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German Pages 202 Year 2017
Thomas Kühn, Robert Troschitz (Hg.) Populärkultur
Edition Kulturwissenschaft | Band 144
Thomas Kühn, Robert Troschitz (Hg.)
Populärkultur Perspektiven und Analysen
Die vorliegende Publikation ist im Rahmen der Tätigkeit der Herausgeber an der Technischen Universität Dresden, Professur für Großbritannienstudien, erstellt worden und wurde von der Technischen Universität Dresden finanziell unterstützt. Sie wurde außerdem gefördert vom Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften mit Mitteln des Zukunftskonzepts der TU Dresden, finanziert aus der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder, sowie durch die Gesellschaft von Freunden und Förderern der TU Dresden e.V.
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Inhalt
EINLEITUNG Populärkultur und Wissenschaft Thomas Kühn und Robert Troschitz | 9
I. PERSPEKTIVEN Was ist Populärkultur? John Storey | 19
Populärkultur – Popular Culture Terminologische und disziplinäre Überlegungen Thomas Kühn | 41
Zwischen Kulturindustrie und Subkultur Soziologische Perspektiven zum Zusammenhang von gesellschaftlichem Wandel und populären kulturellen Formen im 20. Jahrhunder t Dominik Schrage | 63
II. ANALYSEN Bildung und populäre Kultur Eine Vorlesung über eine rhizomatische Geschichte, die weite Schleifen zieht und neu verkettet Olaf Sanders | 75
Populärkultur und Politik Über ein schwieriges Verhältnis Mark Arenhövel | 95
›Dumb Blonde‹ Zur Popularisierung eines misogynen Stereotyps Ralf Junkerjürgen | 121
Populärkultur als Verhandlungsort Geschichts- und Gesellschaftsentwür fe im amerikanischen Westernfilm Brigitte Georgi-Findlay | 137
Krieg, Kommerz und Kreml-Konzerte Geschichtsinszenierungen im heutigen Russland Marina Scharlaj | 157
Der Star als Plattform Populärkultur und Medienwandel am Beispiel von Cyber-Star Hatsune Miku Yasuko Nunokawa und Joachim Scharloth | 181
Autorinnen und Autoren | 197
EINLEITUNG
Populärkultur und Wissenschaft Thomas Kühn und Robert Troschitz Alltagskultur, Massenkultur, Konsumkultur, oder am Ende gar: Volksverdummung? Die Liste der Begriffe, die benutzt werden, um Fernsehserien, Popmusik, Computerspiele oder Boulevardmedien zu beschreiben, ist lang – und all diese Begriffe zeugen von einer je ganz eigenen, häufig abwertenden Sichtweise auf unterschiedlichste Formen von Populärkultur. Im Gegensatz zur ›richtigen‹, qualitativ hochwertigen Kultur sei Populärkultur eindimensional, formelhaft, anspruchslos und nur zum Vergnügen da, so der Tenor, der sich nach wie vor in Feuilletons und anderswo finden lässt. Während noch vor einigen Jahren die Universität eben jenen abwertenden Blick weitgehend teilte, hat sich die Situation mittlerweile erheblich gewandelt. Es mag zwar immer noch vereinzelt Ablehnung geben und hin und wieder muss man sich für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit David Bowie oder Spiderman Comics rechtfertigen. Nichtsdestotrotz hat sich Populärkultur als Forschungsgegenstand in den letzten Jahrzehnten weitestgehend etabliert; sie ist satisfaktionsfähig geworden. Konferenzen und Veröffentlichungen zu populärkulturellen Themen sind an der Tagesordnung; Dissertationen und Habilitationen zu Fernsehserien, Mode und Fangesängen sind keine Seltenheit mehr; und auch in Seminaren hat Populärkultur vielerorts einen festen Platz eingenommen. Die Grenzen zwischen dem, was der ernsthaften Betrachtung würdig erscheint, und dem, was lange Zeit als trivial und als pure Unterhaltung galt, sind zunehmend verschwommen.1 1 | Die kritische Auseinandersetzung mit Formen von Populärkultur ist kein völlig neues Phänomen und hat in einigen Disziplinen eine lange Tradition, so zum Beispiel in der Soziologie mit den Arbeiten der Frankfurter Schule, allen voran dem Kapitel »Kulturindustrie: Aufklärung als Massenbetrug« in Max Horkheimer und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung (Erstveröffentlichung 1944). Als englischer Literaturkritiker beschäftigte sich auch F.R. Leavis schon in den 1930er Jahren mit Populärkultur, beispielsweise in Culture and Environment, einer Zusammenarbeit mit Denys Thompson. In beiden Fällen wurde Populärkultur zwar durchaus ernst genommen, jedoch eher abwertend betrachtet. (Vgl. hierzu auch die Kapitel von Storey, Kühn und Schrage in diesem Band.)
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Nicht nur im akademischen Betrieb, sondern auch darüber hinaus ist die Trennlinie zwischen Hochkultur und Populärkultur unscharf geworden. Davon zeugen Formate wie ›Klassik meets Pop‹, moderne Filmadaptionen von klassischen Werken wie Shakespeares Romeo und Julia oder, in umgekehrter Richtung, Bücher wie Ian Doeschers William Shakespeare’s Star Wars (2013). Inwiefern althergebrachte Unterscheidungen vielleicht tatsächlich hinfällig geworden sind, wurde zuletzt deutlich, als sich die Schwedische Akademie dazu entschloss, den Nobelpreis für Literatur an niemand geringeren als Bob Dylan zu verleihen.2 Ein Rock- und Folkmusiker ist damit nun in einem Atemzug mit Thomas Mann und William Faulkner zu nennen. Rockmusik wurde nobilitiert – eine Entscheidung, die bekanntermaßen auch ihre Kritiker auf den Plan rief.3 Gerade wenn behauptet wird, dass die Grenzen zwischen Hochkultur und Populärkultur zunehmend verschwimmen, stellt sich die Frage, wo diese Grenzen ursprünglich verliefen. Es ist also zu eruieren, was Populärkultur überhaupt ist und wie sie sich von anderen ›Kulturen‹ unterscheidet. Diese Frage, die in späteren Beiträgen zu diesem Buch eingehend diskutiert wird, 4 ist nicht ohne Weiteres zu beantworten. Ohne zu weit vorwegzugreifen, lässt sich festhalten, dass Populärkultur scheinbar nicht mit Kultur gleichzusetzen ist, sondern vielmehr eine bestimmte Art von Kultur meint.5 Populärkultur ist jene Kultur, die ›populär‹ ist. Sie ist die Kultur ›der Vielen‹ im Gegensatz zu einer Kultur, die nur von wenigen Menschen gepflegt wird oder nur wenigen zugänglich ist. Während eine solche quantitative Definition im ersten Moment überaus einleuchtend erscheinen mag, zieht sie jedoch unweigerlich die Schwierigkeit nach sich, zu bestimmen, ab wann etwas als ›populär‹ gelten kann beziehungsweise, wie viele Menschen es benötigt um von ›vielen‹ zu sprechen. Die Festlegung einer solchen Grenze ist jedoch nur eines der sich ergebenden Probleme. Unter rein quantitativen Gesichtspunkten würde Populärkultur sowohl den Eurovision Song Contest 2 | Der Literaturnobelpreis wurde auch in der Vergangenheit nicht nur an Dichter und Autoren von Literatur im engeren Sinne vergeben. Im Jahre 1902 ging der Preis an den Historiker Theodor Mommsen, und 1953 wurde er Winston Churchill für seine Reden und historiographischen Schriften verliehen. 3 | Der Literaturkritiker Denis Scheck beispielsweise bezeichnete die Auszeichnung Dylans als einen Witz, und der Historiker und Kolumnist Tim Stanley meinte gar, dass eine Welt, die Dylan den Literaturnobelpreis verleihe, eben jene Welt sei, die Trump zum Präsidenten nominiere. Vgl. »Jubel und Enttäuschung« (2016) und Stanley (2016). 4 | Siehe vor allem Storey in diesem Band. 5 | Hier stellt sich zugleich die nicht weniger problematische Frage, was genau der Begriff ›Kultur‹ umfasst. So kann der Begriff zum Beispiel normativ gebraucht werden, im Sinne einer ›Hochkultur‹, oder aber die innerhalb einer Gruppe geteilten Werte, Überzeugungen, Denk- und Handlungsmuster umfassen. Für eine detaillierte Diskussion des Kulturbegriffs siehe unter anderen Eagleton (2000), Klein (2010) sowie, mit einem starken Fokus auf Kulturtheorien, Moebius (2009).
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als auch die Werke von Johann Sebastian Bach umfassen, auch wenn man letztere intuitiv nicht unbedingt als Populärkultur bezeichnen würde. Folglich waren die meisten Diskussionen um Populärkultur nie nur durch eine rein quantitative Definition gekennzeichnet, sondern stets auch durch eine qualitative. Populärkultur wurde hierbei oft als die einfache und weniger wertvolle ›Kultur der Massen‹ im Gegensatz zur ›Hochkultur‹ der bürgerlichen Eliten verstanden. Auch wenn diese Einteilung selbst ein historisches Konstrukt darstellt, ist die Unterscheidung, in der Populärkultur als das Andere zur Hochkultur erscheint, dennoch diejenige, welche die Diskussion lange Zeit geprägt hat und die zum Teil auch heute noch Bestand hat. Darüber hinaus stellen sich noch eine Vielzahl weiterer Fragen beim Versuch Populärkultur zu definieren. So ist zum Beispiel zu klären, inwiefern es sich bei Populärkultur um die Produkte einer Kulturindustrie handelt und Populärkultur somit vornehmlich über Massenmedien wie Kino, Radio, Fernsehen oder das Internet verbreitet wird, oder ob Populärkultur auch andere Formen von Alltagsund Volkskultur einschließt.6 Ebenso umstritten ist, ob Populärkultur vor allem der Unterhaltung dient oder mehr umfasst7 und ob Populärkultur eine Form von Kultur ist, die eher passiv konsumiert und den Massen ›von oben‹ auferlegt wird, oder ob sie vielmehr Teil eines aktiven Prozesses der Bedeutungsproduktion und -aushandlung innerhalb einer Gesellschaft ist. Dies sind nur einige der Verwirrungen und Schwierigkeiten, die sich beim Versuch Populärkultur zu definieren ergeben und die zeigen, dass es weder klar ist, was mit Populärkultur gemeint ist, noch was ihre gesellschaftliche Funktion ist. Neben diesen Definitionsschwierigkeiten, die hier nur angerissen werden können und die im ersten Teil dieses Bandes noch genauer beleuchtet werden, 8 stellt sich auch die grundlegende Frage, warum man sich wissenschaftlich überhaupt mit Populärkultur befassen sollte. Während der Nutzen einer Lektüre von Goethes Faust nahezu offensichtlich erscheint – thematisiert er doch die großen Fragen der Menschheit – so mag dies bei einem Musikvideo von Miley Cyrus keineswegs klar sein. Bei Letzterem ließe sich durchaus einwenden, dass dessen Inhalt so eindimensional sei, dass er von jeder und jedem verstanden würde, und somit keiner Untersuchung durch Experten bedarf. Es ist keineswegs offensichtlich, warum sich Wissenschaftler und Studierende mit Populärkultur 6 | So bezeichnet beispielsweise Shirley Fedorak ›popular culture‹ als »the culture of everyday lives« und hebt hervor, dass Populärkultur sehr viel mehr sei als Entertainment (2009: 3). Hans-Otto Hügel betont hingegen »die ästhetische Funktion Populärer Kultur und folglich ihre Differenz zur alltäglichen Lebensweise« (2003: 2). 7 | Hügel meint hierzu, dass trotz aller Differenzen in den Definitionen von Populärkultur und zwischen den sie erforschenden Disziplinen eine Übereinkunft darin bestehe, dass Populärkultur »irgendetwas mit ›Vergnügen‹ zu tun hat. Populäre Kultur macht Spaß!« (2003: 1). 8 | Siehe dazu vor allem die Beiträge von Storey, Kühn und Schrage.
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beschäftigen sollten, geschweige denn, ob eine solche Auseinandersetzung wirklich einen Mehrwert hat oder ob es letztendlich nicht doch nur darum geht, das private Vergnügen zum Forschungsthema zu machen und somit den erhöhten Konsum, zum Beispiel von Fernsehserien, zu rechtfertigen. Doch allein schon, wenn man Populärkultur rein quantitativ definiert, ergibt sich daraus die Notwendigkeit ihrer wissenschaftlichen Untersuchung. Wie Simon During klarstellt, ist Populärkultur »by definition the main cultural expression of our time« (2005: 193) und somit für Wissenschaftler grundsätzlich relevant. Populärkultur nicht einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen würde schlichtweg bedeuten, einen großen und wichtigen Teil moderner Gesellschaften auszublenden. Geht man nun davon aus, dass Populärkultur Moralvorstellungen und Werturteile sowohl reflektiert als auch beeinflusst und hervorruft, dann ist ihre wissenschaftliche Untersuchung geradezu notwendig. Laut Lynn Schofield Clark ist Populärkultur einer der zentralen Orte der Kommunikation von Idealen und Ideen und ein wichtiger Teil des sozialen Lebens (2008: 18-19). Ebenso argumentiert Deanna D. Sellnow, dass Populärkultur von größter Bedeutung sei, da sie Überzeugungen und Verhaltensweisen formt: popular culture persuades […] by conveying messages about desirable and undesirable, appropriate and inappropriate, and normal and abnormal beliefs, attitudes, values, and behaviors. Thus, popular culture is significant because it has the persuasive power to shape beliefs and behaviors. (2010: 5)
Gerade wenn man dem Ansatz der Cultural Studies folgend Populärkultur als Verhandlungsort von Werten und Bedeutungen versteht,9 ist die Analyse von Populärkultur unumgänglich für ein Verständnis moderner Gesellschaften.10 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Populärkultur erscheint jedoch auch noch aus einem anderen Blickwinkel als äußerst wichtig. Weil Populärkultur allgegenwärtig ist und die heutige Lebenswirklichkeit prägt, bietet sich in ihr auch eine Möglichkeit, Wissenschaft selbst ›populär‹ zu machen. So kann die Analyse von Populärkultur zum Ausgangspunkt für weitere Diskussionen von Politik, Philosophie und Gesellschaft werden (vgl. Clark 2008: 20). Zugleich bietet Forschung zu Populärkultur die Möglichkeit, die gesellschaftliche Relevanz der Geistes- und Sozialwissenschaften hervorzuheben und einem breiten Publikum zugänglich zu machen, jenseits der zum Teil immer noch vorhandenen Mauern des Elfenbeinturmes. Davon zeugen immer wieder die hohen Besucherzahlen bei öffentlichen Tagungen, die populärkulturelle Themen wie Fernsehse-
9 | Vgl. Storey in diesem Band. 10 | Die Cultural Studies britischer Prägung vertreten hierbei den Ansatz, dass es nicht nur um ein Verständnis der Gesellschaft, sondern um ihre Umgestaltung gehe (vgl. dazu Kühn in diesem Band).
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rien behandeln.11 Eben weil die Diskussion von Populärkultur im ersten Moment scheinbar keiner Experten bedarf, ermöglicht sie einen sehr viel breiteren Dialog mit der Öffentlichkeit. Die Erforschung von Populärkultur ist allerdings nicht nur für den Dialog mit der Öffentlichkeit relevant, sondern auch für den Austausch innerhalb der Wissenschaft – hat sie doch das Potential unterschiedliche Disziplinen und deren spezifische Sichtweisen zusammenzubringen. Fernsehserien wie House of Cards, aber auch viele andere Formen von Populärkultur, laden geradezu ein aus filmund medienwissenschaftlicher, soziologischer, kultur- und literaturwissenschaftlicher und nicht zuletzt politikwissenschaftlicher Sicht betrachtet zu werden. Einem solchen Dialog dient auch der vorliegende Sammelband. Mit Beiträgen aus Kulturwissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaft erörtert er, wie sich verschiedene Disziplinen und Ansätze populärkulturellen Phänomen nähern und welchen jeweiligen Mehrwert die Beschäftigung mit Populärkultur hat. Gleichzeitig bezieht er nicht nur diverse Disziplinen ein, sondern ebenso vielfältige Formen und Verortungen von Populärkultur, die vom amerikanischen Westernfilm über Geschichtsinszenierungen im heutigen Russland bis hin zu japanischen Cyber-Stars reichen. Daraus ergibt sich ein höchst vielschichtiges Bild, das zeigt, wie facettenreich die Auseinandersetzung mit Populärkultur sein kann und was sie zu leisten vermag.
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Der erste Teil des Bandes befasst sich mit theoretischen PERSPEKTIVEN auf Populärkultur. Das Ziel ist es zum einen aufzuzeigen, wie vielfältig Populärkultur verstanden werden kann und welche theoretischen Debatten sich am Umgang mit Populärkultur entzündet haben, und zum anderen die Basis für die Beispielanalysen zu schaffen, die im zweiten Teil des Bandes vorgestellt werden. Den Anfang macht hierbei John Storey. In der Tradition der British Cultural Studies arbeitet Storey in »Was ist Populärkultur?« nach einer Reflexion des Kultur- und Ideologiebegriffs sechs Ansätze zum Verständnis von Populärkultur heraus und zeigt nicht nur, wie verschieden Populärkultur gesehen werden kann, sondern auch, welche jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Prämissen hinter diesen Definitionen stehen. Definitionsprobleme stehen auch im Zentrum des Beitrags »Populärkultur – Popular Culture: Terminologische und disziplinäre Überlegungen« von Thomas 11 | Als ein Beispiel sei hier nur die Tagung »Von House of Cards bis Game of Thrones: Eine Tagung über Politik in Fernsehserien« genannt, die 2016 im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden stattfand und schon frühzeitig ausgebucht war. Veranstalter waren die Bundeszentrale für politische Bildung, das Deutsche Hygiene-Museum Dresden und das Netzwerk WEITERsehen: Interdisziplinäre Beiträge der Dresdner Serienforschung.
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Kühn. Er untersucht den Begriff ›Populärkultur‹ in seiner historisch-terminologischen und disziplinären Dimension kontrastiv am Beispiel des deutschen und englischen Sprachgebrauchs. Die Erforschung des Begriffs wird hierbei mit der Geschichte seiner akademischen Anbindung in Deutschland und England verknüpft, die sich ihrerseits wiederum auf das Verständnis von Populärkultur auswirkt. Dominik Schrage nähert sich Populärkultur aus dezidiert soziologischer Sicht. In »Zwischen Kulturindustrie und Subkultur: Soziologische Perspektiven zum Zusammenhang von gesellschaftlichem Wandel und populären kulturellen Formen im 20. Jahrhundert« geht er zunächst auf den Begriff der Massenkultur ein, um im Anschluss den auf der kritischen Theorie beruhenden Begriff der Kulturindustrie zu hinterfragen und auf die heutige Zeit anzupassen. Populärkultur wird dabei einerseits als Resonanzraum verstanden, in dem Subversion und Kommerzialisierung ineinander verschränkt sind, und andererseits als Normalisierungskultur. Der zweite Teil des Bandes besteht aus mehreren ANALYSEN und zeigt, wie Populärkultur in verschiedenen Disziplinen sowie Kultur- und Sprachräumen verstanden und problematisiert werden kann. Olaf Sanders liefert hierzu einen erziehungswissenschaftlichen Beitrag. In »Bildung und populäre Kultur: Eine Vorlesung über eine rhizomatische Geschichte, die weite Schleifen zieht und neu verkettet« zeigt Sanders Wege auf, um das traditionelle Verständnis von Bildung als ›Bildung zur (Hoch)kultur‹ zu überwinden. Ausgehend von Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt, analysiert Sanders mit Rückgriff auf die Cultural Studies und die Arbeiten von Gilles Deleuze und Félix Guattari die Bildungspotentiale von Populärkultur und verdeutlicht diese am Beispiel der Filme von Jim Jarmusch. Der Politikwissenschaftler Mark Arenhövel diskutiert in »Populärkultur und Politik«, wie sich das Verhältnis von Politik und Populärkultur gewandelt hat und wie sich beide Felder zunehmend gegenseitig durchdringen und vermischen, wodurch sich der Blick auf die Politik, die Formen der politischen Kommunikation wie auch die Konstitution des Politischen verändern. Dies droht einerseits zu einer Trivialisierung der Politik zu führen, doch die spielerischen Grenzüberschreitungen in popkulturellen Formaten eröffnen andererseits auch die Chance neuer Wirklichkeitserfahrungen und –deutungen für die Rezipientinnen und Rezipienten. Ralf Junkerjürgen analysiert in »›Dumb Blonde‹: Zur Popularisierung eines misogynen Stereotyps« die historische Entwicklung und Transformation der populärkulturellen Figur der ›dumb blonde‹. Ausgehend von der Antike, in der die Haarfarbe blond positiv konnotiert war und oft als Attribut des Göttlichen erschien, zeigt Junkerjürgen, wie sich diese Konnotation später wandelte und welche Rolle technische Entwicklungen, vor allem im Bereich der Haarfärbeindustrie, sowie Film und Werbung bei der Herausbildung des Stereotyps der ›dumb
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blonde‹ spielten. Anhand aktueller Beispiele legt Junkerjürgen zudem dar, wie dieser Stereotyp in jüngerer Zeit durch eine steigende Anzahl von (Selbst-)Ironisierungen zunehmend unterwandert wird. Ebenso wie Junkerjürgen nimmt auch Brigitte Georgi-Findlay eine historische Perspektive ein. In »Populärkultur als Verhandlungsort: Geschichts- und Gesellschaftsentwürfe im amerikanischen Westernfilm« untersucht Georgi-Findlay den amerikanischen Westernfilm von den 1930er Jahren bis in die Gegenwart. Dabei wird die Fülle unterschiedlicher Gesellschaftsentwürfe aufgezeigt, die in diesem populären Genre zur Sprache kommen, und herausgearbeitet, welche ideologischen Funktionen diese Erzählungen von der ›Kinderstube Amerikas‹ haben. Western fungieren hierbei als Inszenierungen der Herausbildung von Gemeinschaft und sozialer Ordnung noch vor der Etablierung von Staat und Recht (und der Marktwirtschaft), in denen Konflikte des Übergangs zur modernen Gesellschaft sowie die Gegensätze zwischen Natur und Zivilisation, Wildnis und Heim verhandelt werden. Als Gegenstück zu Georgi-Findlays Analyse des Western kann der Beitrag »Krieg, Kommerz und Kreml-Konzerte: Geschichtsinszenierungen im heutigen Russland« von Marina Scharlaj gelesen werden. Scharlaj zeigt die Grenzen einer Dichotomie zwischen Hoch- und Populärkultur auf, sofern diese unter der – westlichen – theoretischen Prämisse von gesellschaftlichen Klassen gedacht wird. In ihrem Beispiel der Kreml-Konzerte stellt sie eine positiv konnotierte, populäre wie populistische, militärisch dominierte Erinnerungskultur vor, die, obwohl vom Staat inszeniert, als Populärkultur zu bezeichnen ist. Eine solche monostilistische Populärkultur zeichnet sich durch eine Reihe von Kriterien aus, zu denen eine von der politischen Führung vorgegebene Kanonisierung ebenso gehört wie die Totalisierung des ästhetisch kulturellen Sinns, die Exklusion des Anderen, die Proklamation eines offiziellen Konsenses und die Betonung des Positiven, die Kritik ausschließt. Abschließend wenden sich Yasuko Nunokawa und Joachim Scharloth populärkulturellen Phänomenen zu, die weder als eine von der Kulturindustrie erzeugte Massenkultur noch als Volkskultur zu verstehen sind. In »Der Star als Plattform« analysieren sie am Beispiel des japanischen Cyber-Stars Hatsune Miku den Zusammenhang von Populärkultur und Medienwandel und nehmen dabei vor allem die technisch-medialen Bedingungen für die Genese des Phänomens Star im Zeitalter einer allumfassenden Vernetztheit in den Blick. Mit dieser exemplarischen Behandlung populärkultureller Phänomene werden Eckpunkte eines Feldes markiert, dessen Erforschung noch lange nicht abgeschlossen ist – und auch nicht sein kann. Nicht nur entstehen immer wieder neue Formen von Populärkultur, sondern auch Wissenschaft und ihr Blick auf Populärkultur verändern sich. Insofern, versteht sich der vorliegende Sammelband als ein weiterer Beitrag zu einem sich stetig entwickelnden Forschungsfeld. Der hier präsentierte Schnitt durch Disziplinen und Kulturräume offenbart dabei
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nicht nur, wie vielfältig sowohl Populärkultur als auch die entsprechenden wissenschaftlichen Zugänge sind. Er unterstreicht zugleich die zentrale Bedeutung von Populärkultur sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft.
B ibliographie Clark, Lynn Schofield (2008). »When the University Went ›Pop‹: Exploring Cultural Studies, Sociology of Culture, and the Rising Interest in the Study of Popular Culture.« Sociology Compass 2.1: 16-23. doi: https://doi.org/10.1111/ j.1751-9020.2007.00058.x During, Simon (2005). Cultural Studies: A Critical Introduction. Routledge: London. Eagleton, Terry (2000). The Idea of Culture. Malden: Blackwell. Fedorak, Shirley (2009). Pop Culture: The Culture of Everyday Life. Toronto: University Press. Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno (2008). Dialektik der Auf klärung: Philosophische Fragmente. Frankfurt (Main): Fischer. Hügel, Hans-Otto (2003). »Einführung.« Handbuch Populäre Kultur. Hg. Hans-Otto Hügel. Stuttgart: Metzler. 1-22. doi: https://doi.org/10.1007/9783-476-05001-4_1 »Jubel und Enttäuschung: Literaturnobelpreis für Bob Dylan.« Zeit Online. 13.10. 2016 24.01.2017. Klein, Gabriele (2010). »Kultur.« Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. Hg. Herman Korte und Bernhard Schäfers. Wiesbaden: VS. 235-255. doi: https:// doi.org/10.1007/978-3-531-90032-2 Leavis, F.R. und Denys Thompson (1933). Culture and Environment: The Training of Critical Awareness. London: Chatto & Windus. Moebius, Stephan (2009). Kultur. Bielefeld: transcript. Sellnow, Deanna D. (2010). The Rhetorical Power of Popular Culture: Considering Mediated Texts. Los Angeles: SAGE. Stanley, Tim (2016). »A World that Gives Bob Dylan a Nobel Prize Is a World that Nominates Trump for President.« The Telegraph. 13.10.2016. 24.01.2017.
I. PERSPEKTIVEN
Was ist Populärkultur?
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John Storey Übersetzung Thomas Kühn2 Ehe wir uns im Detail unterschiedlichen definitorischen und analytischen Zugängen zur Populärkultur zuwenden, will ich einige Elemente der Debatte skizzieren, die die Untersuchung von Populärkultur ausgelöst haben. Ich möchte allgemein das Terrain der Populärkultur ausloten, ein in vielerlei Hinsicht beängstigendes Unterfangen. Ein Teil der Schwierigkeiten rührt vom implizit Anderen her, das immer anwesend bzw. abwesend ist, wenn wir den Begriff ›Populärkultur‹ verwenden. Wie wir sehen werden, wird Populärkultur immer, explizit oder implizit, im Gegensatz zu anderen begrifflichen Kategorien definiert: ›folk culture‹, Massenkultur, Hochkultur, dominante Kultur, Kultur der Arbeiterklasse.3 Eine vollständige Definition muss diesen Umstand immer berücksichtigen. Darüber hinaus beeinflusst jegliche begriffliche Kategorie, welche als abwesendes Anderes von Populärkultur herangezogen wird, in großem Umfang die Konnotationen, die bei der Verwendung des Terminus ›Populärkultur‹ im Spiel sind. Deshalb müssen wir uns bei der Beschäftigung mit Populärkultur immer zuerst mit den terminologischen Schwierigkeiten des Begriffs selbst befassen. Denn in fast jedem Fall werden die Art der Analyse, die wir vornehmen, und der theoretische Rahmen, den wir für diese Analyse verwenden, von der benutzten jeweiligen Definition von Populärkultur geprägt sein. Ich vermute, der bleibende Eindruck meines Arguments auf die Leser wird sein, dass Populärkultur faktisch eine leere begriffliche Kategorie ist, die mit einer Vielzahl an widerstreitenden-
1 | Der folgende Beitrag ist die deutsche Übersetzung des ersten Kapitels von John Storeys Cultural Theory and Popular Culture: An Introduction (London: Routledge, 2015. 1-17). 2 | Im Folgenden abgekürzt mit TK. 3 | Anmerkung TK: Beim Begriff ›folk culture‹ zeigt sich die begriffliche historische und semantische Verschiebung vom Englischen ins Deutsche besonders deutlich. Demnach ist eine Übersetzung von ›folk culture‹ mit dem deutschen ›Volkskultur‹ wenig sinnvoll. Alle weiteren Begriffe sind in etwa äquivalent.
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den Inhalten gefüllt werden kann, die ihrerseits vom jeweiligen Kontext ihrer Benutzung abhängen.
K ultur Um Populärkultur zu definieren, müssen wir zuerst den Begriff ›Kultur‹ definieren. Raymond Williams bezeichnet Kultur als »einen der zwei oder drei kompliziertesten Begriffe im Englischen« (1983: 87) und schlägt drei recht weit gefasste Definitionen vor. Zunächst kann Kultur in Bezug auf »einen allgemeinen Prozess intellektueller, geistlicher und ästhetischer Entwicklung« (ebd. 90) verwendet werden. Wir können beispielsweise von der kulturellen Entwicklung Westeuropas sprechen und uns damit ausschließlich auf intellektuelle, geistliche oder ästhetische Aspekte beziehen – auf große Philosophen, große Künstler und große Dichter. Dies wäre eine vollkommen verständliche Aussage. Als eine zweite Bedeutung von Kultur schlägt Williams »eine bestimmte Art zu leben, ob eines Volkes, einer Periode oder einer Gruppe sei dahingestellt« (ebd.), vor. Wenn wir uns auf die kulturelle Entwicklung Westeuropas beziehen, würde diese Definition nicht nur intellektuelle oder ästhetische Faktoren, sondern auch Entwicklungen wie beispielsweise Alphabetisierung, Urlaub, Sport oder religiöse Feste vor Augen führen. Schließlich kann sich Kultur Williams zufolge auch auf »die Arbeiten und Praktiken intellektueller, insbesondere künstlerischer Aktivitäten« (ebd.) beziehen. Anders ausgedrückt, bedeutet Kultur hier die Texte und Praktiken, deren Hauptzweck es ist auf Bedeutung zu verweisen, Bedeutung zu produzieren oder Anlass für Bedeutungsproduktion zu bieten. In dieser dritten Definition ist Kultur ein Synonym zu dem, was die Strukturalisten und Poststrukturalisten als signifying practices, als Praxis der Signifikation, bezeichnen. Beim Gebrauch einer solchen Definition von Kultur denken wir beispielsweise an Dichtung, den Roman, an Ballett, Oper oder Malerei. Normalerweise wird, wenn wir von Populärkultur sprechen, die zweite und dritte Definition von Kultur aufgerufen. Die zweite Definition – Kultur als »eine bestimmte Art zu leben« (ebd.) – würde uns an Praktiken wie Urlaub am Meer, Weihnachtsfeiern und Weihnachtsbräuche sowie Jugendkultur als Beispiele von Kultur denken lassen. Sie werden normalerweise als Alltags- oder Gebrauchskultur, als gelebte Kultur oder Praktiken angesehen. Entsprechend der dritten Definition – ›culture as signifying practice‹ – würden wir von Seifenopern, Popmusik, und Comics als Beispiele für Kultur sprechen. Diese werden üblicherweise als Texte bezeichnet. Nur wenigen würde im Zusammenhang mit Populärkultur Williams’ erste Definition in den Sinn kommen.
Was ist Populärkultur?
I deologie Ehe wir uns den unterschiedlichen Definitionen von Populärkultur zuwenden, müssen wir noch einen weiteren Terminus bedenken: ›Ideologie‹. Für die Beschäftigung mit dem Studium von Populärkultur stellt Ideologie ein wesentliches Konzept dar. Graeme Turner nennt es »die wichtigste Begriffskategorie in den Cultural Studies« (2003: 182; Übersetzung TK). James Carey schlug sogar vor: »British cultural studies sollten vielleicht genauso leicht und vielleicht sogar genauer als ›ideological studies‹ beschrieben werden.« (1996: 65; Übersetzung TK) Ebenso wie Kultur gibt es auch für Ideologie viele widerstreitende Bedeutungen, und oft wird ein Verständnis des Ideologiekonzepts dadurch kompliziert, dass in Kulturanalysen der Begriff synonym zum Kulturbegriff allgemein, vor allem aber zum Begriff der Populärkultur im speziellen verwendet wird. Durch die Tatsache, dass Ideologie häufig im gleichen Begriffsfeld wie Kultur und Populärkultur erscheint, wird Ideologie zum Grundbegriff für jegliches Verständnis von Populärkultur. Im Folgenden sollen fünf der zahlreichen terminologischen Varianten von Ideologie diskutiert werden, wobei nur die Begrifflichkeiten in Betracht gezogen werden, die für die Erforschung von Populärkultur relevant sind. Ideologie kann sich, erstens, auf ein systematisches Gedankengebäude beziehen, das von einer bestimmten Personengruppe artikuliert wird. So können wir zum Beispiel von einer ›berufsbedingten Ideologie‹ sprechen und damit die Ideen meinen, die die Praktiken bestimmter Berufsgruppen bestimmen. Wir können außerdem von der Ideologie der Labour Party sprechen. In diesem Fall würden wir uns auf die Gesamtheit politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Vorstellungen beziehen, die die Absichten und Handlungen der Partei bestimmen. Eine zweite Definition verweist auf Formen der Maskierung, des Verzerrens und Versteckens. Hier dient Ideologie als Indikator dafür, wie manche Texte und Praktiken verzerrte Wirklichkeitsbilder anbieten. Sie produzieren das, was mitunter als ›falsches Bewusstsein‹ bezeichnet wird. So wird behauptet, dass derartige Verzerrungen im Interesse der Mächtigen arbeiten und gegen die Interessen der Machtlosen. In diesem Sinne können wir von einer kapitalistischen Ideologie sprechen. Mit einer solchen Verwendung des Begriffs werden die Mechanismen angedeutet, mit deren Hilfe die Ideologie die tatsächliche Dominanz vor den Mächtigen verbirgt: die dominante Klasse sieht sich nicht als Ausbeuter oder Unterdrücker. Vielleicht noch wichtiger ist die Art und Weise, mit der Ideologie Unterordnung vor den Machtlosen verbirgt, denn die untergeordneten Klassen erkennen sich nicht als unterdrückt oder ausgebeutet. Diese Definition wird von bestimmten Grundannahmen bezüglich der Produktion von Texten und kulturellen Praktiken abgeleitet. So wird argumentiert, dass diese Texte und Praktiken Spiegelungen oder Ausdruck der Machtverhältnisse der wirtschaftlichen Strukturen der Gesellschaft sind. Dies ist eine Grundthese des klassischen Marxismus. Karl Marx’ berühmte Formulierung dazu im Vorwort von »Zur Kritik der politischen Ökonomie« lautet:
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John Storey In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. (1971: 8-9)
Marx nimmt an, dass die Weise, wie die Gesellschaft die Mittel ihrer materiellen Produktion organisiert, eine bestimmende Wirkung auf die Art der Kultur ausübt, die die Gesellschaft hervorbringt oder ermöglicht. Die kulturellen Produkte dieses sogenannten Basis – Überbau Verhältnisses werden dahingehend als ideologisch angesehen, als dass sie als Ergebnis dieses Verhältnisses implizit oder explizit die Interessen dominierender Gruppen unterstützen, die ihrerseits sozial, politisch, ökonomisch und kulturell von dieser bestimmten wirtschaftlichen Organisationsform der Gesellschaft profitieren. Wir können Ideologie in dieser allgemeinen Bedeutung auch zur Beschreibung von Machtverhältnissen jenseits von Klassenverhältnissen verwenden. So sprechen Feministinnen von der Macht der patriarchalen Ideologie und davon, wie diese dazu beiträgt, Genderbeziehungen in unserer Gesellschaft zu verbergen, zu maskieren und zu verzerren. In vergleichbarer Weise lässt sich auch der Rassismus mit Hilfe dieses Ideologiebegriffs fassen. Eine dritte Definition von Ideologie (eng verknüpft mit und in einiger Hinsicht abhängig von der zweiten Definition) benutzt den Begriff im Sinne von »ideologischen Formen« (Marx und Engels 1971: 9). Diese Verwendung von Ideologie richtet die Aufmerksamkeit auf die Art, in der Texte (Fernsehfilme, Popsongs, Romane, Spielfilme etc.) stets ein bestimmtes Bild der Welt präsentieren. Diese Definition beruht auf der Vorstellung einer auf Konflikt statt einer auf Konsens beruhenden Gesellschaft, deren Strukturmerkmale Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung sind. Stets beziehen Texte in diesem Konflikt – bewusst oder unbewusst – Stellung. Bertolt Brecht resümiert diese Idee mit: Ein Theaterstück, ob gut oder schlecht, enthält immer ein Abbild der Welt. […] Es gibt kein Theaterstück und keine Theateraufführung, die nicht in der einen oder andern Weise in die Vorstellungen und Gemütsbewegungen der Zuschauer eingreift. Es spricht nur für die Kunst, daß sie niemals folgenlos bleibt. (1964: 63-65)
Brechts Aussage kann verallgemeinert auf alle Texte angewendet werden, was, anders ausgedrückt, schlicht bedeutet, dass alle Texte letztlich politisch sind. Sie bieten widerstreitende ideologische Perspektiven davon an, wie die Welt ist oder sein sollte. Populärkultur ist demnach Stuart Hall zufolge ein Ort, an dem »kol-
Was ist Populärkultur?
lektive soziale Vorstellungen geschaffen werden«, ein Ort, an dem die »Politik der Signifikation« (Hall 2009b: 122-123; Übersetzung TK) durchgespielt wird als Versuch, die Menschen für eine bestimmte Weltsicht zu gewinnen. Eine vierte Ideologiedefinition ist mit dem Frühwerk des französischen Kulturtheoretikers Roland Barthes verbunden. Barthes stellt die These auf, dass Ideologie (oder ›Mythos‹, wie Barthes es selbst nennt) hauptsächlich auf der Ebene der Konnotationen stattfindet, als sekundäre, oft unbewusste Bedeutungen, die Texte oder Praktiken aktiv oder passiv mit sich führen. So endete beispielsweise eine 1990 ausgestrahlte Wahlsendung der Konservativen Partei mit dem Wort ›Socialism‹, das sich in rote Gefängnisgitter verwandelte. Auf diese Weise wurde suggeriert, dass der Sozialismus der Labour Party synonym mit sozialer, wirtschaftlicher und politischer Gefangenschaft sei. Die Sendung versuchte, die Konnotationen des Wortes ›Sozialismus‹ festzuschreiben. Darüber hinaus bestand die Hoffnung, Sozialismus in eine binäre Beziehung zu einzubinden, in der dieser für Unfreiheit stünde, während die Konnotation für den Konservatismus Freiheit wäre. Für Barthes wäre dies ein klassisches Beispiel dafür, wie Ideologie funktioniert, darin nämlich, etwas zu verallgemeinern und zu legitimieren, was tatsächlich nur partiell und spezifisch ist; es stellt einen Versuch dar, etwas, das kulturgebunden (i.e. menschengemacht) ist, als natürlich auszugeben. Auf ähnliche Weise könnte postuliert werden, dass in der britischen Gesellschaft weiß, männlich, heterosexuell, aus der Mittelschicht stammend insofern als ›nicht gekennzeichnet‹ gilt, als dass sie das ›Normale‹, ›Natürliche‹ und ›Allgemeine‹ darstellen. Gegenüber diesem ›Normalen‹ werden andere Lebensformen als minderwertige Variationen eines Originals angesehen. Dies wird deutlich bei Begriffen wie weiblicher Schlagerstar, schwarzer Journalist, Arbeiterschriftsteller, schwuler Comedian. Jedes genannte Beispiel nutzt den vorangestellten Begriff dazu, den jeweils nachgestellten Terminus als Abweichung von der ›allgemeinen gültigen‹ Kategorie von Schlagersänger, Journalist, Schriftsteller und Comedian zu deklarieren. Eine fünfte Definition von Ideologie war vor allem in den 1970er und 1980er Jahren einflussreich und soll hier mit kurzen Strichen skizziert werden. Sie wurde von dem französischen Marxisten Louis Althusser entwickelt. […] Althusser richtet sein Hauptaugenmerk nicht auf Ideologie als simples Gedankengebäude, sondern er betrachtet Ideologie als materielle Praxis. Dies heißt, dass man Ideologie in der Praxis des Alltags begegnet und nicht nur einfach in bestimmten Vorstellungen vom Alltag. Althusser meint damit die Art und Weise, wie uns bestimmte Rituale und Gewohnheiten wirkungsvoll an die soziale Ordnung binden. Es ist eine Ordnung, die durch ein ungeheures Wohlstands- und Machtgefälle sowie durch Ungleichheit im Status gekennzeichnet ist. Entsprechend dieser Definition können der Urlaub an der See oder das Feiern von Weihnachten jeweils als Beispiele für ideologische Praktiken beschrieben werden. So bieten sie Vergnügen und Befreiung von den üblichen Verpflichtungen der sozialen Ordnung, aber nur, um uns letztlich wieder an unsere Plätze in der sozialen Ordnung zu-
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rückzubringen. Ausgeruht und erfrischt wären wir bereit, die Ausbeutung und Unterdrückung bis zur nächsten offiziellen Unterbrechung auszuhalten. In diesem Sinne hat Ideologie die Aufgabe, die sozialen Bedingungen und Beziehungen zu reproduzieren, die für die Fortsetzung der ökonomischen Bedingungen und ökonomischen Beziehungen des Kapitalismus notwendig sind. Dass Kultur und Ideologie ein großes begriffliches Terrain teilen, sollte durch die Definitionsansätze von Kultur und Ideologie deutlich geworden sein. Der Hauptunterschied zwischen den beiden besteht darin, dass Ideologie zu diesem gemeinsamen Terrain eine politische Dimension beisteuert. Zudem zeigt die Einführung des Ideologiebegriffs, dass Machtverhältnisse und Politik die Kultur bzw. Ideologielandschaft unausweichlich prägen. Dies zeigt, dass Populärkultur mehr ist als nur die Debatte um Unterhaltung und Freizeitvergnügen.
P opul ärkultur Es gibt unterschiedliche kritische Ansätze zur Definition von Populärkultur. Im Folgenden werde ich sechs Definitionen von Populärkultur skizzieren, die, sehr unterschiedlich und eher allgemein, den Zugang zu Populärkultur prägen. Zunächst jedoch sollte man sich dem Begriff ›populär‹ selbst zuwenden. Raymond Williams schlägt vier gängige Bedeutungen vor: »von vielen Menschen gemocht«, »minderwertige Werke«, »Werke, die es bewusst darauf anlegen von den Menschen gemocht zu werden« und schließlich »Kultur, die tatsächlich von den Menschen für sich selbst gemacht wird« (1983: 237; Übersetzung TK). Somit erzeugt jede Definition von Populärkultur eine komplexe Kombinatorik der unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs ›Kultur‹ und denen des Begriffs ›populär‹. Die Geschichte der theoretischen Auseinandersetzung mit Populärkultur erweist sich von daher immer auch als eine Geschichte der unterschiedlichen Arten, wie die beiden Begriffe theoretisch im jeweiligen historischen und sozialen Kontext aufeinander bezogen wurden. Ein naheliegender Ausgangspunkt für jeden Definitionsversuch von Populärkultur ist schlicht der, Populärkultur als Kultur zu betrachten, die sehr beliebt ist und von vielen Menschen gemocht wird. Zweifellos würde eine solche quantitative Indizierung auf breite Zustimmung stoßen. Wir könnten Auflagenhöhen von Büchern, Verkaufszahlen von CDs und DVDs erforschen; wir könnten zudem Besucherzahlen bei Konzerten, Sportveranstaltungen und Festivals untersuchen. Wir könnten auch Marktforschungsergebnisse im Hinblick auf Zuschauerpräferenzen bei unterschiedlichen Fernsehprogrammen unter die Lupe nehmen. Solche Zahlenspiele würden zweifellos eine große Anzahl an aussagekräftigen Ergebnissen ergeben. Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten könnten paradoxer Weise sein, dass all die Zahlen zu viel mitteilen würden. Denn solange wir uns nicht über eine Größe verständigen können, ab der etwas als Populärkultur angesehen wird, und unterhalb welcher etwas bloß Kultur ist, würde für uns das,
Was ist Populärkultur?
was beliebt ist oder von vielen Menschen gemocht wird, so viel beinhalten, dass es als konzeptionelle Definition von Populärkultur praktisch nutzlos wäre. Unabhängig von dem genannten Problem, muss aber jede Definition von Populärkultur eine quantitative Dimension beinhalten. Das ›populäre‹ der Populärkultur scheint sie schlicht einzufordern. Ebenso klar ist aber auch, dass die quantitative Auflistung für sich genommen für eine adäquate Definition von Populärkultur nicht ausreicht. Eine solche Aufzählung würde sicherlich in den Worten von Tony Bennett auch die »offiziell sanktionierte Hochkultur [umfassen], die im Hinblick auf Buch- und Plattenverkaufszahlen oder Zuschauerratings von Fernsehverfilmungen klassischer Theaterstücke in diesem Sinne zu Recht als ›populär‹ bezeichnet werden können« (1980: 20-21; Übersetzung TK). Eine zweite Definition schlägt Populärkultur als die Kultur vor, die übrigbleibt, nachdem wir Hochkultur definiert haben. So gesehen ist Populärkultur eine Restkategorie, die als solche alle Texte und Praktiken aufnimmt, die die notwendigen Standards der Hochkultur verfehlen. Anders ausgedrückt, wird Populärkultur als minderwertige Kultur definiert. Ein solcher Kultur/ Populärkultur-Test würde eine Reihe von Werturteilen über einen bestimmten Text oder eine bestimmte Praxis implizieren. So könnten wir beispielsweise auf formaler Komplexität bestehen; anders formuliert: um wirklich Kultur zu sein, muss etwas schwierig sein. Damit garantiert der Schwierigkeitsgrad den exklusiven Hochkulturstatus. Die schiere Schwierigkeit schließt also aus – ein Verfahren, das zugleich die Exklusivität seines Publikums gewährleistet. So argumentiert der französische Soziologe Pierre Bourdieu, dass kulturelle Unterscheidungen dieser Art oft zur Unterstützung von Klassenunterscheidungen eingesetzt werden. Damit wird Geschmack zur zutiefst ideologischen Kategorie: er fungiert als Indikator von Klasse (wenn man den Terminus in seiner doppelten Bedeutung sowohl als soziale und wirtschaftliche Kategorie verwendet als auch eine, die auf ein bestimmtes Qualitätsniveau verweist). Pierre Bourdieu zufolge eignet sich der Kulturkonsum »ganz unabhängig vom Wissen der Beteiligten – so glänzend zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion der Legitimierung sozialer Unterschiede« (1987: 27). 4 Diese Definition von Populärkultur wird oft unterfüttert von der Behauptung, dass Populärkultur massenproduziert und kommerziell sei, wohingegen Hochkultur als Ergebnis eines individuellen Schöpfungsprozesses angesehen wird. Deshalb verdiene letztere eine moralische und ästhetische Reaktion, während Populärkultur nur einer beiläufigen soziologischen Kenntnisnahme bedürfe, um den allenfalls geringen Inhalt aufzuschlüsseln. Welche Methode man auch immer anwenden mag, in der Regel bestehen diejenigen, die auf die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur Wert legen, darauf, dass die Trennung zwischen den beiden vollkommen klar und darüber hinaus der Zeit enthoben für 4 | Anmerkung TK: Die deutsche Übersetzung verwendet anstatt ›Kulturkonsum‹ die Vokabel ›Kunst und Kunstkonsum‹.
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alle Zeit festgelegt sei. Für gewöhnlich wird besonders auf den letzten Punkt insistiert, insbesondere dann, wenn die Trennung auf der angenommenen grundsätzlichen Qualität des Textes beruht. Eine solche Gewissheit ruft viele Probleme hervor. So wird beispielsweise William Shakespeare heutzutage als der Inbegriff der Hochkultur betrachtet; sein Werk aber war bis ins 19. Jahrhundert hinein weitgehend Teil des populären Theaters.5 Gleiches kann über Charles Dickens gesagt werden. Auch der Film Noir kann als Film gesehen werden, der die Demarkationslinie, die die Hoch- von der Populärkultur vermeintlich trennt, überschritten hat. Anders formuliert ist das, was als populäres Kino begonnen hat, mittlerweile zur Domäne von Akademikern und Filmclubs geworden.6 Als jüngeres Beispiel eines kulturellen Grenzverkehrs in die Gegenrichtung kann Luciano Pavarottis Aufnahme von Puccinis »Nessum Dorma« dienen. Nicht einmal die härtesten Verteidiger der Hochkultur würden Pavarotti oder Puccini von ihrer erlauchten Liste streichen wollen. Und doch schaffte es Pavarotti 1990 mit »Nessum Dorma« auf Platz eins der britischen Charts. Ein solcher wirtschaftlicher Erfolg würde unter quantitativ-analytischem Blickwinkel den Komponisten, Vortragenden sowie die Arie selbst der Populärkultur zuschreiben.7 Als Illustration kann eine Geschichte dienen, nach der sich einer meiner Studenten darüber beschwerte, dass die Arie durch den kommerziellen Erfolg möglicherweise entwertet wurde. Er behauptete, dass es ihm jetzt peinlich sei die Arie abzuspielen aus Angst davor, jemand könnte meinen, sein Musikgeschmack sei schlicht das Ergebnis, dass die Arie jetzt »Official BBC Grandstand World Cup Theme« sei. Andere Studierende fanden diese Haltung amüsant und lächerlich. Und trotzdem weist die Beschwerde des Studenten auf etwas sehr Bezeichnendes an der Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur hin: die elitäre Energie, die einige in die Fortschreibung der Trennung investieren. Am 30. Juli 1991 gab Pavarotti ein Konzert im Londoner Hyde Park ohne Eintritt zu verlangen. Ungefähr 250000 Zuschauer waren erwartet worden, aber 5 | Vgl. hierzu die ausgezeichnete Diskussion zu Shakespeare als Populärkultur im Amerika des 19. Jahrhunderts in Levine (1988). 6 | Slavoj Žižek identifiziert die rückwirkende Bewertung, die den momentanen Status festschreibt, folgendermaßen: »Er [der Film Noire] fing erst zu existieren an, als ihn französische Kritiker in den 50ern entdeckten (Es ist keineswegs ein Zufall, dass sogar im Englischen der verwendete Begriff für das Filmgenre französisch ist: Film Noir). Was in Amerika eine Serie von low-budget-B-Produktionen von geringer Reputation bei den Kritikern war, wurde durch die Einflussnahme des französischen Blicks auf wundersame Weise in einen erhabenen Kunstgegenstand verwandelt, eine Art filmisches Pendant zum philosophischen Existentialismus. Regisseure, die in Amerika bestenfalls den Ruf solider Handwerker hatten, wurden zu Autoren, von denen jeder in seinen Filmen eine einzigartige tragische Vision des Universums in Szene setzte.« (1991: 112; Übersetzung TK) 7 | Zur Diskussion der Rolle der Oper in der Populärkultur vgl. Storey (2002, 2003, 2006 und 2010).
Was ist Populärkultur?
aufgrund heftigen Regens waren tatsächlich nur etwa 100000 Zuhörer gekommen. Es sind vor allem zwei Umstände, die den Erforscher von Populärkultur in diesem Zusammenhang interessieren dürften. Zum einen ist es die ungeheure Beliebtheit des Events. Dies könnten wir damit in Verbindung bringen, dass beide zuvor erschienen Alben Pavarottis (Essential Pavarotti 1 und Essential Pavarotti 2) die britische LP Hitparade angeführt hatten. Pavarottis unbestrittene Beliebtheit scheint also jegliche klare Trennung zwischen Hoch- und Populärkultur in Frage zu stellen. Zum anderen scheint das Ausmaß von Pavarottis Beliebtheit die klassenbasierte Trennung von Hoch- und Populärkultur zu gefährden. Deshalb ist die Art und Weise interessant, in der über das Event in den Medien berichtet wurde. Alle britischen Boulevardblätter brachten das Konzert auf ihrer ersten Seite. Der Daily Mirror etwa widmete dem Konzert fünf Seiten. Die Berichterstattung in den Boulevardzeitungen ist als klarer Versuch zu deuten, das Konzert im Sinne von Populärkultur zu definieren. Die Sun zitierte eine Frau mit den Worten: »Ich kann es mir nicht leisten vornehme Opernhäuser zusammen mit Snobs zu besuchen und pro Sitz 100Pfund hinzublättern.« (Übersetzung TK) Der Daily Mirror behauptete in einem Leitartikel, Pavarottis Auftritt sei nicht »für die Reichen«, sondern »für die Tausenden, die sich normalerweise nie einen Abend mit einem Opernstar leisten könnten« (Übersetzung TK). Als am nächsten Mittag über das Event in den Fernsehnachrichten berichtet wurde, wurde die Boulevardberichterstattung über das Konzert als Teil seiner Signifikanz herangezogen. Nicht nur enthielten die One O’clock News der BBC und die 12.30 News von ITV Hinweise, wie die Boulevardzeitungen über das Konzert schrieben, sie verwiesen darüber hinaus auch auf den Umfang dieser Berichterstattung. Damit schienen die alten Gewissheiten der kulturellen Landkarte plötzlich in Zweifel gezogen. Aber es gab auch manchen Versuch, diese alten Gewissheiten wieder einzuführen: »Einige Kritiker sagten, der Park sei kein Ort für Opern« (One O’clock News; Übersetzung TK); »einige Opernfreunde mögen es für etwas gewöhnlich halten« (12.30 News; Übersetzung TK). Auch wenn solche Kommentare das Gespenst alter Hochkulturexklusivität herauf beschworen haben mögen, schienen sie im Hinblick auf die Einschätzung des Events merkwürdig ratlos. Die scheinbar offensichtliche Trennungslinie zwischen Hoch- und Populärkultur schien nicht mehr so klar zu sein. Plötzlich schien es, als ob das Kulturelle durch das Wirtschaftliche ausgetauscht und eine Trennungslinie zwischen ›den Reichen‹ und ›den Tausenden‹ sichtbar geworden wäre. Es war die schiere Beliebtheit des Konzerts, welche die Produzenten der Fernsehnachrichten dazu zwang, alten kulturellen Sicherheiten kritisch gegenüberzutreten, nur um diese letztlich als defizient zu diagnostizieren. Dies kann zumindest teilweise illustriert werden, wenn wir zur widersprüchlichen Bedeutung des Begriffs ›populär‹ zurückkehren.8 Einerseits wird etwas als gut bezeichnet, weil es beliebt ist. Ein Beispiel dafür wäre die Formulierung: das war eine beliebte Aufführung. Andererseits wird etwas aber aus genau denselben 8 | Vgl. Storey (2003 und 2005).
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Gründen für schlecht befunden. Die binären Gegensätze in Tabelle 1 machen deutlich, inwiefern populär und Populärkultur in ihrem Definitionsspektrum Konnotationen von Minderwertigkeit enthalten; Populärkultur wird zur Kultur zweiter Wahl für diejenigen, die außer Stande sind, wahre Kultur zu verstehen oder gar entsprechend wertzuschätzen. Tabelle 1 Populärkultur als ›minderwertige‹ Kultur
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Boulevardpresse (popular press)
Qualitätszeitungen (quality press)
Mainstreamkino (popular cinema)
Programmkino (Art cinema)
Massenunterhaltung (popular entertainment)
Kunst (Art)
Hier wird der Bezug auf eine Kulturvorstellung deutlich, die nach Matthew Arnold »das Beste, was je auf der Welt gedacht und gesagt wurde« (1960: 6), darstellt. Nach Stuart Hall ist das Entscheidende jedoch weniger, dass sich bestimmte Formen von Populärkultur auf der ›kulturellen Leiter‹ auf oder ab bewegten; sehr viel wichtiger seien »die Kräfte und Beziehungen, die solche Unterscheidungen [zwischen Populär- und Hochkultur] aufrechterhalten« und somit »die Institutionen und institutionalisierten Prozesse, die nötig sind diese [Kategorien] zu erhalten und beständig die Unterschiede zwischen ihnen hervorzuheben« (2009a: 514; Übersetzung TK). Dies ist grundsätzlich die Funktion des Bildungssystems, das traditionell Selektion fördert. Eine dritte Möglichkeit definiert Populärkultur als ›Massenkultur‹. Diese Definition beruht stark auf der vorangegangenen und soll hier in ihren Grundbegriffen vorgestellt werden. Zu allererst wollen diejenigen, für die Populärkultur Massenkultur ist, Populärkultur als eine hoffnungslos profitorientierte Kultur bestimmen, die in Masse produziert dem Massenkonsum dient. Ihre Empfänger sind eine Masse differenzierungsunfähiger Konsumenten. Die Kultur selbst ist klischeehaft und manipulierbar (von der politischen Linken oder der Rechten, je nachdem, wer die Analyse vornimmt). Sie ist eine Kultur, die mit hirnloser Passivität konsumiert wird und zu hirnloser Passivität führt. Jedoch macht John Fiske deutlich, dass »zwischen 80 und 90 % neu eingeführter Produkte trotz ausführlicher Werbung am Markt scheitern […] und viele Filme an der Abendkasse nicht einmal ihre Werbekosten einspielen« (1989: 31; Übersetzung TK). Simon Frith (1983: 147) wiederum macht darauf aufmerksam, dass etwa 80% aller Platten ein Verlustgeschäft sind. Solche Statistiken stellen die Vorstellung von Konsum als automatisierter und passiver Aktivität doch sehr in Frage. 9 | Anmerkung TK: An der Bedeutungsverschiebung bei der Übersetzung der Begriffe zeigt sich die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Übertragung vom Englischen ins Deutsche besonders deutlich.
Was ist Populärkultur?
Diejenigen, die mit dem Ansatz der Massenkultur arbeiten, haben in der Regel ein vergangenes, goldenes Zeitalter vor Augen, in dem die kulturellen Gegebenheiten ganz anders waren. Sie treten für gewöhnlich in einer von zwei Spielarten auf: als verlorengegangene organische Gemeinschaft oder als untergegangene Kultur des ›Volkes‹. Fiske hingegen weist auf Folgendes hin: In kapitalistischen Gesellschaften gibt es keine sogenannte authentische ›Volkskultur‹, die als Maßstab für die mangelnde Authentizität der Massenkultur dienen könnte. Deshalb ist das Klagelied über den Verlust des Authentischen eine fruchtlose Übung in romantischer Nostalgie. (1989: 27; Übersetzung TK)
Das gleiche trifft auch auf die verloren gegangene organische Gemeinschaft zu. Die Frankfurter Schule dagegen verortet das Goldene Zeitalter nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Für einige Kulturkritiker, für die Massenkultur ein Paradigma darstellt, innerhalb dessen sie arbeiten, ist Massenkultur nicht nur eine aufoktroyierte, verarmte Kultur. Sie ist, klar bestimmbar, importierte amerikanische Kultur: »Falls die Populärkultur in ihrer modernen Gestalt überhaupt an einem Ort erfunden wurde, dann war dies […] in den Großstädten der Vereinigten Staaten, insbesondere in New York.« (Maltby 1989: 11, Hervorhebung JS; Übersetzung TK) Die Behauptung, dass Populärkultur identisch mit amerikanischer Kultur sei, geht auf eine lange Geschichte der theoretischen Auseinandersetzung mit Populärkultur zurück und lässt sich mit dem Begriff ›Amerikanisierung‹ fassen. Im Kern postuliert sie den Niedergang der britischen bzw. europäischen Kultur unter dem Homogenisierungsdruck der amerikanischen. Zwei Dinge lassen sich einigermaßen sicher über den Zusammenhang zwischen den Vereinigten Staaten und Populärkultur sagen. Zum einen hat Andrew Ross zufolge »Populärkultur […] in Amerika in sozialer und institutioneller Hinsicht schon länger und deutlich signifikanter eine zentrale Stellung eingenommen als in Europa« (1989: 7; Übersetzung TK). Zum anderen ist trotz der unumstrittenen weltweiten Verfügbarkeit der amerikanischen Kultur die Art und Weise, wie diese konsumiert wird, zumindest widersprüchlich. Es ist zutreffend, dass in den 1950er Jahren (einer der Schlüsselperioden der Amerikanisierung) für viele junge Menschen in Großbritannien die amerikanische Kultur eine Kraft der Befreiung aus den Zwängen des grauen, britischen Alltags bildete. Ebenso zutreffend ist es, dass die Furcht vor der Amerikanisierung eng mit einem Misstrauen gegenüber entstehenden Formen der Populärkultur verbunden ist, und zwar unabhängig von deren nationalem Ursprung. Auch hier gibt es politisch linke und rechte Argumentationsvarianten. Bedroht sind entweder die traditionellen Werte der Hochkultur oder die traditionellen Lebensgewohnheiten einer der Verführung ausgesetzten Arbeiterklasse. Darüber hinaus gibt es eine milde Form der Massenkulturperspektive, in der die Texte und Praktiken der Populärkultur als Ausdruck öffentlicher Fantasien gelesen werden. Populärkultur wird hier als eine kollektive Traumwelt verstan-
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den. Richard Maltby zufolge bietet Populärkultur einen »Eskapismus, der keine Ausflucht von etwas oder irgendwohin ermöglicht, sondern einen Eskapismus hin zu unserem utopischen Selbst« (1989: 14; Übersetzung TK). So gesehen, hätten etwa kulturelle Praktiken wie Weihnachten und der Urlaub an der See weitgehend die Funktion von Träumen: sie artikulieren, quasi verdeckt, kollektive (aber unterdrückte) Wünsche und Sehnsüchte. Wie Maltby zeigt, kann dies als eine milde Form der Kritik an der Massenkultur bezeichnet werden: Wenn es das Verbrechen der Populärkultur ist, unsere Träume zu verpacken und als Geschenkpaket an uns zurückverkaufen, dann ist es der Populärkultur gleichermaßen als Erfolg zuzuschreiben, dass sie uns eine größere Fülle unterschiedlicher Träume zur Verfügung stellt, als wir jemals gedacht hätten. (Ebd.; Übersetzung TK)
Obwohl er gewöhnlich nicht mit dem Ansatz der Massenkultur in Verbindung gebracht wird und sicher nicht die moralistische Attitüde teilt, sieht der Strukturalismus in der Massenkultur gleichwohl eine Art ideologischen Apparat, der mehr oder weniger mühelos die vorherrschenden Machtstrukturen reproduziert. Folglich werden Leser als in spezifischen ›Lesepositionen‹ gefangen gesehen, welche wenig Raum für Leseraktivität oder Widerspruch zum Text bieten. Die Forderung nach der Eröffnung eines kritischen Raums, in dem solche Fragen Platz haben, ist einer der Kritikpunkte des Poststrukturalismus am Strukturalismus. Eine vierte Definition behauptet, dass Populärkultur die Kultur ist, die ihren Ursprung vom ›Volk‹ nimmt. Sie lehnt jeden Ansatz ab, bei dem Populärkultur etwas dem ›Volk‹ von oben Auferlegtes ist. Folgt man dieser Definition, dann sollte der Begriff nur verwendet werden um die ›authentische‹ Kultur des ›Volkes‹ zu beschreiben. Populärkultur ist ›Volkskultur‹: eine Kultur vom Volk für das Volk. Diese Definition wird häufig »gleichgesetzt mit einem hochgradig romantischen Bild einer Kultur der Arbeiterklasse, das zugleich als eine Hauptquelle des symbolischen Protests gegen den zeitgenössischen Kapitalismus dient« (Bennett 1980: 27; Übersetzung TK). Ein Problem dieses Ansatzes besteht darin, dass fraglich ist, wer zur Kategorie ›Volk‹ gezählt werden kann. Dass dieser Ansatz weitgehend der Frage nach den kommerziellen Eigenschaften einer großen Anzahl der Quellen, aus denen die Populärkultur schöpft, ausweicht, stellt ein weiteres Problem dar. So sehr man auf diese Definition pochen mag, so sehr ist die Tatsache unausweichlich, dass die Menschen Kultur nicht spontan aus von ihnen selbst hergestellten Rohstoffen produzieren. Denn was immer Populärkultur sein mag, es ist sicher, dass ihre Ressourcen aus kommerziellen Gründen zur Verfügung gestellt werden. Dieser vierte Ansatz neigt dazu, den Konsequenzen dieser Tatsache aus dem Weg zu gehen. Besonders die kritische Analyse von Pop- und Rockmusik ist mit diesem Ansatz von Populärkultur überfrachtet. Auf einer Konferenz, an der ich teilnahm, behauptete jemand aus dem Publikum, dass die Firma Levi’s niemals einen Song von The Jam zur Werbung für ihre Produkte nutzen könnte. Auch die Tatsache, dass Levi’s schon einen Song von
Was ist Populärkultur?
The Clash benutzt hatte, konnte ihn von seiner Überzeugung nicht abbringen. Dies weist darauf hin, dass die Behauptung auf einem deutlichen Gefühl kultureller Differenz beruhte – Fernsehwerbung für Levi’s Jeans ist Massenkultur; die Musik von The Jam aber ist Populärkultur, die als widerständige Kultur des ›Volkes‹ definiert wird. Nur wenn sich The Jam an den Kommerz verkauften, wäre eine Verknüpfung der beiden möglich, könnten die beiden sich treffen. Da dies aber nicht geschehen würde, stünde für Levi’s außer Frage je einen Song von The Jam zu verwenden um ihre Produkte zu verkaufen. Trotzdem war dies schon The Clash widerfahren, einer Band mit sauberem politischen Leumund. Dieser festgefahrene Austausch von Argumenten wurde schließlich abgebrochen. Hätte man das Konzept der ›Hegemonie‹, wie sie in den Cultural Studies Verwendung findet, eingeführt, wäre die weitere Diskussion, um es vorsichtig auszudrücken, deutlich stärker angefacht worden. Eine fünfte Definition von Populärkultur beruht auf den politischen Analysen des italienischen Marxisten Antonio Gramsci, vor allem auf seiner Entwicklung des Hegemoniekonzepts. Gramsci verwendet den Begriff ›Hegemonie‹ um zu zeigen, wie dominante Gesellschaftsgruppen durch einen Prozesses »intellektueller und moralischer Führung« (1998: 1947) versuchen, die Zustimmung untergeordneter Gesellschaftsgruppen zu gewinnen. Hier will ich skizzieren, wie einige Kulturtheoretiker Gramscis politisches Konzept aufgriffen, um die Funktionsweise von Populärkultur zu erklären. Diejenigen, die diesen Ansatz wählen, betrachten Populärkultur als einen Kampfplatz zwischen dem ›Widerstand‹ untergeordneter Gruppen und den Mächten der ›Vereinnahmung‹, die im Interesse der dominanten Gruppen arbeiten. Damit wird Populärkultur weder zur aufoktroyierten Kultur der Massenkulturtheoretiker, noch wird sie zur von unten aufsteigenden, spontan oppositionellen Kultur des Volkes. Kultur wird hier vielmehr zum Feld des Austauschs und der Verhandlung zwischen beiden Seiten, ein Feld, das, wie bereits gesagt, durch Widerstand und Vereinnahmung gekennzeichnet ist. Die Texte und Praktiken der Populärkultur bewegen sich innerhalb dessen, was Gramsci als »Gleichgewicht des Kompromisses« (1996: 1567) bezeichnet – eine Balance, die zumeist nach den Interessen der Mächtigen gewichtet wird. Dieser Prozess ist historisch (einmal als Populärkultur, ein anderes Mal als ›eine andere Art Kultur‹ bezeichnet), aber er läuft auch synchron ab (indem er sich zu jedem beliebigen historischen Zeitpunkt zwischen Widerstand und Vereinnahmung bewegt). So fing beispielsweise der Urlaub an der See mit den Aristokraten an und wurde innerhalb von 100 Jahren zum Beispiel von Populärkultur. Der Film Noir begann als verunglimpftes Volkskino, nur um sich innerhalb von 30 Jahren zum Kunstkino zu entwickeln. Verallgemeinert formuliert sehen diejenigen, die Populärkultur aus dem Blickwinkel der Hegemonietheorie betrachten, diese als ein Feld ideologischer Auseinandersetzung zwischen dominanten und untergeordneten Klassen, zwischen dominanten und untergeordneten Kulturen. So erklärt Bennett:
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John Storey Das Feld der Populärkultur wird durch den Versuch der herrschenden Klasse strukturiert, die Hegemonie zu erlangen, und durch Formen der Opposition gegen dieses Unterfangen. Als solche besteht sie nicht bloß aus einer aufgezwungenen Massenkultur, die mit der dominanten Ideologie übereinstimmt, noch schlicht aus spontan entstandenen oppositionellen Kulturen. Vielmehr bildet sie einen Bereich der Verhandlung zwischen den beiden, innerhalb dessen – in unterschiedlichen spezifischen Typen der Populärkultur – dominante, untergeordnete oder widerständige Werte und Elemente in unterschiedlichen Permutationen vermischt sind. (2009: 85; Übersetzung TK)
Das Gleichgewicht des Kompromisses der Hegemonie kann auch dazu verwendet werden, verschiedene Konflikttypen in und jenseits der Populärkultur zu analysieren. Bennett hebt dabei zwar Klassenkonflikte hervor, aber die Hegemonietheorie kann auch dazu verwendet werden, Konflikte im Hinblick auf Ethnie, ›Rasse‹, Gender, Generation, Behinderung usw. auszuloten und zu erklären. All jene sind zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedliche Formen des kulturellen Kampfes gegen die homogenisierenden Kräfte der Inkorporation durch die offizielle oder dominante Kultur verwickelt. Der Schlüsselbegriff in dieser Art von Hegemonietheorie, insbesondere im Postmarxismus, ist der der ›Artikulation‹. ›Artikulation‹ wird hierbei im doppelten Sinn sowohl als das Herstellen einer zeitweiligen Verbindung als auch als deren Ausdruck verstanden. Populärkultur ist in den Worten Chantal Mouffes durch einen Prozess der »Disartikulation – Artikulation« (1981: 231; Übersetzung TK) gekennzeichnet. Der schon erwähnte Wahlwerbespot der Konservativen Partei mag als Beispiel für diesen Prozess dienen. In ihr wurde eine ›Disartikulation‹ des Sozialismus versucht als einer politischen Bewegung, die sich die wirtschaftliche, soziale und politische Emanzipation auf die Fahnen geschrieben hat. Stattdessen ›artikulierte‹ die Wahlsendung eine politische Bewegung als eine, die der individuellen Freiheit Fesseln anlegen will. Gleicher Maßen erkannte auch der Feminismus die Bedeutung des Kulturkampfes in dem umstrittenen Feld der Populärkultur. Feministische Verlage haben etwa Science Fiction, Krimis und Romanzen veröffentlicht. Solche kulturellen Interventionen bilden einen Versuch, populärkulturelle Artikulationen im Sinne feministischer Politik zu nutzen. Die Hegemonietheorie kann auch dazu verwendet werden, den Ort der Auseinandersetzung zwischen Widerstand und Inkorporation, wie er in vielen konkreten populärkulturellen Texten und Praktiken zu finden ist, auszumachen. So glaubt Raymond Williams, unterschiedliche Punkte innerhalb eines populären Texts oder einer Praxis bestimmen zu können – er nennt sie »dominant«, »emergent« und »residual« (1980: 38-42) –, von denen jeder den Text in eine unterschiedliche Richtung zerrt. So gesehen, besteht ein Text aus einer widersprüchlichen Mischung unterschiedlicher kultureller Kräfte. Wie diese Elemente artikuliert werden, wird zumindest teilweise von den jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Produktions- und Konsumptionsbedingungen abhängen. Stuart Hall nutzt die Erkenntnisse von Williams und entwickelt daraus eine Theorie der Lesepositionen: »dominant«, »verhandelt«
Was ist Populärkultur?
und »oppositionell« (1980: 136-138). David Morley wiederum hat das Modell modifiziert und um die Elemente Diskurs und Subjektivität ergänzt. Laut Morley ist Lesen eine Interaktion zwischen den Diskursen des Textes und den Diskursen des Lesers (1980: 158-162). Die Hegemonietheorie zeigt noch weitere Aspekte der Populärkultur auf. Es handelt sich hierbei um die These, dass die Theorien zur Populärkultur in Wirklichkeit Theorien zur Verfasstheit des ›Volkes‹ sind. So plädiert Stuart Hall (vgl. 2009a: 513) dafür, Populärkultur als umstrittenes Feld der politischen Konstruktion des ›Volkes‹ und seiner Beziehung zum Machtkartell zu betrachten. Bennett schreibt hierzu: Der Terminus ›Volk‹ bezieht sich weder auf eine Einzelperson noch auf eine einzelne gesellschaftliche Gruppe. Vielmehr bezieht er sich auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, die sie, auch wenn sie sich in anderer Hinsicht unterscheiden mögen (ihre Klassenposition oder die spezifischen Auseinandersetzungen, in denen sie sich unmittelbar befinden), von den ökonomisch, politisch und kulturell mächtigen Gruppen der Gesellschaft unterscheiden. Aufgrund der Differenz sind sie potentiell in der Lage vereinigt zu werden – organisiert als ›Volk gegen das Machtkartell‹ – unter der Voraussetzung, dass ihre getrennten Auseinandersetzungen vernetzt werden. (1986: 20; Übersetzung TK)
Das macht Populärkultur zur zutiefst politischen Größe. Populärkultur ist ein Ort, an dem die Konstruktion der Alltagslebens beobachtet werden kann. Die Pointe besteht darin, dass dies keine rein akademischen Übung ist, kein bloßer Versuch, einen Prozess oder eine Praxis zu verstehen. Populärkultur ist auch politisch, wenn es darum geht, die Machtverhältnisse unter die Lupe zu nehmen, die diese spezifische Form des Alltagslebens konstituieren und dadurch die Interessenkonstellationen aufzudecken, die diesen Machtverhältnisse nützen. (Turner 2003: 6; Übersetzung TK)
John Fiske wendet das Gramscische Hegemoniekonzept semiotisch an, wenn er, wie auch Paul Willis aus einer etwas anderen Perspektive, postuliert, dass Populärkultur das ist, was die Menschen aus den Produkten der Kulturindustrie machen. Massenkultur ist demnach das Repertoire; Populärkultur ist das, was die Menschen davon in der Praxis umsetzen, das heißt, was sie mit den Waren und den kommodifizierten Praktiken im Konsum tatsächlich tun. Eine sechste Definition von Populärkultur ist von neueren Überlegungen im Zusammenhang mit der Postmodernedebatte geprägt. Ich werde mich hier auf einige wesentliche Punkte der Debatte über das Verhältnis zwischen Postmoderne und Populärkultur beschränken. Worauf es dabei vor allem ankommt, ist die These, dass die postmoderne Kultur die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur nicht mehr anerkennt. Wie wir sehen werden, ist dies für einige ein Grund, das Ende der elitären Attitüde zu feiern, die auf der willkürlichen Unterscheidung von Kultur beruhe; für andere wiederum ist es ein Grund zur Ver-
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zweiflung über den Endsieg des Kommerzes über die Kultur. Als Beispiel dieser vermeintlich gegenseitigen Durchdringung von Kommerz und Kultur mag das Verhältnis zwischen Fernsehwerbung und Popmusik dienen (als postmoderner Verwischung der Unterscheidung von authentischer und kommerzieller Kultur). So gibt es beispielsweise eine wachsende Anzahl von Künstlern, deren Lieder nur deshalb die Charts stürmen, weil sie in Fernsehwerbungen genutzt werden. Eine der Fragen, die durch dieses Verhältnis entsteht, lautet: »Wird nun der Song oder wird das Produkt verkauft?«, und ich vermute, dass die naheliegende Antwort »beide« lautet. Darüber hinaus kann man CDs kaufen, die aus Songs bestehen, die durch den Einsatz in der Werbung erfolgreich oder auch wieder erfolgreich wurden. Hier können wir eine wunderbare Zirkularität beobachten: Songs werden zur Umsatzförderung von Produkten eingesetzt und die Tatsache, dass sie dies erfolgreich tun, trägt dann zum Verkauf der Songs bei. Die Kernfrage derjenigen, die weder Sympathie für die Postmoderne noch für das überschwängliche Theoretisieren einiger ihrer Vertreter hegen, lautet: »Was stellt ein solches Verhältnis mit der Kultur an?« Die politische Linke mag sich um die Wirkung auf widerständige Möglichkeiten der Populärkultur Sorgen machen. Die politische Rechte sorgt sich womöglich darum, was dies mit der Stellung der wahren Kultur macht. Dies hat zu einer nachhaltigen Debatte in den Cultural Studies geführt, bei der die Signifikanz der Populärkultur von zentraler Bedeutung ist. Abschließend ist Folgendes festzuhalten: Allen diesen Definitionen gemein ist die Betonung, dass, was auch immer Populärkultur sonst noch sein mag, sie sicher eine Kultur ist, die sich erst in Folge der industriellen Revolution und der Urbanisierung entwickelte. Raymond Williams schreibt dazu im Vorwort zu Culture and Society: Das Strukturprinzip dieses Buches wird von der Entdeckung getragen, dass sowohl die Idee von Kultur als auch das Wort in seiner allgemeinen modernen Bedeutung im englischen Denken in einer Zeit auftauchte, die wir gemeinhin als die der industrielle Revolution beschreiben. (1958: iii; Übersetzung TK )
Dies ist eine Definition von Kultur und Populärkultur, die auf der Existenz einer kapitalistischen Marktwirtschaft beruht. Sie lässt den Schluss zu, dass Großbritannien das erste Land war, das eine Populärkultur in dieser eng definierten historischen Bedeutung hervorgebracht hat. Es gibt andere Definitionen von Populärkultur, die nicht auf einer solch spezifischen Geschichte und diesen spezifischen Umständen beruhen. Es sind Definitionen, die sich außerhalb der hier diskutierten Bandbreite von Kulturtheoretikern und Kulturtheorien bewegen. Folgendes Argument unterstützt die hier verwendete Periodisierung von Populärkultur: Die Erfahrung von Industrialisierung und Urbanisierung veränderte die kulturellen Beziehungen innerhalb des Felds von Populärkultur grundlegend. Vor der Industrialisierung und Urbanisierung fanden sich in Großbritannien zwei Kulturen: eine allgemeine Kultur, die mehr oder weniger von allen Klassen geteilt wurde,
Was ist Populärkultur?
und eine Elitekultur, die von einem Teil der dominanten gesellschaftlichen Klassen produziert und konsumiert wurde (vgl. Burke 1994, Storey 2003). In Folge der Industrialisierung und Urbanisierung geschahen drei Dinge, die zusammen die Neukartierung der kulturellen Landkarte bewirkten. Zuallererst veränderte die industrielle Revolution das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Das Verhältnis gegenseitiger Verpflichtungen veränderte sich hin zu einem Verhältnis, das ausschließlich auf den Forderungen des, wie es Thomas Carlyle nennt, »Cash Nexus« beruhte (zitiert nach Morris 1979: 22). Zum zweiten verursachte die Urbanisierung eine Trennung der Wohngebiete nach Klassen. Zum ersten Mal in der britischen Geschichte wurden ganze Stadtviertel nur noch von Männern und Frauen aus der Arbeiterschaft bewohnt. Zum dritten ermutigte die durch die Französische Revolution ausgelöste Panik – und die Furcht, dass die Revolution nach Großbritannien importiert würde – eine Reihe von Regierungen zu einer Anzahl von unterschiedlicher Maßnahmen zur Unterdrückung des Radikalismus. Zwar wurden weder Radikalismus noch die Gewerkschaftsbewegung zerstört, jedoch wurden sie in den Untergrund getrieben und damit der Einflussnahme und Kontrolle der Mittelklasse entzogen. Diese drei Faktoren gemeinsam trugen zur Bildung eines kulturellen Raums bei, der sich jenseits der paternalistischen Sphäre der früheren gemeinsamen Kultur befand. Als Ergebnis wuchs ein kultureller Raum heran, der die Entstehung einer Populärkultur mehr oder weniger außerhalb der Kontrolle der dominanten Klasse ermöglichte. Wie dieser Raum entstand, war Gegenstand einiger Kontroversen unter den Gründungsvätern des so genannten Kulturalismus. Was auch immer der Inhalt der Kontroversen gewesen sein mag, die Ängste, die durch diesen neuen kulturellen Raum ausgelöst wurden, waren direkt für die Entstehung des Culture and Civilization-Ansatzes der Populärkultur verantwortlich.
P opul ärkulur T
als das
A ndere
Mittlerweile sollte deutlich geworden sein, dass der Begriff ›Populärkultur‹ definitorisch keineswegs so klar ist, wie ursprünglich angenommen. Ein Großteil der Schwierigkeit entsteht durch das abwesende Andere, das in jeder von uns benutzten Definition herumspukt. Nie reicht es aus, von Populärkultur zu sprechen; immer müssen wir das zur Kenntnis nehmen, was mit ihr kontrastiert wird. Welches Andere zur Populärkultur wir auch in Anschlag bringen mögen – Massenkultur, Hochkultur, die Kultur der Arbeiterklasse, Volkskultur usw.–, es wird sich auf die Definition von Populärkultur mit einem spezifisch theoretischen und politischen Akzent auswirken. Bennett deutet an, es gebe »keine eindeutige oder richtige Problemlösung; nur eine Reihe unterschiedlicher Lösungen mit je unterschiedlichen Implikationen und Auswirkungen« (1982: 86; Übersetzung TK). Deshalb entstehen ebenso viele Probleme wie es Lösungen bei der komplexen Beschäftigung der Kulturtheorie mit der Populärkultur gibt. So ist es etwa ein
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langer Weg von Matthew Arnolds Sichtweise der Populärkultur als Anarchie zu Dick Hebdiges These: »Im Westen ist Populärkultur nicht mehr marginal und noch viel weniger im Untergrund. Meistens und für die meisten Leute ist sie schlicht Kultur.« (1988: 32; Übersetzung TK) Oder, wie Geoffrey Nowell-Smith bemerkt: »Populärkulturelle Formen haben sich so sehr in Richtung Zentrum des britischen Kulturlebens bewegt, dass heutzutage die Existenz einer klar getrennten Populärkultur, die in Opposition zur Hochkultur stünde, bezweifelt werden muss.« (1987: 80; Übersetzung TK) Äußerungen wie diese verstärken nur die Notwendigkeit, das Verständnis des Bedeutungsspektrums von Populärkultur theoretisch zu fassen.
Te x tuelle B edeutung
und
K onte x t
Zu Beginn habe ich Folgendes über die Schwierigkeiten einer Definition von Populärkultur geschrieben: Ich vermute, der bleibende Eindruck meines Arguments auf die Leser wird sein, dass Populärkultur faktisch eine leere begriffliche Kategorie ist, die mit einer Vielzahl an widerstreitendenden Inhalten gefüllt werden kann, die ihrerseits vom jeweiligen Kontext ihrer Benutzung abhängen.
Entsprechend dieser These ist der Kontext immer entscheidend für das Verständnis einer Bedeutung. Aber was ist das, Kontext? Das Wort ›Kontext‹ findet sich im Englischen ab dem späten 15. Jahrhundert und leitet sich aus dem Lateinischen contextus, etwas zusammenfügen, und vom Verb contextere, im Sinne von verweben, zusammenweben, ab. Das Wissen um die Wurzeln trägt zum Verständnis der heutigen Bedeutung bei. Erstens sind Kontexte andere Texte, die die Bedeutung eines bestimmten Textes vollständig erschließen. Diese anderen Texte fügen sich mit dem betreffenden Text zur Produktion von Bedeutung zusammen. Wenn man beispielsweise im Laufe einer Unterhaltung das Wort ›das‹ verwenden, wird das, was man damit meint, nur verständlich, wenn man einen Kontext erstellt, in dessen Zusammenhang der Bezug dieses Wortes angegeben wird. Wenn eine Studentin sagt: »Das ist ein schwieriges Buch«, wird die ganze Bedeutung nur dann sinnvoll, wenn sie erklärt, dass sie von Karl Marx’ Das Kapital spricht. ›Das‹ und Das Kapital fügen sich zusammen und verdeutlichen damit die intendierte Meinung. Wir sollten uns Kontexte jedoch nicht nur als Texte, die sich mit anderen Texten verbinden, vorstellen. Denn wenn wir einen Text zu entschlüsseln versuchen, bringen wir immer eine Anzahl von Vorannahmen ein, die einen Rahmen für unsere Analyse bilden. Diese Vorannahmen helfen uns, einen spezifischen Kontext für unser Verständnis des Textes zu konstruieren – sie werden mit dem zu analysierenden Text verwoben. So müssen wir etwa, um Bram Stokers Roman Dracula (1897) im
Was ist Populärkultur?
Kontext der Frage der ›New Woman‹ verstehen zu können, das Buch in den Kontext seiner ersten Auflage stellen. Mit dieser Kontextualisierung würde es uns ermöglicht, den Roman in einem sehr spezifischen Licht zu lesen. Wenn wir dagegen die Psychoanalyse oder den Feminismus zur Interpretation des Romans heranziehen, erzeugt diese Analysemethode den Kontext für unser Verständnis des Romans. In diesen Beispielen wird Dracula in Beziehung zu anderen Texten artikuliert, die ihrerseits durch eine spezifische historische und theoretische Perspektive getragen sind. Anders formuliert, wird der Roman im Kontext unserer Analyse ganz unterschiedlich erscheinen, je nachdem, ob der Kontext unserer Analyse die theoretischen Axiome des Feminismus oder der Psychoanalyse sind, oder unsere Annahmen über die historischen Umstände zur Zeit der ersten Auflage des Buches. So gesehen, sind Kontexte sowohl Ko-Texte eines Textes (die Texte, die wir mit einem bestimmten Text verknüpfen) als auch Inter-Texte, die an den Text durch einen Leser/ eine Leserin herangetragen werden (die Texte, die wir mit einem bestimmten Text verweben um ihn vollkommen zu verstehen). Die erste Art Kontext ist eine Erweiterung des betreffenden Textes und die zweite Art Kontext ist etwas, das zur Konstruktion eines neuen Verständnisses des Textes beiträgt. Zum Beispiel ist Marx’ Kapital ein Ko-Text, der das, was die Studierende mir erzählt, vervollständigt, wohingegen der Feminismus ein Corpus von Intertexten darstellt, welches dazu benutzt werden kann, einen Rahmen für ein bestimmtes Verständnis von Dracula herzustellen. Auf eine andere Art und Weise das auszudrücken, was ich über Texte und Kontexte gesagt habe, heißt schlicht zu postulieren, dass Texten keine intrinsische Bedeutung besitzen; Bedeutung ist etwas, das ein Text in einem spezifischen Kontext erwirbt. Anders formuliert, gibt es keinen ›Text an und für sich‹, einer, der nicht von einem Kontext und durch Leseraktivität gestört wäre: Texte werden immer in Bezug zu anderen Texten gelesen und verstanden. Immer aber ist ein Kontext eine nur vorläufige Festlegung von Bedeutung, denn so wie Kontext sich verändern, so verändern sich auch Bedeutungen. Wir mögen das Wort ›das‹ im Verlauf des Tages häufig verwenden, und in jedem einzelnen Fall mag das, worauf es sich bezieht – womit es ›verwoben‹ wird –, verschieden sein. Die Studentin, die mir sagte, dass »das ein schwieriges Buch« sei, würde die Bedeutung des Wortes ›das‹ verändern, wenn sie mir mitteilt, sie rede über Marxism and Literature von Raymond Williams oder über Pierre Machereys A Theory of Literary Production. In jedem dieser Fälle würde ›das‹ etwas ganz anderes bedeuten. Als weiteres Beispiel mag der Union Jack, die Flagge des Vereinigten Königreichs, dienen. Er kann sehr verschiedene Dinge in unterschiedlichen Kontexten bedeuten. Wenn die Flagge über einem Außenposten in den Kolonien weht, wird sie entweder auf den Imperialismus oder eine zivilisatorische Mission verweisen; auf dem Sarg eines toten Soldaten wird sie möglicherweise Ehre und Tapferkeit oder den sinnlosen Verlust eines Menschenlebens bedeuten; wenn sie von Mods oder Post-Mods und solchen, die mit Brit-Pop in Verbindung gebracht werden, getragen wird, bedeutet sie ›cool Britannia‹; auf einer politischen Demonstration zur
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Schau gestellt verweist sie für gewöhnlich auf rechtsgerichtete Politik, wohingegen sie über die Schultern eines Athleten geworfen, der gerade eine olympisches Medaille gewonnen hat, eine national wichtige sportliche Leistung bedeutet; wenn sie in einem anderen Land verbrannt wird, demonstriert sie die Ablehnung der britischen Außenpolitik. Die Bedeutung der Flagge ist also immer kontextabhängig; sie verändert sich, je nachdem in welchem unterschiedlichen Kontext sie erscheint. Texte, die Kontexte konstituieren, können alles sein, was Bedeutung ermöglicht und einschränkt. So ist zum Beispiel Fernsehen selten mit der Lektüre eines Buches gleichzusetzen. Wir lesen schweigend, wenn wir uns auf die Wörter auf der Seite konzentrieren, wohingegen wir häufig essen, trinken, uns unterhalten, mit den Kindern spielen, aufräumen und vieles mehr tun, während wir fernsehen. Dies ist der Kontext unserer Fernsehgewohnheiten und, solange wir diesen Kontext nicht ernsthaft mitbedenken, werden wir nicht recht verstehen, was Fernsehen bedeutet. Natürlich sollten wir uns einen Kontext nicht fixiert und festgelegt vorstellen, etwas, das passiv nur darauf wartet mit einem bestimmten Text verknüpft zu werden. Denn in gleichem Maße, in der ein Kontext die Bedeutung eines Textes ermöglicht und einschränkt, ermöglicht ein Text den Sinn des Kontexts oder schränkt ihn ein; es liegt hier zugleich eine aktive und interaktive Beziehung vor. So veränderte etwa die Beschäftigung des Feminismus mit Dracula die Aussage des Romans, so wie umgekehrt die Beschäftigung mit dem Roman das modifiziert, was als Feminismus gilt. Ähnliches gilt im dem Fall, wenn wir Dracula in seiner ursprünglichen historische Umgebung positionieren. Dann nämlich ändert sich unser Blick auf die konkrete historische Periode, in der der Roman erschienen ist. Gleichermaßen ändern unsere Fernsehgewohnheiten unsere Ess-, Trink-, Plaudergewohnheiten, wie wir mit unseren Kindern spielen oder wie wir aufräumen. Zum Schluss dieser kurzen Diskussion von Kontext soll festgehalten werden: wir verstehen Dinge in Kontexten; wir erzeugen auch Kontexte durch unsere Arten des Verstehens, und Kontexte verändern sich als Folge davon, dass wir sie mit bestimmten Texten verweben. Die Anzahl von Kontexten zu Texten ist potentiell unendlich.
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Populärkultur – Popular Culture Terminologische und disziplinäre Überlegungen Thomas Kühn ›Populärkultur‹ als Begriff wurde in seiner Geschichte ebenso wie der Begriff ›Kultur‹ immer über Kontrastbegriffe definiert (vgl. Lentz 2013: 125). Stets schwingt das mit, was Populärkultur nicht ist. John Storey zufolge ist dieses Andere konstitutiv für Populärkultur: »Welches Andere zur Populärkultur wir auch in Anschlag bringen mögen – Massenkultur, Hochkultur, die Kultur der Arbeiterklasse, Volkskultur usw. –, es wird sich auf die Definition von Populärkultur mit einem spezifisch theoretischen und politischen Akzent auswirken.« (Storey in diesem Band; vgl. Shiach 2005: 60) Populärkultur wie Kultur finden somit nicht zuletzt als Abgrenzungsbegriffe Verwendung, bei denen stets das jeweils Andere mitzudenken ist. Dieser Umstand trifft auf die Begriffsreflektion in der eigenen Sprache, in diesem Fall dem Deutschen, zu. Zugleich weist das Andere dann weitere Dimensionen auf, wenn die Frage der Übertragung von einer Sprache in eine andere gestellt wird, wie es im vorliegenden Fall vom englischen ›popular culture‹ ins deutsche ›Populärkultur‹ und der Wechselwirkung bei der Übertragung geschehen soll. Dann nämlich werden zusätzliche, sich überschneidende und differierende, nationalspezifisch semantische Felder aufgerufen. Darüber hinaus kommen institutionelle und politische Bezüge, in denen die fraglichen Begriffe Verwendung finden, ins Spiel (vgl. für die deutsche Ethnologie Lentz 2013). Dass schon die wörtliche Transformation keineswegs unkompliziert ist, wird deutlich, wenn der englische Begriff ›popular culture‹ scheinbar naiv ins Deutsche übersetzt werden soll. Denn die scheinbar naheliegende Lösung ›Populärkultur‹ ist zu schlicht, um die zahlreichen damit verbundenen Bedeutungsnuancen zu berücksichtigen; Bezüge zu ›Volk‹, ›volkstümlich‹, auch das hochproblematische ›völkisch‹ würden bei einer solchen Übersetzung schlichtweg unter den Tisch fallen. Wenn im Folgenden sprachvergleichend die englischen und deutschen Begriffe ›culture‹, ›Kultur‹, ›popular‹ und ›populär‹ diskutiert werden, muss zugleich die Debatte akademischer Disziplinen, in denen diese Termini von zentraler Bedeutung sind, berücksichtigt werden. Das Ziel der folgenden Überlegungen ist es zu zeigen, dass es sich bei ›Populärkultur‹ um eine Entwicklung handelt, die in
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ihrer jeweiligen historischen Aktualisierung als kontextualisierte Repräsentation von Populärkultur interpretiert werden kann. Damit ist die Geschichte der akademischen Disziplinen verbunden, die sich mit popular culture befassen, wobei der Fokus auf die Cultural Studies und – für den deutschsprachigen Bereich – die Volkskunde beziehungsweise ihre Nachfolger zu richten ist. ›Populärkultur‹ als deutscher Terminus ist verhältnismäßig jung und leitet sich letztlich vom englischen bzw. amerikanischen ›popular culture‹ ab (vgl. Hecken 2009: 196). Im heutigen Deutsch lässt sich der Begriff ›popular culture‹ nicht zuletzt im Zusammenhang der Auseinandersetzungen des kulturellen Wandels der Nachkriegszeit – vor allem – Westdeutschlands ab den 1950er Jahren bis hin zur Jahrtausendwende deuten. Die beiden Teile des Kompositums, nämlich ›populär‹ und ›Kultur‹, um die es im Folgenden zunächst gehen wird, sind indes deutlich älter. Doch auch ihre Geschichte soll als Beziehungsgeschichte zwischen dem Englischen ›culture‹ und ›popular‹ und dem Deutschen gedeutet werden.
D imensionen
von
P opul ärkultur
Wesentliche Dimensionen des Begriffs ›Populärkultur‹ diskutiert John Storey in diesem Band, wobei er, von Raymond Williams ausgehend, sechs Definitionen entwickelt, die sich mehr oder weniger unproblematisch ins Deutsche übertragen lassen.1 Produktive Spannungen, die bei der Übertragung von einer Sprachtradition in die andere auftreten, werden bei Storey selbst höchstens ansatzweise bedacht. Im Folgenden soll nun auf der Grundlage von Storey mittels eines Sprachvergleichs das Profil von Populärkultur sowohl differenziert wie geschärft werden. So sehr scheint einem ironisch-verzweifelten Raymond Williams der von ihm selbst so intensiv diskutierte ›culture‹-Begriff verfolgt zu haben, dass er ausrufen konnte: »I don’t know how many times I’ve wished that I’d never heard the damned word.« (1979: 154) Eine zentrale Problematik des englischen ›culture‹-Begriffs, die auch die Diskussion des deutschen Kulturbegriffs, vor allem aber die Begriffe ›popular culture‹ und ›Populärkultur‹ wesentlich prägt, ist die Unterscheidung von Hochkultur und popular culture. Selbst in der jüngeren Diskussion ist, wenn auch in den letzten Jahren mit abnehmender Tendenz, eine Spannung zwischen der Idee von Kultur als Hochkultur und anderen Formen der Kultur, insbesondere der Populärkultur, zu verzeichnen. Aleida Assmanns Einführung in die Kulturwissenschaft: Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen (2006) ist dafür ein gutes Beispiel, das durch die 2012 erschienene Übersetzung noch prägnanter sichtbar wird. Mitunter überraschend, geht es stets und immer noch um einen vielschichtigen, umstrittenen Kulturbegriff, der im Spannungsfeld zwischen Kultur als alle 1 | Wie es die Übersetzung von Storey in diesem Band aufzeigt.
Populärkultur – Popular Culture
Lebensvollzüge umfassendem »whole way of life« (Eliot 1948: 14, Williams [1958] 1990: xvi) und Kultur als Hochkultur der Eliten, der Wenigen ausgehandelt wird (vgl. Storey 2015: 2, Bennett 2005: 63-65). John Storeys sechs Definitionen von popular culture sind dafür ebenfalls gute Beispiele. Eine erste Definition ist weitgehend quantitativ und sieht als Populärkultur die Kultur an, »die sehr beliebt ist und von vielen Menschen gemocht wird« (Storey 2015: 5). Ein zweiter Zugang zu Populärkultur beschreibt diese als Residualkategorie, als Kultur der Masse und des Kommerzes, als die Kultur, »die übrigbleibt, nachdem wir Hochkultur definiert haben, […] die als solche alle Texte und Praktiken aufnimmt, die die notwendigen Standards der Hochkultur verfehlen« (ebd. 5-6). Der dritten Definition zufolge ist Populärkultur – häufig amerikanisierte – Massenkultur. Diese Vorstellungen sind von der der Frankfurter Schule geprägt, die dafür den Begriff der Kulturindustrie verwendet (vgl. Schrage in diesem Band). Dieser Definition zufolge ist »Populärkultur eine hoffnungslos profitorientierte Kultur, die in Masse produziert dem Massenkonsum dient. Ihre Empfänger sind eine Masse differenzierungsunfähiger Konsumenten« (Storey 2015: 6). Folgt man der vierten Definition von Populärkultur, nimmt diese »ihren Ursprung vom ›Volk‹. Sie lehnt den Ansatz ab, bei dem Populärkultur etwas dem ›Volk‹ von oben auferlegtes ist« (ebd. 9). Dieser Ansatz wird uns im Folgenden im Bezug auf Deutschland und der dortigen Herausbildung akademischer Disziplinen noch weiter beschäftigen. In der fünften Definition sind Antonio Gramscis Überlegungen zur Hegemonie zentral. Diejenigen, die diesen Ansatz wählen, betrachten Populärkultur als einen Kampfplatz zwischen dem ›Widerstand‹ untergeordneter Gruppen und den Mächten der ›Vereinnahmung‹, die im Interesse der dominanten Gruppen arbeiten. […] Kultur wird […] zum Feld des Austauschs und der Verhandlung […], das […] durch Widerstand und Vereinnahmung gekennzeichnet ist. (Ebd., Übersetzung TK)
Schließlich bildet die Weigerung von Vertretern der Postmoderne, überhaupt eine Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur zu treffen, die Grundlage der sechsten Definition. Durch die Annahme, dass Kommerz und Kultur sich gegenseitig durchdringen, wird die in allen anderen Definition zumindest latent vorhandene Unterscheidung als obsolet angesehen; Populärkultur löst sich in Kultur auf, Kultur ist Populärkultur (vgl. ebd.). Bilden die sechs Definitionen von Populärkultur eine gute Grundlage, so sind für einen kulturvergleichenden Ansatz noch weitere Überlegungen angebracht, wie das folgende Beispiel aus einer historischen Perspektive verdeutlicht.
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Dass Kultur auch als Differenzbegriff mit politischer Schlagkraft eingesetzt werden kann, zeigt ein Beispiel aus dem Bereich der Kriegspropaganda. Darin verweist das amerikanische Rekrutierungsposter aus dem Jahr 1918, also der Zeit des Ersten Weltkriegs, darauf, dass auch ein Begriff wie ›Kultur‹ in der Gegenüberstellung zu seinem englischen Äquivalent als politisch wirksame Waffe erkannt und auch benutzt wird. Denn auf dem Plakat wird der deutsche Begriff ›Kultur‹ kontrastiert zur Leerstelle eines ungenannten Antonyms, das culture oder civilisation heißen könnte. Gegen diese als Kultur verbrämte Barbarei sollen Rekruten motiviert werden, sich zur Armee melden und in den Krieg ziehen. Die Überschrift des Posters mit »Destroy this mad brute« und die Aufforderung »Enlist« am unteren Rand zusammen mit dem nicht deutlich zu lesenden, unterlegten »US Army 66 Market St« benennen das Ziel der Propaganda, Soldaten gegen die deutschen Barbaren zu rekrutieren. Das Plakat wird dominiert von einem an einen Gorilla erinnerndes Monster, das einem Gewässer, möglicherweise dem Atlantik, entsteigt. Im Hintergrund, am jenseitigen Ufer des Wassers, sind unscharfe Konturen zu sehen; es könnte sich um Ruinen handeln, die die Deutschen verursacht haben. Kennzeichnende Elemente der als deutschen, dunklen, wilden Primaten dargestellten Bestie sind eine Pickelhaube, die mit »militarism« überschrieben ist, und ein Schnurrbart in Kaiser-Wilhelm-Manier. In seinem linken Arm trägt er – die Abbildung 1: Destroy this mad brute männliche Zuschreibung erfolgt suggestiv – eine barbusige weiße Frau in wallendem Gewand in hilflos pathetischer Opfergeste. Das für unsere Zwecke wichtigste Attribut ist eine blutbesudelte Keule, die das Monster in seiner rechten Hand hält und die mit dem deutschen Wort »Kultur« beschriftet ist. ›Kultur‹ wird somit Teil und Accessoire eines verabscheuungswürdigen, monströsen deutschen Kriegsgegners; es wird zum Schlüsselwort im Kampf zwischen deutscher Kultur und der Zivilisation der westlichen Demokratien. Diese Interpretation wird durch die folgenden zwei Umstände gestärkt. In der französischen, britischen und amerikanischen Propaganda des Ersten Weltkriegs werden während des gesamten Krieges die Barbarei und Kriegsverbrechen der deutschen Armeen vor allem gegen die Zivilbevölkerung bei der Eroberung
Populärkultur – Popular Culture
Belgiens, insbesondere Lüttichs, hervorgehoben. Belgien und seine Bevölkerung werden als durch die deutschen Barbaren vergewaltigte Jungfrau, als ›poor little Belgium‹ dargestellt und die Zerstörung der Universitätsbibliothek Löwens mit unzähligen wertvollen Dokumenten als Akt höchster kultureller Schändung. Gegen diese bereits früh erhobenen massiven Vorwürfe – dies als zweiter Umstand – hatten sich zahlreiche deutsche Intellektuelle im sogenannten Manifest der 93 im Oktober 1914 verwahrt (vgl. vom Brocke 1914). Ein wesentliches Argument des Manifests war, dass der Krieg zur Verteidigung der deutschen Kultur geführt würde und das deutsche Militär keineswegs militaristisch sei, sondern untrennbarer Teil der deutschen Kultur. Militärische Gräueltaten geschähen allenfalls in Notwehr. Im populärkulturellen Medium Poster wird der Begriff ›Kultur‹ nun aus amerikanischer Perspektive zum propagandistisch verwerteten Kennzeichen, zum Requisit des barbarischen Feindes, zum Gegenbegriff in der kriegerischen Auseinandersetzung mit Worten und Bildern, ohne dass der Gegenbegriff der Zuschreibung Kultur selbst genannt würde. Es bleibt unausgesprochen, wofür diejenigen einstehen sollen, die rekrutiert werden; klar ist hingegen, wogegen sie kämpfen sollen. Das Plakat selbst ist Teil der Populärkultur, da es auf die Rezeption durch die – männlichen – Massen, die Vielen, zielt, für die es gilt, in Scharen gegen den blutrünstigen Feind Deutschland ins Feld zu ziehen. Damit wir im Plakat eine doppelte Zuweisung des Anderen vorgenommen und miteinander verschränkt. Aus der amerikanischen Perspektive des Propagandaposters wird die deutsche Kultur zum Werkzeug des verabscheuungswürdigen, militaristischen Anderen, das sich gegen die zivilisatorischen Errungenschaften des liberalen Westens wendet. Kultur wird sozusagen geografisch verortet. Zugleich wird der Begriff ›Kultur‹ in seiner deutschen Verwendung im Plakat als das bedrohliche Fremde gegen die eigene culture oder civilization, die es zu verteidigen gilt, aufgerufen. Kehren wir vom historischen Beispiel, in dem Kultur bzw. implizit culture nicht nur als sprachliche sondern auch nationale Gegensätze markiert werden, zurück zur Populärkultur und deren Derivaten und ihren nationalen Differenzen.
P opular , P opular C ulture , C ultural S tudies In noch stärkerem Ausmaß als in Falle des Kulturbegriffs, lässt sich das vom Substantiv abgeleitete Adjektiv ›populär‹ mit Hilfe von Inklusions- und Exklusions- bzw. Abgrenzungsstrukturen beschreiben. Dies soll mit Hilfe des englischen Adjektivs popular geschehen, allerdings über einen kurzen Umweg zur amerikanischen Spezifik, der die Stoßrichtung des Propagandaplakats weiter erhellen und die Differenz zum englischen Gebrauch von popular verdeutlichen soll.
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Im Jahr 1993 fragte sich eine Arbeitsgruppe zu The European Perception of American Mass Culture am Netherlands Institute for Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences (NIAS), was American Mass Culture sei. Funktional gesehen konstruierte die Arbeitsgruppe aus einer – selbstkritischen und zugleich homogenisierten – europäischen Perspektive somit American Mass Culture als das Andere der europäischen Kultur (vgl. Ellwood et al. 1993). Den umgekehrten Weg beschritt Berndt Ostendorf, als er aus amerikanistischer beziehungsweise amerikanischer Warte im Jahr 2001 die Spezifik des ›popular culture‹-Begriffs als das Andere und somit als Gegenstück zur europäischen Kultur beschrieb und in diesen Zusammenhang einzelne unterschiedliche europäische Kulturen allenfalls kurz und recht pauschal streifte. Ostendorf zufolge entwickelte sich die amerikanische popular culture schon früh als demokratisches Gegenstück zu einer das Populäre als volkstümlich, das einfache Volk verachtenden europäischen Tradition. Ostendorf homogenisierte dabei die Vielfalt der europäischen Kulturen mit dem Ziel, die Eigenheit des amerikanischen Wegs hervorzuheben (Ostendorf 2001: 341). Das Beispiel des Plakats lässt sich insofern im Kontext der von Ostendorf beschriebenen amerikanischen Tradition deuten, als diese Tradition im Ersten Weltkrieg von allen Westalliierten aufgegriffen und als gemeinsamer Wert der Demokratie und der Freiheit gegen die Deutsche Kulturkeule propagandistisch eingesetzt wurde. Im Falle des Posters läge somit eine Homogenisierung vor mit der Absicht, ein Anderes – nämlich den deutschen Militarismus – als das Gegenteil dessen zu entlarven, als was es selbst auftritt, nämlich der Vertreter von Kultur zu sein. Das Plakat indes spielt bei Ostendorf keine Rolle. Vielmehr geht es Ostendorf um einen Vergleich Großbritannien - USA. Und hier postuliert er einen allzu klaren Gegensatz zwischen einer positiv konnotierten amerikanischen popular culture und einer die popular culture als minderwertig ablehnenden englischen Tradition, wobei er Großbritannien hin zu Europa insgesamt erweitert. Morag Shiach dagegen beschreibt mit Blick auf England bzw. Großbritannien die Entwicklung von ›popular‹ vom 16. bis ins späte 20. Jahrhundert als äußerst vielschichtig, häufig umstritten und von diversen (kultur)politischen Überzeugungen instrumentalisiert (vgl. Shiach 2005). Mit Hilfe des Oxford English Dictionary kennzeichnet Shiach die Bedeutung von ›popular‹ zunächst als Rechtsbegriff mit einer frühen Nennung aus dem Jahr 1579 als »equation of the interests of the people with the interests of the state« (2005: 56). Dies sei zugleich als Versuch zu deuten, die Allgemeingültigkeit des Begriffs ›the people‹ in Überstimmung zu bringen mit der Absicht, dem Volk seine Grenzen gegenüber der politischen Macht aufzuzeigen (ebd. 57). Zudem werde ›popular‹ auf eine soziale Schicht bezogen und bezeichne die Eigenschaften des niederen Volks, des Pöbels (vgl. ebd.). Beide skizzierten Bedeutungen fänden sich in Abwandlungen bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus. Sie bezeichneten einerseits das Volkstümliche, Beliebte als Ausdruck des Geistes eines Volks und andererseits verwiesen sie darauf, dass Waren der Industriegesellschaften
Populärkultur – Popular Culture
allgemein und der Kulturindustrie im Besonderen als massenhaft Reproduziertes popular und somit von – allenfalls – geringem Wert seien. Sie seien, von der Kulturindustrie erzeugt, den sozial niederen, gewöhnlichen, ignoranten Schichten aufoktroyiert und würden von diesen stumpf konsumiert.2 Einmal mehr wird hier klar, dass ›popular‹ als Gegensatzbegriff Verwendung findet. Dies wird auch deutlich, wenn die Betrachterperspektive ins Spiel gebracht wird. Shiach macht nämlich auf die Distanznahme eines – in der Regel intellektuellen – Beschreibenden aufmerksam, der popular als das jeweils Andere fasst und bei Bedarf zurückweisen kann. Damit werde popular als Antonym in einem hegemonialen Kulturdiskurs funktionalisiert. Spezieller, problematischer und umstrittener wird popular als Gegensatz zu einem Anderen im 20. Jahrhundert, für das Shiach zusätzlich zum soeben beschriebenen Bedeutungsspektrum eine eher positive Indienstnahme und zugleich politisierte Bedeutung von ›popular‹ ausmacht, wie sie etwa in Bezeichnungen wie ›popular front‹ aufscheint. Diese Entwicklung führe weiterhin zu einer Umdeutung bzw. Bedeutungserweiterung des Begriffs.3 Beim Blick in neuere Wörterbücher der letzten 10 bis 20 Jahre kommt Shiach zu dem Befund, dass der Bezug zu the people durch den auf the general public, also die Allgemeinheit, Öffentlichkeit ersetzt und somit seines kontroversen, spannungsreichen Potenzials weitgehend beraubt worden sei. Dies sei als Versuch einer Entpolitisierung des Begriffs zu deuten, als Reduzierung des Bedeutungsspektrums eines Diskurses weg von der Auseinandersetzung um gesellschaftliche Macht und hin zu einer Individualisierung (vgl. Shiach 2005: 61-62). An diesem Punkt kommt der zweite Terminus des Kompositums ins Spiel und die Bezugsdisziplin Cultural Studies, ohne die die Geschichte von popular culture der letzten 50 Jahre im englischen Sprachraum kaum denkbar ist. In der Einleitung zu dem vierbändigen Quellenband Popular Culture schreibt Michael Pickering aus der Perspektive der British Cultural Studies: All we can say, perhaps, is that ›the people‹ is not a category that precedes cultural forms and practices. Rather, it is a product of cultural forms and practices, and so dependent on representation, with either popular culture producing the people, or with popular culture and the people always existing in a contingent, transactional relationship. (2010: xxxi)
2 | Diese Bedeutung von ›popular culture‹ ist von der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers geprägt und entspricht in etwa Storeys Definition drei. 3 | Shiach beschränkt diese politisierte Bedeutung des Begriffs auf das 20. Jahrhundert. Aber auch schon spätestens im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ist diese Verwendung verbreitet, etwa wenn das in der People’s Charter deutlich werdende Selbstbewusstsein, für › the people‹ zu sprechen, sie zu repräsentieren, als popular im oben beschriebenen Sinn zu verstehen ist.
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In der Verwendung des Begriffs durch Pickering wird der Anspruch sichtbar, ›popular culture‹ als Repräsentation von ›the people‹ zu fassen, auch wenn nicht deutlich formuliert wird, was unter ›the people‹ genau zu verstehen ist. In terminologischer Hinsicht macht Pickering darauf aufmerksam, dass popular culture als historisch und politisch umstrittener Begriff positive Konnotationen aufweist. Zugleich verwirft Pickering den Begriff ›mass culture‹ als Synonym zu ›popular culture‹, denn dieser sei eine ausschließlich negativ konnotierte Vokabel der Massengesellschaft, der Warenwelt und Kulturindustrie (vgl. ebd. 2010: xxi). Damit stellt er sich in eine kritische europäische Tradition, etwa der Frankfurter Schule. Pickering zeigt sich, ohne auf die – auch amerikanische – Geschichte des deutschen Begriffs ›Kulturindustrie‹ einzugehen, in diesem Punkt gleichwohl von vom diesem beeinflusst. Die deutsche Begriffsgeschichte ist im Zusammenhang mit dem Kulturindustriebegriff jedoch durchaus von Belang und soll deshalb kurz bedacht werden, ehe die Cultural Studies und deren Begriff von ›popular culture‹ wieder ins Zentrum rücken. ›Populäre Kultur‹ ist nämlich, wie Thomas Hecken ausführt, noch in den 50er Jahren weitgehend ungebräuchlich, wohingegen die im Amerikanischen gebräuchliche Verwendung von ›Massenkultur‹ unter deutschen Intellektuellen quer durch das politische Spektrum allgemein abgelehnt wird. Sie sei eine Gefahr, in der der Einzelne zur »irrationalen, unmoralischen Masse zusammengeballt« werde (Hecken 2009: 196-197). Die nahezu pauschale Ablehnung sei in den letzten Jahrzehnten deutlich geringer geworden, so sehr, dass Kaspar Maase popular und Massenkultur mittlerweile einen eingeschränkt synonymen Charakter zuschreibt (vgl. Maase 2003: 48-55). Zurück in Großbritannien dagegen gilt es im Selbstverständnis der britischen Cultural Studies die popular culture, die von der mass culture zu unterscheiden ist, kritisch zu untersuchen; zugleich soll sie gegenüber der high culture aufgewertet und zumindest gleichrangig behandelt werden; die hegemoniale Macht der high culture solle gebrochen werden. Popular culture sei zwar ohne high culture kaum vorstellbar, zugleich seien paradoxerweise die fundamentalen Differenzen obsolet geworden (Pickering 2010: xxi). Dieser Widerspruch bleibt weitgehend ungelöst und verweist auf das politische Programm der Cultural Studies, das Pickering recht vage folgendermaßen skizziert: If the movement from lived experience to object of criticism has generally paralleled a movement from immersion in popular culture to distancing from it of some kind, those who study popular culture may well be involved with it, though equally they may not (ebd. xxxi).
Pickering stellt sich in guter Cultural-Studies-Tradition vorsichtig auf die Seite des engagierten Einlassens auf die popular culture. Dazu benötigt er die Hochkultur als das Andere. Zugleich hilft ihm das Festhalten am Begriff ›popular‹ gegen ›mass culture‹, eine andere Spaltung zumindest terminologisch zu verhin-
Populärkultur – Popular Culture
dern, die im Gefolge der Industrialisierung und der Entwicklung einer Massengesellschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen der Massengesellschaft und der Vorstellung von the people entstanden sei, eine Trennung »between an idealised ›folk‹ or ›genuine‹ popular culture and the artificial, inauthentic and debased forms of commodified ›mass‹ culture« (ebd. xxi, vgl. Hecken 2009: 59). Insgesamt präsentiert Pickering ein Begriffs- und Bedeutungsprofil, das sowohl auf den Gebrauch des Terminus popular culture als auch auf seine in den letzten Jahrzehnten international sehr erfolgreiche Bezugsdisziplin Cultural Studies angewendet werden kann. In der Auseinandersetzung um kulturelle Hegemonie wird ›popular culture‹ zum zentralen Selbstbeschreibungs- und Ermächtigungsbegriff, der in den British Cultural Studies seine institutionelle und disziplinäre Anbindung findet. Damit werden die British Cultural Studies als akademische Disziplin in den Hochschulen aktiver Teil einer Entwicklung, zu der sie selbst durch die intensive Beschäftigung mit popular culture als akademische Disziplin entscheidend beitragen. Wie diese Entwicklung hin zu den Cultural Studies vollzogen wurde, soll nun von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert an skizziert werden. Die Skizze soll aufzeigen, wie sich schon in ihrer Genese die Cultural Studies als akademische Deutungsinstanz von ›popular culture‹ von der Entwicklung im deutschsprachigen Raum, auf die später eingegangen wird, unterscheiden. John Storey führt in »Making Popular Culture« die Entstehung von popular culture auf die industrielle Revolution in England bzw. Großbritannien zurück (2016: 1-13). Wesentliche Anteile an der Entwicklung hätten die Bevölkerungsexplosion, die Urbanisierung Englands mit ihren tiefgreifenden sozialen Umbrüchen und die durch die industrielle Revolution hervorgerufenen strukturellen Veränderungen, allen voran die Einführung von Fabriken, gehabt. Die Entstehung einer popular culture der rapide wachsenden Arbeiterschicht hinge eng mit den sich entwickelnden Formen der Massenunterhaltung und Massenmedien zusammen, auf die das dominante Bürgertum weitgehend mit Ablehnung reagierte. Der entfremdeten Massenkultur der – verführten – Arbeiter werde die als ursprünglich und authentisch interpretierte, nostalgisch verklärte ländliche Kultur entgegengesetzt – Storeys vierte Definition. Als eines von vielen Beispielen mag in diesem Zusammenhang F.R. Leavis und Dennis Thompsons Konzept der organic community aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dienen (vgl. Leavis und Thompson [1933] 1950: 1). Dieser Aspekt wird in seiner deutschen Spielart in der Volkskunde weiter unten aufgenommen. Eine zweite Form der Auseinandersetzung mit der wachsenden popular culture der Arbeiterschicht ist die Betonung einer auf antike Ideale verweisenden kanonisierten Hochkultur. Als einflussreichster englischer Vertreter kann hier Matthew Arnold genannt werden. Für ihn ist Kultur als »a pursuit of our total perfection by means of getting to know, on all the matters which most concern us, the best which has been thought and said in the world« das Kompensationsinstrument schlechthin für die Defizite der Massengesellschaft (Arnold [1869] 1990: 6). Somit entstehen zwei vergangen-
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heitsorientierte Richtungen der Auseinandersetzung mit der rapide wachsenden popular culture. Zum einen ist es die Betonung der Kultur der Antike als unübertrefflicher, kanonischer Hochkultur, zum anderen ist es die Kultur des einfachen, nicht entfremdeten, authentischen ländlichen Lebens der Vergangenheit. Im kritischen Fokus beider steht die Kultur der Arbeiter und unteren Mittelschicht, die als industriell, massenhaft und billig produziert den Städten zugeschrieben und als das Wandelbare, Instabile und Bedrohende markiert wird. Prominente Deutungsinstitutionen sind die traditionellen Universitäten Oxford und Cambridge mit ihrer Betonung des klassischen Curriculums bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts und einer gewissen Dominanz der englischen Literatur im 20. Jahrhundert. Auch ist die gebildete obere Mittel- und Oberschicht als kulturell hegemonial in diesem Zusammenhang ein wichtiger Ausgrenzungsfaktor der popular culture, der die Anerkennung institutionell wie sozial versagt wird. Die Hinwendung zur popular culture erfolgt in einer akademisch-politisch emanzipatorischen Entwicklung allmählich, indem vor allem nach dem 2. Weltkrieg junge Stipendiaten aus der Arbeiterschicht an den Universitäten Kultur als das Andere zu ihrer eigenen Herkunftskultur begreifen und sowohl den Wert ihrer eigenen kulturellen Herkunft betonen als auch den hegemonialen Kulturbegriff selbst in seiner historischen Genese sozial einzuordnen und als Ideologie zu bekämpfen beginnen. Wichtig in diesem Zusammenhang sind drei Namen, die in dieser Hinsicht bahnbrechende Publikationen veröffentlichten: Raymond Williams zur Entwicklung des Kulturbegriffs in Culture and Society (1958) und The Long Revolution (1961), Richard Hoggart zur Untersuchung der Arbeiterkultur seiner eigenen Jugend in Leeds mit The Uses of Literacy (1957) und schließlich E.P. Thompson mit seiner historischen Studie zur Entstehung der Arbeiterschicht in The Making of the English Working Class (1963). Popular culture findet in den 1960er Jahren mit der Gründung des Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (ab 1964) mit Richard Hoggart als erstem Direktor ihre akademisch-universitäre Deutungsinstitution. Zumindest in ihrer Selbstprädikation sind die Cultural Studies eine disziplinär nicht einzuordnende Disziplin; ›popular culture‹ wird hier institutionell zum Ermächtigungsbegriff. Damit wird popular culture in der institutionellen Einbettung zugleich als akademisches Forschungsfeld wie als Schlagwort einer emanzipatorisch-politische Strategie verstanden. Diese institutionelle wie disziplinäre Entwicklung weitet sich in viele Richtungen aus und eröffnet im Laufe der letzten 50 Jahre zahlreiche neue Forschungsgebiete. Grundsätzlich bleibt jedoch der doppelte Ansatz bestehen, den Aleida Assmann als eines der wichtigen Unterscheidungskriterien zwischen den deutschen Kulturwissenschaften und den britischen Cultural Studies ausmacht, nämlich: dass es in den Cultural Studies vorrangig um die Abschaffung des elitären Begriffs von Hochkultur und einen neuen Zugang zur Popkultur, sowie um eine Neuordnung des literarischen Kanons geht, an dem soziale und kulturelle Minderheiten verstärkte Rechte der Teilhabe einklagen. Die Cultural Studies verstehen Kultur als einen Kampfplatz der Wer-
Populärkultur – Popular Culture tungen, Umwertungen und Identitätspolitik, auf dem sie selbst agieren. Demgegenüber bleibt für die Kulturwissenschaften Kultur primär ein Forschungsgegenstand. Ihr primäres Anliegen ist es, diesen Forschungsgegenstand zu kontextualisieren, d.h. die kanonisierten (und damit automatisch entkontextualisierten) Texte und Artefakte in jene größeren kulturellen Zusammenhänge zurückzubetten, in denen sie entstanden sind. […] Der wichtigste Unterschied zwischen Cultural Studies und Kulturwissenschaften besteht wohl darin, dass letztere ausschließlich in akademischen Institutionen verankert sind, während erstere gleichzeitig Teil einer sozialen Bewegung und kulturellen Praxis sind. (2006: 25) 4
Mit dem von Assmann beschriebenen Unterschied zwischen den Cultural Studies und der Kulturwissenschaft deutscher Provenienz sind mit Entwicklungen verknüpft, die wiederum an der Rolle von popular culture und deren deutschem Äquivalent exemplarisch erläutert werden können. Das Beispiel des Propagandaplakats aus dem Ersten Weltkrieg hat diesen Unterschied im Falle des Kulturbegriffs bereits angedeutet. Diesem Unterschied soll nun begriffsgeschichtlich wie institutionell weiter nachgegangen werden.
P opular C ulture , V olkskultur –
die deutsche
S pezifik
Für Deutschland und den deutschsprachigen Raum lässt sich das Problem einer einfachen Übertragung von ›popular culture‹ aus einer terminologischen wie wissenschaftsdisziplinären Perspektive erklären, und beide Perspektiven hängen vor allem mit der Entwicklung des Terminus im Englischen in den letzten 50 Jahren zusammen, insbesondere mit seiner Hochkonjunktur als zentralem Terminus der Cultural Studies (vgl. Hecken 2009: 58-59). Dass ›popular culture‹ mittlerweile in maßgeblichen deutschsprachigen Publikationen mit ›populäre Kultur‹, ›Populärkultur‹ oder abgekürzt ›Popkultur‹ Verwendung findet, macht deutlich, dass der Begriff in Deutschland Fuß gefasst hat, auch wenn damit noch nicht geklärt ist, was damit gemeint ist.5 Belege für die Etablierung sind etwa das von Hans-Otto Hügel herausgegebene Handbuch Populäre Kultur (2003), Bücher von Thomas Hecken mit Titeln wie Populäre Kultur (2006), Theorien der Populärkultur (2007) oder der soziologische Band Unterhaltungswissenschaft: Populärkultur im Diskurs der Cultural Studies (2008). Wie zahlreiche einschlägige Publikationen (vor allem von Hecken und Hügel aber auch von Maase) zeigen, ist eine einfache Übersetzung wenig sinnvoll. Dies hängt maßgeblich mit ›Volk‹ als 4 | Die englische Fassung von 2012 trägt den Titel Introduction to Cultural Studies. In der zitierten Passage verwendet Assmann jedoch den deutschen Begriff ›Kulturwissenschaften‹ (vgl. Assmann 2012: 27-28). 5 | Darauf, dass Popkultur und Populärkultur keineswegs als Synonyme verstanden werden, macht das jüngst erschienene Handbuch Popkultur deutlich, das sich dezidiert mit Popkultur und nicht mit Populärkultur befasst (vgl. Hecken und Kleiner 2017).
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einer der möglichen Übertragungen von people, abgeleitet vom lateinischen populus, bzw. dem entsprechenden englischen Adjektiv popular zusammen. Diesem Zusammenhang soll nun nachgespürt werden. Wenn die Verwendung von ›populär‹ als Übertragung von popular im Deutschen heutzutage auch Konjunktur haben mag, kann ähnliches von dem verwandten Terminus ›Volk‹ nicht gesagt werden. Denn ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Englischen und dem Deutschen kommt in der deutlich prominenteren – und zugleich problematischeren – Verwendung des Substantivs ›Volk‹ und seinen Derivaten zum Vorschein, die spätestens mit dem Idealismus von der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert durch Johann Gottfried Herder einsetzt. Zwar ist im Englischen das germanische folk ebenfalls gebräuchlich; eine vergleichbar zwiespältige, mit dem Deutschen vergleichbare Entwicklung ist jedoch nicht zu beobachten.6 Durch die weit verbreitete Verwendung von ›Volk‹ gibt es im Deutschen für popular und somit popular culture zwei gängige Termini: den aus dem Lateinischen stammenden Begriff ›populär‹ und das aus dem Germanischen abgeleitete ›Volk‹. Dabei ist die Übersetzung von ›popular culture‹ mit ›Volkskultur‹ dann sinnvoll, wenn sie auf den deutschen Idealismus, insbesondere auf Herder, zurückgeführt wird, dem ›Volk‹ als Abgrenzungsbegriff zu ›Pöbel‹ dient (vgl. Hecken 2007: 199). Mit dem Aufkommen der industriellen Revolution in Deutschland und den damit verbundenen großen sozialen und regionalen Veränderungen vor allem ab dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wird eine stabil und homogen gedachte Volkskultur zunehmend als Gegenbegriff zur Verstädterung, zur Entwicklung zur Massengesellschaft und zur Instabilität der zunehmenden materiellen wie geistigen Mobilität konstruiert. Diese im Vergleich zu England deutlich später einsetzende Entwicklung mit der Betonung von ›Volk‹ als dem Ursprünglichen, Authentischen, geschieht im Deutschen mit großer Breitenwirkung, wohingegen die entsprechende Vokabel folk im Englischen keine vergleichbare Bedeutung zugeschrieben bekommt. Ein weiterer Unterschied zu Großbritannien besteht darin, dass ›Volk‹ im Deutschland des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kulturpolitisch nationalistisch – nicht ohne rassistische Untertöne – vereinnahmt wird, um schließlich von den Nationalsozialisten vollends mit rassistischer Bedeutung aufgeladen zu werden (vgl. Göttsch 2003: 87). Damit ist eine Übersetzung von popular culture mit ›Volkskultur‹ nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend ausgeschlossen. Dieses sehr weit gefasste, widersprüchliche und die durch die Nazis kompromittierte Bedeutungsspektrum wird in Hermann Pauls Deutsches Wörterbuch 6 | F.R. Leavis ist für einen solchen Gebrauch von ›folk‹ im Englischen der wahrscheinlich prominenteste Vertreter. Bei Leavis ist jedoch eine Wendung zum nationalistisch-völkischen nicht zu beobachten. Vielmehr steht bei ihm, wie in Culture and Environment dargestellt, die historische Verwurzelung in der »organic community« im Vordergrund (vgl. Leavis und Thompson [1933] 1950: 1).
Populärkultur – Popular Culture
bündig aufgezeigt (Paul 1992: 998). Demnach reicht ›Volk‹ von dem rein deskriptiven ›Menschenmenge‹ in positiver wie negativer Konnotation (z.B. ›Pöbel‹) über »eine durch gemeinsame Kultur und Geschichte verbundene Menschengruppe«, einschließlich der »Abgrenzung von den höheren Schichten«, einem »aufwertend auf das Ursprüngliche, Bodenständige bezogen« – hier kommt die Herdersche Bedeutung zum Tragen – bis zum »auf das regierte Gemeinwesen bezogen« (ebd. 998-999). Hinzu kommen von ›Volk‹ abgeleitete Adjektive wie ›volkseigen‹, ›volkstümlich‹ und ›völkisch‹. Letzteres wird, so Paul, schon bei Fichte national gedacht und schließlich von den Nationalsozialisten mit einer rassistischen und antisemitischen Bedeutung versehen (vgl. ebd. 999). Wie Paul schärft auch der Duden den Blick auf historische Entwicklungen und Probleme kaum und lässt etwa unter »3b) Gruppe, Sorte von Menschen« positive wie negative Wertungen zu (Duden Bd. 10 1999: 4338). Damit sind zwar die Möglichkeiten des Begriffs als Übersetzung von popular genannt; die Problematik der Möglichkeit des Deutschen, für popular sowohl ›Volk‹ wie ›populär‹ zu verwenden ist jedoch noch nicht hinreichend geklärt. Richtet man den Blick von den Wörterbucheintragungen in Richtung terminologische Implikationen in der Wissenschaft und einer damit verbundenen Disziplinenbildung, dann tritt die Problematik noch deutlicher zu Tage. Bei einer kritischen Bewertung der wissenschaftlich terminologischen Auseinandersetzung zeigt sich etwa bei Silke Göttsch, dass ›Volkskultur‹ auch in Bezug auf die Wissenschaft historisiert wird. Göttsch bezeichnet sie »als eine spezifische Lebensform der Frühen Neuzeit« (2003: 83). Zugleich räumt sie ein, dass eine wissenschaftsterminologische Beschränkung keineswegs ausreicht, denn ›Volkskultur‹ sei darüber hinaus auch eine »vor- und außerwissenschaftliche Vorstellung von der Lebenswelt, der Kultur bestimmter Bevölkerungsschichten« (ebd.). In einem solchen Zusammenhang werde ›Volkskultur‹ zur Kompensationsvokabel für die Defizite der modernen Gesellschaft und darüber hinaus zu einer begrifflichen Ermöglichung der – rückwärts gewandten – Kompensation für eine Kulturtechnik, die keineswegs auf die Moderne beschränkt sei. Wichtig sind hier die Äußerungsformen der ›Volkskultur‹ als konstruierte Ensembles von räumlichen, sozialen und temporalen Gegensätzen, bei denen die ›Volkskultur‹ gegenüber der Kulturindustrie das stabile Andere, etwa in Gestalt von ›ewigen‹ unberührten Landschaften, bäuerlichen, trachtentragenden und Volksmusik spielenden Gemeinschaften, repräsentiert. ›Volk‹ erhält somit im Deutschen eine sehr viel prominentere Position, als es bei folk im Englischen der Fall ist, obwohl beide Vokabeln in dieser Hinsicht in die die gleiche Richtung deuten. Diese Verortung schließt ›Volkskultur‹ als Kandidatin für popular culture zwar nicht aus, sie reduziert aber ihre semantische Breite erheblich. Zugleich wird Shiachs Beobachtung über die Rolle des Betrachters in Göttschs Beschreibung als Problem derjenigen virulent, die das Andere beschreibt. Denn es gelingt Göttsch nur unzureichend, spezifische Aspekte der deutschen Volkskultur neutral zu beschreiben, ohne sie zumindest indirekt in ihrem Wert als durch die Maschinerie der Kul-
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turindustrie ›folkloristisch‹ vermarktet zu mindern. In dieser Hinsicht scheint Göttschs Artikel typisch für eine akademisch-kritische Auseinandersetzung der beschriebenen Art von ›Volkskultur‹ zu sein. Sie weist auf das Dilemma hin, das, abgesehen von der historischen Kontamination durch die Nationalsozialisten, aus wissenschaftlicher Perspektive ein wie auch immer zu fassendes widerständiges Potential einer derartigen ›Volks‹kultur nicht erkennen kann oder will. Die vor allem unter dem Einfluss der Cultural Studies eingeforderten Gramscischen subversiven Eigenschaften für popular culture können (oder sollen) hier nicht gefunden werden; somit kann die vermeintliche Nobilitierung von ›Volkskultur‹ zur ›popular culture‹ nicht erfolgen. Der Begriff ›Volk‹ hat eine zusätzliche spezifisch deutsche disziplinäre Komponente, die sie deutlich von den britischen Cultural Studies abhebt. Mag ›Volkskultur‹ durch die Nationalsozialisten zum reichlich beschädigten Terminus geworden sein, so stellte sich eine begriffliche Konsequenz in Bezug auf die Benennung der Disziplin, die sich mit popular culture beschäftigte, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs ein. Volkskunde als Wissenschaft, die die »Wechselbeziehung zwischen Volk und Volkskultur« (Göttsch 2003: 83) untersucht, war lange nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die jüngere Vergangenheit der gängige Begriff und ist immer noch Bestandteil des Namens vieler Institute.7 Erst die verstärkte Aufarbeitung des Erbes des Nazizeit seit den 1960er Jahren und das Aufkommen der Jugendkultur ab den späten 50er Jahren – beide mit einem erheblichen Anteil der Studentenproteste dieser Jahre – führte zu einer allmählichen (Namens)Änderung der Disziplin. Besonders hervorzuheben ist dabei die Rolle von Hermann Bausinger, der zunächst in Volkskultur in der technischen Welt (1961) für eine neue Volkskunde unter alter Bezeichnung plädierte, ehe unter seiner Federführung in Tübingen das volkskundliche Institut in Ludwig Uhland Institut für empirische Kulturforschung umbenannt wurde (vgl. Herz 1992: 1-3). Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Unterschied zu den sich mit popular culture befassenden Cultural Studies britischer Prägung. Diese entwickelten sich als akademisch unterstützte Emanzipations- und Selbstermächtigungsbewegung aus der Überzeugung, dass – etwa bei Richard Hoggart – die Kultur der unteren Schichten der Bevölkerung durch das (kulturpolitische) Establishment nicht anerkannt wird. In Deutschland hingegen galt es hauptsächlich, das Erbe des Nationalsozialismus zu überwinden und die häufig damit verbundene disziplinäre – oft germanistisch geprägte – Ausrichtung, die die terminologische Verwendung von ›Volkskultur‹ bis heute schwierig macht. Zudem kommen durch 7 | Die Benennungen einschlägiger Institute an deutschen Universitäten zeigen dies. Manche Namen wurden geändert, wie in Freiburg, wo die ehemalige Volkskunde seit dem Jahr 2003 unter Europäische Ethnologie firmiert. Andernorts wurde ›Volkskunde‹ zum Teil erst jüngst ergänzt, wie an der Universität Bonn, wo eine Namensänderung in Kulturanthropologie/Volkskunde im Jahr 2006 erfolgte. Auch an anderen Universitäten kam es zu Namenserweiterungen wie in Jena, wo es das Fach Volkskunde/Kulturgeschichte gibt.
Populärkultur – Popular Culture
die Hinwendung zu Phänomenen der – keineswegs klar definierten – Alltagswelt, der aufkommenden Jugendkultur, der Beschäftigung mit den Massenmedien und der damit verbundenen spezifischen Rolle der Unterhaltung(sindustrie) seit den späten 50er und 60er Jahren neue Untersuchungsfelder hinzu, durch die sich ›Populärkultur‹ auch als deutscher Terminus allmählich durchsetzt. In einem solchen Zusammenhang wäre, nicht zuletzt durch das idealistische Erbe, ›Volkskultur‹ ein unbrauchbarer Begriff, impliziert dieser doch eine homogene Kultur, die gerade durch die Entprivilegierung des Hochkulturbegriffs und eine Pluralisierung der Forschungsgegenstände obsolet geworden zu sein scheint.
P opul är , P opul ärkultur , P opkultur ? Zur Abrundung der Diskussion des Bedeutungsspektrums gilt es nun noch die Rolle von Begriffen wie ›populär‹, ›Populärkultur‹ und ›Popkultur‹ zu bedenken. Beim Blick in deutsche Wörterbücher zu diesem Thema zeigt sich etwa, dass Paul über die zwei Bedeutungen von ›populär‹, nämlich »bekannt und beliebt«, »leichtverständlich« und davon abgeleiteten Substantiven sowie dem Verb »popularisieren« hinaus nichts vermeldet (vgl. Paul 1992: 659-660). Im Duden wiederum ist die Anzahl der von popularis abgeleiteten Vokabeln deutlich höher als im Falle von Volk. Sie reichen von »Popfan« als »begeisterter Anhänger der Popmusik«, »Popfarbe« und »Populismus« (Bd. 7 1999: 2969-2970) bis hin zu »Popliteratur«, die folgendermaßen erklärt wird: Techniken und Elemente der Trivial- und Gebrauchsliteratur benutzende Richtung der modernen Literatur, die provozierend exzentrische, obszöne, unsinnige od. primitive, bes. auch der Konsumwelt entnommene Inhalte bevorzugt. (Ebd. 2969)
Auch für das Lemma ›Pop‹ ist der Eintrag zu ›Popliteratur‹ bezeichnend, beschreibt er doch aus deutlich hochkultureller Perspektive Phänomene der popular culture. Beat Wyss unterstützt diese Einschätzung in seinem Aufsatz »Pop zwischen Regionalismus und Globalität« dahingehend, dass literarische Entwicklungen der letzten zehn bis fünfzehn Jahre häufig aus der Sicht eines hochkulturellen ›intellektuellen Beobachters‹ als das – negativ bewertete – Andere begriffen und damit ihr Ziel verfehlen würden (vgl. Wyss 2004: 21). Am Beispiel der Entwicklungen in der Literatur wird zudem deutlich, wie sehr sich in den letzten Jahren Elemente der popular culture, hier nun tatsächlich im Sinne von Populärkultur, mit denen der Hochkultur vermischt haben. Die meisten Eintragungen im Duden beziehen sich indes weniger auf die Literatur als auf die Musik – auch als Lebensform, sozusagen als »way of life« (Williams [1958] 1990: xvi). Auch hier zeigen sich im Deutschen in der Erklärung des Duden durchaus Spannungen, etwa darin, wie beim Lemma »Popmusik« der Begriff ›Volksmusik‹ vermieden und stattdessen, etwas ungeschickt aber durchaus gerechtfertigt, ›Folklore‹
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verwendet wird. Das Beispiel ›Popmusik‹ als »[m]assenhaft verbreitete populäre Musik bzw. Unterhaltungsmusik unterschiedlicher Stilrichtungen (wie Schlager, Musical, Folklore, Funk u.a.)« zeigt dies beispielhaft durch die Auslassung von ›Volksmusik‹ auf (Duden Bd. 7 1999: 2969). 8 In Bezug auf ›populär‹ nennt der Duden zwei Grundbedeutungen: Zum einen bedeutet es »beim Volk, bei der großen Masse, bei sehr vielen bekannt und beliebt, volkstümlich« oder »beim Volk, bei der Masse Anklang, Beifall und Zustimmung findend«, zum anderen »gemeinverständlich, volksnah« (Duden Bd. 7 1999: 2969). Dass die hier aufgeführten Begriffe ›Volk‹, ›Masse‹, ›sehr viele‹ präzisiert werden sollten, ist nicht Aufgabe des Wörterbuchs, sondern derjenigen, die sich mit ›populärer Kultur‹, ›Volkskultur‹, ›Massenkultur‹ oder der ›Kultur der sehr vielen‹ beschäftigen. Als Gegenbegriff zu ›Masse‹, den ›sehr vielen‹, bietet sich implizit ›Elite‹ oder die Hochkultur als der Wenigen an. John Storeys Definitionen sind hier ebenso relevant wie die Bemerkung von Shiach, die ›popular‹ als Beschreibung des Anderen durch – hochkulturelle? – Intellektuelle fasst (vgl. Shiach 2005: 60). Kaspar Maase trifft in diesem Zusammenhang eine Unterscheidung in ›populär‹ und ›popular‹, wobei er den Begriff ›popular‹ für Phänomene verwendet, die er den Unterschichten zuordnet; »›populär‹ meint breite Beliebtheit quer durch die Klassen« und somit Storeys erste Definition von popular culture (1997: 23). Maases Sichtweise ist im Hinblick auf die historische Perspektive zu berücksichtigen, wenn er eine Geschichte der Massenkultur von der Mitte des 19. Jahrhundert bis ins Jahr 1970 schreibt. Ob diese Differenzierung unter Berücksichtigung neuerer, vor allem medialer und theoretischer Entwicklungen aufrechterhalten werden kann, ist zu bezweifeln; hier wäre ›populär‹ weitgehend der Vorrang gegenüber dem von Maase vorgeschlagenen ›popular‹ einzuräumen, auch in den von ihm als der Unterschicht zugeordneten Bereichen. ›Popkultur‹ als Kultur, die etwa die weiter oben genannten Phänomene und Praxen umfasst, findet sich in einer doppelten Bedeutung: zum einen als Abkürzung für ›popular culture‹. Zum anderen ist ›Popkultur‹ als Epochenbegriff ab dem Ende der 50er Jahre zu verstehen (vgl. Wyss 2004: 22).9 In diesem Sinn bezeichnet ›Popkultur‹ eine ästhetische, zunächst aus den bildenden Künsten stammende und diese schon zu Beginn überschreitende Entwicklung, die vom Begriff der ›PopArt‹ abgeleitet ist. Dazu schreibt Beat Wyss: »Popkunst erzielt zum ersten Mal ganz unangestrengt und auf der Höhe der technischen Verfahren eine Synthese zwischen den neuen Medien, künstlerischem Anspruch und allgemeiner 8 | Unter dem Lemma »Volksmusik« steht im Duden folgendes: »Die dem Volk überlieferte und von ihm ausgeübte Musik von nationaler oder landschaftlicher Eigenart« (Duden Bd. 10 1999: 4342). 9 |›Popkultur‹ als ebenso systematisch gefasster wie breit diskutierter Begriff und keineswegs nur als Epochenbegriff ist Gegenstand des Handbuch Popkultur, das hier nur noch zur Kenntnis genommen, nicht aber mehr gebührend rezipiert werden konnte (vgl. Hecken und Kleiner 2017).
Populärkultur – Popular Culture
Akzeptanz.« (2004: 31) In der Bildenden Kunst verbraucht sich die Provokation gegen die dominante Hochkultur der 60er Jahre allmählich, während in der Musik die Verflechtung mit den Massenmedien bis heute Bestand hat (vgl. ebd. 21). Wird in der Popkultur das »subversive Potential gegen die etablierte Kultur und ihre Vertreter gerichtet« (Grasskamp 2004: 41-42), so ist dies keineswegs klassenspezifisch oder sozial determiniert. Eine terminologische Überlagerung der zur ›pop culture‹ verkürzten ›popular culture‹ trifft auf das Englische ebenso zu wie auf das Deutsche. Aus Gründen der begrifflichen Trennschärfe sollte demzufolge eher von ›populärer Kultur‹ oder ›Populärkultur‹ als von ›Popkultur‹ die Rede sein, eine Begrifflichkeit, die sich weitgehend durchgesetzt hat, ohne dass ›Popkultur‹ gänzlich verschwunden wäre.
P opul ärkultur
und
P opul ar C ulture : Z usammenfassung
Populärkultur ist nicht ›popular culture‹. Dies kann als Fazit für den Großteil des Zeitraums, in dem die Begriffe existiert haben, zusammenfassend konstatiert werden. Beide Termini stammen – mit einer gemeinsamen lateinischen Wurzel – aus den unterschiedlichen Sprachen Deutsch und Englisch, sie repräsentieren unterschiedliche Begriffsgeschichten der Komposita und der damit verbundenen semantischen Felder. Zugleich zeigen sie auf, dass sie wichtige Begriffe in den akademischen Bezugsinstitutionen bzw. -disziplinen der beiden Kulturräume darstellen und dort ihre jeweils eigene institutionelle Wirkung entfalten. Zugleich sind die beiden Begriffe nicht nur sprachlich eng miteinander verbunden. Besteht im Falle des Kulturbegriffs ein historischer Transfer vom Deutschen ins Englische, der in der jüngeren Vergangenheit weitgehend von einem Transfer aus dem Englischen ins Deutsche abgelöst wurde, so herrscht im Falle von Populärkultur bzw. ›popular culture‹ aus historischer Sicht eher ein Einbahnstraßenverkehr vom Englischen ins Deutsche. Beide Begriffe in ihrer Entwicklung als Synonyme zu betrachten würde indes der recht vielschichtigen und zum Teil widersprüchlichen Entwicklung nicht Genüge tun. Populärkultur und popular culture sind in der Tat false friends, die bei genauerer Betrachtung je eigene unterschiedliche Profile aufweisen. Drei Faktoren tragen hauptsächlich zur unterschiedlichen Entwicklung bzw. Rezeption von ›popular culture‹ bzw. ›popular‹ und Populärkultur bei. Zum einen ist es die ungleichzeitige Entwicklung der industriellen Revolution in den beiden Referenzkulturen. Während die industrielle Revolution in England bzw. Großbritannien bereits im 18. Jahrhundert einsetzt und sich im 19. Jahrhundert voll entfaltet, fängt die industrielle Revolution in Deutschland deutlich später an und erlebt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Hochzeit. Mit diesem zeitlichen Faktor ist zum zweiten die Entstehung von popular culture im Englischen als Teil des Wachsens der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert als sozialem Faktor verbunden. Die Kultur der Arbeiter wird als Kultur der Massenproduktion
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und des Massenkonsums im hegemonialen Hochkulturdiskurs Großbritanniens weithin abschätzig behandelt und erst im Laufe der 2. Hälfte des 20. Jahrhundert allmählich als gleichwertig anerkannt. Als Ausdruck der Anerkennung kann die Etablierung der Cultural Studies als akademischer Deutungsinstitution gelesen werden. Ein solcher Prozess der Anerkennung eines klassenorientierten ›popular culture‹-Begriffs wird in Deutschland durch den national dominierten Diskurs überlagert. ›Volk‹ hat als Alternative zum lateinischen popularis im Deutschen einen deutlich höheren, national homogenisierenden Stellenwert als das Englische ›folk‹. Zudem wird die deutsche Kulturdebatte nicht zuletzt auch über einen nationalistisch geprägten Volksbegriff geführt. Sie findet in der germanistisch orientierten Volkskunde ihre akademisch-institutionalisierte Deutungsinstanz. Hinzu kommt als dritter Faktor, dass sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert im britischen Englisch popular culture – die amerikanische Spezifik wurde im Laufe der Ausführungen gestreift – gegen mass culture durchsetzt, während dies in Deutschland unter dem Einfluss der kritischen Theorie, die große Vorbehalte gegen eine vom Massenkulturbegriff der Kulturindustrie geprägte Populärkultur hegt, sehr viel länger, bis in die 1990er Jahre dauert. Dann aber, vor allem unter dem Einfluss der Postmoderne und – in deutlich geringerem Ausmaß der Theorien Antonio Gramscis – beginnen sich die Begriffe anzugleichen. Populärkultur ist popular culture: So kann das Fazit für den heutigen Sprachgebrauch lauten. Zugleich fällt es schwer, den Begriff im Singular zu verwenden, im Englischen wie im Deutschen. John Storey ist insofern zuzustimmen, als dass sich Populärkultur zum einen immer auch danach bestimmt, welche – stets ideologisch präfigurierte – Definition zugrunde gelegt wird. Zum anderen und damit verbunden ist Populärkultur stets von seinem Anderen, dem, was Populärkultur nicht ist, geprägt. Nationalkulturellen Differenzen haben sich im Zuge der durch den anglo-amerikanischen Kulturraum dominierten Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte im Hinblick auf kulturelle Praxen – populärkulturell wie ihr Anderes – angeglichen. Auch insofern kann von Populärkultur als popular culture die Rede sein. Zugleich gibt es unter der homegenisierenden Globalisierungsoberfläche weiterhin reichlich nationale Differenzen, die von nationalkulturellen Unterschieden zeugen. Dafür ist die doch weitgehend zurückhaltende Verwendung von ›Volkskultur‹ als ein Anderes von ›Populärkultur‹ ebenso Beispiel wie die Unterschiede in den Deutungs- und Bezugswissenschaften selbst, wenn britische oder amerikanische Entwicklungen in Deutschland die ehemalige Volkskunde zu einer – etwa – europäischen Ethnologie haben werden lassen. Diese mag sich zwar unter den Einflüssen, etwa der Cultural Studies, deutlich gewandelt haben. Die eigenen Wissenschaftstraditionen wurden – zumindest nicht gänzlich – über Bord geworfen, so dass es nunmehr eine neue Bezugswissenschaft für Populärkultur gibt, die jedoch nach wie vor Eigenheiten aufweist, die eine diverse, vielschichtige Populärkultur unter anderen Blickwinkeln behandelt als ihre britischen oder amerikanisch Pendants, und die sich als nationale Konfiguration vom britischen oder amerikanischen Vorbild unterscheidet. Zugleich ist
Populärkultur – Popular Culture
auf interne Differenzen der nationalen Populärkulturen hinzuweisen, die jeweils regionale, lokale, schichtspezifische, generationelle, gender, religiöse, ethnische und andere Charakteristika aufweisen, gleichzeitig jedoch gemeinsame vor allem sprachlich nationale Merkmale aufweisen, die sie wiederum von anderen Populärkulturen unterscheidet. Populärkultur ist popular culture. Populärkultur ist nicht popular culture. Die Verwendung der Termini ›Populärkultur‹ oder popular culture ist sinnvoll und auch heute alltagssprachlich wie wissenschaftlich-disziplinär bedeutsam, sofern die theoretischen Prämissen bedacht werden und die historischen Entwicklungen in die Überlegungen einbezogen werden. Als Differenzterminus zum einem je zu bestimmenden Anderen hilft er den Blick auf unsere Welt schärfen, als deutsche Populärkultur wie als englische popular culture.
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Zwischen Kulturindustrie und Subkultur Soziologische Perspektiven zum Zusammenhang von gesellschaftlichem Wandel und populären kulturellen Formen im 20. Jahrhundert 1 Dominik Schrage
M assenkultur
und moderne
G esellschaf t
›Massenkultur‹ ist die im 19. Jahrhundert in Großstädten aufkommende, sich in der Zwischenkriegszeit entfaltende und nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst in den Industrieländern westlichen Typs flächendeckend etablierende Kultur der hochmodernen Gesellschaft. Sie ist gekennzeichnet durch ökonomische Verwertungsinteressen, die die Produktion und Verbreitung kultureller Erzeugnisse als Waren motivieren und steuern, durch ihre Ausrichtung auf ein großes, kulturell und sozial heterogenes Publikum sowie die Verwendung technischer Reproduktions-, Speicher- und Verbreitungsmittel (Massenmedien).2 Das Publikum, das sie adressiert, ist schon aufgrund medientechnischer Potentiale und expansiver Verwertungsinteressen nicht auf einzelne Stände, Klassen und Gruppen mit ihren spezifischen Lebensweisen, Vorlieben oder Wertvorstellungen festgelegt; vielmehr überlagern die für die Massenkultur typischen Produktions- und Rezeptionsweisen ältere, ständisch oder klassenmäßig gebundene, rituelle, folkloristische oder repräsentative Kulturformen.3 Die Etablierung der Massenkultur geht dabei konform mit den sozialstrukturellen Umschichtungsprozessen des späten 19. und 20. Jahr1 | Der Beitrag ist im Rahmen des Forschungsprojekts »Time has come today« im SPP 1688 der DFG entstanden und greift auch auf eine Reihe früherer Publikationen zum Thema zurück, vgl. Schrage (2003, 2006, 2009, 2015a, 2015b). 2 | Vgl. zur Durchsetzungsgeschichte Maase (1997); für eine aktuelle theoretische Deutung vgl. Makropoulos (2008). 3 | Vgl. hierzu die einschlägigen Überlegungen zum ›Auraverlust‹ bei Walter Benjamin ([1936] 1980).
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hunderts – insbesondere mit der Herausbildung der (›neuen‹) Mittelschicht, in der sich aufsteigendes Proletariat und Bauerntum und absteigendes Bürgertum sammeln und die in den 1920er Jahren zuerst anhand ihrer beruflichen Lage – als Angestellte – erkannt wurde. 4 Die Massenkultur ist deshalb eine allgemeine, das heißt auf Gesellschaft insgesamt – und nicht bloß auf eine zahlenmäßig große, aber unterprivilegierte Unterschicht – bezogene Kultur: Sie ist ›Massenkultur‹ in dem Sinne, wie man auch ein politisches System mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht ›Massendemokratie‹ und an viele, unspezifische Abwesende gerichtete Botschaften ›Massenkommunikation‹ nennt. Es griffe deshalb viel zu kurz, ›Massenkultur‹ auf eine zum Beispiel von RTL2- und Fastfood-Konsum, jugendlichem Alkoholabusus und Schulabbruch charakterisierte »Klassenkultur der neuen Unterschichten« (Nolte 2004: 62) zu reduzieren und sie – aus der Warte des Nichtbetroffenseins – moralisierend als kulturell abweichendes Verhalten zu beklagen. Diese Sicht erschöpft sich in einer die Kenntnis ›richtiger‹ kultureller Werte und Praktiken voraussetzenden Klage über den Sittenverfall der Unterschicht und erfasst nicht den Systemcharakter des Phänomens – sind doch Fernsehen, Warenkonsum und Unterhaltungsorientierung als solche keinesfalls exklusive Merkmale des Kulturkonsums einer solchen ›neuen Unterschicht‹.
›K ulturindustrie ‹ Es war die Einsicht in den gesellschaftlichen, das heißt schichtenübergreifenden und organisierten Charakter dieses Kulturtyps, welche die Kritische Theorie dazu bewogen hatte, gerade nicht von ›Massenkultur‹, sondern von ›Kulturindustrie‹ zu sprechen. Aus einer an Marx orientierten Perspektive ist ja ›Masse‹ kein negativ, sondern vielmehr ein positiv besetzter Begriff, der die zu emanzipierenden Vielen bezeichnet. Adorno und Horkheimer wollten gerade keine Kritik an der Massenkultur formulieren, die sich aus dem konservativen Ressentiment gegen die Unterschichten speist. Vielmehr kritisierten sie die organisierte Unterhaltung als profitorientierte Indienstnahme der Kultur durch den Kapitalismus, und sie mussten deshalb den Eindruck vermeiden, es handele sich um eine ›spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur‹. ›Kulturindustrie‹ – so der stattdessen verwendete Begriff Theodor W. Adornos und Max Horkheimers – hob demgegenüber hervor, dass es sich um eine nach ökonomischen Verwertungsgesichtspunkten und technologischen Produktionsimperativen organisierte Art von Kultur handele, für die einerseits die »Massen nur […] ein Sekundäres, Einkalkuliertes; Anhängsel der Maschinerie« darstellen und die andererseits die »jahrtausendelang getrennten Bereiche hoher und niederer Kunst zusammen[zwingt]« – und zwar, wie Adorno hinzufügt: »Zu ihrer beider Schaden« (1977: 337). ›Kulturin4 | Vgl. Kracauer (1971); für die USA vgl. Mills (1955).
Zwischen Kulturindustrie und Subkultur
dustrie‹ ist in dieser Sichtweise also gar keine von Menschen getragene Kultur, sondern eine, die Menschen unterwirft. Adorno und Horkheimer hatten bei ihrer Deutung der ›Kulturindustrie‹ allerdings die US-amerikanische Kulturindustrie der 1940er Jahre vor Augen, die von Radio, dem Hollywood-Kino und dem Einzug massengefertigter Konsumgüter in das Leben der amerikanischen Mittelschicht geprägt war. Sie war außerdem begleitet von einer empirischen Zuschauer- und Verbraucherforschung, die glaubte, das Verhältnis von Medien- und Konsumangeboten und Abnehmerbedürfnissen reibungslos aufeinander abstimmen zu können.5 Deren Steuerungsoptimismus ins Kritische umkehrend, sahen Adorno und Horkheimer den wesentlichen Mechanismus der Kulturindustrie in einem »Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt« (1984: 142). Die Wirkungsweise der Kulturindustrie auf ihre Konsumenten wird also als ein geschlossener Regelkreis und damit als ein Manipulationszusammenhang konzipiert, der die kulturindustriellen Erzeugnisse und die Konsumentenbedürfnisse durch Standardisierung bruchlos aufeinander abstimmt. Für Horkheimer und Adorno ist diese Standardisierung aber nur ein vordergründiger Effekt der technischen Imperative von Herstellungsmethoden und Verbreitungsmedien – viel entscheidender ist ihre soziologische These, die besagt, dass die Kulturindustrie die gesellschaftliche Ordnung der kapitalistischen Gesellschaft stabilisiert und die etwa in der Kunstautonomie liegenden Emanzipationspotentiale zugunsten einer konformistischen Anpassung der menschlichen Bedürfnisse an den Produktionsapparat abschneidet. Damit benennt der Begriff der Kulturindustrie zwar einerseits die wesentlichen, die Massenkultur ermöglichenden systemischen Mechanismen: Nämlich 1.
die Kommodifizierung von Kultur, also die Verwandlung von kulturellen Erzeugnissen in Waren, die auf Märkten angeboten und gegen Geldzahlung erwerbbar sind, 2. die Verwendung technologischer Mittel der Reproduktion, Speicherung und Verbreitung dieser Kultur-Waren, 3. als Konsequenz aus diesen beiden Tendenzen die Ausrichtung der kulturellen Produktion auf die Vorlieben eines zahlenmäßig stark wachsenden, zahlenden Massenpublikums und 4. als Effekt all dieser Entwicklungen die Loslösung oder zumindest Entkopplung der Kulturproduktion und -konsumtion von älteren, auf Tradition, Ritual, Repräsentation und Kunstautonomie bezogenen kulturellen Formen. 5 | Bezüglich des Konsums vgl. die Ausführungen in Schrage (2009); bezüglich der ›positivistischen‹ Zuschauerforschung ist v.a. der Ansatz Paul F. Lazarsfelds wichtig, an dessen Radio Research Project Adorno selbst für kurze Zeit mitgearbeitet hatte, vgl. differenziert hierzu Otto (2011).
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Indem aber andererseits ›Kulturindustrie‹ als ein geschlossener, letztlich bruchlos auf das Profitkalkül zurückführbarer Regelkreis konzipiert wird, kann dieser Begriff nicht erfassen, was im Rückblick auf die Kultur- und Sozialgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich hervortritt: Dass Massenkultur nämlich in dieser Zeit eine dynamische und antreibende Rolle bei der Pluralisierung von Lebensstilen eingenommen hat.6 Sie war in der Lage, den primär von Jugendlichen getragenen sub- und gegenkulturellen Antikonformismus der 1960er Jahre in seinen musikalischen und modischen, und damit auch alltagspolitischen Ausdrucksformen in sich aufzunehmen und ihm globale Resonanz zu verschaffen – ihn durch die Schaffung eines Weltpublikums (von Westberlin bis Japan) überhaupt erst zu dem ›kulturrevolutionären‹ Momentum einer globalen Popkultur zu machen, die wir heute als selbstverständlich empfinden.7 Es handelt sich dabei offenbar um eine Art von Massenkultur, die sich vom Konformismus der frühen Kulturindustrie löst und sich zugleich im hier pointierten Sinne an ein größtmögliches Massenpublikum richtet. Sie setzt dessen Verwurzelung in spezifischen, lokalen kulturellen Traditionen nicht voraus. Vielmehr nimmt sie die eigensinnigen, auf Abgrenzung von den Stilen und Lebensweisen vorheriger Generationen ausgerichteten Strebungen auf, die die seit den 1950er Jahren auf den Plan tretende Jugendkultur auszeichnet. Massenkultur ist nun ein globaler, durch Massenmedien und Warenkonsum zugänglicher Resonanzraum, in dem die spezifischen Ansprüche eines adoleszenten Publikums und Verwertungsinteressen, in dem Subversion und ihre Kommerzialisierung einander verstärken.
P opkultur
als fle xibilisierte
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Berücksichtigt man nun diese Rolle der Massenkultur als aktivierender Faktor in den gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen ab den 1960er Jahren, dann muss das Kulturindustrie-Konzept der frühen Kritischen Theorie zumindest modifiziert werden – ohne dass dabei auf die Einsicht Adornos in ihren systemischen Charakter verzichtet werden sollte. Die folgende Darstellung greift dazu eine Reihe älterer und aktueller Überlegungen unterschiedlicher Autoren auf und bündelt sie, ohne hier allzu viele Details ausführen zu können. Zu Recht hatten Adorno und Horkheimer die Kommodifizierung und die (Medien-)Technologie als wesentliche Merkmale der kulturindustriellen Produktion hervorgehoben sowie deren Ausrichtung auf ein großes, zahlendes und unterhaltungssuchendes Publikum als die daraus resultierende Aufnahme von Rezipienten6 | Vgl. für eine detailreiche Rekonstruktion Siegfried (2006). 7 | Dies heben insbesondere die Cultural Studies zu Recht hervor, vgl. zum Beispiel Willis (1991). Im Hintergrund steht ein Begriff der › gemeinsamen Kultur‹, vgl. dazu Williams (1977).
Zwischen Kulturindustrie und Subkultur
vorlieben. Schon Walter Benjamin hatte mit Blick auf den Film in den 1930er Jahren bezweifelt, dass die sich unter diesen Bedingungen herausbildenden, nach ›Zerstreuung‹ strebenden Rezeptionsweisen tatsächlich dem Emanzipationsgedanken der Kritischen Theorie zuwiderliefen, sosehr sie auch ältere rituell und repräsentativ bestimmte Kulturformen ablösen. Er konstatiert zwar einen durch den Film bewirkten ›Auraverlust‹, aber spricht ihm zugleich auch eine gesellschaftliche Rolle zu, nämlich die Herrschaft repräsentierende Funktion der Kunst umzuwälzen. Der Film (und damit die Massenkultur) enthält für ihn aufgrund seiner technologischen Funktionsweise damit auch ›fortschrittliche‹ Tendenzen: Der Auraverlust ist für Benjamin ([1936] 1980) eine notwendige Konsequenz der Produktivkraftentwicklung und der Preis, der für die emanzipativen Chancen des Films zu entrichten ist. Benjamins Thesen lassen sich so verallgemeinern, dass die Produkte der Massenkultur sich nicht nur hinsichtlich ihrer Herstellungsweisen und des Umfanges ihres Publikums von bürgerlichen, volkstümlichen oder aristokratischen Kulturformen unterscheiden. Ihre mediale und warenförmige – und daher per se soziale Kontexte übergreifende – Verbreitungsweise impliziert vielmehr auch, dass normative, kollektive oder rituelle Rezeptionsweisen generell gegenüber situativen, erlebnisbezogenen Rezeptionsvorlieben zurücktreten. Weiterhin stärkt der kommerzielle Charakter der Kultur-Waren damit auch eine auf die individuelle Kaufentscheidung bezogene Konsumentenrolle, die sich in ihrer geldförmigen Sachlichkeit von kollektiv-rituellen oder autonomieästhetischen Stilvorgaben löst. Die daraus resultierende Profanierung von Kultur (Benjamins Auraverlust) bringt eine – gerade in der rein formellen Operation des Kaufens liegende – Demokratisierung nicht nur des Zugangs, sondern auch der ›Inhalte‹ mitsamt der auf sie bezogenen Bewertungsschemata und -kriterien mit sich: Als Waren werden Kulturgüter nicht nur größeren Kreisen verfügbar, sie richten sich auch schon aus Profitgründen an deren angenommenen Präferenzen aus. Die Kulturproduktion richtet sich somit produzentenseits auf Absatz und rezipientenseits auf Erlebnis aus, an Stelle älterer rituell-traditioneller oder repräsentativer Zweckbestimmungen. Das führt dazu, was auch Adorno und Horkheimer sahen, dass der bislang aus der Kultursphäre ausgeschlossene Alltag großer Bevölkerungsgruppen an wirtschaftlicher Bedeutung gewinnt. Zugleich aber – und dies betont Benjamin – erlangen die Vorlieben eines großen Publikums eben dadurch auch Öffentlichkeit und erscheinen als ein legitimer Gegenstand nicht nur kulturindustrieller, sondern auch kulturpolitischer Strategien und nicht zuletzt subkulturellen Engagements. Die bei Benjamin schon in den 1930er Jahren angelegte Diagnose entfaltet ihre Plausibilität insbesondere seit den 1960er Jahren, zeigt sich doch, dass die kulturrevolutionäre Ausbruchstimmung dieser Zeit, konträr zu ihrem antikommerziellen und teilweise technikkritischen Gestus, ihre gesellschaftliche Verbreitung in den westlichen Industriegesellschaften überhaupt nur deshalb erfahren konnte, weil sie ihr jugendliches Publikum nicht nur in den Metropolen in der
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niedrigschwelligen Form von Waren (Schallplatten, Kleidung, Zeitschriften etc.) erreichte, die eine Kulturindustrie vertrieb, die den jugendlichen Auf bruch als Geschäftschance entdeckt hatte. Kommerzialisierung und Demokratisierung von Kultur lassen sich, so widersprüchlich ihr Verhältnis im Einzelnen auch sein mag, nicht voneinander trennen, sie verstärken einander vielmehr. Diese individualisierenden und demokratisierenden Effekte der Kommodifizierung führen dazu, dass die Gegenwart, der Augenblick, zum leitenden Prinzip der Massenkultur wird. Bürgerliche Kulturaneignungsideale (ausgerichtet auf Kanonisierung oder Kontemplation) beziehen immer eine kulturelle Tradition ein – die massenkulturelle Kulturaneignung ist indes aufgrund der Unverbindlichkeit des Kaufakts nicht an die Tradition als Vergleichs- und Orientierungsmaßstab oder an Stilnormen gebunden. Stattdessen wird – auch dies eine Beobachtung schon bei Benjamin – die Orientierung am Erlebnis leitend (vgl. Makropoulos 2007). Erlebnisorientierung heißt hier vor allem: Das von einem Rezeptionsakt erwartete Erlebnis wird nicht auf der Folie einer Aneignung oder Erweiterung kultureller Traditionsbestände bewertet, sondern es wird daraufhin befragt, ob es bisherigen Erlebnissen des rezipierenden Subjekts qualitativ gleichkommt oder sie an Intensität übertreffen kann. 8 Dieser Aneignungsmodus ist a-traditional in einem doppelten Sinne: Er ist individualistisch, insofern er nach einem subjektiven Erlebnisgehalt sucht und dabei nicht von überindividuellen Normen des Stils ausgeht – und er ist aktualistisch, insofern seine Präferenzen sich auf der Folie jeweils aktuell verfügbarer und öffentlich präsenter Angebote bilden. In diesen Angeboten spiegeln sich immer auch die Lebensstile und -entwürfe gesellschaftlicher Gruppen (Milieus, Subkulturen), die damit gesellschaftliche Normalität erlangen. Besonders deutlich zeigt sich dies an der besonderen Rolle, die die populäre Musik (in den 1960er und 1970er Jahren vor allem Rockmusik) bei der Flexibilisierung der Massenkultur spielte. Sie kann in gewisser Weise als die Kernsparte dieses Typus von Massenkultur angesehen werden, die nicht (wie die Kulturindustrie Adornos) auf Standardisierung, sondern auf Individualisierung und Aktualismus setzt und beides (wie die Kulturindustrie Adornos) durch ökonomische Imperative getrieben an ein gesellschaftsweites, zunächst vorwiegend junges Publikum adressiert.9 Der besondere Charakter der populären Musik lag in den 1960er bis 1990er Jahren darin, mehrere Generationskohorten affektiv an bestimmte Musikformen zu binden, diesen damit gesellschaftliche Geltung zu verschaffen und zugleich sozialen Konf liktdynamiken und Ansprüchen Ausdruck zu verleihen. 8 | Vgl. dazu mit Fokus auf den Konsum Schrage (2009). 9 | Die exemplarischen Ausführungen zur populären Musik verdanken sich dem laufenden Forschungsprojekt ›Time has come today ‹ im DFG-Schwerpunktprogramm ›Ästhetische Eigenzeiten‹, das der Verfasser zusammen mit Holger Schwetter und Anne-Kathrin Hoklas durchführt, vgl. Schrage und Schwetter (2016).
Zwischen Kulturindustrie und Subkultur
Eine weitere zentrale Bedeutung der Popmusik lag in der Möglichkeit, sich auf das Wagnis der Individualität einzulassen: Musikhören diente als ein Mittel, sich von Älteren zu unterscheiden und individuelle Erfahrungen zu machen. Es ging dabei nicht darum, eine objektiv richtige Hörweise zu entwickeln, sondern sich individuell von Musik affizieren zu lassen. Die Musikstücke wurden hierzu, ganz anders als in Adornos (1941) Konzept einer rigide standardisierten popular music, immer länger und entfalteten immer komplexere Binnendynamiken, um differenziertes Mitempfinden zu ermöglichen. Auf der sozialstrukturellen Ebene wurde Popmusik somit zu einem Medium der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen, auf der kulturellen Ebene wurde sie für mehrere Jahrzehnte zum zentralen Fixpunkt von Jugendkulturen.
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als
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Diese flexibilisierte Massenkultur weist hinsichtlich ihres systemischen Charakters weiterhin Merkmale von Adornos Kulturindustrie auf: Vermag sie es doch, ein großes, mit Gesellschaft nahezu koextensives Publikum mit Hilfe technologischer und ökonomischer Vermittlungsformen kulturell zu integrieren. Der Modus dieser Integration ist indes nicht die von Adorno hervorgehobene Standardisierung von Form und Inhalt des kulturindustriellen Angebots unter der Ägide technologischer und Verwertungsimperative. Vielmehr spiegelt die flexibilisierte Massenkultur die gesellschaftliche Normalität kultureller Präferenzen wider und verleiht ihnen dadurch sozial Geltung. Das schließt auch ihre Nutzung als Abhebungsfolie für Strategien subversiver Authentifizierung ein, in denen das Motiv der antikommerziellen Authentizität durch eine avantgardistische Wendung aus dem autonomieästhetischen Kontext in einen massenkulturellen Kontext übertragen wird.10 Massenkultur im geschilderten Sinne lässt die Welt somit als eine erscheinen, die sich nicht durch den Bezug auf Sitten, traditionelle Ordnungen oder überlieferte Normenbestände erschließen lässt. Im Gegenteil: Sie erfordert und bringt eine Einstellung hervor, die sich beständig erneuernde Erwartungen an eine durch Konsum verfügbare und auch kommunikativ disponible Welt hegt. Nicht verbindliche Normen, sondern immer neue Bedeutungsmuster und Verhaltensmöglichkeiten werden kommuniziert und ermöglichen damit soziale Anschlussfähigkeit. An die Stelle des sanktionsbewehrten Konformitätsdrucks normativer Vergesellschaftungsformen tritt eine weitaus lockerere Bindung von Individuum und Gesellschaft. ›Locker‹ deshalb, weil ihr Primat nicht auf der (im Zweifelsfall sanktionsbewehrten) Adaption der Individuen an die Erwartungen der Gesellschaft liegt, sondern auf der Anreizung und Steuerung der Erwartungen, die Konsumenten gegenüber der Gesellschaft hegen. 10 | Vgl. weiterführend Schrage und Schwetter (2016).
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Der Soziologe Hans Paul Bahrdt hat einen solchen, aus Marktbeziehungen hervorgehenden und dabei die einzelnen nicht vollständig erfassenden Integrationstyp als ›unvollständige Integration‹ bezeichnet. Er wies damit auf eine für die Geschichte der europäischen Stadt charakteristische, wie er schreibt, »negative Voraussetzung der Öffentlichkeit« hin: Die »Offenheit der sozialen Intentionalität der einzelnen, deren Willkür es überlassen bleibt, mit wem, auf welche Weise und wie lange sie Kontakt aufnehmen, um zu handeln« (Bahrdt 1961: 40). Das Konzept ›unvollständige Integration‹ unterscheidet sich also von dem für die Soziologie klassischen, auf Emile Durkheim ([1893] 1991) zurückgehenden Integrationsverständnis, da es keine ausschließliche Geltung von Normen und Werten impliziert, sondern vielmehr das schiere Bezogensein der Individuen auf ein Gemeinsames bezeichnet – bei Bahrdt das Marktgeschehen –, zu dem die einzelnen eine durchaus nicht beliebige Distanz einnehmen. Sie teilen demnach nicht zwangsläufig Normen oder Werte, sondern lediglich den Bezug auf ein gemeinsames Geschehen – werden insofern nicht durch Zwang (Konformitätsdruck), sondern durch Attraktion (Anziehung) ›integriert‹ (vgl. Schrage 2003). Ganz im Sinne des Konzepts der ›unvollständigen Integration‹ Bahrdts ermöglicht und verbreitet die Massenkultur mit ihrer Etablierung somit einerseits die Loslösung von festen Orientierungsmustern und damit Kommunikationsfähigkeit in einem nicht trivialen Sinne – sie lässt es als wünschenswert erscheinen, sich von routinisierten und ritualisierten Verhaltensmustern zu distanzieren. Andererseits aber bindet sie, da sie beständig neue Sinngehalte kommuniziert, zu denen sich Konsumenten und Rezipienten verhalten müssen und wollen: Das integrative Moment liegt nicht darin, dass soziale Normen sich als sanktionsbewehrte Anweisungen auferlegen, dieses oder jenes zu tun oder zu unterlassen, sondern in der Bindung der Erwartungen an massenkulturell kommunizierbare Bedeutungen – seien diese mainstream oder underground, konformistisch oder subversiv. Massenkultur stellt somit ein eigenes Orientierungsgefüge dar, das gerade nicht auf gegebenen, tradierten und deshalb unverfügbaren Stilen oder Gewohnheiten basiert, welche auf Substantielles zielen und jedes neue Kulturgut auf einen kanonischen Rahmen beziehen. Massenkultur als Orientierungsgefüge richtet sich demgegenüber nicht an der Angemessenheit von Inhalt und Form, sondern an der Normalität des Gebrauchs aus, auf das, was gegenwärtig akzeptabel, anschlussfähig oder trendy ist, und fällt somit kein ›inhaltliches‹ Urteil über Kulturgüter. Vielmehr werden aktuelle Nutzungen und Akzeptanzen eines großen Publikums repräsentiert, dessen Einzelteilnehmer qua Konsumentenrolle Kaufentscheidungen treffen, deren Gesamtheit als Normalität, als common sense – oder vielmehr: common use – erscheint.11 Aus soziologischer Perspektive lässt sich die flexibilisierte Massenkultur, Bahrdts Konzept der unvollständigen Integration mit einer gesellschaftsdiagnos11 | Vgl. hier anschließend das Konzept des Normalismus bei Link (1997).
Zwischen Kulturindustrie und Subkultur
tischen These des späten Michel Foucault verbindend (vgl. Foucault 1999: 287ff.), als die Kultur einer ›Normalisierungsgesellschaft‹ bezeichnen, deren Subjekte sich weitgehend selbsttätig an der sich permanent wandelnden Wirklichkeit der modernen Gesellschaft orientieren, die sie sich in Form massenkultureller, das heißt unverbindlicher und niederschwelliger Angebote aneignen. Damit ist flexibilisierte Massenkultur, wie Michael Makropoulos (2008) luzide herausgearbeitet hat, eine ›Kontingenzkultur‹, eine Kultur, die das individuelle Streben nach Selbstentfaltung positiviert und das Andersseinwollen zu einem legitimen und gesellschaftlich anerkannten Ideal macht. Die problematischen Aspekte dieser Massenkultur liegen, nimmt man diese Beobachtungsperspektive ein, nicht in ihren Standardisierungseffekten, sondern wohl darin, dass sie, wie jedes gesellschaftliche Integrationsprogramm, die ökonomischen, technologischen und sozialen Strukturen, auf denen sie ruht, bestätigen muss.
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II. ANALYSEN
Bildung und populäre Kultur Eine Vorlesung über eine rhizomatische Geschichte, die weite Schleifen zieht und neu verkettet Olaf Sanders
V erbindungen Bildung und Popkultur, so könnte man denken, hätten nichts miteinander zu tun, weil Bildung noch immer oft vor allem mit Hochkultur in Verbindung gebracht wird. Diese Gewohnheit zeichnet sich durch ein Beharrungsvermögen aus, das resistent scheint gegenüber der Unsinnigkeit der Unterscheidung zwischen hoher und populärer Kultur, die im Verlauf der Begriffsgeschichte meist ohnehin nur strategische Gründe hatte und auch noch an ganz verschiedene Ziele geknüpft war. Hochkultur als Pool des Besten, das je gedacht oder geschrieben wurde – wie es Matthew Arnold ([1869] 1989) für Großbritannien fasste –, konnte identitätsstiftend wirken und so die Nationenbildung befördern oder auch zur Distinktion gegenüber Proletariern oder Nicht-Engländern eingesetzt werden. Wirkmächtige Unterschiede manifestieren sich auch in Frankreich als kleine und feine (vgl. Bourdieu 1987). Vor allem im deutschen Sprachraum wurden Kultur und Bildung zudem im 18. und 19. Jahrhundert zu emanzipatorischen Kampf begriffen gegen die als unzeitgemäß empfundene Feudalherrschaft (vgl. Bollenbeck 1994). Gerade im Hinblick auf den Begriff der Bildung wird die Hinfälligkeit der Unterscheidung zwischen populärer und hoher Kultur augenfällig, denn das einzige Kriterium, das mir diesseits von high und low, Kulturgut und Kulturware oder E – wie ernst – und U – wie unterhaltend – zur Unterscheidung von besseren und schlechteren Kulturgegenständen noch plausibel erscheint, lautet, inwiefern sie sich zur Bildung anbieten, indem sie die Entwicklung neuer Deutungsmuster und Praxen ermöglichen. Ob sich ein Kulturgegenstand zur Bildung anbietet, hängt wiederum stark von den jeweils sehr spezifischen affektiven Bindungen ab und von einem gewissen Grad von Komplexität, der sich allerdings auch nicht situations- oder kontextunabhängig bestimmen lässt und den außerdem die eine
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oder andere Oper genauso erreicht wie die eine oder andere Fernsehserie.1 Von Bedeutung sind außerdem die jeweilige individuelle Vorbildung und -erfahrung. Im Hinblick auf die Komplexität macht es wenig Sinn, zum Beispiel darüber zu streiten, ob Beethovens 5. Klavierkonzert (op. 73, 1811) weniger komplex ist als ein Hip-Hop-Konzept-Album wie Undun (2011) von The Roots. Nicht zuletzt bleibt auch zu unterscheiden, ob die Deutungsmuster und Praxen nur relativ oder sogar absolut neu sind. Die im Hinblick auf den Bildungsbegriff wünschenswerte Unterstellung der Gleichheit derer, die Kultur rezipieren, praktizieren oder sogar hervorbringen, die sich durch die Philosophie Jacques Rancières begründen lässt (vgl. z.B. Rancière 2014, 2016),2 bleibt zu erweitern um die Einsicht der und in die Vielgleicherheit der Artefakte, die sich ebenso selbstverständlich unterscheiden wie die Rezipientinnen und Rezipienten oder Praktikerinnen und Praktiker. Bildung bleibt auch in der Vielfalt pluraler Prozesse »Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung« (Adorno [1959] 1998a: 94). Und es gibt eine Mannigfaltigkeit kultureller Formen. Je nachdem, wer oder wie man sich diesen Kulturgegenständen nähert, können sich Bildungsmöglichkeiten eröffnen, die sich nicht von selbst oder notwendig einstellen (vgl. Sanders 2001, 2002). Will man emphatisch am Bildungsbegriff festhalten, bleibt zu prüfen und sicherzustellen, dass Bildung nach wie vor auf die bessere »Einrichtung der menschlichen Dinge« (Adorno [1959] 1998a: 95) zielt.
W as
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P op ?
Als Antwort auf diese Frage möchte ich drei Angebote unterbreiten: Das erste stammt meiner Erinnerung nach von Diedrich Diederichsen, der mit der so lapidaren wie wahren Einsicht zum Rauschen des Pop-Diskurses beigetragen hat, dass Pop entstehe, wenn Engländer Amerikaner kopierten, die Engländer kopierten. Diese Bestimmung halte ich für stimmig, solange unter Popkultur ein kulturelles Segment verstanden wird, das nach dem 2. Weltkrieg entstanden ist. Dann handelt es sich im deutschen Sprachraum im Wesentlichen um eine Kultur, die zunächst importiert wurde – und zwar vor allem aus England und den USA. 1 | Derartige Fernsehserien können durchaus noch am Melodram orientiert sein, sind aber keine Seifenopern mehr, die werktäglich oder wöchentlich vor allem dazu dienen, von Seifen- oder Reinigungsmittelwerbespots unterbrochen zu werden. 2 | Rancière postuliert die Gleichheit der Menschen, weil alle an der einen Intelligenz teilhaben, die sich in allen von Menschen geschaffenen Artefakten zeigt. Nur aufgrund dieser Gleichheitsunterstellung lassen sich gleiche Rechte, z.B. das Menschenrecht auf Bildung einfordern, solange diese Rechte nicht allen in gleichem Maß gewährt werden. Erst die Gleichheitsunterstellung ermöglicht Chancengleichheit, wie sie im Hinblick auf Bildungsmöglichkeiten wünschenswert erscheint.
Bildung und populäre Kultur
Dass dieser Import ganz unterschiedlich unterstützt wurde oder auch überhaupt nur möglich war, erklärt meines Erachtens bis heute unterschätzte Unterschiede zwischen den Lebensweisen in den östlichen und westlichen Bundesländern. Das zweite, gut systematisierte Angebot hat John Storey erarbeitet und wird in diesem Band vom Autor selbst vorgestellt, sodass ich mich kurzfassen kann. Storey nennt sechs Definitionen populärer Kultur. Populäre Kultur sei erstens, was populär sei, zweitens, was übrigbleibe, wenn man Hochkultur aus der Kultur abziehe, drittens Massenkultur im Sinne von Theodor W. Adorno, viertens Volkskultur, fünftens gegen kulturelle Hegemonien wirkende Subkultur oder sechstens im Verlauf der Postmoderne von Hochkultur ohnehin nicht mehr – wie oben schon behauptet – sinnvoll unterscheidbar. Sie stimmen alle teilweise. Die am Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies in den 1960er und 1970er Jahren betriebene, auch an Erziehungsfragen interessierte Popkulturforschung verstand populäre Kultur als Lebensweise und positionierte sich als Subkulturtheorie teilweise gegen den Massenkulturansatz der kritischen Theorie, der populäre Kultur als kulturindustrielle Massenbetrügerei und -verdummung auffasste.3 Stuart Hall konnte zeigen, dass manche Produkte populärer Kultur von höherer Qualität waren als Adorno den Kulturwaren zubilligte (vgl. Hall und Whannel 1964) und dass für die Rezipientinnen und Rezipienten beim Dekodieren und Verwenden immer größere Freiheitsspielräume bestanden als intendiert (vgl. Hall 1980) und diese auch genutzt wurden. Insgesamt sah er populäre Kultur als Feld an, das relevant sei, weil auf ihm dereinst womöglich eine neue Form von Sozialismus entstehe (vgl. Hall 1981). Weil sich die widerständigen Subkulturen in den 1990er Jahren im Mainstream der Minderheiten (vgl. Holert und Terkessisdis 1996) oder auf dem Dancefloor im Widerstand gegen den Widerstand aufgelöst haben (vgl. Klein 1999) und sich bestenfalls noch als rechte Subkulturen der Vereinnahmung durch den globalen Kapitalismus und seine Kulturindustrien sperren (vgl. Sanders 2016), 4 halte ich diesen mir sympathischen Theoriestrang für revisionsbedürftig. Gegen Adorno ([1959] 1998a) ließe sich noch einwenden, dass die Halbbildung, die noch durch die Vortäuschung (hoch)kultureller Teilhabe geprägt war, inzwischen zu sozialisierter Unbildung weiterverfallen ist (vgl. Liessmann 2006). Dessen ungeachtet bleibt die Komplexität des Gegenstandes und das emanzipatorische Potential, das sich im Prozess seiner Zueignung entfalten kann, im Hin3 | Vgl. Adorno ([1941] 1980), Horkheimer und Adorno ([1944/1947] 1988), insbesondere das Kapitel »Kulturindustrie«: 128ff. 4 | Subkulturen haben immer auch versucht, die Hegemonialkultur zu verändern. Das ist ihnen zum Teil auch gelungen, aber in dem Maß in dem ihre Breitenwirkung zunahm, erschlossen sich auch Märkte – Musikerinnen und Musiker wechselten zu Majorlabeln, die Mode war auch bei Ketten erhältlich – was das ›Sub‹ in ein ›Main‹ umwandelte. Die rechte Jugendkultur, ihrer Musik und Kleidung ist der Weg in den Mainstream bisher versperrt geblieben.
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blick auf Bildung und Bildungsprozesse untersuchenswert und das Projekt der Cultural Studies folglich fortzusetzen. Bevor ich auf Bildung zurückkomme, möchte ich erklären, warum es schließlich nach einigen weiteren Umwegen mehr um Film gehen wird als um Musik, obwohl populäre Kultur oder Popkultur doch lange als Musikkultur aufgefasst wurde – und auch heute noch von namhaften deutschsprachigen Popkulturtheoretikern wie Diederichsen (2014), Karl Bruckmaier (2014) oder Jens Balzer (2016) so aufgefasst wird. Das hat zunächst schlicht geschichtliche Gründe, für die es wiederum technische Gründe gibt. Populärkulturen waren während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts meist Jugendkulturen und als Jugendkulturen musikbasiert. Das sind sie heute nicht mehr – oder zumindest viel weniger –, weil sich die Jugend als Lebensphase immer weiter ausdehnt und selbst hegemonial geworden ist. Wer schert sich noch um tatkräftige Erwachsene oder gar alte Weise? Außerdem entwickeln sich Musikstile nicht mehr als Erzählungen, sondern scheinen im Datenbankzeitalter eher permanent zu variieren und trotzdem zu stagnieren (vgl. Manovich 2001). Paul Virilio prägte in anderen Kontexten den hier passenden Begriff des rasenden Stillstands (vgl. Virilio 1992, Balzer 2016: 32) und erinnert in diesem Zusammenhang an die Rückbesinnung auf das Archiv und das von Simon Reynolds lancierte Etikett ›Retromania‹. Was immer Jugendkulturen heute ausmacht, es ist nicht mehr vorrangig die Bindung an eine bestimmte Art von Musik. Platten werden trotz wachsender und als hip geltender Vinyl-Sammelleidenschaft kaum noch biographisch gesammelt, sodass sich wohl nur noch selten ein Lebenssoundtrack bildet wie ihn Nick Hornby in seinem Roman High Fidelity (1995) retrospektiv zumindest noch als verbreitet voraussetzt und beschreibt. Die in den Shell-Jugendstudien beschriebene Jugend war ohnehin kaum je Teil einer Jugendbewegung und wollte dies wohl auch 1995 schon viel seltener sein als sich annehmen ließe, wenn man an den einschlägigen Song der Hamburger Band Tocotronic zurückdenkt. Dirk von Lowtzow besang den Wunsch, Teil einer Jugendbewegung zu sein, auf der Langspielplatte Digital ist besser (1995). Gerade die Digitalisierung und sich durch sie eröffnende Archivierungsmöglichkeiten (z.B. auf Youtube) führten nun allerdings dazu, dass Musik oft stückweise, also in kleineren Einheiten als der LP, und in immer größeren Mengen über diverse (Speicher-)Medien geteilt und dadurch auch entwertet wurde. Bessere und billigere Speichermöglichkeiten sowie schnellere Internetverbindungen werteten zugleich die Bildmedien auf. Durch die Verbindung von Datenbank und navigierbaren Räumen entstand eine neue Spielkultur. Gaming scheint mir als Jugendkultur heute eine gewisse Rolle zu spielen, die jedoch im Hinblick auf ihr emanzipatorisches Potential allgemein unterschätzt wird (vgl. Johnson 2006).5 5 | Es ist faszinierend und erschreckend zu beobachten, dass junge Menschen, die in Schulen kaum in der Lage scheinen, strategisch und längerfristig orientiert zu handeln, dies in Spielzusammenhängen viel besser können. Der Grund könnte nach wie vor in der
Bildung und populäre Kultur
Kino und Film bilden das Gelenk zwischen den ›alten‹ Narrationen und dem Komplex aus Datenbanken und navigierbaren Räumen, die zusehends wie selbstgesteuerte Kinobilder funktionieren, während das Kino selbst länger schon, zum Beispiel in Dziga Vertovs berühmtem Film Chelovek s kino-apparatom (dt. Der Mann mit der Kamera, SU 1929) oder in den Datenbankfilmen Peter Greenaways zwischen The Falls (GB 1980) und Prospero’s Books (GB u.a. 1991) mit der Datenbanklogik experimentiert. Aus diesen Gründen lege ich Bewegungsbildern eine so große Bedeutung bei. Und damit komme ich zum dritten Angebot, was unter Popkultur verstanden werden könnte, und auf Diederichsen zurück, der feststellt, dass populäre Musik durch den Anschluss an ein (Kino-)Bild-Regime zu Popmusik wird (vgl. 2014: 73ff.).6 So geschah es seines Erachtens 1956, als Elvis Presley das erste Mal im Fernsehen auftrat. Der nicht zu lösende, aber Auflösungen beschleunigende Widerspruch ›sub‹ bleiben und weltweit erfolgreich werden zu wollen, zeichnete Popkultur für einige Jahrzehnte aus. Festhalten lässt sich, dass populäre Kultur noch heute in der Regel bewegungs- und tonbildorientiert ist. Die Tonbildorientierung zeigt sich noch auf Youtube, wo Musik auch heute noch oft von nur einem Standbild begleitet wird; und Bewegungsbildorientierung gibt es auch in anderen Bildmedien, im Comic beispielsweise, in den letzten Jahren insbesondere in der Manga-Kultur und im J-Pop (vgl. Balzer 2016: 67f.). Pop entsteht eben heutzutage auch, wenn Japaner – oder wer auch immer – Engländerinnen kopieren, die Amerikanerinnen kopieren etc.
B ildung , B ildung , B ildung Vergegenwärtigt man sich die auf Rainer Kokemohr zurückgehende Bestimmung von Bildung als Transformation von Selbstweltverhältnissen (vgl. u.a. Koller, Marotzki und Sanders 2007), dann liegt es allein schon im Rückblick auf die Cultural Studies nah, sich in bildungswissenschaftlichen Zusammenhängen mit Popkultur zu beschäftigen oder in popkulturellen Kontexten von Bildung zu sprechen. Manche Bildungsprozesse vollziehen sich auch heute noch wie in den
affektiven Ermächtigung liegen, die früher dem Rock-Apparat(us) zugeschrieben wurde (vgl. u.a. Grossberg 1997, 2000). 6 | Die Bindung ans Bild lässt sich jugendkulturgeschichtlich auch anhand von inzwischen ausgestorbenen Genres verfolgen, von Postern zum Beispiel, die an Bedeutung verloren haben, zumal als Sammelmotiv aus Jugendzeitschriften, die seit den 1960er Jahren in Westdeutschland in der Bravo Starschnitt hießen und über Wochen in Teilen distribuiert wurden, sodass man sich am Ende die ganze Zimmerwand – im Zweifel als Ausdruck des schlechten Geschmacks – mit einem riesengroßen Kiss-Poster bekleben konnte. Bis 2004 erschienen Wikipedia zufolge 118 Starschnitte, die inzwischen musealisiert werden (vgl. z.B. die Ausstellung in der Kulturbäckerei Lüneburg vom 28.2. bis 19.3.2017).
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1960er und 70er Jahren in England durch Bricolage (Bastelei) und unter Bedingungen von Knappheit. Dass der Bildungsbegriff seine Popkompatibilität schon mitbringt, zeigt auch ein kurzer Rückblick auf die Klassiker der Bildungsphilosophie. Herder, Schiller, Humboldt und Hegel können meines Erachtens noch heute viel zum Verständnis beitragen, wie und warum populäre Kultur bildet. Wie das von Hegel, Hölderlin und Schelling in Tübingen gemeinsam erdachte so genannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus belegt, entsprach es durchaus dem Zeitgeist zu popularisieren (vgl. Hölderlin [1795/1796] 2008: 575ff.). Durch ihr Anliegen, dem Volk Philosophie näher zu bringen, nahmen sie einen Teil der Pop-Philosophie vorweg, die Gilles Deleuze und Félix Guattari dann weiter ausarbeiteten (vgl. 1976: 38f.). Der Sound der Tübinger Schule, wie sich die jungen Hegel, Hölderlin und Schelling Pop-afin nennen ließen, klingt heute noch erstaunlich frisch und sperrt sich der Vereinnahmung in die Vorgeschichte der Science Slams, in denen es eher darum geht, alles kurz zu sagen, statt durch Kürze zu markieren, was zukünftig noch alles auszudrücken sein wird. Johann Gottfried Herder kommt das Verdienst zu, Bildung und Kultur in ein dialektisches Verhältnis gesetzt zu haben. Für Herder ist Kultur das Medium der Menschwerdung und zugleich das, was Menschen tätig hervorbringen. Hegel wird dann feststellen, dass Arbeit bilde (vgl. [1807] 1986a: 153). In diesem Prozess der Weltan- und -zueignung, der sich bei Herder zu einem kulturgeschichtlichen Prozess weitet (vgl. [1774] 1990), schaffen Menschen auch immer Neues. Menschen erscheinen als innovativ und selbstschöpfend. Sie nähern sich letztlich in ihrer Menschwerdung einem impliziten Ideal und werden dabei, was sie wollen und sollen, »eben der aufgeklärte, unterrichtete, feine, vernünftige, Tugendhafte [sic!], genießende Mensch, den Gott auf der Stufe unserer Kultur fordert« (Herder [1846] 1997: 30). Friedrich Schiller säkularisiert den Bildungsbegriff – der Mensch fordert fortan selbst – und politisiert ihn. Für Schiller kann nur die Kunst den Grundwiderspruch der Erziehung lösen, demnach sich Autonomie nicht erzwingen lasse und Erziehung ohne Zwang – außer durch das Schöne – undenkbar sei. Weil sich Autonomie nur in seltenen Fällen von selbst ausbildet, wird die schöne Kunst zur ersten Lehrerin der Völker, als die sie auch später noch in Hegels Ästhetik ausgezeichnet wird (vgl. [1835/1842] 1986b: 76). Schiller ([1795] 2004) schränkt den bei Herder breit angelegten Kulturbegriff auf Kunst ein und überhöht diese zugleich. Herder, für den jede Art von menschlicher Praxis zur Kultur gehört, erweist sich als Urahn der Cultural Studies. Schiller hingegen schreibt der durch Kunst präsentierten Schönheit sowohl emanzipatorische als auch zivilisatorische Wirkung zu, weil sie den Menschen verbessert, sodass er irgendwann in der Lage sein wird, in einer für ihn oder seiner Geistesentwicklung angemessenen Staatsform zu leben, die Schiller Vernunftstaat nennt. Der Vernunftstaat entspricht der Republik, wie sie durch die Französische Revolution hervorgebracht wurde, die allerdings ohne die die Französische Revolution begleitende Barbarei und ohne terreur realisiert werden sollte. Bei Schiller kann die
Bildung und populäre Kultur
energische Schönheit ›empowernde‹ Wirkung entfalten, wie sie in den Cultural Studies dem Rhythmus populärer Musik zugeschrieben wird. Der Anarchie weicht Schiller aber aus. Rancière (2008a, 2008b) entwickelt Schillers Gedankengänge weiter und passt sie an das Zeitalter der nicht mehr notwendig schönen Künste an, indem er ihnen aufgibt, die Aufteilung des Sinnlichen zu verschieben, die jeder Politik zugrunde liegt, weil sie regelt, wer und wessen Positionen zur Sprache kommen können. Von Gleichheit sind wir noch weit entfernt.7 Wilhelm von Humboldts viel zitierter Bestimmung der »höchste[n] und proportionirlichste[n] Bildung aller seiner Kräfte« ([1792] 1995: 64) als »wahre[r] Zweck des Menschen« (ebd.), liegen als Möglichkeitsbedingungen Freiheit, also für Humboldt Vernunft, und eine »Mannigfaltigkeit von Situationen« (ebd.) zugrunde. Diese Bestimmung gibt zugleich als Regulativ vor, dass sich Gleichheit nur in der Differenz realisieren lässt. Alle Menschen sollen das Gleiche, sprich »höchste und proportionirlichste Bildung« (ebd.), anstreben und soweit wie möglich auch realisieren können. Die Realisierung wird aber auf unterschiedlichsten Wegen erfolgen und zu ganz verschiedenen Resultaten und letztlich zur Bildung von Singularitäten führen. Weiter hinten in der Staatsschrift finden sich noch zwei weitere erwähnenswerte Gedankengänge: Humboldt argumentiert, dass der Staat sich aufgrund seiner Neigung zu Vereinseitigung aus der öffentlichen Erziehung heraushalten solle (vgl. ebd. 109) und wertet nebenbei noch die Musik Kant gegenüber auf, indem er sie als energieerhöhend auszeichnet (vgl. ebd. 133). Wer sich die Jugendkulturgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ansieht, dem fällt nicht nur auf, dass Popkultur die meiste Zeit Musikkultur war, sondern auch, dass sich diese oft als Trägerin eines anti-staatlichen Motivs bewährte. Die Revolution wurde auch in dieser Hinsicht zunächst nicht im Fernsehen übertragen.8 Unterschätzt wird heute meines Erachtens die zivilisatorische Wirkung populärer Musikkulturen, wie sie sich im Abschleifen von Autoritäten und autoritären Charakteren zeigte. Dieses Moment, dass in den 1970er und 1980er Jahren noch viel lebendiger war, scheint heute kaum noch zu wirken.
7 | Im Anschluss an Fußnote 2 lässt sich hier ergänzen, dass ein Ziel populärkultureller Artefakte auch immer darin bestand (und womöglich zum Teil auch heute noch besteht) Ausdruckmöglichkeiten für Menschen hervorzubringen, denen diese Möglichkeiten nicht in hinreichender Weise zugestanden wurden (oder sogar noch oder auch wieder werden). Das gilt für die ganze afro-amerikanische (Musik-)Kultur. Schillers Hoffnung, dass das Schöne eine hinreichend entbarbarisierende Wirkung entfalten könnte, scheint in den Künsten nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts kaum noch geteilt zu werden. 8 | Die zweite CD der Gil Scott-Heron-Box The Revolution Begins. The Flying Dutchman Masters (2012) wird durch eine sehr reduzierte nur durch Percussion begleitete Version des Stücks »The Revolution Will Not Be Televised« (1969/70) eröffnet. Der Titel hat sich zu einer gebräuchlichen Wendung verselbständigt, worauf noch Alan Sepinwalls Buchtitel Die Revolution war im Fernsehen (2012) hinweist.
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Mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel gelangt man über Marx, der ihn bekanntlich vom idealistischen Kopf auf die materialistischen Füße stellte, zurück zu den Cultural Studies. Hegel gab dem Emanzipationsprozess seinen Rhythmus. Seine Fehler waren, ihn zu früh für beendet erklärt zu haben und nur den »schematisch durchgehaltene[n] Dreivierteltakt, gleichsam ein Prozeß-Walzer [sic!] a priori« (Bloch 1971: 135) zuzulassen. Klüger wäre es, ihn mit Deleuze und Guattari (1997) oder hegelnäher mit Žižek (2014) als unendlich zu denken. Geschichte sedimentiert auch durch andere Rhythmen als durch den Rhythmus der doppelten Negation und wird bis heute gemacht.9 Dass wir uns, wie Slavoj Žižek nicht müde wird anzumahnen, keine Alternative (mehr) zum globalen Kapitalismus vorstellen können, verschärft die nicht selbst gewählten Bedingungen. Dieses Bildungsproblem, das aus einem Mangel an Fantasie resultiert, nötigt womöglich zu neuerlichen idealistischen Kopfständen und einer Befreiung der Einbildungskraft. Wie sich dabei schlechte Wiederholungen verhindern lassen, gehört zu den entscheidenden Fragen, zumal die Bedingungen für eine gute Wiederholung, die etwas Neues hervorbringt, denkbar schlecht scheinen und global kaum zu bestimmen sind. Retromania und Komplexität bilden ein nur schwer zu durchdringendes Amalgam. Schon im lokalen Blick auf die Bundesrepublik zeigt sich ein uneinheitliches und uneindeutiges Bild. Das durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts delegitimierte und unglaubwürdig gewordene schillersche Entbarbarisierungsprogramm lässt sich auch im Glauben an die emanzipatorischen Kräfte populärer Kultur kaum wiederauflegen. Auch die im Anschluss an Humboldt vorstellbar gewordenen informellen Bildungsprozesse scheinen in den vergangenen 25 Jahren auf dem Feld populärer Kultur immer seltener stattzufinden. Dass die Zeit, in der populärer Kultur emanzipatorische Wirkung zugeschrieben wurde, durch die Existenz zweier deutscher Staaten geprägt war, erklärt meines Erachtens noch viele Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern. Sie erklärt womöglich auch die partielle Umkehr von Zivilisationsprozessen im ganzen Land, die auch durch die Entwicklung von Abstiegsängsten motiviert sein oder mit ihnen einhergehen kann (vgl. Bude 2014). Vor der Wiedervereinigung fürchtete man noch ganz unmittelbar die atomare Bedrohung (vgl. Schneider 2007). Die oben ebenfalls genannte Resistenz rechter Subkulturen gegen ihre Vereinnahmung durch die globale Kulturindustrie zeigt sich im Osten Deutschlands (und nicht nur Deutschlands) deutlicher als im Westen, wo rechtspopulistische Bewegungen langsamer, aber länger schon wachsen. Nicht zuletzt wirkt die globale Kulturindustrie durch die Vervielfältigung ihrer Distributionskanäle insgesamt und auch 9 | Dass Geschichte gemacht wird, singen Fehlfarben in Ein Jahr (es geht voran), einem Stück auf der legendären LP Monarchie und Alltag (1980), und sie beziehen sich damit implizit auf die noch berühmtere Eingangspassage in den ersten Teil von Marx ([1852] 1972: 115) achtzehnten Brumaire, wo einschränkend festgehalten wird, dass die Bedingungen, unter denen Geschichte gemacht werde, nicht frei gewählt seien.
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lokal stärker, was die »Blödmaschinen« (Metz und Seeßlen 2011) antreibt und vermehrt. Deleuze schlägt in seinem zweiten Kinobuch Das Zeit-Bild vor, den Glauben an die Welt zu filmen, wenn uns die Welt selbst wie ein schlechter Film vorkommt (vgl. 1997: 224). In diesem Sinn ließe sich mit Horkheimer neu ansetzen, der erklärt: »Gebildet wird man […] einzig in der Hingabe an die Sache, in der intellektuellen Arbeit sowohl wie in der ihrer selbst bewussten Praxis« ([1952] 1985: 415). Der von ihm geschmähte »alte Bildungsglaube« (ebd.), der Bildung auf Selbstgestaltung einschränkte, wäre durch einen Glauben an Bildung zu ersetzen, die sich nicht auf »Verarbeitung« (ebd. 411) reduziert. Anschlussmöglichkeiten bietet Pop als Meutenkultur, die auch heute noch in Nischen neben der bildungsfeindlichen Massenkultur lebt. Man wird auf das Kleine und auf mindere Entwicklungen achten, popkulturelle Mikrophysik betreiben und zugleich wieder Größeres entwerfen müssen. Es genügt auch heute noch nicht und sowieso schon länger nicht mehr, »sich in einem Strandbad systematisch braunbraten und dazu sein Radio dudeln zu lassen« (ebd. 412).
This W as Tomorrow So heißt eine Ausstellung, die von November 2016 bis Februar 2017 im Kunstmuseum Wolfsburg stattfand. This Is Tomorrow betitelte eine Ausstellung, die 1956 in der Londoner Whitechapel Art Gallery gezeigt wurde. Der Titel der Wolfsburger Ausstellung legt nah, dass die Zukunft, die vor 60 Jahren Gegenwart wurde, heute Geschichte ist. Diese Entwicklung und Zeitverwicklung ist Teil eines schon in den 1930er Jahren beginnenden Prozesses, der durch immer neue Fusion von Kunst, Design und Musik angetrieben wurde (vgl. Crow 2014). In der Ausstellung This Is Tomorrow war auch das Bild zu sehen, durch das das Wort Pop in die Kunstgeschichte einzog. Es handelt sich um die kleine Collage von Richard Hamilton mit dem Titel Just What Is It That Makes Today’s Homes So Different, So Appealing? (Abb. 1), der sich als ironische Position zu Adorno deuten lässt, welcher dem Wohnen große Bedeutung beimisst und in Minima Moralia festhält, dass man eigentlich gar nicht mehr wohnen könne (vgl. [1951] 1998b: 42). Bei Hamilton wird trotzdem gewohnt. Es wohnt ein junges, wahrscheinlich heterosexuelles und kinderloses Paar, das sich der Selbststilisierung hingibt: er, ein Bodybuilder, durch Training – sie, ein Pin-up, durch Pflege, Laszivität und Entspannung. Auf Wikipedia lässt sich nachlesen, dass es sich um Bilder von Irvin Koszewski, Mister California 1953 und 54, und Jo Baer handelt, die für Männermagazine posierte, bevor sie sich als Malerin in New York etablierte.10 Die bei10 | Hier lässt sich eine interessante Umkehrbewegung diagnostizieren, die einen Bezug zwischen der Collage und zur Popmusikgegenwart herstellt: »Lana Del Rey nutzt ihre künstlerische Souveränität in vollem Umfang dazu, sich als nichtsouveräne Frau zu in-
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den Figuren sind zwar tätig, arbeiten aber nicht. Eine namenlose Haushaltshilfe saugt auf der Treppe Staub. Der Bodybuilder trägt einen übergroßen Lolli, als ob es sich um einen Tennisschläger handle; Lolli kürzt Lollipop ab, zu Deutsch: Dauerlutscher. Er versüßt das hier insgesamt recht süße Leben. Nur wenige Jahre später wird Sylvia (Anita Ekberg) Marcello (Mastroianni) in Fellinis Film La dolce vita (I/F 1960) zum Bad in den berühmten Trevi-Brunnen locken. Pop und populär – das vernachlässige ich hier sträflich – sind keine Synonyme. Das weggekürzte POP findet sich bei Hamilton auf der Verpackung wieder, dem Lollipapier. Das Wort POP wirkt schon deshalb wie ein Markenname. Das Bild assoziiert es mit FORD, einem weiteren Markennamen, der auf dem Lampenschirm in der hinteren linken Zimmerecke zu lesen ist. Der Name Ford steht für standardisierte Massenproduktion und -konsum. Die Produktion des Ford T wurde nach tayloristischen Prinzipien organisiert, seine Montage erfolgte am Fließband. Das T-Modell war das meistverkaufte Auto, bis es 1972 vom VW Käfer entthront wurde, den dann 2002 der Golf ablöste. This Was Tomorrow folgte nicht zufällig, aber wahrscheinlich auch nicht aufgrund dieser rhizomatischen Zusammenhänge, auf die Ausstellung Wolfsburg Unlimited. Auf Grenzenlosigkeit verweist auch die Wohnungsdecke, die aus einer Doppelseite des Time-Magazins stammt und die Erde im Portrait aus 100 Meilen Höhe zeigt. John-Paul Stonard (2007) hat für seinen instruktiven Artikel über Hamiltons Collage viele der Quellen zusammengetragen. Meist handelt es sich um Werbeanzeigen. So erweist sich die namenlose Haushaltshilfe als Hoover-Staubsaugermodel. Den Grund bildet eine Anzeige für Bodenbeläge der Firma Armstrong Floors. Hamilton hat die modern eingerichtete Wohnung auch mit zeitgemäßer Unterhaltungselektronik, Fernseher und Tonbandgerät, ausgestattet. Das große Bild im Hintergrund verweist auf Kunstwerke, die nach Comic-Vorlagen gerade im Entstehen begriffen sind, im Atelier von Roy Lichtenstein zum Beispiel. Das Paar wohnt im Souterrain auf Augenhöhe mit dem städtischen Leben. Draußen scheint es schon dunkel zu sein. Das gegenüberliegende Kino bewirbt The Jazz Singer (USA 1927), den ersten Ton-Langfilm. Al Jolson, selber Sohn eines jüdischen Kantors, der im Kindesalter mit seiner Familie aus Litauen in die USA migrierte, spielt auch in The Jazz Singer den Sohn eines jüdischen Kantors. Letzterer will nicht, dass sein begabter Sohn mit geschwärztem Gesicht als Jazzsänger auftritt. Das aus den Minstrel Shows stammende Blackfacing etablierte und verbreitete einerseits rassistische Stereotype, andererseits beförderte es auch die Verbreitung afroamerikanischer Musikkultur, ohne die es wohl keine Popmusik gegeben hätte, wie wir sie heute kennen. Und die Marginalisierungsversuche gegenüber schwarzer Kultur gehen noch weiter: Selbst Elvis wurde zu Beginn seiner Karriere, also vor der von Diederichsen oben benannten Bindung an ein Bildregime, wegen seines schwarzen Klangs von manchen weißen Radiostszenieren; als eine Frau, die aus der Gegenwart in die Vergangenheit flieht« (Balzer 2016: 147). Der Wertehorizont hat sich verschoben und Emanzipation an Wert verloren.
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ationen nicht gespielt. Elvis’ erste Fernsehauftritte und Filmrollen fallen zeitlich interessanterweise mit der Ausstellung This Is Tomorrow zusammen, was der auf den ersten Blick unzeitgemäß wirkenden Reklame für The Jazz Singer Aktualität verleiht, weil dort gleichsam in Gegenrichtung der Ton mit dem Stummfilm verbunden wird. In The Jazz Singer kommen für manche Dialoge noch Zwischentitel zum Einsatz. Der in dieser Hinsicht hybride Film erzählt die Geschichte eines familiären Zerwürfnisses mit finaler Versöhnung auf dem Totenbett. Der alte Vater stirbt, während der am Broadway erfolgreiche Sohn statt seiner das den Versöhnungstag Jom Kippur einleitende Abendgebet Kol Nidre singt und deswegen eine wichtige Premiere, bei der er als Star singen sollte, verpasst. Der melodramatische Musikfilm verschränkt zwei für die Entwicklung des Jazz unterschiedlich wichtige minoritäre Kulturen, die afro-amerikanische und die jüdische. Die Filmwerbung bildet so auch einen Gegenpol zum Antisemitismus Henry Fords. Als reizvoll, appealing, erscheint das Apartment also nicht nur als schönes neues Werbeheim, sondern auch durch seine latenten Entbarbarisierungsspitzen. Popkultur erscheint bei ihm als Konsumkultur und zugleich als moderate Kritik an ihr. Sie ist außerdem ein Einfallstor für das Alltägliche in die Kunst, weil eine Collage ein für eine Ausstellung produziertes Kunstwerk ist. Dagegen handelt es sich beim Cover des weißen Albums der Beatles, das Hamilton ebenfalls gestaltete, um Design, das wiederum auf die aufkommende Minimal Art verweist. Die Grenzen wurden schon in den 1950er und 60er Jahren immer durchlässiger.
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Akzeptiert man Richard Hamilton als (Mit-)Erfinder der Pop-Art, dann stützt dies Diederichsens erste Popbestimmung, weil Hamilton amerikanische Quellen verwendete und Pop-Art generell oft eher als US-amerikanische Kunstströmung wahrgenommen wird, als deren größter Protagonist gemeinhin Andy Warhol gilt. Warhol wuchs als drittes Kind osteuropäischer Einwanderer in Pittsburgh auf. Sein Vater arbeitete im Kohlebergbau. Am Schluss des Eröffnungsstücks Small Town des gemeinsam mit John Cale für Warhol veröffentlichten Gedenk-Albums, Songs for Drella (1990), singt Lou Reed: »There’s only one good use for a small town | You hate it and you know you’ll have to leave«. Warhols Startbedingungen waren denkbar schlecht. Seine Herkunft aus der Arbeiterklasse und einer Migrantenfamilie ergänzte noch eine neurologische Erkrankung. Diese beförderte allerdings womöglich seine Zuwendung zur Comic- und Filmkultur, so dass sich im bildungstheoretischen Rückblick auf Warhols Biografie wieder einmal zeigt, dass Verzögerung oder Retardierung eine gute Bedingung für Bildungsprozesse sein können (vgl. u.a. Sanders 2015a: 220ff.). Warhol hat seine Karriere als Gebrauchsgrafiker begonnen, also in der Werbung, bevor er zum Weltkünstler wurde. Im weltweiten Netz finden sich Abbil-
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dungen von Plattencovern, die von Warhol gestaltet wurden, zum Beispiel das für die LP The Nation’s Nightmare, 11 die zwei von der Rundfunkanstalt CBS gebroadcastete Radiosendungen über Drogenkonsum und -missbrauch enthält. Dass Popkulturgeschichte und Drogengeschichte oft eng verbunden sind, setzt das Cover in eine interessante Schwebe.12 Warhols viel berühmteres Cover gehört zur ersten von ihm auch produzierten LP von The Velvet Underground & Nico (1967). Von diesem Cover konnte man die gelbe Bananenschale abziehen, so dass eine rosa Banane zum Vorschein kam. Das CD-Cover ziert hingegen nur noch die sinnlose Anweisung »Peel slowly and see«. Die Platte der aus dem Umfeld von Warhols Factory stammenden Band enthält viele Anspielungen auf Drogen und auch das Stück Heroin. Noch expliziter – den vor explizitem Inhalt warnenden Aufkleber gab es seinerzeit noch nicht – wirkt der Titel des vierten Velvet Underground-Albums Loaded (1970). Diese Platte speichert eine Textzeile, die viel darüber aussagt, was populäre Kultur einmal konnte und was man ihr heute nicht mehr zutraut. In dem Song Rock’n’Roll singt Lou Reed: »You know, her life was saved by Rock’n’Roll«. Diese Zeile hatte das Potential zur Hookline der Popkulturtheorie, die, wie das Fantum, stark durch Hingabe an die Sache geprägt war. Rock’n’Roll-Kultur hieß hier Popkultur als Musikkultur. Sie schuf ein Feld, wo man geschützt wurde vor den Vereinseitigungen, die das Alltagsleben einem sonst so angedeihen ließ. Sie erschien der Einen oder dem Anderen als Alternative zur Ausbildung und insofern auch als Bildung. Das passt zu Humboldt und in eine Zeit, in der das Leben ohne popkulturelle Affektüberhöhung vielen oft unerträglich schien. Zehn Jahre später stellte sich die Situation schon anders 11 | Siehe z.B. die Internetseite Pop Art Heaven: (01.09. 2016) 12 | Was wo als Droge gilt, wandelt sich immer mal wieder und unterscheidet sich nach wie vor regional. Im Piloten der US-Fernsehserie Breaking Bad (USA 2008–2013) diskutiert die Hauptfigur Walter White mit seinem Drogenfahnder-Schwager, was denn wann und warum als Droge gilt, weil Chrystal-Meth, das er im Verlauf der Serie in immer größeren Mengen und aus immer unmoralischeren Gründen kochen wird, eine lange Zeit auch als Aufputschmittel verkauft wurde. Unter dem Markennamen Pervitin wurde Methamphetamin im Zweiten Weltkrieg als Medikament in großen Mengen von Wehrmachtsangehörigen genutzt, um den Anforderungen des Blitzkrieges besser gerecht zu werden (vgl. Ohler 2015). Selbst Heinrich Böll soll pervitinabhängig gewesen sein. Was als Droge gilt, hängt also zum Teil immer auch davon ab, was eine Gesellschaft als Droge akzeptiert und welcher Zweck die Mittel heiligt. So war es schon beim Heroin, das für das Opium war, was Methadon für Heroin war: Chinesischstämmige Bergarbeiter sollten in Kalifornien um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert einfach weniger chillen. So funktionierte Alkohol auch lange Zeit als Betäubungsdroge für Arbeiter, was z.B. in der Bauindustrie so lange in Ordnung war, wie der Konsum die Arbeitsproduktivität nicht zu weit herabsetzte oder das Unfallrisiko zu stark ansteigen ließ. Von den Folgen der Prohibition handelt die ebenfalls sehr sehenswerte Fernsehserie Boardwalk Empire (USA 2010–2014).
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dar. Das zeigt beispielsweise ein Songtext der Post-Punkband Joy Division. Love Will Tear Us Apart (1980) beginnt mit den Textzeilen »When routine bites hard and ambitions are low | And resentment rides high but emotions won’t grow«. Vor allem der letzte Teilsatz drückt sehr gut aus, was seinerzeit gerade geschah. In der Popkultur zeichnete sich schon zu Beginn der neoliberalen Ära – in England regiert Margaret Thatcher und in den USA wird Ronald Reagan 1981 Präsident – ab, dass der Glaube an die ›empowernde‹ Wirkung populärer Musik, zu der man – wie Simon Frith (1998) sehr treffend bemerkte – zumindest im Kopf immer tanze, die gesellschaftsverändernde Kraft von Subkulturen zu schwinden begann. Popkultur ging als Widerstandskultur auch kaputt, weil sich der Kapitalismus auf eine Weise entwickelte, die es immer stärker erschwerte, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern.13 Prekarisierung schadet untergründiger Popkultur, die eine bestimmte Art von Grundfinanzierung voraussetzt, die inzwischen weitgehend verschwunden ist, was dazu führt, dass Stuart Halls am Ende von »Notes on Deconstructing ›The Popular‹« (1981) ausgedrückte Hoffnung, dass nämlich auf dem Feld der populären Kultur eines Tages der Sozialismus als bessere Einrichtung der menschlichen Dinge entstehen könnte, die Fundamente raubt. Wer Popkultur produzieren will, dessen Lebensreproduktion muss zunächst auf ganz elementarer Ebene gesichert sein. Alternativen zu herrschenden Verhältnissen herzustellen, fällt der populären Kultur seit den 1980er Jahren immer schwerer. Ian Curtis, der Sänger und Gitarrist von Joy Division, nahm sich dann auch bald das Leben.14
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1980 drehte Jim Jarmusch seinen ersten Film Permanent Vacation (USA), und in Frankreich erschien Deleuzes und Guattaris Mille Plateaux (dt. Tausend Plateaus). Jarmusch hat vor seinem Filmstudium eine Weile in Paris gelebt – und dort offenbar in der Cinémathèque française beinah so viel Zeit verbracht wie Quentin Tarantino später in der Videothek. Jim Jarmusch ist ein typischer Vertreter der 13 | Dabei ist die Spanne weit: So wurde die amerikanische Popkultur stark durch Rationalisierungen bei der amerikanischen Post beschädigt. In den 1970er Jahren zählte die Tätigkeit als Postbote noch zu den Arbeiten, von denen man sogar in Teilzeitarbeitsverhältnissen gut leben konnte, ohne dass man hinterher so kaputt war, dass man im Grunde nichts Anderes mehr tun konnte. Das heißt, ein Angestellter der amerikanischen Post konnte durchaus nach der Arbeit noch Musik machen, dichten, Texte schreiben oder was auch immer, was der durchschnittliche Paketbote heute kaum noch tun wird, weil er unter einer ganz anderen Form von Arbeitsbelastung leidet, zu der ihm hierzulande die Agenda 2010 die Alternativen genommen hat. 14 | In Anton Corbijns schönem Film Control (GB u.a. 2007) kann man viel über das Leben von Ian Curtis lernen.
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New-Wave-Generation und kommt aus der Musikkultur. Man sieht seinen Filmen an, dass er erst Musiker war. Bevor er Filme machte, spielte er Keyboard in einer No-Wave-Band, und zu dem Film The Limits of Control (USA/J 2009) trug er mit einer neuen Band wieder Musik bei. Jarmuschs Musikorientierung unterscheidet ihn von vielen anderen Filmemachern, die stärker vom Bild kommen als vom Ton. Peter Greenaway oder David Lynch sind womöglich die prägnantesten Beispiele. Beide waren bildende Künstler, bevor sie Regisseure wurden, was man den Kompositionen ihrer Filmbilder noch ansieht. Bei Jarmusch geht es hingegen stärker um die Rhythmisierung. Im Grunde funktionieren Jarmusch-Filme wie Musik – und einige haben auch ganz explizit etwas mit Musik zu tun: so Mystery Train (USA/J 1989), ein Film, der zum Großteil in Memphis spielt und dem R’n’B-Schema folgt; Ghost Dog: The Way of the Samurai (F/D u.a.1999) handelt unter anderem von Hip Hop-Motiven und baut Bilder konsequenterweise wie Samples auf; und The Limits of Control (USA/J 2009) ist stark an Drone-Metal-Riffs angelehnt, sich auf bauende, extrem verlangsamte Soundwälle. Durch das Filmschaffen von Jarmusch lassen sich ganz verschiedene Linien ziehen. Zusammengenommen bilden seine Filme ein amerikanisches Rhizom (vgl. Sanders 2015b). Im Grunde hat Jarmusch nur einen einzigen Film gedreht; und jeder Film, den er dreht, wirkt wie eine Ergänzung. Obwohl es sich immer um sehr eigenständige Filme handelt, haben sie alle etwas miteinander zu tun, aber nicht wie Folgen einer Serie, es sind nicht immer dieselben Charaktere, es geht nicht immer um dieselbe Sache, und trotzdem gibt es Übergänge zwischen Filmen, die es eigentlich nicht geben müsste – und das will ich abschließend an einer Reihe von Filmen zeigen, an Night on Earth (F/GB u.a. 1991), Coffee and Cigarettes (USA u.a. 2003), Ghost Dog und The Limits of Control. Gemein haben diese Filme ihren schwarzen Hauptdarsteller Isaac de Bankolé. Night on Earth ist ein Episodenfilm über fünf in verschiedenen Städten zeitgleich stattfindende Taxifahrten. Die Episoden funktionieren wie Kurzfilme. In der Paris-Episode sehen Sie Isaac de Bankolé als Taxifahrer. Mitten in der Nacht hat er zwei Sorten von Fahrgästen. Nach einer Reihe von Bildern, die sehr beliebige Räume zeigen, sitzen hinter ihm im Taxi Kameruner Fahrgäste, postkoloniales Establishment, die sich fragen, wo dieser Taxifahrer wohl herkomme. Sie inspizieren sogar seine Kopfform. Seine Antwort auf ihre Frage mündet in einen Witz. Er sei ein Yvoirien, also ein Ivorer, wie ein Bürger der Côte d’Ivoire im Fußballkommentatorendeutsch inzwischen heißt. Auf Französisch klingt das wie ›Y voir rien‹ oder auch ›Il voit rien‹ und bedeutet, dass man dort nichts sehe, oder auch, dass er, der Taxifahrer, nichts sehe, was den Fahrgästen dann wiederum als Erklärung für seine Fahrweise dient. Der Taxifahrer schmeißt die sich auf seine Kosten belustigenden Kameruner daraufhin aus dem Taxi und nimmt eine blinde Frau auf. Die von der prominenten und sehr hübschen französischen Schauspielerin Béatrice Dalle dargestellte Blinde sagt ihm sehr deutlich, wo er auf welchem Weg hinfahren solle. Sie bekommt anhand der Fahrgeräusche heraus, dass er einen anderen Weg nimmt und hört anhand seines Dialekts, dass er von
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der Côte d’Ivoire stammt, was dem schwarzen Taxifahrer zu denken gibt - so wie viele Jarmusch-Filme, die oft kleine Ereignisse inszenieren, dem Publikum Denkräume eröffnen. Den zweiten Auftritt hat Isaac de Bankolé in der Episode No Problem (1995) von Coffee and Cigarettes, der nicht so gut als Langfilm funktioniert, weil Kaffee und Zigaretten nur einen lockeren Zusammenhang stiften. Isaac, hier trägt der Akteur (s)einen Namen, trifft einen alten Freund namens Alex (Decas) in einem Café. Alex hat schon Kaffee bestellt, und Isaac erzählt Alex, dass er jetzt wirklich die Faxen dicke habe von Paris. Jetzt sei er eben hier und freue sich, Alex zu sehen. Damit ist Anschluss hergestellt, und Alex und Isaac werden auch zu Beginn von The Limits of Control wieder miteinander reden, allerdings in irgendwie verschobenen Rollen. Vor Alex stehen schon in No Problem zwei Tassen Espresso, wie sie dann 14 Jahre später in The Limits of Control eine tragende Rolle spielen werden. In No Problem versucht Isaac Alex die ganze Zeit zu erklären, dass er eigentlich ein Problem haben müsse, während Alex die ganze Zeit versucht, klar zu stellen, dass er kein Problem habe. Jarmusch zeigt öfter interkulturelle Situationen. In der Paris-Episode von Night on Earth sprechen alle ästhetischen Figuren Französisch, verstehen einander trotzdem nicht. In No Problem treffen sich alte Freunde, die zweimal die Sprache wechseln. Sie fangen an, sich auf Französisch zu unterhalten, wechseln dann, während die Entfremdung wächst, ins Englische, um sich wieder auf Französisch zu verabschieden. Verstanden haben sie sich zwischendurch nicht wirklich. In Ghost Dog spielt Isaac de Bankolé den Eisverkäufer Raymond, der aus der Karibik kommt – jedoch nicht aus Jamaica (daher stammten die Musik in No Problem und Stuart Hall), sondern aus Haiti. Er hat wieder einen frankophonen Migrationshintergrund und spricht nur Französisch, wohingegen Ghost Dog (Forest Whitaker), dieser Hip Hop- und Samurai-affine Killer im Auftrag der Mafia, der Raymond einem kleinen Mädchen gegenüber als seinen besten Freund ausgibt, nur Englisch spricht. Das schwarze und sehr schlaue Mädchen entgegnet, dass das überhaupt nicht sein könne, weil sie doch nicht einmal eine Sprache sprächen. Dieser Film wendet die No Problem-Situation, weil sich Ghost Dog und Raymond perfekt verstehen, was sich daran zeigt, dass sie meist nacheinander beinah das Gleiche sagen, nur einmal auf Englisch und einmal auf Französisch. So geschieht es zum Beispiel, als Ghost Dog Raymond einen Anzug schenkt, den er für einen Auftrag gebraucht hat. Er vermutet, dass der schlankere Raymond einen haitianischen Schneider kenne, der ihn für ihn ändern könne. Raymond bedankt sich für den tollen Anzug und wiederholt auf Französisch, dass er zum Glück einen haitianischen Schneider kenne, der den Anzug für ihn ändern könne. Die beiden Freunde verstehen sich permanent, obwohl sie sich rein sprachlich kaum verstehen können. Zu Beginn von The Limits of Control erscheint Isaac de Bankolé (The Lone Man) in einem sehr ähnlichen Anzug. Mit dem Anzug scheint er auch das Betätigungsfeld übernommen zu haben. The Creole (Alex Descas) beauftragt ihn als
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– wieder – namenlosen Hitman. Dieser spricht nur Englisch, jener Spanisch. Der dabeisitzende Übersetzer, ein Franzose, scheitert, aber der Auftraggeber erklärt ihm voller Zuversicht und sicher, dass der Killer schon verstanden habe. Er wird den Amerikaner töten. Jarmuschs Filme sind ganz hervorragende Beispiel dafür, wie populäre Kultur als Bildungsgrund funktioniert. Sie nötigen das Publikum durch ihre mentalen Bilder zum Mitdenken, gewähren ihm aber genug Freiheit, dies auf je singuläre Weise zu tun. Außerdem verbinden sie sich in einer Art von Protoserialität; durch sie lassen sich viele Spuren verfolgen. Interessant ist in diesem Fall der zurückgelegte Weg (Abb. 2). Die von Isaac de Bankolé verkörperten Figuren umkreisen den schwarzen Atlantik, über den der Sklavenhandel abgewickelt wurde und auf dem sich Freiräume entwickelt haben, in denen revolutionäre Bewegungen gediehen (vgl. Linebaugh und Rediker 2008). Der Pop migrierte, lange bevor er Pop wurde, auf ähnlichen Wegen, die als Erinnerung in ihm gespeichert sind (vgl. Bruckmaier 2014). An diese Erinnerungen knüpft auch die »Post-Punk-Pädagogik« (Sanders 2017) an, die weiß, dass schon »Hegel möglicherweise durch die revolutionären Ereignisse in Saint-Domingue [dem heutigen Haiti] inspiriert wurde« (Buck-Morss 2011: 29) – und die nicht vergisst, dass die Pop Art nie wirklich revolutionär war, sondern verglichen mit der No Art Boris Luries etwa, eher affirmativ. Aber das ist Zukunftsmusik, von der wir wieder mehr brauchen, weil uns das Neue bekanntlich aus der Zukunft zukommt.
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Abbildung 1: Richard Hamilton. Just What Is It That Makes Today’s Homes So Different, So Appealing? 1956, Kunsthalle Tübingen, Tübingen
Abbildung 2: Skizze des Autors
Populärkultur und Politik Über ein schwieriges Verhältnis Mark Arenhövel
P rolog : V ier S zenen Als Orson Welles am Abend des 30. Oktober 1938 mit seiner für das Radio bearbeiteten Version von H. G. Wells Roman Krieg der Welten auf Sendung ging, konnte noch niemand ahnen, dass er damit Mediengeschichte schreiben würde. Die Sendung war in der Tat darauf angelegt, die Zuhörer zu verwirren, doch niemand konnte vorhersehen, dass im Städtchen Concrete Panik ausbrechen würde. Wie konnte es sein, dass im 20. Jahrhundert Amerikaner vor dem Radio daran glauben konnten, Zeugen einer Invasion vom Mars zu sein? Im fernen Europa drohte zu jener Zeit Krieg, doch in welchem Zusammenhang konnte die diffuse Angst vor dieser Bedrohung mit einer von Marsianern verursachten Massenpanik stehen? Wieso verwechselten die Zuhörer eine erfundene – und noch dazu recht unrealistische – Geschichte mit der Wirklichkeit? ** Die von den USA angeführte Intervention in Somalia im Winter 1992 – in unfreiwilliger Ironie »Operation Restore Hope« getauft – wurde zur besten Sendezeit inszeniert und übertragen. Vorangegangen waren zahllose Fernsehberichte über die unerträgliche Situation in Somalia, so dass sich in der Öffentlichkeit die Stimmung verbreitete, aus humanitären Gründen müsse in Somalia interveniert werden. Piers Robinson bemerkt dazu: »The most common explanation put forward for Operation Restore Hope is that emotive news media coverage of suffering people caused policy-makers to decide to intervene; in short that the intervention decision was a straightforward case of the strong CNN effect.« (2002: 49f.) Die breite Medienberichterstattung war jedoch nicht nur ursächlich daran mitbeteiligt, dass die Intervention beschlossen und von der Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner mitgetragen wurde, vielmehr trugen die Bilder eines getöteten amerikanischen Soldaten, die wiederholt ausgestrahlt wurden, auch dazu bei, dass die Stimmung in den USA kippte und Präsident Clinton dazu bewog, schnell einen
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Plan für den Abzug der Truppen zu präsentieren. Auf einen Nenner gebracht: Das Fernsehen legitimierte zunächst die Intervention, sorgte dann aber auch für ihr abruptes Ende. ** Ein Schlaglicht auf die zunehmende Überwölbung des Faktischen durch das Fiktive warf die ungelenke, aber gleichwohl entlarvende Formulierung einer holländischen UN-Beobachterin in Srebrenica 1995, die sich – wie sie später mehrfach vor Journalisten wiederholte – angesichts des Grauens an Spielbergs »Schindlers Liste« erinnert fühlte. Sie rekurrierte damit nur indirekt auf Auschwitz. Denn präsenter als die historische Darstellung erschien ihr die filmische Repräsentation, auf die sie – bedingt durch ein filmisches ›externes Gedächtnis‹ – verwies und sie konnte davon ausgehen, dass ihre Annäherung an den Mord an ca. 8000 bosniakischen Jungen und Männern vor den Augen holländischer Blauhelmsoldaten durch die filmische Referenz ebenso gut verstanden wurde, wie es mit Hilfe historischer Quellen möglich gewesen wäre. Der populärkulturelle Zugriff auf historische und politische Ereignisse eröffnet zunehmend einen para-historischen Raum, in welchem die mediale Darstellung der Geschichte mit der Faktizität historischer Ereignisse zu verschmelzen droht. Gertrud Koch kommentiert dies mit den Worten: Der Streit um Filme wie die TV-Serie Holocaust, Schindler’s List oder auch Beruf Neonazi, Stau oder Syberbergs Hitlerfilm ist ja nicht nur darüber entbrannt, ob sie ›falsch‹ oder ›richtig‹ sind […], sondern über das ›Bild‹, das sie als Ganzes vermitteln, oder, wie man im Deutschen so schön sagt, über den ›Eindruck‹, den sie hinterlassen, den Diskurs, den sie anstimmen. (1997: 540) ** Als am 11. September 2001 Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers flogen – und der Einschlag des zweiten Flugzeugs in realer Zeit live von den inzwischen zu den Türmen geeilten Medien in die ganze Welt übertragen wurde – hielten Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer, die eher zufällig am Bildschirm Zeugen des Anschlags wurden, die Bilder für Fiktion. Philipp Sarasin bemerkt dazu: Die Populärkultur hat schon seit langem Bilder hervorgebracht, die unsere medialen Sehgewohnheiten in einer geradezu spezifischen Weise auf den 11. September vorbereitet haben. Das konnte so weit gehen, daß das Ereignis gar nicht als solches wahrgenommen wurde: Fernsehanstalten erhielten während der Live-Übertragung des zweiten Flugzeugangriffs auf das WTC Anrufe von gar nicht erschütterten, sondern erzürnten Zuschauerinnen und Zuschauern, die sich darüber beschwerten, daß nun Hollywood-Katastrophenfilme schon am Nachmittag gesendet würden, und das Schweizer Fernsehen DRS mußte am 11. September einen für den Abend programmierten Film absetzen, der doch so gut gepaßt hätte: Mars Attacks von 1996. (2004: 28f.)
Populärkultur und Politik
D emokratie vs . P opkultur in der P opkultur ?
oder
D emokratie
Politik – und ganz besonders Politik in der Demokratie – hat ein besonderes Verhältnis zum Populären. Einerseits sucht sie, eine möglichst große Distanz aufzubauen zur unterstellten Irrationalität und Emotionalität der Massen – und damit auch zur Massenkultur, was deutlich sichtbar wird in der Angst der Autoren der Federalist Papers (1787/88), Alexander Hamilton, James Madison und John Jay, vor einer Tyrannei der Mehrheit. Beseelt von einer tiefsitzenden Sorge, dass Demagogen die Meinungsfreiheit missbrauchen könnten, um sich zu Tyrannen aufzuschwingen, entwarfen sie ein dichtes Geflecht von checks and balances, welche die Freiheiten garantieren, gleichzeitig aber die Herrschaft der doxa verhindern sollten. Nur wenige Jahrzehnte später sollte kein geringerer als Alexis de Tocqueville in seiner Studie über die Demokratie in Amerika (1835/1840) einerseits von den Gleichheiten der Bedingungen in den USA schwärmen, andererseits aber vor der Herrschaft der Mittelmäßigkeit und eben der Tyrannei der Mehrheit warnen.1 Andererseits jedoch, und niemand hat mit größerer Klarheit darauf hingewiesen als Niklas Luhmann, wird Legitimität in der praktischen Politik gleichbedeutend mit Popularität (vgl. Luhmann 2000: 100). Die Popularität einer politischen Maßnahme, einer Entscheidung wie auch eines politischen Akteurs wird damit zu einer wichtigen Ressource der Anerkennungswürdigkeit, und Politikerinnen und Politiker streben daher zunehmend zur Popularität, wird diese doch immer notwendiger für die Wiederwahl. Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass das Zusammenspiel von Medien und Politik eine immer größere Bedeutung erlangt (hat) und dass sich unter dem Einfluss der Medien die Politik gewandelt hat und noch weiter wandeln wird. Im Kontext der Debatte um die Mediatisierung der Politik entstanden Begriffe wie »Mediendemokratie« (Sarcinelli 1998), »Mediokratie« (Meyer 2001), »Telekratie« (Baudrillard 1993) und »Politainment« (Dörner 2001), die im Kern darauf abzielten anzudeuten, dass und wie sehr sich Politik – parlamentarische Abläufe und Entscheidungsprozesse – unter dem Einfluss von Medien wandelten. »Mediatisierung der Politik soll ausdrücken, dass Medien in doppelter Hinsicht wichtiger für kollektiv bindende Entscheidungen geworden sind, und zwar wichtiger als früher und wichtiger als andere Faktoren wie Parteiapparate, Interessengruppen, Experten oder internationale Beziehungen«, bemerkt der Medienwissenschaftler Gerhard Vowe (2006: 441). Die durch Medien hergestellte Sichtbarkeit der Politik verändert den Stil ihres Vollzugs: was medial nicht wahrgenommen und verstärkt wird, gilt als nicht-existent, was auf der Seite der Akteure den Zwang herstellt, sich stärker als früher zu inszenieren und mit anderen 1 | Bereits Tocqueville warnte vor der Nivellierung des allgemeinen Niveaus, nicht zuletzt auch der Kunst, durch die Gleichheit der Bedingungen, die politisch segensreich wirkten, aber eben um den Preis einer Trivialisierung der Kultur (vgl. Tocqueville 1956).
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Medienformaten, etwa im Bereich des Entertainments, zu konkurrieren. Dies alles ist – etwa hinsichtlich der ›Amerikanisierung von Wahlkämpfen‹ (vgl. etwa Korte 2017: 133ff.) und der symbolischen Politik (vgl. etwa Jessen 2006) – gut erforscht und belegt. Weit weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit steht dabei die Frage, ob die zunehmende Dominanz einer »Kultur der Unterhaltung«2 Auswirkungen auf einen Gegenstand hat, der gemeinhin als der Unterhaltung diametral gegenübergestellt gilt: die Politik. Ob die mediale Darstellung wie auch die popkulturelle Verwertung von Politik den politischen Gegenstand selbst transformiert – etwa in Form von neuartigen Weltsichten oder Bedrohungsbildern, einer veränderten Risikobewertung oder der Konzeptualisierung dessen, was überhaupt Gegenstand der Politik sein soll und kann –, stellt ein neues Forschungsdesiderat dar, welches erst in dem Moment erkannt werden kann, wenn die Vorstellung fallengelassen wird, bei der Politik handele es sich um eine ontologische, ewige und unveränderliche Entität, zugunsten der Einsicht, dass auch das Politische selbst sozial konstruiert wird – und zwar nicht nur durch mehr oder weniger seriöse – der Objektivität verpflichtete – mediale Berichterstattung, sondern zunehmend auch durch verschiedenste popkulturelle Phänomene. Wenn in Rocksongs die aktuelle Politik kommentiert wird, der Terrorismus zu einem wichtigen Gegenstand filmischer Verarbeitung avanciert, Fernsehserien explizit oder implizit politische Stoffe aufgreifen, Politikerinnen und Politiker den Weg in Fernsehformate suchen, um ihre Popularität beim Massenpublikum zu steigern und schließlich – wie Georg Seeßlen in seinem Essay über den gegenwärtigen Präsidenten bemerkt, »Pop an die Stelle der Wirklichkeit getreten« ist und »ein Präsident als Abfallprodukt der Popkultur« (2017: 16) im Weißen Haus gelandet ist, reicht eine elaborierte Kulturkritik, welche lediglich die zunehmende Seichtheit der Massenkultur, die Nivellierung des politischen Diskurses sowie den Zerfall der Öffentlichkeit beklagt, hier nicht hin. Vielmehr muss es darum gehen, popkulturelle Phänomene ernst zu nehmen, zu versuchen sie zu verstehen und auf beiden Seiten, der Seite der Politik wie auch des Publikums, nach Wirkungszusammenhängen zu suchen. Das Ziel einer politikwissenschaftlichen Betrachtung der Popkultur kann also nicht darin bestehen, die Rezipientinnen und Rezipienten gegen popkulturelle Phänomene abzuschotten oder den Zusammenhang von Politik und Popkultur zu leugnen, sondern sine ira et studio die Transformation der Demokratie im Kontext popkultureller Allgegenwart zu erkunden.
2 | In Ermangelung einer allgemein akzeptierten Definition von Popkultur schließe ich mich im Folgenden Hans-Otto Hügel an, der die Unterhaltung als (eine) bestimmende Zugangsweise zur Populären Kultur wählt und den vor allem die Frage interessiert, was im Unterhaltungsprozess geschieht (Hügel 2003: 18).
Populärkultur und Politik
P opkultur
und politische
K ommunikation
In der modernen politischen Theorie gehört es zu den kaum bestrittenen Gemeinplätzen, das Ästhetische als das andere der Vernunft zu dämonisieren. Lässt sich im Denken Platons noch eine Linie ziehen von der Ethik über die Politik zur Ästhetik, wodurch die Theatrokratie noch als das wahre Gesicht der Demokratie ausgewiesen wurde, so gerät jegliche Theatralisierung des Politischen im modernen Denken zum strikten Gegensatz der Demokratie. Bekanntlich setzte Rousseau seine ganze Kraft dafür ein, den Bau eines Theaters in Genf zu verhindern. Aus der Antike glaubte er gelernt zu haben: »An der Theatermanie ging Athen zugrunde« (1988: 458),3 denn das Theater lehre die Kunst der Verstellung und korrumpiere damit den Ernst sozialer Authentizität und verunmögliche demokratische Selbstregierung. Das Ernste, Kühle, Rationale galt forthin als das der Politik angemessene Temperament. Den Schlusspunkt dieser Denkbewegung setzte Benjamin mit der berühmten Sentenz: »Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt: Dieser eine Punkt ist der Krieg.« (1963: 42) Und so unterschiedliche Denker wie Theodor Adorno, Giorgio Agamben, Guy Debord und Jürgen Habermas würden vielleicht dieser Zuspitzung nicht zustimmen, doch warnen sie seltsam vereint vor einer Gesellschaft des Spektakels und begrenzen den Bereich der Politik auf den des diskursiv und rational Zugänglichen, um gleichzeitig an der strikten Trennung zwischen ernster Politik und unernstem Spiel festzuhalten. Vor diesem Hintergrund mutet die Feststellung seltsam an, der Fundus filmischer Zeichen sei längst zu einem integralen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses geworden und die fiktiven Unterhaltungsmedien wandelten sich zu einer Komplementärdimension öffentlicher Kommunikation. Fiktive Handlungen aus der Populärkultur, Gesten und Redewendungen werden zunehmend zum Reservoir politischer Kommunikation, wie sie auch den Interpretationshintergrund aktueller Situationen und Probleme mitformen oder mitrahmen. Von einer stilbildenden, die Realität prägenden Funktion gerade des Kinos oder von Fernsehserien ist es nur noch ein kurzer Weg zum Wechsel zwischen fiktionaler Realität und der ›wirklichen‹ Realität. So spielte Arnold Schwarzenegger bekanntlich im Wahlkampf zum Gouverneur von Kalifornien im Sommer 2003 in einer populären Late-Night-Show mit seinem als Schauspieler erwirtschafteten mimetischen Kapital, als er sich in der Talkshow, die seinen Wahlkampf eröffnete, mit seinem aus Terminator 2 berühmt gewordenen Spruch »Hasta la vista, baby« verabschiedete – wobei er anschließend im Wahlkampf noch öfters auf diese Phrase zurückgriff. Kanzlerkandidat Schröder suchte ein solches mimetisches Kapital im Wahlkampf zu akkumulieren, als er am 22. Juni 1998 in der 1500. Sendung der Vorabend-Soap Gute Zeiten, schlechte Zeiten auftrat. Der CSU Politiker und selbsternannte Ministerpräsidentenkandi3 | Vgl. dazu auch die vorzügliche Studie von Juliane Rebentisch: Die Kunst der Freiheit: Zur Dialektik demokratischer Existenz (2012), insbesondere 271f.
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dat Markus Söder schaffte es immerhin in die 1449. Folge der bayrischen Familienserie Dahoam is dahoam und der Münchner Bürgermeister Christian Ude nutzte die Gelegenheit zu einem Kurzauftritt in der ARD-Soap Lindenstraße. Dieses waren freilich nur Vorübungen für spätere Zeiten: US-Präsident Reagan verwertete seine Popularität und sein schauspielerisches, rhetorisches Talent implizit, indem er darauf als kommunikative Technik zurückgriff, ohne sein Image als Schauspieler in der neuen Rolle des Politikers zu instrumentalisieren, während sich beim gegenwärtigen Präsidenten kaum noch unterscheiden lässt, ob er den Schritt vom Selfmademan und Unternehmer zum Politiker gemacht hat, oder ob er nicht etwa gerade wegen der Rücksichtslosigkeit, die er in der RealityTV The Apprentice demonstrierte, zum Präsidenten gewählt wurde. Sein Slogan, um die USA wieder zu alter Größe und Stärke zu führen – »Buy American and hire American!« – korrespondierte ja mit dem Markensatz aus The Apprentice: »You are fired!« Außerdem sucht Donald Trump gezielt die politische Stimmung in den USA durch exzessive Tweets zu beeinflussen, wie sich auch sein Weltbild und seine politischen Entscheidungen eher aus Fox-News denn aus Akteneinsicht und Gesprächen mit Experten und Beratern speisen. Die präsidentiellen Tweets, in denen der Präsident direkt zu seinem Volk über Wichtiges und WenigerWichtiges spricht, markieren eine gänzlich neue, ungefilterte politische Kommunikationsform. In den Tweets des »mächtigsten Mannes der Welt« – jenen »Ködern im Meer der Unaufmerksamkeit« (Seeßlen 2017: 74) – so könnte man sozial-psychologisch spekulieren – findet die ›einsame Masse‹ (David Riesman) der – von Hillary Clinton unter Umständen wahlkampfentscheidend als ›deplorables‹ verunglimpften – Trumpwähler einen Kristallisationspunkt, in dem sie sich in ihrer ›organisierten Verlassenheit‹ (Hannah Arendt) zum Volk vereint sehen. In der einfachen, rohen und gemeinen Sprache Trumps, die von keinem Kommunikationsberater in allseits kompatibles Politsprech übersetzt wurde, finden wir den massendemokratischen Modus der Affekt-Regie in einer kommunikationsintensiven Großgesellschaft. 4 Trump bedient sich bei seinen Tweets wie auch in seinen Antworten auf Fragen von Journalisten einer neuartigen Strategie, die aus popkulturellen Formaten (ihm selbst wie auch den Rezipientinnen und Rezipienten) allzu bekannt ist und die als CliffhangerStrategie bezeichnet werden kann: Kurze, allgemein verständliche Botschaften,
4 | Vgl. zur Unterscheidung zwischen dem faschistoiden und massendemokratischen Modus der Affekt-Regie Sloterdijk (2000: 20ff.). Die Grenzen zwischen den Modi scheint jedoch fließend zu sein: Trumps populäre/populistische Legitimation steht – jedenfalls nach seiner eigenen Einschätzung – quer zur Weberschen legalen oder rationalen Legitimation von Herrschaft, der ›Herrschaft kraft Legalität‹, und es ist kaum überraschend, dass Trump vor diesem Hintergrund in Erwägung zieht, sich unliebsamen Untersuchungen durch eine Selbstbegnadigung zu entziehen.
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die vage bleiben und etwas für die Zukunft ankündigen, wodurch die emotionale Bindung zwischen Sprecher und Publikum bestärkt wird.5 Vor dem Hintergrund dieser nicht anders als dramatisch zu bezeichnenden Veränderung der politischen Kommunikation fühlt man sich fast zwangsläufig an eine Warnung erinnert, die der Politikwissenschaftler und Populismusforscher Hans-Georg Betz bereits vor fast 20 Jahren aussprach, als er bemerkte, die »Renaissance« des Populismus sei zum Teil »wohl auch ein Nebenprodukt des während der letzten Jahrzehnte unaufhaltsamen Aufstiegs von ›popular culture‹ zur dominanten Kultur, wie er v.a. durch das Fernsehen betrieben und propagiert wurde« (2001: 129). Betz formuliert den hier unterstellten Zusammenhang bewusst recht vorsichtig und in der Tat sollte man von eindeutigen Wirkungszusammenhängen Abstand nehmen, doch will ich die von Betz gelegte Spur aufnehmen und etwas näher auf die Repräsentation und Konstruktion des Politischen in popkulturellen Formaten eingehen, wobei ein weiter Politikbegriff verwandt werden soll. Politik lässt sich demnach nicht auf die zentralen politischen Institutionen beschränken, vielmehr findet sich Politik in sämtlichen Lebensbereichen. In der Politik geht es um die gemeinsamen Entscheidungen über die Ordnung und Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten – und deshalb sind Fragen der Ökonomie, der sozialen Schichtung, des Geschlechterverhältnisses bzw. der Rollenbilder, der Religion, der Wahrnehmung und Konstruktion des Fremden, der Legitimitätsvorstellungen und der Konzepte von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ebenso zutiefst politisch, wie die ganz alltäglichen Verrichtungen ganz alltäglicher Menschen, in realen Gesellschaften ebenso wie in utopischen Entwürfen, historischen Stoffen oder in Fantasiewelten. Popkulturelle Formate – so die im weiteren zu belegende These – beeinflussen dabei nicht nur die Konstruktion des Politischen in der Gesellschaft und auf der Seite der Wählerinnen und Wähler, sondern auch auf der Seite der Entscheider.
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die popkulturelle
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des
P olitischen
Dass Politikerinnen und Politiker selbst Popkultur konsumieren, wird umstandslos behauptet werden können. Es wirkt ja in der Tat popularitätswirksam, wenn ein Präsident der Vereinigten Staaten sich als Fan von House of Cards outet und lächelnd dabei bemerkt, dass seine Ehefrau eher Scandal vorziehe, wie es Barack Obama in mehreren Late-Night-Show Auftritten tat. Karl-Theodor zu Guttenberg wird ein ganz ähnliches Kalkül verfolgt haben, als er sich öffentlich zum Deep 5 | Den vorläufigen Höhepunkt seiner Interaktion mit den Wählerinnen und Wählern erreichte Trump mit dem erratischen Tweet: »Despite the constant negative press covfefe«, der etwas später, bevor er gelöscht und weltweit für Kommentare gesorgt hatte, durch folgenden Tweet »aufgelöst« wurde: »Who can figure out the true meaning of ›covfefe‹ ??? Enjoy!«
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Purple Klassiker »Smoke on the Water« bekannte. Solche Aussagen signalisieren Volksnähe, sie sollen sagen: »Ich bin eigentlich wie ihr, ich schaue die gleichen Serien, ich höre die gleiche Musik.«6 Dies sagt zum einen etwas zur enorm gewachsenen gesellschaftlichen Geltung von Populär Kultur aus, allerdings lassen sich andererseits daraus kaum Rückschlüsse darauf ziehen, inwieweit der Konsum von Fernsehserien oder das Hören einer bestimmten Musik die Weltsichten oder Entscheidungen von Politikerinnen und Politikern beeinflussen. Der Nachweis wird hier auch schwer zu erbringen sein, doch schildert Philipp Sarasin zumindest einen Fall, indem die Lektüre eines Bestsellers nicht nur nachhaltige Folgen auf die Wirklichkeitsperzeption eines Politikers zeitigte.7 Der Autor Richard Preston, der mit The Hot Zone 1994 ein alarmistisches Sachbuch über Ebola geschrieben hatte, veröffentlichte drei Jahre später den Roman The Cobra Event über ein neues, bislang unbekanntes Virus, das in New York absichtlich freigesetzt wird. Es geht also um einen fiktionalen Text über Bioterror, wobei Preston geschickt mit Andeutungen spielt, dass seine Expertise über mögliche Hybrid-Viren durch UN-Inspektionsteams, hohe Regierungsbeamte und Wissenschaftler gestützt wurde, ebenso wie sein ›Wissen‹, dass der Irak an biologischen Waffen forsche bzw. über sie verfüge. Ginge es in diesem Buch lediglich darum, altbekannte Feinbilder wie den Irak und Russland wiederum als Zentrum des Bösen darzustellen, wäre Prestons Buch als ideologisches Machwerk schnell abgetan. Viel interessanter ist jedoch, dass das Buch bei einem konkreten Leser einen ganz besonderen Eindruck hinterließ: bei William Jefferson Clinton. Die Politikwissenschaftlerin Martha Crenshaw bemerkt in ihrer Arbeit »Counterterrorism Policy and the Political Process« ohne jeden Unterton der Überraschung: In April 1998, as a result of having read the Richard Preston novel, The Cobra Event, the president held a meeting with a group of scientists and Cabinet members to discuss the threat of bioterrorism. The briefing impressed Clinton so much that he asked the experts to brief senior officials in DOD [US Department of Defense] and HHS [US Department of Health and Human Services]. On May 6 they delivered a follow-up report, calling for the stockpiling of vaccines. (2006: 186)
Ebenfalls im April sprach Preston vor dem Senatsausschuss vor, nunmehr zum Bioterrorexperten avanciert. Clinton selbst zeigte sich in einem späteren Interview von Prestons Buch mehr als beeindruckt und lobte besonders die guten Quellen, die der Thrillerautor gehabt haben muss, Quellen – wie auch Sarasin 6 | Wobei Karl-Theodor zu Guttenberg gleichsam großen Wert auf Distinktion legte: Zwar hört er gelegentlich Rock Musik, doch im Urlaub liest er auch antike Autoren im Original. Diese Selbststilisierungen müssen jeweils in ihren Kontexten betrachtet werden. Trump wusste sehr genau was er tat, als er bemerkte, dass das Rascheln von Buchseiten eine einschläfernde Wirkung auf ihn habe. 7 | Vgl. zum Folgenden Sarasin (2004: 71ff.).
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in seiner Rekonstruktion bemerkt – die doch eigentlich in direktem Kontakt mit dem Präsidenten standen, da es sich ja um US-Geheimdienste, das FBI und das Pentagon handelte (vgl. Sarasin 2004: 87). Ironischerweise war Preston selbst von Clintons Marineminister Richard Danzig, der sich mit Szenarien bioterroristischer Bedrohungen befasste, während seiner Recherchen für Cobra Event auf die Idee eines hybriden Virus gebracht worden. Er diente also als Resonanzraum und Verstärker angedachter möglicher Szenarien, die von US-amerikanischen Experten entworfen wurden, um sie dann als ganz reale Bedrohungen in Form eines Doku-Romans an den Präsidenten weiterzugeben. Für Clinton stand nun fest, wie er in einem Interview einräumte: Es ist beinahe sicher, dass irgendwann in der Zukunft irgendeine Gruppe, wahrscheinlich eine Terroristengruppe, versuchen wird, chemische oder biologische Waffen einzusetzen oder mit ihnen zu drohen, ich würde sagen, es ist sehr wahrscheinlich, dass das irgendwann in den nächsten Jahren geschehen wird. (zit. in Sarasin 2004: 88)
Öffentlich sprach Clinton von nun an häufig vom Bioterrorismus, so dass diese Bedrohung auch Einzug in seine State of the Union Rede vom 27. Januar 2000 hielt: A third challenge we have is to keep this inexorable march of technology from giving terrorists and potentially hostile nations the means to undermine our defenses. Keep in mind, the same technological advances that have shrunk cell phones to fit in the palms of our hands can also make weapons of terror easier to conceal and easier to use. We must meet this threat by making effective agreements to restrain nuclear and missile programs in North Korea; curbing the flow of lethal technology to Iran; preventing Iraq from threatening its neighbors; increasing our preparedness against chemical and biological attack; protecting our vital computer systems from hackers and criminals. […] I predict to you, when most of us are long gone, but some time in the next 10 to 20 years, the major security threat this country will face will come from the enemies of the nation state: the narco-traffickers and the terrorists and the organized criminals, who will be organized together, working together, with increasing access to ever-more sophisticated chemical and biological weapons. (Clinton 27.1.2000, Hervorhebung MA)
Für Clinton avancierte von nun an die Abwehr gegen Bioterror zu einem wichtigen sicherheitspolitischen Thema und er brachte ein Programm zur ›Germ Defense‹ auf den Weg, obwohl die Geheimdienstexperten die Sicherheitsbedrohung durch biologische Waffen für quasi nicht existent einschätzten. Auch unter Präsident George W. Bush fand das durch einen Roman erzeugte ›Bioterror Phantasma‹ weiterhin Beachtung, und als am 11. September 2001 die Flugzeuge in die Twin Towers einschlugen, war eine Spezialeinheit der Nationalgarde in kürzester Zeit vor Ort, um die Luft auf Kontamination durch Biowaffen zu untersuchen. Was diesen Fall so besonders macht, ist der Umstand, dass eine Bedrohungslage durch einen
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populären Roman konstruiert wird. Der christdemokratische Sicherheitsexperte Wolfgang Bosbach bemerkt in seinem Aufsatz zum »Rechtsstaat in Zeiten des Terrors: Warum für die Sicherheitspolitik jeder Tag der 12. September ist«: »Wir müssen bereits heute die Maßnahmen ergreifen, von denen wir uns nach einem großen Anschlag in Deutschland wünschen würden, sie rechtzeitig gemacht zu haben.« (2008: 137) Daraus wird gern ein ›Grundrecht auf Sicherheit‹ abgeleitet. Wenn jedoch Science Fiction und Thriller die Grundlagen für die von staatlicher Seite ergriffenen Maßnahmen sind, so führt dies in kürzester Zeit in den Ausnahmezustand. Clinton war, trotz seines Hangs zu alarmistischen Thrillern, ein rationaler Entscheider, auch wenn er mit seiner Behauptung, es sei nicht die Frage ob, sondern lediglich wann ein solcher terroristischer Anschlag mit Biowaffen auf eine amerikanische Großstadt stattfinde, zum Glück nicht Recht behielt. Dennoch zeigt dieses letztlich harmlose Beispiel, dass der Wirklichkeitskonstruktion von Spitzenpolitikern durch Filme, Bücher etc. aus dem Unterhaltungsbereich in Zukunft größere Bedeutung beizumessen sein wird. Wie es um die gegenwärtige US-Administration steht, mag man da nur mutmaßen. Das Handelsblatt berichtete am 19.11.2016, also kurz nach der Wahl Trumps zum Präsidenten: Wenn es um die künftige Politik der USA geht, hält sich der künftige Chefstratege des Weißen Hauses, Stephen Bannon, gern an die Strategie der Bösen im Kult-Epos ›Krieg der Sterne‹: ›Finsternis ist gut‹, sagte der ultrarechte Wahlkampfmanager von Donald Trump am Freitag der Zeitschrift ›Hollywood Reporter‹. ›Dick Cheney. Darth Vader. Satan. Das ist Macht‹. (»Trumps Chefstratege Bannon« 2016)
W ie › wirken ‹ S pielfilme
und
F ernsehserien ?
Die Perspektive auf popkulturelle Formate hat sich in den letzten Jahren, nicht zuletzt durch die starke Beachtung der Cultural Studies, gewandelt. Lange wog das Verdikt von Horkheimer und Adorno schwer, jegliche Kunst, die mit Unterhaltung fusioniert, sei in ihrer innovativen Kraft gelähmt und von allen kritischen und utopischen Gehalten entleert (vgl. Habermas 1993: 136). Indem die Kulturindustrie die Kunst dem Markt mit seinen Zwängen der Verwertung und Standardisierung unterwerfe, werde Aufklärung zum Massenbetrug, Kunst für die Massen werde zur Kunstmasse. Alle Massenkultur unterm Monopol ist identisch, und ihr Skelett, das von jenem fabrizierte begriffliche Gerippe, beginnt sich abzuzeichnen. An seiner Verdeckung sind die Lenker gar nicht mehr so interessiert, seine Gewalt verstärkt sich, je brutaler sie sich einbekennt. Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben. […] Die gefrorenen Formtypen wie Sketch, Kurzgeschichte, Problemfilm, Schlager sind der normativ gewandte, drohend oktroyierte Durchschnitt des spätliberalen Geschmacks.
Populärkultur und Politik Die Gewaltigen der Kulturagenturen, die harmonieren wie nur ein Manager mit dem anderen, gleichviel ob er aus der Konfektion oder dem College hervorging, haben längst den objektiven Geist saniert und rationalisiert. (Horkheimer und Adorno 2003: 128f.,142f.)
Sicherlich wäre es ein Fehler, den Warencharakter von Blockbustern, Fernsehproduktionen, popkultureller Musik, Videos und Mode unberücksichtigt zu lassen und ihre wirtschaftlichen Bedingungen, die Zielgruppenanalysen, inhaltlichen Reglementierungen wie auch die Vermarktungsstrategien gänzlich außer Acht zu lassen. Dennoch hat sich der Blick insofern gewandelt, als dass nicht mehr das Affirmative, Ideologische, Konsumatorische und Systemstabilisierende von vornherein unterstellt werden kann, vielmehr ist auch auf das Widerspenstige, das Kritische und lustvoll Subversive zu achten, das eben auch in der Populärkultur versteckt sein mag. Wie im Folgenden jedoch deutlich werden sollte, eröffnen sich häufig auch unterschiedliche, konkurrierende Lesarten für das gleiche Material. Es wird also sehr genau hinzuschauen sein, ob wir von ideologischen Mustern sprechen können,8 dergestalt, dass popkulturelle Phänomene die bestehenden Verhältnisse affirmieren und sie damit perpetuieren, ob sie gesellschaftliche Praxen, Normen und Werte naturalisieren und damit für jedwede Kritik unzugänglich machen, oder ob sich auch kritische Lesarten eröffnen. Im Folgenden soll dies – wegen der Fülle des Materials – beispielhaft an der Frage vorgeführt werden, wie wirtschaftliche Prozesse oder das Wirtschaftssystem insgesamt in audiovisuellen popkulturellen Formaten – Spielfilmen und Serien – dargestellt werden.
E xkurs : ›I t ’s the E conomy, S tupid!‹: W irtschaf t im popul ären F ilm und im Q ualitätsfernsehen Die Darstellung des Wirtschaftslebens als einem ganz entscheidenden Teilbereich moderner Gesellschaften war schon immer Gegenstand des Unterhaltungsfilms, 8 | Unter Ideologien verstehe ich mit Rahel Jaeggi im weitesten Sinne »Ideen, die (notwendig oder jedenfalls systematisch) in bestimmten Zusammenhängen stehen und entstehen. Ideologien sind dabei Überzeugungssysteme, die praktische Konsequenzen haben. Sie wirken praktisch und sind ihrerseits Effekte einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis.« (2009: 268) Dabei konstituieren sie unseren Weltbezug und – damit einhergehend – den Deutungshorizont, in dem wir uns und die gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen. Der dominierende ideologische Charakter medialer Formate besteht damit in der »Selbstverständlichmachung« (ebd.s 269) von Dingen, die gar nicht selbstverständlich sind. Besonders Film und Fernsehen vermögen es auf eine ganz vertrackte Art und Weise, Dinge – soziale Phänomene allgemein, soziale Praktiken, Institutionen – als quasi naturgegeben erscheinen zu lassen. Sie naturalisieren damit gesellschaftlich Gemachtes als unhintergehbar.
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doch scheint sich – so die These – in jüngster Zeit die filmische Dramatisierung des Kapitalismus wie auch der Gier seiner Repräsentanten vor dem Hintergrund multipler Krisen zu wandeln. Dies bedeutet danach zu fragen, wie ökonomische Zusammenhänge im Mainstreamkino und im Qualitätsfernsehen dargestellt werden und was dies für die Gesellschaften bedeutet, in denen diese Filme und Serien ihr Publikum finden. Dass filmische Darstellungen ›der Wirtschaft‹ häufig das Bank- oder Finanzwesen zum Gegenstand haben, verdankt sich wohl zweierlei Gründen: Da Banken mit dem Geld anderer handeln, sind sie in einem hohen Maße abhängig von einer ganz spezifischen, voraussetzungsreichen Ressource: dem Vertrauen anderer. Außerdem verfügen Banken über mehr Macht als andere wirtschaftliche Unternehmen (vgl. Baecker 2008: 22ff.). Ich beginne meinen Überblick mit einem inzwischen klassischen US-amerikanischen Weihnachtsfilm, mit Frank Capras It’s a Wonderful Life aus dem Jahr 1946. Dieser Film beschwört geradezu hymnisch den US-amerikanischen Gemeinschaftsgeist. Rückblickend muss überraschen, dass das FBI den Film 1947 in einem Memorandum wegen seiner ›Kapitalismuskritik‹ als »subversive Communist propaganda« einstufte (Chen 2006). Dies sagt wohl mehr über den damaligen Zeitgeist in den USA aus, als dass eine solche Bewertung Capras Film gerecht wird. Was die Aufmerksamkeit des FBI auf sich zog war der Umstand, dass Capra zwei Wirtschaftstypen kontrastierte: einen ungezügelten Manchester-Kapitalismus, in dem es das Ziel der Banken ist, Gewinne zu machen, wobei sie auch vor illegalen Handlungen nicht zurückschrecken – personifiziert durch Henry F. Potter (Lionel Barrymore), der an Ebenezer Scrooge, den grantigen Geizhals aus Charles Dickens’ A Christmas Carol erinnert, was auch dem FBI auffiel – und einen ›sozialen‹ Kapitalismus, in dem Banken dafür da sind, in Not Geratenen wie Kleinunternehmern kleine Kredite zu geben, damit sie temporäre Krisen überwinden oder eine Existenz auf bauen können. Für diese letztere Art des Kapitalismus steht der geradlinige, etwas naive George Bailey (James Stewart), der das Bankhaus ›Building and Loan‹ von seinem Vater nach dessen Tod übernommen hat. Die Sympathien Capras wie auch die der Zuschauerinnen und Zuschauer liegen – natürlich – ganz bei Bailey, der überzeugend die Ideale des amerikanischen Gründungsmythos vertritt, jedoch durch eine üble Manipulation durch Potter in arge Bedrängnis gerät. Am Tag einer Bilanzprüfung fehlt Geld – das Geld war durch ein Missgeschick irrtümlich in Potters Hände geraten, der es dann unterschlägt – was die Zukunft der ›Building and Loan‹ prekär werden und Bailey an Selbstmord denken lässt. Doch die Bank wird überraschenderweise gerettet: Freunde, Nachbarn und Verwandte, wie auch ehemalige Bankkunden, denen die ›Building and Loan‹ zu kleinem Wohlstand verholfen hatte, bringen mehr Geld zusammen als notwendig wäre, um die Buchungslücke zu füllen. Am Schluss des Films können alle gemeinsam glücklich Weihnachten feiern. In beinahe ideologischer Überzeichnung beschwört der Film die Werte und Ideale Selbstlosigkeit, gegenseitige Hilfe, Gemeinschaftsgeist und kontrastiert sie – deutlich negativ gezeichnet – mit Gier, Hartherzigkeit, Geiz und krimineller
Populärkultur und Politik
Energie. Der in den USA in den 1980er Jahren aufgekommene Kommunitarismus atmet noch den Geist dieser von Capra beschworenen tugendhaften Republik, die den Anfechtungen des big business widersteht. Zentral ist auch das Motiv der Familie, die letztlich – von den metaphysischen Motiven des Films abgesehen, die ich hier auslasse – Bailey vor dem Selbstmord rettet. Ich überspringe jetzt 40 Jahre und blende bei einem anderen Familienfilm wieder auf: Zwar lässt sich Oliver Stones Film Wall Street (1987) als kritischer Beitrag zum Finanzkapitalismus der 80er Jahre lesen, gleichfalls ist er aber auch ein Melodram über die funktionierende, moralische Familie. Wenn alles zugrunde geht, so die Botschaft, wenn die Gier des Immer-mehr-haben-Wollens die Menschen zu korrumpieren droht, dann ist die Familie die letzte Bastion, um dieser Dystopie Einhalt zu gebieten. Bud Fox (Charlie Sheen), der junge Held in Wall Street, wählt einen gewissenlosen Aktienhändler, Gordon Gekko (gespielt von Michael Douglas), zu seinem Ziehvater, der ihm auf nicht immer legale Weise und unter Umgehung jeglicher moralischer Hemmungen zu Männlichkeit und Reichtum verhilft, um dann aber – am Ende des Films – durch seine intakte Familie wieder auf den Pfad der Tugend zurückgeführt zu werden. Oliver Stone inszeniert Gekko beinahe liebevoll als Antihelden, der mehrere Auftritte erhält, um das Credo der Reaganomics zu predigen: Geld dient nicht dazu, etwas aufzubauen oder zu schaffen, sondern Geld ist reines Spekulationsobjekt und es gilt – wie in einem Nullsummenspiel – mehr davon zu haben als andere. »Greed is good« lautet die Botschaft, die von Gordon Gekko so unnachahmlich vertreten wird, dass sie den jungen Fox von seinem Vater, der traditionellen Werten noch ganz verhaftet ist, (vorübergehend) entfremdet. An der Darstellung und Demaskierung eines ungehemmten Finanzkapitalismus durch Oliver Stone ist bemerkenswert, dass Gordon Gekko als jemand gezeichnet wird, der existierende Regeln und Gesetze bewusst bricht und dass am Ende des Films Recht und Gesetz triumphieren, indem Gekko wegen Insider-Geschäften ins Gefängnis muss, während Bud Fox die richtigen Lehren aus seinen Erfahrungen zieht und wieder zu seiner Familie – und den noch immer intakten amerikanischen Werten – zurückfindet. Das Narrativ von Capra wird hier in gewisser Weise aufgenommen und weitererzählt, wenn auch mit deutlichen Umstellungen: Die Welt des Henry Potter ist unzweifelhaft unattraktiver gezeichnet als die des Gordon Gekko. Potter ist ein habgieriger Einzelgänger, der nicht genießen kann, während Gekko durchaus attraktiv wirkt durch sein Geld und seine Macht. Auch ist es nicht das Gemeinwesen, die Community, die Bud Fox zum Umdenken bewegt. Vielmehr wird sein Handeln von Gesetzen beschränkt, und als diese durchgesetzt werden, hilft ihm die Familie zurück ins Leben. Waren also bei Capra direkt in der Nachkriegszeit gemeinsame Werte und Tugenden ausreichend, um die Integration des Gemeinwesens sicher zu stellen, so sind es im Amerika Oliver Stones vor allem Gesetze, die als steuernde Modi das Funktionieren der Gesellschaft sicherstellen. Die Botschaft lautet: Das System funktioniert: nur wenn Einzelne sich über Recht und Gesetz erheben, gibt es Probleme.
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Ben Younger zeichnet mit seinem 13 Jahre nach Wall Street entstandenen Film Boiler Room ein etwas anderes Bild der Finanzwelt und der in ihr handelnden Menschen. Wie auch der Film Wolf of Wall Street (siehe unten) von Martin Scorsese basiert er auf den Memoiren von Jordan Belfort, der als Börsenmakler durch Wertpapierbetrügereien und Geldwäsche zu einem stattlichen Vermögen kam. In Youngers Film, so scheint es, gibt es – entsprechend dem berühmten Ausspruch von Margaret Thatcher – keine Gesellschaft mehr, es gibt nur noch Individuen, und diese lassen sich treiben von der Gier nach Geld. Schon der Handel mit Aktien, der Abschluss eines Geschäfts scheint lustvoll besetzt. Geld steht nicht mehr für den Luxus, den es ermöglicht, es steht für sich selbst als Symbol reiner Befriedigung. In einer bemerkenswerten Szene von Boiler Room trifft sich eine Gruppe von Börsenmaklern, die mit nicht ganz legalen Tricks die Börsenkurse manipulieren, um dann durch Käufe und Verkäufe größere Gewinne zu machen, in der spärlich eingerichteten Wohnung von Jim Young (Ben Affleck), um Filme zu schauen, abzuhängen und Dosenbier zu trinken. Sie schauen zum x-ten Male Wall Street und sie können die Dialogtexte von Gordon Gekko mitsprechen, ohne auf die Handlung des Films zu achten. Für sie ist Gekko ein Rollenmodell, unerreicht in seiner Coolness. Und während Gekko noch in seiner ›Greed is Good‹-Rede über die Rolle des Aktienmarktes für die US-amerikanische Wirtschaft räsonierte und sich an ihm noch eine Reihe von Aktionären bereicherte, so machen diese jungen Leute, die A.O. Scott in einer Filmrezension als »baby sharks« (Scott 2000) bezeichnete, ihre Geschäfte nur für sich allein. Wir haben es in diesem Film mit einer weiteren Entwicklung des Narrativs über Wirtschaft zu tun: Die Akteure handeln nun völlig im gesetz- und moralfreien Raum, bestimmte Regelungen und Begrenzungen für Finanzgeschäfte scheinen noch zu existieren, doch ihre Einhaltung wird nicht mehr durchgesetzt. Wird Gekko von Stone noch als ein Exzess dramatisiert, wird jetzt, zu Beginn der 2000er Jahre, sein Handeln zur Normalität. Der Film Margin Call aus dem Jahr 2011 von Regisseur J.C. Chandor eröffnet das Subgenre der Post-Lehman-Brothers-Filme. War Boiler Room inszeniert und geschnitten im Stil eines Hip-Hop-Videos, schnell, bunt und laut, so ist Margin Call elegisch gehalten, mit langen, ruhigen Kamerafahrten. Erzählt wird die Nacht, in der die Finanzkrise begann: Eher zufällig fällt auf, dass die Bank, die im Zentrum der Handlung steht, auf einem Paket von falsch bewerteten Wertpapierbeständen sitzt und von der Insolvenz bedroht ist. Sofort werden die relevanten Experten wie auch der Vorstand zusammengerufen, woraufhin in einer aufreibenden Nachtsitzung ein Rettungsplan ersonnen wird. Demnach sollen die faulen Papiere verkauft werden, so lange sie noch nicht aufgeflogen sind. Chandor inszeniert die Handlung im Stile einer griechischen Tragödie. Die Heldinnen und Helden bewähren sich in einem Universum, das sie selbst nicht beeinflussen können. Das globale Finanzsystem gibt die Regeln vor. Nicht einzelne Verfehlungen führen in die Krise, sondern systemische Fehler sind situativ zu beheben. Moralische Kategorien spielen keine Rolle mehr, einzelne Schuldzuweisungen
Populärkultur und Politik
sind hier nicht am Platz. Dies bedeutet: Längst führt nicht mehr das Fehlverhalten gieriger Börsenmakler in die Katastrophe, die Protagonistinnen und Protagonisten kommen allesamt als mehr oder weniger verantwortungsbewusste, seriöse Individuen daher. Der Sexappeal eines Gordon Gekko wird hier ersetzt durch den Charme von Bürokraten mit Universitätsabschluss. The Wolf of Wall Street von Martin Scorsese aus dem Jahr 2013 fügt den hier angedeuteten Narrativen nicht viel Neues hinzu. Man könnte den Film als die zynische Wendung von Stones Wall Street bezeichnen: Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio) fehlt die Klasse wie auch die Intellektualität eines Gordon Gekko, oder besser: er klärt den romantisierten Blick von Oliver Stone auf jene Zeit schonungslos auf. Schon in den 80er Jahren galt, wie wir aus einem Gespräch zwischen Mark Hanna (Matthew McConaughey) und Belfort lernen, dass es nur um den persönlichen Erfolg geht. Hanna erteilt Belfort eine Lektion, die dieser nie vergessen wird: Never work for the client, always work for yourself. Don’t let the client cash in his winnings, argue him into reinvesting, and take the commission. Nobody knows anything. It’s all forged. Just stay frelax and let the others pay the bill. (zit. in Suchsland 2014)
Rüdiger Suchsland ist zuzustimmen, wenn er seine Filmkritik mit folgenden Worten beschließt: »Der Regisseur Scorsese unterstützt hier die Haltung seines Publikums, Politik zu verachten und an Handlungsmöglichkeiten nicht zu glauben, er verzichtet auf Empörung zugunsten des Zynismus.« (Suchsland 2014) Damit nähme der Film eine Stimmung auf, die als postdemokratisch bezeichnet werden könnte. Die altbekannten demokratischen Institutionen sind nach wie vor vorhanden, doch sie wirken seltsam aufgezehrt und entkernt. Eine noch zynischere Wendung erfährt die Befassung mit dem Wirtschaftssystem in einigen neuen Fernsehserien: Ein Motto aufnehmend, dass in der Eingangssequenz von Boiler Room anklingt, wird die soziale Lage des (US-amerikanischen) Mittelstands als so dramatisch gezeichnet, dass – wie Diedrich Diederichsen bemerkt hat – die Kriminalität als letzter Ausweg gewählt wird, um überhaupt über die Runden zu kommen.9 Als Beispiele wären hier die Sopranos zu nennen, oder die White-Familie aus Breaking Bad, in der Walter vom Chemielehrer mit legalen, aber unbefriedigenden Nebenjobs zum Drogenboss aufsteigt und – wie er selbst bemerkt – im Empire-Business tätig ist.10 Diese Beispiele, die nicht für eine syste9 | »Die SOPRANOS – und mehr noch die spätere Serie BREAKING BAD – haben immer auch den Umstand artikuliert, dass Leute, die eigentlich nichts anderes wollen als ein Häuschen in Suburbia, nicht anders überleben können als durch Kapitalverbrechen.« (Diederichsen 2012: 98) 10 | Walter White, auf die Frage Jesses, welchem ›Geschäft‹ sie eigentlich nachgehen: »Jesse, you asked me if I was in the meth business or the money business. Neither. I’m in the empire business.« (Breaking Bad, Staffel 5, Episode 6, Buyout, 30:20-30:30)
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matische Auswertung des Film- und Fernsehdiskurses der jeweiligen Abbildung, Kommentierung, Affirmierung und Kritik des Wirtschaftssystems stehen sollen, deuten immerhin darauf hin, wie sehr und in welche Richtung sich die kulturelle Imagination der Wirtschaft – und zwar von der Realwirtschaft hin zur Finanzoder Schattenwirtschaft – gewandelt hat. Die Frage, ob die filmischen Darstellungen dabei ›realistisch‹ sind, oder ob sie aufklärerisch oder ideologisch wirken,11 tritt hinter den Befund zurück, dass sich hier in populären Formaten Diskurse abbilden, die den Wandel der Weltwirtschaft in gewisser Weise nachzeichnen, Rollenmodelle spiegeln und dekonstruieren und in ihrer Gesamtheit einen Kommentar bilden zur Frage, ob oder unter welchen Bedingen eine Marktwirtschaft positiv für das Gemeinwohl wirken kann, wann sie destruktiv wird und welche Rolle Tugenden und Werte im Markthandeln spielen können. Es ist dabei interessant festzustellen, dass der Wandel der Wirtschaft – zeichnet man eine grobe Linie von Capras Film hin zu Boiler Room und Wolf of Wallstreet – gleichschrittig mit einem Wandel der Familie – häufig auch dargestellt am Vater-Sohn Verhältnis – verläuft. Peter Bailey übernimmt von seinem Vater den Idealismus und die altruistische Haltung, nach dessen frühem Tod will der die Bank ›Building and Loan‹ ganz im Sinne des verstorbenen Vaters weiterführen und dessen Erbe gegen Spekulanten wie Potter verteidigen. Bei Wall Street ist das Verhältnis von Bud Fox zu seinem Vater Carl Fox (Martin Sheen) weit komplexer. Zwar bestehen noch emotionale Bande, doch Vater und Sohn leben in unterschiedlichen Welten, verfolgen verschiedene Werte und sprechen auch nicht mehr die gleiche Sprache.12 Bud Fox nutzt Insiderinformationen, um sich Zugang zu Gekko zu erkaufen, die ihm sein Vater unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte. Die nun einsetzende Entfremdung zwischen Vater und Sohn wird erst gegen Ende des Films überwunden, nach der symbolischen Tötung des Ziehvaters (Gekko muss ins Gefängnis) tritt Fox wieder ganz in die alte Familie ein, gemeinsam fahren sie nach Hause. In Boiler Room hat Seth Davis (Giovanni Ribisi) von Beginn an ein mehr als gespanntes Verhältnis zu seinem Vater, dessen Erwartungen er nicht erfüllen kann. Später wird er, um seinen Vater mit seinem beruflichen Aufstieg und Erfolg zu beindrucken, diesen in illegale Machenschaften bei Börsengeschäften verwickeln und nur knapp kann er verhindern, dass sein Vater vor Gericht kommt. Bei Margin Call werden keine privaten Beziehungen gezeigt, es hat den Anschein, als fehle es bei allen Protagonisten an der Zeit, tiefe Beziehungen zu pflegen. Ähnliches gilt für Wolf of Wall Street, und Breaking Bad schließlich beschreibt die Familie als Dystopie.
11 | Vgl. zu dieser Frage Arenhövel (im Erscheinen). 12 | Dies wird direkt in einer Szene von Carl Fox thematisiert, der seinen Sohn in einer Kneipe trifft und dessen vom Wall Street-Finanzslang durchsetzte Sprache kritisiert, während Bud Fox seinen Vater für altmodisch erklärt, weil er zu Pasta noch immer Spaghetti sagt (Wall Street 1987: 8:55-12:50).
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Seit der Debatte um Goethes Leiden des jungen Werther (1774) ist immer wieder die Frage gestellt worden, welche Wirkungen ein Roman, später auch Filme, Musik oder Videospiele haben können. Regisseure wie Quentin Tarantino und Oliver Stone (Natural Born Killers 1994) mussten sich wiederholt mit dem Vorwurf auseinandersetzen, Gewalt zu verherrlichen, Egoshooterspiele wurden indirekt für Amokläufe verantwortlich gemacht und die Rock- und Popmusik geriet in Verruf, Jugendliche wahlweise zu rechter Gewalt, linker Gewalt, Drogen, Sex oder Satan zu verführen. Oben wurde im Kontext des Thrillers Cobra Event ja bereits angedeutet, welchen nachhaltigen Eindruck mit weitreichenden Folgen die Romanlektüre bei relevanten Akteuren der Weltpolitik haben kann. Im Folgenden soll der Zusammenhang befragt werden, ob popkulturelle Formate und Inhalte auch Wandlungen gesellschaftlicher Leit- und Wertvorstellungen beeinflussen können. Pauschal wird diese Frage kaum beantwortet werden können und die Medienforschung ist zunehmend vorsichtig, allgemein von Wirkungen auf ›das Publikum‹ zu sprechen, ohne auf besondere Dispositionen, Vorerfahrungen und die spezifische Situation des Rezipienten und der Rezipientin einzugehen. Einzelstudien, die eher Korrelationen aufweisen und kaum Kausalmodelle zu entwickeln vorgeben, geben jedoch erste Hinweise, die besonders im Zusammenhang mit Fernsehserien gewonnen werden konnten: So konnte die Politikwissenschaftlerin Amy Zegart zeigen, dass Fernsehzuschauer und –zuschauerinnen, die solche Fernsehserien konsumieren, in denen Folter als durch Notstand gerechtfertigt wird, wie etwa 24 oder Homeland, eher geneigt sind, Folter im Kampf gegen den Terrorismus zu akzeptieren. So sei während der Obama-Administration die Zustimmung zu Foltermethoden in den USA gestiegen, obwohl die Rhetorik Obamas gegenüber der Folter defensiver war als unter seinem Vorgänger Bush (Zegart 2012). Der Produzent und Mitautor von 24, Joel Surnow, bemerkte recht freimütig, dass er selbst Folter unter bestimmten Umständen für gerechtfertigt hält. Er kommentierte den Umstand, dass der Held der Serie 24, Jack Bauer, regelmäßig zu Foltermethoden greift und gegen Verfassungsgrundsätze verstößt, in einem Interview des Independent 2006: »If there’s a bomb about to hit a major US city and you have a person with information […] if you don’t torture that person that would be one of the most immoral acts you could imagine.« (zit. in Coşkun 2012: 47) Zegarts Forschung und Surnows Bekenntnis stehen in Einklang mit Christian Ericksons Beobachtung, der im Hinblick auf die von ihm analysierten Serien 24 und Spooks bemerkt, diese ebneten den Weg für eine »normalization of torture through representations that assume the ubiquity of its use by security personnel for interrogation; and the normalization of a permanent culture of anxiety and existential threat posed by the use of weapons of mass destruction« (2008: 346). Hier stellt sich die Frage, wie, ob und inwieweit fiktionale Fernsehformate Einstellungen und Werte der Rezipienten
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und Rezipientinnen wie auch die ›wirkliche‹ Politik zu beeinflussen vermögen. Diana Mutz und Lilach Nir gehen dieser Frage nach und konstatieren, »people often search for the real-world point of works of fiction, and spontaneously draw on television imagery and fictional television characters in conversations about current events« (2010: 197). Die Forscherinnen relativieren damit die vorherrschende Annahme, die Zuschauerinnen und Zuschauer wüssten klar zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Formaten zu unterscheiden und nützten zur Beurteilung realer Probleme und Prozesse lediglich jene Formate, denen sie einen hohen Realitätsgehalt und große Glaubwürdigkeit zuschrieben. Wenn jedoch ein Drittel der freien Zeit am Wochenende in den Vereinigten Staaten vor dem Fernsehgerät verbracht wird, wie neue Nutzerinnen- und Nutzerstudien zeigen, wie sollte man dann annehmen, dass die hier vermittelten Inhalte keine Relevanz auf Meinungen, Einstellungen und Wertebildung haben? Mutz und Nir legen durch erste empirische Untersuchungen den Befund nahe, dass durch Fernsehserien wie beispielsweise Law & Order die Haltung von Rezipientinnen und Rezipienten zur Todesstrafe beeinflusst werden kann, wobei sie jedoch nicht erheben können, welche Dispositionen bei den Zuschauerinnen und Zuschauern angelegt sein müssen, damit sie ihre Einstellung ändern, wie sie auch offen lassen müssen, wie lange die Änderungen anhalten. Studien, die Veränderungen der Meinungen und Einstellungen auf der Seite der Rezipientinnen und Rezipienten erforschen, stehen noch recht am Anfang und lassen kaum Generalisierungen zu, doch eine ebenso große Relevanz kommt der Frage zu, inwiefern gerade Fernsehserien ihren Gegenstand verändern oder mitkonstruieren. In einer fruchtbaren Synthese von Sicherheitsstudien und Cultural Studies diskutiert eine Reihe neuerer Arbeiten den (unter-stellten) Zusammenhang von Populärkultur und gesellschaftlicher Risiko- und Bedrohungs-wahrnehmung, Identitätsbildung wie auch der Legitimation des Ausnahmezustands. Gerahmt vom Metanarrativ eines globalen Kriegs gegen den Terrorismus dienen Fernsehserien wie 24, Spooks, Homeland, Designated Surviver, The Americans usw. dazu, im Zuge einer geradezu hysterischen theatralischen Makro-Securitization die Situation einer permanenten existenziellen Bedrohung heraufzubeschwören, eine klare Grenze zwischen einem ›Wir‹ (dem Publikum, den westlichen Gesellschaften) und dem ›Anderen‹ (islamistischen Terroristen, der islamischen Welt) zu ziehen und damit die eigene Identität zu stabilisieren, während gleichzeitig jedwede Mittel im ›Abwehrkampf‹ gegen den Terrorismus gerechtfertigt werden. Fernsehserien, so könnte hier vorläufig verallgemeinert werden, beeinflussen das ›kulturelle Imaginäre‹ einer politischen Gemeinschaft, indem sie Vorstellungen, Identitätsbildungen und Normen narrativ rahmen. Weit mehr als um die rein mimetische Wirkung, die Formatierung von Verhaltensmustern und Standardisierung von Gesten und Sprache geht es darum, die Wirkung audiovisueller Repräsentation im Bereich der politischen Imagination zu erforschen. Einen solchen Forschungsansatz umreißt Michael Williams, wenn er bemerkt:
Populärkultur und Politik Such an approach would focus […] on the way in which visual representations of different policy options influence security practices. In what ways are visual representations structured, and how do they tap into deeply sedimented social perspectives? How do images have an impact on viewers that differs from the impact of words on listeners, or text on readers? How are images capable of contributing to processes of securitization or desecuritization, and how are they linked to more conventional speech-acts in this process? (2003: 527)
Während über die Macht der Bilder trefflich zu streiten sein wird – hat wirklich ein einziges Bild der geschändeten Leiche eines amerikanischen Soldaten in Somalia den amerikanischen Rückzug ausgelöst (vgl. Barber 1996: 122), existiert der CNN-Effekt tatsächlich und worin besteht er genau (vgl. Robinson 2002)? –, so wissen wir über die Folgen der Selbstverständlichmachung und Naturalisierung durch Fernsehserien nach wie vor viel zu wenig. Dies gilt umso mehr, wenn wir die Tatsache in Rechnung stellen, dass Fernsehserien zunehmend für einen sich globalisierenden Medienmarkt produziert werden. Gramsci folgend könnte hier gesagt werden, dass popkulturelle Serien zusammen mit anderen Diskursen (Mode, Musik, Spiele) eine Hegemonie etablieren, wobei die Dominanz US-amerikanischer Serien als Teil einer transnationalen Entwicklungsdynamik betrachtet werden könnte, die neben einer ökonomischen Struktur und einer politischen Struktur als kulturelle Struktur ›universelle‹ Normen, Institutionen und soziale Mechanismen etabliert und damit die sozialen Kräfte, die intersubjektiven Überzeugungen wie auch die kollektiven Vorstellungen von sozialer Ordnung auf ein besonderes Muster hin prägt. Allerdings sollte hier eine gewisse Widerständigkeit lokaler, regionaler ›Kulturen‹ nicht übersehen werden. Die Welt lässt sich, wie Ulrich Menzel gezeigt hat, kaum als eine homogene Zone beschreiben, in der sich »mit medialer Brachialgewalt die Amerikanisierung der Lebensstile im Bereich der Massenkultur ausbreitet« (1998: 30). Vielmehr haben wir es mit der »Inszenierung einer wahren Hybrid-Kultur« (ebd.) zu tun, die sich aus unterschiedlichsten Versatzstücken speist (vgl. ebd. 31), doch lässt sich nicht einmal erahnen, wie hegemonisch – im hier gemeinten Sinn – populäre Kultur weltweit wirkt.
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›Para -P olitik‹?
Bisher sollte gezeigt werden, dass popkulturelle Formate, und hier vor allem Spielfilme und Fernsehserien, selbst wenn Politik nicht direkt thematisiert wird, den Rahmen mitgestalten, in dem Politik beobachtet, kommentiert und bewertet und über Politik kommuniziert wird und dass das, was als Inhalt von Politik gelten soll (Werte, Güter, Ideen, Vorstellungswelten), medial mitgestaltet wird. Im Anschluss an Silke Satjukow und Rainer Gries, die im Zusammenhang mit medial vermittelten Geschichtsproduktionen von ›Para-Historie‹ sprechen, will ich hier den Begriff ›Para-Politik‹ einführen.
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Bei Satjukow und Gries ist die Wortbildung ›Para-Historie‹ angelehnt an die rezeptionspsychologisch fundierte Theorie der parasozialen Interaktion und sie unternimmt den Versuch, die Eigenschaften dieser neuen Film- und Fernsehformate zu problematisieren und zugleich die Modi ihrer Aneignungen infrage zu stellen (2016: 13f.) Mit ›Para-Politik‹ ist gemeint, dass die Rezipientinnen und Rezipienten durch realistische bzw. pseudo-realistische Darstellungen der Politik zu parapolitischen Interaktionen eingeladen werden. Vor diesem Hintergrund wäre die These zu formulieren, dass Rezipientinnen und Rezipienten, die Fernsehformate wie Borgen, The West Wing, House of Cards etc. verfolgen, zu der Vorstellung gelangen, hier würde ihnen ein ›authentisches‹ Abbild politischer Prozesse und des Politikbetriebs vorgeführt. Wie auch bei Satjukow und Gries und ihrer ›Para-Historie‹, so wird auch bei der ›Para-Politik‹ der Zuschauer bzw. die Zuschauerin zum entscheidenden Akteur. So betrachtet geht es nicht mehr darum zu konstatieren, der politische Prozess oder der ›Ethos der Demokratie‹ sei in The West Wing realistischer oder authentischer abgebildet als in House of Cards. Wenn etwa Andreas Dörner bemerkt, Fernsehserien böten ›Uns‹ komprimierte Seinsbestimmungen der politischen Welt, sie könnten im besten Fall zeigen, wie Politik funktioniert und was die beteiligten Akteure antreibt, sie führten vor, mit welcher Währung im politischen Geschäft bezahlt wird und welche Kooperationen und Konfrontationen sich zwischen Politik und Medien herausbilden könnten (vgl. 2016: 7), so wäre hier einzuwerfen, dass es dieses kollektive ›Wir‹ auf Seiten der Rezipientinnen und Rezipienten nicht gibt, dass sich die »unterhaltsame[n] Blicke auf die Hinterbühnen der Politik« – so der Titel des Artikels von Dörner – nur jenen erschließen, die genügend Vorwissen und Urteilskraft besitzen, um die fiktionalen Film- und Serieninhalte einzuordnen und zu verarbeiten und dass die Einteilung von Filmen und Serien in drei Idealtypen – »Politik wird entweder dargestellt als Idealpolitik, Realpolitik und Machtpolitik« (ebd.) – allein von der Materialseite ausgeht und beurteilen will, wie Politik dargestellt wird und eben nicht von den Rezipientinnen und Rezipienten und der Art, wie diese mit den Serien umgehen. So mag ein Rezipient The West Wing als authentische Darstellung des US-amerikanischen politischen Systems goutieren, wobei der normative Gehalt der Serie »als positives Gegenbild zur außermedialen politischen Realität« (Dörner 2016: 8) fungieren kann, während eine andere Rezipientin sich enttäuscht von den etablierten Parteien abwendet und sich Populisten zuwendet, weil sie den in der Serie dargestellten ›Idealtyp‹ von Politik in der Realität so gar nicht vorzufinden meint. Andere mögen House of Cards kritisch betrachten und ablehnen, weil hier Politiker als ungehemmte Machtmenschen vorgeführt werden, wo selbst der US-amerikanische Präsident vor Mord, Verfassungsbruch und Wahlfälschung nicht zurückschreckt, während wieder andere dies als ironischen Kommentar auf die aktuelle Politik betrachten mögen. Vollends im para-politischen Bereich sind wir jedoch, wenn am selben Tag der Fernsehdebatte der ›echten‹ Präsidentschaftsbewerber der Republikaner ein Wahlkampf-Bus von Frank Underwood unterwegs
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ist und Underwood (Spacey) sich mit dem Slogan »Underwood 2016 – Anything for America« selbst als Präsidentschaftskandidat vorstellt bzw. die neue Staffel der Serie bewirbt. In den US-amerikanischen Medien wird die Serie House of Cards immer häufiger zum Referenzpunkt einer Betrachtung der Politik im Weißen Haus. So wurde Barack Obama (allen Ernstes) in einer populären Late-NightShow gefragt, ob es im Oval Office tatsächlich »so zugeht« wie wir es aus House of Cards kennen…13 ›Para-Politik‹ ermöglicht kaum einen Blick auf die Hinterbühnen der Politik, dieses mühsame Geschäft verrichten die Qualitätsmedien und die Politische Bildung zusammen mit der Politikwissenschaft. Vielmehr etabliert sie einen politischen Raum jenseits der Politik, von dem die Showrunner annehmen, er sei interessant und spannend genug, um ZuschauerInnen längere Zeit an ein Serienformat zu binden. »The ticking clock scenario really occupies .0003 percent of all real-world situations and it occupied 99 percent of the dramatic context of the show«, bemerkte Howard Gordon, Drehbuchautor und Executive Producer von 24, der später auch maßgeblich an Homeland beteiligt war, rückblickend durchaus kritisch zur Realitätsverdichtung – um nicht von Realitätsverzerrung zu sprechen – in der Serie 24 (zit. in Sepinwall 2012: 229). Jenes Bohren dicker Bretter, wie Max Weber die Politik beschrieb, lässt sich nur schwerlich in Serie bearbeiten. Vielmehr wird der Raum des Politischen als der Bereich jenseits der sichtbaren, institutionell-verstetigten Politik eröffnet, in dem alles möglich scheint und folglich auch ein Raum eröffnet wird für Utopien und messianisch verzerrte politische Visionen wie auch für Verschwörungen, Skandale, illegale Machenschaften und Paranoia. »There’s a whole other layer of DC, you know, where real politics happen. Where decisions are made. Not about democracy or the flag, but power. […] Stuff that regular Americans never hear about. This is the real deal!« Diese Beschreibung äußert der Mitarbeiter von Olivia Pope in Scandal, einer weiteren sehr erfolgreichen Politikserie, in der der vertuschte Skandal wie auch die Folter zum normalen Politikbetrieb gehören (Staffel 2, Episode 10). Wie auch die ›Para-Historie‹, so wird auch die ›Para-Politik‹ zum Problem, wenn sie zur Folie wird, auf der Politik bemessen und beurteilt wird.
13 | Der demokratische Politiker Archie Parnell machte im Wahlkampf für die Wahlen zum Repräsentantenhaus am 20. Juni 2017 mit einem deutlich an die Bildersprache von House of Cards angelehnten Wahlspot auf sich aufmerksam, in dem er mit Zitaten aus House of Cards spielte, um seine Botschaft zu lancieren: »Archie Parnell is no Frank Underwood and Washington shouldn’t actually be like House of Cards.« (Parnell 2017) Ich danke Brigitte Fuhrmann für den Hinweis auf Parnells Wahlkampfspots.
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is so overrated!
»Ein Leben ohne Pop ist genauso wenig vorstellbar wie ein Leben ohne Politik«, bemerkt Georg Seeßlen zu Beginn seines Essays Trump! Populismus als Politik, um dann auszuführen: Es ist bemerkenswert, wie sich im letzten Jahrhundert die Differenzen zwischen Pop und Politik aufgelöst haben, sodass man sich immer häufiger fragen muss: Ist das noch Pop oder schon Politik? […] Oder andersherum: Ist das noch Politik oder schon Pop? (2017: 7).
Überschrieben ist der Abschnitt mit: »Ein Präsident als Abfall der Popkultur«. In der Tat legt die gegenwärtige Administration in den Vereinigten Staaten den Verdacht nahe, die lange verschmähte Popkultur räche sich nun am ›Establishment‹, indem sie das Weiße Haus erobert hat. Während der Präsident durch medienwirksame Auftritte, Executive Orders und Tweets Politik wie eine serielle Inszenierung präsentiert, zusammengehalten durch die Spannungsbögen, die sich schon aus der Erwartung des nächsten Tweets zu Politischem oder Privatem oder des nächsten Rücktritts eines Ministers oder Mitarbeiters ergibt, gibt der neue Kommunikationsdirektor des Präsidenten, der Ex-Banker Anthony Scaramucci in einem Interview mit der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit preis, wer ihn auf die Idee brachte, Investmentbanker zu werden. Es geschah in den achtziger Jahren, nach dem Scaramucci Wall Street im Kino gesehen hatte: »Nachdem ich den Film gesehen habe, wusste ich, dass ich an die Wall Street will – ich habe wohl die falsche Botschaft herausgezogen.« (zit. in Buchter 2017: 23) Die Populäre Kultur dient auch immer öfter dazu, die Politik bildhaft zu erklären. So bemerkten Chris Cirillo und Sarah Stein Kerr in der New York Times: »The blunt lingo of President Trump and his new communications director, Anthony Scaramucci, can sometimes sound like a cross between ›Goodfellas‹ and ›The Wolf of Wall Street‹.« (Cirillo und Kerr 2017) Ob hier, um den neuen Kommunikationsstil im Weißen Haus besser beschreiben zu können, auf einen Fundus allgemein bekannter Hollywoodfilme als Teil des kulturellen Gedächtnisses zurückgegriffen wird, oder ob sich durch die Sozialisation durch solche Filme tatsächlich die politische Kommunikation wandelt, ist schwer zu beurteilen. Dass aber längst fiktive Formate der Populärkultur zur Referenz für die Politik und die dort handelnden Personen geworden sind, ist nicht zu bestreiten.14 Dies wäre die eine Seite, die als Popkulturisierung der Politik beschrieben werden könnte und diese Entwicklung würde in der Tat die oben zitierte Befürchtung stützen, es bestehe eine Verbindung zwischen Popkultur und Populismus, wie Hans-Georg Betz es andeutete. 14 | Um ein besonders absurdes Beispiel zu bringen: So diskutiert Rachel Lubitz (2016) allen Ernstes die Frage, inwieweit sich der Bekleidungsstil von Melania Trump dem von Clair Underwood angleicht.
Populärkultur und Politik
Es gibt aber noch eine andere Seite: Schaut man sich etwa die neuen sogenannten Qualitäts- oder transgressiven Fernsehserien an, so stellt man schnell fest, dass hier gegenwartsrelevante Fragen verhandelt werden, wie die nach der Rolle und Bedeutung der Regierung, der Geltung von Recht und Verfassung, dem Umgang mit dem Anderen, der Schwelle zwischen Demokratie und Diktatur und der Transformation von Geschlechtlichkeit. In diesen Serien werden auf spielerische Art Grenzen der Wirklichkeitserfahrung und –deutung überschritten und die Zuschauerinnen und Zuschauer können damit neue Perspektiven auf ihre erfahrene und erfahrbare Welt erlangen. So betrachtet könnte die Populäre Kultur auch einen Raum eröffnen, in dem Bürgerinnen und Bürger explorativ erkunden, wie sie am besten mit der Ambivalenz umgehen können, vor die sie sich ständig in einer modernen Welt gestellt sehen.
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›Dumb Blonde‹ Zur Popularisierung eines misogynen Stereotyps Ralf Junkerjürgen Was haben Blondinen und Flaschen gemeinsam? - Beide haben ein Vakuum, vom Hals aufwärts. Was sagt man, um eine Blondine ins Bett zu bekommen? - »Hallo!«1
Diese zwei fast wahllos herausgegriffenen Beispiele aus einem Blondinenwitze-Machwerk resümieren, worin dessen gehässige Komik gründet, erstens in der unterstellten Dummheit und zweitens in der angeblichen sexuellen Verfügbarkeit der Blondine, womit zugleich suggeriert wird, es könnte hier ein Zusammenhang bestehen. Was hat all das jedoch mit der Haarfarbe Blond zu tun? Blond war kulturgeschichtlich ein Emblem griechischer Götter, Blondheit drang in die christliche Symbolik ein und verwies bei Engeln, der Jungfrau Maria oder dem Jesuskind auf Reinheit oder göttliche Erleuchtung, und Adlige stilisierten sich in dieser Linie als blond, um ihren herausragenden Status zu repräsentieren. Nirgends war je die Rede davon, Blond verweise auf Mangel an Intelligenz oder sexuelle Bereitschaft. Wann und warum wurde dieses Repertoire auf so konträre Art erweitert? Und wie konnte es eine so ungeheure Popularität erlangen und zu einem mittlerweile überall in der westlichen Gesellschaft verbreiteten Stereotyp werden? Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen gehe ich grundsätzlich davon aus, dass Stereotype kulturhistorisch konstruiert werden und zwar falsch sind, aber nicht willkürlich entstehen. Sie sind deshalb nicht willkürlich, weil sie von anderen Vorstellungen abgeleitet werden, sobald es einen kulturhistorischen Impuls dazu gibt. Demnach wäre das Stereotyp ›dumb blonde‹ von historischen Determinanten abhängig, die es ermöglichen, seine Entstehung zu rekonstruieren. Zur Beschreibung dieses Prozesses gehe ich von vier Phasen aus: einer Latenzzeit, in der ein Stereotyp in affinen Vorstellungen angelegt ist, einer Etablierungs1 | Stein (2002: 39, 43).
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phase, in der die Prototypen auftauchen und medial expandieren, einer Phase der Produktivität, in der die Prototypen variiert und dekonstruiert werden, bis ein Erschöpfungsmoment eintritt, und sie schließlich viertens zu einem Repertoire erstarren, das zwar nicht mehr produktiv, dafür aber medial archiviert ist und jederzeit aktualisiert werden kann. Die Entwicklungslinien in der Entstehung von Stereotypen nachzuvollziehen heißt deren Konstruiertheit aufzudecken und ihre Produktivität damit gleichsam zu unterminieren. Es handelt sich daher um eine Form soziologischer Aufklärung, weil das Stereotyp der ›dumb blonde‹ als Stigmatisierung einzuschätzen ist, das die Lebenschancen der Betroffenen reduzieren kann.2 Generell beeinflussen Haarfarben als eines der am weitesten sichtbaren körperlichen Merkmale unsere Wahrnehmung und laden zu Kategorisierungen ein. Von Bedeutung ist dabei auch, dass sich das Haar am Kopf befindet, dem wichtigsten Körperteil, an dem landläufig das Individuum identifiziert wird. In der historischen Medizin führte dies unter anderem zu der These, man könne an der Beschaffenheit der Haare den Zustand des Gehirns festmachen,3 eine Vorstellung die bis in das 19. Jahrhundert hineinreicht. Im Falle von Blond ist weiterhin grundsätzlich zu berücksichtigen, dass es heller als die anderen Haarfarben ist, somit einen höheren Reflexionsgrad besitzt und daher schlichtweg besser sichtbar und auffälliger ist. Blond nimmt damit schon wahrnehmungsphysiologisch einen besonderen Status ein.
L atenzzeiten : › blond ‹
als
S ignatur
des I dealen
Es ist ein Merkmal der europäischen Nationen, dass sie seit je her auch über ihre Haarfarben identifiziert werden, weil diese ungleichmäßig über die Populationen verteilt sind. In asiatischen Kulturkreisen, wo schwarzes Haar quasi völlig dominiert, spielen Haarfarben dementsprechend keine vergleichbare typisierende Rolle. 4 Die ungleiche Verteilung der Haarfarben gilt aber nicht nur für die europäischen Ethnien untereinander, sondern auch innerhalb der jeweiligen Gesellschaften. Haarfarben unterliegen dabei einem Selektionsprozess in der Wahrnehmung, der die innerhalb einer Gesellschaft überwiegenden Farben als unmarkiert und die seltenen hingegen als markiert unterscheidet. Die numerisch selteneren Farben wie Blond und Rot sind dabei besonders anfällig, stereotypi2 | Nachgewiesen wurde beispielsweise, dass dunkelhaarige ungeschminkte Frauen als kompetenter eingeschätzt werden als blonde oder rothaarige und ein höheres Anfangsgehalt erreichen können (vgl. Kyle und Mahler 1996: 452). 3 | Ein prominentes Beispiel ist Examen de Ingenios (1575) von Juan Huarte. Weiteres dazu in Junkerjürgen (2009: 100-104). 4 | So erwähnt zum Beispiel die japanischstämmige Autorin Yoko Tawada, sich keine Haarfarben merken zu können, weil sie es als Kind nicht gelernt habe (1996: 40).
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siert zu werden. Haarfarben und ihre Stereotypen werden somit eingebunden in einen Prozess der Identitätsbildung aus der Dichotomie des Eigenen und Anderen beziehungsweise des davon abgeleiteten ›Normalen‹ und ›Unnormalen‹. Die sichtbaren Unterschiede haben bereits die antike Medizin zu Erklärungen und Deutungen herausgefordert.5 Wissenschaftliche Arbeit bestand dabei unter anderem aus der Herstellung von Analogien, was für die Haarfarben konkret bedeutete, dass sie in Ähnlichkeitsverhältnisse gesetzt und damit zugleich auch inhaltlich codiert wurden. Privilegierte Bereiche der Analogiebildung waren Kosmos, Elemente, Flora und Fauna. Blond konnte demnach kosmisch als Farbe des Lichts und der Planeten oder pflanzlich mit Getreide assoziiert werden, rot hingegen zoologisch mit dem Fell des Fuchses. Mit der Analogiebildung stand ein Reservoir an potenziellen Codierungen bereit, die sich in einem weiteren Schritt zu konkreten Stereotypen ausdifferenzieren konnten. Dabei traten meist weitere Faktoren hinzu, um einzelne Anlagen dieses Reservoirs zu isolieren, wie etwa religiöse oder wissenschaftliche Paradigmen. Auf die Stereotypisierung von blond wirkten sich religiöse Paradigmen aus, die kosmische Erscheinungen als Zeichen göttlicher Wesen deuteten. Alle von der Erde aus mit bloßem Auge beobachtbaren kosmischen Phänomene sind an Licht gebunden, wobei Sonne und Mond darunter eine besondere Stellung einnehmen. Einer These der Astralmythologie nach sind mythologische Erzählungen unter anderem dadurch entstanden, dass Himmelskörper und deren Bewegungen anthropomorphisiert und in einen narrativen Zusammenhang gebracht wurden. Die morphologische Ähnlichkeit von Sonne und Mond mit dem menschlichen Kopf und im Falle des Mondes außerdem mit dem Gesicht suggerierte die Erfindung solarer und lunarer Figuren, deren Haare dementsprechend mit den Lichtstrahlen assoziiert werden konnten.6 Unter den Haarfarben kommt hierfür farbanalogisch nur blondes Haar in Frage, das damit zum Attribut göttlicher Figuren werden konnte, auch wenn damit nicht eigentlich blond gemeint war. Die Mehrheit der antiken Götter wurde traditionell mit blonden beziehungsweise goldfarbenen Haaren dargestellt, darunter die für die europäische Kulturgeschichte so wichtigen Apoll, Merkur oder Aphrodite. Einige ihrer Merkmale wurden anschließend in der christlichen Farbsymbolik fortgesetzt, hier aber unter anderem mit Reinheit oder Jungfräulichkeit verbunden (vgl. Junkerjürgen 2009: 35-40). Für die Darstellung der Frauenfiguren bedeutet dies, dass die blonde Frau als Idealgestalt vor allem Reinheit, Keuschheit und Moral repräsentierte und immer wieder in Kontrast zur Brünetten gestellt wurde, die als Realgestalt Sinnlichkeit verkörperte. Im 19. Jahrhundert zeigt sich dann, wie das christlich geprägte ideale Frauenbild durch Emanzipationsbewegungen zunehmend in Frage gestellt wurde. Die blonde Frau konnte dabei zum Sinnbild der untergeordneten, unselbständigen 5 | Vgl. stellvertretend Galen ([1891] 1967). 6 | Vgl. zusammenfassend dazu Siecke (1921).
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und auf ihre häusliche und ihre Mutterrolle beschränkten Frau werden. In Gehorsamkeit und Unselbständigkeit war die Zuschreibung von Dummheit zwar bereits angelegt, reichte jedoch nicht aus, um ein neues mächtiges Stereotyp zu schaffen. Es traten weitere Faktoren hinzu, die als eigentliche Auslöser des rezenten Stereotyps der ›dumb blonde‹ angesehen werden können: die Entwicklung neuer Blondierungstechniken und die Entstehung des Massenmediums Film.
»N ot
very bright«: die E tablierung der › dumb blonde ‹ durch P rototypen aus H ollywood 1867 wird das erste Wasserstoffperoxyd hergestellt, 1883 der erste synthetische Farbstoff (vgl. Benito Calleja 1990: 52), zwei technische Erneuerungen, mit denen das Haar weitaus effizienter ausgeblichen, das heißt blondiert werden konnte als vorher. Damit waren die Voraussetzungen zur Entstehung einer Haarfärbeindustrie geschaffen, die sich – und das ist der entscheidende historische Konnex – parallel zur Filmindustrie entwickelte, in der mit Mae West (1893-1980) oder der ›blonde bombshell‹ Jean Harlow (1911-1937) schon bald ein hellblonder Startypus an Geltung gewann. Harlows aufreizende Rollen und ihr humorvoller Umgang mit sexuellen Anspielungen verschmolzen mit dem Markenzeichen ihrer platinblonden Haare, die ihre Filme ab 1929 prägen, und ließen sie in wenigen Jahren zu einem Superstar werden. Das künstliche und im Schwarzweißfilm fast weiß wirkende Blond wurde zum Emblem sexueller Provokation, wohingegen Dummheit noch kein distinktives Merkmal ihrer screen persona war, die sich wie beispielsweise in Platinum Blonde (1931) vielmehr durch Schlagfertigkeit auszeichnete. Wie stark die Haarfarben im Film bereits stereotypisiert waren, lässt sich daran erkennen, dass Harlow zu braun wechselte, als die katholische Legion of Decency Einfluss in Hollywood gewann und die Filmindustrie bewegte, den bereits existierenden Motion Picture Production Code durchzusetzen, der solch anzügliche Rollen zensierte. Ab Mitte der 1930er Jahre verkörperte Harlow moralisch konforme Figuren und trug dazu braunes Haar. Die Verbindung aus Sex und (vermeintlicher) Dummheit sollte erst zwanzig Jahr später zum Markenzeichen der Rollen Marylin Monroes (1926-1962) werden. In Gentlemen Prefer Blondes (1953) oder Some Like It Hot (1959) spielte sie mittellose, nicht sehr intelligente Sängerinnen, die sich gerne reich verheiraten möchten und dabei ihre erotische Ausstrahlung in die Waagschale werfen, Frauenfiguren ohne jeden intellektuellen Ehrgeiz, die zwar durch erotische Verführungskraft reüssieren wollen, aber auch selbst immer wieder schwach werden. Als Sängerin Sugar ist Monroe in Some Like It Hot auf der Flucht vor Männern, gerade weil sie ihnen nicht widerstehen kann. »Not very bright« sei sie und tippt sich dabei an die Schläfe, Saxofonisten hätten es ihr angetan, erklärt sie weiter und lässt dabei entlarvende phallische Symbole wie den Zeppelin oder den Lollipop in ihre Rede einfließen, mit denen nicht nur ihr sexueller Appetit charakterisiert wird,
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sondern auch die Zensur der sittenstrengen 1950er Jahre geschickt umgangen wird. Monroe gelang dabei laut ihrer Biografin Ruth-Ester Geiger eine spezifische doppeldeutige Codierung von Erotik: Damit der Sex, trotz seiner Ächtung im Amerika dieser Ära, offiziell tragbar war und sogar vermarktet werden konnte, mußte er in die extremste äußere und gleichzeitig die naivste, ungefährlichste Form getrieben werden. Marilyn als neues Frauenbild einer sauberen, unschuldigen Sexbombe, die eigentlich Liebe sucht, war somit konform und rebellisch zugleich. (1995: 128)
Naive Unschuld und sexuelle Provokation zu amalgamieren – darin läge somit der Kern der Kunstfigur ›dumb blonde‹. Es geht also im Grunde nicht um mangelnde Intelligenz, sondern um eine Form erotischer Inszenierung, in der Erotik nicht durch die bedrohliche weibliche Lust der femme fatale die Männerblicke herausfordert, sondern durch Naivität gezähmt wird, aber immer noch aufreizend bleibt. Diese Komik geht zum Teil so weit, dass Monroe ihre Rolle als dumme Blondine selbst ironisiert und als Klischee für Männer durchschaubar macht. So wird die Figur Lorelei Lee aus Gentlemen Prefer Blondes in einem Dialog, den Monroe selbst geschrieben haben soll, von einem älteren Herrn gefragt, ob sie dumm sei. Worauf Lorelei antwortet, dass sie durchaus schlau sein könne, dass dies die meisten Männer aber nicht mögen. Mit Marilyn Monroe oder ihren heute kaum noch bekannten Epigoninnen wie Jane Mansfield (1933-1967) etablierte sich der Prototypus der ›dumb blonde‹, die neben der artifiziellen Haarfarbe einen großen Busen hatte und mit ihrem Mangel an Intelligenz und Bildung kokettierte. Mansfield fügte dem noch einen Code an Farben und Accessoires in Form ihres Schoßhündchens und der Inszenierung der Farbe Rosa in ihrem ›Pink Palace‹ am Sunset Boulevard hinzu, die einen bis heute wiedererkennbaren ›dumb blonde‹-Stil geprägt haben. Die Popularität der ›dumb blonde‹ war zwar allein dadurch auf lange Zeit garantiert, dass Marilyn Monroe sich vom Superstar zu einer der Filmikonen des 20. Jahrhunderts entwickeln sollte, trat aber zunächst nur in Konkurrenz zum etablierten Typus der idealisierten Blondine, der etwa in den Filmen Alfred Hitchcocks in den Rollen von Grace Kelly oder besonders eindrucksvoll in Vertigo (1958) fortgeführt wurde, wo die platinblonde Madeleine (Kim Novak) die Liebessehnsüchte Scotties (James Stewart) deutlich stärker erregt als ihr ›gewöhnliches‹ braunhaariges Alter Ego Judy. Die Expansion des ›dumb blonde‹-Typus traf hier auf ein Hindernis und war also keineswegs selbstverständlich. Es bedurfte einer weiteren Expansion, die zunächst von einer Veränderung in der Praxis der Haarfärbung vorangetrieben wurde. Hatte man sich bis in die 1960er Jahre die Haare ausschließlich beim Friseur gefärbt, so verlagerte sich dies aufgrund von neuen Produkten zunehmend in den Privathaushalt (Wella AG 2001). Hier bot sich der Industrie die Möglichkeit, einen enormen Markt zu kreieren, wenn es gelang die Vorurteile zu besiegen,
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mit der Haarfärbung zu kämpfen hatte. Seit den Kirchenvätern galt Haarfärbung im Speziellen (sowie die Kosmetik im Allgemeinen) als moralisch verwerfliche Praxis wider den Willen Gottes, denn kein Mensch sei laut Matthäus (5,36) in der Lage, auch nur ein Haar weiß oder schwarz zu machen (vgl. Junkerjürgen 2010: 72-76). Auch die Sexualisierung des Hollywood-Blond war vor diesem Hintergrund eher dazu geeignet, Haarfärbung in weiteren moralischen Verruf zu bringen und damit mögliche Käuferinnen abzuschrecken. Über suggestive Werbung wurde daher versucht, diese Vorbehalte abzubauen und Haarfärbung zu normalisieren. Die US-amerikanische Firma Clairol unternahm dies nach dem Zweiten Weltkrieg in zahlreichen Werbekampagnen, die in erster Linie auf zwei Strategien hinausliefen, nämlich erstens die Färbung zu verharmlosen und zweitens eine größere Lebensqualität zu versprechen. 1956 bewarb Clairol ein Blondierungsprodukt mit der Frage »Does she or doesn’t she? Only her hairdresser knows« ([1956] 2013) und lockte die Kundinnen mit dem Versprechen, dass das gefärbte gar nicht mehr vom natürlichen Haar unterschieden werde könne. Oder man suggerierte Natürlichkeit, indem man wie im Falle des Mittels ›Summer Blonde‹ die Färbung mit der Aufhellung des Haars durch Sonneneinstrahlung verglich oder ein Produkt gleich ›Naturally Blonde‹ taufte und es mit Vokabeln wie »honest« und »unfaked« bewarb.7 In den 1960ern wurde verstärkt die angeblich höhere Lebensqualität blonder Frauen hervorgehoben, die in dem Werbespruch »Is it true that blondes have more fun?« berühmt wurde (vgl. Junkerjürgen 2011: 6). Die Zielgruppe besteht nun deutlicher aus jungen Frauen, denen die Werbung suggeriert, über die Blondierung so verführerisch zu werden, dass Männer ihnen alle Wünsche erfüllen. Das damit verbundene Diktat der Schönheit musste dem Feminismus ein Dorn im Auge sein und die angepassten Blondinen als ein Konstrukt des Patriarchats erscheinen lassen. Das Haar war seit der Antike ein mitunter fetischisiertes Element der Frauenschönheit, gegen das sich die Feministinnen mit alternativen Haartrachten zu Wehr setzten. In Marguerite Duras Roman L’amant (1984), der sich um die sexuelle Selbstbestimmung der weiblichen Hauptfigur dreht, schneidet sich die Erzählerin ihre schönen tizianroten Haare im Alter von 23 Jahren einfach ab, um die Aufmerksamkeit der Umwelt auf ihren Blick und ihr Lächeln zu lenken, also von der äußeren auf die ›innere‹ Schönheit zu verlagern (vgl. Duras 1984: 23-24). Parallel dazu wird in feministischer Literatur im 20. Jahrhundert ein Gegentypus zur Blondine aufgebaut, der sich unter anderem durch dunkles Haar auszeichnet (vgl. Truxa 1981).
7 | So heißt es in einem Fernsehwerbespot von 1970: »Sorry, but Clairol can’t promise all your dreams will come true when you use ›Naturally Blonde‹. What we promise is natural color that goes with the way you really live, honest, unfaked color that even covers grey« (Clairol [1970] 2007).
›Dumb Blonde‹
Folgt man dieser Argumentation, dann hätte sich das Stereotyp der ›dumb blonde‹ aus einem Zusammenspiel folgender Faktoren im Laufe des 20. Jahrhunderts etabliert, und zwar durch • •
• •
die Entwicklung neuer Blondierungstechniken und deren langsame Industrialisierung, einen provokativen Blondinentypus im Film der 1930er Jahre (Mae West, Jean Harlow), der in den 1950ern durch den Prototyp Marilyn Monroe erweitert und auf das Attribut ›dumm‹ festgelegt wurde, die Übernahme dieses Typus in die Werbekampagnen der Firma Clairol (»Blondes have more fun«) im Zuge einer Privatisierung der Haarfärbung, einen Diskurs gegen Haarfärbung, der einerseits traditionell christlich geprägt war, jetzt aber auch vom Feminismus geführt werden konnte und Kosmetik allgemein als Unterwerfung unter das Diktat der Schönheit ablehnte.
Diese allgemeinen Faktoren beziehen sich vor allem auf die Entwicklungen in den USA und sind daher für andere Länder noch zu präzisieren. In Deutschland etwa hat sich das populäre Stereotyp über die Blondinenwitze erst in den 1990er Jahren endgültig etabliert und tritt spätestens ab diesem Zeitpunkt laut der obigen Periodisierung in die Phase der Produktivität.
P roduktion
von
V arianten
Die bis heute anhaltende produktive Phase des Stereotyps ›dumb blonde‹ äußert sich in einer Reihe von zum Teil parallel verlaufenden Entwicklungen im Spannungsfeld von Kontinuität und Variation, die im Folgenden anhand von Beispielen vorgestellt werden sollen.
Kontinuität und Steigerung: radikale Künstlichkeit, radikale Dummheit Die Sex-Ikone Pamela Anderson (*1967) führt das Stereotyp in den 1990er Jahren grundsätzlich fort, steigert es aber insofern, als sie durch Brustimplantate ihre Künstlichkeit betont. Bekannt wurde sie durch den Playboy, der sie bis 2016 dreizehn Mal auf der Titelseite ablichtete, sowie durch die Serie Baywatch (1992-1997) und den Spielfilm Barb Wire (1996), durch die sie als Sexsymbol mit chirurgisch vergrößerter Oberweite weltweit ikonisiert wurde. Aufgrund ihrer Schönheitsoperationen repräsentierte Pamela Anderson noch radikaler als die früheren blonden Filmikonen das Stereotyp des sexuell verfügbaren schönen Hohlkörpers, und daher ist es konsequent, dass ihre Karriere vorübergehend beendet war, als sie sich 1999 die Brustimplantate aus persönlichen Gründen wieder entfernen ließ (vgl. Schelbert 1999: 20). Nach dem internationalen Erfolg der Komödie Legally
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Blonde (2001) mit Reese Witherspoon schlüpfte auch Pamela Anderson in Blonde and Blonder (2007) noch einmal in die Rolle der ›dumb blonde‹, wenn auch mit deutlich weniger Erfolg. Beide Filme reizen die gesamte Palette des ›dumb blonde‹-Stils mit ironischen Brechungen restlos aus, wobei das Schoßhündchen aus Legally Blonde in Blonde and Blonder zu einer Schildkröte mit – horribile dictu – Blähungen mutiert. Kontinuität bedeutet jedoch nicht nur, Formate wie Film oder Fernsehserie fortzuführen, sondern darüber hinaus noch in andere Medien zu expandieren. 2005 übersetzte das französische Duo Gaby & Dzack die Blondinenwitze mit Les blondes in das Comicformat und war damit so erfolgreich, dass bis heute 23 Bände in der Haupt- und ein weiteres Dutzend in der Nebenreihe erschienen sind. Die Comics visualisieren letztlich nur das bis dato orale Repertoire der Blondinenwitze und setzen sich dementsprechend aus Einzelsketchen zusammen, die nicht über eine Seite hinausreichen. 8 Anhand der prägnanten Darstellungen des Comics soll ein Blick darauf geworfen werden, was dort eigentlich unter der Dummheit der Blondine zu verstehen ist, die am Beispiel der Frontblondine Vanessa und in Sketchen aus ihrem privaten und beruflichen Umfeld vorgeführt wird. Visuell und stilistisch erfüllt Vanessa den Code in jeder Hinsicht, variiert lediglich das Tierattribut in Form ihres Goldfisches Bouba. Die Überzeichnungen des Comics entwickeln auch einen eindeutigen visuellen Code für Dummheit, und zwar physiognomisch – flache Stirn, große Augen, überdimensionale Kinnpartie – und pathognomisch – ihr stets offen stehender Mund. Neben der Physiognomie erscheint Vanessa als dumm, weil sie regelmäßig gegen konventionelle Vorstellungen von Intelligenz verstößt: Sie ist unfähig, Situationen zu kontextualisieren, indem sie sprachliche Bilder und Wendungen wörtlich nimmt9 oder weil sie Alltagsgeräte wie Fax, Handy, Auto oder Computer nicht richtig bedienen kann,10 es ihr an Allgemeinbildung mangelt 11 oder sie physikalische Zusammenhänge nicht begreift 12 . Verbunden ist dies mit der üblichen Sexualisierung, denn Vanessa ist üppig, meistens leicht bekleidet und stets Objekt der männlichen Blicke.13 Im Vergleich zu den Hollywoodfilmen Monroes füllt die Blondinen-Dummheit in den Comics einen weitaus größeren Raum aus und hat sich zum zentralen Merkmal entwickelt. Damit ist das Stereotyp zwar medial weiter expandiert, hat sich in Witz und Comic jedoch nur einseitig weiterentwickelt. Wie sehr dies forciert wurde, lässt sich daran erkennen, dass längst bekannte Witzmotive – wie 8 | Im Anschluss daran wurde auch eine Zeichentrickversion produziert, die allein auf Youtube über 5 Mio. Zus chauer erreicht hat (vgl. Bonnin 2007a, 2007b). 9 | Vgl. Bd. 8: 13, 18, 22, 34; Bd. 11: 3, 4, 9, 10, 19. 10 | Vgl. Bd. 4: 6, 13, 23; Bd. 8: 3, 14, 23; Bd. 11: 5, 7, 30. 11 | Vgl. Bd. 4: 9b, 24. 12 | Vgl. Bd. 4: 11, 14, 16; Bd. 8: 4, 8; Bd. 11: 20, 22. 13 | Vgl. Bd. 3: 38; Bd. 4: 9; Bd. 8: 13.
›Dumb Blonde‹
man sie in Deutschland z.B. aus den Ostfriesenwitzen kennt – einfach auf die Blondine übertragen wurden. Damit ist das Stereotyp in dieser Hinsicht ausgereizt. Es verwundert also nicht, wenn sich die Entwicklungslinien nach 2000 aufteilen und die medial höchst erfolgreiche ›dumb blonde‹ variiert wird.
»Außen Blondine, innen Einstein« 14 : Ironisierungen und Dekonstruktionen Jene Selbstironie, die schon in den Filmen Monroes angelegt war, gerät in Legally Blonde zum Prinzip, wo die ›dumb blonde‹ in der Hauptfigur Elle Woods (Reese Witherspoon) auf virtuose Weise dekonstruiert wird. Denn das blonde, vermeintlich sexuell freizügige Dummchen im rosa Kostüm ist zugleich eine hochintelligente junge Frau, die ihr Jurastudium in Harvard mit Bravour absolviert. Die künstlerische Leistung des Films besteht darin, dass die Figur an diesen inneren Spannungen nicht zerbricht: naiv und intelligent zugleich, fröhlich extrovertiert und doch kalkuliert und strategisch, wenn sie herausgefordert wird. Brillant wird dies in einer Sequenz auf den Punkt gebracht, als Elle sich ein neues Kleid kaufen will, weil sie meint, dass ihr Freund beim auswärtigen Dinner ihr einen Heiratsantrag machen wird. Eine brünette Verkäuferin mit Kurzhaarschnitt versucht der vor Glück quiekenden Elle ein älteres heruntergesetztes Modell zu überhöhtem Preis anzubieten. Geistesgegenwärtig durchschaut Elle sofort dieses Manöver und stellt die Verkäuferin mit ihrer erstaunlichen Sachkenntnis in Mode bloß. Äußerlich entspricht Elle vollkommen dem ›dumb blonde‹-Stil, wobei auffällt, dass man einen sonnigen Blondton gewählt hat, der deutlich natürlicher und wärmer wirkt als das artifizielle Blond der frühen Prototypen. Doch der Schein trügt, denn anders als Vanessa beherrscht Elle ihre Umwelt durch herausragende Intelligenz und Empathie. War die konventionelle ›dumb blonde‹ emotional völlig extrovertiert, so wird dies im Falle von Elle Woods als Ausdruck emotionaler Intelligenz uminterpretiert. Eine ähnliche Strategie steckt auch hinter dem Image einer der bekanntesten deutschen Promi-Blondinen, Daniela Katzenberger, die sich über die ständige Thematisierung ihrer kosmetischen und chirurgischen Veränderungen zwar als radikal künstlich inszeniert, aber zugleich »ein Punk im Barbiekostüm« (Katzenberger 2011: 198) sein soll und damit ähnlich wie Elle Woods eine falsche falsche Blondine verkörpert. Hinter der Marke Katzenberger stecken die Leipziger Manager Sven Kaesling, Susanne Beck und Bernd Schumacher, die sie systematisch nach dem Prinzip »Mensch, ein Projekt, eine Marke« (Katzenberger 2011: 200) aufgebaut haben. Daniela Katzenberger wurde im Februar 2009 als Auswanderin der VOX-Serie Auf und davon: Mein Auslandstagebuch bekannt, als sie an der Tür des Playboy-Gründers Hefner klingelte, um eine Bewerbung abzugeben. In kurzer Zeit 14 | Katzenberger (2011: 17).
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wurde sie als Starlet des Senders lanciert und stand im Zentrum der Doku-Soap Daniela Katzenberger: Natürlich blond (2010-2013), die sich um ihr Leben als Promi drehte und scheinbar authentische Einblicke in den Alltag hinter den Kulissen schenkte. In ihrer Autobiografie Sei schlau, stell dich dumm (2011), um die es im Folgenden gehen soll, richtet sie sich als Ratgeberin an junge Leserinnen, die vom Erfolg träumen und sich die ›Katze‹ zum Vorbild nehmen. Insgesamt liegt die Strategie der Kunstfigur Katzenberger darin zu suggerieren, wie man scheinbar ohne besondere Fähigkeiten oder Talente »einfach dadurch berühmt wird, dass man in den Medien existiert« (Gäbler 2012: 4). Die Marke Katzenberger setzt sich ähnlich wie die Figur Elle Woods aus Spannungspolen zusammen, die im Falle des deutschen Promis jedoch deutlich stärker sind und widersprüchliche Züge annehmen. Das zentrale Paradoxon darunter ist das mit der postmodernen Philosophie vereinbare Postulat, gerade durch Künstlichkeit authentisch zu werden: »Ich bin künstlich, aber dafür verstelle ich mich nicht« (Katzenberger 2011: 50). Kosmetik wird damit zum Schlüsselkonzept des Erfolgs (ebd. 89), denn Daniela Katzenberger färbt sich seit dem 14. Lebensjahr die Haare. Mit großer Offenheit legt sie ihre Überzeugungen dar, stellt ihr Aussehen als ihr Kapital hin und bekennt: »Meine Titten waren der Schlüssel zu meiner ersten 20.15-Uhr-Sendung« (ebd. 80). Die Brustimplantate erscheinen daher als »eine meiner besten Entscheidungen seit Jahren. Wenn nicht sogar die beste überhaupt« (ebd. 82). Die behauptete Punk-Attitüde Katzenbergers liegt allenfalls darin, dass sie die Mechanismen des Fernseherfolgs unverblümt thematisiert und damit die Verantwortlichen entlarvt und zugleich den Zuschauer vor dem Bildschirm zu ihrem Komplizen macht. Skepsis ist zwecklos, denn der Erfolg beweist, dass genügend Personen von Katzenberger unterhalten werden, und Polarisierung schafft nur weiteren Gesprächsstoff. Ebenso unverfroren ist sie, wenn sie sich die Deutungsmacht herausnimmt und die ›dumb blonde‹ einfach uminterpretiert. Obwohl die historischen Kontexte eindeutig erkennen lassen, dass die ›dumme Blondine‹ immer eine ›falsche Blondine‹ gewesen ist, behauptet sie: »Nicht vergessen, ich bin ja von Natur aus gar nicht blond, also auch nicht blöd« (Katzenberger 2011: 89). Ihre angebliche natürliche Intelligenz degradiert dementsprechend die konventionellen Bildungswege, sodass Frau Katzenberger damit kokettieren kann, in der 8. Klasse sitzen geblieben zu sein. Bildung spiele keine Rolle, wenn man die Regeln des Lebens durchschaut habe und wisse: »Was man nicht im Kopf hat, muss man im Körbchen haben« (ebd. 26). Gäbler hält diesen Selbstbehauptungswillen und die Bauernschläue für den »raffinierteste[n] Trick des Katzenberger-Erfinders« (2012: 86). Paradox ist weiterhin das sexuelle Image, das sie verkörpert, weil es sich aus einer verstörenden Mischung aus Exhibitionismus und Prüderie zusammensetzt. Zwar posiert sie freizügig – »Gucken darf bei mir jeder, soviel er lustig ist« – aber dies gilt nur der Animation, denn » […] anfassen? Da gibt es sofort eins auf die
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Finger« (Katzenberger 2011: 68). Zugleich gibt sich die extrovertierte Sexbombe romantisch und behauptet: »Ich bin kein Girl für eine Nacht – ich bin eine fürs ganze Leben« (ebd. 89). Diese Form ›bewusster Blondheit‹, die ihre Künstlichkeit ständig thematisiert und zur wichtigsten Strategie ihres Erfolgs deklariert, wird auch in Publikationen zur Selbstoptimierung empfohlen, die einen seriöseren Ton anschlagen, darunter etwa Baustelle Body (2009) von Sonya Kraus und Neuland (2016) von Ildikó von Kürthy. Die Blondierung ist hier ein Teil umfassender Ratschläge zur Erhöhung der Attraktivität und damit der Erfolgs- und Lebenschancen. Von Kürthy entscheidet sich für eine bewusste Blondierung im Rahmen eines Selbst-Experiments, das ihr über die Midlife-Crisis hinweghelfen soll und in Neuland in Tagebuchform beschrieben wird. Auch hier ist das blonde Haar zwar nur ein Aspekt eines einjährigen Programms zur Steigerung des Lebensglücks und der weiblichen Selbstachtung, aber zugleich der illustrativste, weil die brünette von Kürthy auf dem Cover bewusst in Kontrast mit der blondierten Version des Innenklappenbildes gesetzt wird. Die Blondierung wird dementsprechend auch als Krönung der ansonsten in ermüdender Ausführlichkeit beschriebenen Selbstoptimierung dargestellt und entspricht dabei dem Wunsch, »ein Klischee zu sein« (Kürthy 2016: 83), also um die spezifische Lebenserfahrung der Blondine auszuprobieren – ein Hinweis darauf, wie tief die medialen Vorbilder seit den frühen ›Hollywood blondes‹ in das kollektive Bewusstsein eingedrungen sind. Der kinematographische Kontext der Blondierung ist zudem noch explizit gegeben, weil von Kürthy zu einer Filmpreisverleihung eingeladen wurde und sich auf dem roten Teppich in einen Filmstar verwandeln möchte. Aber auch im Alltag erzielt die Blondierung ihre Wirkung, weil von Kürthy nun endlich auf der Straße beachtet wird. Blond zu sein, so spitzt sie zu, sei »wie oben ohne zu gehen« (ebd. 276). Allerdings ist der Spuk schon nach 35 Tagen wieder vorbei, denn die Autorin hat verstanden, dass Blondsein eine Lebensaufgabe sei und sie innerlich doch eine Brünette bleibe (vgl. ebd. 304, 313). Diese Beispiele ließen sich mühelos erweitern und zeigen, dass das Stereotyp ›dumb blonde‹ immer noch produktiv ist und sich weiter ausdifferenziert und daher noch nicht in die Phase des Repertoires getreten ist.
S chlussfolgerungen : D ie › dumb › differenzierter ‹ M isogynie
blonde ‹ als
F orm
Bei dem Versuch, Entstehung und Entwicklung des Stereotyps kulturhistorisch herzuleiten, wurde eine ethische Perspektive bisher bewusst ausgespart. Es ist jedoch offensichtlich, dass es sich bei der ›dumb blonde‹ um ein misogynes Stereotyp handelt, das sich in die feministische Kritik an der Gegenwartskultur als hypersexualisierter Kultur, in der Frauen ausschließlich nach sexueller Attrakti-
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vität bewertet würden (Walter 2011: 53, 84), mühelos einfügen lässt. Das Spezifische der ›dumb blonde‹ liegt allerdings in dem Konnex von sexueller Attraktivität beziehungsweise Verfügbarkeit mit Mangel an Intelligenz, in dem nicht nur eine Frauen- sondern offenbar auch eine Sexualitätsfeindlichkeit zum Ausdruck kommt. Die Entstehung dieses Korrelats ist meiner Kenntnis nach bisher nicht gründlich erforscht worden, so dass die folgenden abschließenden Überlegungen nur thesenhaften Charakter haben können. Generell lässt sich vermuten, dass es sich bei dieser Verbindung um ein modernes Phänomen handeln muss, weil Intelligenz als soziales Distinktionsmerkmal eine Gesellschaft voraussetzt, in der Bildung eine distinktive und kompetitive Funktion hat. Zwar sind Intelligenz und Bildung nicht gleichzusetzen, aber die ›dumb blonde‹ repräsentiert eindeutig auch einen Mangel an Wissen, Ernst und Professionalität. Bei der Entstehung eines allgemeinen Bildungsideals im Gegensatz zu einem ›rohen‹, das heißt unzivilisierten Zustand des Menschen, hat das 18. Jahrhundert für Europa eine zentrale Rolle gespielt. Voltaires philosophische Erzählung L’ingénu (1767) beispielsweise führt prototypisch den Bildungsweg eines bon sauvage vor, dessen (auch sexuelle) Schamlosigkeit durch Erziehung und Studium nach und nach einem sittlichen Verhaltenskodex weicht. Führte Bildung damit zwar grundsätzlich aus einem als animalisch hingestellten Rohzustand heraus, der auch die Sexualität betraf, so formulierte Rousseau zeitgleich die Gegenthese, dass Zivilisation (und damit auch Bildung) zu einer Entfremdung führen. Besonders virulent wurden die anthropologischen Implikationen dieser Thesen durch das sog. zweite Zeitalter der Entdeckungen, das in den 1760er Jahren begann und im Gegensatz zu den Reisen am Beginn der Neuzeit stärker wissenschaftlich ausgerichtet war. Denn nun kam ein ethnischer Pluralismus der Weltgesellschaft ans Licht, der von den europäischen Forschern gedeutet werden musste, wobei sie sich auf selbstverständliche Weise als höher zivilisiert ansahen. In sexueller Hinsicht konnte diese Annahme allerdings zu einem ambivalenten Ergebnis führen, denn laut Annahmen der philosophes vermögen Zivilisation und Bildung Sexualität zwar zu kanalisieren, aber eben auch zu korrumpieren. So verfestigte sich die Vorstellung eines dynamischen Wechselverhältnisses, in dem ein Weniger an Zivilisation einem Mehr an Sexualität entsprach und umgekehrt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese These in Frankreich in Form von Dekadenztheorien im Zuge der Depression nach 1870/71 fortgesetzt und auf die Spitze getrieben: Denn der Protagonist Des Esseintes aus dem paradigmatischen Roman A rebours (1884) von Joris-Karl Huysmans ist bereits so zivilisiertdekadent und von jeder Natur entfremdet, dass er darüber impotent wird und dies auch noch zelebriert. Aber auch das Sexualleben von normalen Bürgern scheint problematisch geworden zu sein und gerät in einen Gegensatz zur Hemmungslosigkeit des ›ungebildeten‹ Proletariats. In Maupassants Erzählung La serre (1883) verabreden sich die Bediensteten zum Schäferstündchen im Gewächshaus und inspirieren damit die bürgerlichen Herrschaften derart, dass deren erotisch eingeschlafene Ehe neuen Schwung erhält. Zola wiederum
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entwirft in dem Roman Germinal (1885) geradezu eine Sexualsoziologie auf dem Gegensatz von Arbeitern und Bourgeoisie. Zwar kommen die Arbeiter aus ihrem Elend nicht heraus, weil sie ihre Lust nicht kontrollieren können und ständig Nachwuchs haben, werden zugleich aber von ihren Chefs beneidet, weil sie ihre Sexualität unbeschwert – also natürlich – ausleben können.15 Auch wenn diese Theorie eigentlich genderneutral war, musste sie sich auf die Geschlechter doch unterschiedlich auswirken, weil man den Naturzustand von männlicher und weiblicher Sexualität seit je her differenziert hatte. Im 19. Jahrhundert sollte die christliche Auffassung vom Tota mulier sexus in der Wissenschaftsentwicklung neuen Auftrieb erhalten. Die Frau galt dem Mann dabei als physisch und intellektuell unterlegen, weil ihr Lebensziel einzig in der Fortpflanzung zu suchen war. Der Uterus wurde zum zentralen Organ der Frau erklärt, weil er angeblich Geist und Charakter der Frau determinierte. Radikal formulierte dies unter anderen der Wiener Otto Weininger in seiner Dissertation Geschlecht und Charakter (1903), in der er sexuelle Idealtypen beschreibt und den idealen Mann als Prinzip ›M‹ dem idealen ›Weib‹ als Prinzip ›W‹ gegenüberstellt (1905: 9). Beide unterscheiden sich typologisch vor allem im Sexualverhalten: Der Zustand der sexuellen Erregtheit bedeutet für die Frau nur die höchste Steigerung ihres Gesamtdaseins. Dieses ist immer und durchaus sexuell. W geht im Geschlechtsleben, in der Sphäre der Begattung und Fortpflanzung, d. i. im Verhältnisse zum Manne und zum Kinde, vollständig auf. (Ebd. 112)
Dies wirkt sich auf die intellektuellen Möglichkeiten aus, denn laut Weininger eignet sich ›M‹ noch für weitere Beschäftigungen, darunter Spiel, Politik oder Wissenschaft, in denen ›W‹ hingegen überhaupt keine Leistungen erbringen kann: »W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch etwas darüber« (ebd. 113). Dass solche Thesen spätestens Ende des 20. Jahrhunderts völlig diskreditiert wurden, braucht man nicht weiter zu belegen, umso erstaunlicher ist es daher, dass sie in Form einer ›differenzierten‹ Misogynie im Stereotyp der ›dumb blonde‹ fortleben. Kaum hatte der Feminismus in den 1980er Jahren in Deutschland wirklich Fuß gefasst, triumphierten in den 1990er Jahren frauenfeindliche Blondinenwitze. Ihr Erfolg dürfte gerade in der Differenzierung ›Blondine‹ gelegen haben, weil sie auf paradoxe Weise sowohl dem misogynen als auch dem feministischen Diskurs zu gefallen und damit offenbar die Zensur des politisch Korrekten zu passieren vermochte. Denn über Blondinenwitze können sowohl der 15 | So heißt es aus der Sicht des bürgerlichen Ingenieurs Hennebeau: »Et ces imbéciles [=les ouvriers] se plaignaient de la vie, lorsqu’ils avaient, à pleines ventrées, cet unique bonheur de s’aimer ! Volontiers, il [=Hennebeau] aurait crevé de faim comme eux, s’il avait pu recommencer l’existence avec une femme qui se serait donnée à lui sur les cailloux, de tous ses reins et de tout son cœur. Son malheur était sans consolation, il enviait ces misérables« (Zola 1978: 337).
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Macho als auch die Feministin lachen, er, weil er seine männliche Überlegenheit feiern darf, sie, weil ein Frauentypus bloßgestellt wird, der sich dem patriarchalischen Schönheitsdiktat unterwirft.
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Populärkultur als Verhandlungsort Geschichts- und Gesellschaftsentwürfe im amerikanischen Westernfilm Brigitte Georgi-Findlay Im amerikanischen Western zeigt sich beispielhaft die tragende Rolle von Populärkultur in Prozessen der Stiftung, Bestätigung und Hinterfragung nationaler Identität. Im Kontext der amerikanischen Kultur kann ihm eine ideologische Funktion als Teil einer Gründungserzählung zugesprochen werden, die seit der Kolonialzeit über frontier-Narrative in der amerikanischen Literatur und Populärkultur (in Groschenromanen und Wildwest-Shows, Film- und Fernseh-Western) fortgeschrieben wurde (vgl. Slotkin 1992: 1-228, Carter 2014: 6-15). In ihren klassischen Ausformungen (ca. 1939-1962) thematisieren Westernfilme die Herausbildung einer Gemeinschaft sowie einer modernen sozialen Ordnung und inszenieren eine Welt im Übergang, in einer Zeit vor der Etablierung und Sicherung des Rechtsstaates. Dies geschieht meist vor der räumlichen und zeitlichen Kulisse eines noch kaum (von Weißen) besiedelten Westens, nach dem amerikanischen Bürgerkrieg und vor dem Übergang zur modernen Industriegesellschaft. Der vorindustrielle Westen dient dabei als Kulisse für die Inszenierung von Ursprüngen, Brüchen, Übergangsprozessen und Neuanfängen. Der Western eröffnet damit, wie Nina Rehfeld im Hinblick auf die Fernsehserie Deadwood bemerkt hat, einen »Blick auf die Kinderstube Amerikas« (2005: 47). In vielen Westernfilmen werden diese Gründungs- und Übergangsprozesse in Form von Konflikten und Widersprüchen inszeniert. So werden z.B. Gegensätze zwischen ›Natur‹ und ›Zivilisation‹ mit Hilfe der Gegenüberstellung von Räumen (Landschaft und Stadt, Wildnis und Heim) verhandelt, die symbolisch aufgeladen sind. In John Fords The Searchers (Der Schwarze Falke, 1956) wird das Problem der Gründung von Gesellschaft aus der ›Wildnis‹ heraus zudem durch den Schnitt von dunklen Innenräumen zu hellen Außenräumen symbolisiert. Diese oft konflikthafte Gegenüberstellung von Natur und Zivilisation, die meist durch das Aufeinanderprallen von Charakteren mit widersprüchlichen Verhaltensmodellen und Wertvorstellungen unterstrichen wird, kann als eine Form der Aushandlung von Widersprüchen gelesen werden – z.B. zwischen individueller
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Freiheit und sozialer Verantwortung, zwischen vorindustriellen und modernen Konzepten von Gesellschaft, Subjektivität und Moral. Western lassen sich damit als spielerische Formen der Aushandlung von Identitäts- und Gesellschaftsentwürfen, und dies zumeist vor dem Hintergrund von Krisen- und Ausnahmesituationen, deuten. Im Folgenden sollen diese Aushandlungsprozesse zunächst anhand von drei Westernfilmen – Stagecoach (Höllenfahrt nach Santa Fe, John Ford, 1939), Shane (Mein großer Freund Shane, George Stevens, 1953) und High Noon (12 Uhr Mittags, Fred Zinnemann, 1952) – exemplarisch skizziert werden. Danach gehe ich auf Weiterschreibungen des Genres seit den 1960er Jahren ein, in denen diese Basisnarrative mit neuen Bedeutungen aufgeladen werden. Zum Schluss beschäftige ich mich kurz mit Neubelebungen des Genres in zwei Fernsehserien der jüngeren Zeit, Deadwood (HBO, 2004-2006) und Hell on Wheels (AMC, 2011-2016). Ich argumentiere hier, dass Western den Fokus nicht so sehr auf die Etablierung von Recht und Ordnung als vielmehr auf Zustände jenseits des Zugriffs des Staates lenken. Im Mittelpunkt stehen dabei die Grundlagen und Probleme der Herausbildung von vormodernen Gemeinschaften sowie die damit verbundene Frage, wie und ob sie überhaupt zu modernen Gesellschaften werden können bzw. müssen. Diese im Western erzählten Geschichten haben offensichtlich sowohl nationale als auch transnationale und universale Aspekte. Sie lassen sich nicht nur als Bezüge zur Ursprungsgeschichte der amerikanischen Nation lesen, sondern auch als Erzählungen von der »Implementierung von Kultur und Gesellschaft generell« (Ahrens 2012: 33-34), weshalb das Genre eine solch große Wirkung über die USA hinaus entfalten konnte.
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Stagecoach (Höllenfahrt nach Santa Fe, 1939) inszeniert eine gefahrvolle Reise von einer frontier-Siedlung zur nächsten, die durch das hier zum ersten Mal als Western-Kulisse dienende Monument Valley führt – ein Raum, der zugleich als gefährliche Wildnis und als erhabene Natur konnotiert wird. Die Menschen, die im abgegrenzten Raum der Kutsche zusammengeworfen werden, sind von unterschiedlicher sozialer und regionaler Herkunft und repräsentieren damit einen sozialen Mikrokosmos voller potentieller Konflikte. Und doch werden diese Konfliktparteien im Verlauf der Reise mit Krisen konfrontiert – ausgelöst durch einen Indianerangriff und die Geburt eines Kindes –, die sie wenigstens vorübergehend zu einer solidarisch bzw. demokratisch agierenden Gemeinschaft zusammenschweißen. Ursprünglich dominante, mit der städtischen Kultur verbundene Hierarchien, Moralvorstellungen und Verhaltenscodes erweisen sich als ineffektiv und werden damit (zumindest kurzfristig) außer Kraft gesetzt. Die Ausgrenzung moralisch nicht-konformer, sozial unterge-
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ordneter Charaktere – des betrunkenen Arztes, der Prostituierten, des straffällig gewordenen Cowboys – kann nicht aufrechterhalten werden, da nur diese über Fähigkeiten verfügen, die das Überleben der Gruppe sichern können. Der junge Ringo Kid (John Wayne), der wie aus dem Nichts in der Landschaft erschienen war, entwickelt im physischen Kampf gegen elementare Naturkräfte und gegen Indianer gewissermaßen ›natürliche‹ Führungsqualitäten und wird nach und nach zum Helden erhöht. Er wird als gesetzloser Außenseiter charakterisiert, der – paradoxer Weise – über ein eigenes Rechtsverständnis und einen eigenen moralischen Kompass verfügt und der als Vermittler zwischen den Konfliktparteien innerhalb der Reisegruppe fungieren kann. Gemeinsam mit den anderen Außenseitern formiert er gewissermaßen eine neue, von der Hochkultur des Ostens unberührte Führungselite, die jenseits staatlicher Autoritäten, kultureller Konventionen und ökonomischer Eigeninteressen agiert. Damit bilden sich – im Hinblick sowohl auf soziale Kompetenzen als auch auf Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwürfe – neue Wertehierarchien heraus (vgl. Erhart 1997). Stagecoach kann damit als klassisches Beispiel für einen Westernfilm dienen, der das Genre als Plattform für die Verhandlung von Gesellschaftsentwürfen nutzt (vgl. Pippin 2010: 3-8). Der Film thematisiert die Frage nach den Grundlagen von Gemeinschaft und sozialer Ordnung, auch im Hinblick auf geschlechterbezogene Rollenmodelle. Dabei fungieren Außenseiter als Sympathieträger. Es wird suggeriert, dass sich eine ideale Gemeinschaft auf der Reise bzw. in einer Krisensituation herausbildet und dass sie jenseits etablierter Autoritäten existieren kann, solange sie sich auf einen (implizit vormodernen) Normenkodex verständigt und das nötige Führungspersonal besitzt, das diesen Kodex durchsetzt. Und doch hat diese ideale Gemeinschaft letztendlich eine begrenzte Halbwertzeit. Sie kehrt am Ende der Reise wieder zu ihrem Ausgangspunkt – zu Konvention und Statusdünkel – zurück und bricht auseinander (vgl. Slotkin 1992: 307-311). Die moderne Nation, so wird impliziert, hat keinen Platz für das Paar Ringo und Dallas, das sich gefunden hat. Weder der Outlaw Ringo noch die Prostituierte Dallas – Außenseiter, die ihr eigenes Wohl zurückgestellt hatten – bekommen hier eine zweite Chance und gehen ins Exil jenseits der Grenze. Damit nutzt John Ford offenbar seinen Western für subtile Seitenhiebe auf die amerikanische Gesellschaft der 1930er Jahre. Die Reisenden in Stagecoach können so als Allegorie eines Amerikas gedeutet werden, das sich in inneren (regionalen, ethnischen, sozialen) Konflikten verzettelt, wo es doch im Angesicht von Krisen (Weltwirtschaftskrise und heraufziehendem Zweiten Weltkrieg) sozialen Zusammenhalt und Gemeinschaftsvisionen benötigt (vgl. Coyne 1997: 19-22). Dieser Western wirft damit nicht nur ein Schlaglicht auf amerikanische Geschichte, sondern geht auch auf die Zeitumstände seiner eigenen Produktion ein – und all dies im Rahmen eines Unterhaltungsformats, das auf Abenteuer und Spannung baut.
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in
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Obwohl High Noon (12 Uhr Mittags, 1952) vor Shane (Mein großer Freund Shane, 1953) erschienen ist, möchte ich die Diskussion des letzteren vorziehen, da er thematisch deutlicher an Stagecoach anschließt. Hier wird die Debatte um die Verfasstheit der idealen Gesellschaft durch einen Konflikt um ›freies‹ Land zugespitzt, der zwischen zwei Gruppen ausgetragen wird. Diese stehen jeweils für ein spezifisches Gesellschaftsmodell. Der tyrannische Viehzüchter Ryker, der ein Vorrecht auf die offene Weide zu haben glaubt (er war zuerst da), bildet mit seinen Männern den Gegenpol zu einer Gruppe von Familien, die Landwirtschaft betreiben und ihre Felder durch Zäune abgrenzen. Es ist unschwer erkennbar, dass die beiden Gruppen jeweils auch für ein Stadium der historischen Entwicklung Amerikas (im Rahmen der Ablösung von Europa) stehen: Während der Rancher und seine gewaltbereiten Männer als Sinnbild für eine vormoderne, feudale, autokratische Gesellschaft gelten können, in der Macht mit Gewalt durchgesetzt wird, stehen die Farmer für ein marktwirtschaftlich organisiertes, auf Familienstrukturen begründetes Gemeinwesen, das gleichzeitig produziert und konsumiert und das Entscheidungen in der (männlichen) Gemeinschaft, auf relativ demokratische Weise und jenseits sozialer und ethnischer Differenzen diskutiert. Damit wird offenbar der durch die amerikanische Revolution eingeleitete Prozess der Abnabelung eines demokratischen Amerikas von einem feudalen Europa inszeniert. Gleichzeitig ist in der Darstellung der Farmerfamilien ein Widerspruch angelegt, der sich nicht lösen wird. Obwohl diese als Sympathieträger des Films gedeutet werden können, stehen sie doch für das Ende einer implizit guten Zeit. Mit ihrer Ankunft beenden sie den pastoralen Zustand des ›offenen‹ Landes und kündigen die moderne Arbeits-, Produktions- und Konsumgesellschaft an. Gleichzeitig erweisen sich die Farmer als zu schwach – weil offenbar durch ihren Familienstatus zu domestiziert –, um sich der Macht des Autokraten und seiner Bande von rauen Gesellen entgegenstellen zu können. Die Diskussion von Gesellschaftsentwürfen geht also auch mit der Aushandlung verschiedener Vorstellungen von Männlichkeit einher. Heirat und Familie, so wird suggeriert, führen potentiell zur Schwächung nicht nur der männlichen Autoritätsposition, sondern auch der männlichen Verteidigungsbereitschaft bzw. Fähigkeit zur Selbstverteidigung. Es fällt nicht schwer, hier einen Bezug zu Diskussionen der 1950er Jahre herzustellen, die sich um die ›domestizierten‹, konformen Männer der amerikanischen Vorstädte drehen – und dies im Kontext des Gefahrenpotenzials eines heraufziehenden Kalten Krieges. Im Film bedarf es nun eines weiteren Mannes, der jenseits der beiden konkurrierenden Gesellschaftsmodelle zu stehen scheint und zwischen ihnen zu vermitteln sucht. Es ist ein Fremder mit dem Namen Shane, der vor allem aus der Perspektive eines Jungen als Held und Vaterfigur wahrgenommen wird und der für die Farmer den Kampf gegen den Rancher austrägt. Shane ist ein Mann
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ohne Nachnamen und damit ohne familiäre Bindungen (vater- und heimatlos), der aus dem offenen Land in die umzäunte Zivilisation kommt und am Schluss aus dieser wieder in den offenen Raum reitet. Er ist zudem ein Mann, der sich über den Gebrauch (oder Nicht-Gebrauch) seiner Waffe artikuliert, die als Signal für eine dunkle Vergangenheit (als ›gunfighter‹) fungiert und die ihn eigentlich mit der Gruppe um den Rancher verbinden müsste. Und doch nimmt er die Seite der Farmer ein, kämpft ohne erkennbares Eigeninteresse ihren Kampf für sie und sichert damit das Überleben dieser modernen, solidarisch agierenden Gemeinschaft. Selbst wenn ihm die Sehnsucht nach der Frau und dem Heim des Farmers Joe Starrett ins Gesicht geschrieben ist, wird doch klar, dass er nicht zur Gemeinschaft der Farmer gehören kann. Mit seinem vormodernen Ehrenkodex, der dem von Ringo Kid in Stagecoach ähnelt, fungiert er als Inbegriff einer ›natürlichen‹ und implizit asozialen Existenz jenseits des Staates (und des Gesetzes des Vaters), jenseits einer auf Familienstrukturen gebauten sozialen Ordnung und jenseits einer auf Arbeit und Warenproduktion basierenden modernen wirtschaftlichen Organisation. In seiner Präsenz artikuliert dieser Mann die Widersprüche zwischen verschiedenen Lebens- und Gesellschaftsmodellen, die der Film letztendlich nicht auflöst – Widersprüche zwischen dem individuellen Freiheitsdrang und der Verantwortungspflicht für eine Gemeinschaft, zwischen der sozialen Dynamik von Männerbünden und der von Familienbeziehungen, zwischen autokratisch und demokratisch organisierten Gesellschaften, zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit als Konfliktlösungsmodellen. Wenn Shane am Schluss des Films – wahrscheinlich tödlich verletzt – davonreitet, wird sein Weggang (und möglicher Tod) betrauert und ist doch unumgänglich, wenn sich die moderne demokratische Ordnung durchsetzen soll. Denn Shane gehört der Vergangenheit an, die nun nostalgisch verklärt wird als gewissermaßen gegenkulturelle Alternative zum herannahenden System staatlicher Autorität und zum Fortschritt, dessen Notwendigkeit implizit in Frage gestellt wird. Die kulturelle Leistung dieses Films besteht darin, dass hier verschiedene mögliche Lebens- und Gesellschaftsformen durchgespielt werden. Die Besiedlung Amerikas wird als unvermeidbarer Konflikt und notwendiger Übergang zwischen zwei historischen Siedlungsstadien inszeniert, also zwischen pastoraler Viehzucht und modernem Ackerbau. Sie wird zudem als politisch aufgeladener, lebensbedrohlicher Konflikt zwischen demokratisch agierenden Farmern (deren ›Unschuld‹ durch die Präsenz von Kindern signalisiert wird) und tyrannisch-autokratisch agierenden Ranchern um implizit ›freies‹ Land dramatisiert, und nicht als Konflikt zwischen euro-amerikanischen Neuankömmlingen und indigenen Bewohnern. Shane, so kann man argumentieren, legitimiert damit die Notwendigkeit der gewaltsamen Expansion als Grundlage der modernen Nation und verklärt doch nostalgisch einen vermeintlich ›natürlichen‹ vormodernen Zustand. Darüber hinaus deutet der Westernfilm auf seine eigene Entstehungszeit hin und nimmt aktuelle Themen auf. So lässt sich die im Film geführte Auseinander-
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setzung mit Männlichkeitskonzepten und mit der Notwendigkeit des Einsatzes von Waffengewalt als Anspielung auf Diskussionen der 1940er und -50er Jahre deuten. Diese beziehen sich zum einen auf die Außenpolitik der USA im Kalten Krieg, zum anderen auf männliche Ängste vor Kontroll- und Autoritätsverlust im Rahmen der Familienkonstellation der 1950er Jahre, die durch den zunehmenden Einfluss von (oft auch berufstätigen) Müttern geprägt war. Auch die Konsumorientierung der amerikanischen Gesellschaft wird reflektiert, denn selbst Shane kauft im Laden der Stadt ›ready-make pants‹ und ein Soda Pop für den kleinen Jungen. Shane liefert damit ein Beispiel dafür, wie das populärkulturelle Format des Western zugleich als Indoktrinierungs- und Beruhigungsinstanz wie auch als Korrektiv und Verhandlungsinstanz fungieren kann. Der Film zeigt, wie das Genre bestimmte historische Prozesse verschleiern kann und doch gleichzeitig den Vorzug der historischen Verkleidung nutzt zur Auseinandersetzung mit Widersprüchen, die in der amerikanischen Geschichte sowie in der zeitgenössischen amerikanischen Gesellschaft angelegt sind. Filme wie Shane geben zudem dem Hang zur nostalgischen Verklärung einer historischen Vergangenheit statt, indem sie die Siedlungsgeschichte als Konflikt zwischen unschuldigen Pionieren und autokratischen Landbesitzern um ›freies‹ Land dramatisieren (nicht um von Indigenen bewohntes Land). Durch die nicht aufgelösten Widersprüche im Film wird deutlich, dass Verhaltensmodelle und Wertvorstellungen nicht eindeutig normiert, sondern durchaus auch kritisch verhandelt werden, z.B. indem die Notwendigkeit von Fortschritt zwar nicht grundsätzlich, aber doch in bestimmten Formen, in Frage gestellt wird. Das Westerngenre erweist sich damit einmal mehr als Plattform für den ideologischen Schlagaustausch, für das nationale Selbstgespräch bzw. die nationale Selbstvergewisserung.
G esellschaf t
im
A usnahmezustand
Shane dramatisiert den Konflikt (bzw. den gewaltsamen Übergang) zwischen zwei Gesellschaftsmodellen anhand der Auseinandersetzung zwischen Ranchern und Farmern – ein Handlungsmodell, das spätere Western immer wieder aufnehmen, z.B. Michael Ciminos Heaven’s Gate (Das Tor zur Ewigkeit, 1980), Clint Eastwoods Pale Rider (Pale Rider – Der namenlose Reiter, 1985) und Kevin Costners Open Range (Weites Land, 2003). Andere Western nutzen den Schauplatz der kleinen frontier-Stadt zur Inszenierung von widersprüchlichen Vorstellungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. So präsentiert sich z.B. Hadleyville in High Noon (12 Uhr Mittags, 1952) als Hort bürgerlichen Kleinmutes, in dem sich Männer im Angesicht einer Gefahr in ihren gemütlichen Häusern hinter ihren Gartenzäunen (und ihren Frauen) verschanzen, um nicht zur zivilbürgerlichen Verteidigung der rechtsstaatlichen Verfassung der Stadt, unter Um-
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ständen durch den Dienst an der Waffe, herangezogen zu werden (wieder ein Seitenhieb auf die Vorstadt-Männer der 1950er Jahre?). Denn in Hadleyville herrschen Recht und Ordnung, ein Zustand, der kurz zuvor durch Marshal Will Kane und seine Deputies mühsam bzw. mit Waffengewalt errungen worden war. Dieser Zustand ist nun bedroht, da Kane (Gary Cooper) mit seiner frisch angetrauten Frau, der friedliebenden Quäkerin Amy (Grace Kelly), die Stadt verlassen will, just in dem Moment, in dem der Bösewicht Miller begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen wird. Offenbar war er für den gesetzlosen Zustand der Stadt verantwortlich und würde nun, so die Implikation, nach seiner Rückkehr wieder die Kontrolle übernehmen, in autokratischer Manier und damit jenseits von Recht und Gesetz. Nur Marshal Kane, der Miller hinter Gitter gebracht hatte, stellt sich dem Männerbund, und damit dem alten System, in den Weg, ganz alleine (und nicht ganz furchtlos). Selbst der Friedensrichter, der letzte Repräsentant eines funktionierenden Rechtsstaats, ist aus der Stadt geflohen. Die Stadt ist somit im Ausnahmezustand. Der Rechtsstaat hat versagt. Und doch steht Will Kane nicht ganz für diesen modernen Rechtstaat, für den er sich einsetzt. Seine Loyalität gegenüber diesem ist ambivalent, denn er handelt nicht nach dem herrschenden Gesetz. Dieses würde ihm verbieten, sich den Amtsstern eigenmächtig wieder an die Brust zu heften und die Amtswaffe an sich zu nehmen (vgl. Slotkin 1992: 392). Er handelt vielmehr, so wird suggeriert, nach einem eigenen Ehrenkodex jenseits staatlicher Kontrolle, der es ihm gebietet, das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Und hier ist er eigentlich nicht viel anders als sein Gegenüber Frank Miller, mit dem ihn offenbar eine dunkle Vergangenheit verbindet, die u.a. durch eine gemeinsame (dunkelhaarige) Geliebte symbolisiert wird (vgl. ebd. 393). Will Kane ist zudem nicht als junger, furchtloser Held konzipiert, sondern als ein (nunmehr) domestizierter, von Ängsten geplagter älterer Mann, der sich eigentlich – so könnte man glauben – nicht einzumischen bräuchte, aber fast obsessiv an seinen eigenen Vorstellungen festhält. So setzt er sich im Alleingang für eine Gemeinschaft ein, die ihn nicht zu brauchen scheint und die seines Opfers eigentlich nicht wert ist. Er überlebt diesen Alleingang letztendlich nur, weil seine friedliebende Frau sich überwindet und zur Waffe greift. Schließlich wendet er sich gegen die staatliche Autorität, indem er ihre Insignien – den Stern – in den Staub fallen lässt. Und dann verlässt er, in für einen Westernhelden untypischer Manier, mit seiner Frau die Stadt, um in einer anderen Stadt einen Krämerladen aufzumachen. Mit seiner widersprüchlichen Art der Sympathielenkung und der Anlage seines ›Helden‹ provoziert der Film somit ambivalente Einschätzungen des Gefahrenpotenzials für die Stadt und die Notwendigkeit ihrer Verteidigung. High Noon ist deshalb in konträrer Weise als kritische Auseinandersetzung mit einer amerikanischen Gesellschaft gelesen worden, die McCarthys Jagd auf Kommunisten in den frühen 1950er Jahren still erträgt und sich in ihr Privatleben (in ihre Geschäfte und das Konsumieren) zurückzieht, ohne den Rechtsstaat aktiv zu verteidigen. In dieser Lesart wäre Will Kane als ein Opfer der Hetzjagd zu inter-
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pretieren (vgl. McGee 2007: 120). Andere haben die Figur des Will Kane jedoch weniger als Opfer, als vielmehr als (Mit-)Beteiligten an einer obsessiven Jagd auf imaginierte Gefahren interpretiert, die das Gemeinwesen von außen bedrohen (vgl. Slotkin1992: 395-396, Coyne 1997: 99). Dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Figur des Will Kane (in Kombination mit den von Alan Ladd und John Wayne gespielten Figuren) ein Rollenmodell für spätere Westernhelden liefert, von denen viele von Clint Eastwood verkörpert wurden: Der wortkarge Einzelgänger, der der Gesellschaft entfremdet ist und dessen Verhaltenskodex nicht dem Rechtsverständnis des modernen Staates geschuldet ist, sondern einem ihm eigenen Handlungskodex. Ein Mann mit einer dunklen Vergangenheit, der nicht in eine Stadt wie Hadleyville passt, ebenso wenig wie er sich in der amerikanischen Vorstadtidylle wohlfühlen würde. Insbesondere High Noon zeigt, dass die Unterscheidung zwischen ›Gut‹ und ›Böse‹ auch in ›klassischen‹ Western gar nicht so einfach ist, selbst wenn komplexe Konflikte auf einfache Strukturen herunter gebrochen werden. Ringo Kid, Shane und Will Kane sind keine wirklich ›guten‹ Männer, sondern entsprechen, wie es Richard Slotkin formuliert hat, der »classic ›good-badman‹ formula« (1992: 304). Ringo Kid und Shane sind sogar Gesetzlose. Und doch verhelfen sie letztendlich dem Gesetz zum Recht und ermöglichen eine Gesellschaft, in der Recht und Gesetz über dem Handeln der einzelnen Person stehen. Die implizite Widersprüchlichkeit der Western-Helden wird auch durch die Kulissen des Western unterstützt, die auf die Grenzen zwischen Natur und Zivilisation anspielen. So stehen offene, weite Landschaften stellvertretend für Natur und Wildnis, während der überschaubare, geordnete Raum einer Western-Stadt mit ihren verschiedenen Innenräumen als Sinnbild für die ›Zivilisation‹ herhalten muss. Aber auch diese scheinbar klar gezogenen Grenzen sind nicht immer klar. Sie werden überschritten von Figuren, die auf beiden Seiten der Grenze agieren. Selbst die symbolisch gezogenen Grenzen zwischen Natur und Zivilisation, zwischen ›wilden‹ (unbefriedeten, unsicheren) und kultivierten (sicheren) Räumen, können undeutlich werden, ineinander übergehen (siehe John Fords The Searchers). Der ›klassische‹ Western kann somit zwar durchaus als ideologisches Vehikel für die Bestätigung und Fortschreibung nationaler Ursprungsmythen gelesen werden, insbesondere auch in der Art und Weise, wie die amerikanische Geschichte gewissermaßen ›weiß gewaschen‹ wird. So werden z.B. Bezüge zu Sklaverei und Rassendiskriminierung, wenn überhaupt, nur indirekt hergestellt. Doch lässt der Western oft so viele Widersprüche in der Schwebe, macht so viele Interpretationsangebote, dass sich zwangsläufig gegensätzliche Interpretationen ergeben. So eröffnen Western-Filme auch einen mehr oder weniger kritischen Blick auf die Grundlagen und Versatzstücke der amerikanischen Ursprungsmythen. Damit wirken sie nicht eindeutig affirmativ, sondern zugleich kritisch befragend. Sie können auch politisch nicht eindeutig als links-liberal oder rechts-konservativ gedeutet werden.
Populärkultur als Verhandlungsor t
Diese besprochenen Beispiele sollten gezeigt haben, worin die kulturelle Leistung des amerikanischen Westernfilms bestehen kann. Das Genre beteiligt sich zum einen an der amerikanischen Geschichtsschreibung und betreibt zum anderen Zeitdiagnose. Alle drei vorgestellten Filme dramatisieren Prozesse, welche die Entstehung des modernen Rechtsstaates – implizit durch Gewalt – ermöglichen. Sie geben Raum für Überlegungen zur Verfasstheit der good society. Sie ermöglichen widersprüchliche Positionierungen gegenüber der Autorität des Staates sowie der Notwendigkeit des (geschichtlichen, sozialen, technischen) Fortschritts. Und sie bieten Raum für (Re-)Maskulinisierungs- und Ermächtigungsfantasien. Durch die Konzeption spezifischer Krisenszenarien und Männerfiguren verorten sie sich auch im jeweiligen Zeitgeist. Sie bedienen Sehnsüchte nach einem Leben off the grid, jenseits des ›Systems‹, Sehnsüchte nach dem Elementaren jenseits einer hochkomplexen Welt, und wirken so über ihre Zeit hinaus. Sie sind vieldeutig lesbar. Und sie bieten Platz für Neubearbeitungen, Weiterschreibungen und Revisionen im Hinblick sowohl auf die Protagonisten als auch auf die Konflikte, die ausgetragen werden.
N eubearbeitungen und W eiterschreibungen : V om kulturellen Z entrum zum gegenkulturellen R and Mit Matthew Carter (2014) gehe ich davon aus, dass die Unterscheidung zwischen ›klassischen‹ und ›revisionistischen‹ Western insofern problematisch ist, als bereits die Western aus der ›klassischen‹ Zeit des ›Golden Age‹ (1939-1962) ständige Revisionen des Genres vornahmen. Auch die Annahme, dass der ›klassische‹ Western politisch affirmativ wirkt, während der ›revisionistische‹ Western diese ideologische Positionierung hinterfragt, sollte in den vorherigen Ausführungen entkräftet worden sein. Und doch verändert sich das Genre, das ja schon immer mit der Zeit gegangen ist, um ca. 1960 so grundlegend, dass es von vielen – so zum Beispiel im Jahre 1974 von der New Yorker Filmkritikerin Pauline Kael – sogar totgesagt wurde (vgl. Coyne 1997: 165). In einer anderen Lesart tritt der ›klassische‹ Western in sein Endstadium und überlässt neuen Versionen – dem »New Western cinema« (Johnson 1996: 214) – das Feld, welche die alten Geschichten neu erzählen und alte Gewissheiten (wenn es diese jemals gab) in Frage stellen. Auf jeden Fall wird der Blick auf den Westen, die Geschichte der Westexpansion und auf die Westernhelden (noch) zynischer, kritischer, pessimistischer, was auch mit den politischen und kulturellen Entwicklungen der 1960er Jahre zu erklären ist. Beispiele dafür sind der Krieg in Vietnam, die Rebellion gegen Autoritäten, die Gegenkultur und die politischen Gegenbewegungen von Minderheiten, die alle mit einem Verlust des Glaubens an ›althergebrachte‹ Wahrheiten einhergehen (vgl. Coyne 1997: 166-183.). Die Western der 1960er Jahre scheinen sich nicht mehr im nationalkulturellen Zentrum zu verorten, sondern sprechen nun zunehmend von den gegen-
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kulturellen Rändern aus (z.B. Soldier Blue (Das Wiegenlied vom Totschlag, 1970), Little Big Man (1970)) oder aber interpretieren das Genre (und damit Amerika) von Europa aus (z.B. Sergio Leones Italo-Western). Um die Mitte der 1970er Jahre scheint der Western dann endgültig seine Deutungshoheit als zentrale Autorität im Hinblick auf die Definition und Bestätigung der Grundlagen einer amerikanischen nationalen Identität verloren zu haben. Seine Aufgabe wird nun offenbar auf andere Unterhaltungsformate (insbesondere science fiction, fantasy und urban crime) verlagert. Für die jüngste Wiederauferstehung des Western seit den frühen 2000er Jahren im Film (z.B. in Kevin Costners Open Range (Weites Land, 2003), Quentin Tarantinos Django Unchained (2012)) und Fernsehen (z.B. in Deadwood (HBO, 2004-06) und Hell on Wheels (AMC, 2011-2016)) ist diese Phase allerdings von prägender Bedeutung, da sich in den Western der 1960er Jahre die Ästhetik (z.B. die Inszenierung eines ›realistischer‹ anmutenden, verdreckten Westens), die Heldenfiguren sowie (alternative?) Geschichts- und Gesellschaftsmodelle zu etablieren beginnen, welche in den Westernfilmen und Westernserien der jüngeren Zeit zum Tragen kommen. In den Weiterschreibungen des Genres, z.B. in Sergio Leones Trilogie (A Fistful of Dollars (Für eine Handvoll Dollar, 1964), For a Few Dollars More (Für eine Handvoll Dollar mehr, 1965), The Good, the Bad, and the Ugly (Zwei glorreiche Halunken, 1966), werden zynische Blicke auf eine dysfunktionale Gesellschaft geworfen. An der kleinen Western-Stadt wird kein gutes Haar mehr gelassen; Stadtbewohner werden als groteske, pathetische Masse gezeichnet. Für diese Gesellschaft(en) gibt es keine gute Zukunft, denn es besteht nicht einmal mehr das Ideal einer good society: Der von Clint Eastwood in Leones Trilogie verkörperte Kopfgeldjäger ist nicht an Gerechtigkeit, sondern nur an der Prämie interessiert. Seine Jagd auf Verbrecher entbehrt jeglicher moralischer Grundlage. Sie führt ihn durch eine moralische Wüste, in der die Grenzen zwischen ›Natur‹ und ›Zivilisation‹ aufgehoben sind und in der nur das Recht des Stärkeren und damit Gewalt (aber auch Schläue und Humor) zählen (vgl. Coyne 1997: 173, Mitchell 1996: 228-229). In Sam Peckinpahs The Wild Bunch (The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz, 1969) und George Roy Hills Butch Cassidy and the Sundance Kid (Zwei Banditen, 1969) reiten die männlichen Protagonisten unaufhörlich ihrem Untergang zu, ohne dass der Sinn ihres Tuns (außer der Lust am Untergang?) erkennbar wäre. Daneben gibt es aber auch Western wie Henry Hathaways True Grit (Der Marshal, 1969), in denen ein positives Gesellschaftsmodell wieder aufscheint. Jedoch ruht dieses nicht auf gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, sondern allein auf zwischenmenschlichen Beziehungen. Denn diese Ordnungsstrukturen haben, so erzählt die Geschichte implizit, in den Augen der jungen Protagonistin, die den Mörder ihres Vaters zur Rechenschaft bringen will, versagt. Ihre Suche nach Gerechtigkeit ist privat organisiert, als Geschäft zwischen Mattie Ross und dem alten Marshal Rooster Cogburn (einem gealterten John Wayne), dessen zwielichtige Vergangenheit und gegenwärtige Arbeitspraktiken ihn als Mann kennzeich-
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nen, der zur Gesetzlosigkeit neigt. Die Geschichte von Mattie Ross und Rooster Cogburn ist die einer Initiationsreise, die durch das gesetzlose Indianerterritorium führt. Sie handelt vom Erwachsenwerden und vom Altern – aber auch von der Problematik, Gerechtigkeit jenseits von Recht und Gesetz zu finden. Die Bezüge zum Western als einer Erzählung vom Ursprung einer Nation sind nur noch schwer zu erfassen. Vielleicht stehen Mattie und Rooster aber jeweils für das junge bzw. alte Amerika und True Grit kann als eine Geschichte vom Aufwachsen und Altern Amerikas verstanden werden, in der die Matties die Roosters überleben und in der das Ableben der alten Männer mit Wehmut und Trauer zur Kenntnis genommen wird.
A lternative G emeinschaf ten
an den
R ändern
Um zur zynisch-pessimistischen Perspektive der Western der 1960er Jahre zurückzukommen, so wirkt diese in Clint Eastwoods Western der 1970er, 1980er und 1990er Jahre nach, welche sicherlich auch noch für die jüngsten Western stilbildend wirken. Dabei ist der Blick auf die Politik dieser Filme interessant. The Outlaw Josey Wales (Der Texaner, 1976) atmet den Geist alternativer Gesellschaftsmodelle der Gegenkultur und ist gleichzeitig auch im konservativen politischen Bereich einzuordnen, was daran liegen mag, dass sich beide Gesellschaftsentwürfe – jeweils in einer ihnen eigenen Radikalität – in einer amerikanischen Tradition der Definition von Freiheit verorten. Der Missouri-Farmer Josey Wales (Clint Eastwood) verliert im amerikanischen Bürgerkrieg Frau und Kind, die von irregulären Unionstruppen ermordet werden, und geht auf die Suche nach deren Mördern. In diesem Krieg gibt es keine gute Seite; Gewalt geht gleichermaßen von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren aus; der Farmer wird auf seiner Suche nach Gerechtigkeit selbst zum Gesetzlosen. Auf seiner Reise durch das (als gesetzlos dargestellte) Indianerterritorium sammelt er eine multikulturelle Patchwork-Familie von Ausgestoßenen um sich, die am Rande der ›Zivilisation‹, am Rande Amerikas und damit jenseits von staatlicher Autorität den Auf bau einer neuen Gemeinschaft wagen. Möglich wird dies aber nur durch Friedensverhandlungen mit den indianischen Bewohnern. Auch dafür wird der Staat nicht benötigt. So erklärt der Protagonist einem indigenen Gegenüber: »Governments don’t live together, people live together«. Zudem wird diese friedliche Zukunft nur dadurch ermöglicht, dass Josey Wales den Mörder seiner Familie in einem letzten Akt von Gewalt zur Strecke bringt und dass dessen Komplize (als Vertreter einer korrumpierten staatlichen Autorität) darauf verzichtet, den Gesetzlosen vor Gericht zu bringen. Das wirklich friedliche Amerika, so wird hier bedeutet, kann nur an seinen (geographischen und kulturellen) Rändern, jenseits seiner korrumpierten staatlichen Strukturen wieder aufgebaut werden. Hier zeigt sich einmal mehr, wie der Western in seiner historischen Verkleidung zeitgenössische Themen durcharbeitet. So kann die Beschäftigung mit den
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Folgen des Bürgerkriegs als Auseinandersetzung mit den Folgen des Vietnamkriegs gedeutet werden (vgl. Slotkin 1992: 632, Coyne 1997: 178). Der Film illustriert auch die komplexe politische Verortung des Nach-Sechziger-Western, in dem sich liberales und libertäres Gedankengut (also die ›linken‹ und ›rechten‹ Ränder des amerikanischen politischen Spektrums) vermischt. Dabei konnte man bereits im klassischen Western feststellen, dass er politisch »both sides of the street« (Coyne 1997: 3) bedient. In den 1980er Jahren nimmt sich Eastwood in Pale Rider (Pale Rider – Der namenlose Reiter, 1985) des Shane-Stoffes noch einmal an. Wieder inszeniert er die Bildung einer Notgemeinschaft, einer alternativen Gesellschaft am Rande Amerikas, die sich unter Druck formiert. Dieses Mal handelt es sich um eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Goldgräbern – Männern, Frauen und Kindern –, die wie die Farmer in Shane zu schwach sind, um ihre (bescheidenen) Landansprüche gegen die Übermacht eines Industriellen zu verteidigen und dazu die Hilfe eines mysteriösen Fremden in Anspruch nehmen (der womöglich bereits tot ist und übernatürliche Kräfte zu besitzen scheint). Dieser kommt wie Shane aus den Weiten des Westens, kämpft den Kampf der kleinen Gruppe für sie, und reitet am Schluss wieder dahin zurück. Pale Rider gibt dem Konflikt zwischen den beiden ungleichen Parteien eine ökologische Komponente (der Industrielle LaHood will die Bodenschätze mit technologischer Gewalt fördern). Im Zentrum steht jedoch die moralische Notwendigkeit des Überlebens dieser kleinen Leute, aus denen am Schluss eine solidarische Gemeinschaft geworden ist. Ob sie es wert waren oder nicht, ob sie eine ›gute‹ Gesellschaft bilden oder nicht, lässt der Film offen. Die Grundlagen für diese sind im solidarischen Prinzip gelegt; nun steht dessen Umsetzung an. Wie in Shane und The Outlaw Josey Wales kann die good society offenbar nur im Kleinen entstehen. Staatliche Institutionen, technologischer Fortschritt und marktwirtschaftliche Erwägungen bzw. materielle Interessen werden dagegen mit Skepsis betrachtet. Die verwerfliche Politik einer durch Geld und Staat unterstützten illegitimen Elite (hier: die fremdenfeindliche Harvard-Elite, die in Ranch-Land in Wyoming investiert hat) gegenüber unschuldigen kleinen Leuten (hier: süd- und osteuropäischen Einwanderern, die das Land als Farmer bestellen wollen) steht auch im Mittelpunkt einer weiteren Neubearbeitung des Shane-Stoffes durch Michael Cimino in Heaven’s Gate (Das Tor zur Ewigkeit, 1980). Hier wird die amerikanische Ursprungserzählung als Klassenkonflikt umgeschrieben. Die Nation, so suggeriert der Film, wurde von einer illegitimen, quasi-feudalen Elite auf dem Rücken von Einwanderern und Arbeitern errichtet. Der amerikanische Staat erweist sich durch seine unheilige Allianz mit dem Kapital als zutiefst korrumpiert. Obwohl auch in Eastwoods Western die gunfighter-Figur im Mittelpunkt steht und auch hier der Widerspruch zwischen Individualismus und Gemeinschaftsverantwortung nicht aufgelöst wird, zeichnen diese im Vergleich zu den Italo-Western doch positivere Bilder von Zweck-Gemeinschaften, in denen vor allem Frauen eine konstituierende Rolle spielen. Diese positiven Perspektiven
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werden dann in Eastwoods Regiearbeit Unforgiven (Erbarmungslos, 1992) wieder (vorübergehend) in Frage gestellt. Der Protagonist Will Munny (Clint Eastwood) wird als Schweine züchtender Familienvater und Witwer vorgestellt, der sich als geläuterter ehemaliger gunfighter entpuppt. Motiviert durch die von einer Notgemeinschaft von Prostituierten in der Western-Stadt Big Whiskey ausgelobte Kopfprämie begibt er sich wieder auf den gewaltsamen Pfad seiner Vergangenheit, was eine Gewaltspirale auslöst. Dabei wird die Ehrhaftigkeit seines Handelns von Beginn an in Frage gestellt. Wir erfahren zu Beginn des Films, dass einer der Prostituierten Gewalt und damit Unrecht angetan wurde. Ihr Gesicht wurde von einem Freier entstellt, nachdem sie sich über dessen Geschlechtsteil lustig gemacht hatte. Weil ihnen vom Gesetzeshüter der Stadt, dem korrupten Sheriff, keine angemessene Gerechtigkeit widerfährt, greifen die Frauen zum Mittel der Kopfgeldjagd, um den Täter zur Strecke zu bringen. Ihr Durst nach Rache, der offenbar nur durch den Tod des Freiers gestillt werden kann, scheint jedoch gemessen am begangenen Unrecht überproportional hoch. Obwohl Will Munny seine Aufgabe als Rächer der Gerechten nur widerstrebend und nur aus einer finanziellen Notlage heraus übernimmt, wird er am Schluss doch zum brutalen Mörder, der auch Unschuldigen Gewalt antut. Der gunfighter lädt damit große Schuld auf sich (selbst wenn ihm am Schluss, ähnlich wie Will Kane, eine friedvolle Zukunft als Besitzer eines städtischen Krämerladens nachgesagt wird). Während in Shane und Pale Rider suggeriert wird, dass aus der Gewalt heraus Gemeinschaften entstehen (können), erzeugt Gewalt hier nur weitere Gewalt. Unforgiven wirft zudem eine kritische Perspektive auf die Produktionsbedingungen der amerikanischen Ursprungserzählung und auf den zwielichtigen Charakter des Westernhelden, indem deren mythographische Grundlagen selbst in den Blick genommen werden. Die heroisch anmutende Geschichte des Gesellschaftsauf baus im Westen wird als kommerziell motivierte, manipulative Weiterschreibung von Mythen entlarvt, an deren Produktion die Protagonisten zum Teil sogar selbst mitgewirkt haben. Damit wird die normative Männlichkeit des Westernhelden, ebenso wie die dem Heldenmythos unterlegte Notwendigkeit der Selbstjustiz, zum Problem ernannt: Gewalt erzeugt einfach nur Gegengewalt, keine Gerechtigkeit. Gleichzeitig eröffnet der Film (wie bereits frühere Western Eastwoods) keine rechtstaatliche Option, auch nicht in der Zukunft. Eastwoods Big Whiskey ist eine düstere Variante der Westernstadt des klassischen Western, die ihrem eigenen Anspruch – eine demokratisch verfasste Zivilisation zu vertreten – wohl kaum Genüge leistet. Sie bildet schwerlich eine Grundlage für eine solidarisch und demokratisch agierende Gesellschaft. Und doch unterscheidet sich die Ikonographie von Unforgiven, die sich an die der Italo-Western anlehnt, von der des klassischen Western. Letzterer war selten so weit gegangen in der Darstellung eines verdreckten, verschlammten Westens voller Duckmäuser und verrohter Gestalten, ohne Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft in der Zukunft.
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Der Düsterheit der Städte werden in Heaven’s Gate, Pale Rider und Unforgiven allerdings monumentale Naturpanoramen gegenübergestellt, womit auch hier frühere Konventionen des Western wieder aufgegriffen werden. Die Landschaft übernimmt (ähnlich wie in Shane) wieder eine tragende Rolle (als positives Gegengewicht zur korrumpierbaren menschlichen Gesellschaft), was allerdings wiederum kritisch zu bewerten ist, da hier die Geschichte der Westexpansion gewissermaßen ›naturalisiert‹ wird, wo sie doch durch menschliche Akteure in Gang gesetzt wurde. Historische Prozesse der Enteignung werden so als menschliche Begegnungen mit Natur umgedeutet und damit entpolitisiert.
D ie G renzen
der
F reiheit
Ästhetisch übermächtige Weiten und Bergwelten alternieren auch in jüngeren Western-Produktionen mit dunklen Ansichten von städtischer Gesellschaft. Dem düsteren Pessimismus von Heaven’s Gate und Unforgiven stehen aber zum Teil positivere Sichten auf amerikanische Geschichte und Gesellschaft, z.B. in Kevin Costners Open Range (Weites Land, 2003) und Walter Hills Fernseh-Miniserie Broken Trail (AMC, 2006), gegenüber. Beide thematisieren männliche Wünsche nach Freiheit und finanzieller Unabhängigkeit, die durch den Viehtrieb in offenen, weiten Landschaften erfüllt werden sollten – männliche Wünsche, die an Grenzen stoßen. In Open Range wird eine dieser Grenzen durch den Herrschaftsanspruch eines städtischen Tyrannen gesetzt, der Anspruch auf das Weideland unabhängig agierender Cowboys erhebt und sich ihnen gewaltsam in den Weg stellt. Diese Grenze wird dadurch überwunden, dass Kevin Costners und Robert Duvalls Cowboy-Figuren das Gesetz in die eigene Hand nehmen und die Stadt Harmonville in einem zwar chaotischen, aber befreienden, kathartischen Shootout vom Tyrannen befreien. Doch die Männer stoßen auch an Grenzen männlicher Freiheit, die nicht überwunden werden können: Diese liegen im männlichen Wunsch nach menschlicher Gemeinschaft, nach Familie, Heimat, Liebe und Läuterung sowie in der Notwendigkeit, den eigenen Alterungsprozess zu akzeptieren. In Open Range werden diese Wünsche durch die von einer unkonventionellen Frau dominierte Umgebung – Arztpraxis mit Wohnzimmer, Küche, Garten – aktiviert. In Broken Trail geschieht dies durch die Schutzbedürftigkeit einer Gruppe chinesischer Frauen. Diese bricht den emotionalen Damm, den die beiden von Robert Duvall und Thomas Hayden Church gespielten Cowboys um sich herum gebaut haben. Die Freiheiten, die der Westen Männern verheißt – so scheint der Tenor von Unforgiven, Open Range und Broken Trail zu lauten – sind auf Gewalt (insbesondere gegenüber Frauen und Minderheiten) gebaut. Und doch scheint der Einsatz von nicht-staatlicher Gewalt durch einzelne Gruppen von Individuen unter bestimmten Umständen notwendig, z.B. zur (Wieder-)Herstellung einer (würdigen) Gemeinschaft und zum Schutz von Schwachen. Dabei wird die
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männliche Freiheit in offener Natur so überwältigend, zelebrierend und ästhetisch ansprechend in Szene gesetzt, dass ihre Daseinsberechtigung – wenigstens als nostalgische Fiktion – doch wieder bestätigt wird. Was natürlich auch bemerkt werden muss, ist die geschichtskritische Aufgabe, die sich viele Western der jüngeren Zeit zur Auflage gemacht haben. So erheben viele Westernfilme und -serien den Anspruch, die ›wahren‹ Geschichten des Westens zu erzählen. Es gab zwar auch in der klassischen Phase immer wieder Western, die Minderheiten oder Frauen eine mehr oder weniger zentrale Rolle als geschichtliche Akteure zugeschrieben haben. Aber so multikulturell wie in den 1990er und 2000er Jahren war der Westen – und der Western – noch nie. Die Diskussion von Gesellschaftsmodellen wird dabei unter sehr bewusstem Einbezug von Differenzkategorien wie Klasse, Ethnizität, Rasse und Geschlecht geführt. Dies geht mit einem erhöhten Realismus- und Authentizitätsanspruch einher. Wie unzählige Making of-Kommentare auf DVDs zu bestätigen suchen, basiert die Mise-en-Scène jüngerer Western auf historischen Recherchen. Viele Western atmen seit den 1980er Jahren den Geist historischer Revision, wie sie von der neueren amerikanischen Geschichtswissenschaft (z.B. im Rahmen der von Patricia Limerick und Richard White vertretenen New Western History) betrieben wird. War die Geschichte des amerikanischen Westens zuvor meist aus der Perspektive weißer Männer erzählt worden, wird der Westen nun als multikultureller Begegnungsort in den Blick genommen, als Ort, an dem sich viele parallele, gleichwertige Geschichten im Kontext von auszuhandelnden Machtverhältnissen abspielen (vgl. Limerick 1987, White 1991, Georgi-Findlay 2011). Inwieweit dabei nach 2001 auch die mit ›9/11‹ umschriebenen Anschläge eine Rolle spielen, im Sinne einer historischen Zäsur, ist aber immer noch schwer zu beurteilen (vgl. Nelson 2013: xvii, McVeigh 2007: 213-220, Seeßlen 2011: 208-251).
Z urück
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A nfängen
Ein ähnlicher Anspruch auf Realismus und ›Authentizität‹ findet sich auch in jüngeren Fernsehserien wie Deadwood (HBO, 2004-2006) und Hell on Wheels (AMC, 2011-2016), die vermeintlich neue Geschichten über die Antriebskräfte der Westexpansion zu erzählen suchen. Hier wird der Western wieder zur Erzählung von den Ursprüngen, wohl auch, um die amerikanische Gesellschaft mit ihren eigenen (unhinterfragten) ›Wahrheiten‹ zu konfrontieren. Diese Ursprünge sind mit allerlei Ursünden behaftet. Die amerikanische Vergangenheit, die hier so kritisch beleuchtet wird, bildet damit eine schwere Hypothek. So wühlt sich in Deadwood, wie Nina Rehfeld es formuliert hat, »eine Nation […] aus dem Schlamm« (2005: 47), angetrieben nicht durch Idealismus, sondern durch Materialismus, schonungsloses Eigeninteresse und moralische Zwielichtigkeit. Auch Heldenfiguren, die mit einem klaren moralischen Kompass aus-
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gestattet sind, sind nicht mehr gefragt. Das Goldgräber-Camp Deadwood stellt gewissermaßen den ›primitiven‹ Urzustand und schlammigen Untergrund für die Etablierung sozialer Ordnung dar. Die Grundlagen dieser sozialen Ordnung bilden Geschäft und Profit, die Befriedigung des Sexualtriebs und exzessive Gewalt. Gemeinschaft und Gesellschaft, so wird hier suggeriert, werden aus Marktinteressen heraus organisiert, zu deren Durchsetzung Machtwille und Gewalt notwendig sind. Machtmenschen bilden das Kontrollzentrum einer improvisierten Ordnung. Ökonomisches Eigeninteresse und Selbstschutz bilden dabei aber auch produktive Kräfte, da sie (insbesondere in Krisenzeiten) zu strategischen Allianzen und Zweckbündnissen führen, durch die weitere Gewalt abgewendet werden kann und innerhalb derer Kompromisse ausgehandelt werden können. Sie ermöglichen damit die Entstehung von provisorischen Gemeinschaften (vgl. Cantor 2010: 126). Es sind die komplexen zwischenmenschlichen Beziehungen, die zugleich Übel und Heil bringen. In der Fernsehserie Hell on Wheels, die sich auf den Bau der Union Pacific Railroad nach dem Bürgerkrieg konzentriert, wird die Entstehung einer provisorischen sozialen Ordnung in einem mobilen Eisenbahncamp, das den Bau begleitet (später in einer daraus entstandenen Stadt), durchgespielt. Diese Ordnung formiert sich aus einem Machtzentrum heraus, repräsentiert durch den Investor Durant und seine von ihm abhängigen Angestellten. Sie gestaltet sich in Form flexibler Notgemeinschaften, die sich um dieses Machtzentrum sowie um einen attraktiven, wenn auch moralisch zwielichtigen Helden gruppieren. Denn das Unternehmen kann letztendlich nur durch die Gemeinschaftsleistung einer multikulturellen Ansammlung von Underdogs gelingen, die vorsichtig pragmatische Allianzen und emotionale Bindungen eingehen und eine provisorische soziale Ordnung aushandeln, innerhalb der sie ihre eigenen Interessen durchzusetzen suchen. Durch Geschichten um die Interaktion von Charakteren unterschiedlichster Herkunft (die entlang asymmetrischer Machtverhältnisse operieren, Diskriminierung und Brutalität ausgesetzt sind und diese Erfahrungen an andere weitergeben) wird auch Geschichtsrevision betrieben. So werden Gruppierungen und Erfahrungen in die Geschichte des Eisenbahnbaus, und damit der Westexpansion, eingeschrieben, die in Western oft außen vor bleiben: Frauen, ethnische und religiöse Minderheiten, Afro-Amerikaner und Native Americans; Diskriminierung, Sexismus und Rassismus. Das Camp wird als Austragungsort von regionalen, ethnischen und sozialen Konflikten ebenso wie als Ort der Vergangenheitsbewältigung inszeniert. Wie in Deadwood wird so ein kritischer, zum Teil auch zynischer Blick auf die Geschichte der amerikanischen Westexpansion geworfen, deren Antriebskräfte zwar auch im Idealismus einzelner Individuen zu finden sind, aber zumeist auf der Profitgier manipulativer Geschäftemacher und Machtmenschen basieren, die ihre Interessen in unheilsamer Allianz mit der Po-
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litik und auf dem Rücken einer ethnisch diversen Arbeiterschaft durchzusetzen suchen. Wie in den vorhergehenden Western-Filmen wird in diesen Fernsehserien die Formierung von Gemeinschaft und Gesellschaft vor bzw. jenseits der Etablierung rechtsstaatlicher Strukturen durchgespielt. Die soziale Ordnung, die sich herausbildet, scheint den Staat nicht zu benötigen bzw. würde durch diesen auch nicht besser. Die von Osten herannahenden Vereinigten Staaten, repräsentiert durch korrumpierte Institutionen (Armee, Politik, Wirtschaft) scheinen für diese sozialen Gebilde am Rande der ›Zivilisation‹ – ob zur Stadt gewordenes Goldgräber- oder Eisenbahncamp – eher eine Bedrohung als ein Identifikationsangebot darzustellen. Die Camps stehen allegorisch für ›primitive‹ rechtsfreie amerikanische Anfänge, in denen soziale Ordnung durch die Herausbildung von (instabilen, zum Teil von Sympathieträgern geleiteten) Machtzentren entsteht, die ihre Interessen mit Gewalt durchsetzen. Zu dieser sozialen Ordnung gehört aber auch die individuelle bzw. gruppenbezogene Aushandlung von Interessen im Rahmen fragiler Zweckbündnisse, aus denen emotionale, zum Teil familiäre Bindungen entstehen. Im Mittelpunkt stehen dabei komplexe menschliche Motivationen, die einer Gemeinschaftsbildung zugleich im Wege stehen und sie ermöglichen: Der Wunsch nach Rache und Gerechtigkeit, das Streben nach materiellem Erfolg, die Suche nach persönlichem Glück und der menschliche Impuls zum Selbstschutz. Gerechtigkeit widerfährt nur wenigen. Nicht alle können die Bürde ihrer (zumeist traumatisierenden) Vergangenheit abwerfen, aber einigen wird wenigstens die Möglichkeit eines Neuanfangs zugestanden.
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als popul ärkulturelle
V erhandlungsinstanzen
Wie die vorherigen Ausführungen gezeigt haben sollten, sind Western, im Sinne eines »field of ideological play« (Slotkin 1992: 351), als politische Texte lesbar, die kulturell und ideologisch imprägniert und prägend sind, die mythenbildend wirken, und doch als kritische Überprüfungen der Grundlagen nationaler Identität sowie der Gegenwartsgesellschaft verstanden werden können. Sie sind Auseinandersetzungen mit einer amerikanischen »political philosophy« (Pippin 2010). ›Reine Unterhaltung‹ gibt es nicht. In der Anlage ihrer Hauptfiguren und der inszenierten Konflikte bestätigen alle vorgestellten Filme und Fernsehserien ideologische Prämissen der amerikanischen politischen Kultur, die heute zumeist mit der Politik der Republikanischen Partei identifiziert werden, aber letztendlich die Hauptkomponenten eines amerikanischen ideologischen Grundkonsenses darstellen. Diese lassen sich als (vieldeutige, links und rechts lesbare) populistische Ideale lesen, welche dem Anti-Elitären, Anti-Staatlichen, Anti-Großindustriellen den Vorzug geben (vgl. Slotkin 1992: 282-283). Meist räumen sie ihren Figuren Möglichkeiten des Neu-
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anfangs und der Läuterung ein. Jedoch greifen diese Möglichkeiten nur an den (sozialen bzw. geographischen) Rändern, in Ausnahme- und Krisensituationen jenseits des Zugriffs des Staates. Western rekurrieren damit auf einen spezifisch amerikanischen Populismus, dessen Grundkern in der Skepsis gegenüber und Rebellion gegen staatliche Autorität verortet ist und der die (unter Umständen globale) Attraktivität (aber auch Kritikwürdigkeit) der amerikanischen Populärkultur erklärbar macht. Eine nähere Betrachtung der kulturellen Leistung des Westernfilms kann somit aufzeigen, wie Produkte der populären Kultur, in den Worten von Jörn Ahrens, die Formate vorgeben, »an denen sich Gesellschaft ästhetisch schult« (Ahrens 2012: 10). Sie stellen »einen kulturell performativen Raum zur Verfügung, worin die anzuerkennenden ›Werte, Bedeutungen und Ideen‹ überhaupt erst verhandelt und diskursiv gemacht werden können« (ebd.).
B ibliographie Ahrens, Jörn (2012). Wie aus Wildnis Gesellschaft wird: Kulturelle Selbstverständigung und populäre Kultur am Beispiel von John Fords Film The Man Who Shot Liberty Valance. Wiesbaden: Springer VS. doi: https://doi.org/10.1007/978-3531-93238-5 Cantor, Paul A. (2010). »›Order Out of the Mud.‹ Deadwood and the State of Nature.« The Philosophy of the Western. Hg. Jennifer L. McMahon und B. Steve Csaki. Lexington: University Press of Kentucky. 113-138. Carter, Matthew (2014). Myth of the Western. New Perspectives on Hollywood’s Frontier Narrative. Edinburgh: Edinburgh University Press. doi: https://doi. org/10.3366/edinburgh/9780748685585.001.0001 Coyne, Michael (1997). The Crowded Prairie: American National Identity in the Hollywood Western. London: Tauris. Erhart, Walter (1997). »Männlichkeit, Mythos, Gemeinschaft: Nachruf auf den Western-Helden.« Wann ist der Mann ein Mann? Hg. Walter Erhart und Britta Herrmann. Stuttgart: J. B. Metzler. 320-349. Georgi-Findlay, Brigitte (2011). »Western History as (Post-)Colonial Studies?« ZUSAS Occasional Papers 7: 5-20. Johnson, Michael L (1996). New Westers: The West in Contemporary American Culture. Lawrence: University Press of Kansas. Limerick, Patricia Nelson (1987). The Legacy of Conquest: The Unbroken Past of the American West. New York: Norton. McGee, Patrick (2007). From Shane to Kill Bill: Rethinking the Western. Malden: Blackwell. McVeigh, Stephen (2007). The American Western. Edinburgh: Edinburgh University Press.
Populärkultur als Verhandlungsor t
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F ilmographie Broken Trail (2006). Reg. Walter Hill. AMC. Television. Butch Cassidy and the Sundance Kid (Zwei Banditen) (1969). Reg. George Roy Hill. Twentieth Century Fox. Deadwood (2004-2006). HBO. Django Unchained (2012). Reg. Quentin Tarantino. Columbia Pictures, The Weinstein Company. A Fistful of Dollars (Für eine Handvoll Dollar) (1964, 1967). Reg. Sergio Leone. United Artists. For a Few Dollars More (Für eine Handvoll Dollar mehr) (1965, 1967). Reg. Sergio Leone. United Artists. The Good, the Bad, and the Ugly (Zwei glorreiche Halunken) (1966, 1968). Reg. Sergio Leone. United Artists. Heaven’s Gate (Tor zur Ewigkeit) (1980). Reg. Michael Cimino. United Artists. Hell on Wheels (2011-2016 ). AMC. High Noon (12 Uhr Mittags) (1952). Reg. Fred Zinnemann. United Artists. Little Big Man (1970). Reg. Arthur Penn. National General Pictures. Open Range (Weites Land) (2003). Reg. Kevin Costner. Buena Vista Pictures. The Outlaw Josey Wales (Der Texaner) (1976). Reg. Clint Eastwood. Warner Bros. Pale Rider (Pale Rider: Der namenlose Reiter) (1985). Reg. Clint Eastwood. Warner Bros. The Searchers (Der schwarze Falke) (1956). Reg. John Ford. Warner Bros. Shane (Mein großer Freund Shane) (1953). Reg. George Stevens. Paramount. Soldier Blue (Das Wiegenlied vom Totschlag) (1970). Reg. Ralph Nelson. AVCO Embassy Pictures, Katzka-Loeb.
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Stagecoach (Höllenfahrt nach Santa Fe) (1939). Reg. John Ford. United Artists. True Grit (Der Marshal) (1969). Reg. Henry Hathaway. Paramount Pictures. Unforgiven (Erbarmungslos) (1992). Reg. Clint Eastwood. Warner Bros. The Wild Bunch (The Wild Bunch: Sie kannten kein Gesetz) (1969). Reg. Sam Peckinpah. Warner.
Krieg, Kommerz und Kreml-Konzerte Geschichtsinszenierungen im heutigen Russland Marina Scharlaj
G lorifizierte E rinnerung Nach der Annexion der Krim im März 2014 haben in Russland Aggressivität und militante Rhetorik, aber auch Nationalstolz, Masseneuphorie und Zustimmung für die Politik der Führung enorm zugenommen. Mit der offensiven Außenpolitik ist es dem russländischen1 Staat gelungen, die Gesellschaft nach innen zu konsolidieren und Konsens zu schaffen, an dem es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion mangelte. Der Kreml nutzte dabei – wie schon im Tschetschenien- und Georgienkrieg – die Integrationskraft der geschichtspolitischen Argumentation, um das eigene Vorgehen auf der Halbinsel Krim zu legitimieren (vgl. Guttke 2015: 316ff.). Im Rekurs auf traditionelle Werte, insbesondere die des Patriotismus, und positive historische Ereignisse, wie etwa den Sieg im Großen Vater ländischen Krieg, produziert der Staat seit den Ereignissen in der Ostukraine vermehrt massenwirksame Bilder und Praktiken, die an sowjetische Muster erinnern und eine konservative Re-Ideologisierung der Gesellschaft herbeiführen. In den Vordergrund der offiziellen Diskurse rücken erneut militärische Potenz sowie imperiale Größe als zentrale Bausteine des nationalen Selbstverständnisses. Die staatsnahen russischen Medien reproduzieren die Kreml-Rhetorik. Die Inszenierung der heroischen Vergangenheit nimmt vor allem im Fernsehen immer mehr Raum ein. Das Fernsehen, das fast ausschließlich aus staatlich finanzierten Sendern besteht, funktioniert im heutigen Russland als eine Art »Werbeagentur« (Medvedev 2015: 2) zur Legitimierung und Selbstinszenier ung des Staates. Es stellt die wichtigste Informationsquelle und zugleich das beliebteste Unterhaltungsmedium im Alltag der meisten Russen dar.2 Seit einigen Jahren do1 | Der Begriff ›russländisch‹ bezieht sich im Unterschied zum ethnisch gemeinten ›russisch‹ auf die gesamte Staatsnation. 2 | Laut Umfragen des unabhängigen Levada-Instituts erhalten nahezu 90% der Bürger Russlands Informationen über Geschehnisse im In- und Ausland aus dem Fernsehen (Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde 2015: 9). Diesen Informationsquellen ver-
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Marina Scharlaj
minieren zahlreiche TV-Sendungen mit Militärthematik sowie Kriegsserien und Dokumentarfilme, in denen Geschichte als Gegenstand der Unterhaltung an ein Millionenpublikum herangetragen wird, das russische Fernsehprogramm.3 Ein besonders attraktives Format für populäre, emotional aufgeladene Geschichtserzählungen ist dabei das Festkonzert. Die Konzerte, die im Saal des Moskauer Kreml stattfinden und an bedeutenden staatlichen Feiertagen auf zentralen Sendern (Pervyj Kanal, Rossija 1) ausgestrahlt werden, 4 stehen in der sowjetischen Tradition. Sie zeichnen sich durch fest etablierte Topoi, einheitliche und sich wiederholende Szenarien aus, für deren korrekte Durchführung offizielle Gremien sorgen. Dem Staat dienen die Kreml-Konzerte wortwörtlich als Bühne, auf der eindeutige Wertemuster, Normen und Hierarchien zur Schau gestellt und dramaturgisch aufgewertet werden, wodurch ein affektives Bekenntnis zur offiziellen Rhetorik gefördert wird. Sie reihen sich ein in eine patriotische, von der militä rischen Symbolik dominierte, positiv konnotierte, populäre wie populistische Erinner ungsk ultur, die, obwohl staatlich verordnet, als Unterhaltungskultur zu bezeichnen ist. Die Lieder, die dem Konzertzuschauer in Form einer ritualisierten medien kulturellen Praxis dargeboten werden, gelten als Schlager und werden außerhalb des TV-Konsums sowohl auf öffentlichen Veranstaltungen, z.B. in Schulen und Karaoke-Bars, als auch privat, unter Freunden oder allein, gesungen. Sie verbinden die Sphäre des Festtags mit der des Alltags und tradieren außerdem Melodien, die im kollektiven Bewusstsein verankert sind und Bezüge zur Volkskultur aufweisen. Die in den Kreml-Konzerten inflationär gebrauchte Symbolik des Großen Vaterländischen Krieges wird auch in anderen Diskursen und Medien für aktuelle Bedürfnisse instrumentalisiert. Eine Kommerzialisierung erfährt sie etwa trauen die Befragten am meisten (ebd. 10). Die staatlichen Sender Pervyj Kanal und Rossija 1 erfreuen sich dabei einer besonderen Popularität (ca. 60% der Stimmen, ebd. 12). 3 | Neben den sowjetischen Kriegsfilmen und Geschichtsdokumentationen über die heroische Sowjetzeit sowie auch über den Glanz der Romanov-Dynastie werden immer mehr aktuelle Produktionen gezeigt. Als Beispiele für neue patriotische Blockbuster sind folgende Filme zu nennen: Stalin live (2006), Großer Krieg (2010), Grüße von ›Katjuscha‹ (2013), Stalingrad (2013), Die Schlacht um Stalingrad (2015) u.v.m. Auf dem Kanal Rossija 1 läuft samstags die Sendung des Kriegsjournalisten Aleksandr Sladkov (Kriegss endung), in der Lebensgeschichten von ›Helden in Uniform‹ erzählt werden, um so die heroischen Geschichtse rzählungen zu vermarkten. Ulrich Schmid ordnet eine solche Überpräsenz des Krieges dem »Daseinsmodus des Imperiums« zu (2015: 158). Mit Lev Gudkov lässt sich im Zusammenhang mit der Kommerzialisierung und Instrumentalisierung der Geschichte eine »Faszination vom Bösen und der Gewalt« (2013: 285) konstatieren. 4 | Von besonderer Bedeutung sind der Siegestag am 9. Mai sowie der Tag des Verteidigers des Vaterlandes am 23. Februar. Der russische Feiertagskalender enthält insgesamt 51 berufliche Feiertage und Gedenktage für das Militär.
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in Produktmarken, welche den Krieg bzw. den Sieg im Namen oder im Slogan ehren – u.a. indem bekannte Liedtitel als Vermarktungsstrategien dafür eingesetzt werden. Zu nennen sind ferner Lebens- und Genussmittel wie Milch, Wodka oder Schokolade, die anlässlich der militärischen Gedenktage und insbesondere zum 9. Mai, in ein feierliches, ›siegreiches‹ Design verpackt und von der Bevölkerung konsumiert werden.5 Durch die alltägliche sowie mediale Präsenz der Kriegsbilder und Militärsymbolik entsteht der Eindruck eines permanenten Krieges. Die verschiedenen »Reproduktionssysteme« (Dubin 2005: 228) erzeugen eine komplette Mythologie mit dem Sieg als Kern der russischen Geschichte. Krieg wird darin als ein aufregendes Abenteuer und nicht als ein schreckliches Ereignis dargestellt. Die Tragik des Todes wird mit der Argumentation ›die Soldaten kommen nicht um, sondern opfern ihr Leben für das Vaterland‹ verdrängt. Dieses romantisierende Kriegsbild, das in der Sowjetunion der 1970er Jahre geformt wurde (vgl. Dubin 2005: 219f., Ščerbakova 2010: 21), zieht sich bis heute durch offizielle Geschichtserzählungen und zeichnet auch die Dramaturgie der Kreml-Konzerte aus. Anliegen dieses Beitrages ist es, am Beispiel des Genres des Festkonzertes die positiven fernsehmedialen Darstellungen der russischen Geschichte aufzuzeigen und diese auf ihre kulturelle Hybridität hin zu prüfen. Den folgenden Überlegungen wird die Annahme zugrunde gelegt, dass die im Westen gültige Einteilung der erinnerungsk ulturellen Arbeit in quellengestützte Forschung für die Eliten (mit Historikern als Führungsschicht) einerseits und medial vermittelte unterhaltsame Geschichtsbilder für das Massenpublikum andererseits (vgl. Uka 2003) in Bezug auf Russland nur bedingt anwendbar ist. In Russland finden keine Erinnerungsarbeit und keine Geschichtspolitik im westlichen Verständnis statt. Der öffentliche Umgang mit Geschichte zielt seit dem Amtsantritt von Vladimir Putin darauf ab, »die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion angeschlagene Selbstdarstellung als Großmacht zu rekonstruieren« (Scherrer 2006: 26). Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass in vielen medialen Formaten anstelle einer vielseitigen und rationalen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit emotionalisierende, auf das Positive reduzierte und belehrende Formen der Historie treten. Aspekte der Hochkultur, wie das Gewicht von Text und politisch-gesellschaftlichem Stoff sowie die Wertschätzung seitens der Eliten, verschränken sich hier mit populärkulturellen Inszenierungen und Techniken, die auf Vorbilder der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie zurückgreifen (vgl. Schmid 2015: 39f.). Merkmale wie Verständlichkeit, Narrativität, vorgefertigte Wertemuster und eine emotionale anstatt ästhetischer Wirkungsweise, welche für die Identifizierung von Populärkultur im westlichen Sinn verwendet werden, lassen sich eben5 | Der Siegesfeiertag, dessen Symbolkraft in Russland sehr weit reicht, verwandelt sich immer mehr zum Werkzeug des Marktes und stellt eine Bühne für das Lobbying kommerzieller Interessen dar. Ausführlich ist diese Tendenz in Lysceva (2006) beschrieben.
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so dem russischen TV-Genre des Festkonzertes zuschreiben. Diese Merkmale charakterisieren aber auch die auf Beeinflussung der ›Massen‹ gerichtete Kultur in den sozialistischen Gesellschaften – »die allerdings keiner über einen Markt vermittelten Bestätigung seitens Rezipienten ausgesetzt war« (Trepper 2002: 11). Die positiv konnotierte Massenkultur des Sozialismus wird, so scheint es, in den Kreml-Konzerten revitalisiert und gleichzeitig in Verbindung mit der in den 1990er Jahren nach Russland importierten, kapitalistisch geprägten Populärkultur gebracht. Diese Verschränkung lässt sich sowohl auf der audiovisuellen Ebene der Inszenierungen als auch in Hinblick auf Funktionen beobachten, die die TV-Konzerte als Transmitter politischer Inhalte und Unterhaltungsangebote übernehmen. Ausgehend von den einleitenden Überlegungen konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf die populären Aneignungen der sowjetischen Topoi und Mythen im Festkonzert sowie auf die mytho-poetischen und gesellschaftlichen Funktionen dieses Genres. Als produktiv für die Beschreibung der gegenwärtigen Geschichtsinszenierungen in Russland erweist sich die These von der homogenisierenden Wirkung der Massenkultur (vgl. Petrusek 2002: 24ff., Dubin 2010, 2014). Letztere wird – jenseits jeglicher Hierarchisierung auf einer Werteskala – als Produkt und Motor von Interaktionsprozessen zwischen verschieden sten kulturellen Positionen begriffen (vgl. Trepper 2002: 16). Dichotome Muster (high – low) greifen hier u.a. deswegen nicht, weil die Kulturproduktion im sowjetischen Kontext nicht von gesellschaftlichen Klassen her, sondern von einer einheitlichen Massengesellschaft ausgeht. Inwiefern diese Vorstellung bis heute nachwirkt, ist die leitende Frage, die es im Folgenden zu beantworten gilt.
P opul är -
und M assenkultur im sowjetischen und heutigen
R ussland
Die Erforschung von Populärkultur stellt in den akademischen Kreisen Russlands zwar kein Novum mehr dar, stößt jedoch auf ein vergleichsweise geringes Interesse.6 Wie in anderen kommunistischen Ländern Osteuropas war die Thematisierung der profitorientierten und massenproduzierten Kultur hier lange Zeit umstritten. Aus sowjetischer Sicht galt die Massenkultur (russ. massovaja kul’tura) als ein kapitalistisches Phänomen, das in der bürgerlichen Gesellschaft einer Religion gleiche, die Entstehung eines revolutionären Bewusstseins verhindere und der Manipulation des Publikums diene (vgl. Menzel und Schmid 2007: 4). Zu gleicher Zeit, d.h. bei der Ablehnung der ›bourgeoisen‹ Populärkultur bediente sich die Partei der Wirkung der Massenmedien und propagierte die Idee der massovost’. Damit ist ein grundsätzlich positiv konnotiertes Phänomen ge6 | Ein aktueller Forschungsüberblick findet sich im Sammelband von Rozenhol’m und Savkina (2015a). Vgl. insbesondere auch Rozenhol’m und Savkina (2015b: 10ff.).
Krieg, Kommerz und Kreml-Konzer te
meint, das Breitenwirkung, Verständlichkeit sowie das Kollektive impliziert und dabei von dem romantischen Postulat der narodnost’ (Volkstümlichkeit) ausgeht (vgl. ebd.). Während die im Westen verbreitete Massenkultur »gegenüber einer anzustrebenden sozialistischen Kultur abgewertet [wird]« (ebd.), werden eigene Kulturerscheinungen, die für die ›Massen‹ gedacht sind – so z.B. das Massenlied (russ. massovaja pesnja) – als beliebt und wertvoll empfunden. Im Gegensatz zum westlichen popkulturellen Paradigma fungiert die sowjetische massovaja kul’tura als staatliche Auftragskultur. Ihre homogenisierende Wirkung zielt auf eine Beseitigung der Distanz zwischen einer Kultur ›von oben‹ und einer Kultur ›von unten‹ ab. Zudem soll sie für breite Kreise der Bevölkerung, allen voran für die neue Arbeiterklasse, zugänglich sein. Die Überwindung einer in ›hoch‹ und ›nieder‹ gespaltenen Kultur »zugunsten der einen ›wahren‹ Massenkultur des sozialistischen Realismus« (Trepper 2002: 8) geht jedoch paradoxerweise mit der »Konzeption eines durch und durch hierarchischen, an Kanons orientierten Kultursystems« (ebd.) einher. Ungeachtet aller Impulse aus den cultural studies wird der populäre Mainstream auch in der postsowjetischen Forschungslandschaft Russlands sowie in der westlichen Rezeption der russischen Kultur nur sporadisch zur Kenntnis genommen (vgl. Schwartz 2009: 216).7 Vielmehr wird der Schwerpunkt der Untersuchungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts auf den Vergleich zwischen der kommerziellen US-amerikanischen Massen- bzw. Populärkultur und ihrem politisch geprägten sowjetrussischen Pendant gelegt. Zum einen entwickelt sich auf dieser Grundlage die Tendenz, die Dichotomie ›Totalitarismus vs. Demokratie‹ aufzuheben und die sozialistische Massenutopie mit dem kapitalistischen Warenparadies zu vergleichen (vgl. z.B. Buck-Morss 2000). Zum anderen zeigen die Erforschungen der in den 1990er Jahren neu aufkommenden und in rasantem Tempo kommerzialisierten Kultur, dass die gesellschaftlichen Transformationen nicht zur Ablösung sowjetischer Erinnerungsmuster führten (vgl. Barker 1999, Trepper 2002, Rozenhol’m und Savkina 2015b). Im Gegenteil: die Glorifizierung der Sowjetunion fand sehr schnell Einzug in die neuen populären Gattungen. 7 | Umgekehrt werden die kultursoziologischen Arbeiten aus Osteuropa im Westen viel zu wenig rezipiert. Menzel und Schmid weisen bspw. auf die Untersuchungen der Populärkultur hin, die bereits in den 1920er Jahren im Umfeld des russischen Formalismus durchgeführt wurden (vgl. 2007: 10), darunter: Sergej Balachutyj Die Poetik des Melodrams (1927), Viktor Šklovskij Charlie Chaplin (1925). Mit Aufkommen des Stalinismus verschwanden diese Ansätze aus dem Blickfeld der Forschung. Erst in den 1960er Jahren machte die polnische Soziologin Antonina Kłoskowska auf die universalen Mechanismen der Massenkultur aufmerksam (Kłoskowska 1964). Auch der sowjetische Literaturwissenschaftler und Semiotiker Jurij Lotman beschäftigte sich am Beispiel der Massenliteratur seit den 1970er Jahren mit dem Phänomen der Populärkultur. In den 1990er Jahren hat sich die postsowjetische Soziologie der Problematik der Massenk ultur und der neuen Populärkultur angenommen.
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Die Übertragung der westlichen Beschreibungsmodelle auf den russischen Kontext erweist sich nicht nur aufgrund der starken Verwurzelung der sowjetischen Tradition im kollektiven Bewusstsein als problematisch. Zu berücksichtigen ist ferner die Besonderheit der russischen im Gegensatz zur westlichen Populärkultur. Diese Sonderstellung geht erstens auf eine grundsätzlich stärkere elitäre Prägung der Kultur in Russland8 und zweitens auf die Vorstellung von der Gesellschaft als einem homogenen Kollektiv zurück.9 Drittens ist zu beachten, dass gerade im gegenwärtigen Kontext für die Vermittlung kultureller Inhalte Verfahren eingesetzt werden, die Strategien, Motive und Formenelemente der Populärk ultur und Hochkultur kombinieren. Vor diesem Hintergrund scheint eine differenzierte Analyse der hier zu untersuchenden Phänomene angebracht zu sein. Die Ansätze dazu finden sich bei den Moskauer Kultursoziologen Boris Dubin und Lev Gudkov. Bis zu seinem Tod im Jahr 2014 hat besonders Boris Dubin die Wechselbeziehungen von Populärkultur, Massenkultur und etablierter Hochkultur in den Blick genommen. Anders als die Vertreter der cultural studies sieht Dubin die Spezifika der Populärkultur (als Synonym für Massenkultur) weder in der Beschaffenheit, noch in der Bedeutungs produktion, den Rezeptionspraktiken, der Qualität oder Struktur ihrer Texte, sondern in der Kommunikation mit dem Adressaten. Zu den kommunikativen Grundlagen der Populärkultur zählen (nach Dubin) die Bezugsherstellung zu einem virtuellen everyman sowie eine wiedererkennbare, tautologische Botschaft. Der Sinn der immer gleichbleibenden Kommunikation besteht dabei in der Nivellierung, in der Erschaffung eines Einheitsgefühls, welches die Konstituierung der Gesellschaft als politisch passive, ›virtuelle Masse‹ oder Konsumenten gesellschaft begünstigt und jede intersubjektive Beziehung bzw. Dialogizität tilgt (vgl. Dubin 2010: 77). Derartige unidirektionale Kommunikation ist für die sowjetische Massenkultur typisch, wie sie Miloslav Petrusek in Anlehnung an duale Modelle von Jurij Lotman und Boris Uspenskij beschrieben hat (vgl. Petrusek 2002: 37f., Lotman und Uspenskij 1996). Petrusek ordnet die Massenkultur des Sozialismus einem 8 | Wie auch immer man die elitäre und die populäre Kultur definiert oder deren Beziehung zueinander sieht, war die Kultur in Russland traditionell von ihrem Verhältnis zum Zentrum bestimmt. Der staatliche Paternalismus der Zarenzeit wurde vom normativen sowjetischen Konzept der kulturnost’ (dt.: Kultiviertheit) ersetzt. Insbesondere die russische Literatur, die sich erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von ideologischen Inhalten und Geschmackspräferenzen des Zarenhofs unabhängig machte, betont ihre gesellschaftliche Verantwortung. Auf die kulturelle Tradition der Verantwortungsästhetik und den Moralismus der russischen Kultur geht ausführlich Koschmal (1996) ein. 9 | Das Kollektive haftet der russischen Kultur nicht erst seit der Sowjetzeit an. Eine grundlegende Idee der Orthodoxie bildet die ›gemeinschaftliche Einmütigkeit‹ der sobornost’ (kollektiver Klangkörper, Gemeins chaft), die dem protestantischen Individualismus und der katholischen autoritativen Verletzung der Freiheit gegenübergestellt wird.
Krieg, Kommerz und Kreml-Konzer te
Kanon zu, der sich mithilfe der Mechanismen der monostilistischen Kultur darstellen lässt. Diese charakterisiert sich durch folgende Merkmale: 1.
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Hierarchie: Einer Hierarchisierung unterliegen »Genres, Massenspektakel, die ›Kulturschaffenden‹ selbst« (Petrusek 2002: 37). Dazu führt die politische Elite Titel wie Nationalkünstler oder ›verdienter Künstler‹ ein und verleiht staatliche Preise im Bereich der Kultur. K anonisierung: Sowohl die kulturellen Artefakte als auch die Phänomene des Alltagslebens sind bestimmten Kanons unterordnet, »wobei der Kanon niemals durch Publikumspräferenzen bestimmt wird, sondern durch Parteibeschluss oder sogar nur durch die persönliche Ansicht des politischen Führers« (ebd.). Ordnung: Die Hierarchisierung der Kultur wird durch eine zeitliche und räumliche ›Ordnung› ergänzt, die gegen das vermeintliche ›Chaos‹ gerichtet ist. Totalisierung: Dem Rezipienten wird nur ein universales, politisch wie ästhetisch-kulturell ›totalitäres‹ Interpretationsschema angeboten. Exklusion: Fremdartige Elemente oder abweichende Interpretationen werden ausgeschlossen; ein besonderer Wert wird auf den Erhalt der »Systemeinheit der monostilistischen Kultur« (ebd. 38) gelegt. Vereinfachung: Komplizierte Sachverhalte werden auf einfache und allgemein bekannte Elemente und Formeln reduziert. Offizieller Konsens: In den ästhetisch-kulturellen Kanon des Regimes werden Artefakte eingegliedert, die eine ›einheitliche Perzeption› garantieren und offiziell zugelassen sind. Das Positive: Kritik an einer positiv konnotierten Massenkultur wird nicht zugelassen; diese vertritt die Ideologie des positiven ›Helden‹ und der ›positiven Kritik‹. Das Teleologische: Die monostilistische Massenkultur ist eindimensional und »fortschrittlich in all ihren Absichten und Zielen, Deklarationen und Manifestationen« (ebd. 38).
Die Kommunikation mit dem Adressaten zielt laut diesen Beschreibungsmerkmalen auf die Mobilisierung eines von vielen Einzelnen geteilten Gefühls der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft ab. Die affektive Zustimmung zu gemeinschaftlich geteilten Werten wird in konkreten kulturellen Praktiken mithilfe von Massenmedien hergestellt. Die Unterhaltungsmusik als eine der Vermittlungsinstanzen einer Kultur ›für die Massen‹ vermag es, ein solches Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen und zu formen. Nicht von ungefähr wurde in der Sowjetunion, und insbesondere im Stalinismus (wie auch im Dritten Reich) mit dem Genre des Massenliedes eine von den breiten Schichten der Bevölkerung rezipierbare Form unterhaltsamer Propaganda geschaffen (vgl. Brüggemann 2002: 6). Musik und Gesang, die in die Massenspektakel und -aufmärsche einge-
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bettet wurden, prägten den sowjetischen Alltag. Dass diese Muster bis heute im kollektiven Gedächtnis bewahrt bleiben und weiterhin rezipiert werden, selbst wenn ihr appellativer Kontext zum Teil einer kommemorativen Nostalgie weicht, zeigt die heutige Unterhaltungsk ultur, die sich mit dem Erbe des Massenliedes und der Masseninszenierungen auseinandersetzt.10
D ramaturgie
der
K reml-K onzerte
Die Festkonzerte bilden wie kein anderes TV-Genre der Gegenwart einen Umschlagplatz für massenw irksame Kulturelemente aus Ost und West. Sie beinhalten sowohl die Neueinspielungen sowjetischer Klassiker als auch neue, patriotische wie unterhaltende Lieder und sind als ein Ort zu deuten, an dem staatliche Steuerung, Logik des Marktes und Vergnügen ineinandergreifen. Ihre Dramaturgie folgt einem strengen Kanon, in welchem sich unschwer Merkmale einer monostilistischen Kultur wiederfinden. So gehört es zur Tradition, dass die militärischen Kreml-Konzerte mit einer feierlichen Rede des Staatschefs eröffnet werden. Bei der Begrüßung sowie auch bei der Verabschiedung des Präsidenten steht das Publikum von seinen Plätzen auf. Auffallend oft folgt nach der Rede von Vladimir Putin ein Auftritt von Kindern. Erst nach diesem feierlichen Prolog beginnt das eigentliche Konzert. Den Höhepunkt der meisten Festzeremonien bildet unabhängig von Szenarium und Anlass des jeweiligen Konzertes das im Großen Vaterländischen Krieg geschriebene und berühmt gewordene Lied Der Heilige Krieg (Text V. Lebedev-Kumač/ Musik A. Аleksandrov), dem ebenfalls stehend und sich verneigend zugehört wird, um so den Wert des ›heiligen‹ Krieges auch ikonographisch zu unterstreichen. Sänger und Künstler, die im Kreml-Saal auftreten dürfen, werden dabei sorgfältig ausgesucht. In der Regel sind es ›verdiente Künstler‹, Vertreter einer staatskonformen Haltung, deren Karriere in der Sowjetzeit begann. Die Erwähnung ihrer Titel durch (ebenfalls bewusst ausgewählte, ausgezeichnete) Moderatoren sowie auch die ständige Einblendung der 10 | Bereits Ende der 1980er Jahre hat dich die Gruppe AVIJA einen Namen gemacht, indem sie ihre Rock-Märsche, die sowohl inhaltlich als auch melodisch an sowjetischen Massenliedern angelehnt waren, auf die Bühne brachten. In den 1990er Jahren strahlte der Pervyj Kanal eine Reihe von Musikfilmen aus, die in typischer popkultureller Manier die alten sowjetischen Lieder neu interpretierten. Die Filme unter dem Titel Alte Lieder über das Wichtigste wurden in der Silvesternacht gezeigt und erlangten somit große Popularität. Von 2004 bis 2009 wurde auf demselben Sender regelmäßig ein Konzertprogramm mit dem gleichnamigen Titel übertragen. Aus der tragischen sowjetischen Vergangenheit wurde nun eine nostalgisch verkürzte Geschichte, die wie in einen Freizeitpark zum Entspannen einlädt. Mit dem Kabelkanal Nostal’gija, der in seiner Darstellung sowjetische Symbolik verwendet und ausnahmslos sowjetische Filme und Sendungen zeigt, wurde die Sowjetnostalgie institutionalisiert.
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Staatssymbolik verleihen der Inszenierung einen betont feierlichen, offiziellen Charakter. Die in der Gestaltung der Konzerte deutlich sichtbare Hierarchisierung und der offizielle Konsens werden durch einen ausgeprägten militärischen Habitus unterstützt. Das Tragen von Uniform, Fahnen und Waffen, das Marschieren und Paradieren, sowie Fanfarenstöße, pathetische Bilder etc. wirken dabei ordnungs stiftend (Ordnung). Die visuelle Geometrie der Marschinszenierungen, die zum Grundbestandteil der Sieges-Paraden am Roten Platz gehört, wird auf die Bühne im Konzertsaal des Kreml übertragen. Die Bühnenrückwand stellt eine Projektionsfläche für ebenso bewegliche wie bewegende Bilder dar, welche den Raum der Inszenierung optisch erweitern. Die Bildoberfläche ist übersät mit visuellen Gestaltungselementen – Fragmenten von Dokumentaraufnahmen, Märschen, Spielfilmen aus der sowjetischen und heutigen Zeit sowie Animationen, die in die Zukunft gerichtet sind. Vor diesem multimedialen Hintergrund treten Größen des russischen Showbusiness, Popstars und Tänzer auf. Die Soloauftritte werden häufig von Chorgesang begleitet oder mit Märschen im Hintergrund auf der Bühne inszeniert. Charakteristisch ist außerdem die Klangkulisse der Inszenierungen. Kanonendonner, Gewehrfeuer und Bombendetonationen imitieren eine Kriegssituation. Obgleich die Waffentechnologie immer wieder ins Verhältnis zu den Bildern der Zerstörung gesetzt wird, überwiegt im audiovisuellen Wahr nehmungserleben das Motiv der heroischen Aufopferung. Die Konzerte beziehen ihre Wirksamkeit im Wesentlichen daraus, dass sie an den Siegesmythos anknüpfen. Sie bieten ein universelles Interpretationsschema der russischen Geschichte, das seit der Sowjetunion tradiert wird (K anonisierung, Totalisierung). Positive Helden und patriotische Erzählungen (das Positive) sind obligatorische Bestandteile dieser Interpretation. Dafür fällt aus der Erinnerung an den Krieg das heraus, was nicht zum Mythos des Sieges passt: der Terror, die brutalen Methoden der Kriegsführung, Deportationen, Holocaust und vieles mehr (Exklusion). Bezeichnend ist, dass die offizielle feierliche Rhetorik inklusive ihrer heroischen Grundstimmung mit den typischen popkulturellen Elementen eines Konzertes verbunden wird. Der historische Inhalt wird in eine mediengerechte Form gekleidet. Die Dramatisierung und Fragmentierung der Aussage, markante Bilder und innovative Darstellungstechniken machen die Konzerte im Wesentlichen aus (vgl. Zvereva 2006, Swerewa 2008). Die Auftritte variieren zwischen Kriegs- und Heimatliedern, sentimentalen Liedern und Liebesliedern. So kann auf Marsch musik Folklore oder Blues folgen. Militäruniformen und Miniröcke wechseln sich auf der Bühne bisweilen ab. Auf diese Weise bekommen die Kreml-Konzerte den Charakter einer Show, welche ihrer Ikonographie nach an ein opulentes Musical erinnert. Eine besondere Bedeutung in den aufwendigen, zumeist überladenen Geschichtsinszenierungen kommt den Gefühlen und Affekten zu. Die Dramaturgie des Konzertes hat dabei einen Zweck: sie soll den Eindruck vermitteln, es geschehe etwas Grandioses. Die starke Symbolkraft des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg verhindert eine kritische Auseinandersetzung mit der Kriegs
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vergangenheit. Der Stolz auf die Ereignisse der 1940er Jahre sowie auf jene von 2014 fördert die positive Identifikation mit dem eigenen Land und schafft eine Verbindung zwischen der sowjetischen und der heutigen Zeit. Die Kontinuität der massen- bzw. popkulturellen Muster lässt sich exemplarisch an zentralen Topoi und Motiven der Inszenierungen festmachen. Dem narrativen Sujet der Festkonzerte sind die tatsächlichen historischen Gegebenheiten als medialer Bildbestand persönlicher wie kollektiver Erinnerungen eingeschrieben. Zugleich sind mit diesem Sujet phantasmatische Elemente (z.B. militärische Initiationsriten, die heroische Tat, das Opfer der Einzelnen für das Leben der Gemeinschaft) verbunden, die in einen größeren mythologischen Komplex eingebunden sind (vgl. Kappelhoff 2014: 246f.). Die im kollektiven Bewusstsein verankerten Mythen adressieren ganz offensichtlich – wie schon zu Sowjetzeit – einen sense of community. Die heutigen Kreml-Konzerte sind somit einerseits als Vergemeinschaftungsr ituale sowjetischer Provenienz zu interpretieren, andererseits ermöglichen sie die gemeinschaftliche Realisierung expressiver Identitätsmuster, wie sie dem Populären im Sinn des Unterhaltenden eigen ist.
F estzeremonien : Topoi
und
M otive
Die oben formulierte These soll im Folgenden an einem Konzertbeispiel geprüft werden. Für die exemplarische Darstellung eignet sich das Große Festkonzert zum Tag des Verteidigers des Vaterlandes,11 das am 23. Februar 2014 im TV-Sender Rossija ausgestrahlt wurde.12 Der Feiertag von 2014 fiel genau in die Zeit, in der sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zuspitzte. Die ikonographische Gestaltung der Festzeremonie offenbarte eine neue Qualität des russischen Selbstverständnisses und der damit verbundenen Außenpolitik. Aufgrund der aktuellen Ereignisse wurde im Konzert der Topos der Verteidigung des Vaterlandes aufs Neue re-semantisiert. Die Annexion der Krim, die wenige Wochen später erfolgte, bestätigte das heroische Selbstbild des russländischen Staates und gab Anlass zu weiteren Inszenierungen der ruhmreichen Vergangenheit und mi11 | Den Tag, an dem die Streitkräfte gefeiert werden, gibt es seit 1922, als Vladimir Lenin den (nicht arbeitsfreien) Tag der Roten Armee eingeführt hat. Seit 2002 ist dieser Tag in Russland – im Gegensatz zu einigen anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion, in denen der Tag seine Bedeutung bewahrt hat – arbeitsfrei. In der Ukraine wurde auf Initiative von Petro Porošenko im August 2014 diesem sowjetischen Feiertag sein amtlicher Status entzogen. 12 | Die Sendung ist sowohl auf dem Videoportal Youtube (https://www.youtube.com/ watch?v=cGv6DrLjMJo) als auch im Archiv des Portals Onfilm.ru (http://onfillm.tv/ koncert/concert) zugänglich. Bei Zitaten, die im Folgenden von mir ins Deutsche übersetzt wurden, beziehe ich mich auf die Aufzeichnungen im letztgenannten Portal (letzter Zugriff: 07.05.2016).
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litärischen Potenz, deren Muster bis heute die mediale Öffentlichkeit Russlands prägen. Die Dramaturgie des Festkonzertes zum Tag des Verteidigers des Vaterlandes entspricht dem oben beschriebenen offiziellen Kanon. Nach der Eröffnung durch (immer wieder dieselbe, den Zuschauern bekannte) pathetische Musik und Einblendung des Wappens der Russischen Föderation kündigt die Off-Stimme den Auftritt des Präsidenten an. Während Vladimir Putin von Präsidentenfanfarenbegleitet auf die Bühne kommt,13 erhebt sich das Publikum von seinen Plätzen. Der Präsident fordert die Zuschauer auf, sich zu setzen und beginnt seine feierliche Rede. Darin misst er dem staatlichen Feiertag eine außerordentlich wichtige Bedeutung bei und führt eine Reihe von Beispielen aus der Geschichte an, die belegen sollen, dass die Verteidigung des Vaterlandes stets ein Faktor innerer Geschlossenheit gewesen ist: Der Militärdienst war seit Jahrhunderten die Stütze der russländischen Staatlichkeit. Armee und Flotte wachten unbeugsam über die nationalen Interessen unseres Staates, sicherten ein friedliches stabiles Leben und, sobald es verlangt wurde, hielten jedem Schlag stand – und siegten. Alle Generationen unserer Streitkräfte haben ihren unschätzbaren Beitrag zur Verteidigung der Heimat geleistet. Und heute zollen wir Respekt und Dankbarkeit ihrer Standhaftigkeit, Würde und beispiellosen Treue zum Vaterland. Wir sind stolz auf alle, die im Laufe der Jahrhunderte selbstlos die Freiheit und Unabhängigkeit Russlands verteidigten […]. (Das Große Festkonzert, 01:57-02:28)
Die Geschichte Russlands wird dabei als Geschichte der Siege dargestellt, die von ›wahren Patrioten‹ geschrieben wurde und wird. Besonders hervorgehoben wird erwartungsgemäß der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Der Präsident betont die ›Friedensliebe‹ des russländischen Staates, weist aber zugleich darauf hin, dass »die Zonen der Gefahr von außen« (ebd. 03:08) immer größer werden. Daran schließt sich der Topos der ständigen Wachsamkeit (russ. bditel’nost) an – einer der zentralen Bestandteile sowjetischer Rhetorik. Sowjetische Mythologeme, wie etwa das Motiv der Aufopferung, die Mutter-Heimat und das Vaterland sowie das Bild eines nicht näher definierten Feindes bilden weitere Grundfiguren Putins Rede. Mit historischen Argumenten und dem Verweis auf die Beispielhaftigkeit des Verteidigungsverhaltens der Vorfahren setzt der Präsident die Maßstäbe, die auf die Befolgung ethisch-moralischer Normen abzielen. Aus dieser Argumentationskette heraus wird im feierlichen 13 | Die Fanfaren wurden bereits in den 1990er Jahren vom Präsidentenorchester eigens für den Auftritt des Präsidenten bei feierlichen Angelegenheiten komponiert. Auch dieses pompöse Ritual kennt man in Russland sehr gut von den Neujahrsansprachen, die jährlich um 23:55 Uhr in der Silvesternacht auf allen TV-Kanälen ausgestrahlt werden. Das Schauen dieser Sendung um Mitternacht gehört zum obligatorischen Programmp unkt des russischen Neujahrsfestes.
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Grußwort von Vladimir Putin auch der normative Rahmen für die Festzeremonie umrissen. Die Topoi, die, wie eingangs erwähnt, von der politischen Führung vorgegeben werden, werden im Konzert in Wort, Bild und Ton wiederholt und entfaltet. Im Anschluss an die Eröffnungsrede des Präsidenten tritt ein kleiner Junge in Uniform auf der Bühne auf. Nach einem kurzen Soloauftritt kommt ein Knabenchor in Form einer Marschkolonne dazu, um gemeinsam das Lied von Bulat Okudžava Das kleine Orchester der Hoffnung zu singen (Das Große Festkonzert, 06:2008:38). Es handelt sich dabei um ein Lied, das zwar zur Sowjetzeit geschrieben wurde, aber keinesfalls dem sowjetischen Kanon angehörte.14 Als Mitbegründer und einer der bekanntesten Vertreter des Autorenliedes setzte Okudžava das Individuelle dem Kollektiven entgegen. In seinem stark metaphorischen Werk kritisierte er die sowjetische Wirklichkeit. Ihm ging es nicht um das heroische Bild des Krieges bzw. der Sowjetunion, sondern um traumatische Erinner ungen eines Einzelnen. Die Konzertinszenierung verzerrt sowohl den ursprünglichen Gedichtgesang als auch die kritische Position, indem sie die private Erinnerung mit einer überindividuellen Bedeutung überschreibt und heroisiert. In der Übertragung der Kleinheitsmetaphorik des Textes auf die kleinen Jungen, die aus einer Marschkolonne ein Orchester bilden (Abb. 1 und 2), kommt beispielhaft das Prinzip der Vereinfachung zum Ausdruck.
Abbildung 1
Abbildung 2
Die darauf folgende Nummer setzt dieses Muster fort: Das aus dem sowjetischen Kriegsf ilm In der schwierigen Zeit (1961, UdSSR) bekannte Lied Ballade über einen Soldaten (Text M. Matusovskij/ Musik V. Solov’ev-Sedoj) wird neu interpretiert (Das Große Festkonzert, 09:13-15:20). Während der Marsch eines Soldaten im Film metonymisch für die sowjetische Armee steht, führt die Inszenierung im Kreml die Geschichte des gesamten Soldatentums Russlands vor – von den Feldzügen 14 | Das Autorenlied stellt einen Teil der inoffiziellen sowjetischen Kultur dar. Seine kulturelle Bedeutung besteht u.a. in der Wiedergabe der verborgenen Inhalte der Sowjetzeit. Diese erfolgte in Form eines Gedichtvortrages mit Gitarrenb egleitung in einer Vertrauensatmosphäre. Paradoxerweise wird gerade diese Untergrundkultur (und nicht die offizielle Kultur des Sozrealismus) retrospektiv als Hochkultur der Sowjetu nion wahrgenommen.
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Ivans des Schrecklichen bis zu den Streitkräften der Gegenwart. Die Darstellung der heroischen Vergangenheit und der militärischen Stärke der heutigen Armee weist direkte Bezüge zu Putins Eröffnungsrede auf. Die Rekonstruktion der kriegerischen Bilder wird dabei auf das Fassungsvermögen eines Kindes reduziert. Der Text erzählt von einem Soldaten, der trotz Unwetter und Todesangst vorwärts geht und dabei ein Lied über die russischen Birken und sein Elternhaus (russ. otčij dom, eigentlich: das Haus des Vaters) singt. Das Lyrische Ich, der Soldat, schlägt den verhassten Feind und wird im Lied als ein Diener des Vaterlandes und Retter der ›russischen Erde‹ beschrieben. Den Refrain im Sologesang Aleksandr Maršals untermalt der Chor der russländischen Armee. 15 Mit jeder Strophe macht der Sänger, dem Text des Liedes folgend, einige Schritte nach vorne. Außerdem erscheint mit jeder Strophe eine neue Gruppe von Soldaten in histor ischen Militäruniformen auf der Bühne. Nachdem sie die Haltung einer nachgestellten Kampfsituation eingenommen haben, verharren sie in dieser und suggerieren somit Kampf bereitschaft. Die Standbilder der Soldatengruppen im Vordergrund werden durch Marschkolonnen in Filmsequenzen auf der Leinwand im Hintergrund ergänzt, sodass eine Schichtung verschiedener Bilder und Bildebenen entsteht (Abb. 3 und 4).
Abbildung 3
Abbildung 4
Die visuell überladene Inszenierung unterstreicht die Musik, die durch einen geschickten Ton- und Stimmungswechsel Spannung auf baut. Der anfänglich schwermütige Gesang mit Balalaika-Begleitung, einem Vorsänger und dem Chor knüpft an die Tradition des russischen Volksliedes an. Das Tempo des Liedes entspricht einem natürlichen Laufrhythmus. In den Zwischenspielen erklingen in den Bassinstrumenten schrittweise auf- und absteigende Tonleiterausschnitte, die ebenfalls das Laufen, um das es im Text geht, verdeutlichen. Den Wendepunkt bildet das Gewehrfeuer der Soldaten, welches nach der Strophe »der Soldat schlug überall den verhassten Feind« (Das Große Festkonzert, 12:50) einsetzt. Kriegs 15 | Der Sänger ist als Rock-Musiker bekannt, in dessen Repertoire Kriegslieder einen besonderen Platz einnehmen. Der Auftritt mit einer mit Orden behangenen Brust deutet auf eine reine Inszenierung hin, wenn man berücksichtigt, dass der Sänger erst nach dem Krieg, nämlich 1957, geboren wurde.
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geräusche im Hintergrund kündigen die nächste Steigerung an: Die dritte Strophe wird vom Männerchor gesungen. Sänger und Darsteller verschmelzen zum Schluss des Liedes in einer heroischen Körperschaft, in einem Kollektivkörper. Erst nach dieser affektgeladenen, pathetischen Szene eröffnen die Moderatoren das Konzert, indem sie in Form einer tautologischen Botschaft die Bedeutung des Feiertages betonen, die siegreichen historischen Ereignisse Russlands aufzählen und die Verteidiger des Vaterlandes in sowjetisch-patriotischer Manier ehren. Kriegslieder, die in übertriebenen, ›hollywoodesken‹ Inszenierungen die immer gleichen Topoi variieren, dominieren das weitere Konzertprogramm. Für Abwechslung sorgen Tänze, Gedichtrezitationen sowie Erzählungen der (vermeintlichen) Zeitzeugen über den Großen Vaterländischen Krieg. Folkloristische Elemente verbinden sich mit Aspekten der Hochkultur. Zur letzten zählen beispielsweise Zitate aus der klassischen Literatur, die patriotische Äußerungen enthalten. Lyrische Motive und Lieder, die keinen Bezug zum Krieg bzw. Sieg haben, stimmen das Publikum zuweilen auf eine andere, sentimentale Darstellungs modalität ein. Didaktisch motiviert ist dagegen der Verweis auf Veteranen als ›moralische Vorbilder‹, der im Laufe der Konzertveranstaltung mehrmals angebracht wird. Dieser richtet sich in erster Linie an jüngere Generationen und Kinder; insbesondere Kinder – als Verkörperung der ungek ünstelten Emotion – werden in die Dramaturgie des Konzertes konsequent einbezogen, um Authentizität und Ehrlichkeit im Glauben zu vermitteln und darüber hinaus eine generationsübergreifende Kontinuität der Erinnerung zu konstruieren. Ein prominentes Beispiel für die Konstruktion der historischen Kontinuitätslinie sowie der ›korrekten‹ Weitergabe der Erinnerung findet sich in der Mitte des Konzertes, d.h. in einem vorläufigen Höhepunkt der Handlung. Nach einem meisterhaften und amüsanten Matrosentanz gedenken die Moderatoren der Leningrader Blockade, welche genau vor 70 Jahren aufgehoben wurde. Nicht die zahlreichen Opfer stehen dabei im Mittelpunkt, sondern die Überlebenden und ganz besonders die Helden der Befreiung, deren Heldentaten in der feierlichen Rhetorik der Moderatoren als »beispiellos« bezeichnet werden (Das Große Festkonzert, 37:56). Im Hintergrund erklingt eine tragische Musik, die Kamera fokussiert die Leinwand, auf der über eine Live-Schaltung eine mit Orden behangene ältere Dame über die schwierige Zeit der Blockade zu erzählen beginnt: Heute begeht unser Land den Tag des Verteidigers des Vaterlandes. Der Tag des Verteidigers des Vaterlandes ist ein sehr wichtiger Tag, weil wir uns an diesem Tag an alle heldenhaften Traditionen des russischen Soldatentums erinnern. Wir ehren alle, die unser Vaterland verteidigen konnten. Ich war 19, als der Krieg begann. Ich war Studentin an der Fakultät für Geschichte der Leningrader Universität. Von den ersten Kriegstagen an haben wir alles getan, um die Truppen des Feindes nicht in die Stadt einzulassen. Wir haben alles getan, um unsere Stadt zu verteidigen. Die Bewohner der Stadt Leningrad haben alles getan, damit der Feind unsere Stadt nicht betritt. Ich habe diese schreckliche
Krieg, Kommerz und Kreml-Konzer te Blockade überlebt. Ich war an der Front. Ich weiß was es heißt, das Vaterland zu verteidigen. Niemals würde ich unserer Jugend […] wünschen, das zu erleben, was wir erlebt haben. Wir glauben fest daran, dass ihr [die junge Generation, M.S.] in der Lage sein werdet, unsere Heimat zu verteidigen, falls unserem Land einmal eine Gefahr droht […]. (Das Große Festkonzert, 38:03-39:08)
Die Geschichte, die in Form einer oral history personalisierend und vereinfachend dargeboten wird, geht in die Belehrung über – gefolgt von der Aufforderung an Jugendliche, die Heldentaten vergangener Zeit nicht zu vergessen und sich an diesen ein Beispiel zu nehmen. Das kollektive Wir der sowjetischen Helden, ihr positives Bild wird somit auf die jüngere Generation projiziert. Die Kamera fängt emotionale, zum Teil weinende Gesichter im Publikum ein und filmt sodann die gesamte Bühne, auf der ein älterer Sänger mit einem kleinen Mädchen auftritt. Es folgt das Lied Kinder des Krieges, dessen Aufführung alle vorhergehenden Inszenier ungen, vor allem in Bezug auf die emotionale Wirkung, zu übertreffen scheint (Das Große Festkonzert, 40:00-43:50). In der Inszenierung des Liedes kommt der sowjetische Mythos der Großen Familie deutlich zum Ausdruck. Wie schon zu Beginn des Konzertes treten nach und nach Kinder auf die Bühne. Sie stellen jedoch keine zukünftigen Soldaten mehr dar, sondern Kinder, die den Krieg erlebt haben. Ihre Kleidung ist zerschlissen, die Gesichter verschmutzt, in den Händen halten sie Plüschtiere. Der ältere Sänger übernimmt symbolisch die Vaterrolle, indem er ein Mädchen die ganze Zeit an der Hand hält und den Ton angibt, während die anderen Kinder, die bezeichnenderweise verschiedenen Ethnien angehören, den Refrain im Chor mitsingen (Abb. 5 und 6).
Abbildung 5
Abbildung 6
Charakteristisch ist, dass im Text russische Mütter besungen werden, die während des Krieges nicht nur eigene Kinder aufziehen mussten (»wir wurden von den russischen Frauen in den Schlaf gesungen/ Tausende Tage werde ich mich noch an die Hände der fremden Mütter erinnern«, Das Große Festkonzert, 42:0042:11). Symptomatisch verschmilzt im Lied die Liebe zur (entpersonalisierten)
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Mutter mit der Liebe zur Mutter-Heimat16 (»die höllische Nacht trübte unsere Augen, immer wieder fiel die Asche auf die Erde/ aber die Mutter-Heimat war uns stets die Hoffnung und die Rettung«, Das Große Festkonzert, 42:12-42:54), womit erneut kollektive Werte über die individuellen gestellt werden. Die umfassende Inanspruchnahme der Zuschauersinne in Wort, Bild und Ton krönt das letzte Lied. Anstelle eines bekannten sowjetischen Kriegsliedes, welches traditionell die Kreml-Konzerte abschließt, wurde erstmalig ein neues, speziell zum Feiertag verfasstes Lied aufgeführt. Der Marsch des Verteidigers des Vaterlandes, die Apotheose der russischen Streitkräfte schlechthin, wiederholt die Rhetorik der politischen Rede von Vladimir Putin, die zu Beginn des Konzertes zu hören war: Vorwärts, zusammen mit Russland, Zweifel beiseite! Es gibt keinen Weg mehr zurück. Auf Euch blicken Menschengenerationen, Vom Himmel blicken Generationen der Soldaten, die Russland, ja Russland treu sind. Mit der Verteidigung der Heimat habt Ihr Euer Schicksal und Euer Herz verbunden, als Ihr geschworen hattet, die Heimat zu verteidigen. So seid Ihr dieser Ehre würdig […]. Euer Reichtum ist Ehre und Ruhm. Ihr habt eine gefährliche, aber eine vom Gott gesegnete Aufgabe. Und ewig bleibt das Vaterland bestehen, Solange es seine Verteidiger hat. […] Die Heimat hat ein einzigartiges Schicksal in Eure Hände gelegt, Beschütze Euch Gott, die heilige Macht, Beschütze Euch Gott, die heilige Macht, Gott, erhöre, erhöre mein Gebet! (Das Große Festkonzert, 81:18-85:25)
16 | Sprachlich gesehen bezeichnet das russische weibliche Substantiv Rodina (Heimat) einen persönlichen und emotionalen Heimatsbegriff, während mit dem sächlichen Substantiv Otečestvo (Vaterland) eine überindividuelle Semantik assoziiert wird. In etymologischer Hinsicht suggerieren beide Lexeme eine Nähe und Privatheit (vgl. russ. rodnoj: verwandt; otec: Vater). Im Kontext der sozialen Konstruktion der Sowjetzeit wurde diese Bedeutung auf abstrakte Vorstellungen wie Staat, Partei und Führung übertragen. Bis heute werden die Lexeme Rodina und Ote č estvo in offiziellen Kontexten groß geschrieben. Die Großschreibung verstärkt hier genauso wie in der russischen Bezeichnung Velikaja Otečetvennaja vojna (Großer Vaterländischer Krieg) eine ausgesprochen hohe Wertigkeit dieser Begriffe.
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Entsprechend dem offiziellen Kanon hört das Publikum diesem Lied stehend zu. Die ergreifende Wirkung des Liedes unterstützt die Inszenierung einer Militärparade, die den Eindruck erweckt, die Soldaten würden von der Bühne direkt in den Krieg ziehen (Abb. 7 und 8).
Abbildung 7
Abbildung 8
Die Öffentlichkeit wird erneut als eine einheitliche Masse codiert, der individuelle Körper wird vom Kollektivkörper überlagert. Bezeichnend ist, dass die wichtigsten Topoi des Konzertes hier in komprimierter Form zusammenkommen. Die Vaterlandsverteidiger, die in verschiedenen Aufführungen als Söhne der Heimat stilisiert wurden, werden nun auf der Bühne von einer blonden Sängerin in einem langen weißen Kleid und mit einem Brautkranz angeführt. Die Nähe zur Heimat lässt sich in dieser Inszenierung nicht so sehr als emotionale Liebe zur Mutter, sondern als erotische Liebe zur Braut deuten. Die Vorstellung von Heimat als zugleich Mutter und Braut verbindet dabei ein Aspekt: beide sind Objekte emotionaler Nähe für die Verteidiger des Vaterlandes. Der Topos der Heimat, der im Konzert immer wieder an den archaischen Topos der Mutter-Erde anschließt, ist in Bezug auf die Wehrhaftigkeit des Staates von Belang. Die Bereitschaft, für das Vaterland zu sterben, d.h. die Opferung des eigenen Lebens als höchste Form der Pflichterfüllung, gehört zum Schlüsselelement im sowjetrussischen Selbstbild. Zur Beibehaltung alter ideologischer Instrumente zählt ferner die Vorstellung von einem bedrohten Kollektiv. In der mythischen Welt sowohl der sowjetischen Massenlieder als auch jener der aktuellen patriotischen Popmusik sind Gut und Böse strikt voneinander getrennt. Der Raum jenseits der russischen Staatsgrenze wird als dunkel und finster dargestellt, während der eigene Raum als ein heller, lichterfüllter und vor allem als ein großer Raum kartiert wird. Die Thema tisierung des ›jenseits der Grenze‹-Topos, dessen Inhalt nicht näher differenziert wird, ist konstitutiv für das Freund-Feind-Schema, welches im gegenwärtigen politischen und medialen Diskurs Russlands aktualisiert wird. Die Funktion des Feindbildes besteht typischerweise nicht nur in der »Konstruktion des Raums des Glücksseeligen und de[m] immanente[n] Aufruf zur permanenten Wach samkeit« (Brüggemann 2002: 63), sondern auch in der plausiblen Begründung für Fehlschläge und Katastrophen (vgl. Gudkov 2015: 77, 86, Jablokov 2015: 107f.). Im narrativen Sujet des Konzertes sind der Staat wie das Volk in Russland fried-
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liebend; an die kollektive Wachsamkeit erinnere lediglich der (konturlose) Feind, der ›traditionelle‹ russische Werte (vgl. dazu auch Spanger 2014) bedroht. Daher verwundert es nicht, dass durch die Sakralisierung des eigenen Raums seine Verteidigung durch Grenzschützer zu einer heiligen Sache erhoben wird. Mit der dichotomen Weltteilung ist darüber hinaus das Motiv der Mobilisierung verbunden, welches sich durch das gesamte Konzert wie ein roter Faden zieht und in der Schlusssequenz auf die Spitze getrieben wird. Einer der wichtigsten und für den russischen Erinnerungsdiskurs besonders typischen Wertebegriffe, auf den bei der pompösen Inszenierung der Militärparade ganz offensichtlich rekurriert wird, ist Patriotismus. Das sich damit artikulierende Bedürfnis nach Liebe zum Vaterland und einer Einheit von Staat und Volk zielt dabei auf die Herstellung eines solidarischen Wir ab, welches als eine loyale Kraft nach innen verstanden wird und dem disparaten Sie gegenübersteht. Die Konstruktion der kollektiven – und davon ausgehend auch der persönlichen – Identität ist in Russland von der imperialen Dominanz geprägt. Diese wird auf die Sowjetzeit bezogen, mit dem Großmachtbewusstsein des Zarismus verbunden und mit neuen politischen Inhalten aufgeladen. Die Anpassung der alten Muster an die neue Zeit kommt exemplarisch und besonders deutlich in der Aufwertung der Orthodoxie zum Ausdruck. Die Festzeremonien zeigen historische Kontinuität auf und stellen darüber hinaus die höchste Stufe der Staatsrepräsentation dar. Im als Gesamtkunstwerk organisierten Fest kommen Wort, Bild, Musik, Bewegung, lebendige Darstellung und Dramaturgie zusammen. Das dadurch entstehende Gefühl der Einigkeit erweckt die Vorstellung von einem Gesamtkörper. Die Inszenierung einer Militärparade erinnert an die feierliche Liturgie und das orthodoxe Konzept der sobornost’, in dem die Perspektiven von Individuum und Gemeinschaft verbunden werden. Die ästhetische Erfahrungs modalität des Festkonzertes lässt sich somit auf der gleichen Ebene verorten wie etwa religiös fundierte Rituale, welche das individuelle Selbstempfinden in ein gemeinschaftlich geteiltes Gefühl einbetten. Die Kreml-Konzerte greifen bekannte Klischeebilder sowie tradierte nationale Werte auf und verwenden für deren Inszenierung gegenwärtige populärk ulturelle Muster. Die Sowjetnostalgie bildet die Basis für die Narration. Die den Rezipienten vertrauten Erzählungen und Mythen werden mithilfe einer aufwendigen Produktion, mit großen Themen und im großen Format dramaturgisch in Szene gesetzt. Als Folge entstehen Massenspektakel, in denen Symbole der Großmacht (und zunehmend auch der Orthodoxie als Stütze des Staates) den Stoff bilden, während Hollywood »die Inszenierung und das Feuerwerk [liefert]« (Dubin 2005: 232). Die Feierlichkeiten bieten dabei nicht nur einen faktischen, sondern vor allem einen emotionalen Rahmen, der die Mitwirkung der Zuschauer einfordert (vgl. Scharlaj 2014: 235). Erzielt wird somit die Identifikation mit dem eigenen Land, das im TV im positiven Licht gezeigt wird. Emotional und moralisch bedient das Genre des Kreml-Konzertes den kollektiven Stolz auf eine ruhmreiche
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Vergangenheit. Im Kontext der Ukraine-Krise verkörpern die Inszenierungen im Konzertsaal des Kreml zudem die neu gewonnene Stärke Russlands. Nach Lev Gudkov bildet die untrennbare Verbindung von nationaler Größe und Gewalt über das Individuum den Kern der von Traumata geprägten postsowjetischen kollektiven Identität: »Das alltägliche Gefühl der Erniedrigung und der Wehrlosigkeit gegenüber der Willkür des Staates wird durch einen Kult der Stärke und der Gewalt kompensiert« (2013: 284). Die Symbole der kollektiven Einheit fordern dazu auf, stolz auf die Militärmacht des Imperiums zu sein. Die Rituale des nationalen Ruhms festigen das Gefühl der Überlegenheit über andere Nationen und fordern Bereitschaft zur Mobilisierung (vgl. ebd.). Gleichzeitig schließen sie eine rationale Kritik am sakralen Status der Großmacht aus.
F azit Die Festkonzerte stellen ein mächtiges Werkzeug dar: Sie fungieren als Imageund Prestigeinstrument staatlicher Politik und sind als Teil einer effizienten Polittechnologie zu betrachten. Der russländische Staat nutzt die Feiertage wie den Tag des Verteidigers des Vaterlandes und den Siegestag, um seinen gegenwärtigen und zukünftigen Geltungsanspruch in der Welt durch den Verweis auf eine große nationale Vergangenheit zu untermauern. Die ›Vermarktung‹ des Hurra-Patriotismus und der Stärke Russlands im TV geht dabei mit der Kommerzialisierung der historischen Ereignisse einher. Wenn Unternehmen Aktionen zur Ehrung der Veteranen, des Heeres und des Sieges zu kommerziellen Zwecken durchführen, um damit das eigene Prestige und Image zu verbessern, so spricht das dafür, dass die oben beschriebenen Inszenierungen ein effektives Medium sind. Zu beobachten ist dennoch Folgendes: Anstelle des reinen Gedenkens an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg tritt heute immer vehementer die äußere Form, der Ritus in den Vordergrund. Offizielle Diskurse erinnern in erster Linie an die Errungenschaften, weniger an die Verluste in bedeutenden Kriegen, womit sie das ›unbesiegbare‹ Russland hervorheben. Dabei, so scheint es, reagiert die russische Regierung mit einer Politik der starken Bilder auf die immer größer werdende Entfernung von historischen Ereignissen. Um das Defizit an lebendiger Zeugenschaft und das Fehlen der Spannkraft einer selbsterlebten Geschichte zu kompensieren, wird um die überlieferte historische Erzählung eine äußere Hülle aus kulturellen Symbolen und Zeremonien gebaut (vgl. Lysceva 2006: 179). Die mythische Symbolsprache der Staatsmacht sucht auch im Kontext der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine und in Syrien weniger die rationale Überzeugung, da es ihr vielmehr um die Ausdrucksstärke der symbolisch aufgeladenen Geschichtserzählungen und die emotionale Wirkung der Bilder geht. Gerade in Krisenzeiten überwiegt das Positive in den medialen Selbstinszenierungen des Staates. Die Aufwertung des Sieges zu einem zentralen Baustein der nationalen Identität Russlands scheint in der Übertragung auf den we-
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nig glanzvollen Alltag in Zeiten der wirtschaftlichen Schwäche der Bevölkerung Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben. Zusammenfassend lassen sich die Festkonzerte als politische PR-Aktionen interpretieren. Zugleich stellen sie ein an ein Massenpublikum gerichtetes Unterhaltungsangebot dar. Dank der Narrativität, formalen Einfachheit und leichten Verständlichkeit prägen sich die im Konzert inszenierten Lieder, sofern sie nicht bereits aus der Sowjetzeit bekannt sind, schnell ein und beteiligen den Hörer als Mit-Sänger. Die Show als dominanter Modus des kommerzialisierten Fernsehens macht dieses TV-Genre im Wesentlichen aus und zieht die Zuschauer an. Eine von der politischen Führung vorgegebene Kanonisierung, eine Totalisierung des ästhetisch-kulturellen Sinns, die vorgefertigten Wertemuster, die immer wieder reproduzierte Vereinfachung und die Exklusion des Anderen verbinden sich hier auf eine bemerkenswerte Weise mit Übertreibung und Exaltiertheit. Eine der wichtigsten Funktionen der glamourösen Geschichtsinszenierungen besteht dabei in der Mobilisierung eines Gemeinschaftsgefühls. Die Homogenisierung der Rezipienten im Kontext des Fernsehens kann mit Boris Dubin (für Russland) als Nivellierung beschrieben werden. Die Konzerte, die die offizielle Rhetorik in unterhaltenden Formaten formelhaft wiederholen, konstruieren einen ›Durchschnittszuschauer‹. Für das Gelingen der Transformation des Fernsehzuschauers zu einem systemkonformen everyman macht Dubin die unterentwickelten Organisationen des sozialen Lebens im Sinne einer Zivilgesellschaft verantwortlich (vgl. 2010 und 2014). Mit Hartmute Trepper gesprochen: »Indem das Fernsehen die Illusion einer ›Teilhabe‹ am gesellschaftlichen Geschehen erzeugt, lässt es ein mögliches Bedürfnis nach realer gesellschaftlich-politischer Einmischung absterben« (2002: 18). Die Vergangen heit wird in unzähligen Unterhaltungsshows und Serien zerredet und zu einem Glamour-Thema gemacht (vgl. Kanzler und Scharlaj 2017). Dies fördert nach Lev Gudkov auch die Bereitschaft, »die Zumutungen der Gegenwart zu ertragen, und schwächt den Willen, Verantwortung zu übernehmen und sich politisch zu engagieren« (2013: 295). Wie die alte sowjetische Darstellung des Krieges im kollektiven Gedächtnis basiert auch die neue russländische Erinnerung auf »Großmachtphantasien, sozialer Passivität und Isolationismus, den Ingredienzen autoritärer Regime« (Dubin 2005: 219). Die öffentliche Meinung wird mithilfe des Fernsehens sowie mobilisierender und integrativer Symbolik gelenkt. Wie sehr das vom Staat vorgeschlagene Identifikationsangebot vom Einzelnen angenommen wird, bleibt jedoch fraglich. Die Zustimmung zur offiziellen Geschichtspolitik und dem damit verbundenen Konstrukt der positiven nationalen Identität kann einen rein zeremoniellen, imitativen Charakter haben. Denn gegen das Äußere der staatlichen Massenkultur wehrt sich – wie schon zu Sowjetzeit – die Parallelkultur bzw. die Alternativkultur. Die Übernahme der Muster einer monostilistischen Kultur impliziert zwangsläufig den Zweifel an den vermeintlich ewigen Wahrheiten der offiziellen Geschichtsschreibung.
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Der Star als Plattform Populärkultur und Medienwandel am Beispiel von Cyber-Star Hatsune Miku Yasuko Nunokawa und Joachim Scharloth »Stars sind pop personified« verdichtete die Kommunikationswissenschaftlerin Katrin Keller (2009: 339) die zentrale Funktion von Stars für die populäre Kultur. Stars sind demnach Personifikationen von medialen Wirklichkeitsentwürfen. Sie machen diese Wirklichkeitsentwürfe durch medial vermitteltes und vielfach rezipiertes Handeln für ihre Fans erleb- und erwerbbar. Kellers Funktionsbestimmung verweist bereits darauf, dass Medien eine zentrale Rolle bei der Konstitution des Phänomens ›Star‹ sind. In diesem Beitrag möchten wir die Veränderung in der Funktion von Stars im Kontext des gegenwärtigen Medienwandels nachgehen, den wir sehr vorläufig und grob als Digitalisierung fassen möchten. Am Beispiel des kollaborativ entwickelten Cyber-Stars Hatsune Miku wollen wir diskutieren, wie sich das Verhältnis von Wirklichkeitsentwurf und Aneignung durch Fanpraktiken in digitalen Medien radikal verändert und was dies für die identitätsbildende Funktion der Populärkultur bedeutet. Wir verstehen Populärkultur in unserem Beitrag entsprechend weder als eine von der Kulturindustrie erzeugte Massenkultur noch als Volkskultur im Sinn einer akteurszentrierten, der elitären Kultur entgegengesetzten Kultur der einfachen Leute. Vielmehr nehmen wir die technisch-medialen Bedingungen für die Genese des Phänomens Star im Zeitalter ubiquitärer Vernetztheit in den Blick. Hierfür ist es nötig, zunächst den Begriff des Stars und die Funktion der Medien für die Entstehung des Phänomens Star präzise zu fassen. Im Anschluss werden wir die technikgetriebenen Veränderungen der Öffentlichkeit in den Blick nehmen, den sich daraus resultierenden neuen Typ des Plattform-Stars am Beispiel Hatsune Mikus bestimmen um schließlich anhand der Fanpraktiken danach zu fragen, inwiefern sich dadurch die Funktionen von Stars in der Populärkultur wandeln.
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Z um B egriff
des
S tars
Die Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Star-Begriffs haben ihren Ursprung einerseits darin, dass lange versucht wurde, unscharfe Konzepte wie ›Charisma‹, ›Persönlichkeit‹ oder ›Präsenz‹ zu essentialisieren und zu universellen definitorischen Merkmalen des Starseins zu machen, andererseits in der mangelnden Abgrenzung des Star-Begriffs gegenüber verwandten Konzepten wie ›Held‹, ›Idol‹, ›Prominenter‹ oder ›Vorbild‹ (vgl. Lowry 1997: 10). Die Star-Forschung ist Teil der Celebrity Studies, die sich mit der Konstruktion, Zirkulation und den Manifestationen von Berühmtheit und Prominenz im Allgemeinen beschäftigen. In ihnen gibt es mehrere Ansätze zur begrifflichen Differenzierung des Untersuchungsfeldes. So unterscheidet der Kommunikationswissenschaftler Carlo Michael Sommer ›Idol‹ und ›Star‹ im Hinblick auf das jeweils spezifische Verhältnis von Persönlichkeit und Rolle. Während beim Idol Persönlichkeit und Rolle als weitgehend identisch wahrgenommen werden, also die »biographische Person […] direkt und weitgehend im Rollen-Image« (Sommer 1997: 115) aufgeht, dominiert beim Star im engeren Sinn die konstruierte Persönlichkeit die Rollen insofern, als der Star unterschiedliche Rollen virtuos füllen kann, wobei er diese Rolle qua seiner Persönlichkeit immer transzendiert und in ihnen als Persönlichkeit sichtbar bleibt (vgl. Sommer 1997: 115f.). James Monaco unterscheidet in seiner Typologie ›Helden‹ (heroes), ›Star‹ und ›Quasare‹ (quasars) (vgl. 1979: 10ff.). ›Helden‹ sind dadurch charakterisiert, dass sie durch tatsächlich erbrachte Leistungen Bekanntheit erreicht haben. ›Stars‹ sind dagegen Individuen, die aktiv an der Produktion öffentlichen Interesses in ihren Personifikationen arbeiten. ›Quasare‹ schließlich sind nach Monaco Menschen, die, ohne es zu wollen, zu öffentlichen Figuren und zum Gegenstand medialer Berichterstattung geworden sind (vgl. Andrews und Jackson 2011: 2). Gemeinsam ist diesen begrifflichen Differenzierungen, dass der Star jeweils neutral im Hinblick auf Leistungen oder die Erfüllung oder Verkörperung wesentlicher gesellschaftlicher Werte bestimmt wird. Vielmehr ist es das spezifische Management des Verhältnisses von öffentlichen Rollen und Persönlichkeitsinszenierungen, die den Star von anderen sozialen Kategorien des Prominenten unterscheidet. Einig sind sich die Celebrity Studies darin, dass der Star historisch gesehen eine junge soziale Kategorie ist, die ihre Ursprünge im frühen 20. Jahrhundert hat und insbesondere durch das Star-System der amerikanischen Filmindustrie befördert wurde (vgl. Schickel 1985: 23, Dyer 1979, DeCordova 1990). Dieses Starsystem hat sich freilich weiterentwickelt und sich verwandelt in a much larger ›culture of celebrity‹ that extends massive fame not only to film stars and professional athletes or pop musicians, but also to the legions of ›minor celebrities‹ necessary to regularly replenish television talk shows, fashion catwalks, award presentations, and ›special guest‹ appearances on weekly sitcoms. (Creekmur 2013: 508)
Der Star als Plattform
Nach diesen knappen begrifflichen und historischen Abgrenzungen sollen im Folgenden definitorische Merkmale des Starbegriffs zusammengetragen werden, die als Grundlage für die weiteren Überlegungen dienen. Der Medienwissenschaftler Jens Ruchatz definiert den Star als »Person, die durch ihre öffentliche Darstellung, ihre Erfüllung einer performativen Rolle, bei einem großen Publikum ein übergreifendes Interesse an ihr als ›Mensch‹ – und das heißt vor allem an ihrer Privatexistenz – weckt« (Ruchatz 2001: 333). Diese Definition greift die oben referierte spezifische Ausgestaltung des Verhältnisses von Rollenverkörperung und Persönlichkeit auf, die den Star vom Idol unterscheidet.1 Dabei sind ›Persönlichkeit‹ ebenso wie der Status als Star soziale Konstrukte, die sich aus dem Zusammenspiel von semiotischen Praktiken ergeben (vgl. Sommer 1997: 114). Ruchatz betont die Rolle der Medien, wenn er feststellt, ›Individualität‹ werde konstituiert durch »die mediale Beobachtung einer prominenten Person, die auf ihre Einheit und Unverwechselbarkeit hin perspektiviert wird« (Ruchatz 2004: 175). Die vielfältig miteinander vernetzten Ermöglichungsbedingungen und Faktoren dieses Konstruktionsprozesses hat Werner Faulstich herausgearbeitet. Für ihn ist ›Star‹ ein ›relationaler Begriff‹ und dies in vierfacher Hinsicht. Erstens ist der Star bestimmt durch seine Beziehung zu ›anderen Vertretern derselben Personengruppe‹ und zwar insofern, als er aus dieser Personengruppe hervorgehoben ist, beispielsweise als ein Schauspieler mit besonderen Qualitäten oder als eine Musikerin von außerordentlicher Expressivität. Zweitens kann sich diese Zuerkennung einer herausgehobenen Position erst realisieren im Verhältnis zu einer ›Gruppe, die diese Star-Einschätzung vertritt‹. Der Star wird also nur durch die Augen der Rezipienten bzw. derer, die über ihn als Star sprechen und berichten, zum Star. Drittens bedarf es eines bestimmten zeitlichen, ökonomischen und sozialen Bezugsrahmens, der die Konstruktion und Verwertung des Stars ermöglicht und begünstigt. Denn nur, wenn eine Person für ihre Fans Erlebniswelten erschließt oder die Werte der Fangruppe verkörpert, kann sie als ›Star‹ anerkannt werden. Als vierte Relation, die die Genese des Stars ermöglicht, nennt Faulstich die »Beziehung zu einem bestimmten Distributionsmechanismus bzw. Medium« (Faulstich 1997: 155). Die mediale Vermitteltheit bedingt auch eine Unnahbarkeit: Der Star wird sichtbar, aber nicht greif bar; oder in den Worten des Kunsthistorikers Michael Schwarz: »Im Fernsehen, auf Handzetteln, T-Shirts und Devotionalien anderer Art zeigen Stars der Unterhaltungsindustrie Präsenz und bleiben, weil nur im Medium greif bar, immer auf Distanz.« (1997: 195)2 1 | Auch Knut Hickethier definiert: »Als ›Star‹ ist [...] eine Person zu verstehen, die durch ihre körperliche Präsenz, ihr Auftreten, ihre Gestik und Mimik nicht nur eine Rolle glaubhaft verkörpern kann, sondern darüber hinaus auch noch ein Publikum zu faszinieren und auf seine Person zu fixieren weiß« (Hickethier 1997: 31). 2 | Für den Kommunikationswissenschaftler Peter Ludes bedingt die Genese der Massenmedien die Notwendigkeit einer expressiven Kommunikationskompetenz auf Seiten
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Ein Star ist demnach die soziale Konstruktion einer herausgehobenen und auch in unterschiedlichen Rollen unverwechselbaren Person, deren Geltung sich semiotischer Praktiken von unterschiedlichen Typen Dritter verdankt. Indem Medien den Star als Menschen sichtbar zu machen vorgeben, entrücken sie ihn zugleich dem direkten Zugriff. Fans machen sich durch den Vollzug von Fanpraktiken die vom Star verkörperten bzw. dem Star zugeschriebenen Wirklichkeitsentwürfe und Werte zu eigen. Sie machen so den Star zu einem Teil ihres eigenen Gruppenverständnisses, freilich zu einem herausgehobenen Teil, und arbeiten damit selbst an der sozialen Konstruktion des Stars mit. Es sind diese komplexen Kommunikations- und Ratifizierungsprozesse, die es nahelegen, den Begriff des ›Image‹ als zentrale analytische Kategorie einzuführen. Denn ähnlich wie Erving Goffmans face besteht das ›Image‹ in der semiotisch vermittelten Anerkennung von Verhaltensstrategien, die in der Zuerkennung eines positiven sozialen Wertes resultieren.
D as S tar -I mage : M ediale V ermittlung
und
R ezeptionspraktiken
Der Begriff des Star-Images wurde vom Filmwissenschaftler Richard Dyer (1979, 2000) geprägt. Er entwickelte ihn aus der Erkenntnis heraus, dass sich das, was ein Publikum über einen Star denkt, nicht allein dessen öffentlichem Handeln verdankt. A film star’s image is not just his or her films, but the promotion of those films and of the star through pin-ups, public appearances, studio hand-outs and so on, as well as interviews, biographies and coverage in the press of the star’s doings and ›private‹ life. Futher, a star’s image is also what people say or write about him or her, as critics or commentators, the way the image is used in other contexts such as advertisements, novels, pop songs, and finally the ways the star can become part of the coinage of everyday speech. (Dyer 2000: 604f.)
Entscheidend an diesen Ausführungen ist, dass das Verhältnis zwischen Star und Publikum ausschließlich auf einer diskursiven Ebene konstituiert wird (vgl. Marshall 1997: 90). In den Worten der Kommunikationswissenschaftlerin Erin Meyers: »The celebrity, therefore, is an intertextual sign informed by multiple sources in multiple ways.« (2009: 892) Entsprechend gibt es auch kein richtiges, falsches oder fertiges Image eines Prominenten; vielmehr gehört es zur Star-Kultur, dass die Öffentlichkeit eine Vielzahl an teils sich widersprechenden Images aus einer Vielzahl unterschieddes Stars, der nur durch diese Fähigkeit eine an Max Webers Typus der charismatischen Herrschaft angelehnte außeralltägliche Wirkung entfalten kann (vgl. 1997: 78f.).
Der Star als Plattform
lich zusammengesetzter Textkonvolute konstruiert (vgl. Meyer 2009: 894). Für das Publikum ist der Star als Image relevant, nicht als eine reale Person (vgl. Lowry 1997: 15), wobei das wahre Leben der Star-Person ähnlich einer regulativen Idee von Bedeutung ist: [I]t is the tension between the two sides of the persona, larger-than-life and the ›real‹ person, coupled with tension between the possibility and impossibility of knowing the truth about her life which makes celebrities so intriguing to the public and such apt ideological symbols. (Meyers 2009: 894)
Das Konstrukt der ›wirklichen Person‹ ist also ein Element im Prozess Imagebildung (vgl. Lowry 1997: 16). Zugleich produziert die Unmöglichkeit, das Bild vom Star im Sinne eines wirklichkeitsgetreuen Abbilds zu vervollständigen, die Unerreichbarkeit des Stars. Die Unerreichbarkeit wird auch im Fall einer persönlichen Begegnung mit dem Star nicht zugunsten von Nähe aufgelöst, weil »das Moment der Verehrung, das eine hierarchisch determinierte Situation voraussetzt, nicht durch gleichberechtigte Interaktion aufgehoben wird« (Wegener 2008: 22). Die vieldeutigen bzw. interpretationsoffenen, medienvermittelten Zeichen werden von den Rezipienten durch unterschiedliche Praktiken angeeignet. Diese Praktiken reichen vom Lesen von Nachrichten, die sich auf das Fanobjekt beziehen, über den Besuch von Live-Events bis hin zu Fanfiction und Cosplay. Fans bauen über diese Praktiken eine parasoziale Beziehung zu ihrem Fanobjekt auf (vgl. Otte 2010: 74).3 Diese Beziehung ist durch mehrere Asymmetrien geprägt: So kennt das Fanobjekt den Fan im Normalfall nicht und interagiert, wenn überhaupt, medienvermittelt und mehrfachadressierend mit dem Fan als Angehörigem einer Gruppe (beispielsweise in Botschaften an die Fans). Dies macht jede Form der Interaktion des Fans mit dem Fanobjekt zu einer nicht-reziproken, hierarchischen Interaktion. Ein Star, so können wir festhalten, ist eine Person, der ein Star-Image zugeschrieben wird. Dieses Star-Image ist ein Konstrukt, das sich der Produktion und Rezeption starbezogener Zeichen verdankt. Diese Zeichen werden durch die Star-Person selbst, durch Medien oder durch Fans produziert und durch den Vollzug unterschiedlicher Praktiken sinnhaft. So sehr aber das Star-Image ausschließlich Produkt semiotischer Prozesse ist, so wenig kommt das Startum ohne die Annahme einer realen Person als Träger dieses Images aus. Diese Annahme ist sogar eine zentrale Ressource für die Produktion des Star-Images, weil sie jene Leerstellen im Wissen über das Star-Objekt erzeugt, die Fanpraktiken zu füllen vorgeben, jedoch niemals vollständig füllen können. 3 | Als Fan definieren Roose, Schäfer und Schmidt-Lux »Menschen, die längerfristig eine leidenschaftliche Beziehung zu einem für sie externen, öffentlichen, entweder personalen, kollektiven, gegenständlichen oder abstrakten Fanobjekt haben und in die emotionale Beziehung zu diesem Objekt Zeit und/oder Geld investieren« (2010: 12).
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Die bisherigen Ausführungen haben die zentrale Rolle der Medien beim Aufbau eines Star-Images aufgezeigt. Im Folgenden soll untersucht werden, welchen Einfluss ein Medienumbruch, wie er durch die Digitalisierung ausgelöst wurde, auf die Konstruktion von Star-Images hat und wie er die Vorstellung davon, was ein Star ist, beeinflusst.
M edienumbrüche
im
Z eitalter
der
D igitalisierung
Unter dem Begriff der Digitalisierung verstehen wir das Zusammenwirken mehrerer tiefgreifender Wandelprozesse, von denen wir drei besonders profilieren wollen. 1.
Die Verdatung der Welt: Immer mehr Informationen werden in ein digitales Format gebracht oder schon in digitaler Form produziert (born digital). ›Digital‹ bedeutet ›abzählbar sein‹, d.h. dass Informationen in eine numerische Form gebracht und mit mathematischen Methoden analysierbar werden. Parallel zur Entstehung von Big Data ermöglicht die Digitalisierung damit auch 2. die Zusammenführung und damit kombinierte Analyse von Daten unterschiedlichster Provenienz in Echtzeit: die Repräsentation unterschiedlichster Informationstypen in einem numerischen Modell macht es möglich, unterschiedlichste Informationen durch Algorithmen miteinander zu verknüpfen und zu analysieren. Dies ist die Grundlage für 3. die zunehmende Emanzipation der Daten von dem Zweck ihrer Produktion: war bislang der Auf bau eines Datenarchivs beispielsweise eng mit einem Zweck verknüpft, der in der Struktur des Archivs und seiner Findemittel sichtbar wurde, erlaubt die Digitalisierung nun jede in einem mathematischen Modell mögliche Anfrage an die Daten und damit die Emanzipation des Nutzers von den Strukturen des Archivs. Damit verbunden ist freilich auch ein Kontrollverlust im Sinne einer Verfügungsmacht über die Daten, die man hervorgebracht hat. (Vgl. Scharloth, Eugster und Bubenhofer 2013) Die Folgen dieser Prozesse für die Konstruktion von Öffentlichkeit hat der Medienwissenschaftler Christoph Neuberger (2009) herausgearbeitet. Der vereinfachte kommunikative Zugang zur Öffentlichkeit, der jeden zum Sender und jede Botschaft in Echtzeit erreichbar macht, ist dabei eine der entscheidenden technikgetriebenen Entwicklungen. Sie bedingt eine Verschiebung der Rollen von Produzenten und Publikum. In der durch die traditionellen Massenmedien hergestellten Öffentlichkeit hatten Journalisten die Rolle der Gatekeeper: Sie verfügten über exklusive Kontakte zu Quellen und verfügten über die Mittel, Botschaften an das Publikum zu senden. Das Publikum hatte dagegen nur wenige Möglichkeiten, sich aktiv an der Konstruktion der Öffentlichkeit zu beteiligen und auch dann nur wie im Fall des Leserbriefs durch das selegierende Nadelöhr der Mas-
Der Star als Plattform
senmedien. Die Digitalisierung verändert die technischen Produktionsbedingungen radikal und zerstört das Gatekeepermonopol des Journalismus. »Die öffentliche Kommunikation kann sich dadurch von einer sozial selektiven, linearen und einseitigen zu einer partizipativen, netzartigen und interaktiven Kommunikation verändern« (Neuberger 2009: 39). Die veränderte Struktur der Öffentlichkeit, in der prinzipiell jeder zum Sender werden kann, bedingt freilich eine andere Aufmerksamkeitsökonomie. Während die traditionellen Massenmedien für jene Themen, über die sie berichteten, ein hohes Maß an Aufmerksamkeit garantierten, ist Aufmerksamkeit in der Netzwerk-Öffentlichkeit zu einem umkämpften Gut geworden. Die große Mehrheit der an der öffentlichen Kommunikation Beteiligten befindet sich im Long Tail und kann nur im Kontext von Netzwerkeffekten Aufmerksamkeit auf Botschaften lenken. Diese Entwicklung der Öffentlichkeit hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Konstruktion von Star-Images. Während es früher leichter war, das Image eines Stars durch gezielte Public Relations und damit durch eine Kontrolle über die über den Star produzierten Texte top down zu steuern, ist dies heute erheblich schwieriger geworden. Die Möglichkeit zur Produktion von Texten (im weiten semiotischen Sinn) und Medien (Fanpages, Fanforen, Youtube-Kanäle etc.) durch Fans hat bis zu einem gewissen Grad zu einem Kontrollverlust von Unterhaltungsindustrie und Massenmedien über das Star-Image geführt und zugleich die Genese eines neuartigen Typs von Star befördert, 4 den wir im Folgenden als Plattform-Typ bezeichnen wollen.
D er S tar
als
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Zum Begriff der Plattform Im November 2009 versuchte Publizist und Software-Entwickler Tim O’Reilly bei der Konferenz PayPal X Innovate die technikinduzierten Neuerungen zu erklären, die Wirtschaften im Internet auf ein neues Fundament stellen: Web 2.0 is the business revolution in the computer industry caused by the move to the Internet as a platform, and an attempt to understand the rules for success on that new platform. [...] Network effects from user contributions are the key to market dominance in the Web 2.0 era. (O’Reilly 2006)
Das interaktive Netz hat sich demnach zu einer Plattform entwickelt, in der Netzwerkeffekte Marktdominanz erzeugen. Unter Netzwerkeffekten versteht die Volkswirtschaftslehre die Steigerung des Nutzens eines Produkts durch die Nutzung gleicher oder ähnlicher Produkte durch andere Nutzer. Allerdings sind es 4 | Zu den unterschiedlichen textuellen Praktiken vgl. Klemm (2012: 8, 28).
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für O’Reilly nicht die reinen Netzwerkeffekte, d.h. die Nutzung eines fertigen Produkts durch eine größere Zahl von Kunden, sondern gerade auch deren aktive Beiträge zur Gestaltung dieses Produkts, die Marktdominanz herstellen und sichern. Dabei hat erst die Transformation des Internets in ein Internet der Plattformen diesen Beitrag der Nutzerinnen und Nutzer möglich gemacht. Der Begriff der Plattform hat seine Wurzeln in unterschiedlichen Feldern wie der Ökonomie und der Software-Entwicklung und erhält gerade dadurch seine Erklärungskraft für die in Rede stehenden Zusammenhänge. In den Wirtschaftswissenschaften wird der Plattform-Begriff für sogenannte Two-sided markets benutzt. Diese haben zwei unterschiedliche Nutzergruppen, die durch ihre Interaktion Netzwerkeffekte hervorbringen. Als Plattform bezeichnet man die Organisation, die es ermöglicht, dass die unterschiedlichen Nutzergruppen direkt miteinander interagieren können. Das Auktionshaus Ebay ist beispielsweise eine solche Plattform, die Käufer und Verkäufer zueinander bringt und die Art und Weise der Interaktion reguliert. Sie verdankt ihren Erfolg insofern Netzwerkeffekten, als die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Produkt zu finden, für Käufer steigt, wenn viele Verkäufer die Plattform nutzen, und umgekehrt Verkäufer gerne ihre Produkte anbieten, wenn sie eine große Anzahl Kunden und damit eine große Nachfrage vorfinden, die gute Preise garantiert. Damit Plattformen ihre Funktion erfüllen können, unterschiedliche Nutzertypen zusammenzubringen und diesen die Chance zu geben, eigene Beiträge zu leisten, müssen sie ein spezifisches Design aufweisen, das die dynamische Einbindung von Komponenten ermöglicht, zugleich aber auch eine Stabilität wahrt. Die Ökonomen Carliss Baldwin und Jason Woodard haben für die Beschreibung dieser Anforderungen das Konzept der Plattform-Architektur entwickelt: The fundamental feature of a platform architecture, in our view, is that certain components remain fixed over the life of the platform, while others are allowed to vary in cross-section or change over time. Thus, either by design or simply because it is the longest-lived component in the system, a platform embodies a set of stable constraints, or design rules, that govern the relationships among components. (2009: 23)
Baldwin und Woodard bestimmen Plattformen demnach als Set von Restriktionen bzw. Design-Regeln für Komponenten. Für die Software-Entwicklung hat Internetunternehmer Marc Andreessen drei Typen von Plattformen identifiziert, die sich darin unterscheiden, welche Art von Komponenten sie erlauben. Er bestimmt eine Plattform als ein System that can be programmed and therefore customized by outside developers – users – and in that way, adapted to countless needs and niches that the platform’s original developers could not have possibly contemplated, much less had time to accommodate. (Andreessen 2007)
Der Star als Plattform
Auch Andreesen zählt also die Ermöglichung von Netzwerkeffekten durch aktive Nutzerbeiträge zu den konstitutiven Eigenschaften einer Plattform und gründet seine Typologie von Plattformen auf die unterschiedlichen Grade von Restriktionen in der Plattformarchitektur. Die meisten Restriktionen weist der Plattformtyp Access API auf. Solche Plattformen erlauben zwar den automatisierten Zugriff auf Daten, der Code, der auf die Datensysteme zugreift, wird jedoch an einem anderen Punkt im Netz ausgeführt und nicht innerhalb des Plattform-Systems. Im Unterschied dazu erlaubt der Plattformtyp der Plug-In-API, dass Erweiterungsmodule, die die Funktionalität der Plattform erweitern, direkt in diese eingebunden werden. Beispiele hierfür sind Facebook, wo man so genannte Third-Party-Apps zulassen kann oder auch der Firefox-Browser. Die Erweiterung ist zwar dann Teil der Funktionalität der Plattform, die Ausführung des Codes erfolgt jedoch weiterhin außerhalb der Plattform auf den Servern des Plugin-Betreibers. Beim dritten Plattformtyp der Runtime Environment wird der Code der plattformfremden Applikation innerhalb der Plattform selbst ausgeführt. Entwickler laden ihren Code auf die Plattform; sie brauchen entsprechend keine eigenen Server mit eigenem Plattenspeicher (vgl. Andreessen 2007). Für Andreessen gehört die Zukunft jenen Plattformen, die als Runtime-Environment konzipiert sind, weil diese davon profitieren, dass die Eigenschaften der Plattform durch Nutzer und Entwickler dezentral und kollaborativ weiterentwickelt werden und so Netzwerkeffekte ermöglichen. Inwiefern nun kann das Konzept der Plattform auf das Starkonzept übertragen, ja als neues Modell des Startums im Web 2.0 profiliert werden? Dies wollen wir am Beispiel des J-Pop-Stars Hatsune Miku erläutern.
Hatsune Miku als kollaborative Plattform Hatsune Miku ist 1,58 Meter groß, wiegt 42 Kilogramm und ist 16 Jahre alt – und das seit zehn Jahren, seit sie als Maskottchen der Software Hatsune Miku vorgestellt wurde, einer von der im japanischen Sapporo ansässigen Firma Crypton Future Media entwickelten Stimm- und Sprachsynthese-Software für computergenerierte Musik. Diese Software setzt auf den Software-Synthesizer Vocaloid des japanischen Unternehmens Yamaha auf, der es erlaubt, Klänge zu erzeugen, die einem durch die menschliche Stimme hervorgebrachten Gesang ähneln. Mit dem Vocaloid-Editor kann durch die Eingabe von Text und Melodie Gesang synthetisiert werden. Dabei greift er auf ein erweiterbares Aussprache-Wörterbuch zurück und ermöglicht es, Betonung, Geschwindigkeit, Lautstärke oder Klangfarbe zu verändern und Effekte wie Vibrato hinzuzufügen. Die Klänge werden unter Verwendung einer Singer Library synthetisiert, einer Datenbank aus Sprachfragmenten (überwiegend einzelsprachspezifischen Phonemkombinationen), die von Sängern oder Voice Actors aufgezeichnet wurden.
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Hatsune Miku war zunächst nicht mehr als eine neue Singer Library für die zweite Version des Vocaloid-Synthesizers auf der Basis der Stimme von Voice Actress Fujita Saki. Eine Sängerin, die sich bereit erklärt hätte, ihre Stimme digitalisieren zu lassen, fand sich nicht, und so machte Crypton aus der Not eine Tugend und entwickelte eine künstliche Stimme, angelehnt an die Stimmen aus Animes und Computerspielen (vgl. Okada 2008).5 Neu war, dass die Software zusammen mit der Zeichnung einer virtuellen Figur als Trägerin der Stimme vermarktet wurde. Diese wurde vom japanischen Mangaka und Illustrator Kei Garō entwickelt und trug den Namen Hatsune Miku (初音ミク / 初音未来), was sich als »erster Klang aus der Zukunft« übersetzen lässt. Bei der Gestaltung der Figur hatte der Abbildung 1: Hatsune Miku, Künstler freie Hand, lediglich die FarbgestalIllustration von KEI tung sollte an das User-Interface des Vocaloid-Synthesizers angelehnt sein. Weil die Stimmsoftware nicht ausschließlich auf den Markt professioneller Musikproduzenten zielte (vgl. Tadashi), wurden auch dank der großen Beliebtheit der Vocaloid-Software im ersten Jahr nach dem Erscheinen des Softwarepakets am 31.8.2007 mehr als 40.000 Kopien verkauft. Die Nutzer der Software produzierten eine Unmenge von Titeln, sog. Doujin Ongaku, die sie unter anderem auf der Videoplattform Nico Nico Douga6 veröffentlichten. Viele von ihnen gaben als Interpretin Hatsune Miku an. Nico Nico Douga entwickelte sich zu einem Ort, an dem kollaborativ an Songs, Illustrationen und Animationen zu Hatsune Miku gearbeitet wurde (vgl. Okada 2010). Die Popularität, die der Figur Hatsune Miku aus diesem Erfolg zuwuchs, führte dazu, dass ihre Stimme auch in anderen Medien wie Computerspielen Verwendung fand und dass sie in Mangas als Figur verwendet wurde. Am 27. August 2008 veröffentlichte Victor Entertainment das Doujin-Album Re:package mit Hatsune-Miku-Liedern, das sich mehr als 20.000 mal verkaufte und so eine erste Platzierung in den Orion-Charts einbrachte, in denen Hatsune Miku ebenfalls als Interpretin geführt wurde.7 Aus der mit einer 5 | Nach Aussage Itos hatten sämtliche der angefragten zehn Sängerinnen Angst vor dem ›Klonen‹ der eigenen Stimme, weil sie nicht-autorisierte Coverversionen ihrer Songs fürchteten, die vom Original kaum zu unterscheiden gewesen wären. 6 | Nico Nico Douga ニコニコ動画ist ein japanischer Videohoster und Livestream-Anbieter, der von Niwango geleitet wird. 7 | Oricon K.K.オリコン ist ein Unternehmen, das regelmäßig Informationen über die japanische Musikindustrie veröffentlicht.
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Zeichnung vermarkteten Stimmsoftware entwickelte sich so nach und nach die öffentliche Figur Hatsune Miku. Deren Popularität stieg weiter durch die Veröffentlichung der kostenlosen (jedoch proprietären) Software MikuMikuDance (später ersetzt durch MikuMikuMoving), die es ermöglicht, Animationen in 2und 3D zu erstellen und durch die Hinzufügung von Soundtracks Musikvideos zu gestalten. Eine weiterer Schritt in der Genese des virtuellen Stars waren als Live-Auftritte vermarktete Vorführungen ihrer animierten Lieder auf Anime-Musik-Konzerten (»Hatsune Miku« 8 2009). Im März 2010 schließlich gab Hatsune Miku als 3D-Animation in Lebensgröße begleitet von einer Live-Band ihr erstes Solo-Konzert in der Zepp-Konzerthalle in Tokyo. Nach Angaben von Crypton wurden bis 2013 über 100.000 Stücke mit Hatsune Miku als Interpretin veröffentlicht, 170.000 Videos mit ihr auf Youtube hochgeladen und etwa 1.000.000 Illustrationen mit ihr erstellt. Der so produzierte Star Hatsune Miku kann in mehrfacher Hinsicht als Plattform beschrieben werden – als ein System »that can be programmed and therefore customized by outside developers – users – and in that way, adapted to countless needs and niches that the platform’s original developers could not have possibly contemplated […]« (Andreessen 2007). Zum einen haben die User die Möglichkeit, ihren eigenen Code in Form von Musik (Vocaloid), Choreographien und Videokunst (MikuMikuDance/ MikuMikuMoving) mittels bereitgestellter Module auszuführen. Die Software freilich ist proprietär und setzt den Nutzern Grenzen im Hinblick auf die Gestaltungsmöglichkeiten: Hatsune Mikus Stimme ist zunächst einmal nur in den vorgegebenen Grenzen manipulierbar und auch MikuMikuMoving lässt nur wenige Veränderungen an der Figur zu. Diese Aspekte der Plattform-Architektur sorgen dafür, dass Hatsune Miku in jeder Rolle immer als Hatsune Miku unverwechselbar erkennbar bleibt, wie es für Stars konstitutiv ist. In anderer Hinsicht ist das Design der Plattform Hatsune Miku jedoch permissiver: Crypton Future Media hat die Grafiken unter der CC BY-NC-Lizenz (Creative Commons Attribution-NonCommercial, 3.0 Unported) veröffentlicht, was eine frei nicht-kommerzielle Distribution und einen gestalterischen Umgang mit der Figur durch Fans ermöglicht. Auf diese Weise werden Netzwerkeffekte gefördert und die Plattform gewinnt insgesamt durch die Beiträge, die ihre Nutzer zu ihr leisten.
8 | Der entsprechende Artikel wurde auf Anime News Network veröffentlicht, einer englischsprachigen Website, die hauptsächlich über Animes, Mangas und japanische Popmusik im japanischen und englischsprachigen Raum berichtet.
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Ist Hatsune Miku ein neuer Typus Star? Sicher könnte man einwenden, dass das Star-Image auch bei traditionellen Stars eine Konstruktion ist, für die die eigentliche Person letztlich irrelevant ist. Hatsune Miku wäre entsprechend nur die radikalste Form eines durch unterschiedlichste Medientexte konstituierten Startums. Dem muss man freilich entgegenhalten, dass für den Star konstitutiv ist, dass die Vorstellung von einer ›wirklichen Person‹ hinter der öffentlichen Person eine Ressource im Prozess der Imagebildung und für diese nachgerade konstitutiv ist. Diese Vorstellung ist aber bei Hatsune Miku nicht möglich, ist doch den Fans jederzeit bewusst, dass es sich bei ihr um eine virtuelle Figur handelt. Und dazu noch um eine virtuelle Figur, die erst durch die Aktivitäten der Fans überhaupt zum Leben erweckt wurde und nicht durch den vermeintlichen Besitz von Qualitäten, die sie über andere Gleichartige hinausheben. Darüber hinaus löst die Erweiterung des Ensembles von Fan-Praktiken auch andere konstitutive Merkmale des Starseins auf. Zwar ist die Architektur der Plattform Abbildung 2: Ein Star zum Anfasssen Hatsune Miku durch zahlreiche Restriktionen gekennzeichnet, die die Unverwechselbarkeit der virtuellen Figur in allen Rollenkontexten von der Mangafigur über das 3D-Objekt auf der Konzertbühne bis zur Figur im Computerspiel sichern. Die Unnahbarkeit des Stars jedoch steht zur Disposition. Hatsune Miku kann als singendes dreidimensionales Hologramm in der Wohnung der Nutzer auftreten und als Tänzerin live zu Musik tanzen, die ihre Fans auf dem Keyboard spielen. Nutzer haben auch die Möglichkeit geschaffen, mit Hatsune Miku im virtuellen Raum zu interagieren: Mit Hilfe des AR Toolkit (eine Library für die Entwicklung von Augmented Reality-Anwendungen), der an die Videospielkonsole XBOX angeschlossenen Kinect-Sensorleiste zur Steuerung und einem Head-Mounted Display (Virtual Reality Brille) kann man mit Hatsune Miku spazieren gehen oder ihr die eigene Wohnung zeigen (vgl. Komatsu 2012). Und obwohl Crypton sexualisierte Darstellungen aus der Lizenz ausgenommen hat, kann man Hatsune Miku auch zur Dusche begleiten oder überall ›berühren‹. Dabei ist jedes Eindrin-
Der Star als Plattform
gen in den Intimbereich des Stars keine Enthüllung, sondern die Detaillierung einer Konstruktion. Hatsune Miku unterscheidet sich also in vielerlei Hinsicht vom traditionellen Typus des Stars. Die Plattform Hatsune Miku ermöglicht daher auch den gefahrlosen Vollzug von Praktiken, die die Prototypen der Star-Fan Beziehung beim Star-Stalking (vgl. Hoffmann 2004) konstituieren: der Star als Geliebter, der Star als Familienmitglied, der Star als Objekt delinquenter Sexualität, der Star als Feind, der Star als Weg zum Ruhm. Insbesondere der letzte Typus der Fan-Star-Beziehung vermag den neuen Typus Star zu erklären, den die Plattform Hatsune Miku verkörpert. Denn der eigentliche Star ist der Netzwerkeffekt. Hatsune Miku nahm 2015 mit der Pop-Sängerin Amuro Namie im Song »B Who I Want 2 B« (2015) folgenden Refrain auf: »I don’t need, don’t need anyone to be who I want to be, I’m the only one imagining ideals, I’m a Tokyo Pygmalion in dreaming mode«. Wer hier spricht, ist freilich nicht der Star Hatsune Miku – es sind die Nutzer der Plattform. Durch ihre koordinierten und ähnlich gerichteten Handlungen wird die Plattform überhaupt erst erfolgreich und so ist es auch nicht der Einzelne, der sich in Hatsune Miku feiert, sondern das Kollektiv der Nutzer dafür, an seiner erfolgreichen Produktion beteiligt zu sein, auch wenn der zwanglose Zwang zur Vernetzung eine neue Spielart der Normierung bedeutet.
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Autorinnen und Autoren
Arenhövel, Mark, Professor für Internationale Beziehungen an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Theorien der Internationalen Beziehungen, Konfliktformen im Wandel, Transitions- und Transformationstheorie sowie Erinnerungs- und Geschichtspolitik. Monographien: Transition und Konsolidierung in Spanien und Chile Strategien der Demokratisierung (1998), Demokratie und Erinnerung: Der Blick zurück auf Diktatur und Menschenrechtsverbrechen (2000), Globales Regieren: Neubeschreibungen der Demokratie in der Weltgesellschaft (2003). Georgi-Findlay, Brigitte, Professorin für Nordamerikastudien an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Geschichts- und Gesellschaftsentwürfe im Westernfilm und in amerikanischen Fernsehserien, amerikanische und kanadische Kulturgeschichte, Populärkultur, Geschichte von Minderheiten, Gender. Monographien: Der Indianer in der amerikanischen Literatur: Das weiße Rassenverständnis in der Literatur bis 1900 und die indianische Selbstdarstellung ab 1833 (1982), Tradition und Moderne in der zeitgenössischen indianischen Literatur der USA: N. Scott Momadays House Made of Dawn (1986) und The Frontiers of Women’s Writing: Women’s Narratives and the Rhetoric of Westward Expansion (1996). Junkerjürgen, Ralf, Professor für Romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: spanisches Kino der Gegenwart, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Narratologie, literarische Körperdarstellung und Populärkultur. Monographien: Spannung: Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne (2002) und Haarfarben: Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike (2009). Kühn, Thomas, Professor für Großbritannienstudien an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: britische Kulturgeschichte und ihre zeitgenössische, populäre Rezeption, Theorien der Populärkultur, Universitätsgeschichte. Monographien: Sir Thomas Brownes Religio Medici und Pseudodoxia Epidemica (1989) und Two Cultures, Universities and Intellectuals (2002).
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Nunokawa, Yasuko, Dr. phil. Germanistik (Hitotsubashi Universität, Japan), Lehrbeauftragte an der TU Dresden im Bereich Germanistische Kultur- und Medienwissenschaft sowie Deutsch als Fremdsprache, literarische Übersetzerin. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur (Robert Musil), Japanische Populärkultur im deutschsprachigen Raum, Populäres Erzählen aus der Perspektive von Kritischer Theorie, Medientheorie und Cultural Studies, Orientalismus als Exotisierung des Fremden. Monographie: ›Die Entdeckung der Familie‹ in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (2008). Sanders, Olaf, Professor für Erziehungswissenschaften an der HelmutSchmidt-Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkt: Theorien der Bildung und deren philosophische Grundlagen, erziehungswissenschaftliche Zeitdiagnostik und Theorien populärer Kulturen und Medien. Monographien: Romantik, Zerstörung, Pop: Studien zu einer Theorie der Selbstbildung (2000) und Greatest Misses: Über Bildung, Deleuze und neuere Medien (2014). Scharlaj, Marina, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slavistik der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: russische, weißrussische und polnische Sprachen und Literaturen, Sprach- und Kulturkontakte, Raum- und Gedächtnistheorien, Norm und Antinorm sowie der Gegensatz zwischen offizieller und inoffizieller Kultur der Sowjetunion und dem aktuellen Russland. Monographien: Das Weißrussische zwischen Sprachkontakt und Sprachverdrängung (2008) und Null und Atlantis: Metaphorische Konzeptualisierung des Weißrussischen (2012). Scharloth, Joachim, Professor für Angewandte Linguistik an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Korpuslinguistik, Soziolinguistik, forensische Linguistik, Sprache in der Politik, Anwendungen zur Analyse kommunikativer Prozesse in digitalen Medien. Monographien: Sprachnormen und Mentalitäten: Sprachbewusstseinsgeschichte in Deutschland im Zeitraum von 1766 bis 1785 (2005) und 1968: Eine Kommunikationsgeschichte (2011). Schrage, Dominik, Professor für Soziologische Theorien und Kultursoziologie an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Konsumsoziologie, Soziologie der Medien und der auditiven Kultur. Monographien: Psychotechnik und Radiophonie: Subjektkonstruktionen in artifiziellen Wirklichkeiten 1918-1932 (2001) und Die Verfügbarkeit der Dinge: Eine historische Soziologie des Konsums (2009). Storey, John, Professor (em.) für Cultural Studies an der Universität Sunderland (UK). Forschungsschwerpunkte: Theorien und Geschichte der Populärkultur, Geschichte der Cultural Studies, Identität und Konsum. Monographien und Einführungswerke (Auswahl): Cultural Theory and Popular Culture (7. Auflage 2015), Cultural Studies and the Study of Popular Culture (3. Auflage 2010), From Popular Culture to Everyday Life (2013), Theories of Consumption (2017).
Autorinnen und Autoren
Troschitz, Robert, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Anglistik und Amerikanistik an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Kulturtheorien, britische Kulturgeschichte, Geschichte der britischen Hochschulen, Utopien. Monographie: Higher Education and the Student: From Welfare State to Neoliberalism (2017).
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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)
Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)
Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-1709-2
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0
Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6
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