welt, lässt sich vorstellen, dass Kinder noch stärker von materieller Ungleichheit und Machtungleichgewicht betroffen sind. Die postkolonialen Auswirkungen lassen sich daran ablesen, dass für die meisten Kinder des Globalen Südens • • • • •
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ihr Leben einen geringeren Wert hat, ihre Lebensgrundlagen zerstört werden (zur materiellen Armut verurteilt, die durch die Klimakatastrophe noch verschärft wird), sie einer stärkeren wirtschaftlichen Ausbeutung ausgesetzt sind, ihre Lebenserwartung und Lebenschancen geringer sind (was sich in der Corona-Krise sogar noch verschärft), ihre Mobilität stark eingeschränkt ist (ihre Pässe sind weniger wert, wenn sie überhaupt zugänglich sind) oder sie unter Lebensgefahr zur Flucht gezwungen werden, sie auf Feindseligkeit stoßen, entwürdigt und aufgrund ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft und Hautfarbe ausgeschlossen werden.
Diese Auswirkungen können jedoch nicht ohne die Kolonialität des Wissens verstanden werden. Sie besteht darin, dass bestimmte Denk- und Wissensweisen, die sich während der Kolonialzeit in Europa entwickelt haben, als die einzig wahren und gültigen behauptet und den Menschen in den ehemals
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kolonialisierten Gebieten gewaltsam aufgezwungen werden. Einige Autor*innen (Spivak [1988]2008; Santos 2018a, 2018b) sprechen in diesem Zusammenhang von »epistemischer Gewalt«. Menschen indigener Herkunft und die Nachfahren der aus Afrika deportierten Sklav*innen werden aufgrund ihrer Lebens- und Denkweise als rückständig und als ein Hindernis für den Fortschritt angesehen. Abwertung wird oft, aber nicht immer, mit sichtbaren Merkmalen wie der Hautfarbe in Verbindung gebracht. Sie ist seit langem explizit und wird immer noch implizit durch die vermeintliche Existenz verschiedener menschlicher Rassen legitimiert. Um dem entgegenzuwirken, muss die materielle mit einer epistemologischen Dekolonisierung einhergehen. Sie bestünde darin, sich um das Wissen zu kümmern, das bislang als Nicht-Wissen betrachtet wurde; das Wissen nicht in Form von Universalien, sondern in einer pluralen Weise von den kolonialen Unterschieden her zu verstehen und neue Orte des Wissens innerhalb und außerhalb der Universität zu denken (Walsh 2004, 2007; Pulido 2009; Santos 2010, 2018a, 2018b). Um mit Blick auf Kinder diese Veränderungen zu erreichen, sind meiner Meinung nach drei Handlungsweisen geboten: • • •
die Dekolonisierung der Kindheiten, die Dekolonisierung der internationalen Kinderrechtspraxis und Kinderpolitik, die Dekolonisierung der Kindheits- und Kinderrechtsforschung.
Nach einer Skizzierung dieser Handlungsweisen werde ich am Ende Forschungsansätze ausführlicher vorstellen, die hierfür besonders geeignet sind.
Dekolonisierung der Kindheiten Unter Dekolonisierung verstehe ich, der Kolonialität der Macht sowohl in ihren materiellen als auch in ihren diskursiven Manifestationen entgegenzuwirken. Dazu gehört die Erkenntnis, dass es in der Welt keine »Kinder ohne Kindheit« gibt, sondern eine große Vielfalt von Kindheiten. Indem diese Vielfalt ignoriert oder durch eurozentrische Voreingenommenheit unsichtbar gemacht wird, werden viele »Kinder, die fehl am Platz sind« (children out of place), geschaffen, mit mehrfachen diskriminierenden Folgen. In diesem Sinne reicht es nicht aus, nur die kulturelle Vielfalt oder Pluralität von Kind-
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heiten zu benennen, sondern es muss anerkannt und problematisiert werden, dass diese Kindheiten auf verschiedene Weise von postkolonialer materieller und diskursiver Ungleichheit betroffen sind. Die indische Sozialforscherin Sarada Balagopalan (2019: 25) stellt zum Beispiel fest, dass »die Inanspruchnahme einer ›kulturellen‹ Erklärung für die Unterschiede, die das Leben der Kinder kennzeichnen, bestenfalls eine Antwort in Form von ›Respekt für ihre Kultur‹ hervorruft, eine Antwort, die wenig dazu beiträgt, die Hegemonie einer modernen westlichen Kindheit zu destabilisieren«. Sie hält es stattdessen für notwendig, das Leben der Kinder im Zusammenhang größerer globaler wirtschaftlicher Strukturen und Veränderungen zu analysieren. »Diese Einbettung des kulturell eigenständigen Lebens von Kindern in globale Wirtschaftsprozesse ermöglicht uns, Verschiebungen in alltäglichen Mustern zu erkennen, die zeigen, wie globale Realitäten lokale Kulturen beeinflussen und wie diese Kulturen sich anpassen, widerstehen, Neues aufgreifen und diese Veränderungen auch wünschen« (ebd.:18). Die Kolonisierung der Kindheiten ist ein mehrdimensionaler Prozess, der das ungleiche Machtverhältnis zwischen verschiedenen Altersgruppen sowie andere Aspekte der sozialen Ungleichheit umfasst, die auch für und zwischen Erwachsenen und zwischen Kindern aus verschiedenen Verhältnissen gelten. Aus einer dekolonialen Perspektive ist dies vor allem das ungleiche Nord-SüdVerhältnis, das die Lebenschancen ungleich verteilt und das durch Benachteiligungen aufgrund rassistischer, paternalistischer und sexistischer Stereotypen verstärkt wird. Benachteiligungen haben materielle und ideologische Gründe, die wiederum im realen Leben miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig verstärken können. Wichtig ist meines Erachtens auch, zu erkennen, dass verschiedene Kindheiten nicht isoliert voneinander existieren und dass sie nicht absolut verschieden sind und nicht voneinander abgegrenzt werden können. Sie sind das langfristige Ergebnis wirtschaftlicher, politischer und kultureller Prozesse und verändern sich im Laufe der Zeit. Diese Veränderungen und gegenseitigen Einflüsse haben sich mit der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung verstärkt. Aber sie haben nicht zu einer einheitlichen globalen Kindheit geführt, sondern zu vielen miteinander verflochtenen, »hybriden« globalisierten Kindheiten, die sich ihrerseits ständig verändern. Diese Veränderungen finden unter ungleichen Voraussetzungen statt, die bei der Dekolonisierung der Kindheiten berücksichtigt werden müssen. Die Dekolonisierung erfordert daher mindestens zwei Ansätze:
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Überwindung der materiellen Gründe für die soziale Ungleichheit, Benachteiligung und Ausgrenzung der Kinder des Globalen Südens, die auf ungleichen wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen beruhen; Ersetzung der Vorherrschaft des euro-westlichen Kindheitsmusters als Maß für eine »richtige« oder »gute« Kindheit durch die gleichberechtigte Anerkennung aller sozio-kulturellen Formen von Kindheit. Diese Anerkennung ist jedoch nicht nur als ein tolerantes Zugeständnis an die Pluralität der Kindheiten zu verstehen, sondern muss das Ergebnis von interkulturellem Austausch und gegenseitigem Lernen auf gleicher Augenhöhe sein.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wer die Subjekte des Dekolonisierungsprozesses der Kindheiten sind oder sein könnten. Gemäß der Prämisse, dass Dekolonisierung nicht als »tolerantes« Zugeständnis der Kolonisatoren an die Kolonisierten zu verstehen ist, muss den Kindern des Globalen Südens selbst dabei eine zentrale Rolle zugestanden werden. Dies ist nicht nur ein spekulativer Wunsch, sondern findet seine Entsprechung in der gesellschaftlichen Realität. Da Kinder in nicht-westlichen Kulturen schon früh Mitverantwortung übernehmen, werden sie früher mit der sozialen Wirklichkeit konfrontiert als Kinder in westlichen Gesellschaften und sehen sich von ihr herausgefordert, aktiv zu werden und sich einzumischen. Dies kommt in sozialen Bewegungen zum Ausdruck, an denen Kinder teilnehmen oder eine unabhängige, oft treibende Rolle spielen (vgl. Rodgers 2020). So können sie auch über den Globalen Süden hinaus zu Vorbildern für Kinder werden und zur »Provinzialisierung« des bisher vorherrschenden euro-westlichen Kindheitsmusters beitragen.
Dekolonisierung der internationalen Kinderrechtspraxis und Kinderpolitik Die internationale Kinderrechtspraxis und -politik ist heute oft selbst Bestandteil der Kolonisierung der Kindheiten. Trotz ihres Anspruchs, der sozialen Benachteiligung und Diskriminierung der Kinder des Globalen Südens entgegenzuwirken, trägt sie durch die Vormachtstellung ihrer organisierten Akteure (Regierungen, UNICEF, ILO, INGOs), die ihren Hauptsitz im Norden haben und über die größeren materiellen Ressourcen verfügen, dazu bei, ihre Maßstäbe einer »guten« Kindheit absolut zu setzen. Dies führt oft selbst zur
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Abwertung und Marginalisierung der Kinder des Globalen Südens (z.B. in Kampagnen zur »Abschaffung der Kinderarbeit«). Kinderrechte werden oft in einer Weise verstanden, die den »Kooperationspartnern« und vor allem den betroffenen Kindern wenig Spielraum für eigene Interpretationen lässt. Aus diesem Grund werden Kinderrechte, insbesondere Partizipationsrechte, in den Regionen des Südens oft als aufgezwungenes Importprodukt verstanden und, wenn überhaupt, nur widerwillig aufgegriffen. Dazu trägt die Tatsache bei, dass in der Kinderrechtskonvention das euro-westliche Kindheitsmuster dominiert (vgl. Cordero Arce 2012, 2015). Sicherlich lassen sich nicht alle Akteure in einen Topf werfen, und auch im Norden zeichnen sich Lernund Veränderungsprozesse ab, aber die Dominanz westlicher Akteure in der internationalen Kinderrechtspraxis und Kinderpolitik bleibt bisher bestehen. Um diesem eurozentrischen Bias zu begegnen, müssen Kinderrechte kontextspezifisch und kultursensibel verstanden und praktiziert werden. Anstatt die Kinder des Globalen Südens als hilflose und bedürftige Adressaten paternalistischer Interventionen zu behandeln, wie es noch immer üblich ist, müssen ihre spezifischen Erfahrungen und Kompetenzen ernst genommen und ihnen muss die Möglichkeit gegeben werden, auf die Politik und die Maßnahmen von Regierungen und internationalen Organisationen entscheidend Einfluss zu nehmen. Es ist auch wichtig, mit Kindern zusammenzuarbeiten, um die strukturellen Bedingungen und Politiken anzugreifen, die für die Benachteiligung und Diskriminierung von Kindern verantwortlich sind. Diese Bedingungen finden sich nicht nur im Süden, sondern sind selbst Teil der postkolonialen Dominanz des Globalen Nordens. Ähnlich wie bei der Dekolonisierung der Kindheiten kommt es auch bei der Dekolonisierung der Kinderrechtspraxis und Kinderpolitik darauf an, die eigene Vormachtstellung und die eigenen Standards zu hinterfragen und zum Gegenstand eines kritischen und dekolonial orientierten interkulturellen Dialogs zu machen, in dem auch die Ansichten der Kinder des Globalen Südens zum Zuge kommen. Dies wäre der beste Weg, um die soziale Position der Kinder zu stärken und sie dabei zu unterstützen, Diskriminierung auf kollektive und organisierte Weise zu bekämpfen. Da hierbei der interkulturellen Bildung besondere Bedeutung zukommt, werde ich in einem Exkurs genauer darauf eingehen.
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Exkurs zu kritischer interkultureller Bildung Bei der interkulturellen Bildung ist es wichtig, zwischen funktionaler und kritischer Interkulturalität zu unterscheiden. Bei dieser Unterscheidung und ihrer Bedeutung für die interkulturelle Bildung beziehe mich auf die neuere Debatte in Lateinamerika. Sie geht auf einen Vorschlag des peruanischen Philosophen Fidel Tubino (2005) zurück und wurde vor allem von der ecuadorianischen Erziehungswissenschaftlerin Catherine Walsh (2007, 2009, 2013) weiter ausgearbeitet. Tubino stellte den ideologischen Charakter der offiziell propagierten Interkulturalität heraus, da sie auf einem ungleichen, mit Diskriminierungen verbundenen Machtverhältnis beruhe: »Soziale Asymmetrie und kulturelle Diskriminierung machen einen authentischen interkulturellen Dialog unmöglich. Deshalb sollten wir nicht mit dem Dialog beginnen, sondern vielmehr mit der Frage nach den Bedingungen des Dialogs. Oder, genauer gesagt, es ist notwendig zu fordern, dass der Dialog zwischen den Kulturen in erster Linie ein Dialog über die wirtschaftlichen, politischen, militärischen und anderen Faktoren ist, die gegenwärtig den offenen Austausch zwischen den Kulturen der Menschheit behindern. Diese Forderung ist heute unerlässlich, wenn wir nicht in die Ideologie eines de-kontextualisierten Dialogs verfallen wollen, der lediglich dazu dient, die Eigeninteressen der herrschenden Zivilisation zu begünstigen, ohne die Asymmetrie der Macht in Frage zu stellen, die in der heutigen Welt herrscht. Für einen authentischen Dialog ist es notwendig, zunächst die Ursachen des Nicht-Dialogs sichtbar zu machen, was einen sozialkritischen Diskurs erfordert« (Tubino 2005: 5). Tubino bezeichnet diesen Scheindialog als funktionale Interkulturalität, da sie allein den Interessen der herrschenden Eliten diene. Walsh sieht darin eine neue multikulturelle Logik des globalen Kapitalismus. Diese erkenne kulturelle Vielfalt zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen zwar an, beschränke die Anerkennung aber auf eine abgesonderte kulturelle Sphäre, ohne die Machtverhältnisse in anderen gesellschaftlichen Sphären davon berühren zu lassen. Die Anerkennung werde auf diese Weise zu einer neuen Herrschaftsstrategie, die nicht auf die Schaffung gerechter und egalitärer Gesellschaften abzielt, sondern auf die Befriedung und Kontrolle ethnischer Konflikte zur Erhaltung der sozialen Stabilität. Die wirtschaftlichen Imperative des (neoliberalen) Modells der kapitalistischen Akkumulation sieht sie dadurch ge-
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fördert, dass historisch bislang ausgeschlossene Gruppen in sie »inkludiert« werden. Demgegenüber greift die von Tubino und Walsh konzipierte kritische Interkulturalität die Probleme machtförmiger Ungleichheit auf und enthüllt deren Reproduktion durch rassistisch legitimierte Ausgrenzungen und Diskriminierungen. Sie beansprucht, von den Interessen der Menschen auszugehen, die im Gefolge der Kolonialisierung und ihrer postkolonialen Nachwirkungen unterworfen, marginalisiert und ausgegrenzt wurden. Walsh versteht sie als ein pädagogisches Mittel, das die bestehenden Machtmuster kontinuierlich hinterfragt sowie unterdrückte und verborgene Seins-, Lebens- und Wissensweisen sichtbar macht und fördert. Damit setze sie neue »grenzüberschreitende« Hoffnungen und Träume frei und trage zur Dekolonisierung und Demokratisierung der sozialen Verhältnisse und Beziehungen bei. Es geht in diesem Konzept also nicht nur um kulturelle Vielfalt und Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten, sondern um einen fundamentalen Umbau der Gesellschaft im Hinblick auf die Verwirklichung sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit auf allen politischen Ebenen und in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die brasilianische Erziehungswissenschaftlerin Vera Maria Ferrão Candau (2013) erweitert die Diskussion des Spannungsverhältnisses zwischen funktionaler und kritischer Interkulturalität um weitere Dimensionen. Zunächst stellt sie der »Interkulturalität für einige« die »Interkulturalität für alle« entgegen. Insoweit Interkulturalität nur als eine spezifische Schulbildung für indigene Gruppen praktiziert werde, bleibe sie ein einseitiges und funktionales Projekt, über das »Andersartige« in die nationale Gesellschaft, so wie sie ist, integriert werden sollen. Kritische Interkulturalität zeichne sich dagegen dadurch aus, dass die Gesellschaft insgesamt ihr bisher dominierendes eindimensionales Selbstverständnis aufgebe und alle Kulturen und damit verbundene Lebens- und Produktionsweisen denselben Rang einnehmen. Dies kann z.B. in der Konstruktion eines plurinationalen Staates mit dezentralen demokratischen Entscheidungsstrukturen oder in der Gleichrangigkeit aller in der Gesellschaft gesprochenen Sprachen zum Ausdruck kommen. Aus dem Nebeneinander muss allerdings ein Miteinander werden, in dem alle bereit sind, sich aufeinander einzulassen und voneinander zu lernen. Auch die koloniale Geschichte muss neu geschrieben und bewertet werden. Eine weitere zu bedenkende Dimension sieht Ferrão Candau darin, ob Interkulturalität nur als eine Form von Bildung oder auch als politisches Pro-
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jekt verstanden wird. Werde Interkulturalität nur als Bildung verstanden, beschränke sie sich darauf, einige »additive« Inhalte einzuführen, ohne das als »gemeinsame Kultur« betrachtete und als »universell« geltende Wissen und die damit verbundenen Werte in Frage zu stellen. Dementsprechend betont sie die Notwendigkeit, verschiedene Bereiche der Gesellschaft wie Recht, Gesundheit, Umwelt, Wirtschaft, kulturelle Produktion und Politik nach neuen von allen geteilten Prinzipien zu gestalten. In dieser Perspektive geht es um den Aufbau staatlicher Strukturen, die nicht nur multikulturell und mehrsprachig sind, sondern plurinational mit dezentralen demokratischen Entscheidungsstrukturen einhergehen. In den letzten Jahren wird, so Ferrão Candau, in einigen Ländern auch der Begriff der Intrakulturalität diskutiert, allerdings in verschiedener Weise. Für einige gelte sie im Sinne der Stärkung der eigenen kollektiven Identität als Voraussetzung dafür, interkulturelle Prozesse überhaupt erst möglich zu machen. Andere verstünden darunter die Notwendigkeit, eine dynamische Vision der eigenen Kultur zu haben und dabei eine essentialistische und ahistorische Perspektive zu vermeiden, die kulturelle Traditionen als homogen und unveränderbar festschreibt. Die Beziehung zwischen Interkulturalität und Intrakulturalität sieht sie nicht als Abfolge, sondern als einen aufeinander bezogenen Prozess. Sie betont, dass Interkulturalität, um authentisch zu sein, auf einer egalitären Grundlage stattfinden muss. Dies mache es unter Umständen erforderlich, diejenigen Gruppen, die eine größere Bestätigung ihrer Identität benötigen, zu stärken, sodass Gleichheit in derselben interkulturellen Interaktion konstruiert und bekräftigt werden kann. Die Betonung von Interkulturalität könnte sich auch als Falle erweisen, wenn übersehen wird, dass der angestrebte Dialog in einer Konstellation extremer sozioökonomischer Ungleichheit stattfinden soll, die weiterhin die Lage in allen lateinamerikanischen Ländern bestimmt. Sonst könnte die radikale Herausforderung des Kontinents aus dem Blick geraten: die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit. Andererseits fragt Ferrão Candau aber auch, ob es heute möglich ist, die Fragen der Ungleichheit von denen der Differenz zu trennen. Die Armut in den lateinamerikanischen Ländern sieht sie eng verbunden mit rassistischer oder ethnischer Diskriminierung und Ausgrenzung. Wenn dies bedacht werde, sei es aus der Perspektive einer kritischen Interkulturalität eine Forderung der Gegenwart, den von Nancy Fraser (2011) akzentuierten Unterschied zwischen Umverteilung und Anerkennung im Auge zu behalten.
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Dies wird auch von Catherine Walsh betont, wenn sie schreibt: »Das Konzept der Interkulturalität ist von zentraler Bedeutung für die (Re-)Konstruktion eines ›anderen‹ kritischen Denkens aus drei Hauptgründen: erstens, weil es aus der gelebten Erfahrung der Kolonialität, d.h. aus der indigenen Bewegung, konzipiert, gelebt und gedacht wird; zweitens, weil es ein Denken widerspiegelt, das nicht auf den eurozentrischen Vermächtnissen oder der Moderne beruht, und drittens, weil es seinen Ursprung im Süden hat und damit eine Wende zur dominanten Geopolitik des Wissens herbeiführt, die ihr Zentrum im globalen Norden hatte« (Walsh 2005a: 25). Deshalb, so Walsh (2012) in einem neueren Text, müsse »Interkulturalität als ein Entwurf und Vorschlag der Gesellschaft verstanden werden, als ein politisches, soziales, epistemisches und ethisches Projekt, das auf strukturelle und sozio-historische Veränderungen abzielt und auf dem Aufbau einer radikal anderen Gesellschaft beruht. Eine Transformation und Konstruktion, die nicht in Äußerung, Diskurs oder reiner Imagination verbleibt, sondern im Gegenteil in jeder sozialen, politischen, bildenden und menschlichen Instanz Handlungen erfordert.« Deshalb hält es auch Ferrão Candau für unverzichtbar, eine interkulturelle Perspektive zu entwickeln, die die Beziehungen zwischen den politischen, ethischen, pädagogischen und epistemologischen Dimensionen des Handelns sowie die Zusammenhänge von Umverteilung und Anerkennung mitbedenkt. Um die interkulturelle Bildung im Sinne kritischer Interkulturalität zu fördern, müssen die Vorurteile und Diskriminierungen angegriffen werden, die auf diffuse und subtile Weise alle sozialen Beziehungen (nicht nur) in den lateinamerikanischen Ländern durchdringen. Vereint zu sein als »Bürger*innen« eines Staates gilt als eine Komponente, die dieses Problem weitgehend unsichtbar und besonders komplex macht. Das dichte Netz von Stereotypen und Vorurteilen, das die individuelle und kollektive Vorstellungswelt in Bezug auf die verschiedenen soziokulturellen Gruppen prägt, muss »denaturalisiert« und dekonstruiert werden. Des Weiteren müssen die monokulturelle Ideologie und der Ethnozentrismus, die explizit oder implizit in der Schule, in der Bildungspolitik und in den Lehrplänen enthalten sind, infrage gestellt werden. Das heißt, es müssen die Kriterien hinterfragt und aufgedeckt werden, die zur Auswahl und Rechtfertigung der gegenwärtigen Schulinhalte verwendet werden, und die vermeintliche »Universalität« und »Neutralität« von Wissen, Werten und Praktiken, die das Bildungshandeln prägen, müssen destabilisiert werden.
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Ein zweites Kernanliegen betrifft die Beziehung zwischen Gleichheit und Differenz auf der Ebene der Bildungspolitik und in der pädagogischen Praxis. Kulturelle Unterschiede sowie verschiedenes Wissen müssen anerkannt und wertgeschätzt werden und Teil der Bildung für alle sein. Die Gleichheit in den Unterschieden muss als gemeinsamer Bezugspunkt angenommen und explizit gemacht werden, um mit dem monokulturellen Charakter der Schulkultur zu brechen. Soziokulturelle Identitäten sowohl auf persönlicher als auch auf kollektiver Ebene müssen anerkannt und gefördert werden. Ein grundlegendes Element dabei sind Lebensgeschichten, sowohl persönliche als auch kollektive, und dass sie als Teil des Bildungsprozesses erzählt, anerkannt und geschätzt werden können. Es ist wichtig, mit einem dynamischen und historischen Kulturbegriff zu arbeiten, der in der Lage ist, historische Wurzeln und neue Konfigurationen zu integrieren. Dabei ist eine Vorstellung von Kulturen als geschlossenen Universen zu vermeiden. Statt nach dem »Reinen«, dem »Authentischen« und dem »Echten« als einer vorher festgelegten Essenz zu suchen, muss gesehen werden, dass sich die Kulturen in ständiger Bewegung befinden. Dieser Aspekt steht auch im Zusammenhang mit der Anerkennung und Förderung des Dialogs zwischen den verschiedenartigen Wissensformen, Fähigkeiten und Praktiken verschiedener kultureller Gruppen. Um die eigene Art, sich die Welt vorzustellen und ihr Bedeutung zuzuschreiben, relativieren zu können, ist es notwendig, eine intensive Interaktion mit verschiedenen Lebens- und Ausdrucksformen zu erleben. Es geht um die Fähigkeit, Projekte zu entwickeln, die eine systematische Dynamik des Dialogs und des gemeinsamen Aufbaus zwischen verschiedenen Menschen und/oder Gruppen mit verschiedenem sozialen, ethnischen, religiösen, kulturellen Hintergrund usw. beinhalten. Interkulturelle Bildung lässt sich nicht auf bestimmte Situationen und/oder Aktivitäten reduzieren, die zu bestimmten Zeiten durchgeführt werden, noch kann sie ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf bestimmte soziale Gruppen richten. Es handelt sich um einen globalen Ansatz, der alle Akteur*innen und alle Dimensionen des Bildungsprozesses sowie die verschiedenen Bereiche, in denen er stattfindet, betreffen muss. Was die Schule betrifft, so wirkt sich dies auf die Auswahl des Lehrplans, die Schulorganisation, die Sprachen, die Lehrmethoden, die außerschulischen Aktivitäten, die Rolle des Lehrers/der Lehrerin, die Beziehung zur Gemeinschaft usw. aus. Als weiteres Element von besonderer Bedeutung ist hervorzuheben, dass Prozesse der »Selbstermächtigung« gefördert werden, insbesondere mit Blick auf soziale Akteur*innen, die historisch gesehen weniger Macht in der Ge-
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sellschaft hatten, d.h. weniger Möglichkeiten, Entscheidungen und kollektive Prozesse zu beeinflussen. Es geht darum, dass jeder Mensch Subjekt seines Lebens und sozialer Akteur/soziale Akteurin sein kann. Dies hat auch eine kollektive Dimension, indem mit diskriminierten und ausgegrenzten Minderheitengruppen gearbeitet und ihre Organisation und aktive Teilnahme an der Zivilgesellschaft gefördert wird. Auf diese Weise können die Spuren der Diskriminierung korrigiert werden, die als Erbe des Kolonialismus historisch entstanden sind und sich verfestigt haben. All dies zielt darauf ab, die Lebensbedingungen marginalisierter Gruppen zu verbessern, Rassismus, geschlechtsspezifische, ethnische und kulturelle Diskriminierung sowie soziale Ungleichheiten zu überwinden. Ein weiterer grundlegender Aspekt besteht in der Ausbildung einer offenen und interaktiven Bürgerschaft, die in der Lage ist, die Machtasymmetrien zwischen verschiedenen soziokulturellen Gruppen zu erkennen, Konflikte zu bearbeiten und solidarische Beziehungen zu fördern. Die Entwicklung einer interkulturellen Bildung mit dieser dekolonialen Perspektive ist ein komplexes Thema, das von Spannungen und Herausforderungen durchzogen ist. Die grundlegende Herausforderung besteht darin, die interkulturelle Bildung mit der Perspektive einer kritischen Interkulturalität zu verbinden. Dies ist deshalb so komplex, da in den meisten Ländern, in denen die Interkulturalität in die öffentliche Politik und den Bildungsbereich eingeführt wurde, der funktionale Ansatz vorherrscht, der dem bestehenden System nur etwas additiv hinzufügt und oft sogar folkloristisch ist. In den für die Ausbildung von Pädagog*innen zuständigen Institutionen ist diese Diskussion noch sehr wenig präsent. Es gibt jedoch eine wachsende Sensibilität und Sichtbarkeit der Unterschiede in den schulischen Praktiken und in der nicht-formalen Bildung, die oft durch Proteste und Konflikte veranlasst werden. Dies zeigt, dass die Debatte über interkulturelle Bildung vor allem durch Polemik und die Konfrontation von Positionen vorangetrieben wird.
Dekolonisierung der Kindheits- und Kinderrechtsforschung Wie ich im Abschnitt über Kolonialismus gezeigt habe, hat die Kindheitsforschung selbst koloniale Wurzeln. Sie basierte lange Zeit auf kolonialen Paradigmen und basiert zum Teil auch heute noch darauf. Diese Paradigmen werden seit den 1980er Jahren in den New Childhood Studies hinterfragt, in denen Kindheit selbst als eine historisch und kulturell variable und veränderbare
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»soziale Konstruktion« verstanden und dekonstruiert wird (vgl. James/Prout [1990]1997). Auch die Wahrnehmung von Kindern als soziale Akteur*innen und Subjekte sowie der Anspruch, »aus der Perspektive der Kinder« zu forschen, tragen dazu bei, der Kolonisierung der Kindheiten entgegenzuwirken. Aber bereits in den 1990er Jahren wurde darauf hingewiesen, dass auch manche der neuen Kindheitsstudien eine eurozentrische Ausrichtung haben (vgl. Liebel 1998, 2005). Zwar kommen häufiger Kindheiten des Globalen Südens in den Fokus, aber sie werden oft noch mit Theorien und Begriffen untersucht und bewertet, die in den westlichen bürgerlichen Gesellschaften entstanden und auf diese bezogen sind (zur problematischen Verwendung des zentralen Begriffs der Agency vgl. Liebel 2017: 69-96). Dies gilt auch für die neue, sich als kritisch verstehende Kinderrechtsforschung. In ihr werden zwar in Abgrenzung von liberal-paternalistischen Denktraditionen, die Kinder nur als zu beschützende und zu versorgende Wesen auffassen, neue Begriffe und Untersuchungsansätze kreiert, die für die Erfahrungen und Sichtweisen der Kinder offener sind (z.B. der Begriff der Living Rights: Hanson & Nieuwenhuys 2013, 2020), aber sie werden nur selten in einer Weise genutzt, die zum besseren Verständnis der Lebenswelten der Kinder des Globalen Südens und zur Stärkung ihrer sozialen Stellung beiträgt. Ein problematisches Erbe der Kolonialisierung besteht auch darin, dass die Kindheits- ebenso wie die Kinderrechtsforschung nach wie vor von Forscher*innen an Universitäten der nördlichen Hemisphäre dominiert wird, die sich den hier anerkannten wissenschaftlichen Standards verpflichtet sehen. Auch die Verbreitung von Forschungsergebnissen hängt stark von den im Norden ansässigen Verlagen und Zeitschriften ab. Sie werden international in der Regel nur dann wahrgenommen, wenn sie in englischer Sprache publiziert werden. Das Interesse an den Lebenswelten und Lebensweisen der Kinder des Globalen Südens hat in den letzten Jahren in der Kindheitsforschung zugenommen. Dies kann zu ihrer Dekolonisierung beitragen. Hierzu müssen aber auch die an den Universitäten dominierenden Standards hinterfragt werden, die beanspruchen, der einzige Zugang zum Wissen über Realität und Wahrheit zu sein. Sie schließen viele andere Weisen des Denkens und Wissens aus, insbesondere solche außerhalb des akademischen Bereichs und in nichtwestlichen Kulturen.1 Es ist deshalb auch notwendig, sich für Denk- und Er1
Zur Notwendigkeit, sich aus der Abhängigkeit von den wissenschaftlichen Paradigmen des »Globalen Nordens« zu befreien, die »globale kognitive Ungerechtigkeit« zu über-
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kenntnisweisen aus diesen Kulturen zu öffnen und mit Forscher*innen zusammenzuarbeiten, die in diesen Kulturen verwurzelt sind. Im Vergleich zur Kindheitsforschung ist dieser Prozess in der feministisch orientierten Forschung (z.B. in Lateinamerika und Afrika) bereits weiter fortgeschritten, etwa durch die kritische Auseinandersetzung mit den kolonialen Implikationen der Kategorie des mächtigen und ermächtigenden (weißen und männlichen) Subjekts und durch das Aufgreifen so genannter indigener und horizontaler Epistemologien und Forschungsmethoden (vgl. z.B. Kovach 2010; Tuhiwai Smith 2012; Corona Berkin 2020). Um das Wissen und die Erkenntnisweisen zu dekolonisieren, müssen auch die Beziehungen zwischen Wissen und Macht ins Auge gefasst werden, die durch die lange Kolonialzeit geprägt sind. »Die Interaktionen – und unsere eigenen Dispositionen als Forscher*innen – sind immer noch durch die Kolonialität der Macht kontaminiert, die sich in den institutionellen und alltäglichen Interaktionen erneuert. Das akademische Feld ist zutiefst durch die Kolonialität strukturiert […]. Aus diesem Grund ist es wichtig, eine Forschungspolitik und -ethik zu haben, die nicht von einem idealisierten akademischen Feld ausgeht, sondern die politische, wirtschaftliche und soziale Aspekte in integraler Weise berücksichtigt, von der Definition des Themas über die Sammlung von Daten bis hin zur Veröffentlichung der Ergebnisse, um den Prozess der Dekolonisierung des Wissens zu fördern« (Kaltmeier 2012: 54).
Methodologische Grundlagen für die Dekolonisierung der Kindheitsund Kinderrechtsforschung Kritische Selbstreflexionen wie die von Olaf Kaltmeier sind auch für die Kindheits- und Kinderrechtsforschung immens wichtig, da sie entscheidend zur Anerkennung nicht-westlicher Kindheiten und der Selbstermächtigung der Kinder des Globalen Südens beitragen können. Dafür ist ein Wissen erforderlich, das die Wahrnehmungen und Perspektiven von Kindern aufscheinen lässt, also wie sie denken, fühlen und mit Alltagserfahrungen umgehen. Ein solches Wissen kann nur gemeinsam mit Kindern entstehen. winden und die Wissensweisen und -produktionen des »Globalen Südens«, hier insbesondere Lateinamerikas, zu entdecken und bewusst zu machen, vgl. Santos (2018a, 2018b).
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Es erfordert Methoden, die den Forschenden nicht von den Erforschten trennen, sondern Forschung als gemeinsames Projekt sehen, in dem es horizontale und gleichberechtigte Beziehungen zwischen allen Beteiligten gibt. Diese Forschungsansätze werden seit den 1970er Jahren unter den Namen Partizipative Aktionsforschung (PAR) und seit den 1990er Jahren als Epistemologien des Südens, indigene Methodologien oder horizontal-dialogische Methodologien diskutiert und praktiziert. Es geht nicht darum, bestimmte Methoden im Voraus zu definieren, sondern zu fragen, welche Methoden in einem bestimmten Kontext angemessen und anwendbar sind. Die Wahl der Methoden ist selbst Teil eines Kommunikationsprozesses, in dem professionell Forschende und nicht-akademische Mitforschende gleichermaßen Einfluss nehmen und letztlich gemeinsam zu Entscheidungen gelangen. Die Forschungsansätze, die unter den bisher genannten Namen entstanden sind, haben Kinder nur selten berücksichtigt, aber sie können neue Wege der Forschung zu Kindern und Kinderrechten eröffnen. Dialogische und handlungsorientierte Forschungsansätze werden als eine Kritik an der Ideologie des wissenschaftlichen Universalismus gesehen. Diese geht davon aus, dass nur wissenschaftliches Wissen wahres, gültiges, repräsentatives oder objektives Wissen darstellt und damit allen anderen Wissensformen überlegen ist. Die entsprechende Forschung definiert den Forschenden als Experten, der sich den zu untersuchenden Menschen, gesellschaftlichen Verhältnissen oder der Natur von außen nähert und sie zum Gegenstand der Erkenntnis macht. Damit, so die Kritik, wird die von den Menschen erlebte Wirklichkeit nur verzerrt wiedergegeben und das darin enthaltene Wissen entwertet und unsichtbar gemacht. Ihr wird eine an einer instrumentellen und monokulturellen Rationalität orientierte Logik aufgezwungen, die das so produzierte Wissen zu einem kommerziellen Objekt macht, zu einer Ware in den Händen derer, die das Wissen in eine wissenschaftliche Form gebracht haben und/oder die Macht haben, es für ihre partikularen Interessen zu nutzen. Mit anderen Worten, es ist eine ausbeuterische oder extraktivistische Form der Wissensproduktion (zur Kritik vgl. Santos 2018b: 143-163). Im Konzept der Partizipativen Aktionsforschung, das erstmals in den 1960er Jahren von dem kolumbianischen Soziologen Orlando Fals-Borda (1970, 1979, [1979]2009) formuliert wurde, entsteht die Forschung dagegen aus dem gemeinsamen Handeln gegen als unzumutbar empfundene Lebensbedingungen oder dient der Ermächtigung ausgeschlossener und unterdrückter Menschen. Forscher*innen beschränken sich nicht auf die teilnehmende Beobach-
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tung, wie bei anderen Formen partizipativer Forschung, sondern verstehen sich als solidarisch handelnde Partner*innen von Bevölkerungsgruppen, um deren Emanzipation und Befreiung es geht. Sie verstehen ihre Forschung als parteilich und nehmen bewusst die Sichtweise dieser Bevölkerungsgruppen ein. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Haltung weder leicht zu gewinnen noch widerspruchsfrei umzusetzen ist, da die Lebenssituation der Forschenden im Forschungszeitraum nicht mit der ihrer Mitforschenden identisch wird. Da die Forschung jedoch ein integraler Bestandteil der transformativen Praxis ist, ist das gewonnene Wissen nicht von der Handlung getrennt, sondern kann von unterdrückten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen in ihren Kämpfen zur Verbesserung der Lebensbedingungen genutzt werden. Im Konzept der Epistemologien des Südens, das auf den portugiesischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos (2018a) zurückgeht, wird es als wesentlich erachtet, das im Zuge der Kolonialisierung unsichtbar gemachte Wissen ans Licht zu bringen. Santos nennt dies eine »Soziologie der Abwesenheiten« und strebt eine »Ökologie der Wissensformen« an. Damit meint er, dass »die Logik der Monokultur des wissenschaftlichen Wissens und der Genauigkeit (…) mit der Identifizierung anderer Wissensformen und anderen Kriterien für Genauigkeit und Gültigkeit konfrontiert werden« müsse (ebd.: 261). Die Ökologie der Wissensformen »zielt auf eine neue Art des Verhältnisses, auf ein pragmatisches Verhältnis, zwischen wissenschaftlichem Wissen und anderen Arten von Wissen ab« (ebd.: 282). Jeder Wissensmodus, der an der Konversation der Menschheit teilnimmt, trägt die Vorstellung einer »anderen möglichen Welt« in sich (ebd.). Santos zufolge gibt es auf der gesamten Welt »nicht nur sehr verschiedene Wissensformen bezüglich der Materie, der Gesellschaft, des Lebens und des Geistes, sondern viele und auch sehr verschiedene Vorstellungen darüber, was als Wissen zählt und wie die Kriterien zu seiner Bestätigung aussehen könnten« (ebd.: 285). Dies erfordert »eine tiefergehende Reflexion der Differenz von Wissenschaft als monopolistischem Wissen und Wissenschaft als Teil einer Ökologie der Wissensformen« (ebd.: 286). Nach Santos bedeutet die Aufwertung nicht-wissenschaftlicher Wissensformen jedoch keine totale Ablehnung wissenschaftlicher Wissensformen. Vielmehr geht es um ihre »gegenhegemoniale Verwendungsweise« (ebd.: 306). In diesem Sinne konzentriert sich die Ökologie der Wissensformen »auf die Beziehungen von Wissensformen untereinander und auf die daraus entstehenden Hierarchien und Machtverhältnisse« (ebd.: 307). Unter diesen Umständen werden diejenigen Wissensformen bevorzugt, »die den in die
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Konzeption, Ausführung, Kontrolle und Verwirklichung der Intervention involvierten sozialen Gruppen die größte Partizipation garantiert« (ebd.: 308). Wenn Santos folglich für eine »polyphone Epistemologie, bestehend aus Poesie und Wissenschaft« (ebd.), plädiert, eröffnen sich auch neue Möglichkeiten, mit dem Wissen und den Artikulationsweisen von Kindern in Beziehung zu treten und ihnen Anerkennung zu verschaffen. In diesem Sinne könnte die Ökologie der Wissensformen auch als »eine Vorbedingung für kognitive Gerechtigkeit« (ebd.: 314) verstanden werden, von der Kinder nicht mehr ausgeschlossen sind. Indigene Methodologien werden als Forschungsansätze verstanden, die von oder unter der Leitung der direkt betroffenen Menschen entwickelt und praktiziert werden. Sie entstanden als Kritik an den Forschungsmethoden vor allem der Anthropologie und Ethnologie. Diese hatten indigene Völker in erster Linie als Wissensressource betrachtet und wurden nach Maßstäben durchgeführt, die ausschließlich auf westlichen Annahmen von wissenschaftlicher Wahrheit basierten (»Wahrheitsregime«). Demgegenüber werden indigene Methodologien als eine Möglichkeit für indigene Individuen und Völker verstanden, sich das in ihren Kulturen eingebettete Wissen wieder anzueignen. Damit widersetzen sie sich Forschungspraktiken, die als Fortsetzung der kolonialen Unterwerfung bzw. der Kolonialität von Macht und Wissen verstanden werden, und nehmen somit eine dekoloniale Perspektive ein. Das Konzept der indigenen Methodologien geht u.a. auf Margaret Kovach (2010, 2015) und Linda Tuhiwai Smith (2012, 2016) zurück, zwei Sozialforscherinnen indigener Herkunft aus Kanada und Neuseeland. Daraus hat sich inzwischen eine breite Bewegung von Forschenden in den Kontinenten des Südens entwickelt, die selbst indigener Herkunft sind und zum Teil in einer Art Diaspora an »westlichen« Universitäten arbeiten. Die Autorinnen beanspruchen kein Monopol auf das Studium ihrer Kulturen, sondern bestehen darauf, dass ihre nicht-indigenen Verbündeten in der Wissenschaft ihren eigenen privilegierten Status und ihre traditionellen Denk- und Forschungsweisen selbstkritisch reflektieren, hinterfragen und eine dekoloniale Perspektive einnehmen. Indigene Methodologien sollen nicht nur dazu beitragen, indigene Wissenssysteme und Epistemologien ans Licht zu bringen, sondern auch die »positionelle Überlegenheit« des westlichen Wissens zu überwinden (Tuhiwai Smith 2012: 62). Ihr Ausgangspunkt ist die Kritik, dass das »Wissen, das durch unsere Kolonisierung gewonnen wurde, […] benutzt wurde, um uns zu kolo-
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nisieren« (ebd.: 62). Dies entspricht dem, was der afrikanische Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o (1986) die »Kolonisierung des Denkens« genannt hat. Laut Tuhiwai Smith »bekräftigt die Globalisierung des Wissens und der westlichen Kultur ständig die Sicht des Westens auf sich selbst als Zentrum des legitimen Wissens, als Schiedsrichter dessen, was als Wissen zählt, und als Quelle des ›zivilisierten‹ Wissens« (Tuhiwai Smith 2012: 66). Die Autorin betont daher: »Für indigene Völker gelten Universitäten als eher elitäre Institutionen, die sich durch verschiedene Systeme von Privilegien reproduzieren. Selbst jene Universitäten, die staatlich finanziert werden, gelten als Hauptbastionen des westlichen Elitismus. Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele indigene Studierende in den meisten akademischen Disziplinen und den meisten Forschungsansätzen wenig Raum für indigene Perspektiven finden« (ebd.: 132). Margaret Kovach ihrerseits unterstreicht die emanzipatorische und dekolonisierende Absicht indigener Methodologien mit den folgenden Worten: »Indigene Forschende machen Forschung politisch, einfach indem sie sind, wer wir sind« (Kovach 2015: 46). Sie verortet den Beginn der auf indigenen Methodologien basierenden Forschung in den 1990er Jahren. Zu dieser Zeit begannen indigene Wissenssysteme als Teil des Diskurses der qualitativen Forschung betrachtet zu werden. Als Ergebnis der Dekolonisierungsbemühungen, die extraktive Forschungspraktiken mit indigenen Völkern aufdeckten, wurde der Fokus auf die Anerkennung und den Schutz indigenen Wissens gelegt« (ebd.: 48). In indigenen Wissenssystemen sieht Kovach den »Herzschlag« indigener Methodologien. Es ist nicht möglich, indigene Methodologien zu praktizieren, ohne indigene Wissenssysteme von Grund auf zu verstehen. »Bei der Anwendung indigener Methoden bekräftigen die Forschenden einen Identitätsstandpunkt (ob sie wollen oder nicht), und es wird von ihnen erwartet, dass sie sich auf antikoloniale Arbeit einlassen. […] Es muss ein tiefer, anhaltender Respekt für indigene Wissenssysteme und indigene Erfahrungen vorhanden sein. Dies erfordert oft ein Auspacken des eigenen Verständnisses davon, was Respekt in diesem Kontext bedeutet« (ebd.: 57). Kovach ist der Meinung, dass »nicht-indigene Verbündete« die Verantwortung haben, indigene Methoden in der Forschungspraxis zu berücksichtigen, insbesondere an Universitäten, und es Forschenden indigener Herkunft zu ermöglichen, ihre eigenen Forschungskriterien und -standards anzuwenden und die Kontrolle über die Verwendung der Ergebnisse zu erlangen. »Forschung ist ein Werkzeug, das sich so sehr mit hochtrabenden Theorien darüber, was ›Wahrheit‹ ist, verstrickt hat, dass man leicht vergisst, dass es bei
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der Forschung einfach um das Lernen geht und dass sie daher eine Art ist, Dinge herauszufinden« (ebd.: 59, mit Verweis auf Hampton 1995: 48). Forschende, die dialogische und horizontale Methodologien in ihrer Forschung befürworten und anwenden, teilen ähnliche Prinzipien mit Vertreter*innen indigener Methodologien. Sie sind jedoch selten indigener Herkunft und können in gewissem Sinne als »nicht-indigene Verbündete« indigener Forschender verstanden werden. Wie letztere haben sie eine dekoloniale Perspektive, aber ihre Kritik am westlich geprägten System der akademischen Wissenschaft basiert nicht auf ethnischen Klassifizierungen, sondern lehnt auf radikal demokratische Weise jede Form von autoritärem Monopolanspruch auf wissenschaftliche Wahrheit ab. Sie sehen solche Ansprüche in erster Linie in der Dominanz weißer Männlichkeit und der von ihr verkörperten instrumentellen Vernunft verwurzelt. Sie sehen horizontale Methodologien in engem Zusammenhang mit politischem Aktivismus für eine sozial gerechte Gesellschaft, die soziale Gleichheit anstrebt, insofern sie kulturelle Vielfalt und entsprechende Lebensformen respektiert. Die Differenzen zwischen dem akademischen Überlegenheitsanspruch und den emanzipatorischen Zielen der Forschung »entstehen nicht immer aus einer Kluft zwischen der westlichen akademischen Kultur und der radikalen Andersartigkeit des Forschers/der indigenen Person, sondern vielmehr aus der Kluft zwischen dem Akademiker und dem Aktivisten« (Rappaport/Ramos Pacho 2005: 61f.). Darin sind sie der Partizipativen Aktionsforschung ähnlich. Forschung, die auf horizontalen Methoden beruht, kommt nicht umhin, die institutionalisierten Hierarchien des akademischen Betriebs in Frage zu stellen. Diese machen es schwierig, Forschung zu betreiben, die nicht auf hierarchischen Beziehungen zwischen Forschenden und Beforschten basiert. Horizontale Methodologien basieren auf dem Prinzip, diese Unterscheidung zu überwinden und Gemeinschaften zu schaffen, in denen alle Beteiligten den Forschungsprozess gleichermaßen gestalten und kontrollieren (siehe Corona/ Kaltmeier 2012; Corona Berkin 2020a, 2020b; Cornejo/Rufer 2020). In diesem Zusammenhang wäre es von besonderer Bedeutung, gleichberechtigte Beziehungen zu Bevölkerungsgruppen zu pflegen, die von den Folgen der Kolonialisierung und der aktuellen postkolonialen Konstellation besonders betroffen sind. Olaf Kaltmeier, ein deutscher Historiker der lateinamerikanischen Geschichte, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass an dieser Nahtstelle von Dekolonisierung und Demokratisierung »horizontale Methodologien« entstehen, »die als Ausgangspunkt den Dialog mit Gruppen subalterner Akteure haben, die trotz Rassismus, Diskriminierung und mangelnder Aner-
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kennung Träger von multiplem Wissen sind. Mehrere Untersuchungen, die mit horizontalen Methoden arbeiten, treten in einen Dialog mit indigenen […] oder afroamerikanischen Völkern und fördern ›eine kritische und dekoloniale kooperative narrative Methodologie‹ (Cortés-Gonzales/Leite-Méndez/ Rivas-Flores 2020: 96). An den Schnittstellen zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden wurden in der vielseitigen Ethnographie von Migrationsprozessen auch horizontale Methodologien angewandt« (Kaltmeier 2020b: 95). In dem dialogisch gestalteten Forschungsprozess sehen diese Forschenden nicht unbedingt ein neues »Wir« zwischen Forschenden und Mitforschenden entstehen, sondern neue soziale Bindungen eines »Mit«. Dieses »Mit« erfordert eine selbstkritische Reflexion der akademischen Forschenden über ihre eigenen Privilegien und ihre eigene Dominanz im Forschungsprozess. Horizontale Beziehungen können in diesem Prozess nicht allein durch guten Willen hergestellt werden, sondern erfordern auch strukturelle Veränderungen im akademischen System. Außerdem ist zu bedenken, dass in den Beziehungen zwischen Forschenden und Mitforschenden immer auch Zuneigung und Abneigung eine Rolle spielen. »Über diese horizontale Wissensproduktion hinaus impliziert die Forschung einen affektiven und sozialen Akt. Sie etabliert einen Korridor, der von Forschenden und Mitforschenden bewohnt wird und eine Brücke zwischen subalternen und marginalisierten Gemeinschaften sowie Instanzen innerhalb des akademischen Feldes bildet, die immer noch ein hohes generalisiertes gesellschaftliches Ansehen genießen. Am Vorabend der Sperrung vieler Kommunikationskanäle und öffentlicher Räume ist es eine Herausforderung für Forschende, Plattformen für den Austausch und die Verbreitung des im Dialog produzierten Wissens zu schaffen. Dies impliziert, Formate jenseits der akademischen Monographie und des Peer-Reviews-Artikels zu finden« (Kaltmeier 2020b: 107f.). Wichtig erscheint mir auch die Frage, aus welcher Haltung heraus horizontale Beziehungen im Forschungsprozess angestrebt werden. In dieser Hinsicht unterscheidet beispielsweise der mexikanische Sozialforscher David Bak Geler (2020) zwischen einer »Konzeption der toleranten Horizontalität«, die er mit der Ideologie des Liberalismus in Verbindung bringt, und einer »agonistischen Horizontalität«, die er in der Geschichte des Republikanismus verortet. »Im Gegensatz zur toleranten Horizontalität geht die agonistische Variante nicht von der obersten Regel aus, die Vorstellungen anderer zu respektieren,
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sondern ist offen für Kritik und Auseinandersetzung mit solchen Prinzipien und Lehrmeinungen« (ebd.: 142). Im Sinne dieser letzten Konzeption versteht er die Horizontalität immer als provisorisch oder improvisiert, also offen für selbstkritische Reflexion und Veränderung. »Improvisierende Horizontalität würde auf der radikalen Unmöglichkeit bestehen, nicht-provisorische Lösungen für politische Konflikte oder Unstimmigkeiten zu finden, aber sie würde auch darauf bestehen, dass die Anhäufung und fragmentarische Sichtbarkeit von Beispielen, in denen Konflikte provisorisch gelöst wurden, Präzedenzfälle und exemplarische Figuren des Politischen etabliert: das heißt, Erinnerungen, Inspirationen oder Modelle, dass die Arbeit der praktischen Improvisation nicht immer bei Null anfangen muss« (ebd.: 142f.). In der Debatte um horizontale und indigene Methodologien spielt auch die Verbindung der Wissensproduktion mit dem Körper eine wichtige Rolle. Insbesondere feministisch orientierte Forscherinnen weisen darauf hin, dass die Anerkennung von Wissen als wissenschaftliches Wissen in hohem Maße davon abhängt, ob es von weißen Männern stammt und von ihnen repräsentiert wird. »Wissenschaftliche Autorität wird fast sofort mit weißen, männlichen, heterosexuellen Körpern assoziiert, die als Körper anerkannt werden müssen. Das bedeutet nicht, dass ›feminisierte‹, ›nicht-heterosexuelle‹ und ›benachteiligte rassifizierte‹ Körper völlig von den Logiken der Wissenschaft unterdrückt werden: Es gibt Heterogenität unter den Menschen, die Wissenschaft produzieren, sogar offizielle Wissenschaft, genauso wie es Heterogenität in kolonialen Körpern gibt.« (Nogueira Beltrão 2020: 246) Laut dieser Autorin sind einige Körper als Produzenten von Wissenschaft anerkannt, andere hingegen nicht. Es gibt auch eine entsprechende Hierarchie innerhalb der Universitäten und auf dem Markt für akademisches Schreiben. »Es genügt, die Lehrpläne der als anerkannt geltenden Universitäten zu überprüfen, um zu bestätigen, dass sich das meiste Wissen, das als wesentlich und klassisch bezeichnet wird, auf Bücher und Theorien bezieht, die von Männern, Weißen und Heterosexuellen geschrieben wurden … und Europäern, vorzugsweise. Die Annahme eines ›Körper-zu-Körper‹-Wissens könnte ein Weg sein, Wissen zu ›provinzialisieren‹ (Chakrabarty 2009) und zu verstehen, dass jede Wissenschaft, die von Körpern gemacht wird, eine begrenzte Reichweite hat und nicht alle Probleme der Welt lösen kann« (ebd.: 246f.).
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Auch die nigerianische Soziologin mit Yoruba-Herkunft, Oyèrónké Oyewùmí (2017), betont, dass die Anerkennung von Wissen weitgehend von der visuellen Wahrnehmung von Körpern abhängt. Sie spricht daher von einer »BioLogik«, in der der Körper in binären Kategorien von Geschlecht und Rasse essenzialisiert wird, die das Wissen weißer Männer gegenüber dem schwarzer Frauen privilegiert. Die argentinischen Sozialwissenschaftlerinnen Rosana Rodríguez und Sofía da Costa (2019) sind ihrerseits der Ansicht, dass die Hierarchie der Wissensformen eine ungleiche soziale Ordnung darstellt, die im Namen von Neutralität, Objektivität und Universalität vielfältige Wissensformen ausschließt, insbesondere das Wissen von Frauen des Globalen Südens. Ihr Interesse ist es, die Debatte über die epistemische dekoloniale Wende in ihren vielfältigen Aspekten zu fördern. Sie plädieren für Forschung aus einer feministischen Perspektive des Südens, für die Produktion von situiertem Wissen, für die Beziehung zwischen Forschung und politischem Handeln sowie für die sensible Auswahl von Methoden und Techniken und das ethische Engagement in der Forschung. Dies erfordert eine methodische Strategie, die die Trennung von Wissendem und Erforschtem ebenso überwindet wie die Trennung von Verstand/Gedanken und Körper oder Rationalität und Emotion. Rodriguez und da Costa nennen die von ihnen angestrebte Methodik »Körperbiografien« (corpobiografías): »Die Körperbiografien sind Rekonstruktionen der Lebenswege und der körperlichen Reiserouten von Frauen aus ihren gelebten körperlichen Erfahrungen, in denen sich Gefühl und Denken verbinden. Sie sind begriffliche Neuausarbeitungen der Erfahrung von Körperlichkeit, die die Subjektivität und den vitalen Verlauf der gelebten Erfahrung des Körpers impliziert« (ebd.: 14). Die Autorinnen definieren ihren methodischen Vorschlag als »ForschungAktion-Kreation«, die sie als eine kreative Aktivität verstehen, »die aus der sozialen, kulturellen und subjektiven Erfahrung kommt und es erlaubt, Aspekte der gelebten und wahrgenommenen Realität durch Empfindungen, Emotionen, Gefühle kennenzulernen. Wissen, indem man sich selbst kennt« (ebd.: 15). Es ist eine methodische Strategie, die sich aus den Wünschen der Subjekte speist, »sie beinhaltet sensible Kriterien, die die Erfahrung des Körpers einbeziehen und rationale Intelligenz mit Wahrnehmung, Emotion, Intuition und Imagination verbinden« (ebd.:16). Wenn die Autorinnen von Intuition sprechen, beziehen sie sich auf eine Handlung, die das Innere, die Subjektivität, einbezieht, »die mit der Erinnerung verwoben ist und alle Schichten des Körpers aktiviert« (ebd.). Ihnen zufolge deckt sich ihr Vorschlag mit dem, was
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man unter »Partizipativer Aktionsforschung« (PAR) und insbesondere unter »Feministisch-Aktivistischer Forschung« (FAR) versteht. Mit ihrem Vorschlag wenden sich Rodríguez und da Costa explizit gegen die Praxis der »hegemonialen akademischen Feministinnen, die andere Frauen als marginal, arm, ungebildet, als Opfer definieren, ohne ihre wertvollen Beiträge zu wissenschaftlichen Produktionen anzuerkennen« (ebd.: 25). Ihnen zufolge werden diese »Logiken der Aneignung in Strategien der Entpolitisierung und Dekontextualisierung aufrechterhalten, einer zutiefst rassistischen Matrix, deren Zweck es ist, die Hierarchisierung des Wissens und der Körper, die es produzieren, zu verstärken« (ebd.). So sehen sie eine Geopolitik der Kontrolle und Beherrschung von Wissen, durch die ungleichen Regeln des Zitierens, die das Recht auf Autorschaft seiner tatsächlichen Produzent*innen auslöscht. Alle genannten Autor*innen sehen in dem Anspruch auf wissenschaftliche Autorität eine eurozentrische und koloniale Konstruktion, da sowohl der Begriff Wissenschaft als auch die Entstehung von Universitäten, wie wir sie heute kennen, kolonialen Ursprungs sind. Die »kognitive Ungerechtigkeit« (Santos, 2018a, 2018b) oder die »Kolonialität des Wissens« (Quijano 2000; Lander 2000) drückt sich auch darin aus, dass nur Wissen, das in einer der dominanten Schriftsprachen der heutigen Welt, insbesondere Englisch, formuliert ist, als wissenschaftliches Wissen anerkannt und verbreitet wird. Dadurch wird ein großer Teil des Wissens, das in »lokalen« oder »indigenen« Sprachen und mündlichen Erzählungen artikuliert wird, unsichtbar gemacht und abgewertet. Margaret Kovach (2015: 52f.) weist auf die »grundlegende Barriere« hin, die dadurch zwischen indigenen und westlichen Wissenssystemen und Epistemologien entsteht: »Die Hochburg von Sprache, Schrift und Weltanschauung bei der Erzeugung von ›Wahrheit‹ schafft Schwierigkeiten für indigene Völker, deren traditionelle Philosophien tief in Konstrukten verankert sind, die weder geschrieben sind, noch mit den Mustern der dominanten Sprache übereinstimmen. Die meisten indigenen Sprachen sind verbbasiert und erzählen von der Welt in Bewegung, in Interaktion mit Mensch und Natur. Dies steht im Gegensatz zur Substantiv-basierten Natur der englischen Sprache, die eine ErgebnisOrientierung auf die Welt akzentuiert. Sprache ist ein zentrales System dafür, wie Kulturen Bedeutung kodieren, schaffen und übermitteln. Kulturelle Werte bleiben lebendig und spiegeln eine Weltanschauung wider, die in der Muttersprache zu finden ist. Werte, die Beziehungen ehren, sind wichtig für
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Kulturen, die den Weg genauso schätzen wie das Ziel. Da die meisten indigenen Kulturen mündlich überliefert werden, stellt die Schriftsprache eine zusätzliche Komplexität bei der Übermittlung indigener Wissensformen dar.« Auch wenn Wissen, das in indigenen Kulturen generiert und in deren Sprachen artikuliert wird, aufgegriffen und in eine Schriftsprache übersetzt wird, verändert sich seine Bedeutung. Dies gilt auch, wenn es in einem narrativen Stil (»storytelling«) präsentiert wird. Das Schreiben bringt die Tatsache zum Ausdruck, dass indigene Wissensformen »fließend, nicht-linear und relational« (ebd.: 53) sind und immer eine enge Beziehung zu der Person oder den Personen haben, die sie ausdrücken. Außerdem ist die »Muttersprache« in einer kolonialen oder postkolonialen Situation immer die Sprache »der Anderen«, »die Sprache des Gastgebers« (Rufer 2020: 282; vgl. auch De la Peza 2017). Mario Rufer veranschaulicht das Dilemma, das sich daraus ergibt, am Beispiel der indigenen Völker Mexikos. Ihm zufolge wird darüber geschwiegen, dass das Spanische als Kolonialsprache den indigenen Völkern aufgezwungen wurde, ohne ihre Kulturen und damit verbundenen Sprachen als gleichberechtigt anzuerkennen. »Die Logik des Gastgebers impliziert ein Risiko: dass das eigene Territorium verändert wird. Ein Risiko, das der multikulturelle Staat nicht einzugehen bereit ist. Die Gastfreundschaft, die sie anbietet, verbleibt daher in ihren eigenen Begriffen der Macht und des Managements (von Identitäten, Sprachen, Territorien) und verdeckt die Tatsache, dass der Wille, den sie empfängt, nicht der des Gastes ist, der sich öffnet, sondern der des Souveräns, der gewährt« (Rufer 2020: 283). Die Abwertung und Marginalisierung indigener Sprachen und des in ihnen enthaltenen Wissens wird durch ihren Ausschluss aus der Wissenschaft noch verschärft. Wissen kann in allen Sprachen der Welt und in allen Textgattungen ausgedrückt und kommuniziert werden. Aber nur Wissen, das von akademischen Institutionen anerkannt und in Zeitschriften und Büchern verbreitet wird, gilt als wissenschaftliches Wissen. Dieses Wissen »basiert hauptsächlich auf traditionellen Lese- und Schreibfähigkeiten. Wer die Alphabetisierung nicht beherrscht, gilt nicht als Wissenschaftler*in, auch wenn er/sie Theorien und Methoden lehrt/ausübt/erlernt und darüber reflektiert« (Nogueira Beltrão 2020: 246). Das Schriftsystem erhebt den Anspruch, die komplexeste Form der Wissensproduktion zu sein. Damit haben sich die Kolonialsprachen als Weltsprachen etabliert, während indigene Sprachen und Kommunikationsweisen zu lokalen Phänomenen degradiert werden, die nur par-
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tikular, aber niemals universell sind. Selbst wenn die Sozialwissenschaften einen interkulturellen Ansatz verfolgen, bleiben sie in diesem System gefangen. »Es ist dringend notwendig, die Menschen anzuerkennen, die an der Produktion von Wissen beteiligt sind, und nicht nur die Bücher zu erwähnen, die von den Universitäten als wissenschaftlich autorisiert sind. Dies ist ein erster Schritt zur Provinzialisierung des Wissens, das von den Zentren aus produziert und als überlegen legitimiert wird, die meist weiße und/oder heterosexuelle und/oder männliche Körper repräsentieren. Es würde auch verdeutlichen, dass ein großer Teil des Wissens, das zu Büchern wird, nicht exklusiv für die Schrift ist, und dass es in anderen Sprachen erfasst, ausgearbeitet, reflektiert, theoretisiert, getestet und dialogisiert wurde, von vielen Körpern, die auf rassistische Weise im Vorteil oder im Nachteil sind. Damit ließe sich zeigen, dass sowohl die wissenschaftliche Geschichtsschreibung als auch die Produktion neuer Intellektueller, die heute hoch geschätzt und als unverzichtbar für die Produktion von Wissen angesehen werden, das Ergebnis von Prozessen des epistemischen Rassismus/Sexismus sind« (ebd.: 248). Um das durch die Kolonialität der Macht ausgeschlossene und entwertete Wissen zurückzugewinnen und ihm einen Einfluss über den engen lokalen Kontext hinaus zu geben, schlägt Boaventura de Sousa Santos eine »multiperspektivische interkulturelle Übersetzung« vor (Santos, 2018a: 315). Dies ist jedoch keine einfache Aufgabe, da sie durch die fortgesetzte Dominanz der Kolonialsprachen und den Zwang, Dinge aufzuschreiben, erschwert wird. Die Frage und die Möglichkeiten der Übersetzung sind aus der Sicht einer dominierten Kultur immer schwieriger als aus der Sicht einer dominanten Kultur. »Autor*innen einer beherrschten Kultur, die davon träumen, ein größeres Publikum zu erreichen, werden beim Schreiben bereits ihre Übersetzung in eine hegemoniale Sprache berücksichtigen, wodurch ein gewisses Maß an Übereinstimmung mit Stereotypen erforderlich wird« (ebd.: 340). Diesem Zwang zur Anpassung wird in den Konzepten des Multikulturalismus Rechnung getragen, die seit den 1990er Jahren im Kontext neoliberaler Politiken entstanden sind. Santos spricht deshalb von einem »reaktionären Multikulturalismus« (ebd.: 341). Ihm muss eine »emanzipatorische Interkulturalität« entgegengesetzt werden, die sich gegen hegemoniale Wissensformen und Weltdeutungen richtet und auf Gleichheit unter Anerkennung von Differenz zielt. »Eine emanzipatorische Interkulturalität setzt die Anerken-
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nung einer Pluralität von Wissensformen und von verschiedenen Konzeptionen der Welt und der menschlichen Würde voraus« (ebd.: 297). Wie im Exkurs zu interkultureller Bildung gezeigt, spricht Catherine Walsh (2005, 2007, 2009, 2012, 2013, 2018) in ähnlicher Weise von »kritischer Interkulturalität«, die sie von »funktionaler Interkulturalität« abgrenzt. Noch deutlicher als Santos schreibt sie der kritischen Interkulturalität eine transformative Aufgabe zu, die auf Dekolonisierung zielt. Diese Art von Interkulturalität »bedeutet mehr als eine Wechselbeziehung oder einen Dialog zwischen den Kulturen. Vielmehr zielt sie auf die Konstruktion radikal anderer Gesellschaften, einer ›anderen‹ Gesellschaftsordnung und ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Strukturveränderungen. […] Interkulturalität ist aus dieser Perspektive nicht ein bestehender Zustand oder eine vollendete Tatsache. Sie ist ein Prozess und ein Projekt in ständiger Auflehnung, Bewegung und Konstruktion, eine bewusste Handlung, eine radikale Aktivität und ein Werkzeug für praxisbasierte Affirmation, Korrelation und Transformation« (Walsh 2018: 57, 59).
Fazit Zukünftige Forschung mit Kindern und für Kinderrechte, die das koloniale und postkoloniale Erbe hinter sich lassen will, kann sich an den im vorangegangenen Abschnitt dargestellten Überlegungen und Forschungsanasätzen orientieren. Auf diese Weise könnten es ihr gelingen, die »Gefühlsgedanken« (in lateinamerikanischem Spanisch: sentipensamientos) von Kindern des Globalen Südens in ihren vielfältigen Lebenskontexten sichtbar und besser verstehbar zu machen. Dies ist unabdingbar für eine Praxis der Solidarität mit diesen Kindern, die nach sozialer Gerechtigkeit und einem Leben in Würde strebt.
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Geschichte der Pädagogik dekolonial? Empirische Gestalt und Perspektiven eines Genres Sebastian Engelmann
1.
Einleitung
Geschichte der Pädagogik nimmt eine besondere Stellung innerhalb erziehungswissenschaftlicher Studienmodule im deutschsprachigen Raum ein. Denn auch wenn »Geschichte und Theorie von Bildung und Erziehung« (vgl. DGfE 2004) als Teil eines Kerncurriculums für Hauptfachstudiengänge Erziehungswissenschaft angemahnt wurde, wird in der empirischen Gestalt der Hochschullehre vermehrt auf einen dezidiert historischen Zugang zur Erziehungswissenschaft verzichtet und eine an Grundbegriffen oder vermeintlich zentralen Denker*innen orientierte Einführung vorgezogen.1 Das ist nicht verwunderlich, handelt es sich doch bei Geschichte der Pädagogik nicht etwa um die Historische Bildungsforschung, die aktuell mehr als lebendig erscheint und sich in aktuellen Überblicksdarstellungen als diversifiziertes und forschungsstarkes Feld präsentiert (Kluchert et al. 2021), sondern um ein besonderes Genre mit zahlreichen Eigenheiten (vgl. Kurig 2020). Jürgen Oelkers hat bereits in seinem einschlägigen und weiterhin anregenden Artikel von 1994 darauf hingewiesen, dass es sich bei Geschichte der Pädagogik schon immer um eine mit didaktischem Interesse, nicht zwingend historiografisch saubere, sondern viel eher stilisierende und insbesondere an angehende
1
Weitere Strukturmodelle werden hier nicht berücksichtigt. Für einen Blick auf das Für und Wider der Vereinheitlichungsbemühungen vgl. Austermann et al. 2004; zur Problematisierung eines Curriculums in der Lehrer*innenbildung vgl. Wigger 2010. Diese Diskussionen sind aufs Engste mit der Frage danach verbunden, wie Geschichte der Pädagogik a) dekolonial zu schreiben und b) zu vermitteln ist, wenn sie doch in eine spezifische wissenschaftliche Tradition eingewoben ist. Das Problem kann hier nicht weiter ausgeführt werden.
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Lehrer*innen gerichtete Kategorie von Publikationen handelte, die durch Geschichte in das Fach einführen will (vgl. Oelkers 1994). Die damit verbundene Betonung von Narrativität als Besonderheit des Genres wurde bereits eigens thematisiert (vgl. Blankertz 1983), Entscheidungen und Einschränkungen in Erzählungen wurden markiert und problematisiert (vgl. Engelmann 2019). Eigentlich sollte klar sein, dass es sich gerade bei Publikationen des Genres Geschichte der Pädagogik notwendigerweise um Ausschnitte handelt, die aufgrund von mehr oder weniger expliziten Vorentscheidungen eine Geschichte zunächst erzeugen – Geschichte mit systematischem Anspruch. In jüngster Zeit ist das Genre Geschichte der Pädagogik einerseits begründet in die Kritik geraten (vgl. Knobloch 2020) – andererseits wurde es als essenzielles Kommunikationselement einer sich konfigurierenden Disziplin aus der Distanz gewinnbringend und mit systematisierendem Anspruch in den Blick genommen (vgl. Vogel/Erdmann 2020) und die Bedeutung der Geschichte für ein Verständnis gesellschaftlicher Krisen herausgearbeitet (vgl. Engelmann 2021a). So weit, so deutsch.2 Wie verhält sich diese allgemeine Diagnose nun aber zu den jüngst vermehrt diskutierten Nachwirkungen des Kolonialismus, die in diesem Band im Mittelpunkt stehen? Unabhängig von der Forschungsperspektive ist festzuhalten, dass jede Geschichte positioniert geschrieben ist. Das Wissen, das wir täglich erin-
2
Ein Blick in englischsprachige Histories of Education offenbart zwar ähnliche Strukturen und Abbilder der Kolonialität, aber auch überraschende Hinweise und ein hohes Maß an Bewusstsein für den Ausschluss einzelner Positionen. So heißt es im Vorwort zu der History of Education von Thomas Davidson: »In the present work I have given special attention to those portions of educational history that are usually ignored or neglected, at the expense of those that are more generally known« (Davidson 1900: vi). Davidson berücksichtigt dann in seiner Darstellung im einleitenden Kapitel Erziehung u.a. in Indien, China, Babylonien, dem Iran und Ägypten. Diese Darstellungen summiert er allerdings einem Fortschritts- und Entwicklungsnarrativ folgend unter »Savage« und »Barbarian-Education«. Franklin V. N. Painters History of Education von 1886 geht ebenfalls von einer Zivilisierungsthese aus, wobei er explizit an Friedrich Dittes und Karl Raumers, aber insbesondere Karl Schmidts Geschichte der Pädagogik und an die deutschsprachige Publikationslandschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts anschließt, die er in der Universitätsbibliothek in Bonn sichten konnte (Painter 1886: xv). Auch Painter beginnt seine Ausführungen mit einem Blick auf Erziehung bei den »oriental nations« (Painter 1886: 9ff.). Schon diese beiden Histories of Education eint der Blick in andere Räume der Welt – ein Blick, der trotz aller eurozentrischer Gewalt bereits über das hinausgeht, was in der deutschsprachigen Geschichte der Pädagogik des 20. und 21. Jahrhunderts den Regelfall darstellt.
Geschichte der Pädagogik dekolonial?
nern, reproduzieren und in pädagogische Praxis einfließen lassen, ist keineswegs voraussetzungslos – auch die kritischste Geste basiert auf Annahmen und Vorstellungen davon, wie die Welt gestaltet ist und gestaltet werden soll. Wessen Wissen wir wissen und wessen Erinnerungen wir erinnern sind daher mit Nachdruck zu stellende Fragen, die auch im öffentlichen Diskurs zunehmend verhandelt werden (vgl. Terkessidis 2019). Die mittlerweile trivial erscheinende Aussage ist aber konkret zu operationalisieren, denn sie verweist auf klar zu benennende Kategorien. Darstellungen sind durchzogen von oftmals impliziten Vorannahmen, situiert in einem ganz spezifischen Zusammenhang, der sie prägt und der einerseits durch eine konsequente Historisierung verstanden, anderseits systematisch auf konkrete empirische Ausprägungen, Widersprüche und Verschiebungen hin befragt werden kann. Zugänge, welche die koloniale Matrix von Geschichten der Pädagogik hervorheben, zu kritisieren und zu dekonstruieren versuchen, sind allerdings trotz der großen Relevanz des Themas noch immer Mangelware, wenngleich bereits nach Wegen gesucht wurde, andere Geschichten zu schreiben, seien es Gegengeschichten oder schlicht Geschichten, welche die eine Geschichte auf ihre blinden Flecken hinweisen und Komplexität anreichern (vgl. Knobloch 2016). Thema dieses Beitrags sind nicht die drängenden Fragen nach der Möglichkeit und Form einer anderen Geschichte der Pädagogik – stattdessen unternehme ich den Versuch, den Gegenstand der Kritik genauer zu erfassen und zu prüfen, ob eine dekoloniale Option nicht vielleicht schon in den Geschichten der Pädagogik angelegt ist und sich das Genre aus sich selbst heraus dekonstruieren lässt.3 In meinem Beitrag werde ich anhand einiger Proben aus Geschichten der Pädagogik die Frage beantworten, wie diese geschrieben wurde und welche Bezüge auf Hybridität, Multiperspektivität, Kontingenzen, Ausschlüsse und Richtungsentscheidungen hinweisen. Die These, die ich im Zuge des Beitrags plausibilisieren werde, ist die, dass Geschichte der Pädagogik über die Zeit hinweg immer wieder auch andere Arten der Erzählung angeboten hat und in sich selbst divers, unentschieden und reflexiv ist. Die Geschichte der Pädagogik gibt es weder als einheitliche Meistererzählung
3
Zur Kritik an einem solchen Vorgehen vgl. Moosavi 2020. Moosavis Argumentation deckt sich mit den von Knobloch vorgebrachten Hinweisen zur Dekolonialisierung der Geschichte der Pädagogik. Für Perspektiven einer inklusiveren Geschichtsschreibung im pädagogischen Bereich vgl. Boger et al. 2021 und zum Thema Geschichte der pädagogischen Historiographie Link 2021.
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noch als empirisches Phänomen. Denn – so die weitere Annahme – durch die Etablierung bekannter Narrative wird das, was zuvor vorhanden war, verdeckt und damit unsichtbar gemacht. Dekolonialisierungsbemühungen berücksichtigen daher idealerweise nicht nur aktuelle Konfigurationen des Kanons, sondern zugleich auch die Betrachtung der Genese von diesen. Hierzu werde ich in einem ersten Schritt einen Überblick über die Geschichte der Pädagogik als aktuellen Forschungsgegenstand geben. In einem zweiten Schritt werde ich anhand einzelner Fallstudien danach fragen, ob die empirische Gestalt der Geschichte der Pädagogik in sich selbst bereits die Möglichkeit zur Dekolonialisierung enthält. In einem dritten Schritt werde ich die Ergebnisse zusammenfassen und Vorschläge zur weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Genre der Geschichte der Pädagogik geben. Das Projekt ist keinesfalls abgeschlossen.
2.
Makro- und Mikroperspektive – Welche Geschichte ist die Geschichte der Pädagogik?
Für das Genre Geschichte der Pädagogik gilt exakt das, was Katharina Vogel für die gesamte Erziehungswissenschaft festhält: Was »fehlt, ist eine an der Wirklichkeit der erziehungswissenschaftlichen Wissensproduktion orientierte Geschichte erziehungswissenschaftlichen Wissens, ein Setting, das es erlaubt, die Genese dessen, was wir heute Erziehungswissenschaft nennen, zu rekonstruieren« (Vogel 2018: 32). Wirklichkeit meint in diesem Fall die empirische Gestalt publizierter Texte, die selbst als Kommunikationszusammenhang verstanden werden. Jüngere Arbeiten aus der Wissenschaftsforschung nähern sich den Geschichten der Pädagogik aus großer Distanz an. Distant reading ermöglicht es, Bewegungen über die Zeit hinweg sichtbar zu machen, regelmäßig verhandelte Themen zu identifizieren und auf diese Art Gemeinsamkeiten und Strukturanalogien aufzuzeigen und gleichsam die Wissensproduktion genauer zu verstehen. Mit Wissensproduktion ist nicht nur die Erzeugung von neuen Erkenntnissen gemeint. Aus der distanzierten Perspektive geraten »Prozesse der Sedimentierung von Wissensbeständen, die als grundlegende Wissensbestände immer wieder erneut ›aufgerufen‹ werden, sowie die
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Neu-, Um- und Aussortierung von solchen Wissensbeständen über den beobachteten Zeitraum hinweg« (Vogel/Erdmann 2020: 66) in den Blick, die für die Gestalt des Genres über die Zeit von großer Relevanz sind. Beispiele hierfür gibt es viele – seien es nun regelmäßig angeführte zumeist männliche Autoren oder auch die Strukturierung von Publikationen über die Abarbeitung von historischen Stationen. Warum dies geschieht – und wie Anschlüsse konkret hergestellt werden – wird heute vermehrt betrachtet (vgl. Vogel/Erdmann 2020: 70) und schließt damit auf produktive Art an frühere Arbeiten zu den üblichen Verdächtigen des vermeintlichen erziehungswissenschaftlichen Orientierungswissens an (vgl. Wigger 1997). Und damit nicht genug. Denn obwohl die distanzierte Betrachtung eines Quellenbestandes Erkenntnisse befördert, bleiben die Voraussetzungen der Wissensproduktion doch meist im Dunkeln. Ordnungsbildung erfolgt aber nicht im luftleeren Raum. Phillip Knobloch hält für die erziehungswissenschaftliche Teildisziplin der Vergleichenden Erziehungswissenschaft fest, dass sich diese nur vor dem Hintergrund der Diskussion um Modernität und damit verbunden auch Kolonialität in ihrer Genese fassen ließe. Modernität und Kolonialität werden als durchweg vorhandene – aber oft unsichtbare, selten explizit verhandelte – Kategorien erziehungswissenschaftlicher Wissensproduktion markiert. Sie sind der epistemischen Ordnung der Disziplin eingeschrieben, denn die deutschsprachige Pädagogik ist mit ihrem ungebrochenen Fortschrittsoptimismus ein Kind der europäischen, wenn nicht sogar der deutschen Aufklärung (vgl. Spieker 2015; vgl. Engelmann 2021b: 22). Knobloch argumentiert nachvollziehbar für eine polyzentrische Perspektive in der Vergleichenden Erziehungswissenschaft. Zudem erklärt er es für »notwendig, die Diskussion auf die Ebene der Wissenschaftstheorie zu heben, um dominante Wissensordnungen und Raumkonzepte – nicht zuletzt die Kategorien westlich/nicht-westlich – hinsichtlich ihrer Konstitution und Wirkung kritisch zu analysieren« (Knobloch 2016: 26). Vieldeutigkeit, Verschiedenheit und ausgeblendete Positionen können so zumindest hinzugezogen werden. Diese Kritik an der Vergleichenden Erziehungswissenschaft ist auf die Kritik am Genre Geschichte der Pädagogik übertragbar. Sie deckt sich mit weiterer Kritik an der begrenzenden Orientierung am europäischen Modell des Nationalstaats (vgl. Tröhler 2020), der Unterrepräsentation von internationalen Verflechtungen, die jüngst in
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den Blick genommen wird (vgl. Fuchs/Vera 2019) oder der immer wieder vorgebrachten Kritik am »Vergessen« (vgl. Engelmann 2019, 2020), obwohl diese selbst einen oftmals unmarkierten Blick aus dem Nirgendwo annimmt und Gefahr läuft, Überlegenheitsnarrative und Wissensasymmetrien zu reproduzieren. In den erwähnten Fällen laufen aber empirische und theoretische Aussagen regelmäßig auseinander – gerade dann, wenn eine monolithische Vorstellung von Geschichte der Pädagogik in Absehen von ihrer empirischen Gestalt angenommen wird. Wie oben schon erwähnt, ist, obwohl das Genre Geschichte der Pädagogik zur Wiederholung und Reproduktion von isomorphen Strukturen neigt, die These einer vollständigen eurozentrischen Überformung zuallererst eine, die der Überprüfung bedarf. Und auch dann braucht es zunächst eine Historisierung der Perspektive, bevor Kritik greifen kann. Historisierung meint in diesem Fall zunächst zu verstehen, dass die Darstellung selbst als ein gewordenes Produkt von Einflüssen zu verstehen ist, das eben nicht urwüchsig, vermeintlich natürlich, aus der Genialität einzelner Personen oder aus der zwingenden, vermeintlich folgerichtigen Aneinanderreihung von historischen Ereignissen entsteht. Einerseits kann dieses Verständnis darüber erzeugt werden, dass Positionen hinzugefügt werden, die den nur vermeintlich konstanten Gegenstand einer Geschichte der Pädagogik aus anderer Perspektive neu erschließen.4 Knobloch schlägt für ein vertieftes Verständnis dieser Positionalität von Geschichtsschreibung vor, Autor*innen heranzuziehen, die aus einer explizit »non-western perspective« (vgl. Knobloch 2020) die Entwicklung von bspw. nationalen Schulsystemen beschreiben. Dieser Weg trägt unweigerlich zu einer Vervielfältigung der Perspektiven und zur Komplexitätssteigerung im Gegenstandsbereich bei. In quantitativer Längsschnittperspektive offenbart 4
Die eigentliche Setzung einer Geschichte der Pädagogik ist immer eine systematische Vorentscheidung. Es macht einen Unterschied, ob eine Geschichte der Pädagogik ihren Schwerpunkt auf der Entwicklung institutionalisierter Massenbeschulung oder der Weitergabe von Wissen über die Generationen hinweg aufbaut. Diese Minimaldefinition des Gegenstandes variiert und wird nicht immer explizit ausgewiesen (vgl. für eine Diskussion Koerrenz et al. 2017: 7-14, für ein explizites Erziehungsverständnis samt teleologischer Probleme Blankertz 1982: 306-307). Die Problematisierung des Zugangs selbst ist aber bereits Teil einer Diskussion, die unter spezifischen epistemologischen Bedingungen geführt wird, die hier nicht weiter diskutiert werden können, was der These Knoblochs, die Diskussion müsste auf wissenschaftstheoretischer Ebene geführt werden, aber nur noch mehr Nachdruck verleiht.
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sich, dass die Integration von Perspektiven der Normal- und nicht der Ausnahmefall ist. Die Integration neuer Perspektiven und Positionen stellt sogar die vorherrschende Entwicklung, da »der Wissensraum der wissenschaftlichpädagogischen Grundlagenliteratur von der Anreicherung« (Vogel/Erdmann 2020: 76) lebt. Integration von neuen Wissensbeständen ist aus der Distanz betrachtet der empirische Normalfall und eben nicht die Ausnahme. Dass andere Stimmen, neue Positionen, Referenzsysteme hinzutreten, die dann wiederum, aus der Distanz betrachtet, sichtbar gemacht werden können, ist folglich ein Weg, Geschichte der Pädagogik auf lange Sicht zu dekolonialisieren. Von Interesse ist nun, wie und ob dieses Vorhaben an das bereits Bestehende anschließen kann. Denn andererseits eröffnet sich noch ein weiterer Zugang, der zunächst die empirische Gestalt der Geschichte der Pädagogik in den Blick nimmt – allerdings müssen wir dafür ganz nah ran. Die Vogelperspektive wird zur Froschperspektive.
3.
Empirische Formen der Antike in Geschichten der Pädagogik – Grabungen
Wie Knobloch es bereits für Publikationen des Genres Geschichte der Pädagogik aus der jüngeren Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg ausschnitthaft vorgeführt hat (2020), werden in diesem Text ältere Geschichten der Pädagogik betrachtet, um die weiterhin empirisch zu belegende Hypothese, das Genre Geschichte der Pädagogik sei eurozentrisch, empirisch zu spezifizieren. Dass Publikationen von vorwiegend aus Deutschland, mindestens aber aus Mitteleuropa, stammenden, männlich gelesenen Autoren diese Perspektive einnehmen nehme ich als gegeben an. Was das aber genau bedeutet, ist zu klären. Dies wird anhand einer kursorischen Betrachtung der Auseinandersetzung mit »der« pädagogischen Antike in den Geschichten der Pädagogik geleistet, die bspw. einer Befragung durch die Kritische Weißseinsforschung bisher harrt und in den meisten Fällen als Ausgangspunkt von Fortschrittsgeschichten gewählt wird.5 Warum aber so vorgehen? Die empirische Erschließung kann zeigen, wie sich das Genre selbst positioniert und welche Episteme im Korpus vorhan5
Für eine kritische Betrachtung der Diskussion um die Altertumswissenschaft – im englischsprachigen Raum Classics – vgl. Poser 2021 und die Arbeiten von Dan-El Padilla Peralta.
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den sind. Geschichte der Pädagogik wird auf diese Art zum Forschungsgegenstand gemacht. Im Fokus stehen dabei drei Geschichten der Pädagogik, die vor dem Nationalsozialismus, d.h. vor 1933, erschienen sind.6 Bei den Geschichten der Pädagogik handelt es sich um Friedrich Regeners Skizzen zur Geschichte der Pädagogik von 1898, August Messers Geschichte der Pädagogik von 1925 und Wendelin Toischers Geschichte der Pädagogik von 1907. Damit wird in keinem Fall die Gesamtheit pädagogikgeschichtlicher Darstellungen abgebildet, die seit geraumer Zeit genauere Betrachtung erfährt – hierbei wird rege diskutiert, wann das Genre nun »erfunden« wurde und wer zu den Gründungsfiguren gehören mag (vgl. Wiegmann 2008, insbs. Fußnote 4). All dies interessiert hier nicht. Stattdessen steht im Fokus, wie sich die eurozentrische Perspektive in ausgewählten Geschichten der Pädagogik Bahn bricht und ob polyzentrische Perspektiven, Hybridität oder Spuren von Alternativen auffindbar sind. Den Anfang machen dabei Friedrich Regeners Ausführungen. Regener, der Seminarlehrer am Herzoglichen Oberseminar in Braunschweig war, kritisierte in seiner wohl bekanntesten Schrift die Reformpädagogik (vgl. Regener 1910; vgl. Oelkers 2019). Seine Skizzen zur Geschichte der Pädagogik werden seltener zitiert. Mit den Skizzen möchte er »die Beschreibung eines Gegenstandes nach seinen Hauptzügen« (Regener 1898: x) leisten. Dementsprechend ausführlich expliziert Regener selbst auch die Aufgabe seiner Publikation, die gleichermaßen Aufschluss über die Perspektive des Autors gibt. Pädagogik beschreibe »ursprünglich die Kunst oder Wissenschaft des Pädagogen, also die Knabenführung, Knabenerziehung, später die gesamte Erziehungslehre, die Theorie der Erziehung« (Regener 1898: 1), wobei er direkt deutlich macht, dass eine Theorie erst »bei höherer Kulturentwicklung eines Volkes« (Regener 1898: 1) entstehe. Aufgabe der Geschichte der Pädagogik ist auch für Regener »zu zeigen, wie sich die Erziehung bei den verschiedenen Völkern in den verschiedenen
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Diese Fokussierung ergibt sich daraus, dass mit »Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur […] die Pädagogikgeschichtsschreibung in ihre bis dahin tiefste Krise […] [gestürzt wurde, S.E.]. Ein rassenideologisch geleitetes Erziehungsgeschichtsbild stand nicht parat. Zudem reduzierte die Entwertung der Lehrerbildung den Bedarf« (Wiegmann 2008: 11). Diese Markierung regt selbstverständlich dazu an, Geschichten der Pädagogik aus der Zeit des Nationalsozialismus genauer zu betrachten, die überarbeitet und der nationalsozialistischen Ideologie angepasst wurden.
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Zeiten in der Praxis gestaltet hat und wie sie als Erziehungslehre theoretisch dargestellt worden ist« (Regener 1898: 1). Geschichte der Pädagogik ist laut Regener dann damit betraut, die Gegenwart verstehbar zu machen und »die gewonnenen Erfahrungen für unsere eigenen Bestrebungen zu verwerten« (Regener 1898: 1). Angenommene »Kulturzustände«, verschiedene »Völker« mit unterschiedlichen Stufen der »Kulturentwicklung« und ein funktionalistisches Verständnis von Geschichte sind bei Regener direkt in der Aufgabenbeschreibung seiner Geschichte der Pädagogik präsent. Die These einer eurozentrischen und auf Modernitäts- und Zivilisationsvorstellungen basierenden Geschichte der Pädagogik belegt schon der erste Blick in Regeners Einführung. Die Darstellung der »klassischen Völker des Altertums« folgt bei Regener dann ebenfalls einer Logik, die sich bis in die heutige Zeit fortsetzt. Regener betrachtet vornehmlich den Gegenstand, der als »die Griechen« in Geschichten der Pädagogik angeführt wird, nachgeordnet dann auch »die Römer«. Die griechische und die römische Antike werden hier in ebendieser Reihenfolge als Ausgangspunkt der Pädagogik markiert, um dann in das Mittelalter zu springen. Die Auseinandersetzung mit der griechischen Antike beginnt – trotz ähnlicher Binnenstrukturierung der Narration bestehen große Unterschiede zu jüngeren Geschichten der Pädagogik, wie die von Koerrenz et al. (2017) oder Fuchs (2019) – mit einer psychologisch anmutenden Beschreibung vom »Kulturleben des griechischen Volkes« (Regener 1898: 2) samt einer Beschreibung der vermeintlichen Charakterzüge ebendieses Volkes. Dessen »Volkscharakter« zeichne sich durch »Reizbarkeit«, »reges Selbstgefühl«, »hohe Empfänglichkeit für Lust und Schmerz«, »Sinnlichkeit«, »Hang zu heiterem Natur- und Lebensgenusse« aus. Essentialisierende Zuschreibungen und Psychologismen fundieren Regeneres Geschichte der Pädagogik. Und statt konkreter Empirie bietet Regeners Skizze einen Umriss des vermeintlichen Volkscharakters an, der zwar durch objektiverende Einschübe, wie dem, dass die »griechisch-römische Wissenschaft […] das Abendland bis in das 17. Jahrhundert beherrschte« (Regener 1898: 3) unterbrochen wird, letztlich aber Differenzen zu Gunsten von klar gezeichneten Konturen ausblendet. Wie auch in früheren und folgenden Geschichten der Pädagogik wird bei Regener die Zweiteilung von pädagogischer Praxis in Sparta und Athen aufgegriffen und in Gegenüberstellung diskutiert. Regener räumt aber selbstreflexiv ein, dass andere Stadtstaaten aufgrund von fehlenden Daten ausgeblendet werden: »Wie die Erziehung sich in den übrigen Staaten gestaltet hat, davon haben wir keine oder nur geringe Kunde« (Regener 1898: 4). Nun erscheint Re-
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geners Text vor dem Hintergrund der oben bereits getätigten Aussagen zur Strukturierung von Geschichten der Pädagogik beinahe beispielhaft: Die griechische Antike wird zur Geburtsstunde der Pädagogik, andere Bereiche der Welt, andere Wissensbestände werden ausgeblendet. Statt nun aber nahtlos die römische Antike anschließen zu lassen, wird bei Regener eine Abweichung von der Metaerzählung sichtbar, denn er verweist explizit auf das »alexandrinische Zeitalter« (Regener 1898: 17) und auf die Vielfalt verschiedener Einflüsse. Diese – so Regener – Zeit nach dem Tod von Alexander dem Großen ist an die Stadt Alexandria gekoppelt, die »in Ägypten unter den Ptolemäern der Hauptsitz der griechischen gelehrten und litterarischen Tätigkeit« (Regener 1898: 17) war. Hybridität zeichnete Alexandria als besonderen Raum aus, denn »Griechen, Ägypter, Juden und später auch Römer gehörten der alexandrinischen Schule an« (Regener 1898: 17.). Erst im Kontrast zu anderen Geschichten der Pädagogik wird die Sprengkraft einer Platzierung der alexandrinischen Schule mitsamt dem indirekten Verweis auf den melting pot Alexandria deutlich. Wo die Beschreibung der Antike bei Regener Alexandria – zwar als Schwerpunkt griechischer gelehrter Tätigkeit – zumindest auf einerseits »Ägypter« und andererseits »Juden« (Regener 1898: 17) verweist und so die Vielfalt der Stimmen der Zeit zumindest andeutet, verbleibt bspw. die Geschichte der Pädagogik von Koerrenz und anderen in der klassisch gewordenen Erzählung einer griechisch-römischen Antike. Aber auch bei Koerrenz et al. wird Diversität angedeutet, wenn der Hellenismus als sich raumgreifendes von »Ägypten über den heutigen Iran bis hin ins griechische Kernland« (Koerrenz et al. 2017: 37) ausdehnendes kulturelles Muster charakterisiert wird. »Parallele Aufbrüche« (Koerrenz et al. 2017: 45ff.) wie sie im Raum des heutigen Indiens oder auch im ostasiatischen Raum bekannt sind finden bei Regener jedoch keine Beachtung. Seine Geschichte bleibt für die Antike eine der griechisch-römischen Antike, obgleich am Rande auf die Hybridität des Hellenismus hingewiesen wird. Eine vollkommen bruchlose Erzählung des Vormarschs der Pädagogik als europäische Idee findet sich bei Regener aber nicht, obwohl die Hybridität der Geschichte nicht weiter entfaltet wird und auch Regener das Narrativ einer fortwährenden Entwicklung tradiert, die letztlich in der europäischen Gegenwart, genauer noch mit der Erziehung für den nationalstaatlichen Fortschritt endet: »Noch bleibt viel zu wünschen übrig; aber es ist, wenn auch langsam, doch immer besser geworden, und so dürfen wir hoffen, daß auch künftig das
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Volksschulwesen sich immer mehr zum Segen des Vaterlandes entwickeln werde« (Regener 1898: 222). Ein ähnliches Bild zeigt sich auch im ersten Band von August Messers Geschichte der Pädagogik, der den Zeitraum von der Antike bis zum Mittelalter abdecken möchte. Messer stellt die Stoßrichtung seiner Erzählung direkt im Vorwort heraus: »Der Gedanke Fichtes, daß die Erziehung die wichtigste und edelste Aufgabe eines Volkes und Staates sei und daß alle Volkserneuerung bei der Erziehung anheben müsse, wird immer mehr in seiner tiefen Berechtigung und gewaltigen Tragweite anerkannt« (Messer 1925: 1). Noch deutlicher – auch wenn der Bezug auf Fichtes Reden an die deutsche Nation schon ausreicht – wird Messers Stoßrichtung, wenn er eine Kontinuitätsthese aufstellt: »Wenn wir bis auf die Griechen zurückgehen, um die Entwicklung der abendländischen und besonders der deutschen Erziehung darzustellen, so geschieht dies nicht, weil es deutsche Art ist, immer gleichsam bei Adam und Eva anzufangen, sondern weil in der Tat auch unsere gegenwärtige Erziehung in ihrem geschichtlichen Werden nicht verstanden werden kann ohne Kenntnis der griechisch-römischen Erziehung« (Messer 1925: 1). Diesem Narrativ folgend beginnt Messer seine Geschichte der Pädagogik dann auch mit der Pädagogik im stilisierten Griechenland. Wie auch Regener und viele andere nach ihm unterscheidet Messer zwischen Erziehung in Sparta und Erziehung in Athen, um dann auf einige Aspekte der römischen Geschichte einzugehen. Die hellenistische Zeit findet auch bei Messer Beachtung, wenn er – wie auch Regener – darauf hinweist, dass in der Zeit Alexanders des Großen sich eine »gewaltige politische und kulturelle Umgestaltung [vollzieht, S.E.]. Die griechische Kultur tritt aus ihrer nationalen Geschlossenheit heraus und verbreitet sich über die Kulturvölker Vorderasiens und Nordafrikas« (Messer 1925: 24). Aber auch hier wird wenig darauf eingegangen, dass die vermeintlich stabile griechische Kultur in Auseinandersetzung mit anderen Einflüssen hybridisiert wurde. Stattdessen wird das Bild einer sich ausbreitenden genuin »griechischen« Kultur gezeichnet, die letztlich den Fortschritt vorantreibt. Eine ein wenig andere Geschichte der Pädagogik (1907) erzählt Wendelin Toischer, Gymnasialdirektor im tschechischen Saaz. Toischer beginnt seine
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Überlegungen mit einem anthropologischen Verständnis von Erziehung als Unterweisung in sich differenzierenden Gesellschaften. Die Lehre »von der Erziehung heißt allgemein Pädagogik« (Toischer 1907: 2). Aus diesem Verständnis leitet er dann die Aufgabe der Geschichte der Pädagogik ab, die darin liege, »die Art der Erziehung bei den verschiedenen Völkern von den ältesten Zeiten angefangen, die Veranstaltungen zu diesem Zwecke, die Erziehungslehre nach ihrem Entstehen und ihre Wirksamkeit zu erforschen und darzustellen« (Toischer 1907: 2). Aber auch Toischer schränkt diesen universellen Anspruch instant wieder ein, denn das »allgemeine Interesse wird sich zunächst auf die Geschichte der Erziehung bei dem eigenen Volke richten, wird wissen wollen, wie für die Gesundung, Kräftigung, Übung des Körpers, wie für den Unterricht in allen seinen Stufen, wie für die Sittigung und Eingliederung des jugendlichen Nachwuchses in die bestehenden gesellschaftlichen Verbände gesorgt wurde und gesorgt ist« (Toischer 1907: 3). Die Erzählung selbst beginnt dann aber – anders als bei Messer und Regener – nicht in der griechischen Antike, sondern in Indien. Er erkennt an, dass »seit dem Altertum die Kostbarkeiten des Landes durch Zwischenhändler in den Westen gelangten, kostbare Bausteine zu unserer Bildung aus dem fernen Lande« (Toischer 1907: 5). Die Geschichte der Pädagogik von Toischer macht ungleich mehr darauf aufmerksam, dass Gedanken in einer schon immer vernetzten Welt wandern.7 Die Vorstellung einer abgeschlossenen und vermeintlich einheitlichen Wissensordnung wird so als inkonsistent markiert. Toischer schließt an seine kurzen Einlassungen zur Wissensweitergabe in Indien einen kurzen Abschnitt zu Erziehung in Ägypten an, um dann schließlich ein Kapitel zu »Israeliten« folgen zu lassen – hier weist Toischer auch
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Frühe Handelsbeziehungen – und damit verbunden auch der Austausch von Ideen und Wissen – sind mittlerweile längst nachgewiesen und hybride Räume für China im Jahr 1000 bekannt (Hansen 2020). Zudem sind »überregionale Vernetzung und internationale Verbreitung keineswegs ausschließlich Phänomene der jüngsten Vergangenheit […], sondern bereits Kennzeichen der vornationalen Bildungsgeschichte« (Berner/ Kurig 2020: 307).
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darauf hin, dass sich in »den Schriften des Alten Testaments […] viele und wichtige Grundsätze und Vorschriften für und über die Erziehung« (Toischer 1907: 8) finden, die an anderer Stelle nicht berücksichtigt werden. Und diese beiden Einlassungen auf Themen, die z.B. bei Regener und Messer nur am Rande angesprochen wurden, werden in der Einführung Toischers zu seiner Auseinandersetzung mit der griechischen Antike fortgeführt, denn Toischer positioniert sich zur traditionellen Darstellungsweise selbst kritisch: »Die ›griechische Erziehung‹ wird uns heute noch ab und zu als Ideal hingestellt, dem nachzustreben wäre. Die unbefangene Geschichte muß da zunächst darauf hinweisen, daß bei ›den Griechen‹, wie die Kultur und das staatliche Leben, so auch Erziehung und Unterricht sehr verschieden waren nach den Zeiten und nach den einzelnen Stämmen« (Toischer 1907: 9). Auch wenn Toischers Geschichte der Pädagogik dann in eher bekannte Bahnen einmündet, ist am Beginn der Erzählung doch sichtbar, dass eine Geschichte der Pädagogik aus guten Gründen an anderen Orten als Athen oder gar erst mit der deutschsprachigen Aufklärung beginnen kann. Zudem sind die Geschichten oftmals brüchiger als gedacht, wenn bei Regener Alexandria als Kulminationspunkt vieler Einflüsse prominent platziert wird. In den hier betrachteten Darstellungen ist die Antike dennoch eine griechische, »europäische« Antike. Sie wird als mehr oder weniger homogenes, sich ausbreitendes Projekt antiker griechischer Philosophie dargestellt. Andererseits sind die Anfänge der Erzählungen in der Antike selbst unterschiedlich, teilweise unentschieden und im Fall von Toischer auch selbstreflexiv. Die dargestellten Positionen und Einflüsse sind um einiges diverser als eingangs vermutet – die Probleme des Genres bleiben aber bestehen und die epistemische Dekolonialisierung ist Aufgabe der Zukunft.
4.
Durch Geschichten stolpern – Zur Geschichte der Geschichte der Pädagogik
Im Durchgang durch ausgewählte Geschichten der Pädagogik konnte ich ausweisen, dass diese keineswegs nur als gleichförmige europäische Meistererzählungen in Erscheinung treten. Schon anhand einiger Tiefenbohrungen in den Ausführungen zur Antike ist ersichtlich geworden, dass sie diverser, und vor allem unentschiedener sind, obwohl die hier betrachteten Geschichten dennoch das Narrativ einer fortschreitenden Modernisierung westeuro-
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päischer Prägung tradieren. Der vermeintliche zivilisatorische wird dabei an den nationalstaatlichen Fortschritt geknüpft. Geschichte der Pädagogik ist in den betrachteten Fällen immer auch ein Aufruf, Geschichte funktional nutzbar zu machen, um nationalstaatliche Bildungssysteme zu verbessern. Vor diesem Hintergrund treffen die Aussagen vieler Beobachter*innen zu, dass die im deutschsprachigen Raum publizierten Geschichten der Pädagogik ein vornehmlich westeuropäisches Narrativ reproduzieren, Geschichte zumeist anhand einzelner, vermeintlich zentraler Positionen erzählt wird und all das, was heute bekannt ist und durch die postkoloniale Kritik argumentativ nachvollziehbar an die erziehungswissenschaftliche Diskussion herangetragen wurde, bis jetzt kaum berücksichtigt worden ist. Die Defizitdiagnose trifft zu. Sie verfehlt ihren Gegenstand dennoch. Denn der Forschungsgegenstand Geschichte der Pädagogik wandelt sich durch die eingehende Betrachtung seiner empirischen Gestalt. Empirisch gesichert muss es nun um mehr gehen als immer wieder das zu kritisieren, was sich verfestigt hat. Stattdessen gilt es, das, was bereits da ist, auf seine epistemischen Ordnungen, die Wirkungsweise der kolonialen Matrix und die, wie ich ausgewiesen habe, dennoch vorhandenen Anschlusspunkte und Hinweise auf Hybridität zu befragen. Geschichte der Pädagogik wird damit einerseits zum Objekt der Forschung. Als Gegenstand kann sie befragt werden wie andere Text- und Quellengattungen, Praktiken oder Politiken – dieser Weg deutet auf die Möglichkeit einer Geschichte der Geschichte der Pädagogik hin. Das Genre zunächst aus den eigenen Brüchen heraus analytisch zu dekonstruieren und so zu dekolonialisieren ist Aufgabe von Wissenschaftler*innen, die sich sowohl für die impliziten Systematiken der Wissensproduktion als auch für die historischen Voraussetzungen und Möglichkeiten ebendieser interessieren. Die Historisierung der Geschichte der Pädagogik steht dabei noch an ihrem Anfang. Fragen danach, wie Geschichte der Pädagogik als Geschichte von »Kulturstufen«, Entwicklung von »Völkern«, und »Fortschritt« geschrieben wurde, sind immer auch in ihrem historischen Kontext wissenschaftsgeschichtlich zu begreifen. Dass Werke über die Geschichte der Pädagogik mehr als genug exklusive Momente beinhalten, Überlegenheitsvorstellungen mitbefördert haben und zum politischen Mittel wurden, macht sie sozial-, mentalitäts- und kulturgeschichtlich interessant. Andererseits sollte das Erzählen von Geschichten der Pädagogik als Praxis markiert werden. Wie wir Geschichten erzählen, prägt die Welt und kann sie folglich auch verändern. Die Erzählungen – und sei es nur die Erzählung der Verankerung von Schule als Masseninstitution auf der gesamten Welt –
Geschichte der Pädagogik dekolonial?
kreieren das Phänomen maßgeblich mit. Hier braucht es das, was Knobloch als polyzentrische Perspektive beschreibt und was Michael Rothberg als multidirektionale Erinnerung benennt. Geschichte der Pädagogik eignet sich als Genre heute nicht mehr dafür, eine bruchlose Einführung in ein Fach oder die vermeintlich »eine« Geschichte zu liefern. Stattdessen wird sie Gegenstand der Auseinandersetzung und Anlass zur Markierung von epistemischer Ungerechtigkeit. Als autoritativer Text kann sie nicht mehr gelten, denn sie ist ja nicht einmal nur ein Text. Zum Orientierungswissen wird sie nur im gemeinschaftlichen Modus der verstehenden Dekonstruktion und im Modus der Kritik. Die Möglichkeit der Kritik muss dabei gar nicht von außen herangetragen werden, denn Geschichten der Pädagogik tragen Figuren wie Hybridität oder Ambiguität in sich. Diesen Figuren nachzuspüren und sie in ihrem Kontext und ihrem Verwendungszusammenhang zu verstehen, ihre Quellenbezüge klar herauszuarbeiten und skrupulös mit ihnen umzugehen, ist nicht nur Bedingung der Möglichkeit von wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern möglicherweise auch das stets wacklige Fundament einer neuen und anderen Geschichte der Pädagogik samt ihrer ganz eigenen Geschichte.
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Religionspädagogik, religiöse Bildung und ihre Medien in postkolonialen Konstellationen1 Überblick, beispielhafte Impulse und Forschungsdesiderate Julia Henningsen und Jan-Hendrik Herbst
Der Kolonialismus wäre ohne die christliche Religion und den kirchlichen Missionsauftrag in der bekannten Form kaum denkbar gewesen. Religiöse Sprache, Narrative und Deutungsmuster haben dazu beigetragen, die kolonisierten Menschen zu Missionsobjekten zu machen (Kollmann 2011) – und damit Otheringprozesse zu befeuern. Mariano Delgado (2020: 64) spricht diesbezüglich von der »nicht aufgearbeitete[n] päpstlich-kuriale[n] Mitverantwortung für den Kolonialismus«. In diesem Sinn konnte Frantz Fanon schreiben, dass »die Kirche in den Kolonien […] eine Kirche von Weißen [ist], eine Kirche von Ausländern. Sie ruft den kolonisierten Menschen nicht auf den Weg Gottes, sondern auf den Weg des Weißen, auf den Weg des Herrn, auf den Weg des Unterdrückers.« (Fanon 1961: 32) Zugleich waren es immer wieder auch christliche Akteure, beispielsweise Ordensleute wie Bartolomé de Las Casas, die die koloniale Herrschaft radikal kritisierten (Delgado 2020: 64; Clayton 2011). Festzustellen ist womöglich eine »Dialektik von Mission und Kolonialismus« einerseits haben Mission und Missionar*innen zur Kolonialisierung beigetragen, andererseits kamen »viele Anführer der Unabhängigkeitsbewegungen aus den Missionsschulen« (Delgado 2020: 78).
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Für kritische Anmerkungen und Rückmeldungen bedanken wir uns bei Johannes Drerup, Janosch Freuding und Sebastian Pittl. Madeline Stratmann danken wir für eine formale Korrektur des Textes. Der Text bezieht sich hauptsächlich auf die katholische und evangelische Religionspädagogik. Im Rahmen der islamischen Religionspädagogik arbeitet beispielsweise Fahimah Ulfat (Tübingen) zur Thematik.
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Julia Henningsen und Jan-Hendrik Herbst
Religion hat also nicht nur »in der kolonialen Imagination und Herrschaftspraxis eine wichtige Rolle gespielt«, sie wurde auch »im antikolonialen Widerstand und in postkolonialen Identitätskonstitutionen […] diskursiv reartikuliert« (Nehring 2012: 327). Zunehmend gehört die Reflexion und Aufarbeitung der Kolonialzeit zur modernen Bildung – so spielt sie auch und gerade für die Religionspädagogik eine Rolle. Religion als Gegenstand religiöser Bildung2 ist von Beginn an in die Zusammenhänge verstrickt, denen sich postkoloniale Theorien widmen. Auch vor diesem Hintergrund möchten wir uns im Folgenden mit der Frage beschäftigen, wie sich die Wissenschaft Religionspädagogik und ihr Gegenstand, religiöse Bildung, in postkolonialen Konstellationen denken lassen. Das meint, entsprechend der Grundlegung in diesem Sammelband, dass religionspädagogisch Forschende nicht nur in Bezug auf den modernen Kolonialismus historisch informiert sind, sondern auch das Fortwirken kolonialer Strukturen, Effekte und Phänomene in der Gegenwart in den Blick nehmen (Koerrenz 2020; Winkler/Scholz 2021: 104-106). Dazu geben wir zuerst einen allgemeinen Überblick über die bisherige Rezeption postkolonialer Theorien in der christlichen Theologie und Religionspädagogik. Sodann werden wir als einen beispielhaften Impuls das Konzept der ›Repräsentation‹ näher in den Blick nehmen und es als eine Analysebrille verwenden, um Medien religiöser Bildung einem ideologiekritischen Blick zu unterziehen. Im abschließenden Ausblick werden wir mögliche Impulse postkolonialer Theorien für die Religionspädagogik skizzieren. Insgesamt fokussiert sich der Beitrag auf deutschsprachige Debatten und auf religiöse Bildung.3
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Zur Rezeption postkolonialer Theorien in der Theologie und Religionspädagogik – ein Überblick über den Forschungsstand
Seit ein paar Jahren haben postkoloniale Theorien auch in die christliche Theologie Einzug gehalten. Auf der internationalen Ebene gibt es eine breite
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Religiöse Bildung umfasst dabei sowohl schulischen Unterricht als auch Katechese bzw. Religionspädagogik in der Gemeinde oder andere Formen von außerschulischem Lernen. Neben dem Religionsunterricht kann postkoloniale Theorie auch die Konzeptionierung von Konfirmanden- und Gemeindearbeit sowie Erwachsenen- und Universitätsbildung bereichern (z.B. Hübner 2020).
Religionspädagogik, religiöse Bildung und ihre Medien in postkolonialen Konstellationen
Forschung, die sich mit postkolonialen Theologien befasst (Abraham 2015: 379-403; Pui Lan 2015: 115-126; Daggers 2013; Joy/Duggan 2012; McGarrah Sharp 2012). Dazu gehören christliche Theologien, wie sie beispielsweise in spezifischen kulturellen oder geographischen Kontexten entstehen (Hopkins 2012; Westhelle 2010; King 2006; Sugirtharajah 2006, 2008). Der postkoloniale theologische Kanon lässt sich in verschiedene Stränge untergliedern: »anti-colonial struggles«, »postcolonial biblical criticism«, »postcolonial theologies« und »indigenous, contextual, transnational, multi-religious and inter-disciplinary theologies« (Duggan 2013: 14-16). Zu berücksichtigen ist dabei das weite Verständnis von Religion, das nicht das Christentum als Maßstab für die Ausformungen anderer Religionen versteht, und das im Diskurs der Postcolonial Studies verortet ist (Santesso 2016: 1402-1406).
1.1
Postkoloniale Theorien und die deutschsprachige christliche Theologie
Im Blick auf die christliche Theologie in Deutschland zeigt sich, dass hier postkoloniale Theorien bis zuletzt noch zögerlich rezipiert wurden.4 Erste Bezugnahmen finden sich vor allem im Rahmen der Interkulturellen Theologie und der Missionswissenschaften (z.B. Küster 2011; Wrogemann 2012; Jahnel 2016; Interkulturelle Theologie/Zeitschrift für Missionswissenschaft [45/2019 (2/3); 38/2012 (1)]), in der Systematischen Theologie (Rettenbacher 2019), in den Bibelwissenschaften (Wiesgickl 2018) oder jüngst in der christlichen Sozialethik (HeimbachSteins/Bachmann/Becker 2020). Auch im Kontext von Befreiungstheologien spielen postkoloniale Theorien eine Rolle (Ernst-Habib 2019: 38-40; Maddix 2018: 481-482), was aber auch Spannungen evoziert, etwa in Bezug auf die Frage nach einem universalistischen Anspruch der biblischen Befreiungsbotschaft (Ackermann/Geitzhaus 2017: 132). Darüber hinaus finden sich drei größere Publikationen, die Verbindungslinien zwischen postkolonialen Theorien und Theologie ausloten. In der katholischen Theologie gibt der Sammelband von Sebastian Pittl (2018a) Anstöße für die Auseinandersetzung mit Geschichte, Folgen und Neuformierungen von Kolonialismus in weltkirchlicher Hinsicht. Dabei betont Pittl (2018b) einerseits die Notwendigkeit, die Idee der sogenannten »westlichen Moderne«
4
Zwei hilfreiche und jüngere Forschungsüberblicke finden sich bei Ernst-Habib (2019) und Nausner (2020).
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in ihrer Genese zu analysieren und verweist gleichzeitig auf die Heterogenität von postkolonialen Theorien bzw. von Theologien und ihren Methoden. Von evangelischer Seite aus sind erste Arbeiten durch Andreas Nehring und Simon Tielisch bzw. Wiesgickl in einer Doppelpublikation (2013, 2018) herausgegeben worden. Im ersten Band findet vor allem der postkoloniale Diskurs einer internationalen Autorenschaft eine größere Öffentlichkeit in der hiesigen christlichen Theologie. Im zweiten Band gibt es dann vorwiegend Artikel von deutschsprachigen Theolog*innen. Nehring betont die Verwobenheit des europäischen Religionsbegriffs mit kolonialen Strukturen (Nehring 2012: 337-339). Mit der Verbindung von Postkolonialismus und Theologie setzt sich drittens auch ein Sammelband auseinander, der von Britta Konz, Bernhard Ortmann und Christian Wetz (2020) jüngst herausgegeben wurde. Die Artikel im Band behandeln vor allem die Frage nach der Konstruktion von ›Wir‹ und ›der Andere‹, bei der besonders Ansätze aus dem Globalen Süden zu einer Reflexion dieser Dichotomie beitragen.
1.2
Postkoloniale Theorien in der internationalen und deutschsprachigen Religionspädagogik
Die internationale Religionspädagogik bezieht sich häufiger auf postkoloniale Ansätze als die deutschsprachige. Der Brite Liam Gearon (2002) eröffnet postkoloniale Perspektiven für die Religionspädagogik, indem er auf die politischen Implikationen des Lehrens und Lernens bei der Repräsentation von religiösen Traditionen hinweist. Überhaupt betont er die Relevanz von postkolonialen Theorien für die religiöse Bildung (Gearon 2001). Auch andere weisen deutlich auf den Einfluss der Postcolonial Studies auf das Feld religiöser Bildung hin und sehen eine große Notwendigkeit, religionspädagogische Inhalte, Methoden und Praktiken dadurch zu bereichern (Maddix 2018), beispielsweise beim interreligiösen Lernen durch Kritik an Othering und Identitätsfragen (English 2009; Hettiarachchi 2016). So wird außerdem die Bibeldidaktik erweitert durch die Re-Interpretation von biblischen Texten mithilfe der postkolonialen Hermeneutik (Lee 2012). Parallel zur internationalen Forschung lässt sich auch in der deutschsprachigen Religionspädagogik zunehmend ein Interesse für postkoloniale Theorien feststellen. Allerdings resultiert dies gerade noch nicht darin, dass »ein bewusster Erkenntnis- oder Methodentransfer von Postkolonialismus zu Religionspädagogik« stattfindet, vielmehr ist dieser »bis dato weitgehend ausgeblieben« (Scholz 2018: 285). Mit dem Theologen Stefan Scholz lassen
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sich jedoch Denk- und Traditionslinien religionspädagogischer Theoriebildung identifizieren, in die sich postkoloniale Impulse kritisch einschreiben (können), »vor allem die Eine-Welt-Pädagogik bzw. Neuauflagen befreiungstheologisch-pädagogischer Ansätze« (ebd.: 279). Erwähnt werden können hier etwa Publikationen von Norbert Mette (1993), Engelbert Groß (2001), Thomas Schreijäck (2007) und Thorsten Knauth (2012; 2020, Kap. 2.2). Im internationalen Raum können zudem Anschlüsse an interkulturelle Theologie und Pädagogik erwähnt werden (z.B. Baquero Torres 2011, 2012; Jackson 2005). Neuerdings findet sich auch im Zuge der Hinwendung zu »politischen, gesellschaftspolitischen und globalen Fragestellungen« (Scholz 2018: 278) in der Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum eine explizite Auseinandersetzung mit postkolonialen Theorien (z.B. Henningsen 2022; Pirker 2020: 225-228; Simojoki 2012, 2017, 2018a; Willems 2017; Wüllhorst 2020). Zudem wird die Interkulturelle Theologie in Verbindung mit postkolonialen Theorien als Ressource für den Religionsunterricht betrachtet (Konz 2020a) und unter Bezug auf das postkolonial inspirierte Kontrapunktische Lesen werden erste Unterrichtsmethoden entworfen (Konz/Jahnel 2019). Darüber hinaus zu erwähnen ist das 2016 gegründete »Netzwerk antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie« (NARRT). Es hat seinem Selbstverständnis nach zum Ziel, »die eigenen theoretischen und praktischen Entstehungszusammenhänge [von Rassismus und Antisemitismus sowie weiteren Ideologien der Ungleichwertigkeit] besonders im eigenen Handlungsfeld einer kritischen Prüfung zu unterziehen« (NARRT-Homepage). Dazu werden Vernetzungsmöglichkeiten unter Forschenden geschaffen, Tagungen organisiert und Materialien gesammelt. Dieser kurze Forschungsüberblick spiegelt die Situation einer sich entwickelnden postkolonialen Religionspädagogik wider und weist gleichzeitig auf die Notwendigkeit einer weiteren Auseinandersetzung – vor allem mit pädagogischen Modellen, Theologien und religionspädagogischen Ansätzen aus dem Globalen Süden – und eines stärkeren Praxisbezugs hin. Der selbstkritische Blick auf die eigene Praxis, die Bildungsmedien, das Bildungspersonal, Bildungsräume, Bildungsdiskurse, (Aus-)Bildungsinstitutionen und die ganze akademische Disziplin der Religionspädagogik wird deutlich. Diese Wege der (auch historischen) Selbstreflexion liegen im Interesse von Spivak. So konstatiert sie: »Das Beste des Postkolonialismus ist selbstkritisch.« (Spivak 2000: XV) Dabei kann der Austausch mit einer postkolonial informierten Religionswissenschaft, Theologie und Kulturwissenschaft nur förderlich sein.
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2.
Beispielhafte Impulse anhand der Analyse von Schulbüchern und anderen Bildungsmedien
Dass die religionspädagogische Rezeption postkolonialer Theorien produktive Impulse bieten kann, möchten wir im Folgenden an einem Beispiel veranschaulichen, und zwar der ideologiekritischen Analyse von Religionsbüchern.
2.1
Probleme und Perspektiven ideologiekritischer Religionsbuchanalyse im Horizont postkolonialer Theorien
Zu Beginn der Religionsbuchforschung im Zuge einer empirischen Wende der Religionspädagogik, in den 1960er und 1970er Jahren, waren ideologiekritische Ansätze äußerst präsent (Dieterich 1992: 138).5 Vor dem Hintergrund einer »Rückkehr der Ideologie« (Beyer/Schauer 2021) sind solche Ansätze von neuem Interesse. Kennzeichnend für sie ist der aufklärerische Anspruch, Vorurteile und Fehlvorstellungen im Unterrichtsmaterial aufzudecken, um das Unterrichtsmaterial zu verbessern (z.B. Steffensky 1973; vgl. Dieterich 2015: Kap. 5; Biener 2010). Verhältnismäßig jüngere Untersuchungen, die in eine solche Richtung zielen, betreffen die Darstellungen von Fremden (z.B. Orth 1996) oder den jeweils anderen Konfessionen und den Religionen des Judentums (z.B. Spichal 2015) und des Islams (z.B. Tworuschka 1986). Die Tradition einer ideologiekritischen Religionsbuchanalyse wird näher an Manfred Kemmes »Das Afrikabild in deutschen Religionsbüchern« (2004) veranschaulicht. Kemme beansprucht nicht nur selbst, eine ideologiekritische Analyse vorzulegen, er verortet sich auch im Rahmen einer Eine-WeltReligionspädagogik. Seine Arbeit stellt eine der wenigen Ausnahmen einer politisch bewussten Religionsbuchanalyse in der jüngeren Religionspädagogik dar (Willebrand 2016: 17).6 Kemme (2004: 3) setzt sich das Ziel, 5
6
Insofern im Folgenden das Verhältnis von Ideologiekritik und postkolonialer Theorie angesprochen wird, geht es auch um die Beziehung zur Kritischen Theorie, die in Kapitel 3.1 noch genauer betrachtet wird. Einen zentralen Ausgangspunkt für Kemme bildet Mettes (1993) Aufsatz zur »Dritte[n] Welt in der katholischen Religionspädagogik« (vgl. Kemme 2004: 13, 67). In diesem Aufsatz analysiert Mette auch Religionsbücher. Seine Ergebnisse werden vom Religionspädagogen Bernhard Grümme so zusammengefasst, »dass im Vergleich zur hochgespannten individuellen und existentiellen Wahrnehmung von Verantwortung in der Eine-Welt-Problematik die strukturellen Ursachen von Armut, Unterentwicklung und Ausbeutung gering ausfallen.« (Grümme 2009: 95).
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herauszuarbeiten, inwiefern Religionsbücher »ein möglichst zutreffendes und einfühlsames Bild von Schwarz-Afrika und seinen Menschen vermitteln oder ein vorurteilsbeladenes, eurozentrisches oder gar rassistisches Bild.« (ebd.: 3) Auch wenn der Topos Schwarz-Afrika in Religionsbüchern vorkommt und ein »offenkundiger Rassismus […] nirgends zu finden« (ebd.: 194) ist, fällt das Resümee durchaus kritisch aus (ebd.: 194-211; bes. 195-197). Themen wie Sklaverei, Armut und soziale Ungleichheit werden sehr wenig thematisiert, Veränderungsmöglichkeiten der strukturellen Probleme werden gar nicht aufgezeigt oder diskutiert (ebd.: 195). Häufig wird ein passives Bild der Menschen gezeichnet, das auf einer Rezeption von Entwicklungstheorien basiere (ebd.: 196) und paternalistische Schieflagen aufweist. Zum Teil findet sogar »Diskriminierung« (ebd.: 196) statt und »eine kritische Korrelation wird nicht angeregt« (ebd.: 201). Kemme konstatiert: »Es muss stärker darauf geachtet werden, dass keine Halbwahrheiten, Stereotypen und eurozentrischen Vorurteile in die Religionsbücher aufgenommen werden, z.B. […] europäisch-christliche Arbeitsmoral […]. Die Afrikaner sind nicht immer hungrig, krank und ziemlich dumm; nicht nur die Europäer wissen, was Entwicklung bedeutet« (ebd.: 204). Auch aufgrund einiger grundlegender Probleme mancher Formen7 von Ideologiekritik (z.B. Fey 2014: 85-86; Herbst 2018: bes. 93-94) – zum Beispiel einem problematischen Dualismus von ›wahr‹ und ›falsch‹, einer Tendenz zu einem unwissenschaftlichen Normativismus oder dem Fehlen einer selbstreflexiven Kritik der eigenen Subjektposition – ist eine ideologiekritische Analyse von Schulbüchern gegenwärtig jedoch wenig präsent, das gilt nicht nur für die Religionspädagogik. Diese Schwierigkeiten lassen sich an Kemmes Untersuchung exemplifizieren, wie eine aktuelle Studie von dem aus Eritrea geflüchteten Kessete Awet zeigt. Differenziert kritisiert dieser die Reproduktion eurozentrischer Sichtweisen, die dieser auch bei Kemme feststellt (Awet 2018: 59-64). Bei Kemme finden sich etwa mehr oder weniger subtile Formen von Othering und problematische Verallgemeinerungen. Als ein Beispiel führt Awet (2018: 60) das folgende Zitat von Kemme (Kemme 2004: 1) an: »Der Afrikaner/die Afrikanerin ist äußerlich auf den ersten Blick für uns Europäer als ungewöhnlich und fremdartig zu erkennen.« Dazu merkt Awet an, dass diese 7
Carl-Christian Fey (2014: 86-89) hält jedoch zurecht fest, dass diese Kritikpunkte sich eher auf pädagogische Adaptionen wie bei Wolfgang Klafki als auf ihre Ursprünge in der frühen Kritischen Theorie beziehen lassen.
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Gegenüberstellung von zwei Bevölkerungsgruppen eine »Stereotypisierung« darstelle, durch die »Vorurteile und Rassismen genährt werden.« (Awet 2018: 60) Zudem vollziehe Kemme durch seine Formulierungsweise »eine fragwürdige geistige Trennung in ›uns‹ und ›ihr‹.« (Ebd.) Als ein weiteres Problem ideologiekritischer Religionsbuchforschung lässt sich ein Methodenmonismus anführen, denn die meisten ideologiekritischen Ansätze gehen, wie auch Kemme, inhaltsanalytisch vor.8 Stellen postkoloniale Theorien, wenn sie als eine kritische Denkform9 gedeutet werden, eine Möglichkeit dar, diesen Forschungsstrang zu innovieren? Die Betrachtung neuerer Ansätze einer postkolonialen Analyse von Religionsbüchern lässt zumindest diesen Schluss zu. Die Theolog*innen Kathrin Winkler und Stefan Scholz artikulieren in ihrem Aufsatz »Subaltern Thinking in Religious Education? Postcolonial Readings of (German) Schoolbooks« etwa ein ideologiekritisches Erkenntnisinteresse. Ihr Ziel ist es, implizit rassistische Vorstellungen und Eurozentrismus, die Reproduktion einer »colonial ideology« (Winkler/Scholz 2021: 104), aufzudecken und zu dekonstruieren (ebd.: 119). Postkoloniale Theorie eröffne dabei eine Perspektive auf (subtile) Macht- und Dominanzverhältnisse, blinde Flecken und unbewusste Weltanschauungen. Sie verorten ihr Forschungsinteresse dabei in einer Linie mit anderen Formen von »ideological criticism« (ebd.: 105). Postkoloniale Lesestrategien werden dabei als eine Möglichkeit verstanden, einen inhaltsanalytischen Methodenmonismus zu überschreiten und ein weiteres Verständnis von ideologiekritischer Analyse zu gewinnen (ebd.: 106). Im Anschluss an Kathrin Winkler und Stefan Scholz sowie in Fortführung der bereits erwähnten Überlegungen von Carl-Christian Fey (2014) lässt sich die Pluralisierung kritischer Theorien10 damit als Ausgangspunkt begreifen, um die ideologiekritische Religionsbuchforschung zu aktualisieren. Ne8 9
10
Vgl. z.B. die ideologiekritischen Analysen bei Hubertus Halbfas (1968: 114-139) und Fulbert Steffensky (1973: 46-60). Das bedeutet, dass postkoloniale Theorien und Kritische Theorie in ein wechselseitiges Verhältnis gegenseitiger Bereicherung gebracht werden. Einerseits kann die Kritische Theorie und ihr Fortschritts- (Allen 2016), Politik- (Kerner 2019) oder Diskursbegriff (Biskamp 2016) durch postkoloniale Theorie kritisch korrigiert, andererseits kann umgekehrt eine bestimmte Form postkolonialer Theorie als kritische Gesellschaftstheorie begriffen werden (z.B. PROKLA-Redaktion 2010). Einführende Überlegungen bietet die Politikwissenschaftlerin Ina Kerner (2022). Neben der Frankfurter Traditionslinie sind hier postkoloniale, poststrukturalistische und postmarxistische Ansätze zu nennen (Gärtner/Herbst 2020: 618). Diese werden
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ben postkolonialen Theorien bieten sich hierbei besonders Bezugnahmen auf Michel Foucaults Macht- (z.B. Gärtner 2021) und auf Pierre Bourdieus Habitusanalyse (z.B. Štimac 2019) an. In diesen Theorieperspektiven produzieren auch Religionsbücher Ideologien, insofern sie etwa die Partikularität der zum Ausdruck gebrachten Perspektive universalisieren, »also eine Darstellung der Welt […] liefern, wie sie vorgeblich ›wirklich‹ so und nicht anders ist« (Hirseland/Schneider zitiert nach Fey 2014: 90). Eine solche Ideologieproduktion passiert beispielsweise durch »Strategien der Mythifizierung, der Naturalisierung und der Verdrängung des Ausgeschlossenen« (ebd.). Die Methode der Thematischen Diskursanalyse, die wir im Folgenden mit dem postkolonialen Konzept der ›Repräsentation‹ anreichern und auf Bildungsmedien anwenden, ordnet Fey dabei einer ideologiekritischen Vorgehensweise (im weiteren Sinne) zu.
2.2
Ideologiekritische Religionsbuchanalyse – postkolonial: Zur Anreicherung der Thematischen Diskursanalyse mit dem Konzept der ›Repräsentation‹11
In den Blick nehmen wir nun als eine Variante der ideologiekritischen Analyse von Schulbüchern und anderen Bildungsmedien die Thematische Diskursanalyse, die wir anschließend mit dem (auch postkolonialen) Begriff der ›Repräsentation‹ erweitern.
Die Thematische Diskursanalyse Unterschiedliches Wissen, disparate Deutungen und Interpretationen werden bei der Produktion eines Schulbuchs machtvoll ausgehandelt und verdichten sich als Konstrukte. Diskurse des gesellschaftlichen Makrokosmos finden auf diese Weise Einzug in den Mikrokosmos Schulbuch. Die von Thomas Höhne (2008) entwickelte Thematische Diskursanalyse bietet eine geeignete Methode, um diese Strukturen und Muster zu untersuchen.12 Von Höhne selbst wird sie als theoriegeleitet, rekonstruktiv und empirisch charakterisiert. Sie zielt ab auf »die Rekonstruktion spezifischer semantisch-
11 12
gerade im angelsächsischen Bereich in ihrer Affinität zueinander diskutiert, etwa als »Critical Theory« oder »Radical Philosophy« (Herbst 2020: 188). Die Abschnitte 2.2. und 2.3. sind in Anlehnung an die Dissertationsschrift von Julia Henningsen (2022) entstanden. Höhne hat sie selbst auch zur Analyse von Schulbüchern eingesetzt (z.B. Höhne/Kunz/ Radtke 2005).
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thematischer Grundstrukturen von diskursivem, d.h. sprachlich-zeichenhaftem Material, woraus sich das Attribut ›thematisch‹ für diese Art von Diskursanalyse (DA) herleitet« (Höhne 2008: 424). Der analytische Mehrwert einer Thematischen Diskursanalyse gegenüber reinen Sprach- und Textanalysen besteht darin, dass zugleich soziokulturelles Wissen untersucht wird, wie es sich beispielweise in Schulbüchern manifestiert. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Konstruktion von Sinn. Eine abschließende Sinnfestlegung kann jedoch niemals erreicht werden, da auch die Zeichen, auf die verwiesen wird, ihre Bedeutung gerade durch ihr Verhältnis zu wiederum anderen Zeichen innehaben.13 Es bestehen also stets Sinnkontexte. Höhne schreibt der Bildung von Themen daher drei Funktionen zu: Themen selektieren Bedeutung, weil sie typisieren und Monosemierung (Reduktion von komplexem Sinn auf eine von vielen möglichen Aussagen) (ebd.: 451) bezwecken, sie strukturieren Bedeutung, weil sie thematische Anschlüsse ermöglichen bzw. ausschließen und sie stabilisieren Bedeutung. »Ziel der diskursanalytischen Rekonstruktion ist ein stufenweises Herausfiltern typischer, thematischer Verknüpfungen [im Diskursdokument]« (ebd.: 431). Das Schulbuch dient hierbei als Diskursdokument. Mithilfe eines textlinguistischen, strukturalistischen, argumentationstheoretischen, semantischen und semiotischen Instrumentariums wird das komplexe Zusammenwirken der verschiedenen Diskursebenen untersucht. Dieses Vorhaben ist anspruchsvoller und ergiebiger als Analysen, die auf eine einzelne Ebene abzielen. Folgende Schritte sind dazu im Hinblick auf die Analyse der einzelnen Schulbuchausgaben vorgesehen: 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)
13 14
Fragestellung und Datenbasis Allgemeine Grunddaten Ersteindrucksanalyse Diskursformanalyse Intradiskursive Relationen Interdiskursive Relationen Bildanalyse Didaktische Dimension Resümee14
Vgl. das Zitat von Stuart Hall (2000: 270): »Meaning can never be finally fixed.« Hierfür werden die verschiedenen Varianten des Ablaufschemas berücksichtigt, die stets als »Pool an möglichen Begriffen« aufgeführt werden (Höhne 2008: 432; Höhne/
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Durch diesen bottom-up-Prozess können Diskursnetze erfasst und ausgewertet werden. Das Schulbuch kann zudem als ein Repräsentationsmedium von Diskursen verstanden werden. Um zu verdeutlichen, warum und auf welche Weise das Konzept der Repräsentation die Thematische Diskursanalyse bereichern kann, wenden wir uns nun zunächst diesem Begriff zu.
Das Konzept der Repräsentation An dieser Stelle wird zunächst der Begriff der ›Repräsentation‹ erläutert und durch Bezug auf seinen postkolonialen Kontext als höchst nützliches Analysewerkzeug plausibilisiert. Repräsentiert wird an vielen Orten, so auch in der Schule in allen Fächern: im Unterricht durch Lehrkräfte, Lernende und Bildungsmaterialien. Im Weiteren gehen wir konkret auf die religiöse Bildung ein – das Prinzip lässt sich jedoch auch auf andere Unterrichtsfächer und ihre dekolonisierenden Bemühungen übertragen.15 (Religiöse) Bildung in einer globalisierten Welt findet unter anderem mithilfe von Repräsentationen statt. Das Konzept der Repräsentation ist bisher kein Thema der religionspädagogischen Forschung, wirkt jedoch in die Religionspädagogik hinein.16 So werden andere Aspekte, die mit dieser Thematik verknüpft sind, bereits bearbeitet. Es entwickelt sich beispielsweise eine Sensibilität für Globalisierungsprozesse, für Machtfragen, für Wahrheitsansprüche, für die Dekonstruktion von vermeintlichen Wirklichkeiten, Diskursen und Wissen, für Geschichtlichkeit, für Übersetzungsfragen, für Identitätsfragen, für Interkulturalität und für andere Herausforderungen durch die Transformation der Religionspädagogik selbst. Das Repräsentationsgeschehen ist vielschichtig, vielseitig und umfasst mehrere Teilprozesse (z.B. Chakrabarti 2012; Hall 1997, 2000; Riese 1997; Westhelle 2013): Repräsentation meint Konstruktion, Stellvertretung, Vorstellung, Imagination und Selbstrepräsentation. Verbunden ist der Begriff außerdem mit der Idee der Chronologie von ontologischem Original und
15
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Kunz/Radtke 2005: 34-35, 108. Die hier mit 2), 8) und 9) nummerierten Schritte entstammen dabei der Auflistung bei Höhne/Kunz/Radtke 2005: 108). Insgesamt lässt sich ein weites Forschungsinteresse an der postkolonialen Schulbuchanalyse feststellen – etwa in Bezug auf Lehrwerke aus dem Sprachen-, Geschichts- und Erdkundeunterricht (Winkler/Scholz 2021: 104; Müller 2018; Dulko/Namgalies 2014). Eine postkolonial informierte Analyse von Religionsbüchern findet sich etwa auch bei Stefan Scholz (2018: 281-285). Die Frage der Repräsentation wird auch in anderen Disziplinen diskutiert (z.B. Linguistik, Politikwissenschaft, Ästhetik, Anthropologie).
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Repräsentation. Repräsentation beinhaltet Reproduktion, Repetition und somit auch Imitation. Dies kann bis zur Substitution führen, sodass das Original selbst überflüssig erscheint, denn die Repräsentation hat einen Eigenwert erlangt und wirkt stellvertretend. Versteht man jede Repräsentation jedoch als Konstrukt bzw. konstruierte Wirklichkeit, so verlischt die Existenz irgendeines »Originals«. Es gibt dann kein Nacheinander von Original und Repräsentation, sondern nur ein Aufteilen bzw. Verteilen von Bedeutung. Darin zeigt sich die Willkür von Bedeutungszuschreibungen. Impliziert sind dadurch Momente der Aneignung und der statischen Abgrenzung, die sich in Identifikationen, Stereotypisierungen und Othering-Prozessen niederschlagen können. Zentraler Auslöser für das Entstehen aller Repräsentationen ist die Intentionalität: Worauf fällt der Blick? Was möchte man sehen, was wie konstruieren und festigen und was wie de-konstruieren und verflüssigen? In diesen Prozessen wirken Machtinteressen. Abhängig vom Ziel bzw. Verwendungszweck einer Repräsentation, finden manche Merkmale eine stärkere Ausprägung oder Betonung als andere. Insgesamt sind alle Merkmale miteinander verknüpft. So schwingt bei jeder Repräsentation die Selbstrepräsentation, das Selbstbild, mit. Repräsentation ist jedoch keine »Einbahnstraße«. Es gibt Gegenstimmen und Gegenrepräsentationen aus dem Globalen Süden, die koloniale Repräsentationen infrage stellen, indem sie beispielsweise andere Narrative zu gängigen, wie der Vorstellung, der Globale Norden sei dem Globalen Süden durch seinen technischen Fortschritt überlegen, bieten. Es gilt, einem ganzen Diskurs der Hegemonie Widerstand zu leisten, die eigene Stimme zurückzufordern und mithilfe von Subversion oder Ironisierung der dominanten Narrative eine eigene Identität zu entwerfen. Im Rahmen von Bildung sind weitere Aspekte von Repräsentationen zu beachten. So trägt die Aufmerksamkeit zum Rezeptionserfolg bei, denn nur das wird verstanden und kann gedeutet werden, was gesehen wird. Die Dimension der Verantwortung auf Seiten der Repräsentierenden, aber auch auf Seiten der Rezipierenden, spielt eine große Rolle. Sie sind mit am (Miss-)Erfolg der Repräsentationen – also an einer möglichen neokolonialen Deutung – beteiligt und daran, ob Repräsentationen kolonial oder postkolonial gedeutet und reproduziert werden. Es ist außerdem die Vermittlung von Wissen über Repräsentationsmechanismen nötig, um Lernoptionen nutzen zu können. In den Kontext von Diskursen gehört außerdem ein Verständnis über Artefakte, Mentefakte, Wissen und Akteure.
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Wie aber fügt sich diese Erläuterung von Repräsentationen in Höhnes theoretisches Verständnis von Diskursen, Themen, Intra- und Interdiskursen ein? Unter Bezug auf den Kontextbegriff werden eine Zuordnung und ein Gesamtbild möglich: Ein Kontext ist ein Netz und Gefüge aus unzähligen weiteren Zeichen bzw. Repräsentationen, die allesamt einen Diskurs bilden. Einzelne Repräsentationen bilden demnach ein Feld aus Zeichen und können als »semantisches Feld« bzw. Diskurs oder auch Matrix aufgefasst werden. Für die konkrete Schulbuchanalyse gilt: Im Schulbuch selbst befindet sich niemals ein gesamter Diskurs (z.B. der Diskurs um den Globalen Süden), wohl aber enthält es einzelne Repräsentationen, die wiederum untereinander vernetzt sind. Das Schulbuch kann als Mikrokosmos des Gesamtdiskurses, der natürlich viel mehr Medien (Makrokosmos) außerhalb des intermedialen Schulbuchs durchwirkt, verstanden werden.
(Post-)Koloniale Wahrnehmung und Repräsentationen des Globalen Südens Der Globale Süden ist – im Unterschied zum geographischen Süden – als eine soziologische Größe zu verstehen, die jene Gebiete meint, die auf dem Index der »menschlichen Entwicklung« mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei unter zwei US-Dollar pro Tag liegen (Estermann 2017: 46). Insbesondere interessieren hier diejenigen Länder, die im globalen Vergleich ökonomisch benachteiligt sind, und zwar aufgrund ihrer Kolonisierung durch ein anderes Land bzw. andauernden Abhängigkeit von diesem Land, das heute dem Globalen Norden zugeordnet wird. Historisch betrachtet haben koloniale Repräsentationen lange Zeit dominiert. Weimann spricht von der jahrhunderteschweren Bürde des Kolonialismus, die es abzuarbeiten gilt (Weimann 1997: 41): »Die Schwierigkeit, […], hat damit zu tun, dass es dabei nicht nur um ein antiquiertes Weltverhältnis geht und auch nicht nur um ein antiquiertes Diskursverhalten, sondern gerade um den Konnex zwischen beiden. In diesem Sinne bleibt die Bürde der modernen Repräsentation auf fast heimtückische Weise unveräußerlich. Sie bleibt auf lange Zeit geknüpft nicht allein an den Kolonialismus und seine Folgen, sondern an all das, was damals und heute das kulturelle Unbewusste anrichten kann, zumal wenn es einherkommt im Verein mit unabsehbarer Ungleichheit im Materiellen und Sozialen.« Demnach wirken verschiedenen Mechanismen im Prozess des Repräsentierens. Bezogen auf die Repräsentationspraxis im (post)kolonialen Diskurs
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spielen die eurozentrische Weltwahrnehmung und Unterteilung in West und Ost sowie das Unbewusste eine große Rolle. Soziokulturell geprägte Wahrnehmungsschemata steuern unbewusst das (Re)Präsentieren und andersherum. Auf diese Weise konnte sich der eurozentrische Blick mit dem starken Wunsch nach Kontrolle entwickeln. Doch worin drückt sich dieser Eurozentrismus als eine praktizierte Sichtweise aus? Nicht nur das Äußere wird unterworfen und bewertet, sondern auch das Innere wird kontrolliert bzw. unterdrückt. Dies führt zur Rationalisierung und Projektion des Begehrens nach außen, was die Entstehung kolonialer Dichotomien erklären kann. Eine Dichotomie besteht beispielsweise im produzierten Gegensatz von Orient und Okzident. Hall verwendet den Gegensatz »the West and the rest«, wobei der Westen Entwicklung, Industrialisierung, Wissenschaft, Urbanität und Säkularisierung repräsentiere und der »Rest« Unterentwicklung, Ländlichkeit, Magie etc. Dabei würden aus dieser binären Sichtweise Wertungen abgeleitet (Hall 1992). Auch Said stellt Hypothesen zum Wissen des Westens auf. Er kritisiert den Westen in seiner Art der Wissensproduktion über den Orient als einem exotischen und homogenen Konstrukt (Said 1981). Der Orient dient dabei als Projektionsfläche des Westens. Said versucht, die Erschaffung und Erhaltung von kolonialen Wahrnehmungsschemata bewusst zu machen. Durch die Wissensproduktion und die daraus resultierende Repräsentation des Orients ist spätestens seit dem 18. Jahrhundert die eurozentrische kulturelle Herrschaft verfestigt worden.17 So zeigt sich der westliche Wille zur Macht, die zusätzlich verbunden ist mit politischer und ökonomischer Dominanz und sich im Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus weiter ausformt (Nehring/ Tielisch 2013b: 27-28). Als Literaturwissenschaftler geht Said vor allem dem Wissen in Form von Textproduktion nach. Texte präsentieren demnach nicht bloß einfach, sondern sind auch performativ an der Wirklichkeit beteiligt. Aus allen spinnt sich ein diskursives Netz von Repräsentationen – sozusagen eine Matrix der Weltaneignung. Diese Symbolkonstruktionen ergeben vielfältige Welt-Versionen – im Begriff des »Worldmaking« wird das Performative dieses Geschehens betont und geht über die Dimension von Texten hinaus (Goodman 1978). Der ähnliche Prozess des worlding, den Spivak als Begriff in Anlehnung an Jacques Derridas Kritik des Logozentrismus und des Textbegriffs prägte, bezeichnet die diskursive Aneignung von Welt durch Sprache 17
Vgl. dazu die sehr ausführliche Schilderung der Repräsentation als historische Praxis bei Weimann (1997).
Religionspädagogik, religiöse Bildung und ihre Medien in postkolonialen Konstellationen
und Schrift (Gutiérrez Rodríguez 2012: 24). Spivak bezieht den Begriff auf den Aneignungsprozess einer Kolonialmacht als Antwort auf die Irritation durch die bereits bestehende Kultur des kolonisierten Landes (Spivak 1985: 253). Es wirkt eine unbewusste ethnozentrische Logik, die Wissen von und über die Welt produziert und oft unhinterfragt reproduziert. Der Erfolg dieser Weltaneignung und Repräsentation ist abhängig von der Legitimation ebendieser durch Autoritäten. Das Repräsentieren ist niemals eine ideologisch neutrale Aktivität (Nehring/Tielesch 2013b: 30). In Bezug auf Europa kann Repräsentation als historische Praxis verstanden werden, die »die europäische Kultur in der Neuzeit durch eigentümliche diskursive Strategien mit formen und konstituieren hilft« (Weimann 1997: 9). Ohne eine Dekolonialisierung würden diese Repräsentationen vor allem im Globalen Norden weiterhin kolonial geprägt bleiben. Dazu ist ein Umdenken und Sensibilisieren für machtwirksame (neo-)koloniale Produktionen notwendig. So betont Richard King beispielsweise die Konstruktion von ›einem Europa‹ und ›einem Indien‹ und somit ihre Unrepräsentativität. Diese binären Oppositionen sind instabil und relational und könnten daher die Heterogenitäten, die sie vorgeben zu repräsentieren, gar nicht fassen. Statt des Diskurses der Dichotomien fordert er daher einen »discourse of heterogeneity« (King 2005: 209). Plurale Sichtweisen sollen der einen kolonialen entgegengestellt werden, um diese zu entkräften bzw. wiederum zu relativieren. Eine Unrepräsentierbarkeit in manchen Zusammenhängen, z.B. dem Völkermord an den Herero und Nama, betont Dominick LaCapra (2014: 42). So sind traumatische Erfahrungen – wie sie der Kolonialismus ja durchaus in unfassbarem Ausmaße bei den Kolonisierten aber auch Kolonisierenden bewirkt hat – nicht voll repräsentierbar. Die Kunst und ihr Spiel mit Bedeutungen bieten durch ihre Formen neue Möglichkeiten zur Repräsentation des Erlebten – religiöse Bildung ist herausgefordert, hier ebenfalls Wege der Thematisierung zu finden. (Religiöse) Bildung beruht oftmals auf Repräsentationen, weshalb eine Reflexion ebendieser wichtig ist. Dass es sich lohnt, die globale Dimension von religiöser Bildung unter dem Aspekt von Repräsentationen zu untersuchen, zeigen wir exemplarisch anhand der Thematischen Diskursanalyse einer Religionsbuchreihe.
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2.3
Konkretes Beispiel: Eine Thematische Diskursanalyse der Schulbuchreihe »Kursbuch Religion« (1976-2017): Repräsentationen des Globalen Südens
Für das Fach Evangelische Religion wird das »Kursbuch Religion« (Calwer/ Diesterweg-Verlag) in seinen Ausgaben von 1976-2017 für die Jahrgangsstufen 5/6, 7/8 und 9/10 auf die Frage hin untersucht, wie der Globale Süden dort repräsentiert wird (Henningsen 2022). Insgesamt 18 Kursbücher werden dafür in ihren Repräsentationen untersucht, sowohl synchron als auch diachron. Das »Kursbuch Religion« ist das meistverkaufte Religionsbuch der letzten 40 Jahre und kann darum als Spiegelbild der evangelischen Religionspädagogik angesehen werden.18
Allgemeine Ergebnisse Angestrebt wird die Rekonstruktion von (neo)kolonialen bzw. postkolonialen Strukturen, Themenkomplexen und Deutungsmustern – hier besonders mit dem Fokus auf Repräsentationen des Globalen Südens im Religionsbuch. Die Untersuchung konzentriert sich auf drei Dimensionen globalisierter Religion. Erstens weitet sie deshalb den Fokus auf den Globalen Süden aus, weil sich die globale Verantwortung des Christentums auf den gesamten Erdball bezieht. Die Folgen der Kolonialisierung und Missionierung sind besonders im Globalen Süden sichtbar und betreffen verstärkt auch den Globalen Norden, z.B. durch Migrationsbewegungen und die fortschreitende religiöse Pluralisierung. Zweitens hat sich der Schwerpunkt des globalen Christentums weltweit in Länder verlagert, die dem »globalen Süden« zugerechnet werden können. Das Christentum erfährt dort einen großen Zuwachs an Gläubigen und neuen Glaubensformen. Drittens sind auch andere globale Religionen, wie sie im Globalen Süden lebendig sind in ihrer Ausbreitung und Wirkungsweise für die interreligiöse Bildung zu verstehen. Dieser Wandel auf globaler Ebene verlangt nach einer Auseinandersetzung auf der Ebene des Lokalen. Das Lokale ist beispielsweise der Religionsunterricht in Deutschland. Der Globale Süden als Thema wurde seit dem Erscheinen in der ersten Ausgabe des »Kursbuch Religion« in zunehmender Häufigkeit und in Verbindung mit verschiedenen anderen Themen, Diskursen und Kontexten re-
18
Vgl. dazu auch diese gründliche Untersuchung bei Herrmann (2012).
Religionspädagogik, religiöse Bildung und ihre Medien in postkolonialen Konstellationen
präsentiert. Dabei sind Unterschiede hinsichtlich der Jahrgangsstufen zu erkennen. Für die Jahrgangsstufe 5/6 wird der Globale Süden bis zur fünften Ausgabe nur in einzelnen Untereinheiten oder sogar nur in einzelnen Dokumenten repräsentiert. In den Bänden für die Jahrgangsstufen 7/8 und 9/10 finden sich Repräsentationen des Globalen Südens von Anfang an auch in ganzen Einheiten, z.B. im Rahmen von Themen wie Kolonialismus und Mission. Gründe dafür liegen in den Vorgaben der Lehrpläne. Insgesamt wurde der Globale Süden mit seinen diskursiven Verknüpfungen ein integraler Bestandteil der Kursbuch-Reihe. Wie die Auswertungstabellen und die Einzelanalysen in der Dissertationsschrift zeigen, kam es im Lauf des Untersuchungszeitraums gleichzeitig zu detaillierteren Repräsentationen der unterschiedlichen Länder und Regionen des Globalen Südens, der dortigen Lebenssituationen, der dort lebendigen christlichen Konfessionen und anderen Religionen. Auch kamen nach und nach Repräsentationen aus dem Globalen Süden hinzu, wodurch sich die eurozentrische Perspektive weitete und neue Deutungen möglich wurden. Die 18 synchron untersuchten Fallbeispiele aus dem Korpus wurden jeweils auf ihre intra- und interdiskursiven Relationen hin untersucht, wobei die Dokumentarten auf den Schulbuchseiten einzeln sowie in ihrer Vernetzung betrachtet wurden. Dabei konnten folgende Strategien und Muster, wie sie aus der Diskurstheorie, der Definition von Repräsentationen und den postkolonialen Theorien abgeleitet wurden, beobachtet werden: Ungleichheitsverfestigungen, Dichotomieverstärkungen, Essenzialisierungen, Kollektivzuschreibungen, Konstruktionen, Imaginationen, Stereotypisierungen, Isotopien, Historisierungen, Entzeitlichungen, Monosemisierungen, Imitationen, Othering-Dynamiken etc. Teilweise finden sich Reflexionen und auch Dekonstruktionen dieser Strategien und Muster. Inhaltlich gesehen lassen sich verschiedene Themenkomplexe, sogenannte Topoi, erkennen, die entweder koloniale Diskurse reproduzieren oder diesen aber widersprechen und postkoloniale Deutungsweisen fördern. Diese richten sich nach vorgeprägten Wahrnehmungsschemata und performativ wirkenden Repräsentationen. Im Hinblick auf die diachronen Entwicklungen der Repräsentationsarten und der Topoi zeigt sich, dass diese keineswegs in allen drei untersuchten Dimensionen gleichförmig sind, sondern einzeln betrachtet und ausgewertet werden müssen. Es kann keine rein oder nur stereotypisierende – z.B. koloniale – Repräsentationspraxis festgestellt werden, wenn es um die Thematisierung des Globalen Südens im »Kursbuch Religion« in den Ausgaben
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zwischen 1976 bis 2017 geht. Vielmehr überrascht, wie divers die Prozesse von Ausgabe zu Ausgabe verlaufen. So werden in manchen Bänden mehrperspektivische Repräsentationsmuster geboten und in den nachfolgenden sind wieder vereindeutigende, nur eurozentrische Repräsentationen zu finden.19 Ebenso verhält es sich mit postkolonialen Reflexionen (z.B. in Einheiten zum Kolonialismus und Mission), die nur in manchen Bänden vorhanden sind. Darüber hinaus wird durch die übergreifende Analyse deutlich, dass die drei Dimensionen nicht streng voneinander zu trennen sind, sondern sich gegenseitig diskursiv überlappen. Es zeigt sich außerdem, dass sich die Perspektive hin zum Globalen zwischen 1976 und 2017 bezogen auf alle Ausgaben dieses Religionsbuchs mehr und mehr weitet.
3.
Ausblick: Forschungsdesiderate und Entwicklungsmöglichkeiten
Stefan Scholz (2018: 286) formuliert in seinem einführenden Überblick zu den Perspektiven einer postkolonialen Religionspädagogik folgendes Votum: »Die Religionspädagogik kann von weiteren Differenzierungen und Forschungsergebnissen postkolonialistischer Suchbewegungen gut profitieren, indem sie sie aktiv für die eigenen Diskurse erschließt.« Dieses Votum teilen wir, zugleich möchten wir im Folgenden ausführlicher darlegen, was dies exemplarisch bedeuten kann. Angedeutet werden sollen dabei, die Potenziale und Grenzen, die eine solche Rezeption besitzen mag. Schlaglichtartig lassen sich mögliche Impulse anführen, die sich auf wissenschaftstheoretische, didaktisch-analytische und unterrichtspraktische Fragestellungen beziehen.
3.1
Postkoloniale Theorien als wissenschaftstheoretische Herausforderung: Epistemische Dekolonisierung der Religionspädagogik?
Folgt man Stefan Scholz (2018: 271), dann ergänzen sich postkoloniale Theorien und Religionspädagogik sehr gut, schließlich gebe es vielfältige »Verbin-
19
Winkler & Scholz kommen in Bezug auf das von ihnen untersuchte Material zu etwas anderen Ergebnissen: »In summary, it is clear that subaltern thinking are [sic!] still present in textbooks of current German-language religious education and are [sic!] thus presumably also passed on in teaching practice« (Winkler/Scholz 2021: 120).
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dungen« und »Konvergenzen«. Er geht davon aus, »dass thematische Inhalte, methodische Ansätze, Stimmungen oder turns wie der Postkolonialismus relativ einfach in das weite Gebiet der Religionspädagogik Eingang finden können.« (ebd.: 272) Theoretische Affinitäten macht er unter anderem daran fest, dass »Mündigkeit, Subjektwerdung, Multiperspektivität und globale Gerechtigkeit sowie Dekonstruktion« (ebd.) sowohl auf Seiten postkolonialer Theorien als auch auf Seiten der Religionspädagogik von Bedeutung sind bzw. sein können. Beispielsweise vergleicht er den ›Subjektwerdungsprozess‹, den Frantz Fanon (1952) in »Schwarze Haut, weiße Masken« beschreibt (Scholz 2018: 274), mit einem kompetenzorientierten Religionsunterricht, der »vom Gedanken der Subjektwerdung getragen« sei und »auf Freiheit und Selbstbestimmung der Lernenden« (ebd.: 275) ziele.20 Dieser Fokus auf harmonische Perspektiven ist (implizit) einer Spannung ausgesetzt. Schließlich konzediert Scholz selbst zugleich, dass die Gefahr einer akademischen Zähmung und »Depolitisierung« (ebd.: 278; vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: 78) postkolonialer Theorien besteht. Denn die Rezeption postkolonialer Theorien ist nicht ohne eine grundsätzliche Kritik »an der modernen eurozentrischen Wissensordnung sowie am universalisierenden Herrschaftsdiskurs des westlichen Rationalismus« (Doris Bachmann-Medick zitiert nach Scholz 2018: 280; vgl. z.B. Gruber 2018) zu haben. Wissenschaftstheoretisch gesprochen ginge es um eine epistemische Dekolonialisierung der Religionspädagogik, grundlegende Konzepte und disziplinäre Grenzen werden angefragt. Dabei werden Fragen thematisiert, wie »die Wissensproduktion etwa über die sozialen Medien und verschiedene Netzwerke aus dem akademischen Machtgefüge herauszuholen und auf eine breitere Basis zu stellen« (Ernst-Habib 2019: 41) sei. Mögliche Konsequenzen daraus können anhand von drei Beispielen skizziert werden.21 Der zentrale Bezugsgegenstand von Religionspädagogik und religiöser Bildung ist Religion. Dieses (moderne) Konzept selbst ist jedoch, so wird – wie 20
21
An dieser Stelle wird nicht näher problematisiert, dass aus postkolonialer Perspektive sicherlich auch Kritik an Emanzipation und Mündigkeit sowie besonders am Konzept der Kompetenzorientierung zu äußern wäre. Gerade die von Scholz (2018: 273-274) angeführten Gewährsleute wie Immanuel Kant lassen sich keinesfalls auf triviale Weise mit postkolonialen Theorien verbinden. Über diese drei Beispiele hinaus gibt es natürlich vielfältige weitere Impulse, die wahrzunehmen sind. Relevant dürfte etwa auch die wissenschaftstheoretische Frage nach der Rolle und Bestimmung von Bezugsdisziplinen der Religionspädagogik sein. Theologie, Erziehungswissenschaften oder Kulturwissenschaften haben in unterschiedlichem Maße postkoloniale Theorien rezipiert.
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zuvor bereits angemerkt – von postkolonial inspirierten Ansätzen der Religionswissenschaften hervorgehoben, »das Produkt eines globalen Verbreitungsprozesses […], der im Zuge von Kolonialismus und Mission ab Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt und in Europa ebenso wie in den kolonisierten Gebieten den Begriff Religion als Teil des kolonialen Herrschaftswissens etabliert« (Schröder 2015: Kap. 2; vgl. King 2005). Religionspädagogisch müsste geklärt werden, inwiefern sich im Religionsverständnis noch immer Ablagerungen dieses Herrschaftswissens auffinden lassen oder ob sich mittlerweile ein differenziertes Verständnis von »[g]lobalisierter Religion« (Simojoki 2012) abzeichnet. Die Geschichtsschreibung der Religionspädagogik findet zunehmend professionalisiert im Rahmen einer Historischen Religionspädagogik statt, die eine Sensibilität für globale und transnationale Rezeptionsprozesse zeigt (z.B. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 1/2021). Postkoloniale Perspektiven werden dabei durchaus in ersten Ansätzen berücksichtigt, wenn etwa David Käbisch (2017: Kap. 3) in Bezug auf historische Komparatistik implizite Voraussetzungen wie modernisierungstheoretische Grundannahmen problematisiert: »Insbesondere die in der Tradition der Postcolonial Studies stehende Geschichtsforschung hat für die verschiedenen Eurozentrismen sensibilisiert, wenn die in Europa beobachtbaren Prozesse der Säkularisierung, Pluralisierung, Individualisierung, Privatisierung, Ökonomisierung und/oder Urbanisierung von Religion zum Analysemaßstab in anderen Weltregionen werden«. Allerdings findet sich dabei bisher keine umfassendere Auseinandersetzung mit postkolonialen Theorien – wie sie etwa in Bezug auf die Geschichte der Pädagogik durchaus vorhanden ist (Koerrenz u.a. 2017; Knobloch 2020; Spieker 2015). Die Bedingungsanalyse religiöser Bildung bezieht besonders die Lernenden und ihre Umwelt mit ein. Zunehmend geraten dabei intersektionale Kategorien auch in der Religionspädagogik in den Blick – etwa in der Debatte um religiöse Vielfalt und Heterogenität. Zu solchen Debatten lässt sich anhand von postkolonialer Theorie ein Beitrag leisten (Ernst-Habib 2019: 45-46). So konzediert etwa Thorsten Knauth (2020: Kap. 2.2), dass postkoloniale Theorien das Anliegen mit dem religionspädagogischen Aufgreifen von Intersektionalität teilen, »eine analytische Perspektive auf Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse« anzubahnen und »in herrschafts- und benachteiligungskritischer Absicht durchzuführen.« Zwei produktive Impulse, die gängige religionspädagogische Annahmen irritieren mögen, möchten wir dabei besonders hervorheben. Erstens lässt sich mit postkolonialen Theorien infra-
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ge stellen, dass Schüler*innen idealistisch als Subjekte vorausgesetzt werden können. Vielmehr werden durch sie »[m]acht-, gesellschafts- und ökonomiekritische Analysen« bereitgestellt, um »die sozialen Ohnmachtsstrukturen zu erfassen, in denen Subjekte heute leben« (Boschki 2017: Kap. 6). Darüber hinaus wird vor dem Hintergrund einer möglichen Rezeption postkolonialer Theorien in der Religionspädagogik virulent, inwiefern sich Spannungen zwischen unterschiedlichen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ergeben (können). Nur dann, wenn man »im Abstrakten« verbleibt, wird etwa unsichtbar, dass Antisemitismus- und Rassismuskritik »in offenen Streit« (Biskamp 2020: 426) geraten können – was an der Debatte um den kamerunischen Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe deutlich geworden ist (Engel 2020). In diesem Sinne stellen postkoloniale Theorien durchaus eine grundlegende Herausforderung für die Religionspädagogik dar, wobei differenziert abzuwägen ist, welche Anfragen wirklich weiterführend sind. Vermeintlich ›westliche‹ Konzepte wie Rationalität, Subjekt, Fortschritt oder Universalismus bieten womöglich einen nicht aufgebbaren Impuls, der mindestens kritisch mit dem Anliegen postkolonialer Theorien zu vermitteln wäre (z.B. Ackermann 2021; Biskamp 2020; Salzborn 2015) – wie auch in Bezug auf pädagogische Konzeptionen wie die Global Citizenship Education argumentiert wird (Drerup 2019).22 In diesem Sinn plädieren wir dafür, einerseits die radikalen Konsequenzen einer religionspädagogischen Rezeption von postkolonialen Theorien ernst zu nehmen und gleichzeitig den damit verbundenen Anspruch kritisch zu diskutieren und – falls nötig – begründet zu begrenzen.
22
Dabei gilt es einerseits zu bedenken, dass manche postkolonialen Autor*innen, etwa Spivak oder Nikita Dhawan (2019), keinesfalls auf alle Aspekte ›westlicher‹ Aufklärung verzichten (möchten) – beispielsweise sind Demokratie oder Kritik wichtige Bezugspunkte –, und damit keine falschen Gegensätze aufgemacht werden sollten. Andererseits gilt es den Wahrheitskern der postkolonialen Aufklärungskritik ernsthaft zu berücksichtigen, um sich der Ambivalenzen und Widersprüche aufklärerischer Denktraditionen bewusst zu werden. Beispielhaft dafür steht John Stuart Mill, der in »On Liberty« gleichzeitig die Durchsetzung von Freiheitsrechten in Europa fordert und für Formen despotischer Herrschaft in den Kolonien wirbt.
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3.2
Postkoloniale Theorien und die politische Dimension des Religionsunterrichts: Zur Notwendigkeit einer kritischen Analyse von Curricula und Bildungsmedien
Durch den Fokus dieses Artikels wurde deutlich, dass postkoloniale Theorien gerade die kritische Analyse von Curricula und Schulbüchern bereichern können, indem sie implizite Verstrickungen von religiöser Bildung mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen aufzudecken vermögen.23 Weil koloniale Denkformen und rassistische Sichtweisen in Lehrplänen und -materialien noch immer präsent sind, gilt es darüber zu reflektieren, inwiefern neben der Wissenschaftsdiziplin Religionspädagogik auch diese zu dekolonisieren wären (Winkler/Scholz 2021: 103). Der didaktisch-analytische Impuls überschreitet dabei die hier akzentuierte Perspektive hin zu ›Repräsentationen des Globalen Südens‹. In den Blick genommen werden können anthropologische Grundannahmen, religiöse Klassifikationen oder Vorstellungen von Kultur und Schöpfung (ebd.: 107). Dabei gilt es ein Problembewusstsein zu entwickeln für Prozesse des Repräsentierens, welche wohl unabdingbar zum Lernen dazugehören. An einem weiteren Beispiel lässt sich die Bedeutung eines solchen Problembewusstseins veranschaulichen: Repräsentationen von nicht-christlichen Religionen wie dem Islam in Bildungsmedien (z.B. Štimac/Spielhaus 2018). Der evangelische Religionspädagoge Joachim Willems zeigt etwa auf, wie in Religionsbüchern ›der‹ Islam zu einer Projektionsfläche für interreligiöse Othering-Prozesse wird. Im bereits angeführten Kursbuch Religion elementar für die Klassenstufe 7/8 wird zu Beginn die Überschrift »Muslime bei uns« (zitiert nach Willems 2020: 485) verwendet. »Damit wird schon zum Einstieg suggeriert, dass Muslime nicht zu ›uns‹ gehören würden und Teil einer ›Wir-Gruppe‹ seien, sondern als ›Andere‹ ›bei‹ uns leben.« (Ebd.) An vielfältigen weiteren Beispielen lassen sich nicht nur mit Willems (z.B. Freuding/Graeff 2019; Winkler/Scholz 2021: 119) solche problematischen Tendenzen nachweisen: In und durch Medien religiöser Bildung wird eine »Essentialisierung und Dichotomisierung von ›Wir‹ und ›der Islam‹« verstetigt – wenn etwa signalisiert wird, »dass das (evangelische) Christentum im Unterschied zum Islam offen für Zweifel und
23
Damit können postkoloniale Analysen verhelfen, zu einer religionspädagogischen Selbstvergewisserung hinsichtlich der politischen Dimension von Religionsbüchern beizutragen, wie sie etwa Folkert Rickers (2001: 1532; 2010: 167-168) oder Bernhard Grümme (2009: 94-96) angedeutet haben.
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nicht-fundamentalistisch sei« (Willems 2020: 487). Diesbezüglich finden sich nicht nur inter-, sondern auch intrareligiöse Vereindeutigungen (z.B. zwischen Katholizismus und Protestantismus), die das Potenzial einer differenzsensiblen religiösen Bildung unterminieren (ebd.: 488; Konz 2020b). Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Analysen ziehen? Einerseits lassen sich Kriterien dafür aufstellen, wie problematische Repräsentationen bei der Erstellung von Lehrplänen und Curricula umgangen werden können: Darzustellen gilt es Heterogenität und Vielstimmigkeit, Dynamik und Prozesse, Leerstellen und weiterführende Verweise; zu vermeiden sind dagegen (normativ aufgeladene) Dichotomien – etwa zwischen dem Globalen Norden und Süden oder zwischen Christentum und Islam. »Gegen das Stereotyp der unterdrückten Kopftuch-Trägerin etwa könnten die unterschiedlichen Motivlagen erarbeitet werden, aus denen heraus muslimische Mädchen und Frauen ein Kopftuch tragen« (Willems 2020: 483). Andererseits hängt es immer auch von der didaktischen Rahmung ab, inwiefern problematische Repräsentationen auch Othering-Prozesse verstetigen. Lehrkräfte und Lernende können schließlich auch dekonstruktiv mit Bildungsmaterial umgehen und dieses als eine »Quelle« betrachten, »die analysiert wird, um ›Othering‹-Prozesse nachzuzeichnen« (ebd.: 485). Indem Repräsentationen (beispielsweise mithilfe von historischem und kulturellem Wissen) kontextualisiert, alternative Deutungsweisen eingespielt, kritische Rückfragen gestellt bzw. zugelassen oder metareflexiv die Gefahren von Repräsentationen thematisiert werden, können auch problematische Darstellungen zu produktiven Lernprozessen führen. Diese Perspektiven deuten zugleich die Grenzen von Religionsbuchanalysen an, die nicht die reale Unterrichtspraxis in den Blick bekommen. Dazu ist es notwendig, auch auf empirische, z.B. ethnographische Unterrichtsforschung zurückzugreifen, um auch das Rezeptionsverhalten der Lehrer*innen und Schüler*innen berücksichtigen zu können (Winkler/Scholz 2021: 104; Dieterich 2015: Kap. 5).
3.3
Praktische Impulse postkolonialer Theorie: Neue Perspektiven für Gestaltung und inhaltliche Gehalte religiöser Bildung
Die praktischen Impulse postkolonialer Theorien lassen sich exemplarisch in Bezug auf die Grundkategorie religionspädagogischer Prinzipien (z.B. Hilger/Leimgruber/Ziebertz 2015) beziehen. Prinzipien befinden sich dabei im Abstraktionsgrad unterhalb der wissenschaftstheoretischen Kategorie eines didaktischen Ansatzes oder Konzepts und oberhalb einer bestimmten Me-
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thode oder eines Inhaltsfelds. Exemplarische Auswirkungen seien in Bezug auf die Prinzipien Globales, Biblisches und Interreligiöses Lernen dargestellt, ebenso dankbar wären allerdings auch Impulse für Ethisches, Ästhetisches oder Mystagogisches Lernen. Globales Lernen (z.B. Simojoki 2018b), so halten es die Religionspädagogen Matthias Bahr und Stephan Leimgruber (2015: 472) in ihrem Überblick fest, macht »auf die schicksalshafte Zusammengehörigkeit aller Menschen aufmerksam.« Dazu zählen sie die drei Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, die dem vom Ökumenischen Rat der Kirchen angestoßenen Konziliaren Prozess zugerechnet werden.24 Religiöser Bildung rechnen sie hierbei ein Potenzial zu, »um über den eigenen Tellerrand zu blicken. Durch Begegnungen, Aktionen, Projekte, und Reflexionen soll die globale Weltsicht und die internationale Verflochtenheit unseres Handelns anschaulich gemacht werden, sodass sich verantwortungsbewusste Einstellungen mit Blick auf die Eine Welt entwickeln können.« (Ebd.) Globales Lernen, das im Rahmen religiöser Bildungsprozesse stattfindet, kann dabei durch postkolonial inspirierte Methoden und Themenstellungen bereichert werden – etwa vom Berliner Verein für machtkritische Bildungsarbeit glokal e.V.25 Zugleich stellen gerade in diesem Kontext problematische Repräsentationen oder paternalistische Tendenzen bleibende Gefahren dar, für die postkoloniale Theorien sensibilisieren (Danielzik 2013; Scholz 2018: 281). Eine Herausforderung stellt diesbezüglich etwa die postkoloniale Kritik am Konzept der Menschenrechte dar (Winkler 2020: bes. 163-166), mit dem Legitimation von Unrecht, Exklusion und die Universalisierung partikularer Interessen verbunden werden. Biblisches Lernen »zielt auf spannungsreiche und tiefgründige Begegnungen zwischen Schülerinnen und Schülern einerseits und der Heiligen Schrift andererseits, die beide Pole in Bewegung bringen und ihnen neue Horizonte eröffnen« (Kropač 2015: 433). In jüngerer Zeit werden dabei zunehmend rezeptionsästhetische und poststrukturalistische Impulse berücksichtig, um biblisches Lernen neu zu justieren. Dass hierbei gerade auch postkoloniale Theorien weiterführende Impulse bieten können, zeigt etwa
24 25
In einem engen Zusammenhang steht dieses Prinzip damit mit Ethischem und Ökologischem Lernen sowie mit Menschenrechtsbildung. Erwähnt werden können hier etwa postkoloniale Stadtrundgänge oder politisch sensible Planspiele. Ein Beispiel für postkolonial ausgerichtetes Unterrichtsmaterial für den Politik- und Wirtschaftsunterricht bietet Saraya Gomis (2021).
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die Adaption bestimmter Methoden (z.B. ›kontrapunktisches Lesen‹, Konz/ Jahnel 2019) oder inhaltlicher Deutungen (z.B. ›Christus in Afrika‹, Simojoki 2017). Über solche punktuellen Impulse hinaus stellen sich bibeldidaktisch auch grundlegendere Fragen: Biblisches Lernen ist religionspädagogisch noch immer stark durch die sog. historisch-kritische Exegese geprägt, deren »unhinterfragte Vormachtstellung« (Konz 2020b: 246) gerade im Rahmen postkolonialer Theologie thematisiert wird. Interreligiöses (und interkulturelles) Lernen »kann einen achtsamen Umgang miteinander und eine Konvivenz von unterschiedlich suchenden und glaubenden Menschen ermöglichen« (Leimgruber/Ziebertz 2015: 471). Mögliche Impulse postkolonialer Theorien für die kritische Reflexion und Ausgestaltung solcher Bildungsprozesse wurden bereits angeführt, sie werden insgesamt in der Religionspädagogik bereits teilweise diskutiert (z.B. Winkler/Scholz 2021: 113, 115; Willems 2020: 473-483). Besonders lässt sich dabei problematisieren, dass der ›religionspädagogische Mainstream-Diskurs‹ zum interkonfessionellen und interreligiösen Lernen immer noch zu stark einer Richtung ›erziehungswissenschaftlicher Konzepte interkulturellen Lernens‹ ähnelt, die letztlich eine kulturelle Differenz herstellen (Konz 2020b: 248; vgl. Möller/Wedding 2017: 139-158; Möller 2017: 43-59). Die Begegnung mit dem Anderen werde dabei »als Chance und Bereicherung des Eigenen verstanden, insofern das Verständnis für das Andere grundgelegt, aber auch das Eigene in Abgrenzung zum Anderen und Fremden schärfer konturiert wird« (Möller & Wedding zitiert nach Konz 2020b: 248).26 Problematisch an solchen Vorstellungen ist, dass das Eigene und Fremde tendenziell homogen gedacht und eher statisch einander gegenübergestellt wird. Solche Denkmodelle wären, so hält die Religionspädagogin Bettina Brandstetter (2020: 256) in ihrer Dissertationsschrift fest, »einer postkolonialen Revision zu unterziehen«, um »zugrunde liegende Diskurse und Machtverhältnisse aufzuspüren und offen zu legen«.
26
Beispielhaft betrifft diese Kritik etwa die Ansätze interreligiösen Lernens von Stephan Leimgruber (2007: 15) oder Clauß Peter Sajak (2012: 223), wenn etwa Leimgruber festhält, dass nur dort »interreligiös gelernt und Fremdheit respektvoll zur Kenntnis genommen werden [kann], wo das Eigene bereits besteht, bekannt ist und gelebt wird« (vgl. dazu z.B. Brandstetter 2020: 248-251; Grümme 2020).
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3.4
Abschluss
Der US-amerikanische Praktische Theologe Mark A. Maddix (2018: 486) hält die Rezeption postkolonialer Theorien und Theologien für essentiell, wenn Religionspädagogik und religiöse Bildung gesellschaftspolitisch Verantwortung übernehmen möchten. Seine Vorschläge schließen dabei an unsere Überlegungen an und weisen zugleich über sie hinaus: Eine postkolonial informierte Religionspädagogik ist kontextsensibel, multiperspektivisch und divers, machtkritisch und inklusiv (ebd.: 486-488). Dazu bedarf es auch der Aufnahme neuer oder der Vertiefung randständiger Themen (z.B. die Verstrickung von Mission und Kolonialismus). Eine postkoloniale Religionspädagogik vermag es dabei, religiöse Bildung zukunftsfähig zu gestalten (ebd.: 488-489).27 Der Einbezug von Forschungsergebnissen ihrer Bezugsdisziplinen wird dabei immer wichtiger. Für die Auseinandersetzung mit Themen wie dem Kolonialismus und dem entsprechenden (post)kolonialen Bewusstsein stellen die Psychologie und die Kulturwissenschaften stärker zu beachtende Disziplinen dar. Eine Sensibilisierung für Lehr- und Lernprozesse kann auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden. Der hier vorgestellte Repräsentationsbegriff bietet eine Anschlussmöglichkeit für die Religionspädagogik und andere Fächer. Repräsentieren und Repräsentationen spielen unbewusst bei allen religionspädagogisch Aktiven – seien sie in ausbildenden, forschenden, lehrenden, konzipierenden oder anderen Positionen – eine Rolle. Als pädagogische Kategorie erweist sich die Repräsentation als Schlüssel, der Lernprozesse reund dekonstruierbar macht, um Wege zu einem Ver- oder Neulernen zu eröffnen. Der historische, kritische Blick – vor allem auf die eigenen Mentefakte und Artefakte – lohnt, um heutigen global-gesellschaftlichen Veränderungen begegnen zu können und sich als Disziplin eine Transformation auch in postkolonialen Konstellationen zuzumuten.28
27 28
Siehe dazu auch die Thesen bei Ernst-Habib (2019). In der Folge kann sich das auch konkret auf den Religionsunterricht auswirken. Dazu trägt auch eine neue Unterrichtsmaterialreihe von Vandenhoeck & Ruprecht bei: »Politisch denken lernen mit Religion und Ethik«. Diese bezieht sich explizit auf postkoloniale Dimensionen religiöser und politischer Bildung.
Religionspädagogik, religiöse Bildung und ihre Medien in postkolonialen Konstellationen
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Zur postkolonialen Kritik globaler demokratischer Bildungsgerechtigkeit1 Julian Culp
1.
Einleitung
Die Anfänge postkolonialer Theorie sind in den Literaturwissenschaften zu verorten, innerhalb welcher sich diese Theorie aus einer Kritik an dem nahezu exklusiven Fokus auf europäische und insbesondere britische Autoren in den Curricula der Englischfakultäten in ehemals kolonisierten Gesellschaften herausgebildet hat.2 Die als »postkolonial« bezeichneten Theoretiker:innen –Thiong’o (1995: 441), zum Beispiel – kritisierten diesen Fokus dafür, dass er die Mitglieder der ehemals kolonisierten Gesellschaften daran hinderte, mittels Literatur ihre Lebenswelten kritisch zu reflektieren. Inzwischen ist postkoloniale Theorie aber auch Teil der Disziplinen Anthropologie, Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie. Ihr Gegenstandsbereich ist die kritische Analyse anhaltender Wirkungen des Kolonialismus. Diese Wirkungen betreffen die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse in den ehemals kolonisierten und den ehemals kolonisierenden Gesellschaften, sowie ebenso die aktuellen Verhältnisse zwischen diesen Gesellschaften und deren Mitgliedern. Besonders
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Der dritte Abschnitt dieses Aufsatzes ist eine Übersetzung von Teilen sowohl des zweiten Kapitels »Global Democratic Justice as the Normative Ground of Educational Public Policy« als auch des dritten Kapitels »Global Democratic Educational Justice« meines Buches Democratic Education in a Globalized World – A Normative Theory (Culp 2019). Der vierte und fünfte Abschnitt sind Übersetzungen von Teilen des fünften Kapitels »Postcolonial Critiques of Democratic Education« dieses Buches. Während das fünfte Buchkapitel sowohl postkoloniale Kritiken einer demokratischen Auffassung von globaler Bildungsgerechtigkeit als auch postkoloniale Kritiken einer demokratischen Auffassung weltbürgerlicher Erziehung und Bildung diskutiert, bezieht sich dieser Aufsatz nur auf die erste dieser zwei Arten postkolonialer Kritiken. Einer der Schlüsseltexte dieser Art der Kritik ist Thiong’o (1995).
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hervorzuheben ist die grundlegende Annahme vieler postkolonialer Theoretiker:innen, dass »neo-koloniale« Praktiken alle diese Verhältnisse charakterisieren und sozio-politische Ungerechtigkeiten reproduzieren, obwohl diese Praktiken freilich anders als die kolonialen Praktiken in Erscheinung treten, an deren Stelle sie getreten sind (vgl. Kerner 2012). In diesem Aufsatz behandle ich eine mögliche postkoloniale Kritik an meiner demokratischen Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit, die sich darauf richtet, dass in dieser Konzeption ein Restbestand kolonialen Denkens diagnostizierbar ist.3 Diese Kritik bezieht sich insbesondere auf die universale Gültigkeit beanspruchenden Grundsätze dieser Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit und besagt, dass diese Grundsätze letztlich ›provinziell‹, d.h. partikular und pseudo-universalistisch seien, weil sie auf einer willkürlichen Extrapolation demokratischer Grundsätze von westlichen auf nichtwestliche Kontexte beruhe.4 Auf diese Kritik gehe ich im fünften Abschnitt dieses Aufsatzes genauer ein. Zuvor werde ich im zweiten Abschnitt damit beginnen, die demokratische Auffassung globaler Gerechtigkeit, die meiner Vorstellung demokratischer Bildungsgerechtigkeit zugrunde liegt, kurz zu skizzieren. Im dritten Abschnitt erläutere ich die zentralen Ideen meiner demokratischen Auffassung globaler Bildungsgerechtigkeit, bevor ich im vierten Abschnitt zunächst zentrale Aspekte postkolonialer Theorie beleuchte, um zu erläutern, weshalb postkoloniale Theoretiker:innen an einer globalen Konzeption demokratischer Bildungsgerechtigkeit Anstoß nehmen dürften.
2.
Eine demokratische Konzeption globaler Gerechtigkeit
In vielen demokratischen Staaten ist es eine weit verbreitete Auffassung, dass soziale Gerechtigkeit erfordert, dass unter Staatsbürgern Chancengleichheit 3
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Meine Auffassung globaler Bildungsgerechtigkeit habe ich im zweiten und dritten Kapitels meines Buches Democratic Education in a Globalized World – A Normative Theory (Culp 2019) herausgearbeitet. Im Folgenden differenziere ich zwischen westlichen und nicht-westlichen Kontexten und Theorien sowie zwischen europäischen und nicht-europäischen Kontexten und Theorien. Während die erstere Unterscheidung wichtiger für eine Rekonstruktion postkolonialer Verhältnisse ist, ist letztere wichtiger für die Analyse kolonialer Verhältnisse. Da aber, wie die postkoloniale Theorie richtig betont, eine Kontinuität zwischen postkolonialen und kolonialen Verhältnissen besteht, lege ich im Folgenden keinen großen Wert auf diese terminologische Unterscheidung.
Zur postkolonialen Kritik globaler demokratischer Bildungsgerechtigkeit
gewährleistet wird und dass sozioökonomische Ungleichheiten nicht allzu groß sind bzw. Abweichungen von sozioökonomischer Gleichheit eigens gerechtfertigt werden müssen. Warum, so lässt sich aber fragen, sollte Chancengleichheit und ein bestimmtes Maß sozioökonomischer Gleichheit nur zwischen den Mitgliedern einzelner Staaten als Gerechtigkeitsforderung gelten, nicht aber zwischen allen Menschen global, unabhängig von ihrer jeweiligen Staatszugehörigkeit? Genau diese Frage, ob egalitäre Grundsätze sozioökonomischer Gerechtigkeit jeweils nur zwischen den Mitgliedern einzelner Staaten Gültigkeit haben, oder ob solche Grundsätze global zwischen allen Menschen gelten, steht im Zentrum einer sehr intensiven Debatte der zeitgenössischen politischen Philosophie um das richtige Verständnis globaler Gerechtigkeit (vgl. Culp 2014). Während in dieser Debatte auf der einen Seite sogenannte Globalisten behaupten, dass egalitäre Grundsätze sozioökonomischer Gerechtigkeit global und für alle Menschen Gültigkeit besitzen, wenden auf der anderen Seite sogenannte Etatisten ein, dass solche Grundsätze lediglich für die Beziehungen zwischen Staatsbürgern maßgeblich sind. Die Globalisten argumentieren, dass die Anerkennung der Gründe weshalb egalitäre Grundsätze sozioökonomischer Gerechtigkeit innerhalb eines Staates gelten, dazu zwingt, solche Grundsätze als global unter allen Menschen gültig zu erachten (Beitz 1999; Gosepath 2001; Moellendorf 2002; Tan 2004; Caney 2005). Die Globalisten verwenden also ein Analogieargument, welches besagt, dass der innergesellschaftliche Kontext sich vom globalen Kontext nicht in moralisch relevanter Weise unterscheidet, so dass nicht überzeugend dafür argumentiert werden kann, dass egalitäre Grundsätze sozioökonomischer Gerechtigkeit nur innerhalb eines Staates gelten und keine globale Gültigkeit besitzen. Nun wenden die Etatisten aber gegen dieses Analogieargument ein, dass nur die mit »Rechtszwang« verbundenen sozialen Institutionen von der Art wie sie innerhalb eines Staates aufzufinden sind, die Gültigkeit egalitärer Grundsätze sozioökonomischer Gerechtigkeit rechtfertigt (Blake 2001; Nagel 2005; Sangiovanni 2007). »Rechtszwang« bedeutet hierbei, dass die als legal gültig anerkannten (Rechts-)Normen im Falle der Nichtbefolgung mittels der Anwendung staatlicher Gewalt durchgesetzt werden. Jenseits des Staates gelten keine egalitären Grundsätze sozioökonomischer Gerechtigkeit, da mit Rechtszwang verbundene soziale Institutionen wie sie innerhalb eines Staates vorliegen, global nicht vorhanden sind. So behaupten manche Etatisten etwa, dass egalitäre Grundsätze sozioökonomischer Gerechtigkeit nur inner-
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halb solcher sozialer Institutionen Gültigkeit erlangen, in welchen diejenigen, die einem Rechtszwang ausgesetzt sind, diesen Rechtszwang selbst auch autorisiert haben. Daher seien solche Grundsätze nur innerhalb eines Staates gültig, da es bei Rechtszwang jenseits des Staates nicht der Fall sei, dass diejenigen, die dem Rechtszwang unterworfen sind, diesen selbst auch gebilligt haben (vgl. Nagel 2005). Ein solcher Rechtszwang jenseits des Staates liegt beispielsweise dann vor, wenn ein Staat unter Anwendung von Gewalt potentielle Einwander:innen von der Einreise in das Staatsgebiet abhält. In einem solchem Fall staatlicher Gewaltanwendung haben diejenigen, die dieser Gewalt ausgesetzt sind, diese Gewaltanwendung nicht mittels demokratischer Verfahren legitimiert. Den Etatisten zufolge besteht also ein moralisch relevanter Unterschied zwischen dem innerstaatlichen Kontext und dem globalen Kontext, der die Auffassung rechtfertigt, dass egalitäre Grundsätze sozioökonomischer Gerechtigkeit nur innerhalb und nicht jenseits des Staates gültig sind. Im Folgenden möchte ich Grundsätze einer demokratischen Gerechtigkeitskonzeption erläutern. Eine solche Gerechtigkeitskonzeption begründet soziale und politische Bedingungen, unter denen eine vernünftige Deliberation über Gerechtigkeitsgrundsätze gewährleistet sein würde (vgl. Young 1990, 2000; Forst 1994, 2007). Diese demokratische, oder diskurstheoretische, Herangehensweise erkennt an, dass mit der Frage nach den richtigen Gerechtigkeitsgrundsätzen immer auch die politische Frage verbunden ist, wer in einem bestimmten sozio-politischen Kontext konkret darüber entscheiden soll, was als gerecht zu gelten hat. Sie fordert, dass diejenigen, die von der sozialen Anerkennung eines bestimmten Grundsatzes der Gerechtigkeit betroffen sind, auch an der diskursiven Rechtfertigung eben dieser Grundsätze teilhaben können. Die »reflexive Pointe« einer demokratischen Gerechtigkeitstheorie besteht darin, dass die sozialen und politischen Bedingungen der Rechtfertigung von Grundsätzen sozioökonomischer Gerechtigkeit der primäre Gegenstandsbereich einer Gerechtigkeitstheorie sein müssen. Folglich müssen Grundsätze globaler Gerechtigkeit danach Fragen, welche soziale und politische Bedingungen zu schaffen wären, damite eine vernünftige Deliberation über die Grundsätze globaler Gerechtigkeit stattfinden könnte (vgl. Fraser 2009). Globale Gerechtigkeit ist demnach nur möglich, wenn global politische Verhältnisse geschaffen werden, welche es gewährleisten, dass vernünftige Diskurse über Fragen sozialer Gerechtigkeit stattfinden können. Daher ist zu bestimmen, welche Art von Institutionen innerhalb und jenseits des Staates
Zur postkolonialen Kritik globaler demokratischer Bildungsgerechtigkeit
überhaupt effektiv dazu in der Lage wären, derartige politische Verhältnisse zu schaffen, in denen solche Diskurse stattfinden könnten. Der von mir vertretene demokratische Internationalismus formuliert einerseits Bedingungen, die innerhalb eines jeden Staates zu erfüllen sind, und andererseits Bedingungen, die international, also zwischen Staaten, gelten. Konkret erfordern diese Bedingungen, dass sowohl innerhalb von Staaten, als auch zwischen Staaten, demokratische Strukturen der Rechtfertigung etabliert werden müssen. Solche Strukturen sollen ermöglichen, dass Individuen, bzw. Repräsentanten von Staaten in der Lage sind, in angemessener Weise die herrschenden innerstaatlichen und internationalen politischen Ordnungen in Frage zu stellen. Diese Beeinflussung der internationalen politischen Ordnung erfolgt auch über transnationale politische Diskurse unter Bürger:innen verschiedener Staaten, sowie auch mittels der Einflussnahme von Bürger:innen auf nicht-staatliche Akteure wie z.B. multinationale Unternehmen. Folglich erkennt auch die als demokratischer Intenrationalismus bezeichnete Auffassung die gerechtigkeitstheoretische Bedeutung transnationaler Verhältnisse an. Dieser Internationalismus fordert damit im Wesentlichen eine Demokratisierung sozialer und politischer Verhältnisse auf zwei Ebenen: zum einen müssen die internen Verhältnisse aller Staaten demokratisiert werden, so dass die Bürger:innen auch effektiv ihre jeweiligen Regierungen mittels politischer Einflussnahme kontrollieren und steuern können; und zum anderen müssen die internationalen Verhältnisse stärker demokratisiert werden u.a. indem die Machtungleichgewichte zwischen Staaten reduziert werden, und gesonderte Möglichkeiten der Einflussnahme kleinerer Staaten in internationalen Verhandlungen institutionalisiert werden. Diese internationalistische Variante einer demokratischen Auffassung globaler Gerechtigkeit dient nun im Folgenden als normative Grundlage zur Rechtfertigung globaler Bildungsgerechtigkeit.
3.
Eine demokratische Auffassung globaler Bildungsgerechtigkeit
Demokratische Bildungsgerechtigkeit erfordert, dass politische Maßnahmen, die sich auf den Bereich der Erziehung und Bildung richten, demokratisch angemessen gestaltet werden (vgl. Anderson 2004, 2007; Satz 2007). Und damit dies der Fall ist, müssen sie auf die Förderung persönlicher moralischer
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und öffentlicher Autonomie ausgerichtet sein.5 Öffentliche Autonomie bezieht sich auf Personen als öffentliche Subjekte, die an politischen Entscheidungsprozessen teilnehmen, indem sie sich mit anderen über die Ziele ihrer jeweiligen politischen Gemeinschaften kritisch auseinandersetzen. Diese kritische Auseinandersetzung betrifft das Verständnis, die kontextspezifische Anwendung sowie die Konstruktion wechselseitig rechtfertigbarer Gerechtigkeitsgrundsätze. Aus der Perspektive demokratischer Bildungsgerechtigkeit ist die Herausbildung öffentlicher Autonomie von grundlegender Bedeutung, da mittels öffentlicher Deliberation bestimmt werden soll, wie die soziale und politische Ordnung einzurichten ist. Öffentliche Autonomie erfordert unter anderem, dass Personen – wie Rawls (1998: 110) es genannt hat – das »Faktum eines vernünftigen Pluralismus« über Vorstellungen des Guten akzeptieren. Personen müssen anerkennen, dass die Gewährleistung grundlegender bürgerlicher und politischer Freiheiten, wie etwa Gedanken-, Rede- und Versammlungsfreiheit, unvermeidlich zu einer Situation führt, in der Bürger:innen unterschiedliche Vorstellungen des Guten entwickeln und befürworten. Denn wenn Personen ungehindert von diesen Freiheiten Gebrauch machen können, dann führt der eigenständige Gebrauch der Vernunft dazu, dass sie unterschiedliche Vorstellungen des Guten formulieren und als maßgeblich anerkennen. Schließlich machen Personen verschiedene Erfahrungen und interpretieren die Begriffe unterschiedlich, die sie gebrauchen, um diesen Erfahrungen einen Sinn im Verhältnis zu ihnen selbst und zu den für sie bedeutsamen Gruppen zu verleihen.6 Darüber hinaus sollten Personen auch in dem Sinne »vernünftig« sein, dass sie angemessen motiviert sind, den institutionellen Regeln Folge zu leisten, die den jeweiligen, intersubjektiv gerechtfertigten Gerechtigkeitsgrundsätzen entsprechen. Diesem Ideal öffentlicher Autonomie zufolge sollen Personen also gemeinsame Autor:innen ihrer jeweiligen sozialen und politischen Ordnungen werden und dazu bereit sein, diese normativen Ordnungen aufrecht zu erhalten, indem sie die diesen Ordnungen entsprechenden politischen Regeln befolgen. Sie müssen sich also für die Etablierung von Gerechtigkeit verantwortlich fühlen und für die
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Andere Theoretikerinnen und Theoretiker, die großen Wert auf die Förderung öffentlicher Autonomie und die Befähigung zur Beteiligung an politischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen legen, sind De Wijze (1999) und Costa (2004). Vgl. Rawls (1998: 127-132) für sein Verständnis dessen, was er als »Bürden des Urteilens« bezeichnet.
Zur postkolonialen Kritik globaler demokratischer Bildungsgerechtigkeit
Verwirklichung der intersubjektiv gerechtfertigten Gerechtigkeitsgrundsätze eintreten. Zusätzlich zur Beförderung öffentlicher Autonomie erfordert demokratische Bildungsgerechtigkeit aber auch, dass politische Maßnahmen, die Erziehung und Bildung betreffen, zur Verwirklichung persönlicher moralischer Autonomie beitragen. Persönliche moralische Autonomie bezieht sich hierbei auf die Fähigkeit, moralisch in dem Sinne zu handeln, dass diejenigen moralischen Norman befolgt werden, die den Kriterien der Reziprozität und Allgemeinheit entsprechen (vgl. Forst 1994: 64-69). Die Idee persönlicher moralischer Autonomie erfordert, dass sich Personen bewusst sind, dass sie das Recht haben, selbst zu bestimmen und zu überlegen, welche Zwecke sie in ihrem persönlichen Leben verfolgen wollen. Schließlich erfordert das Kriterium der Allgemeinheit, dass praktische Normen gegenüber allen Personen rechtfertigbar sein müssen, und das Kriterium der Reziprozität, dass Personen eine bestimmte Vorstellung des Guten nicht allein deswegen zu akzeptieren haben, weil diese derjenigen einer anderen Person entspricht, die diese vorgeschlagen hat. Alle Personen gelten als gleichwertige moralische Autoritäten bezüglich »ethischer« Fragen, die das gute Leben betreffen. Eine zentrale Idee persönlicher moralischer Autonomie ist daher die der Nichtbeherrschung, der zufolge andere nicht willkürlich in die Handlungsweise einer Person eingreifen dürfen (vgl. Costa 2011: 86). Wie auch öffentliche Autonomie, ist persönliche moralische Autonomie eng mit dem moralischen Recht auf Rechtfertigung verknüpft, da dieses Recht zum Inhalt hat, dass keine Person berechtigt ist, für eine andere zu entscheiden, wie sie ihr Leben zu führen hat. Daher erfordert das Tragen dieses Rechtes die Entwicklung persönlicher moralischer Autonomie durch politische Maßnahmen der Erziehung und Bildung, so dass Personen nicht der willkürlichen Einflussnahme anderer ausgesetzt sind, wenn es darum geht zu entscheiden, welche Vorstellungen des Guten sie zu akzeptieren und zu befolgen haben. Wie im vorigen Abschnitt erläutert, ist es ein grundlegendes politisches Erfordernis meiner Auffassung globaler demokratischer Gerechtigkeit, sowohl innerstaatlich als auch international Rechtfertigungsstrukturen zu errichten, die es mittels nationaler sowie inter- und transnationaler politischer Diskurse ermöglichen, weitere Grundsätze globaler Gerechtigkeit zu bestimmen. Bezieht man diese Konzeption auf Fragen der Bildungspolitik, so ergeben sich zwei zentrale Merkmale bezüglich der Rechte auf Erziehung und Bildung, die es zu verwirklichen gilt, damit Personen öffentliche und persönliche moralische Autonomie entwickeln. Erstens muss die Reichweite der
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Gültigkeit grundlegender – oder »primärer« – Rechte auf demokratisch adäquate Erziehung und Bildung global und universell anerkannt werden. Dies bedeutet, dass diese Rechte in allen Staaten anzuerkennen sind. Dieses Erfordernis ist mit Blick auf undemokratische Staaten bereits sehr anspruchsvoll. Zweitens darf sich der Inhalt der Rechte auf demokratisch adäquate Erziehung und Bildung nicht auf die Befähigung zur Teilnahme an nationalen Prozessen der politischen Meinungs- und Willensbildung beschränken. Vielmehr müssen entsprechende politische Maßnahmen Bürger:innen auch dazu befähigen, dass sie an internationalen Entscheidungsprozessen teilnehmen können. Dies bedeutet, dass solche Maßnahmen dazu beitragen müssen, dass Bürgeri:nnen diejenigen Fähigkeiten entwickeln, die notwendig sind, damit sie sich an transnationalen politischen Diskursen beteiligen können, um somit einen Einfluss auf internationale Entscheidungsprozesse ausüben zu können.7 Einerseits bedarf es also weiterhin nationale Rechte auf demokratische adäquate Erziehung und Bildung, die den Anspruch ausdrücken, dass Schüler:innen auf ihre Teilnahme an nationalen politischen Diskursen vorbereitet werden müssen. Andererseits müssen auch internationale Rechte auf demokratische adäquate Erziehung und Bildung anerkannt werden, die fordern, dass Schüler:innen zur Teilnahme an transnationalen politischen Diskursen zu befähigen sind. Zusätzlich zu diesen grundlegenden Rechten auf national und international adäquate Erziehung und Bildung beinhaltet meine Bildungsgerechtigkeitskonzeption aber auch weitere – »sekundäre« – Rechte auf diejenigen Ansprüche auf Erziehung und Bildung, die innerhalb angemessen eingerichteter Rechtfertigungsstrukturen gerechtfertigt werden. Diese weiteren Rechte können sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene gerechtfertigt werden und stellen weitere Rechte auf Erziehung und Bildung dar, welche die globale Konzeption demokratischer Gerechtigkeit als gültig anerkennt. Diese weiteren Rechte können etwa bestimmte Ansprüche auf Bildungschancengleichheit oder Ansprüche auf Erziehung und Bildung zur Besserstellung der Schlechtestgestellten sein. Weil diese Konzeption globaler demokratischer Bildungsgerechtigkeit aus grundlegenden – primären – und weiteren – sekundären – Rechten auf Er-
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Solange transnationale politische Dikurse hierfür nicht wirkmächtig genug sind, sollten Bürger:innen darauf vorbereitet werden, sich an transnationalen zivilgesellschaftlichen Organisationen zu beteiligen, die auf Internationale Organisationen und andere Akteure der Global Governance Einfluss nehmen (vgl. Nanz/Steffek 2007).
Zur postkolonialen Kritik globaler demokratischer Bildungsgerechtigkeit
ziehung und Bildung beruht, die nicht nur innerstaatlich, sondern in allen Staaten realisiert werden sollen, besteht die Frage, wie diese Rechte hinsichtlich ihrer moralischen Relevanz zueinander zu gewichten sind. Im Besonderen ist die Frage zu klären, ob ein Staat, der bereits die grundlegenden Rechte verwirklicht hat, auch versuchen sollte die weiteren, sekundären Rechte zu verwirklichen, oder eher darauf hinarbeiten sollte, grundlegende Rechte von Bürger:innen anderer Staaten zu verwirklichen. Die Auffassung, die ich vertrete, besagt, dass ceteris paribus die Verwirklichung grundlegender Rechte auf Erziehung und Bildung in anderen Staaten wichtiger ist, anstatt weiterführende, sekundäre Rechte innerstaatlich zu verwirklichen. Nehmen wir beispielsweise an, dass ein Staat bereits innerstaatlich demokratisch adäquate Erziehung und Bildung verwirklicht hat. Sollte dieser Staat nun möglicherweise vorhandene zusätzliche Ressourcen darauf verwenden, Bildungschancengleichheit innerstaatlich zu realisieren, oder aber eher versuchen, zur Verwirklichung grundlegender Rechte auf Erziehung und Bildung in anderen Staaten beizutragen? Meine Auffassung besagt, dass ceteris paribus letzteres wichtiger als ersteres ist. Im Folgenden werde ich nun zunächst kurz grundlegende Ideen postkolonialer Theorie erläutern, um auf Basis dieser darzulegen, welche Kritik aus der Perspektive einer solchen Theorie an meiner demokratischen Auffassung globaler Bildungsgerechtigkeit geäußert werden kann. Daran anschließend erwidere ich auf diese Kritik und versuche sie zu entkräften.
4.
Postkoloniale Theorie
Wie auch im Falle anderer theoretischer Paradigmen wie etwa dem Liberalismus, dem Marxismus, oder dem Feminismus, sind sich Wissenschaftler:innen uneins, wie postkoloniale Theorie zu definieren ist. Eine relativ weitgefasste, obgleich etwas unspezifische Definition postkolonialer Theorie, die ich verwende, besagt, dass postkoloniale Theorie die anhaltenden Wirkungen des Kolonialismus innerhalb und zwischen ehemals kolonisierten und ehemals kolonisierenden Gesellschaften sowie deren Mitgliedern kritisch analysiert (vgl. Kerner 2012). Ein Problem dieser Definition besteht darin, dass sie kaum etwas ausschließt, da in der ein oder anderen Weise nahezu jedes gegenwärtige Phänomen als Wirkung des Kolonialismus begriffen werden kann. Dieses Problem erscheint aber nicht mehr allzu schwerwiegend, sobald wir diese Definition in einem engeren Sinne verwenden und lediglich diejenigen
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Wirkungen einschließen, die zu einem beträchtlichen Teil vom Kolonialismus hervorgebracht wurden.8 Der hier verwendeten Definition folgend soll das Präfix »post« in postkolonialer Theorie nicht suggerieren, dass die sozio-politischen Ungerechtigkeiten, die im Zuge der Kolonialisierung sowohl innerhalb als auch zwischen den ehemals kolonisierten und ehemals kolonisierten Gesellschaften und deren Mitgliedern entstanden sind mit dem formalen Ende des Kolonialismus verschwunden wären. Im Gegenteil geht die postkoloniale Theorie davon aus, dass diese Ungerechtigkeiten anhaltende Wirkungen haben, die andauern, obwohl der Kolonialismus formal bereits beendet worden ist. Somit hat die postkoloniale Theorie also die Analyse und Rekonstruktion der andauernden Ungerechtigkeiten innerhalb und zwischen den ehemals kolonisierten und ehemals kolonisierten Gesellschaften und deren Mitgliedern als ihren Gegenstandsbereich. Die in diesem Aufsatz thematisierten Probleme einer demokratischen Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit beziehen sich somit auf bestimmte Wirkungsweisen kolonialer Ungerechtigkeiten, und den diesen Ungerechtigkeiten zugrundeliegenden Denkweisen, die auch weiterhin die sozialen Verhältnisse innerhalb und zwischen den ehemals kolonisierten und den ehemals kolonisierten Gesellschaften und deren Mitgliedern beeinflussen. Aus zwei Gründen ist es von besonderem Interesse, diese Diskussion mittels der von der postkolonialen Theorie entwickelten normativen Perspektive zu betrachten, anstatt jüngere Arbeiten der liberalen politischen Theorie zum
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Zum Beispiel sollten bestimmte Vorurteile gegenüber Migrant:innen aus ehemals kolonisierten Gesellschaften als adäquater Gegenstandsbereich postkolonialer Theorie angesehen werden – die relativ niedrigen Geburtsraten in ökonomisch fortgeschrittenen Gesellschaften hingegen nicht. Es ist möglich, auch letzteres Phänomen als eine indirekte Wirkung des Kolonialismus zu betrachten. Denn der Materialismus, der mit der wirtschaftlichen Entwicklung einhergeht, die auf den Kolonialismus zurückzuführen ist, kann als eine der Hauptursachen für die niedrigen Geburtsraten in den ökonomisch fortgeschrittenen Gesellschaften angesehen werden. Anders als die Vorurteile gegenüber den im vorigen Beispiel genannten Migrant:innen, ist jedoch nicht nur unklar, in welchem Ausmaß der gegenwärtige wirtschaftliche Wohlstand und Materialismus auf den Kolonialismus zurückzuführen sind, sondern auch, in welchem Maße wirtschaftlicher Wohlstand und Materialismus für niedrige Geburtsraten kausal verantwortlich sind. Daher zählen meinem Verständnis zufolge die relativ niedrigen Geburtsraten nicht zum Gegenstandsbereich postkolonialer Theorie.
Zur postkolonialen Kritik globaler demokratischer Bildungsgerechtigkeit
Thema historischer Ungerechtigkeit heranzuziehen.9 Der erste Grund besteht darin, dass postkoloniale Theoretiker:innen pädagogischen und bildungspolitischen Maßnahmen besondere Aufmerksamkeit schenken, weil solche Maßnahmen während sowie auch nach dem Kolonialismus als Mittel fungierten, um (koloniale) Macht auszuüben und zu legitimieren. Gauri Vlswanathan (1995: 432) deutet zum Beispiel die Durchsetzung einer liberalen Erziehung und Bildung als ein Instrument kolonialer Macht, dass unter anderem deswegen notwendig erschien, um die Macht des christlichen Klerus einzugrenzen: »British colonial administrators, provoked by missionaries on the one hand and fears of native insubordination on the other, discovered an ally in English literature to support them in maintaining control of the natives under the guise of a liberal education.« Zusätzlich wurden die westlichen Inhalte der Unterrichtsmaterialien, die in Kontexten kolonialer Erziehung und Bildung verwendet wurden, als höherwertig und überlegen gegenüber denen präsentiert, die in den nicht-westlichen Gesellschaften vorhanden waren.10 Bill Ashcroft et al. (1995: 425) haben koloniale Erziehung und Bildung daher folgendermaßen dargestellt: »[W]hether state or missionary, primary or secondary (and later tertiary), [colonial education] was a massive canon in the artillerie of empire. … [A] knowledge of English literature, for instance, was required for entry into the civil service and the legal professions. Education is thus a conquest of another kind of territory – it is the foundation of colonialist power and consolidates this power through legal and administrative apparatuses.« Dadurch haben die Kolonialmächte mittels europäisch-geprägter Formen von Erziehung und Bildung nicht nur die Vorstellung verbreitet, dass die Kolonialmächte überlegen und daher die legitimen Herrscher der kolonisierten Gesellschaften waren, sondern haben dieser Idee auch dadurch einen konkreten Ausdruck verliehen, indem sie das Erlangen einer europäisch-geprägten Erziehung und Bildung zur Voraussetzung für den Zugang zu Machtpositionen machten. Mit Blick auf die gegenwärtige Rolle von Erziehung und Bildung
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Dieses Thema ist gegenwärtig auch von großem Interesse für analytische politische Philosophinnen und Philosophen wie Lu (2011), Spinner-Havel (2013), sowie Amighetti/Nuti (2015). McCarthy (2009) und Muthu (2003) haben unlängst die Spuren dieser Hybris in Denkern der Aufklärung wie etwa John Stuart Mill herausgearbeitet.
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in postkolonialen Kontexten argumentieren postkoloniale Theoretiker:innen wie Bill Ashcroft et al. (1995: 425, 427) folgendermaßen: »Education is perhaps the most insidious and in some ways the most cryptic of colonialist survivals, older systems now passing, sometimes imperceptibly, into neo-colonialist configurations. […] [Education] remains one of the most powerful discourses within the complex of colonialism and neo-colonialism.« Ein weiterer Grund, sich mit Argumenten postkolonialer Theoretiker:innen auseinanderzusetzen, besteht darin, dass diese häufig auf jenseits des Westens liegenden Perspektiven beruhen. Manche postkoloniale Theoretiker:innen wie Frantz Fanon (2004: 236) lehnen die Bezugnahme auf Werke der westlichen Tradition explizit ab. Andere Theoretiker:innen, wie etwa Gayatri Spivak (1995) oder Homi Bhaba (1995), weisen einen solchen Ansatz zwar als essentialistischen zurück, beziehen sich aber selbst zu einem beträchtlichen Teil auf Denker:innen außerhalb des westlichen Kanons innerhalb ihres hybriden Ansatzes, der westliche und nicht-westliche Denkansätze miteinander verbindet. Ein Grund nicht-westliche normative Theorien zu berücksichtigen besteht nunmehr darin, dass sofern normative Theorien universale Gültigkeit beanspruchen und diese nicht auf den westlichen Kontext eingegrenzt sind, deren Gültigkeit auch von der Akzeptabilität aus einer nicht-westlichen Perspektive abhängt (vgl. Williams und Warren 2014). Es wäre daher eindeutig provinziell, eine philosophische Diskussion über Grundsätze öffentlicher Erziehungs- und Bildungspolitik, die universale Gültigkeit beansprucht, ausschließlich innerhalb des Rahmens einer liberalen oder westlichen Denkweise durchzuführen.11 Es ist daher angemessen, mögliche postkoloniale Kritiken einer demokratischen Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit zu untersuchen und diese Konzeption im Lichte dieser Kritiken so zu revidieren, dass sie sich besser rechtfertigen lässt. Diese Art und Weise mit postkolonialer Theorie umzugehen ist auch selbst eine Form postkolonialer Theorie, da eine solche nicht notwendiger Weise aporetisch oder einfach negativ ist. Vielmehr erkennen viele postkoloniale Theoretiker:innen die Möglichkeit von Emanzipation und Befreiung an, und berufen sich selbst auch auf universale Grundsätze, wenn
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Siehe Flikschuh (2014) und Okeja (2017) zur Relevanz nicht-westlicher normativer Theorien für die Rechtfertigung von globalen Gerechtigkeitsauffassungen.
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sie die Notwendigkeit solcher Emanzipation und Befreiung begründen. Darauf weist etwa Anthony Kwame Appiah (1995: 123) hin, wenn er auf folgende Weise postkoloniale Theorie von postmoderner Theorie abgrenzt: »Postcoloniality, […] like postmodernism’s, is also a post that challenges earlier legitimating narratives. And it challenges them in the name of the suffering victims. […] But it challenges them in the name of the ethical universal; in the name of humanism, ›la gloire pour l’homme.‹ And on that ground it is not an ally for Western postmodernism but an agonist.« (cf. also Brydon 1995: 137.) Daher geht es in diesem Aufsatz auch nicht um eine Zurückweisung der postkolonialen Kritik einer demokratischen Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit, sondern darum, diese angesichts der kritischen Analysen weiterzuentwickeln, welche die postkolonialen Theoretiker:innen liefern. Folglich betrachte ich die postkoloniale Theorie auch als eine Verbündete und nicht als eine Gegenspielerin meiner demokratischen Konzeption von Bildungsgerechtigkeit.
5.
Westlicher Provinzialismus
Der grundlegende Einwand, wonach eine demokratische Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit eine Form westlichen Provinzialismus ist, beruht auf der Annahme, dass diese Konzeption auf einer willkürlichen Extrapolation normativer Grundsätze von einem auf einem anderen sozialen Kontext hinauslaufe. Selbst wenn Rechte auf demokratische Erziehung und Bildung womöglich angemessene normative Grundsätze sind, so diese Kritik, um öffentliche Bildungs- und Erziehungspolitik in westlichen Gesellschaften zu bewerten, sind sie dennoch unangemessene Grundsätze für nicht-westliche Gesellschaften. Die Präsumtion der Universalität solcher Rechte ist falsch, weil aufgrund der spezifischen Eigenschaften nicht-westlicher Gesellschaften andere Grundsätze für solche Kontexte notwendig sind. Dadurch folgt die demokratische Auffassung globaler Bildungsgerechtigkeit der normativen Logik kolonialer Erziehungs- und Bildungspraktiken, die auf einer analogen, arbiträren Extrapolation beruhten. Zur Veranschaulichung dieses Einwandes lässt sich darauf hinweisen, dass Ashcroft, Griffiths und Tiffin (1995: 55) im Falle des kolonialen Indiens auf folgendes hinweisen: »the ›universal‹ discourse of English literature […]
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was consciously adopted as the vehicle for educating the Indian élites in tenets of civilized morality.« Die koloniale Pädagogik und ihre Bildungspraktiken beruhten auf der Annahme der universalen Gültigkeit westlicher Erziehung und Bildung, um somit deren Verwendung in nicht-westlichen Kontexten rechtfertigen zu können. Der vermeintlich universelle Charakter der westlichen Erziehung und Bildung immunisierte koloniale Pädagogik damit gegen Kritik, weil diese – angeblich – keine eigeninteressierte, sondern eine an den Interessen aller Menschen ausgerichtete Agenda verfolgte. Die nicht-westliche Erziehung und Bildung wurde hingegen als partikularistisch betrachtet, so dass diese wiederum nicht die »universalen« Grundsätze westlicher Erziehung und Bildung erreichen konnte. Die Inanspruchnahme westlicher Erziehung und Bildung ging somit mit einer »Fixierung« und »Positionierung« der nicht-westlichen Gesellschaften in einer unterlegenen Position einher. So hat auch Edward Said (1995, 90) in seinem modernen Klassiker Orientalismus auf eine solche »Positionierung« hingewiesen, die mittels der westlichen Konstruktion des »Orients« erfolge: »[the West has achieved] flexible positional superiority, which puts the Westerner in a whole series of possible relationships with the Orient without ever losing the relative upper hand.« Ähnlich argumentiert auch Helen Tiffin (1995: 97): »[T]he very texts which facilitated such material and psychic capture were those which the imposed European education systems foisted on the colonized as the ›great‹ literature which dealt with ›universals‹; ones whose culturally specific imperial terms were to be accepted as axiomatic at the colonial margins.«12 Darüber hinaus erlaubten es die von den westlichen Kolonialmächten selbst artikulierten pädagogischen Grundsätze die koloniale Pädagogik als die weltweit beste darzustellen. Thomas Macaulay (1995: 428), zum Beispiel, wies genau hierauf in seiner 1835 vorgetragenen Rede Minute on Indian Education hin, in welcher er die Bedeutung von Englisch als Unterrichtssprache auf folgende Weise hervorhebt:
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Im Genaueren bezieht sich Tiffin (1995: 98) auf Robinson Crusoe und argumentiert wie folgt: »[the study of] a canonical text at the colonial periphery also becomes an important part of material imperial practice, in that, through educational […] institutions, it continually displays and repeats for the colonized subject […] the processes of its annihilation, marginalization, or naturalization as if this were axiomatic, culturally ungrounded, ›universal‹, natural.«
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»The claims of our own [English language] it is hardly necessary to recapitulate. […] It abounds with works of imagination not inferior to the noblest which Greece has bequeathed to us; with models of every species of eloquence; with historical compositions, which, considered as vehicles of ethical and political instruction, have never been equaled; with just and lively representations of human life and human nature; with the most profound speculations on metaphysics, morals, government, jurisprudence, and trade; with full and correct information respecting every experimental science which tends to preserve the health, to increase the comfort, or to expand the intellect of man. Whoever knows that language has ready access to all the vast intellectual wealth, which all the wisest nations of the earth have created and hoarded in the course of ninety generations. It may safely be said, that the literature now extant in that language is of far greater value than all the literature which three hundred years ago was extant in all the languages of the world together.« Die Kehrseite der vermeintlichen Universalität und Überlegenheit der englischen und westlichen Erziehung und Bildung bestand in der Abwertung nicht-westlicher literarischer Werke und wissenschaftlicher Forschung.13 Und dies wiederum lieferte einen Grund, nicht-westliche Kulturen und deren Mitglieder als minderwertig zu betrachten, weil diese nicht dazu in der Lage gewesen sind, ebenbürtige literarische und wissenschaftliche Arbeiten hervorzubringen, die es verdienten, unterrichtet und gelernt zu werden. Dementsprechend argumentiert auch John Docker (1995: 443): »The white colonizing society removes the indigenous culture to an inferior level by virtue of the superiority of the metropolitan culture it is establishing.« Und auch Vlswanathan (1995: 436) hebt hervor: »[the selected] method of overwhelming opposition was to demonstrate that the achieved material position of the Englishman was derived from the knowledge contained in English literary, philosophical and scientific texts, [and to clarify that it represents] a knowledge accessible to any who chose to seek it.«
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Auf ähnliche Weise argumentiert Achebe (1995: 59): »In the nature of things the work of a Western writer is automatically informed by universality. It is only others who must strain to achieve it. As though universality were some distant bend in the road which you may take if you travel out far enough in the direction of Europe or America, if you put adequate distance between yourself and your home.«
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Der Einwand, der auf Basis dieser postkolonialen Kritiken an europäisch-orientierter Erziehung und Bildung, sowie auch gegen die demokratische Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit entwickelt werden kann, besteht darin, dass der Anspruch auf universale Gültigkeit eine nicht zu rechtfertigende Höherstellung westlicher gegenüber nicht-westlicher Erziehung und Bildung impliziere, die zur Aufrechterhaltung asymmetrischer Machtverhältnisse genutzt werde. Meine erste Replik auf diesen Einwand besteht darin, dass der Umstand allein, dass Grundsätze demokratischer Bildungsgerechtigkeit in westlichen Kontexten entstanden sind, diese Grundsätze nicht disqualifiziert, sie in nicht-westlichen Kontexten zu verwenden. Dies liegt unter anderem daran, dass diese Grundsätze, sofern sie tatsächlich in westlichen Kontexten entstanden sind, dennoch nicht als konstitutiv für den Westen anzuerkennen sind, auch weil diese Grundsätze auch im Westen stets angefochten worden sind.14 Folglich ist es wenig plausibel davon auszugehen, dass diese Grundsätze allein deshalb keine Gültigkeit in nicht-westlichen Kontexten beanspruchen, weil sie nur ›provinzielle‹ westliche Grundsätze repräsentieren. Diese Charakterisierung vermeintlich westlicher Grundsätze lässt sich noch besser verstehen, wenn man bedenkt, dass diese Grundsätze weder von heute auf morgen entstanden sind, noch innerhalb des Westens allgemein anerkannt werden. Vielmehr haben sich demokratische Grundsätze in partikularen sozialen Konstellationen entwickelt, bevor diese Grundsätze dann durch den Westen diffundierten und Anhänger:innen gefunden haben. Und selbst wenn die normativen Grundsätze demokratischer Gerechtigkeit inzwischen bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerungen der westlichen Gesellschaften Anerkennung gefunden haben mögen, so werden sie dennoch von einer nicht unwesentlichen Zahl an Personen angefochten, die auch Mitglieder westlicher Gesellschaften sind. Dies weist auf das Problem hin, dass es unangemessen ist, zu glauben, dass die normativen Grundsätze demokratischer Bildungsgerechtigkeit faktisch akzeptierte, normative Grundsätze von Erziehung und Bildung im Westen seien. Etwas anderes zu behaupten hieße, von einem allzu einfachen Ver-
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Der Umstand, dass genau diejenigen Grundsätze, die angeblich konstitutiv für »den Westen« sind, selbst innerhalb »des Westens« angefochten werden, bedeutet, dass es keine Art und Weise gibt, »den Westen« zu definieren, die nicht kontrovers wäre. Nichtsdestotrotz verwende ich im Haupttext die Begriffe »Westen«, »westlich«, und »nicht-westliche Kontexte« zur besseren Lesbarkeit ohne Anführungszeichen.
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ständnis westlicher Kultur, sowie vermutlich auch von Kultur überhaupt, auszugehen, demzufolge alle Mitglieder einer Kultur die gleichen normativen Überzeugungen teilten. Die Grundsätze demokratischer Bildungsgerechtigkeit finden nicht bei allen Mitgliedern derjenigen Gesellschaften Anerkennung, die gemeinhin als westlich bezeichnet werden. Es ist daher fragwürdig, zu argumentieren, dass diese Grundsätze nicht auf sogenannte nicht-westliche Kontexte bezogen werden dürften, weil sie maßgeblich für »westliche« Gesellschaften seien.15 Zweitens ist es fragwürdig – und zwar ebenso aus empirischen Gründen –, dass die grundlegenden Ideen demokratischer Bildungsgerechtigkeit ausschließlich dem Westen zuzurechnen sind. Wie Sen (2006) in The Argumentative Indian gezeigt hat, haben eine Vielzahl indische Theoretiker:innen demokratische politische Ideen artikuliert und verteidigt (vgl. auch Sen 2003). Um dies angemessen zu realisieren, ist es jedoch notwendig, Demokratie nicht primär anhand von Wahlen zu begreifen und die Bedeutsamkeit anzuerkennen, die öffentliche Deliberation für demokratische Verhältnisse besitzt. Denn die Praxis des Wählens war wohl für große Teile der Geschichte der Demokratie in Indien sowie auch in anderen nicht-westlichen Kontexten von nicht allzu großer Bedeutung. Dennoch lässt sich sehr wohl eine reiche Tradition öffentlicher Deliberation in diesen Kontexten ausfindig machen, die wiederum sehr wohl ein Merkmal demokratischer Kultur ist. Dementsprechend argumentiert Sen (2006: 13): »democracy is intimately connected with public discussion and interactive reasoning [, both of which] exist across the world, not just in the West.« Bezüglich des Fall Indiens weist Sen (2006: 15) darauf hin, dass bereits im 4. Jh. V. Chr. Buddhistische Räte Debatten als Mittel zur Lösung von Konflikten und zur Hervorbringung von Wissen anerkannten. Ebenso hat Ashoka (Smith, 1909: 170-171, zitiert nach Sen 2006: 18), der buddhistische Kaiser Indiens, bereits im 3. Jh. V. Chr. Auf folgende Weise auf die Relevanz der Toleranz gegenüber anderen Religionen hingewiesen:
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Unter Verwendung Walzers rekonstruktiven interpretativen Ansatz, den Gutmann (1987) für die Erziehungs- und Bildungsphilosophie erschließt, betrachtet Gutmann demokratische Erziehung und Bildung als konstitutiv für das US-amerikanische Selbstverständnis. Es wäre aber wohl auch nicht unplausibel, ökonomische Effizienz als normatives Ideal der US-amerikanischen Gesellschaft zu bezeichnen, womit wiederum gezeigt wäre, dass normative Grundsätze der Erziehung und Bildung auch innerhalb des Westens selbst angefochten werden.
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»[A] person must not do reverence to his own sect or disparage the beliefs of another without reason. […] [F]or he who does reverence to his own sect while disparaging the sects of others wholly from attachment to his own sect, in reality inflicts, by such conduct, the severest injury on his own sect.« Ebenso hat im 16. Jh. N. Chr. Der Moghul Akbar (Smith, 1917: 257, zitiert nach Sen 2006: 18) diese Idee verteidigt: »no man should be interfered with on account of religion, and anyone is to be allowed to go over to a religion that pleases him.« Schließlich hat im frühen 20. Jh. N. Chr. Auch der indische Poet und Pädagoge Rabindranath Tagore (1913) in Gintanjali die demokratischen Eigenschaften, die er sich für Indien wünscht, wie folgt beschrieben: »Where the mind is without fear and head is held high; Where knowledge is free; Where the world has not been broken up into fragments by narrow domestic walls; […] Where the clear steam of reason has not lost its way into the dreary desert sand of dead habit; […] Into that heaven of freedom, my Father, let my country awake.« Sen (2006: 12) schließt aus diesen vielfältigen Quellen demokratischer Ideen in Indien Folgendes: »the tradition of argument […] shapes our [Indian] culture. It has helped to make heterodoxy the natural state of affairs in India […]. [P]ersistent arguments are an important part of our public life.« Aber die Existenz demokratischer Ideen innerhalb nicht-westlicher Kontexte ist nicht auf den indischen Kontext begrenzt. Im südafrikanischen Kontext zum Beispiel hebt Nelson Mandela (1994: 21) das Vorliegen einer demokratischen Kultur hervor indem er sich an lokale Treffen zurückerinnert, die im Haus des Regenten in Mqhekezweni stattgefunden haben. »Everyone who wanted to speak did so. It was democracy in its purest form. There may have been a hierarchy of importance among the speakers, but everyone was heard, chief and subject, warrior and medicine man, shopkeeper and farmer, landowner and laborer […] The foundation of self-government was that all men [sic!] were free to voice their opinions and equal in their value as citizens.« Auf ähnliche Weise stellt auch Julius Nyerere (zitiert nach Mutiso/Rohio 1975: 478, Übersetzung J.C.), Tansanias ehemaliger Präsident fest, dass »die traditionelle Methode zur Regulierung des öffentlichen Lebens in afrikanischen
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Gesellschaften die freie Diskussion ist)«, und weist Kenneth Kaunda (zitiert nach Mutiso/Rohio 1975: 478, Übersetzung J.C.), der ehemalige Präsident Sambias, darauf hin, dass gewöhnlicher Weise »ein Thema solange in einem seriösen Zusammentreffen diskutiert wurde, bis ein Konsens erreicht wurde.« Die eben genannte Konsensorientierung betont auch Kwasi Wiredu (1998), der das Erreichen eines Konsenses mittels öffentlicher Diskussion als zentralen Modus traditioneller afrikanischer Politik bezeichnet. Ebenso verteidigen lateinamerikanische Philosoph:innen wie Paulo Freire (1970) demokratische Ideen und wenden diese sogar direkt auf Fragen der Erziehung und Bildung an.16 Besonders interessant zu beobachten ist dabei, dass die allzu einfache, binäre Unterscheidung zwischen westlichen (bzw. europäischen) und nicht-westlichen (bzw. nicht-europäischen) Denker:innen nicht greift, da Freire auf eine Vielzahl von Autor:innen westlicher (bzw. europäischer Provenienz) zurückgreift.17 Er steht damit für einen hybriden Ansatz, der sich sowohl auf westliche (bzw. europäische) als auch auf nichtwestliche (bzw. nicht-europäische) Quellen stützt.18 Es wäre jedoch falsch das Phänomen einer solchen Hybridität lediglich nicht-westlichen (bzw. nichteuropäischen) Denker:innen zuzuschreiben, da viele westliche Denker:innen selbst auch auf die Ideen nicht-westlicher Denker:innen zurückgreifen. Martha Nussbaums Werk zum Beispiel durchzieht eine intensive Auseinandersetzungen mit den Werken nicht-westlicher Denker:innen wie z.B. Mahatma Gandhi oder Rabindranath Tagore (vgl. Nussbaum 2016).19
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Natürlich liegt es auch nahe, post-kolumbische, lateinamerikanische Theoretiker:innen ohnehin der westlichen Tradition zuzuordnen. Freire bezieht sich insbesondere auf Marx und Hegel sowie Werke der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Lateinamerikanische Befreiungstheologen wie Leonardo Boff, Gustavo Guitierrez und Jon Sobrino haben ihre Theorien ebenso in Auseinandersetzung mit (kontinental-)europäischer Theologie des 20. Jahrhunderts entwickelt. Ob der aus Spanien stammende Jon Sobrino als lateinamerikanischer Theologe bezeichnet werden sollte, lässt sich natürlich in Frage stellen, obwohl er mehrere Jahrzehnte in El Salvador als Wissenschaftler tätig gewesen ist. Zu den nicht-europäischen Quellen, auf die sich Freire bezieht, zählen u.a. Frantz Fanon und Albert Memmi. Ich bin nicht in der Lage zu beurteilen, wie sehr dieses Phänomen charakteristisch für das späte 20. und frühe 21. Jahrhundert ist. Jedenfalls haben sich im frühen 20. Jahrhundert westliche Autoren wie bspw. Hermann Hesse intensiv mit nicht-westlicher Literatur auseinandergesetzt.
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6.
Schluss
Dieser Aufsatz hat sich zum Ziel gesetzt, eine postkoloniale Kritik an einer demokratischen Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit auf den Prüfstand zu stellen. Er hat hierfür zunächst auf die Bedeutsamkeit einer solchen Art der Kritik hingewiesen, die sich zum einen daraus ergibt, dass die Ursprünge der postkolonialen Theorie in der Auseinandersetzung mit Hochschulcurricula zu verorten sind, und zum anderen daraus, dass postkoloniale Theoretiker:innen stets Bildungs- und Erziehungspraktiken und -normen kritisiert haben, die universale Gültigkeit beanspruchen. Besonderes Augenmerk habe ich folglich auf die Darstellung und Untersuchung der Kritik gelegt, die besagt, dass eine demokratische Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit provinziell ist. Der Aufsatz hat zu zeigen versucht, dass diese Kritik unbegründet ist. Eine solche Kritik berücksichtigt nämlich nicht hinreichend, dass sofern öffentliche Deliberation als zentraler Bestandteil von Demokratie anerkannt wird, es nicht der Fall ist, dass demokratische Ideen sich lediglich in Geschichte und Gegenwart westlichen politischen Denkens auffinden lassen. Zudem ist es auch deswegen problematisch, demokratische Ideen als ausschließlich westlich zu bezeichnen, weil diese Ideen nicht auf gleiche Weise von allen Mitgliedern des Westens geteilt werden. Somit ist es also unangemessen, demokratische Ideen ausschließlich als dem westlichen Kontext zugehörig zu betrachten. Es gibt weitere potenzielle Formen postkolonialer Kritik an der demokratischen Auffassung von Bildungsgerechtigkeit, die in diesem Aufsatz aber nicht diskutiert wurden. Zum Beispiel ist ein weiterer möglicher Einwand, dass es nicht ausreicht, das Vorliegen demokratischer Ideen in einigen wenigen nicht-westlichen Kontexten wie etwa dem indischen nachzuweisen, der in meiner Replik auf die Kritik aus postkolonialer Perspektive im Vordergrund stand. Vielmehr erforderte es eine angemessene Rechtfertigung einer demokratischen Auffassung von Bildungsgerechtigkeit zu zeigen, dass solche demokratischen Ideen in allen nicht-westlichen Kontexten vorhanden sind. Es ist sicherlich richtig, dass es die Rechtfertigung der demokratischen Auffassung von Bildungsgerechtigkeit stärken würde, wenn genauer nachgezeichnet werden könnte, in welchem Maße sich demokratische Ideen auch in anderen nicht-westlichen Kontexten auffinden lassen. Allerdings würde aus dem Umstand, dass sich in manchen solcher Kontexte keine demokratischen Ideen finden lassen, auch nicht notwendigerweise folgen, dass die demokratische Auffassung globaler Bildungsgerechtigkeit
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deswegen keine universale Geltung beanspruchen könnte. Vielmehr wäre es erforderlich, eine Erklärung dafür zu liefern, weshalb demokratische Ideen in bestimmten Kontexten bis heute nicht auffindbar sind. Denn sofern eine solche Erklärung darauf verweisen würde, dass soziale und politische Strukturen die Entstehung solcher Ideen systematisch unterdrückt haben, dann ließe sich daraus gerade nicht schließen, dass die Nutzung demokratischer Ideen und Prinzipien zur Beurteilung öffentlicher Bildungspolitik in nichtwestlichen Kontexten ungerechtfertigt ist.
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Intersektionaliät und postkoloniale politische Bildung im Zeitalter der Klimakrise Tobias Müller For those of us who live at the shoreline […] when we speak we are afraid our words will not be heard nor welcomed but when we are silent we are still afraid So it is better to speak remembering we were never meant to survive. A Litany of Survival, by Audre Lorde
1.
Einleitung
»De- de- decolonize! De- de- decolonize!« schallt es durch die sommerlichen Straßen der City of London. Angeführt von Marvina Newton, Mitgründerin von Black Lives Matter (BLM) Leeds, rufen hunderte Klimaaktivist:innen in einem »Blood Money March« dazu auf, die Jahrhunderte währende Finanzierung der maßgeblich von London aus gesteuerten (post)kolonialen Ausbeutung von Mensch und Natur im Globalen Süden endgültig zu beenden. Mit anderen Black, Indigenous and People of Colour (BIPOC), welche sich in der Gruppe XR Unify zusammengeschlossen haben, betont Newton, dass die ihr gespannt lauschenden Extinction Rebellion Aktivist:innen Teil der Unterdrückungssysteme sind, die Menschen wie sie seit so langer Zeit bekämpfen: »I’m not saying you are the problem, I’m saying the system is the problem, and the fact that you are part of the system and not helping to eradicate it is part of the problem. Your silence is consent«. Die BLM Aktivistin betreibt antiras-
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sistische politische Bildung auf einer besetzten Straßenkreuzung. Während die Polizei anfängt Protestierende zu verhaften, betont Newton die Notwendigkeit, den Kampf gegen die Klimakrise mit dem Kampf gegen die Brutalität gegen diejenigen, die als »nicht weiß« klassifiziert werden, zu verbinden: »We just want to live and breathe, we have one earth, no Planet B«.1 Mit Fridays for Future (FFF) und Extinction Rebellion (XR) auf der einen, und Black Lives Matter auf der anderen Seite, hat sich seit 2019 die Landschaft der Sozialbewegungen in Europa drastisch verändert. Die zeitliche Überschneidung des Erstarkens und der maßgeblichen öffentlichen Debatte um diese beiden Bewegungen hat auch dazu beigetragen, dass die Frage des Verhältnisses von Klimaaktivismus und Antirassismus zu einer zentralen Fragestellung von Extinction Rebellion, aber auch vieler anderer sozialer Bewegungen geworden ist. Das anfängliche Erfolgsrezept der in Großbritannien gegründeten XR bestand darin, durch drei klare und begrenzte Forderungen die Mobilisierung und politische Allianz so breit wie möglich zu gestalten: 1) Sagt die Wahrheit über den drohenden Klimakollaps, 2) Handelt jetzt für Treibhausgasemissionsreduktion auf Netto-Null bis 2025, 3) Politik neu Leben durch Bürger:innenversammlungen (vgl. Berglund/Daniel 2020).2 In einem offenen Brief eines breiten Bündnisses von linken und Umweltbewegungen wurde XR nach der ersten großen Protestaktion in London, der »April Rebellion«, dazu aufgefordert, Rassismus, sozioökonomische Ungleichheit und die Forderungen von Menschen an den »frontlines« von Ressourcenextraktion zu einem Kernbestandteil ihrer politischen Arbeit zu machen. Diese Themen werden innerhalb der Klimabewegung in Europa intensiv diskutiert und führen vielfach zu Spannungen, Brüchen, Abspaltungen, aber auch überraschenden Allianzen und ideologischen Dynamiken, wie die anfangs skizzierte Vignette aufzeigt. Die politischen und diskursiven Entwicklungen, die diese Bewegungen vorantreiben, haben unter anderem dazu beigetragen haben, dass das britische Parlament im April 2019 den Klimanotstand erklärt hat. Klima und Umwelt waren erstmals bei deutschen Wähler:innen eine der drei wahlentscheidenden Theorien bei in der Bundestagswahl 2021 und alle im neu gewählten Bundestag vertretenen Parteien bis auf
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Diese ethnographische Vignette beruht auf Feldforschung des Autors im August 2021. Ein Video eines Ausschnitts der Rede von Marvina Newton findet sich bei Realmedia (2021). Vgl. https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/unsere-forderungen/.
Intersektionaliät und postkoloniale politische Bildung im Zeitalter der Klimakrise
die AfD bekennen sich jetzt zumindest formal zu einer ökologischen Transformation. Die weiterhin mit am stärksten umkämpfte Frage ist allerdings, inwiefern werden und sollten antirassistische und dekoloniale Perspektiven in Klimapolitik einbezogen werden und welche Probleme entstehen dabei (vgl. Knobloch 2020; Koerrenz 2020)? Dies stellt auch eine unmittelbare Herausforderung für politische Bildung dar. Wie kann politische Bildung der Realität der verzweifelten Warnungen von Wissenschaftler:innen vor den vielschichtigen sozialen, ökonomischen, psychologischen und politischen Konsequenzen der Klimakrise, besonders für Bevölkerungen mit Kolonialvergangenheit, gerecht werden? Welche Theorien und Konzepte erlauben es uns, die multidimensionalen Verflechtungen von Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen wie Rassismus, Patriarchat, Kapitalismus und Klimazerstörung in pädagogische Konzepte umzusetzen, welcher der politischen Brisanz der Themen und gleichzeitig einer ausgeglichenen Reflektion gerecht wird? Eine zentrale Einsicht, welche sich in unterschiedlichen Klimabewegungen, aber auch im weiteren Umweltsektor und in Hochschulen immer weiter durchzusetzen scheint, besteht darin, dass gesamtgesellschaftliche Krisen, wie etwa Covid-19, besonders aber die Klimakrise, sich nicht nur geographisch, sondern auch bezüglich unterschiedlicher sozialer Situation asymmetrisch auf Menschen auswirkt. Parallel zu den Bestrebungen, Kooperationen zwischen unterschiedlichen sozialen Bewegungen wie Feminismus, Umweltbewegung, Antirassismus, Arbeiter:innenbewegung etc. zu verstärken, hat seit den frühen 1990ern das Konzept Intersektionalität zunehmend Verwendung im akademischen und öffentlichen Diskurs gefunden. Intersektionalität gründet auf der Prämisse, dass unterschiedliche soziale Konflikt- und Diskriminierungverhältnisse in ihren Überschneidungen und sich gegenseitig verstärkenden Effekten betrachtet werden müssen, um eine adäquate Beschreibung der individuellen Erfahrungen und der gesellschaftlichen Strukturen zu erreichen (vgl. Collins/Bilge 2020). Intersektionale Theorien greifen damit eine Bandbreite an analytischen und politischen Impulsen auf, welche auch für postkoloniale Perspektiven zentral sind. Gleichzeitig ergeben sich jedoch auch Spannungen zwischen den beiden Theoriegruppierungen, was nicht zuletzt auf ihre unterschiedlichen Entstehungszusammenhänge und die jeweiligen Gruppen, welche die Theorien und politischen Programme prägen, rezipieren und teilweise verzerrt interpretieren, zurückzuführen sind. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht stellt sich damit die Frage, wie die epistemologischen und politischen
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Einsichten einer intersektionalen Perspektive in politische Bildung umgesetzt werden können. Wie ist das Verhältnis von intersektionalen und postkolonialen Perspektiven zu beschreiben, als Alternative oder Ergänzung, und welche Auswirkungen hat dies auf die Art und Weise, wie wir Curricula, pädagogische Praxis und Lernumgebungen im Angesicht der multiplen Krisen des 21. Jahrhunderts gestalten? Das vorliegende Kapitel trägt zur Beantwortung dieser Fragen bei, indem zuerst einige ideengeschichtliche Kontroversen der Entstehung und des Kerngehalts von Intersektionalität skizziert werden. Im nächsten Schritt werden zentrale konzeptuelle Beiträge drei maßgeblicher Autorinnen intersektionalen Denkens, Kimerle Crenshaw, Audre Lorde und bell hooks im Bezug auf ihre Bedeutung für politische Bildung analysiert. Als Abschluss wird das mögliche Zusammenspiel intersektionaler, postkolonialer und ökologischer Perspektiven im Bezug auf politische Bildung, welche der asymmetrischen Auswirkungen der Klimakrise gerecht wird, diskutiert. Dass in diesem Beitrag immer wieder auf Argumente, Ideen und Praktiken aus dem Umfeld sozialer Bewegungen Bezug genommen wird, dient nicht allein dem Aufzeigen der politischen Relevanz der hier diskutierten Problemfelder. Postkoloniale und intersektionale Theorien sind untrennbar mit dem Entstehungszusammenhang in konkreten, historisch zu verortenden politischen Kämpfen verbunden. Ein zentrales Anliegen intersektionaler Theoretiker:innen ist es, den imaginierten bzw. künstlich hergestellten Graben zwischen Theorie und Praxis zu überwinden (vgl. Collins/Bilge 2020: 38). Entgegen der in vielen positivistischen wissenschaftstheoretischen Positionen verbreiteten Annahme der objektiven Distanz akademischer Wissensproduktion gehen intersektionale Perspektiven davon aus, dass Wissenschaftler:innen immer auch Teil von politischen Auseinandersetzungen sind. Noch wichtiger ist aber die Überzeugung, dass nur durch aufmerksames Verfolgen oder sogar aktive Beteiligung an diesen Auseinandersetzungen ein tiefgehendes Verständnis der Komplexität von verschränkten Unterdrückungsverhältnissen erreicht werden kann. Das hier verwendete empirische Material beruht auf 14 Monaten digitaler und analoger ethnographischer Forschung mit Extinction Rebellion UK (XRUK) zwischen Oktober 2019 und September 2021. Der inhaltliche Fokus der Feldforschung lag in der Arbeit mit dem Co-Liberation Team, welches sich bemüht, eine holistische dekoloniale, feministische, und körperbezogene gegenseitige Befreiungspraxis in XR zu etablieren. Während der Feldforschung habe ich eng mit mehreren Mitgründer:innen der Bewegung sowie
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Mitgliedern in unterschiedlichen zentralen Circles zusammengearbeitet. Neben der Teilnahme an über 150 internen Zoomkonferenzen, Arbeitsmeetings und Trainings habe ich beobachtend an vielen mehrtägigen Protesten teilgenommen, unter anderem der »International Rebellion« im September 2020, den G7 Protesten in Cornwall, der »Free the Press« Aktion im Juni 2021, und der »Impossible Rebellion« im August 2021. Viele der hier präsentierten Ideen verdanke ich dem Austausch mit meinen Gesprächspartner:innen und deren Großzügigkeit, Vorstellungskraft und vielschichtigen Analysefähigkeiten.
2.
Ideengeschichtliche Kontroversen um Genealogie und Inhalt von Intersektionalität
Eine maßgebliche Überraschung, welche ich im Unterrichten eines Einführungskurses zu soziologischen Theorien in Cambridge 2020 erfahren habe, war die Art und Weise in der eine gewisse Form von intersektionalem Denken sich unter den Studierenden als nahezu selbstverständlich erwiesen hat. In fast allen Essays, die zur Frage von Ausbeutung in Karl Marx verfasst worden sind, kritisierten die Studierenden die Abwesenheit expliziter Referenz zu »race« und »gender« als maßgebliche Ordnungslinien existierender Ausbeutungsstrukturen. Ein weißer alter Mann, so könnte man den Duktus vieler Beiträge zusammenfassen, der offensichtlich wenig zu Rassismus und Heteropatriarchat zu sagen hat, kann wohl kaum als wichtiger Referenzpunkt für gesellschaftliche Analysen im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts dienen. Viele von Studierenden angeführte Bewegungen wie »Decolonise the curriculum« sind von intersektionalem Denken geprägt und speisen sich aus dem Bewusstsein, dass die als Kanon klassifizierten Wissensstrukturen viele blinde Flecken aufweisen, die auf historisch bedingte Ausgrenzungen aus der öffentlich anerkannten Wissensproduktion zurückgehen, vor allem von Frauen, People of Colour und Menschen aus dem globalen Süden. Während diese und andere Bewegungen die Universitätslandschaft in Großbritannien und anderen Ländern maßgeblich positiv beeinflussen und zu mehr Multiperspektivität und Diversität von Standpunkten der Wissensproduktion und -vermittlung beitragen, weist diese Anekdote auf einen weiterreichenden Trend in der Rezeption intersektionaler Theorie hin. Viele zeitgenössische Verwendungen des Begriffs Intersektionalität rezipieren die Entstehungsgeschichte in einer Art und Weise, in der die radikalen Wurzeln, besonders im Bezug auf antikapitalistische und antirassistische Elemente,
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in den Hintergrund treten oder gänzlich ignoriert werden. Dies wird bereits deutlich, wenn man die Verwendung des Konzepts Intersektionalität betrachtet, als Theorie, als Analyseinstrument, als Impuls für feministische Theorie oder als historisch situierte politische Praxis. Kathy Davis, in einem Beitrag mit dem vielsagenden Titel »Intersectionality as buzzword«, argumentiert, dass die inhärente begriffliche Unschärfe aus theoretischer Sicht ein Vorteil sei: »Its lack of clear-cut definition or even specific parameters has enabled it to be drawn upon in nearly any context of inquiry« (2008: 77). In dieser Perspektive erscheint Intersektionalität mehr als ein »floating signifier«, der sich soweit dehnen und anwenden lässt, wie es die analytische oder politische Situation gerade erfordert. Ange-Marie Hancock geht noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass die exklusive Bindung von Intersektionalität an die Erfahrungen von Women of Colour die Versatilität des Begriffs verschleiert (2007: 249-250). Der maßgebliche Beitrag sei ein methodologischer, der über die enge auf Inklusion bezogene inhaltliche Bestimmung hinausgehe. Weil Intersektionalität vor allem eine Komplexitätstheorie sei, ruft etwa Jennifer Nash dazu auf, das Konzept im Sinne eines »feminist originalism« in Richtung größerer Komplexität weiterzuentwickeln. Es wäre demnach unzweckmäßig beschränkend, sich ständig an der Treue zu den inzwischen kanonischen Texten von Crenshaw messen lassen zu müssen (2016: 4). Demgegenüber argumentiert Nikol Alexander-Floyd, dass in »postblack feminist definitions of intersectionality« »Black women« als Wissensproduzentinnen verschwinden (2012: 1). Durch die Universalisierung von Intersektionalität als Forschungsparadigma, wie es etwa von Hancock vertreten wird, werde von »Black women« produziertes, situiertes Wissen marginalisiert oder gar unterdrückt (ebd.: 14-15). Anna Carastathis argumentiert darüber hinausgehend, dass der sogenannte »post-identitäre Moment« dazu geführt hat, dass der Bezug zwischen »Black Feminism« und Intersektionalität als völlig kontingent dargestellt wird und das politische Ziel auf eine identitätspolitische Forderung reduziert wird (2016: 21). Intersektionalität wird im schlimmsten Fall von weißen Feminist:innen verwendet, um dem theoretischen Problem der Differenz zu begegnen, welches die Generalisierbarkeit feministischer Analysen in Frage stellen würde (Lugones 2003: 70-71; vgl. Carastahtis 2016: 22). Noch schärfer fällt die Kritik an Beiträgen aus, die etwa die Genealogie von Crenshaw nicht in Black Feminism, sondern in Beiträgen zum Verhältnis von Kapitalismus und Patriarchat, lesbischem Feminismus, oder Disability und Gender verorten (Lutz/Herrera Vivar/Supik
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2011: 2): »Here, a concept that, in part, performs a critique of white feminism is represented as the accomplishment of white feminism« (Carasthatis 2016: 23). Eine Engführung des Intersektionalitätskonzepts auf einzelne kanonisierte Texte wird der Vielfalt und Produktivität feministischer Analysen, welche in den letzten drei Jahrzehnten entstanden sind, sicherlich nicht gerecht. Dennoch ist die Unsichtbarmachung der radikalen marxistischen Wurzeln im »Black Feminism« und das Verschleiern der zentralen historischen, aber auch epistemologischen Stellung von Women of Colour ein maßgebliches Problem der Rezeptionsgeschichte des Begriffs. Wie die Wahrnehmung von Marx durch die Studierenden zeigt, erschließt sich daraus die pädagogische Notwendigkeit, dem alltäglichen Sprachgebrauch von Intersektionalität eine vielstimmige, komplexe und kontroverse Entstehungsund Wirkungsgeschichte gegenüberzustellen. Dies ist notwendig, wenn das Lernziel der Reflektion über eigenen Sprachgebrauch und gegebenenfalls Handlungsänderung in Richtung einer nuancierteren und inhaltlich reicheren Verwendung des Intersektionalitätskonzepts erreicht werden soll. Ein weiteres Argument gegen eine universalisierende Darstellung von Intersektionalität als lediglich abstraktes Instrument zur Untersuchung überschneidende Diskriminierungen ist der dekoloniale Impetus, die Positionalität von Wissenschaffenden und die Verteilung von Deutungshoheit entlang epistemologischer Asymmetrien kritisch in den Blick zu nehmen: Wer profitiert von einer Dezentralisierung von Rasse als Analysekategorie in einem rein additiven Verständnis von Diskriminierungsfaktoren? Um den potenziell reduktionistischen Effekten des »whitewashing« und der Interpretationen liberaler Feminismen entgegenzuwirken, ist es daher sinnvoll, neben den Texten von Crenshaw auch frühere, noch expliziter politische und auf Kolonialgeschichte rekurrierende Texte in die Forschungs- und Lehrpraxis mitaufzunehmen. Das Combahee River Collective Statement (1977) bietet hierzu einen hilfreichen Ansatzpunkt. Das Statement nimmt eine zentrale ideengeschichtliche Rolle ein und gleichzeitig zeigt es die radikalen Elemente intersektionaler Theorieentwicklung unverblümt auf. Schon im ersten Satz identifizieren sich die Autorinnen als »Black feminists«, was später durch die maßgebliche Rolle, welche ihre eigene Unterdrückung und damit ihre »identity politics« spielt, hervorgehoben wird (Combahee River Collective 1977). Diese Identität speist sich in der »historical reality of Afro-American women’s continous life-and-death struggle for survival and liberation« (ebd.). Aus ursprünglich doppelten Diskriminierungserfahrungen
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von Rassismus und Sexismus entwickeln die Autorinnen eine Theorie der Befreiung aller unterdrückter Menschen, »that […] necessitates the destruction of the political-economic systems of capitalism and imperialism as well as patriarchy« (ebd.). Als ob die Autor:innen die die derzeit wieder aktuelle Kritik an der spaltenden Natur von Identitätspolitik antizipiert hätten, wird argumentiert, dass wenn Women of Colour frei wären, dann müssten alle Menschen frei sein, denn dies würde die Abschaffung aller Unterdrückungssysteme erfordern. Patricia Hill Collins und Sirma Bilge weisen außerdem darauf hin, dass kollektive Identitäten gerade für »queer and trans scholars of colour« nicht nur eine politische Strategie, sondern auch eine wichtige psychologische Unterstützungsmöglichkeit darstellen, gerade in Gesellschaften mit teilweise rassistischen LGBTQIA+ Communities (2020: 49). Die Relevanz dekolonialer Perspektiven auf Intersektionalität wird mit Blick auf die Auseinandersetzungen über die Deutungshoheit bezüglich Rassismus und globaler Ungleichheit in der Klimabewegung deutlich. Bei einer Demonstrationsveranstaltung im Stadtteil Brixton im August 2021, in der sich Extinction Rebellion als Gast der People of Colour innerhalb von XR sowie der lokalen Afro-Karibischen Community beschrieb, brachte Esther StanfordXosei, Mitgründerin des XR Internationalist Solidarity Network, eine derartige dekoloniale Kritik konzise auf den Punkt: »Today the words ›Black Lives Matter‹ seem to pass people’s lips very easily […] But Black lives cannot matter until African lives matter«. Diese Aussage kann als Kritik an der Tendenz besonders weißer Aktivist:innen verstanden werden, sich selbst als nicht rassistisch zu verstehen und mit voller Überzeugung auf der Straße den Slogan »Black Lives Matter« zu intonieren, während man es versäumt gegen die Gewalt tätig zu werden, welche durch die Extraktion fossiler Brennstoffe im globalen Süden täglich angewendet wird. Empirisches Material wie Reden von Aktivist:innen zu diesen Problembereichen innerhalb von Sozialbewegungen können in der pädagogischen Praxis helfen, die häufig auftretenden Spannungen bezüglich der Verflechtung von Antirassismus, Globaler Gerechtigkeit und Klimaschutz aufzuzeigen und diese dann aus postkolonialer oder intersektionaler Perspektive zu untersuchen. Dem Lernziel des souveränen Umgangs mit unterschiedlichen intersektionalen und dekolonialen Perspektiven ist es zuträglich, neben Komplexität und Vielstimmigkeit auch zentrale konzeptuelle Eckpunkte darzustellen, was im Folgenden durch die kurze Skizzierung drei einflussreicher intersektionaler Theoretiker:innen geschieht.
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3.
Intersektionales Denken bei Kimberle Crenshaw, Audre Lorde und bell hooks
Kimerble Crenshaw: Vom Scheitern der Antidiskriminierungsgesetze zu intersektionaler Analyse Es besteht weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass der Begriff »intersectionality« vor allem durch die Artikel der Juristin Kimberle Crenshaw von 1989 und 1991 inhaltlich geprägt und popularisiert wurde. Crenshaw kritisiert die in vielen Formen von Feminismus weit verbreitete Tendenz, die Erfahrungen nicht-weißer Frauen zu ignorieren (1989: 140). Die dominanten Vorstellungen der gelebten Realität von Rassismus und Sexismus entspringen demnach jeweils nur einem »single-axis framework« oder »single-issue analysis« (1989: 139-149). Dies bedeutet, dass im hegemonialen Verständnis von Rassismus und Diskriminierung die Erfahrung von Männern, die als nicht weiß rassifiziert werden, im Vordergrund stehen, während in feministischen Diskursen die Erfahrungen weißer Frauen vorherrschend Gehör finden. Demgegenüber schlägt Crenshaw vor, dass feministische und anti-rassistische Analysen die Erfahrungen derjenigen, die vielfach benachteiligt und diskriminiert werden, in den Vordergrund der Analyse rücken müssten, da dann diejenigen, die weniger benachteiligt sind, ebenfalls profitieren würden: »When they enter, we all enter« (1989: 167). Zwei Metaphern, die der Artikel prägt, haben sich im Verständnis von Intersektionalität weit verbreitet: die Straßenkreuzung und der Keller. Crenshaw fordert die Leser:innen auf, sich eine Straßenkreuzung, intersection, vorzustellen, auf der Fahrzeuge aus allen Richtungen kommen und gehen. Genauso wie ein Unfall durch Autos aus allen möglichen Richtungen versursacht werden kann, verhält es sich mit vielfach diskriminierten Menschen: »If a Black woman is harmed because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination« (Crenshaw 1989: 149). Genauso wenig wie man in der Mitte einer von allen Seiten gleichzeitig befahrenen Kreuzung stehend voraussagen oder ausschließen kann wie ein Unfall passiert, können dies Personen, die von rassistischen, sexistischen und anderen diskriminierenden Machstrukturen unterdrückt werden, auch nicht. Die zweite Metapher, welche Crenshaw verwendet, um das Versagen der gleichheitszentrierten Antidiskriminierungsgesetzgebung bezüglich der Marginalisierung von »Black women« zu beschreiben ist die eines Kellers.
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Dieser ist voller Menschen die Aufgrund von unterschiedlichen sozialen Mechanismen wie »race, sex, class, sexual preference, age/or physical disability« (Crenshaw 1989: 151) unterdrückt werden. Diese Menschen sind übereinander gestapelt, so dass die Füße auf den Schultern der weiter unten stehenden ruhen. Ganz unten stehen diejenigen, welche die ganze Bandbreite an Diskriminierung erfahren, während diejenigen ganz oben nur durch einen einzigen Faktor diskriminiert werden. Die Decke ist eigentlich der Boden des Hauses, in welchem Menschen, welche durch keine der genannten Faktoren benachteiligt sind. Nur die Personen im Keller, die ganz oben stehen und sagen können, »nur wegen« meines Geschlechts oder meiner Hautfarbe werde ich diskriminiert, können ihr Recht einklagen und durch eine Luke ganz nach oben steigen (ebd.: 152). Dementgegen können Black Women von Antidiskriminierunggesetzen selten Gebrauch machen, da es nicht nur ein einziger Faktor ist, der ihre Marginalisierung beeinflusst, sondern das negative Zusammenspiel multipler Faktoren. Aus diesem Grund könne politische Aktivität sich niemals nur gegen eine Form von Diskriminierung, zum Beispiel Sexismus oder Rassismus, richten. Diese Idee aufgreifend werden Audre Lordes Worte häufig von Aktivist:innen der Klimabewegung zitiert, die zu Solidarität zwischen unterschiedlichen sozialen Bewegungen aufrufen: »There is no such thing as a single-issue struggle beacuse we don’t live single issue lives.« (Lorde 2018: 42).
Audre Lorde: Positionalität, Poesie und politische Emotionen Audre Lordes Werk hat in den letzten Jahren eine maßgebliche Renaissance in Europa erfahren, nicht zuletzt wegen ihrer Fähigkeit, komplexe Analysen und politische Programmatik in prägnante und stilistisch einprägsame Formulierungen zu übersetzen. Wie das Combahee River Collective Statement, verortet sich Audre Lorde bewusst, in klarer Abgrenzung gegenüber der in wissenschaftlichen Kontexten üblichen Distanzierung der Person der Wissenschaftler:in zur sozialen Umwelt: »I am Black and lesbian, and what you hear in my voice is fury, not suffering. Anger, not moral authority, there is a difference« (Lorde 2018: 33). Bewusst wird die Person und der Ort, an dem die soziale und politische Welt theoretisiert wird, genannt und transparent gemacht, um den Unterschied zu den Universalismen der meist weiß und männlich dominierten Gesellschaft klar zu markieren. Die eingehende Analyse der gelebten Realität der afroamerikanischen Bevölkerung ist somit, wie schon bei W.E.B. Dubois etwa in The Philadelphia Negro (1996), Ausgangspunkt
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der Theoriebildung. In diesem Sinne ist auch »Poesie kein Luxus«, sondern kann eine unmittelbare, häufig formlose oder Formen brechende Ausdrucksform sein, die ihr erlaubt auszudrücken, worüber so lange geschwiegen wurde: sexualisierte und rassistische Gewalt, besonders gegen Women of Colour und homo-, bi- und transsexuelle Menschen (Lorde 2018: 1-5). Die von Lorde mitgegründete »Kitchen Table: Women of Color Press« bezieht ihren Namen bewusst auf den Küchentisch als einen Ort, an dem vor allem von Frauen nicht nur wichtige persönliche und politische Themen diskutiert werden, sondern auch wissenschaftliche Theorien entwickelt werden. Wissensbildung wird somit bewusst in einem Raum verortet, der in patriarchalen und kapitalistischen Sozialstrukturen von diesen gesellschaftlichen Funktionen weitgehend ausgeschlossen wird. Eine direkte Entwicklungslinie dieser Relokation davon, was als »wertvolles« Wissen angesehen wird, führt somit von dem feministischen Schlagwort »Das Private is politisch« über Lorde zur Frage wie Demokratie heute neu gelebt werden kann. Bevor sie eine der Mitgründerinnen von Extinction Rebellion wurde, hatte etwa Skeena Rathor für mehrere Jahre die »Politics Kitchen« in Stroud geführt, in der möglichst niedrigschwellig neue Formen des Zuhörens und der »grassroots« Deliberation ausprobiert wurden. Rathor ist auch Mitgründerin des Co-Liberation Projekts in XRUK, in welcher Lorde als eine der zentralen Inspirationen fungiert. Weil der von instrumenteller Rationalität und Patriarchat geprägte Kapitalismus in westlichen Gesellschaften uns immer weiter auf den Abgrund zusteuert, sind neue Arten und Weisen uns selbst wahrzunehmen und politisch zu Denken ein Kernbestandteil des Co-Liberation Projekts. In einer Rede im Rahmen der Proteste gegen G7 Gipfel im Juni 2021 in Cornwall, bezog sich Rathor in einer Präsentation über Co-Liberation deshalb direkt auf Lorde und zitierte: »The white father told us: I think, therefore I am. The Black mother within each of us—the poet—whispers in our dreams: I feel, therefore I can be free« (Lorde 2018: 4). Intersektionale Praxis und Theoriebildung ist mit Lorde damit nicht nur als eine Analysemöglichkeit, sondern als Anstoß zu radikalem Umdenken bezüglich der Verortung der Produktion legitimen Wissens zu begreifen. Für eine Pädagogik, die versucht intersektionales Denken zu vermitteln, ist damit nicht nur die Frage der Positionalität der Autor:in, sondern auch des Ortes und der Modalität der Wissensproduktion entscheidend. Der empirische und erfahrensbezogene Kontext von Lordes Werk sind vor allem die USA der 1960er bis 1980er Jahre, mit einem längeren Aufenthalt in Deutschland. Einer der wenigen Aufsätze, die sich direkt mit globalen Kontexten beschäftigen ist Apartheid U.S.A. Er ist für das Verhältnis dekolonialer
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und intersektionaler Ansätze besonders interessant, weil Lorde hier ihre eigene Positionalität als »Black Lesbians and Gays, fighting many battles for survival« (2009: 66) in den Kontext des »state of emergency« in Südafrika im Jahr 1985 während der Apartheid setzt, welchen sie als Euphemismus für die Aufhebung der Menschenrechte für »Blacks« bezeichnet. In vielen öffentlichen Auftritten bezeichnete sich Audre Lorde als »Black, lesbian, mother, warrior, poet«, was unter anderem einen Hinweis auf die verschränkten Unterdrückungsstrukturen gibt, die sie Zeit ihres Lebens betroffen haben und welche sie aus dieser Positionalität heraus bekämpft hat (Lorde 2018). Gleichzeitig nimmt sie dieses »we«, die Community, die notwendig ist für die Befreiung für die sie kämpft, auch in die Verantwortung der Privilegien, welche sie haben: »We are also citizens of the most powerful country in the world, a country which stands upon the wrong side of every liberation struggle on earth« (2009: 66). Die Parallelen zwischen den zahlreichen Morden an People of Color in ihrem Heimatland steht für sie in direktem Zusammenhang mit der Unterstützung der systematischen Gewaltexzesse der Apartheidregierung durch das »constructive engagement« der US Regierung. Und gleichzeitig weißt sie darauf hin, dass teilweise auch People of Colour als Bürgermeister:innen oder Regierungsbeamte für die rassistischen Morde verantwortlich sind. Entgegen einer eindeutigen Trennung nach Hautfarbe insistiert Lorde, dass »institutional racism becomes a question of power and privilege, rather than color, which then serves as a subterfuge« (Lorde 2009: 72). Apartheid U.S.A ist somit ein pädagogisch in zweifacher Hinsicht besonders hilfreicher Text. Lorde stellt darin eine klare Verbindung zwischen rassistisch motivierten und institutionell unterstützen Morden an der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA und den aus kolonialen Asymmetrien geborenen globalen Machtverhältnissen her. Viele Beiträge, welche sich auf Intersektionalität beziehen (Lykke 2010; McCall 2005), vernachlässigen diese Perspektive, weshalb das Konzept Intersektionalität häufig zu schnell als zu US- oder europazentriert abgetan wird. Gleichzeitig stellt Lorde auch klar, dass Macht und Privilegien im Zweifelsfall wichtiger sind als Hautfarbe um institutionellen Rassismus und systematische Gewaltausübung zu verstehen und entsprechend zu bekämpfen.
bell hooks: Patriarchat, Kapitalismus und White Supremacy Bell hooks einflussreiche Beiträge zu feministischer Theorie haben mit dem Werk von Crenshaw und Lorde gemeinsam, dass sie häufig als eine Kritik an liberalem oder »weißem« Feminismus positioniert sind. In einem ihrer
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bekanntesten Bücher, Feminist Theory: From Margin to Center (2000) versucht hooks eine Neuverortung und Definition von dem was sie als »feminist movement« bezeichnet, womit immer auch eine Verbindung zwischen wissenschaftlicher Theorie und konkreter politische Praxis gemeint ist. Nach hooks ist Feminismus der Kampf zur Abschaffung sexistischer Unterdrückung (2000: 26). Sie wendet sich gegen liberalen Feminismus, der lediglich fordert, dass Frauen die gleiche soziale Stellung wie Männer bekommen sollten. Diese Perspektive würde die vielen anderen Machtasymmetrien außer Acht lassen. Sie fragt deshalb, »since men are not equals in white supremacist, capitalist, patriarchal class structure, which men do women want to be equal to?« (2000: 19). Nicht-weiße Frauen erlebten tagtäglich, dass die Männer in ihrem sozialen Umfeld ausgebeutet und unterdrückt werden, weshalb gleicher sozialer Status mit diesen Männern nicht als Befreiung empfunden würde. Diese soziologische Perspektive lässt sich umgekehrt auch mit Blick auf den Entstehungskontext klassischer liberal-feministischer Texte wie zum Beispiel Betty Friedans The Feminine Mystique (1965) anwenden. Was Friedan das »Problems ohne Namen« nennt, als die Erfahrung von Frauen allgemein, situiert hooks als die Probleme einer kleinen, privilegierten Schicht von akademisch gebildeten, gut situierten, verheirateten weißen Frauen (2000: 1). Frauen, die gelangweilt sind von Freizeit, Kindern und Einkaufen wollen »mehr« vom Leben und dieses »mehr« wird verstanden als Karriere (ebd.). Wie partikular dieses Problem ist, und wie weit es von der Lebensrealität der meisten Frauen entfernt ist, bringt hooks zur Ablehnung eines Feminismus, der unter dem Banner der Gleichheit lediglich ähnliche Karrierechancen für weiße mittelständische Hausfrauen fordert. Die liberal-feministische Forderung nach Gleichheit an Möglichkeiten, »equality of opportunity«, innerhalb eines »white supremacist, capitalist, patriarchal state« würde für hooks außerdem als ideologische Unterstützung für das Aufrechterhalten desselben verwendet werden (2000: 22). Solange Befreiung verstanden wird als Gleichheit mit weißen Männern der herrschenden Klasse, hat die Gruppe die von dieser Gleichheit profitiert ein Eigeninteresse am Erhalt der Ausbeutung und Unterdrückung anderer (2000: 16). Feminismus muss für hooks daher eine viel breitere analytische und politische Perspektive einnehmen, in welcher das Ziel ist, »to eradicate the ideology of domination that permeates Western culture« (2000: 26). Feminismus kann sich deshalb nicht auf Solidarität unter Frauen qua biologischer Gleichheit beziehen, sondern entsteht aus und basiert auf einem kritischen poli-
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tischen Bewusstsein. Hier bietet sich gleichzeitig auch ein Ansatzpunkt für dekoloniale Perspektiven: Entgegen der liberalen Fortschrittsnarrative eines triumphalen weißen Feminismus stellt hooks Unterdrückung als charakteristisches Merkmal westlicher Zivilisation heraus, welches in Patriarchat, Kapitalismus, Rassismus und Imperialismus seine spezifischen, institutionalisierten Formen findet. Bell hooks Œuvre bereichert intersektionale und postkoloniale Perspektiven auch dadurch, dass sie wichtige Einsichten der entstehenden Kritischen Männlichkeitsforschung vorwegnimmt (Cornell 2005; vgl. Mohanty 2003: 64ff.) und den Blick auf diejenigen richtet, die von den Unterdrückungsstrukturen des Patriarchats profitieren. Basierend auf einer intersektionalen Perspektive verwirft hooks jedoch die in vielen feministischen Strömungen verbreitete binäre Trennung in Männer als Unterdrücker und Frauen als Unterdrückte (vgl. MacKinnon 1989). Der Buchtitel The Will to Change ist kennzeichnend für ihr erklärtes Ziel: »to reclaim feminism for men« (hooks 2004: xvii). Nur durch feministisches Denken und Praxis könne der Krise der Maskulinität begegnet werden. Nur wenn Männern die Kunst des Liebens beigebracht würde, könnten Frauen darauf hoffen, liebende Brüder, Väter, Söhne, Ehepartner oder Liebhaber zu haben. Mit diesem Fokus stellt hooks auch klar, dass eine genderseparatistische Sicht, welche in manchen feministischen Strömungen präsent ist, auf dem Privileg einer (relativen) Unabhängigkeit von Männern basiert, welche nach hooks vor allem in nichtweißen Milieus der Arbeiter:innenklasse selten gegeben ist. Für hooks ist das Patriarchat »the single most life-threatening social disease assaulting the male body and spirit in our nation« (2004: 17). Sie versteht das Patriarchat demnach nicht als die Unterdrückung von Frauen durch Männer, sondern wie folgt: »Patriarchy is a political-social system that insists that males are inherently dominating, superior to everything and everyone deemed weak, especially female, and endowed with the right to dominate and rule over the weak through various forms of psychological terrorism and violence« (hooks 2004: 18). Definiert man Patriarchat nicht mehr allein durch Genderbinarität, was sicherlich eine der machtvollsten aber eben bei weitem nicht die einzige Unterdrückungsstruktur innerhalb des Patriarchats ist, wird klarer, warum so viele Männer unter patriarchalen Vorstellungen von Männlichkeit ebenfalls zu leiden haben. Hooks bezieht sich in ihren Analysen vor allem auf die Art
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und Weise wie Jungen untersagt wird, sich emotional auszudrücken, Schwäche zu zeigen und sich so bunt, spielerisch und kreativ zu entfalten, wie sie das von sich aus möchten (2004: 35). Verstöße gegen diese patriarchalen Erziehungsmethoden würden geahndet durch die Ritualisierung von Scham, Schuld und gewaltvoller Bestrafung. Dass viele dieser Themen, besonders das mangelnde Erlernen der Fähigkeit zu lieben und sich geliebt zu fühlen, oftmals nur aus entwicklungspsychologischer Perspektive behandelt werden, bezeichnet hooks als »Depolitisierung«. Die für sie maßgebliche Struktur, der patriarchale, kapitalistische, »white-supremacist« und imperiale Staat wird vernachlässigt (2004: 37). Hooks Perspektive auf die Krise der Männlichkeit, parallel zu Forschungen zu kritischem Weißsein, stellen einen wertvollen Beitrag zu dekolonialen Perspektiven dar, indem sie eine umfassende und dennoch differenzierte Kritik der Kultur der Unterdrückung derjenigen Länder liefert, welche die schwersten Kolonialverbrechen und die sich fortsetzenden Ausbeutungsstrukturen zu verantworten haben (vgl. Mohanty 2003: 59). Das Patriarchat kann somit nicht lediglich als Struktur der Diskriminierung gegen Frauen und nichtweiße, arme, homosexualle, transsexuelle etc. Männer verstanden werden, sondern als eine Herrschaftsideologie und -praxis, welche sich direkt in kolonialen und postkolonialen Beziehungen manifestiert. Durch die systematische Verknüpfung unterschiedlicher Unterdrückungsstrukturen kann Intersektionalität auch einen wichtigen Beitrag zu dekolonialen Ansätzen leisten. Während dekoloniale Ansätze oftmals Rassismus, Orientalismus und White Supremacy als zentrale Analysekategorien mobiliseren, erinnern intersektionale Perspektiven daran, sich gegenseitig verstärkende Unterdrückungsmuster sowohl in der ehemaligen Metropole als auch in kolonialisierten Gebieten zu einem zentralen Instrument der kritischen Analyse zu machen, welche bei einigen postkolonialen Theoretiker:innen auch überaus fruchtbar Anwendung findet (vgl. Dhawan 2011; Stoler 1995).
4.
Intersektionale, postkoloniale und ökologische Bildung
Für die meisten der hier besprochenen Theoretiker:innen spielt die Zerstörung des Klimas und der dadurch drohende Zusammenbruch lebensnotwendiger gesellschaftlicher Systeme eine untergeordnete Rolle. Vielleicht gerade weil der Bezug auf die Identität und Diskriminierungserfahrung vom Combahee River Collective über Crenshaw und Lorde tief in den analytischen Appa-
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rat intersektionaler Theorie eingeschrieben sind, können Umwelt und Klima nicht einfach als eine weitere Diskriminierungskategorie wie Alter, Nationalität, Grad der Behinderung etc. aufgelistet werden. Wie intersektionale und dekoloniale Praxis auf die Klimakrise bezogen wird, ist wie oben erwähnt neben der akademischen auch eine unmittelbare politische Frage. Ähnlich wie bei Feminismus und Antikolonialismus ist es wahrscheinlich, dass maßgebliche Theoriebildung durch die sozialen Bewegungen selbst, bzw. durch reflektiertes Beobachten derselben oder Teilnahme an denselben geschehen wird, was mit zentralen methodologischen Überzeugungen intersektionaler Ansätze übereinstimmt. In Extinction Rebellion UK hatte man sich bereits bei der Gründung dafür entschieden, 20 % des Budgets für internationale Solidaritätsarbeit zur Verfügung zu stellen, was vorrangig durch das XR Internationalist Solidarity Network (XRISN) umgesetzt wurde. XRISN formierte sich direkt zu Beginn unter anderen aus Mitgliedern der »Stop the Maangamizi Campaign« und arbeitet heute mit Gruppen wie »Global Majority vs. UK Government« zusammen, welche versuchen besonders indigene Communities und Gruppierungen, die direkt von Ressourcenextraktion betroffen sind und diese als »Communities of Resistance« bekämpfen, zu unterstützen.3 Dadurch wurde jedoch für einige Zeit die systematische Arbeit an antirassistischen und ethnisch Diversen Bündnissen innerhalb des UK, besonders in London, wo die größten und Infrastrukturen lahmlegenden Proteste stattfinden, vernachlässigt. Dies hat in der Einschätzung vieler Aktivist:innen dazu beigetragen, dass die ethnisch und kulturell diversen Communities auf den Protesten unterrepräsentiert waren und die intersektional-feministischen Überzeugungen gerade der jüngeren Generationen nicht erfolgreich aufgegriffen werden konnte. Verstärkt durch die konservativ orientierte Medienlandschaft hat dies zu einer negativen Darstellung von XR als lediglich von der weißen Mittelschicht getragene Bewegung geführt. Darüber hinaus herrschte eine gewisse Skepsis gerade unter einigen Mitgründer:innen, politisch links besetzte Themen wie Antirassismus, Antikapitalismus und Antiimperialismus zu deutlich in der öffentlichen Kommunikation hervorzuheben. Diese Skizze der Spannungsfelder innerhalb von XR kann als Aufforderung dienen, das komplexe Zusammenspiel intersektionaler und dekolonialer Perspektiven als Lernbeispiel oder als Forschungsprojekt von Studierenden zu untersuchen. Die daraus möglicherweise neu entstehenden Formen politischer Analyse, Praxis und Päd3
Vgl. https://stopthemaangamizi.com/und https://globalmajority.earth/.
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agogik können als logische Weiterentwicklung von Theorieströmungen verstanden werden, die stets in Dialog mit den Sozialbewegungen, welche ihre Ideen mitgestalten und tragen, gewachsen sind. Marianne Maeckelbergh beschreibt diesen Prozess noch deutlicher: »I believe that change comes primarily through action, that knowledge is created through struggle, and when knowledge is not acted upon, it is wasted« (2009: viii). Intersektionale Theorien sind in der politischen Bildung bislang noch weniger präsent als die ohnehin schon spärlich vertretenen dekolonialen Perspektiven. Dies hat zum Teil mit der Struktur der Staatsexamina und der darin vorgeschriebenen Themen zu tun, in denen der zu prüfende Kanon politischer Theorie meist in den 1970ern endet, und weibliche, nicht-weiße und nicht- euroamerikanische Autor:innen so gut wie nicht vorkommen (vgl. Müller 2017). Intersektionale und postkoloniale Theorien eignen sich hervorragend, genau diese Ausschlussmechanismen kritisch zu hinterfragen und damit epistemologische blinde Flecken wie den Küchentisch oder unsere weitgehende Ignoranz indigenen politischen Denkens aufzudecken. Die Covid-19 Pandemie hat eindrücklich aufgezeigt, dass gesamtgesellschaftliche Krisensituationen Menschen, die ohnehin schon marginalisiert sind, am stärksten trifft. Dies hat zum Beispiel in Großbritannien zu verheerenden Todesraten bei den tendenziell auch sozio-ökonomisch stärker benachteiligten Black and Minority Ethnic Communities geführt: Menschen mit der Ethnizität »Black African« hatten eine 3,5 mal so hohe Mortalität wie die vergleichbare Gruppe »White« (ONS 2020). Global gesehen zeigen sich die negativen Effekte der Klimakrise schon jetzt am schlimmsten bei denjenigen fast ausschließlich nicht-weißen Gruppierungen, welche am wenigsten Anteil am Ausstoß der Treibhausgase hatten. Zukünftige negative Effekte sind aller Wahrscheinlichkeit nach wiederum entlang der existierenden Unterdrückungsstrukturen bezüglich Ethnizität, Klasse, Gender, Grad der Behinderung etc. asymmetrisch verteilt. Intersektionale und postkoloniale Bildungskonzepte sind deshalb unabdingbar für ein Verständnis davon, wie sich immer extremere Wetterphänomene und der drohende Kollaps von Biodiversität auf unterschiedliche lokale, nationale und globale Bevölkerungsgruppen auswirken. Politische Bildung, die dieser Realität gerecht werden will, kann von den hier vorgestellten intersektionalen Theorien lernen, die politischen Umwälzungen der anstehenden klimapolitischen Entscheidungen auf ihre ungleichen Effekte für unterschiedliche Bevölkerungen zu untersuchen. Bell hooks folgend scheint es jedoch ebenso wichtig zu sein, die zivilisatorischen und
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kulturellen Grundlagen der Ausbeutung und Zerstörung unserer eigenen Lebensgrundlagen besser zu verstehen, um Lernenden vielschichtigere Möglichkeit zu eröffnen, nach notwendigen Alternativen zu suchen. Der Impetus intersektionaler Theorie, multiple Positionalitäten und Epistemologien, welche weniger zerstörerische Wege des Umgangs mit nichtmenschlichen Tieren und Ökosystemen aufzeigen, in Lernumwelten miteinzubeziehen, ist angesichts der potentiell katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise ein dringender Imperativ pädagogischer Praxis.
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Intersektionaliät und postkoloniale politische Bildung im Zeitalter der Klimakrise
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Modernity, Coloniality und Identitti Eine pädagogische Lektüre Phillip D. Th. Knobloch
Mittlerweile hat es sich auch in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft herumgesprochen, dass postkoloniale Theorien mitunter als Bildungstheorien verstanden werden sollten. Auf diese Entwicklung verweist etwa ein aktuelles Einführungs- und Überblickswerk zum Thema Bildungstheorien (Rieger-Ladich 2019), in dem Gayatri Chakravorty Spivak, bekanntlich eine der prominentesten Vertreterinnen postkolonialer Theorie, neben bekannten pädagogischen Klassikern wie Platon, Humboldt oder Dewey, als wichtige Bildungstheoretikerin präsentiert wird. Erwähnenswert ist dies natürlich nicht, um zu betonen, dass postkoloniale Theorien insofern auf einer Bildungsidee gründen, als sie der Bildung dienen sollen; denn jede Form der Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Theorien, ob im Rahmen des akademischen Studiums oder autodidaktisch motiviert, soll natürlich nach Möglichkeit der Bildung dienen. Interessant ist dieser Verweis vielmehr, da Spivak in erster Linie als Literaturwissenschaftlerin tätig war, und (zumindest bisher) nicht primär als Erziehungswissenschaftlerin, Pädagogin oder Bildungstheoretikerin hervorgetreten ist bzw. wahrgenommen wurde. Jetzt kann man sich natürlich auch in Hinblick auf andere Bildungstheoretiker die Frage stellen, wie das Verhältnis von Erziehungswissenschaft und Bildungstheorie zu bestimmen ist. Denn auch für die meisten anderen der von Rieger-Ladich versammelten Bildungstheoretiker – u.a. Adorno, Bourdieu, Foucault und Butler – gilt, dass diese nicht im engeren Sinne als Vertreter der Erziehungswissenschaft gelten können. Was macht also eine Theorie, die nicht explizit als erziehungswissenschaftliche Bildungstheorie entworfen und deklariert wurde, zu einer Bildungstheorie? Diese Frage ist vermutlich vor allem in der Erziehungswissenschaft von Interesse, und in diesem Rahmen insbesondere für die Erziehungs- und Bildungsphilosophie bzw. -theorie. Hier lässt sich dann auch schnell eine ers-
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te und einfache Antwort finden: Bildungstheorien sollen dem pädagogischen Handeln zur Orientierung dienen. Denn mit dem Bildungsbegriff lassen sich »Prozesse beschreiben […], die durch pädagogisches Handeln befördert, unterstützt oder zumindest ermöglicht werden sollen« (Koller 2014: 41). Entsprechend lässt sich dann anhand konkreter Bildungstheorien »über Begründung, Zielbestimmung und Kritik pädagogischen Handelns« diskutieren; und derartige Diskussionen lassen sich als eine wichtige »Aufgabe der erziehungswissenschaftlichen Reflexion« (ebd.: 42) bestimmen. Ähnlich wie Rieger-Ladich (s.o.) vertrete auch ich die Auffassung, dass bestimmte postkoloniale Theorien in Hinblick auf ihr Bildungsverständnis in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft beleuchtet, untersucht und diskutiert werden sollten. Um derartige Diskussionen anzustoßen, habe ich etliche erziehungswissenschaftliche Beiträge zur dekolonialen Theorie des US-argentinischen Semiotikers Walter Mignolo vorgelegt (Knobloch 2014, 2016, 2019a, 2019b, 2019c, 2020a, 2020b, 2020c, 2020d, 2020e). Denn es ist durchaus plausibel davon auszugehen, wieder analog zu Rieger-Ladichs Einschätzung von Spivak, dass es sich bei der dekolonialen Theorie Mignolos im Kern um eine Bildungstheorie handelt. Nun kann man konzedieren, dass es zumindest bis zum jetzigen Zeitpunkt kaum zu solchen Diskussionen über die Bildungstheorie der dekolonialen Theorie gekommen ist. Zwar wird mittlerweile in Beiträgen zu postkolonialen Zusammenhängen auch in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft immer öfter auf Mignolo verwiesen, eine breit angelegte Diskussion innerhalb der Erziehungswissenschaft über das dekoloniale Bildungsverständnis sehe ich aber noch nicht. Das mag verschiedene Gründe haben. Ein Grund mag zunächst sein, dass Mignolo selbst in seinen Texten den Bildungsbegriff nicht verwendet, und er – nicht zuletzt weil er eben kein deutschsprachiger Erziehungswissenschaftler oder Bildungstheoretiker ist – es anscheinend nicht als seine Aufgabe sieht, seine Überlegungen bildungstheoretisch zu explizieren. Dies ist vielmehr Aufgabe der Erziehungswissenschaft, will sie sich über dieses Bildungsverständnis informieren, dieses diskutieren und vielleicht sogar aneignen. Auch wenn ich behaupten möchte, dass ich zumindest formal geklärt habe, was unter dekolonialen Bildungsprozessen im Anschluss an Mignolo sinnvollerweise verstanden werden kann, so mögen diese Beiträge deshalb schwer zugänglich und anschlussfähig geblieben sein, weil noch nicht überzeugend aufgezeigt wurde, was man sich hierzulande konkret unter dekolonialen Bildungsprozessen vorstellen kann. Könnte man daher nicht zumindest exem-
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plarisch aufzeigen, wie sich Menschen dekolonial bilden und gebildet haben? Und zwar in der Gegenwart, in Deutschland? Um diesen Versuch zu unternehmen greife ich auf eine Methode zurück, die mittlerweile in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft als etabliert gelten kann: die pädagogische Lektüre zeitgenössischer Romane. Ausgewählt habe ich den Roman »Identitti« von Mithu Sanyal (2021), um die Theorie dekolonialer Bildung mit diesem zu konfrontieren. Ziel ist es einerseits, dekoloniale Bildungsprozesse im Roman zu identifizieren und so exemplarisch zu veranschaulichen, und andererseits, diese Bildungstheorie durch die Lektüre sowohl zu problematisieren und zu kritisieren als auch zu erweitern und zu transformieren.
1.
Die Methode der pädagogischen Lektüre
Die hier vorgelegte Untersuchung orientiert sich an aktuellen Konzepten einer bildungstheoretisch fundierten Bildungsforschung. Dabei ist die Annahme leitend, dass es sinnvoll und aufschlussreich ist, die Entwicklung zeitgemäßer Bildungstheorien an die empirische Erforschung von Bildungsprozessen zu koppeln. Dadurch soll es möglich werden, zunächst spezifische Bildungsvorstellungen am empirischen Material zu veranschaulichen. Darüber hinaus sollen durch die Konfrontation von Theorie und Empirie aber auch Probleme und Grenzen der untersuchten Konzepte herausgearbeitet werden, um so Ansatzpunkte und Inspiration für die Theorieentwicklung zu gewinnen. Überprüft werden kann so aber auch, inwieweit die verwendeten empirischen Forschungsmethoden und die dabei zugrunde gelegten methodologischen und epistemologischen Konzepte geeignet sind, um eine theoretisch anspruchsvolle und der pädagogischen Praxis dienliche Bildungsforschung zu praktizieren und weiterzuentwickeln. Mittlerweile liegen zahlreiche Beiträge vor die zeigen, dass sich das Konzept einer bildungstheoretisch fundierten empirischen Bildungsforschung nicht nur auf empirisches Material im engeren Sinne anwenden lässt. So werden etwa neben qualitativen Interviews eben auch Romane (z.B. Koller 2014, 2012a, 2012b; Schütte 2017; Knobloch 2020f) oder etwa Fernsehserien (z.B. Rieger-Ladich 2014; Sanders 2022) herangezogen, um sie mit spezifischen Bildungstheorien zu konfrontieren. Darüber hinaus eignen sich neben Werken aus den klassischen Bereichen der Kunst aber auch ästhetische bzw. ästhetisierte Kultur- und Konsumprodukte nahezu
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jeder Art, insbesondere für die Konfrontation mit Theorien ästhetischer Bildung (Schütte 2019; Knobloch 2021a). Auf eine derart breite Palette an potenziellen erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisquellen verweist auch die pädagogische Hermeneutik (Rittelmeyer/Parmentier 2006), die nicht nur zur pädagogischen Interpretation von Texten, sondern explizit auch von Bildern und Dingen entwickelt wurde. Entsprechend lässt sich die bildungstheoretisch fundierte Bildungsforschung als Weiterentwicklung des hermeneutischen Ansatzes in der Erziehungswissenschaft verstehen (Koller 2012a: 226).
2.
Die Theorie dekolonialer Bildung: Modernity und Coloniality
Um die dekoloniale Theorie Walter Mignolos bildungstheoretisch in den Blick zu nehmen, halte ich es für sinnvoll, bei der dort formulierten Forderung nach einem dekolonialen Grenzdenken anzusetzen. Dieses borderthinking wird von Mignolo (2012: 200) auf der Grenze verortet, die modernity und coloniality sowohl trennt als auch verbindet. Im Kern geht es dabei darum, sich kritisch mit gängigen bzw. eurozentrischen Konzepten der Moderne bzw. von Modernität (modernity) auseinanderzusetzen, und diese vor allem in Beziehung zum modernen europäischen Kolonialismus sowie zur Kolonialität (coloniality) zu setzen. Dabei wird coloniality im Verhältnis zu modernity bestimmt, oder, um es mit Mignolo zu sagen: Coloniality ist die verborgene sowie finsterste Seite von modernity (vgl. ebd.: 97); und: Coloniality und modernity sind zwei Seiten einer Medaille (Mignolo 2009: 42). Um die Bedeutung dieser Begriffe näher zu erschließen ist der Hinweis wichtig, dass Mignolo versucht, ein kritisches Verständnis der Moderne aus der Perspektive ehemaliger europäischer Kolonien zu entwickeln, insbesondere aus der Perspektive Lateinamerikas. Dabei ist der Gedanke leitend, dass in Amerika die Moderne mit dem Kolonialismus begonnen hat, und nicht, wie es die gängigen europäischen bzw. eurozentrischen Narrative suggerieren, mit der europäischen Aufklärung. Diese Sichtweise widerspricht natürlich den gängigen Vorstellungen von Moderne bzw. modernity, da der Kolonialismus, insbesondere mit all seinen dunklen Seiten, gerade das Gegenteil von all dem darzustellen scheint, was man mit Modernität assoziiert: Aufklärung, Emanzipation, Menschenrechte, Demokratie etc. Nachvollziehbar ist die These Mignolos aber insofern, als mit dem europäischen Kolonialismus Herrschaftsstrukturen etabliert wurden, die weit
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über die Kolonialzeit hinaus in unterschiedlicher Weise wirkmächtig waren bzw. immer noch sind. Und es ist diese Herrschafts- bzw. Machtstruktur, die Mignolo mit dem Begriff der Kolonialität bezeichnet. Kolonialität bedeutet hier dann die Kolonialität der Macht bzw., wie es auch heißt, die koloniale Matrix der Macht. Von einer kolonialen Matrix der Macht spricht Mignolo, der das Konzept der Kolonialität weitgehend von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano (u.a. 2016) übernommen hat, da der europäische Kolonialismus auf verschiedenen Ebenen zu verorten ist, die wiederum in ihrem komplexen Zusammenspiel begriffen werden müssen. So kann in Hinblick auf den Kolonialismus etwa zwischen ökonomischer, politischer und kultureller Machtausübung unterschieden werden. Der entscheidende Gedanke ist nun, dass hier nicht nur Länder erobert, Völker unterworfen, Menschen misshandelt, Ressourcen und Arbeitskräfte ausgebeutet und Kulturen unterdrückt wurden, sondern dass auch das Denken kolonisiert wurde. Und diese Kolonisierung des Denkens wirkt nun, so die These, bis in die Gegenwart, und drückt sich dort vor allem in den bis heute angeblich gängigen Vorstellungen von modernity und coloniality (s.o.) aus. Damit schließt sich gewissermaßen der Kreis. Um dieses gängige bzw. eurozentrische Verständnis von modernity und coloniality näher in den Blick zu bekommen, ist es notwendig das Verhältnis der mit diesen Begriffen assoziierten Phänomene zu berücksichtigen. Wie erwähnt wird laut Mignolo modernity üblicherweise mit den positiven Errungenschaften der westlichen Moderne in Verbindung gebracht (Aufklärung, Emanzipation, Menschenrechte etc.), und durch die Abgrenzung von all dem konturiert, was eben nicht als modern (sondern, diesem Begriffsverständnis nach, als kolonial) zu bezeichnen ist. In den Bereich des Nicht-Modernen (bzw. der Kolonialität) fallen dabei sowohl alle nicht-modernen oder anti-modernen Phänomene, die man mit den (ehemals) kolonisierten Völkern, Kulturen und Ländern verbinden kann, als auch solche, die dem Westen zugerechnet werden können. Dabei eingeschlossen sind sowohl problematische europäische Traditionen als auch die dunklen und gewalttätigen Seiten des europäischen Kolonialismus selbst. Um das Verhältnis von modernity und coloniality noch genauer in den Griff zu kriegen ist es hilfreich, auf die von Mignolo beschriebene Rhetorik der Moderne und Logik der Kolonialität einzugehen. Dabei bezeichnet der Ausdruck Rhetorik der Moderne narrative Strategien, die dem beschriebenen Verständnis von modernity und coloniality folgen: Positives wird der Moderne zugerechnet, Negatives (in Abgrenzung von der Moderne) der Kolonialität. Von einer
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Logik der Kolonialität spricht Mignolo insofern, als auf diese Weise rhetorisch die koloniale Matrix der Macht legitimiert wird: Dabei wird versucht plausibel zu machen, dass der Kolonialismus (wie zunächst behauptet) in erster Linie der Rettung der Seelen der Indigenen bzw. (wie später dann formuliert) deren Zivilisierung, Aufklärung und Bildung dient; von den negativen Auswirkungen des Kolonialismus grenzt man sich rhetorisch explizit ab. Bildungstheoretisch und bildungshistorisch interessant ist die Rhetorik der Moderne daher insofern, als die Verbreitung derartiger Selbst- und Weltbilder durch entsprechende Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen unter den Kolonisierten die kolonialen Strukturen stabilisieren und antikolonialen Widerstand delegitimieren sollte. Kompliziert wird der Zugang zur dekolonialen Theorie auch dadurch, dass die koloniale Matrix der Macht »längst der okzidentalen Kontrolle entwischt« (Mignolo 2012: 200) ist. Auch wenn die Begriff modernity und coloniality im beschriebenen Sinne historisch auf die koloniale Differenz zwischen kolonisierten Nicht-Europäern und kolonisierenden Europäern, sowie später dann auf die zwischen (europäischer) Zivilisation und (nicht-europäischer) Barbarei zurückgeführt werden kann, so stellt sich die Lage heute viel komplexer dar, da auf der ganzen Welt die unterschiedlichsten Gruppen auf die Rhetorik der Moderne und die Logik der Kolonialität zurückgreifen, um ihre Interessen und Machtansprüche zu legitimieren und andere in diesem Sinne zu kolonisieren. Das Konzept des dekolonialen Grenzdenkens basiert also auf der Annahme, dass so gut wie alle Menschen und Gesellschaften auf die eine oder andere Art in die koloniale Matrix der Macht verwickelt sind, und daher auch bestimmte moderne bzw. koloniale Denkweisen und damit verbundene Selbstund Weltverhältnisse verinnerlicht haben. Vor diesem Hintergrund zielt Bildung nun darauf, das Denken, und in der Folge natürlich auch das Leben, zu dekolonisieren. Erreicht werden soll dies durch das anfangs bereits angesprochene dekoloniale Grenzdenken, mit dem zumindest erreicht werden soll, unterschiedliche Sichtweisen auf das Verhältnis von modernity und coloniality einzunehmen. Dabei geht es vor allem auch darum, sich selbst und die Welt sowohl von den Rändern als auch aus dem Zentrum der Macht in den Blick zu nehmen, sich also sowohl als marginalisiert als auch privilegiert zu verorten.
Modernity, Coloniality und Identitti
3.
Die pädagogische Lektüre: Identitti
Der Roman »Identitti« von Mithu Sanyal (2021) dreht sich in erster Linie um die ambivalente Beziehung zwischen der Studentin Nivedita Anand (die unter dem Namen Identitti einen Internetblog schreibt, in dem es vor allem um sex und race geht) und ihrer Professorin Saraswati. Nivedita ist gewissermaßen auf der Suche nach sich selbst, und diese Suche erweist sich insofern als schwierig, als ihr nach eigener Aussage zunächst geeignete Rollenvorbilder fehlen, um ein positives Selbstverhältnis und Selbstverständnis zu entwickeln. Dabei besteht das Problem darin, dass sie sich als »mixed« (ebd.: 46) bzw. mixed race bezeichnet und empfindet, da ihr Vater aus Indien und ihre Mutter aus Deutschland bzw., wenn man ihre Familiengeschichte weit genug zurückgeht, aus Polen stammt. »Niveditas Problem war nicht, dass sie keine klar umrissene Identität hatte. Ihr Problem war, dass sie das Gefühl hatte, Identitäten seien etwas für andere Leute. Und sie hätte kein Anrecht darauf, weil sie zwischen alle Kategorien und durch alle Rizzen fiel. Sogar die meisten Theorien zu Rassismus bezogen sich nicht auf Menschen wie sie, sondern auf … eindeutigere Menschen. Auf Menschen, denen zwar ein Hier verweigert wurde, die aber ein Da in ihren Herzen trugen, eine Herkunft, zumindest eine Herkunft der Eltern – und nicht diesen unübersichtlichen Mischmasch aus Herkünften und Verbundenheiten, der kein Muster ergab, keine Struktur, nur ein Chaos an Kokons, ein Gewirr von Geschichten, die sie kaum kannte und die keinen Sinn ergaben« (ebd.: 48). Die Schwierigkeit Niveditas, sich mit ihrer eigenen Herkunft bzw. der ihrer Eltern (oder eben, wie aus dem Zitat hervorgeht: mit ihrer Identität) affirmativ zu identifizieren, wird im Roman auch auf Kindheitserlebnisse zurückgeführt, die gewissermaßen traumatisch für sie waren. Als Schlüsselszene wird auf den ersten Besuch bei Verwandten in Birmingham verwiesen, als Nivedita acht Jahre alt war. »›Dort sehen die Kinder aus wie du‹, hatte ihre Mutter ihr versprochen, während sie die Koffer für den Besuch bei der Tochter von Papas ältester Schwester gepackt hatte« (ebd.: 42). Bei der Verwandtschaft in Birmingham kommt es Nivedita dann ganz so vor, als wären sie in Indien gelandet, und sie empfindet »eine Mischung aus Wärme und etwas Neuem, Unbekanntem, ein nahezu triumphierendes Gefühl von Zugehörigkeit« (ebd.: 43). Doch dann wird sie von den dortigen Kindern coconut genannt, was sie sehr verwirrt, da sie nicht versteht was das
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bedeuten soll. Ihre Cousine Priti versucht es ihr dann zu erklären, und Nivedita versteht es rückblickend so: »Du bist nicht echt« (ebd.: 44). »Wann immer in den folgenden Jahren Menschen enttäuscht waren, dass sie nicht indisch kochen/tempeltanzen/Sitar spielen konnte, hörte Nivedita: Coconut. Das kokosnussigste an ihr war dabei natürlich, dass sie keine einzige der 121 indischen Sprachen sprach (oder der 19 569 indischen Sprachen, je nachdem, welchem Zensus man Glauben schenkte)« (ebd.: 44-45). Nivedita rätselt, woher ihr Gefühl kommt, keine richtige Inderin zu sein, sein zu können bzw. zu dürfen. »Lange dachte Nivedita, ihr fehlendes Gefühl von Anrecht auf das Inderinsein läge daran, dass Indien so weit weg war. Irgendwann beschloss sie, dass diese Entfernung mehr mit emotionaler Distanz – sprich: Kolonialismus – zu tun hatte als mit geografischem Abstand« (ebd.: 46). Diese Aussage kann nun so interpretiert werden, dass Nivedita zu dem Schluss kam, dass sie selbst solche Vorstellungen über Indien verinnerlicht hatte, mit denen der Kolonialismus dort damals legitimiert wurde. Also negative Vorstellungen, etwa von Rückständigkeit oder Barbarei, die auf der anderen Seite die Überlegenheit der Kolonialmacht hervorhoben. Mit Mignolo (s.o.) könnte man auch sagen, dass Nivedita vermutlich zu der Annahme gelangte, dass sie – bisher unbewusst – Indien und damit auch ihre indische Identität mit der Kolonialität (coloniality), ihre deutsche bzw. europäische Identität, vor allem ihren Lebenswandel in Deutschland, demgegenüber mit der Moderne (modernity) assoziierte. Und damit konnte sie sich nun erklären, warum sie auch niemals versucht hatte, besonders indisch zu sein, da sie dann – der verinnerlichten Vorstellung entsprechend – eine traditionellrückständige Lebensweise annehmen müsste. Ihr nicht nur westlich-moderner sondern auch alternativ-queerer Lebensstil schien ihr selbst anscheinend besser zu entsprechen. Während sich Nivedita also einerseits nicht mit dem traditionellen (oder als traditionell imaginierten) Indien identifizieren konnte (und damit auch nicht mit ihrer halben eigenen Herkunft), leidet sie andererseits zumindest in bestimmten Situationen auch darunter, keine eindeutige und ›ganze‹ bzw. ›reine‹ Identität zu besitzen: Eine echte Inderin wäre sie etwa gerne, wenn sie bei ihrer indischen Verwandtschaft in England ist, da dort alle (so zumindest ihre Wahrnehmung) echte Inder sind, und auch so aussehen. In Deutschland wäre es demgegenüber manchmal einfacher, eine echte Deutsche zu sein, da es dann etwa keine nervigen Nachfragen zu ihrer Herkunft oder Hautfarbe gäbe. Kurz zusammengefasst: Nivedita wäre gerne entweder ganz deutsch
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oder ganz indisch, unabhängig davon aber auf jeden Fall ganz modern und emanzipiert. Als Nivedita bemerkt, dass diese komplexe Identitätsproblematik mit dem Kolonialismus zu tun haben könnte, erkennt sie auch eine Möglichkeit, das Problem zu lösen. Denn wenn ihr Problem darin besteht, dass ihre innersten Selbst- und Weltverhältnisse kolonisiert wurden, dann eröffnet diese Diagnose die Möglichkeit, sich als Opfer des Kolonialismus zu identifizieren, und dadurch auch mit allen anderen Opfern des europäischen Kolonialismus. Man könnte also sagen, dass sie für sich die Möglichkeit erkennt, nun endlich eine eindeutige Identität gewinnen zu können, indem sie sich mit den »Verdammten dieser Erde« (Fanon 1981) und ihrem Befreiungskampf identifiziert. Auf diese Weise gewinnt Nivedita nun auch eine spezifische Identifikationsmöglichkeit als (›halbe‹ bzw. ›ganze‹) Inderin, bei der sie sich nicht verstellen muss. Denn zuvor dachte sie, dass die einzige Möglichkeit darin besteht, »das Klischee einer Inderin anzustreben. Doch das Problem mit Klischees war, dass sie sich immer auf die konservativsten Aspekte einer Angelegenheit bezogen, auf eine Sita-Inderinnen-Feminität statt einer Kali-Inder*innenQueerness« (Sanyal 2021: 45). Die Sehnsucht nach einer Kali-Inder*innenQueerness verweist nun aber auch darauf, dass in ihrem neuen Selbstbild auch solche Identitätsbausteine einen Platz finden sollen, die ihren bisherigen (deutschen) Lebensstil und damit sie selbst kennzeichnen: Denn sie versteht sich selbst eben als queer, feministisch, gender-aktivistisch, ist auch in der Antifa aktiv, lebt sexuell sehr freizügig und offen, pflegt ein sehr lockeres bzw. popkulturelles Verhältnis zu kulturellen und religiösen Traditionen (die sie kaum kennt) etc. Kurz: sie hält sich selbst für sehr progressiv und emanzipiert und lässt sich daher gut einem links-alternativen Milieu der hyperkulturellen kosmopolitischen Mittelklasse (vgl. Reckwitz 2017, 2019; Knobloch 2021b) zuordnen. Die Erweiterung ihres emanzipierten und emanzipatorischen Lebensstils und des damit verbundenen Selbstbildes durch anti-, post- bzw. dekoloniale Komponenten führt nun zu einer deutlichen Steigerung des Selbstbewusstseins von Nivedita. Unterstützt wird dieser Prozess der Neujustierung ihrer Identität, den man auch als Transformationsprozess (Koller 2012b) oder als eine spezifische Form des Erwachens (Stichwort: wokeness) bezeichnen kann, maßgeblich durch ihr Studium im Bereich »Intercultural Studies und Postkoloniale Theorie« (Sanyal 2021: 19) bei der von ihr schnell verehrten Professorin Sariswati. Denn Sariswati verkörpert all das, was auch Nivedita sein will: Sie ist selbstsicher, sehr intelligent und belesen, attraktiv, charismatisch, erfolg-
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reich, lesbisch, feministisch-aktivistisch und, nicht zuletzt, eben indisch; das ideale Rollenvorbild also für Kali-Inder*innen-Queerness. Während dem Studium läuft nun eigentlich alles bestens für Nivedita, ihre Freundinnen, Kommilitoninnen sowie für ihre Cousine Priti, die mittlerweile von Birmingham nach Düsseldorf gezogen ist und auch bei Saraswati postkoloniale Theorien studiert. Sie setzen sich intensiv mit postkolonialen und antirassistischen Theorien auseinander, diskutieren viel über sex und race und versuchen zu verstehen, wie sie durch die Lehre von Saraswati ihr Leben bereichern und gestalten können. Dabei geht es aus ihrer Perspektive letztlich um nicht weniger, als die eigene Seele zu dekolonisieren. Dazu passt dann auch der Titel von Saraswatis erstem Buch sehr gut: »1999 veröffentlichte Saraswati ihr erstes Buch Decolonize your Soul, das sofort zu einem Bestseller wurde und ihr später die Professur in Düsseldorf einbrachte. Doch wird sie nicht nur an der Universität gelesen. Saraswati ist Pop. So sehr Pop, dass sie ihr zweites Buch PopPostKolonialismus nannte. Und wie es sich für Stars gehört, entzünden sich an ihr immer wieder heftige Debatten, vor allem in den sozialen Medien« (ebd.: 19). Dieser Selbstfindungs- und Seelen-Dekolonialisierungsprozess von Nivedita und den anderen jungen und nun betont antirassistisch-aktivistischen Studentinnen wäre vermutlich ganz harmonisch weitergelaufen, wenn nicht herausgekommen wäre, dass die Professorin Saraswati gar keine Inderin, sondern Deutsche ist, und auch alles dafür getan hatte, dass man dies nicht sieht. »›Sie hat WAS geändert!?‹ ›Na, ihre Hautfarbe‹« (ebd.: 27). Diese Nachricht stürzt Nivedita nun erneut in eine grundlegende Identitätskrise. »Nivedita brauchte Saraswati, um herausfinden zu können, wer sie war. Und nachdem Priti ihre Bombe platzen gelassen hatte, wusste Nivedita jetzt nicht mehr, wer Saraswati war« (ebd.: 49). In Folge kommt es nun nicht nur zu negativen Reaktionen in den sozialen Medien, sondern auch die meisten Studentinnen bzw. Fans von Saraswati – bzw. von Sarah Vera Thielmann, wie sie eigentlich heißt – fühlen sich von ihr hintergangen und getäuscht. Dies trifft insbesondere für die zu, die nicht zuletzt durch Saraswatis postkoloniale und antirassistische Theorien und Sichtweisen gelernt haben, sich vornehmlich als widerständige und emanzipatorische Schwarze bzw. als PoCs oder BIPoCs zu verstehen. »›Du verhöhnst mit deinem Fake-Cosplay Schwarze Menschen und People of Colour!‹ […] ›Das ist unsere Haut, die du dir aneignest! Unsere Geschichte!‹« (Ebd.: 237). Daher werfen sie Saraswati Identitätsdiebstahl und kulturelle Aneignung vor.
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Saraswati bleibt aber gewohnt souverän und nutzt die Konfusion auf Seiten der Studentinnen, um an ihrer Rolle als überlegene postkoloniale und antirassistische Professorin festzuhalten, und geht sozusagen zum Gegenangriff über: »›Du weißt, dass es ganz schön rassistisch von dir ist, dass meine Hautfarbe einen Unterschied für dich macht‹, sagte Saraswati genüsslich« (ebd.: 103). Und diesen Rassismusvorwurf begründet sie in dem von ihr gewohnten akademisch-arroganten Duktus: »›Wenn ich dir etwas beigebracht haben sollte, dann dass race ein Konstrukt ist.‹ ›Ja, race, aber nicht deine …‹ ›Sag es ruhig: Rasse. Mein Schatz, es gibt Menschenrassen so wenig wie es die Rasse von Wasser gibt oder das Geschlecht von Licht. Menschen sind keine Hunde. Was willst du, mich oder das Bild, das du dir von mir gemacht hast?‹« (ebd.: 105) Obwohl Nivedita und die anderen Studentinnen natürlich auch davon überzeugt sind, dass es keine Rassen gibt, provoziert Saraswati nun Selbstzweifel. Könnte es vielleicht doch sein, dass sie insgeheim Menschen unterschiedlichen Rassen zuordnen? Diese Frage ist deshalb schwer eindeutig zu beantworten, da die jungen Frauen Menschen nicht wirklich nach Rassen einteilen, sondern vielmehr danach, ob diese weiß oder schwarz sind, und zwar in Anlehnung an die Bedeutung dieser Begriffe, wie sie es vom »Konzept der Whiteness« (ebd.: 61) kennen. »Nivedita konnte sich noch genau daran erinnern, wann sie begonnen hatte, weiß zu sagen und damit eine Bewertung vorzunehmen: Weiße mit Dreadlocks, weißer Blues, ein weißes Publikum. (Zugleich wäre es ihr schwergefallen, einzugrenzen, was genau sie damit meinte, doch die Frage stellte sich nie)« (ebd.: 61). Durch den gesamten Roman ziehen sich daher schier endlose Diskussionen, die um die Frage kreisen, wer denn nun weiß und wer schwarz ist (und ob schwarz das angemessene Wort ist, oder doch eher Bezeichnungen wie nichtweiß, braun, PoC etc. verwendet werden sollten), und vor allem, wer solche Entscheidungen treffen kann und darf. Kompliziert und unübersichtlich wird die ganze Geschichte auch dadurch, dass sie im Kern von der Annahme ausgehen, dass man Menschen als schwarz bzw. nicht-weiß bezeichnen sollte, die Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, und als weiß solche, die irgendwie daran schuld sind; aber in Bezug auf ihren studentischen Alltag ist es gar nicht so leicht zu sagen, wer hier wen diskriminiert, oder ob überhaupt jemand
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auf eine Weise diskriminiert wird, die ein größeres oder gar strukturelles Problem darstellen würde. Wie erwähnt sind es bei Nivedita Erfahrungen wie die, von Familienmitgliedern als coconut bezeichnet zu werden, bzw. sich selbst als mixed race zu empfinden, die sie letztlich zu einer starken Identifikation als Nicht-Weiße treiben. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Definition von PoC, die Nivedita in einem Radiointerview gibt: »PoCs, das sind die Menschen, die gefragt werden: Wo kommst du her?« (ebd.: 15). Vor diesem Hintergrund ist es durchaus nachvollziehbar, dass die Mutter von Nivedita in Hinblick auf die Gegenwart von einem »Sonnenschein-Rassismus« (ebd.: 118) spricht, was Nivedita natürlich sehr ärgert. Dennoch halten die jungen Frauen an der Gewohnheit fest, die Begriffe schwarz und weiß zu verwenden – was dann aber ständig zu Kontroversen, Meinungsverschiedenheiten und viel Streit führt. Im Fall von Saraswati sind sich die Studentinnen aber eigentlich schnell einig, dass diese nicht das Recht hat, sich als nicht-weiß (oder braun oder PoC, BIPoC etc.) zu bezeichnen. Dabei ist das Problem natürlich nicht die echte Hautfarbe von Saraswati (bzw. Sarah Vera), wie sich nach langen Diskussionen herauskristallisiert, sondern dass dieser schlichtweg die authentische Erfahrung von Rassismus und Diskriminierung fehlt, wie ein Blick auf deren Biografie schnell zeigt: Sie stammt aus einer wohlhabenden deutschen Zahnarztfamilie, hatte nie größere Probleme und war immer sehr erfolgreich; und zwar nicht nur vor, sondern eben besonders auch nach ihrer Transformation zur Inderin und zur postkolonialen Star-Professorin. Aber auch dieser Vorwurf bringt Saraswati nicht dazu, sich von ihrer Transformation zu distanzieren. Vielmehr verortet sie das Problem auf Seiten ihrer Studentinnen und kritisiert deren Verständnis von Nicht-Weißsein: »›Wenn Nicht-Weißsein Diskriminierungserfahrungen bedeutet und nichts weiter, dann bedeutet das auch, dass ihr euch an diesen Diskriminierungserfahrungen festhalten müsst‹, verkündete sie. ›Denn nur sie definieren dann, was ihr seid, wer ihr seid, was euch ausmacht. Sie loszulassen würde bedeuten, eure Identität loszulassen. Ich dagegen biete euch Empowerment an, Selbstermächtigung – mit meinen Seminaren und mit meinem Leben‹« (ebd.: 247-248). Spätestens an dieser Stelle ist es nun möglich, das pädagogische Programm von Saraswati kurz zu umreißen, denn es erinnert doch sehr an Paulo Freires (1973) Befreiungspädagogik bzw. »Pädagogik der Unterdrückten«. Dies über-
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rascht allein deshalb nicht, als auch Freire in Bezug auf Lateinamerika seine Theorie der Erziehung und Bildung explizit in Hinblick auf postkoloniale Konstellationen konzipierte. Ausgangspunkt ist bei Freire wie bei Saraswati die Annahme, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit (aufgrund des kolonialen Erbes) maßgeblich durch Unterdrückung bzw. Rassismus und Diskriminierung geprägt ist, und die gesellschaftlichen Verhältnisse daher mit polaren Kategorien wie Weiße/Nicht-Weiße (Saraswati) oder eben Unterdrücker/Unterdrückte (Freire) bzw. modernity/coloniality (Mignolo) beschrieben und begriffen werden können. Da sich aber weder Unterdrücker noch Unterdrückte der Unterdrückung, und vor allem auch ihrer eigenen Rolle in diesem dialektischen Machtverhältnis bewusst sind, besteht der erste Schritt der Befreiungspädagogik bekanntlich darin, den Unterdrückten ein Bewusstsein ihrer eigenen Unterdrückung zu vermitteln; Freire nennt diesen Bewusstwerdungsprozess conscientização. Dabei wendet sich die Befreiungspädagogik mit ihren Erziehungsmaßnahmen gezielt nur an die Unterdrückten, da (angeblich) allein sie – im Gegensatz zu den Unterdrückern – erkennen können, dass es einen Zusammenhang zwischen den Privilegien der Unterdrücker und ihrer eigenen Unterdrückung gibt. Übertragen auf die postkolonialen Begrifflichkeiten im Roman sind es demnach nur die Nicht-Weißen, die den Rassismus der Weißen erkennen können. Das erklärt auch, warum Saraswati bevorzugt Nicht-Weiße belehrt – und beispielsweise in der ersten Seminarsitzung alle Weißen aus dem Seminar wirft; dabei ist es natürlich auch an dieser Stelle im Buch für die Studierenden mehr als unklar, wer denn jetzt welcher Gruppe zugerechnet werden soll. Letztlich bleiben manche im Seminarraum, andere verlassen ihn, werden später dann aber zumindest noch separat belehrt; dies macht zumindest nach der beschriebenen Logik einen gewissen Sinn, da die Rausgeworfenen spätestens jetzt auch über eine persönliche rassistische Diskriminierungserfahrung verfügen; anders gesagt: sie wurden in Nicht-Weiße transformiert. Ihrer Unterdrückung bewusst geworden, sollen die Unterdrückten bei Freire dann die ganze Gesellschaft befreien, und zwar doppelt: während einerseits in marxistischer Tradition die Besitzverhältnisse neu geregelt werden sollen, gilt es andererseits in Anlehnung an Hegel, die Bewusstseinsbildung auch auf die (ehemaligen) Unterdrücker auszuweiten, damit letztlich alle vom falschen Bewusstsein befreit werden und sich gegenseitig als echte und ganze Menschen – und eben nicht mehr als Unterdrücker und Unterdrückte – anerkennen können.
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Soziale Umverteilung spielt in Saraswatis Pädagogik jedoch keine Rolle, und das liegt wohl ggf. daran, dass die Romanfiguren alles andere als von extremer sozialer Ungleichheit, Armut und Elend betroffen sind, wie man es teilweise aus dem Globalen Süden kennt. Bei ihren Problemen handelt es sich vielmehr vor allem um Adoleszenz- und Beziehungsprobleme, die sie nicht zuletzt untereinander haben. Daher konzentriert sich die Befreiungspädagogik Saraswatis ganz auf die Bewusstseins- bzw. Identitätsbildung. Die Bedeutungslosigkeit sozialer Probleme markiert dann wohl auch den entscheidenden Unterschied zwischen befreiender pädagogischer Praxis in postkolonialen und pop-postkolonialen Konstellationen. Interessant ist nun zu sehen, dass diese Pädagogik zunächst als durchaus erfolgreich bezeichnet werden kann. Nivedita zumindest identifiziert sich nun stärker mit Indien, dem Globalen Süden und, wie man sagen kann, mit unterdrückten Nicht-Weißen. Und dadurch, dass es ihr nun mit Hilfe Saraswatis möglich wird zu erkennen, wie stark die gegenwärtige Gesellschaft vermeintlich durch Unterdrückung und Rassismus geprägt ist, fühlt sie sich, so kann man das in Anlehnung an die Überlegungen Freires deuten, all denjenigen geistig überlegen, denen derartige Schlussfolgerungen (noch) schwerfallen; also beispielsweise ihren Eltern. So gewinnt sie an Selbstbewusstsein. Deutlich wird im Roman aber auch, dass Nivedita ihre neues und vor allem eindeutiges Selbst- und Weltverständnis zunehmend wieder in Frage stellt, nicht zuletzt nachdem bekannt wird, dass die Pädagogik Saraswatis auf der Inszenierung von Nicht-Weißsein beruht. Auch diese Art der pädagogischen Inszenierung kennt man insofern von Freire, als es dort die sogenannten revolutionären Führer und Pädagogen sind, die sich mit dem einfachen und ungebildeten Volk und dessen populärer Kultur solidarisieren. Von einer Inszenierung kann man auch hier insbesondere deshalb sprechen, da es doch eher zweifelhaft ist, ob die meist aus der Mittelschicht stammenden educadores populares diese populäre Kultur wirklich schätzten. Auch wenn es Nivedita und den anderen jungen Frauen schwerfällt zu formulieren, warum sie sich von Saraswati so tief verletzt fühlen, lassen sich zumindest zwei mögliche Gründe benennen: Denn zum einen ging Saraswati anscheinend davon aus, dass sie ihre Zielgruppe – vor allem Studierende mit biografischen Bezügen zum Globalen Süden – nur erreichen konnte, wenn sie sich selbst eine ähnliche Identität zulegt und diese auch äußerlich wahrnehmbar macht. Diese Annahme erscheint mir insofern als herabwürdigend, als damit ja unterstellt wird, dass diese Studierenden rein intellektuell nicht zu erreichen sind, sondern erst durch die theatralische und dabei zwangsweise
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vereinfachte Inszenierung der Theorien, eben durch »Fake-Cosplay« (Sanyal 2021: 237). Parallelen zu kolonialen Bildungsmethoden, bei denen man an die Kultur der Kolonisierten anknüpfte, um sozusagen in deren eigener Sprache westliche Vorstellungen zu vermitteln, sind hier nicht zu übersehen. Daher überrascht es auch nicht, dass Saraswati davon überzeugt ist, im »übertragenen Sinne« an einer »Sklavenrevolution« (ebd.: 95) teilgenommen zu haben. Damit gibt sie aber auch zu, dass Nivedita für sie im übertragenen Sinne eine ungebildete Sklavin ist, die von ihr – wieder natürlich nur im übertragenen Sinne – aus der geistigen Sklaverei befreit wurde; eine problematische Form der Anerkennung, für die man nicht nur Dankbarkeit empfinden kann. Ein weiterer möglicher Grund für die im Roman vorgebrachte Kritik an Saraswati scheint mir zu sein, dass Saraswati zunächst versucht den Studierenden das Gefühl zu vermitteln, unterdrückt und diskriminiert zu sein. Als diese sich dann tatsächlich über Diskriminierungserfahrungen identifizieren, wirft sie ihnen dies aber wieder vor (s.o.). In Konsequenz stehen die Studierenden wieder als die Dummen dar, während Saraswati durch solche Diskursverschiebungen nur ihre geistige Überlegenheit demonstriert und bekräftigt. Obwohl Saraswatis postkoloniale Pädagogik Nivedita und den anderen jungen Frauen teilweise großes Selbstbewusstsein vermitteln kann – als Unterdrückte, in einer rassistischen Gesellschaft, die sich nun durch antirassistische Bildung selbstermächtigen –, entzieht gerade Saraswati ihnen durch ihre als arrogant und überheblich geschilderte Art das gewonnene Selbstwertgefühl immer wieder, wodurch sie an sich selbst und ihren durch postkoloniale Theorie gestützten Selbst- und Weltbildern zunehmend zweifeln. Während diese antirassistische und postkoloniale Bildung die jungen Frauen also nicht wirklich weiterbringt, lässt sich in dem Roman aber doch noch ein interessanter Bildungsprozess erkennen. Denn Nivedita und den anderen wird mit der Zeit immer klarer, welche Rolle sie für Saraswati spielen. Diese will sich als erfolgreiche Befreiungspädagogin inszenieren und benötig dafür sozusagen unterdrückte Subjekte, die sie belehren und erziehen kann. Dafür präsentiert sie sich selbst als perfekt emanzipiertes Rollenvorbild, eben als erfolgreiche postkoloniale Professorin und Pädagogin mit indischem Migrationshintergrund, während für Nivedita nur eine Rolle als Schülerin bleibt. Während sich Saraswati also gewissermaßen als eine Art queerer trans-race Paulo Freire inszeniert und anerkannt wissen will, der sich den Opfern des Kolonialismus zuwendet, bleibt für Nivedita nur eine
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Rolle übrig, wie sie bei Freire den in Unmündigkeit gehaltenen Landarbeitern zukommt. Dabei folgt diese Rollenverteilung im Roman ganz offensichtlich der Dialektik von Unterdrückern und Unterdrückten, welche die Befreiungspädagogik Freires eigentlich ja überwinden wollte. Von einem Bildungsprozess möchte ich daher bei Nivedita und ihren Freunden und Freundinnen insofern sprechen, als ihnen mit der Zeit deutlich wird, dass Saraswati nicht als Rollenvorbild dienen kann, vielmehr geradezu als abschreckendes Beispiel arroganter und egoistischer postkolonialer Bildung und Selbstinszenierung als »Welterneuerungsmessias« (Sanyal 2021: 245) gelten muss. Diese bildungstheoretische und pädagogische Interpretation wird auch durch die biografischen Schilderungen gestützt, mit denen Saraswati erklärt, warum sie zu einer »›racial drag‹« (ebd.: 200), »trans Inderin« (ebd.: 356) bzw. zu einer »race-Terroristin« (ebd.: 245) wurde. Denn unerwähnt blieb bisher noch, dass Saraswati – was die Studentinnen auch lange nicht wussten – einen älteren Bruder namens Konstantin hat. Dieser stammt eigentlich aus Indien und wurde von den Eltern adoptiert, als sich ihr Kinderwunsch nicht erfüllte. Kurz nach der Adoption wurde die Mutter dann jedoch doch noch schwanger, und Sarah Vera wurde geboren. Rückblickend deutet Saraswati die Familiengeschichte nun so, dass sie das Wunschkind der Eltern, ihr Bruder dagegen immer das ungeliebte Problemkind war. Während die Kindheit der beiden Geschwister trotz dieser Probleme weitgehend normal verläuft, kommt es bei Saraswati im Zusammenhang mit einer ersten Indienreise später dann sozusagen zur ›Erleuchtung‹. Sie setzt sich mit den Themen Kolonialismus und Rassismus auseinander und ›erkennt‹, dass koloniale und rassistische Strukturen bis heute die Welt prägen. So wird ihr rückblickend auch deutlich, wie sie zumindest meint zu erkennen, dass ihr Bruder Konstantin durch diese Strukturen unterdrückt wurde: »Dass er Ärger in der Schule hatte, lag daran, dass er null Bock auf Lernen hatte, und nicht daran, dass unsere Lehrer rassistisch waren. Dass er Ärger mit der Polizei hatte, lag daran, dass er Gras dealte, und nicht daran, dass er kontrolliert wurde, seine Freunde aber nicht. Dass er aggressiv und misstrauisch war, lag daran, dass er aggressiv und misstrauisch war, und nicht daran, dass andere Leute gegenüber ihm aggressiv und misstrauisch waren. So sahen das alle. Und so sah Sarah Vera das auch. Ja, wenn ich damals da gewesen wäre …« (ebd.: 353).
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Erleuchtet von dieser ›Erkenntnis‹ nimmt Saraswati (bzw. damals noch: Sarah Vera Thielmann) sich nun der Aufgabe an, ihren Bruder zu retten. Und da das Hauptproblem ihres Bruders laut ihrer eigenen Deutung Rassismuserfahrungen waren (auch wenn er das selbst gar nicht bemerkte bzw. bemerken konnte), und er diese gerade auch in der eigenen Familie erleiden musste, beginnt die Rettungsaktion damit, dass Sarah Vera sich in Saraswati transformiert. »Ich habe mein Weißsein für euch aufgegeben! Das fordert ihr doch immer: Give up your privileges. Ich habe eindeutig das ultimative Privileg aller Privilegien aufgegeben« (ebd.: 299). Diese Transformation ist aber nur der Anfang der pädagogischen Rettungsaktion. Letztlich geht es ihr darum, ein erfolgreiches Leben als NichtWeiße vorzuleben, das dann allen anderen Nicht-Weißen als Vorbild für deren Emanzipation dienen soll. Wie gesehen gelingt ihr dies zumindest teilweise: denn erfolgreich ist die Star-Professorin durchaus. Als Vorbild wird sie nicht zuletzt von ihrem Bruder dann aber dennoch nicht anerkannt. Denn Konstantin ist schwer gekränkt, fühlt sich seiner Identität beraubt und macht die wahre Identität seiner Schwester dann öffentlich – was ihrer beruflichen Karriere allerdings nicht schadet. Sie wechselt von der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf an das Jesus College in Oxford, um »dort den neuen Lehrstuhl zu Identity and Solidarity aufzubauen. […] Mit einem besonderen Schwerpunkt auf Whiteness Studies« (ebd.: 413).
4.
Fazit und Ausblick
Ziel der vorangegangenen pädagogischen Lektüre war es, im Roman »Identitti« dekoloniale Bildungsprozesse zu identifizieren. Damit ging die Erwartung einher, dass es anhand der literarischen Schilderungen möglich wird exemplarisch zu veranschaulichen, was man sich hierzulande unter dem von Mignolo geforderten dekolonialen Grenzdenken vorstellen kann. Da es bei diesem Grenzdenken um nicht weniger als epistemische Dekolonialisierung geht, wie Mignolo stets betont, sollte durch die Lektüre auch deutlich werden, inwiefern das Denken der Romanfiguren kolonialen Mustern folgt, und wie sie sich davon befreien. Die Lektüre konnte zeigen, dass Nivedita und die anderen Romanfiguren in erster Linie mit Beziehungs- und Identitätsproblemen beschäftigt sind, die sie mit dem Kolonialismus und seinen Folgen in Verbindung bringen. Umgekehrt könnte man aber wohl ebenfalls vermuten, dass diese Beziehungs- und
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Identitätsprobleme auch daher rühren, dass sie so intensiv nach Auswirkungen des Kolonialismus auf ihr Selbst- und Weltverhältnis suchen. Dazu bringt sie nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit postkolonialen Theorien. Die Geschichte dreht sich um die Frage, wie die jungen Frauen ein positives Verhältnis zum Globalen Süden aufbauen können, obwohl ihre Lebensweise und ihr Selbstverständnis eindeutig westlich geprägt sind. Sie identifizieren sich primär mit diversen ehemals gegenkulturellen westlichen Emanzipationsbewegungen bzw. Pop- und Jugendkulturen (Feminismus, Queerness, Antifa etc.), weshalb ihnen eine Identifikation mit traditionellen Lebensformen aus dem Globalen Süden unmöglich ist. Nachvollziehbar sind diese Probleme, weil einige der Protagonistinnen aus Familien stammen, die in der einen oder anderen Art eine historische Beziehung zu Ländern des Globalen Südens bzw. zu ehemaligen europäischen Kolonien aufweisen. Wie gesehen stammen etwa Niveditas Vater und Saraswatis Bruder aus Indien. Diese Problematik betrifft aber auch die anderen deutschen Freunde und Freundinnen, da sie ja gerade durch ihre Freundschaft auch in persönlicher Beziehung zu Menschen stehen, die wiederum direkte Beziehungen zu Menschen aus dem Globalen Süden haben, bzw. zu Menschen, die auf irgendeine Vorgeschichte zurückblicken können, die sie mit dem globalen Süden verbindet. Darüber hinaus werden sie natürlich auch über kulturelle und kulturalisierte Konsumprodukte (z.B. Basmatireis, Kaffee, Tee, Hinduismus, Dreadlocks, Musik, Literatur, Soul Food, Ethno-Kleidung etc.), Konsumpraktiken, spezifische Formen der kulturellen Aneignung, Wörter, Sprachen und Ausdrucksweisen an die Frage nach dem korrekten Verhältnis zum Globalen Süden und zum Kolonialismus, letztlich zu dem Verhältnis von Moderne und Kolonialität erinnert. Damit stellt sich aber auch die Frage, wie sie selbst zu sich und den anderen sowie den genannten Dingen und Praktiken stehen. Vermutlich hätte es wohl keine größeren Schwierigkeiten gegeben, wenn jede einfach für sich entschieden hätte, ob sie Tee oder Kaffee trinkt, Basmatireis zum Kulturgut stilisieren will oder wie sie es sonst wie mit den Repräsentanten und Repräsentationen der Kolonialität hält. Zur Tragikomödie entwickelt sich die Beziehungsgeschichte der Romanfiguren dann aber, da sie beginnen sich wechselseitig mentalen Kolonialismus und kulturellen Rassismus vorzuwerfen. Wie erwähnt kommt es zu schier endlosen kontroversen Auseinandersetzungen darüber, wer und was nun weiß oder nicht-weiß ist, modern oder kolonial, und welche Konsequenzen die unterschiedlichen Personen dann daraus für ihr Denken und Handeln ziehen sollten. Wie gesehen begin-
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nen die jungen Frauen sich gegenseitig in Sachen Kolonialität und Rassismus zu belehren, und versuchen sich gewissermaßen gegenseitig zu erziehen und zu missionieren. Die pädagogische Lektüre kommt daher insofern zu einem überraschenden Ergebnis, als es die jungen Frauen gewissermaßen selbst sind, die ihr Denken und Handeln kolonisieren. Denn folgt man Mignolo, so ist es für modernes bzw. koloniales Denken und Handeln charakteristisch, die eigenen Selbst- und Weltverhältnisse in Bezug auf andere zu idealisieren, zu verabsolutieren und zu universalisieren. »Die Universalisierung der Erfahrung eines Schwarzen oder einer lesbischen Chicana hieße derselben Logik zu verfallen, der jeglicher Fundamentalismus (sei er europäisch, indigen, afrikanisch oder lateinamerikanisch) verhaftet ist; es hieße außerdem zu glauben, dass mein Erfahrungsraum und mein Erwartungshorizont für alle vorteilhaft sind« (Mignolo 2012: 199). Mit Mignolo kann man daher sicherlich sagen, dass die jungen Frauen auf die Rhetorik der Moderne und die Logik der Kolonialität zurückgreifen, um sich selbst in Sachen Dekolonialisierung als möglichst überlegen zu inszenieren. Durchsetzen kann sich letztlich aber keine von ihnen. Obwohl das Verhalten der jungen Frauen also in vielerlei Hinsicht problematisch ist, und moderne bzw. koloniale Züge trägt, lassen sich hier dennoch Ansatzpunkte für einen möglichen dekolonialen Bildungsprozess erkennen. Denn immerhin versuchen sie, ihren Alltag in Hinblick auf das Verhältnis von Moderne und Kolonialität zu durchleuchten. Da es ihnen nicht gelingt, eindeutig zu klären, wer und was denn nun weiß oder nicht-weiß, rassistisch oder nicht-rassistisch, modern oder nicht-modern, westlich oder nichtwestlich etc. ist, könnten sie dadurch festgestellt haben, dass es kaum mehr möglich ist, die Moderne eindeutig von der Kolonialität abzugrenzen. Diese Feststellung kann sehr gut die These Mignolos illustrieren, dass die koloniale Matrix der Macht »längst der okzidentalen Kontrolle entwischt« (ebd.: 200; s.o.) ist. Um hier von einem erfolgreichen dekolonialen Bildungsprozess zu sprechen, hätten die jungen Frauen darüber hinaus aber wohl noch erkennen müssen, dass es am Ende eben sie selbst sind, die sich gegenseitig durch ihre Bevormundungsversuche mental und emotional ›kolonisieren‹. Überraschend ist die vorgelegte pädagogische Interpretation des Romans auch insofern, als postkoloniale Theorien (bzw. das, was die jungen Frauen sich davon angeeignet haben) und insbesondere die Professorin Saraswati als Hauptursachen für die mentale Kolonisierung von Nivedita und den anderen
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jungen Frauen ausgemacht werden können. Denn ganz offensichtlich war es im Roman ja die Rezeption von postkolonialen Theoriefragmenten sowie der postkolonialen Lehre Saraswatis, die sie zu der Annahme führten, sie müssten dringend ihre Seele dekolonialisieren. Zwar spricht auch Mignolo von einer kolonialen Matrix der Macht, jedoch betont er dabei stets das pädagogische Moment, das eng mit der Rhetorik der Moderne sowie mit der Logik der Kolonialität zusammenhängt. An Saraswati kann gut gezeigt werden, wie die koloniale Matrix der Macht funktioniert: Denn das pädagogische Verhältnis, das sie zu den Studenten pflegt, bleibt insofern hierarchisch, als sie die Fiktion aufrechthält, dass sich die Studierenden dekolonialisieren müssen, und sie ihnen dabei helfen kann. Wie gesehen hält sie sie jedoch in Abhängigkeit, um sich selbst als Befreiungspädagogin zu inszenieren. Ausgebeutet im engeren Sinne werden Nivedita und ihre Freundinnen natürlich nicht, und auch der Vorwurf des Identitätsdiebstahls führt ins Leere. Schließlich kann sich in einer freien Gesellschaft jeder so inszenieren, wie er will. In diesem Sinne ist Kultur eine Ressource, wie Jullien (2017) unlängst bemerkte, durch deren Aneignung niemandem etwas genommen wird. Was Saraswati den jungen Frauen aus egoistischen Gründen durch ihre Verführungskunst (Rhetorik der Moderne) aber raubt, ist letztlich – um es pointiert auszudrücken – ihr Verstand und ihre Vernunft. Denn nach ihrer ›Erleuchtung‹ verstehen sie ganz offensichtlich die Welt nicht mehr. Dieser Interpretation zufolge lässt sich demnach an der Figur Saraswatis exemplarisch zeigen, was gegenwärtig zumindest auch unter der kolonialen Matrix der Macht in einigen alternativen akademischen Milieus im deutschsprachigen Raum verstanden werden könnte. Und in dem sich Nivedita und die anderen jungen Frauen Schritt für Schritt von ihrer Abhängigkeit lösen, führen sie vor, was exemplarisch unter einem möglichen dekolonialen Bildungsprozess verstanden werden kann. Es erscheint mir äußerst wichtig erneut darauf hinzuweisen, wie es Saraswati gelingt, die jungen Frauen mental und emotional zu kolonisieren bzw., um es nicht ganz so pathetisch auszudrücken, von ihr mental und emotional abhängig zu machen. Die jungen Frauen fühlen sich vor allem ja deshalb so hingezogen und fasziniert von Saraswati, da sie ihnen als Person eine ideale Identifikation mit dem Globalen Süden ermöglicht. Und dies liegt wiederum daran, dass sie Nivedita und den anderen eine emanzipatorische Theorie näherbringt, die aus der Perspektive des Globalen Südens bzw. ehemaliger Kolonien formuliert ist. Saraswati repräsentiert also idealtypisch eine emanzipierte Intellektuelle aus dem Globalen Süden, die mit einer eigenen
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Theorie (vermeintlich) aufzeigen kann, wie sie sich selbst vom Westen bzw. westlich-modernen Denken emanzipiert hat. Mit solchen Theorien wäre es möglich, wie Mignolo immer wieder betont, das moderne Narrativ zu widerlegen, allein der Westen sei fähig (gewesen), emanzipatorische Theorien zu entwickeln. Saraswati scheint es also gelungen zu sein, was auch Mignolo anstrebt: Eine emanzipatorische Theorie aus der Perspektive der Kolonialität zu formulieren. Dieser Hinweis ist insofern wichtig, wie auch Mignolo betont, als emanzipatorische Theorien nur aus einer spezifischen geschichtlichen, kulturellen und (geo-)politischen Position entwickelt werden können. Problematisch war die globale Verbreitung westlicher Aufklärung und Philosophie ja in der Regel nicht, weil die Theorien an sich und per se falsch oder problematisch waren, sondern weil sie teilweise zur Legitimation des Kolonialismus instrumentalisiert wurden bzw. mitunter explizit Argumente für den (kulturellen bzw. pädagogischen) Kolonialismus lieferten, dabei aber vor allem auf europäische Probleme ausgerichtet waren, und nicht auf die Probleme der (ehemals) kolonisierten Völker. Ein zentrales Problem der (ehemals) kolonisierten Völker bestand (bzw. besteht) aber eben darin, dass von diesen unter Berufung auf die europäische Aufklärung gefordert wurde, sich nach europäischem Vorbild von der kulturellen europäischen Bevormundung zu emanzipieren, die aber wiederum auf den Ideen der europäischen Aufklärung aufbaute. Kritik und Affirmation der europäischen Emanzipationstheorien überschneiden sich hier ganz offensichtlich auf paradoxe Art und Weise. Dies mag ein Grund dafür sein, dass die Rezeption und politisch und pädagogisch motivierte Nutzung europäischer Emanzipationstheorien in spezifischen kolonialen und postkolonialen Konstellationen oftmals eben nicht zur Aufklärung, sondern zum Gegenteil führte. Für eine sinnvolle Rezeption erscheint es daher unumgänglich, den Ort im Auge zu haben, von dem aus eine Emanzipations- bzw. Befreiungstheorie formuliert wurde. In anderen Kontexten mag daher auch die Pädagogik Saraswatis (so wie natürlich auch die Pädagogik Freires) durchaus befreiend wirken, bei Nivedita und den anderen jungen Frauen bewirkte sie aber offensichtlich das genaue Gegenteil bzw. vor allem Konfusion. Die Geschichte zeigt wie ambivalent eine pädagogische Aneignung solcher Theorien sein kann, die relevante Kontexte der Rezeption und Anwendung ignoriert und die auch die pädagogisch Adressierten nicht hinreichend in ihrer Autonomie respektiert. Den berechtigten Anliegen post- und dekolonialer Theorie scheint jedenfalls auf diese Art nicht gedient zu werden. Dabei verweist Saraswati ggf. selbst auf eine Ursache: »All
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euer Wissen über Rassismus und Kolonialismus ist importiert! In der Regel aus Nordamerika importiert!« (Sanyal 2021: 166). Die pädagogische Lektüre zeigt daher auf, wie wichtig es ist, Theorien vor ihrem konkreten Entstehungshintergrund zu betrachten. Für eine Annäherung an die dekoloniale Theorie Mignolos ist es daher geradezu unerlässlich, sich ausführlich mit der argentinischen und lateinamerikanischen Bildungsgeschichte auseinanderzusetzen (vgl. Knobloch 2013, 2016). Will man diese dekoloniale Theorie auf andere Kontexte anwenden, so muss sie entsprechend de- und rekontextualisiert werden. Dazu ist die Konfrontation der Theorie mit der Empirie unerlässlich (s.o.). Dies ist auch der Grund, warum die dekoloniale Theorie Mignolos hier in Bezug zu dem Roman »Identitti« interpretiert wurde. Post- und dekolonialen Theorien sollten daher auch in Zukunft – gerade auf Grund des in ihnen propagierten politisch-pädagogischen Impetus – verstärkt mit der Wirklichkeit ihrer pädagogischen und politischen Rezeption in unterschiedlichen Kontexten konfrontiert werden, bevor man sie umstandslos als veritable Exemplifikationen von positiv konnotierten Bildungs- und Erziehungsidealen deutet. Unsere pädagogische Lektüre legt dies insbesondere auch für die Theorie Spivaks nahe, da »die Übermutter der Postkolonialen Theorie« (Sanyal 2021: 421) als Vorbild für Saraswati diente. Um die Fallstricke postkolonialer Theorie künftig zu umgehen bietet es sich daher an, wie der Roman sehr schön zeigt, diese auch aus einer ironisch gebrochenen und humorvollen Perspektive zu rezipieren.
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Modernity, Coloniality und Identitti
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Autor*innen
Iris Clemens ist Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeine Pädagogik an der Universität Bayreuth. Sie ist Gründungsmitglied und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Netzwerkforschung (DGNet) und Prinziple Investigator des Exzellenzclusters Africa Multiple. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Netzwerktheorie und -forschung und Relationale Ansätze, kultursensitive Perspektiven auf Epistemologien, Wissen, und Bildung, globale Wissensemergenzen und -zirkulationen im Bildungssektor, Indien. Julian Culp ist Assistant Professor of Philosophy an der American University of Paris. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen Global Justice and Development (Palgrave, 2014) und Democratic Education in a Globalized World (Routledge, 2019). Daneben hat er zahlreiche Aufsätze zu Fragen der praktischen Philosophie und Politischen Theorie veröffentlicht. Johannes Drerup ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund und Gastprofessor an der Freien Universität Amsterdam. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Erziehungs- und Bildungsphilosophie, der Philosophie der Kindheit und der Pädagogischen Ethik. Sebastian Engelmann studierte an den Oldenburg und Jena Sozialwissenschaften, Pädagogik und Angewandte Ethik. Nach Stationen in Jena und Tübingen ist er nun Juniorprofessor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Er beschäftigt sich mit grundlegenden Fragen von Erziehungs- und Bildungstheorie, der Geschichte der Pädagogik sowie Theorie und Praxis demokratischer Pädagogik.
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Bildung in postkolonialen Konstellationen
Doris Gödl ist an der Universität Fribourg im Departement für Erziehungsund Bildungswissenschaften tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen Globalisierung und Bildung mit Fokus auf Politischer Bildung, Postkolonialität und postkoloniale Feminismen. Julia Henningsen ist als religionspädagogische Referentin im Bibelzentrum Schleswig der Ev.-Luth. Nordkirche tätig. Sie hat zum Thema »Repräsentationen des Globalen Südens im evangelischen Religionsbuch« promoviert und ist ausgebildete Gymnasiallehrerin für Ev. Religion und Englisch. Jan-Hendrik Herbst ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund. Er hat zum Thema »politische Dimensionen religiöser Bildung« promoviert. Als Lehrer ist er für die Fächer Mathematik und katholische Religionslehre ausgebildet. Kai Horsthemke ist neben seiner Tätigkeit als Lehrbeauftragter an der KU Eichstätt-Ingolstadt Gastprofessor an der University of the Witwatersrand, Südafrika, und Fellow des Oxford Centre for Animal Ethics, England. Nach The Moral Status and Rights of Animals (2010), Animals and African Ethics (2015) und Animal Rights Education (2018) erschien 2021 sein Buch Indigenous Knowledge: Philosophical and Educational Considerations. Phillip D. Th. Knobloch ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik der TU Dortmund und vertritt derzeit die Professur für Historische und Vergleichende Pädagogik an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Sein Arbeitsbereich umfasst die Allgemeine, Historische, Vergleichende und Interkulturelle Erziehungswissenschaft und Pädagogik, Forschungsschwerpunkte sind dekoloniale und konsumästhetische Erziehungs- und Bildungstheorien. Manfred Liebel ist Prof. a.D. für Soziologie an der TU Berlin; Honorarprofessor für interkulturelle Kindheits- und Kinderrechtsforschung und Leiter des weiterbildenden Masterstudiengangs »Childhood Studies and Children’s Rights« an der FH Potsdam; Berater der Bewegungen arbeitender Kinder in Lateinamerika, Afrika und Indien sowie von Netzwerken indigener Kinder in Lateinamerika; und stellvertretender Vorsitzender des Beirats der National Coalition – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland.
Autor*innen
Tobias Müller ist Affiliated Lecturer am Department of Politics and International Studies (POLIS) und College Research Associate am King’s College, University of Cambridge. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen dekoloniale und feministische Theorie, Säkularismus und Religion, Maskulinität und Extremismus sowie Klimapolitik. Er hat unter anderem in Political Theory, Ethnic and Racial Studies, Social Compass, Religion, State and Society, und Nature veröffentlicht. Madeleine Scherrer ist Lehrbeauftragte an der Universität Fribourg (CH) im Bereich der Allgemeinen Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt »Globalisierung und Bildung«. Sie lehrt und forscht zu erziehungs- und bildungsphilosophischen sowie geschlechtertheoretischen Fragestellungen mit Fokus auf die folgenden Themenbereiche: Klimakrise und Anthropozän, Dekolonialität, Feminist Science & Technology Studies und Diffraktionsanalyse. Werner Wintersteiner, Univ.-Prof. i R., Friedenspädagoge und Deutschdidaktiker, ist Gründer und ehemaliger Leiter des »Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung« an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (AAU) sowie Mitglied des wissenschaftlichen Leitungsteams des Master-Lehrgangs Global Citizenship Education an der AAU. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Literatur, Politik und Frieden; Kulturwissenschaftliche Friedensforschung; Zivilgesellschaftliche Bewegungen im Alpen-Adria Raum; Geschichte der österreichischen Friedensbewegungen; Friedenspädagogik und Global Citizenship Education sowie (transkulturelle) literarische Bildung. Neueste Buchpublikation: Die Welt neu denken lernen – Plädoyer für eine planetare Politik. Lehren aus Corona und anderen existentiellen Krisen. Bielefeld: transcript 2021.
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Pädagogik Tobias Schmohl, Thorsten Philipp (Hg.)
Handbuch Transdisziplinäre Didaktik August 2021, 472 S., kart., Dispersionsbindung, 7 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5565-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5565-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-5565-0
Andreas de Bruin
Mindfulness and Meditation at University 10 Years of the Munich Model April 2021, 216 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5696-1 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5696-5
Andreas Germershausen, Wilfried Kruse
Ausbildung statt Ausgrenzung Wie interkulturelle Öffnung und Diversity-Orientierung in Berlins Öffentlichem Dienst und in Landesbetrieben gelingen können April 2021, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 8 Farbabbildungen 25,00 € (DE), 978-3-8376-5567-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5567-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Pädagogik Andreas de Bruin
Achtsamkeit und Meditation im Hochschulkontext 10 Jahre Münchner Modell Februar 2021, 216 S., kart., durchgängig vierfarbig 20,00 € (DE), 978-3-8376-5638-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5638-5
Ivana Pilic, Anne Wiederhold-Daryanavard (eds.)
Art Practices in the Migration Society Transcultural Strategies in Action at Brunnenpassage in Vienna March 2021, 244 p., pb. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5620-6 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5620-0
Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.)
Geschlecht: divers Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit Februar 2021, 264 S., kart., Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 34,00 € (DE), 978-3-8376-5341-0 E-Book: PDF: 33,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5341-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de