Auslandseinsätze der Bundeswehr: Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven [1 ed.] 9783428530724, 9783428130726

Führt die Bundeswehr in Afghanistan Krieg? Können Streitkräfte zum Aufbau von Staatlichkeit und geordneten Verhältnissen

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German Pages 331 Year 2009

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Auslandseinsätze der Bundeswehr: Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven [1 ed.]
 9783428530724, 9783428130726

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Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 47

Auslandseinsätze der Bundeswehr Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven

Herausgegeben von

Sabine Jaberg, Heiko Biehl, Günter Mohrmann und Maren Tomforde

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

SABINE JABERG, HEIKO BIEHL, GÜNTER MOHRMANN und MAREN TOMFORDE (Hrsg.)

Auslandseinsätze der Bundeswehr

Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 47

Auslandseinsätze der Bundeswehr Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven

Herausgegeben von

Sabine Jaberg, Heiko Biehl, Günter Mohrmann und Maren Tomforde

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 978-3-428-13072-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Ingrid Roth

Danksagung Unser Dank gilt zuallererst den Autorinnen und Autoren. Sie haben trotz umfangreicher Verpflichtungen verlässlich zum Gelingen des Bandes beigetragen. Ihr souveräner und konstruktiver Umgang mit Änderungs- und Ergänzungsvorschlägen hat den Herausgebern ihre Arbeit sehr erleichtert. Darüber hinaus richtet sich unser Dank an den Verlag Duncker & Humblot – insbesondere an den Verleger Florian R. Simon, der die Veröffentlichung in den „Sozialwissenschaftlichen Schriften“ erst ermöglicht hat. Last but not least möchten wir uns bei Frau Regine Schädlich bedanken, die uns kompetent und unaufgeregt über technische Hürden hinweggeholfen hat. Hamburg, im Mai 2009

Sabine Jaberg, Heiko Biehl, Günter Mohrmann, Maren Tomforde

Inhaltsverzeichnis Sabine Jaberg, Heiko Biehl, Günter Mohrmann und Maren Tomforde Multidisziplinäre Perspektiven auf Auslandseinsätze der Bundeswehr – eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Sven Bernhard Gareis und Kathrin Nolte Zur Legitimation bewaffneter Auslandseinsätze der Bundeswehr – politische und rechtliche Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Rudolf Hamann Im Gleichschritt in die Sackgasse? Vier Thesen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Maren Tomforde „Bereit für drei Tassen Tee?“ Die Rolle von Kultur für Auslandseinsätze der Bundeswehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Günter Mohrmann Auslandseinsätze und zivil-militärische Zusammenarbeit. Herausforderungen – Entwicklungslinien – Wirkungen – Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Heiko Biehl und Jörg Keller Hohe Identifikation und nüchterner Blick. Die Sicht der Bundeswehrsoldaten auf ihre Einsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

Maja Apelt Die Paradoxien des Soldatenberufs im Spiegel des soldatischen Selbstkonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

Claus Freiherr von Rosen Innere Führung und Einsatz aus Perspektive der Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . .

163

Matthias Gillner Für einen „die ethischen Grenzmarken des eigenen Gewissens bedenkenden Gehorsam“. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewissensfreiheit des Soldaten und seine Konsequenzen für die Bundeswehr . . . . . . . . . . .

193

10

Inhaltsverzeichnis

Michael Hofmann Soziale Absicherung in Auslandseinsätzen – das neue Einsatz-Weiterverwendungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

Stefan Bayer Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen – eine ökonomische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

Hans-Joachim Reeb Auslandseinsätze der Bundeswehr im Blickfeld der Medien . . . . . . . . . . . . . .

257

Volker Stümke Auslandseinsätze und die Sorge für gerechten Frieden. Ein Blick in die aktuelle Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland . . . . . .

277

Sabine Jaberg Wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe . . . Zur Begründung eines friedenswissenschaftlichen Standpunkts zum Norm-Empirie-Problem bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Multidisziplinäre Perspektiven auf Auslandseinsätze der Bundeswehr – eine Einleitung Von Sabine Jaberg, Heiko Biehl, Günter Mohrmann und Maren Tomforde

I. Der weite Weg von der Verteidigungszur Interventionsarmee 2009 ist ein Jahr der Jubiläen: Sechzig Jahre Bundesrepublik Deutschland, sechzig Jahre Nordatlantische Vertragsorganisation (NATO), zwanzig Jahre Ende des globalen Macht- und Systemkonflikts, symbolisiert durch den Fall der Berliner Mauer, und zehn Jahre Kosovokrieg. Bei aller Unterschiedlichkeit besitzen diese Daten doch eine Gemeinsamkeit: Sie illustrieren den Wandel der sicherheits- und verteidigungspolitischen Rahmenbedingungen. Als der westdeutsche Staat aus der Taufe gehoben wurde, war an Aufrüstung kaum zu denken. Wer nochmals eine Waffe in die Hand nähme, dem solle gleich ein Arm abfallen – dieses mittlerweile geflügelte Wort des späteren Verteidigungsministers Franz Josef Strauß stand gleichsam paradigmatisch für den Zeitgeist noch zu Beginn der fünfziger Jahre. Das Grundgesetz jedenfalls sah nicht einmal die Möglichkeit zur Aufstellung bundesdeutscher Streitkräfte vor, es bekannte sich vorbehaltlos zum Völkerrecht und stellte bereits Vorbereitungen zum Angriffskrieg unter Strafandrohung. Entsprechend umkämpft war das Bemühen der Adenauer-Regierung, über die Aufstellung eigener Streitkräfte jene Souveränitätsrechte zu erlangen, die die Alliierten der Bundesrepublik eingedenk der jüngsten deutschen Geschichte noch vorenthielten. Außerdem sollte die Westintegration durch Mitgliedschaft in regional begrenzten Militärbündnissen sichergestellt werden. Nach dem Scheitern des Vertrags zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) durch Nichtbefassung im französischen Parlament führte der Weg der Bundesrepublik zu eigenen Streitkräften über die Mitgliedschaft in NATO und Westeuropäischer Union (WEU). Während letztere sicherheits- und verteidigungspolitisch in der Bedeutungslosigkeit versank, entwickelten sich die NATO und ihr östlicher Gegenspieler – die Warschauer Vertragsorganisation (WVO) – zu tragenden Pfeilern eines Systems wechselseitiger Abschreckung, an dem auch die Bundeswehr mitwirkte.

12

Sabine Jaberg, Heiko Biehl, Günter Mohrmann und Maren Tomforde

In den folgenden Jahrzehnten hing die atomare Katastrophe wie ein Damoklesschwert über der Welt. Sicherlich sprechen gute Gründe für die These, dass der Dritte Weltkrieg gerade wegen der Abschreckung verhindert werden konnte. Denn das strategische Spiel führte auch zu einer gewissen Berechenbarkeit des Verhaltens beider Blöcke für die jeweilige Gegenseite und zwang sie – insbesondere die Führungsmächte – zur Mäßigung. Allerdings lässt sich dieser Zusammenhang nur plausibel begründen, nicht beweisen. Schließlich könnte ebenso zutreffen, dass der Dritte Weltkrieg nicht wegen, sondern trotz der Abschreckung ausblieb. Denn unbestreitbar förderte die „organisierte[.] Friedlosigkeit“1 auch Autismus und Lernpathologien, drohte die ungebremste Rüstungsspirale jene Stabilität, die sie eigentlich erzeugen sollte, durch neue Technologien und immer kürzere Vorwarnzeiten zu unterminieren – mit der Gefahr eines „Weltkrieg[s] wider Willen“2. Wie dem auch sei, eines steht fest: Der Bündnisfall – also ein Angriff auf ein Mitglied der NATO, der die anderen Partner zum Beistand verpflichtet hätte – ist während der Zeit der Ost-West-Konfrontation nicht eingetreten. Er hätte wohl geradewegs in die atomare Apokalypse geführt. Insofern versteht sich die Erleichterung, die mit dem Fall der Berliner Mauer einherging. Die damit verbundene Hoffnung auf ein ‚neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit‘, das die Staats- und Regierungschefs der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) noch 1990 in der Pariser Charta beschworen, währte jedoch nicht lange. Noch im gleichen Jahr besetzte der Irak das Nachbarland Kuweit, aus dem ihn eine von den USA geführte ‚Koalition der Willigen‘ auf Grundlage einer ‚Generalermächtigung‘ des UNO-Sicherheitsrats im nächsten Jahr wieder vertrieb. Während das vereinigte Deutschland sich im damaligen Golfkrieg militärisch noch zurückhielt und sich auf ‚Scheckbuch-Diplomatie‘ beschränkte, führten insbesondere die Entwicklungen auf dem Balkan ebenfalls in den frühen neunziger Jahren zu gravierenden Neuausrichtungen in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. So beteiligte sich die Bundesrepublik unter der christlich-liberalen Koalition mit Streitkräften an der Überwachung des Embargos gegen Jugoslawien in der Adria und an der Durchsetzung des Flugverbots über dem Balkanstaat auf Grundlage eines Mandats des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (UNO). Erstmalig wirkte die Bundeswehr auch an einer ‚robusten‘ Friedensmission der Weltorganisation außerhalb Europas mit – nämlich an UNOSOM II in Somalia. Danach engagierte sich die Bundeswehr vornehmlich in Stabilisierungsoperationen in 1 2

Senghaas (1969). Lutz (1981).

Multidisziplinäre Perspektiven auf Auslandseinsätze der Bundeswehr

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Bosnien-Herzegowina. Mit dem Kosovokrieg (1999) erlangten ihre Auslandseinsätze jedoch eine neue Qualität. Denn Deutschland beteiligte sich unter rot-grüner Führung nunmehr an einem Waffengang, ohne dass die Vereinten Nationen ihm zumindest ein Mandat erteilt hätten. Daher wurde das völkerrechtlich prekäre Konstrukt der ‚humanitären Intervention‘ gegen das Verdikt eines völkerrechts- und mithin grundgesetzwidrigen Angriffskriegs ins Felde geführt: Illegal, aber legitim – lautete ein zwar umstrittenes, aber durchaus weit verbreitetes Urteil. Weitere Einsätze sind gefolgt – in der Regel mit einem Mandat der Vereinten Nationen. Im Falle der Operation Enduring Freedom (OEF), die die USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausgerufen haben, geschah dies auch ohne Ermächtigung des Sicherheitsrats. Vielmehr wird diese Mission bis heute auf das Selbstverteidigungsrecht gemäß Artikel 51 der UNO-Charta abgestützt – und der damals von der NATO erstmals ausgerufene Bündnisfall nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrags steht weiterhin in Kraft. Im März 2009 versehen etwa 7.400 Soldaten und Soldatinnen in insgesamt elf Missionen ihren Dienst. Davon entfallen auf die UNO-mandatierte Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF) mit 3.800 Dienstleistenden mittlerweile mehr als die Hälfte des eingesetzten Personals, während im Kosovo (KFOR) – lange Zeit regionaler Schwerpunkt – nur noch 2.640 Soldaten und Soldatinnen im Einsatz sind. Danach folgen die Antiterror-Mission OEF am Horn von Afrika, an der 270 Soldatinnen und Soldaten teilnehmen – nunmehr ergänzt um 230 Mann in der Anti-Piraterie-Mission Atalanta. Unter Einbeziehung all jener Hilfsaktionen, an denen sich die Bundeswehr seit 1960 anlässlich der humanitären Katastrophe in Angola und des Erdbebens in Marokko beteiligte, zählt die streitkräfteeigene Homepage sogar 130 Entsendungen. Aber auch konzeptionell haben die Jahre nach dem Ende des globalen Macht- und Systemkonflikts ihre Spuren hinterlassen. Die von Verteidigungsminister Volker Rühe herausgegebenen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) von 1992 versuchten ebenso wie das Weißbuch der schwarz-gelben Bundesregierung von 1994 die praktischen Entwicklungen mit einem weiten Sicherheitsbegriff konzeptionell zu verarbeiten. Die VPR 2003 reagierten ebenfalls auf äußere Ereignisse: Einerseits befand sich die Bundeswehr seit Anfang 2002 im Rahmen von ISAF und OEF im Einsatz, andererseits entzog sich die Bundesregierung einer Beteiligung am Irakkrieg 2003, den die USA mit einer ‚Koalition der Willigen‘ führten. Insofern ‚mussten‘ die VPR eine doppelte Leistung erbringen: Sie sollten beide Entscheidungen mit einem weiten Verteidigungsbegriff legitimieren helfen, ohne damit gleichzeitig auf Dauer bestimmte Optionen zu erzwingen oder

BosnienHerzegowina

DR Kongo

Afghanistan

Kosovo

EUSEC RD Congo

ISAF

KFOR

Küste vor Somalia

ATALANTA

EUFOR

Land/Region/Ort

Einsatz

2200

3750

3

122

700

8500

4500



500

1400

Kernaufgabe(n) der Bundeswehr

12.06.1999

Wiederherstellung funktionierender Infrastruktur (Energieversorgung, Bildungssystem, Verkehrswege); militärische Sicherung der Region; Aufbau demokratischer, rechtsstaatlicher Strukturen

02.01.2002 Stärkung staatlicher Strukturen und des zivilen Wiederaufbaus des Landes nach demokratischen Prinzipien; Unterstützung bei Auslieferung humanitärer Hilfsgüter und Hilfestellung bei Rückkehr von Flüchtlingen; Führung der Bündnistruppen in der Nordregion; taktischer Lufttransport und medizinische Versorgung; Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte

08.06.2005 Unterstützung beim Wiederaufbau der kongolesischen Armee; Hilfe bei politischer Integration verschiedener regionaler Gruppierungen

02.12.2004 Militärische Absicherung des Friedensvertrages von Dayton; Sicherung der Bewegungsfreiheit eigener Kräfte, internationaler Organisationen und Nicht-Regierungsorganisationen; Überwachung der Einhaltung der Rüstungskontrollabkommen

22.12.2008 Schutz für Schiffe des Welternährungsprogramms; Schutz von zivilen Schiffen im Operationsgebiet; Überwachung der Gebiete vor der Küste Somalias

Ist-Stärke Kann-Stärke Einsatz seit (ca.)

Aktuelle Einsätze der Bundeswehr – Missionen, Personalstärken und Kernaufgaben (Stand 21.04.2009)

14 Sabine Jaberg, Heiko Biehl, Günter Mohrmann und Maren Tomforde

Afghanistan

Sudan

Libanon

Sudan

Georgien

UNAMID

UNIFIL

UNMIS

UNOMIG

Horn von Afrika

OEF

UNAMA

Land/Region/Ort

Einsatz

12

34

225

1

1

105

20

75

2400

250

1

800

Seeraumüberwachung und Schutz der Seeverbindungslinien in den Gebieten um das Horn von Afrika; Unterbindung von Handel und Transport von Gütern, die dem internationalen Terrorismus dienen

Kernaufgabe(n) der Bundeswehr

Juni 1994

Militärische Beobachtung und medizinische Versorgung von UNOMIG; Entschärfung/Förderung zur Entspannung des Konflikts zwischen Georgien und Abchasien

22.04.2005 Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration ehemaliger Kämpfer; Unterstützung weiterer UN-Projekte in der Region, bei Projekten der Minenräumung, beim Aufbau einer Zivilpolizei und Verbindungs-, Beratungsund Unterstützungsaufgaben für die von der Afrikanischen Union geführte Mission AMIS

21.09.2006 Aufklärung und Kontrolle der Seewege; Umleitung von Schiffen im Verdachtsfall; Lufttransport; humanitäre Hilfe und technische Ausrüstungshilfe; Unterstützung libanesischer Sicherheitskräfte und militärische Beratung der Regierung

01.01.2008 Lufttransport in das Einsatzgebiet und Rückverlegung bei Aufstockung, Verstärkung und Durchführung von UNAMID; Wahrnehmung von Führungs-, Verbindungs-, Beratungs- und Unterstützungsaufgaben; Hilfe bei Ausrüstung und Ausbildung truppenstellender Nationen

28.03.2002 Unterstützung beim Auf- und Ausbau rechtsstaatlicher Strukturen und Förderung der nationalen Versöhnung

02.02.2002

Ist-Stärke Kann-Stärke Einsatz seit (ca.)

Multidisziplinäre Perspektiven auf Auslandseinsätze der Bundeswehr 15

seit 19.12.2008

30.11.2006 (EUFOR, erstmalig 02.12. 2004, zuvor: 06.12.1995: IFOR und 13.12.1996: SFOR)

ATALANTA

EUFOR

21.06.2007 (erstmalig am 11.06.1999)

13.11.2008 (erstmalig am 16.11.2001)



15.11.2007

17.09.2008 (erstmalig am 20.09.2006)

17.09.2008 (erstmalig am 22.04.2005)

Kabinettsbeschluss vom 08.08.2007 (erstmalig 02.02.1994)

KFOR

OEF

UNAMA

UNAMID

UNIFIL

UNMIS

UNOMIG

bis 15.06.2009 bzw. Ende UN-Mandat

6 Monate bzw. bis 15.08.2009

15 Monate bzw. bis 15.12.2009

12 Monate bzw. bis 31.07.2009



13 Monate bzw. bis 15.12.2009

Resolution 858 vom 24.08.1993

Resolution 1590 vom 24.03.2005

Resolutionen 1701 vom 11.08.2006, 1773 vom 24.08.2007 und 1832 vom 27.08.2008

Resolution 1769 vom 31.07.2007

Resolution 1401 vom 28.03.2002 und 1868 vom 23.03.2009

Resolution 1368 vom 12.09.2001 und 1373 vom 28.09.2001

Resolution 1244 vom 10.06.1999

12 Monate bzw. bis 11.06.2009**

– Resolution 1386 vom 20.12.2001 und 1833 vom 22.09.2008

14 Monate bzw. bis 13.12.2009



Resolution 1816 vom 02.06.2008 Resolution 1088 vom 12.12.1996

12 Monate bzw. bis 15.12.2009

UN-Resolution

je 12 Monate bzw. bis 21.11. 2009*

Mandatszeitraum

* Die Bundesregierung sichert dem deutschen BT zu, nach Ablauf von jeweils 12 Monaten den BT erneut konstitutiv zu befassen, falls dies der Wunsch einer Fraktion ist. ** Wenn eine der Fraktionen es wünscht, wird die Bundesregierung den Deutschen Bundestag vor Ablauf weiterer 12 Monate erneut konstitutiv mit der Verlängerung des Einsatzes befassen.

Quellen: Selbstdarstellung der Bundeswehr in: http://www.bundeswehr.de und http://www.einsatz.bundeswehr.de. Zugriffe am 20.04.2009 und 21.04.2009. – Zusammenstellung von Alexander Ulmer

16.10.2008 (erstmalig am 22.12.2001)

ISAF

EUSEC RD Congo EU-Ratsbeschluss vom 02.05.2005

Aktuelles Bundestagsmandat

Einsatz

Mandate und UN-Resolutionen zu aktuellen Einsätzen der Bundeswehr (Stand: 21.04.2009)

16 Sabine Jaberg, Heiko Biehl, Günter Mohrmann und Maren Tomforde

Multidisziplinäre Perspektiven auf Auslandseinsätze der Bundeswehr

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auszuschließen. Allerdings gelang es der rot-grünen Bundesregierung nicht mehr, dem Ressortpapier ein regierungsoffizielles Weißbuch folgen zu lassen. Dies blieb der großen Koalition vorbehalten. Das 2006 veröffentlichte Dokument schrieb – bei Formulierungsnuancen – den bisherigen Kurs fort. Diese Entwicklung war von Beginn an politisch wie wissenschaftlich umstritten. Die eine Seite beklagte den Abschied von der grundgesetzlichen Friedensnorm und warnte vor einer Militarisierung der Außenpolitik. Bereits eine Mitwirkung an Peacekeeping-Missionen der Vereinten Nationen schien ihr suspekt. Die andere Seite begrüßte die Rückkehr zur ‚Normalität‘ eines voll souveränen Nationalstaats. Auch wenn sich die Dramatik der damaligen Debatten zwischen ‚verantwortungslosen Pazifisten‘ hie und ‚kriegstreiberischen Bellizisten‘ da mittlerweile entschärft hat, so lassen sich doch die Grundpositionen auch in aktuelleren Beiträgen erkennen: So wenden sich etwa Reinhard Mutz oder auch Anna Geis immer noch gegen Gerhard Schröders Diktum einer ‚Enttabuisierung‘ des Militärischen.3 Sie problematisieren insbesondere den weiten Sicherheits- und Verteidigungsbegriff, den die hohe Politik mit den VPR 1992 bzw. den VPR 2003 für sich entdeckt hat, als Einfallstor für eine militärisch gestützte Interessenpolitik, die sie durch den grundgesetzlichen Verteidigungsauftrag nicht gedeckt sehen. Demgegenüber moniert etwa Michael Rühle eine militärische Zurückhaltung, die vor der letzten Konsequenz – dem Kampfauftrag – immer noch zurückscheue.4 Unabhängig von der Position, die in dieser Kontroverse bezogen wird, handelt es sich um verdienstvolle Beiträge in einer Debatte, die meistens nur angemahnt, aber noch viel zu selten geführt wird: nämlich jene um die deutschen Streitkräfte. Wozu braucht Deutschland heute noch die Bundeswehr? Dieses Defizit ist umso erstaunlicher, als die Bundeswehr seit nunmehr zwanzig Jahren einem erheblichen Wandel unterliegt, der sie von einer Verteidigungs- zu einer Interventionsarmee transformiert. Obwohl sie mittlerweile in zahlreichen Missionen auch in entfernten Regionen eingesetzt ist, bleibt immer noch unklar, welche Ziele und Zwecke damit letztlich verfolgt werden bzw. verfolgt werden sollen. Diese kurze Frage nach dem aktuellen wie künftigen Sinn und Zweck der Bundeswehr zieht einen bunten Strauß an politischen wie wissenschaftlichen Folgeproblemen nach sich, die allein mit einem sicherheitspolitischen Blick nicht zu erfassen, geschweige denn zu bewältigen sind. Vielmehr bedarf es eines breiten disziplinären Spektrums, um sich einem Gesamtbild zumindest anzunähern, das auch bei politischen Entscheidungen 3 4

Vgl. Mutz (2006) und Geis (2005). Vgl. Rühle (2008).

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Sabine Jaberg, Heiko Biehl, Günter Mohrmann und Maren Tomforde

soweit wie möglich bedacht werden sollte. Um der Mannigfaltigkeit der Problematik gerecht werden zu können, sind nicht zuletzt Beiträge der allgemeinen Rechtswissenschaft zum grundgesetzlichen und völkerrechtlichen Spielraum beim Einsatz der Bundeswehr, der Politikwissenschaft zu nationalen wie internationalen Einflussfaktoren, der Ethnologie zur Schärfung kultureller Sensibilität im Einsatz, der Militärsoziologie zum ‚Innenleben‘ der Streitkräfte, der Pädagogik zur Vermittlung einsatzrelevanter Fähigkeiten und Werte, der Ethik zur Zulässigkeit und Gebotenheit bewaffneten Eigen- und Fremdschutzes, des Wehrrechts zur sozialen Absicherung der Soldatinnen und Soldaten bei prinzipiell gefährlichen Aufträgen, der Ökonomie zu wirtschaftlichen Voraussetzungen sowie Kosten und Nutzen militärischer Interventionen, der Theologie zur religiös begründeten Orientierung in Fragen der Gewalt bzw. der Gewaltlosigkeit in einer unübersichtlichen und insofern ungewissen Zeit. Last not least bedarf es der Friedensforschung zur grundsätzlich kritischen Reflexion einer Rückkehr des Militärischen und zum Aufzeigen ziviler Alternativen. Diese Fülle an Themen und Aspekten veranschaulicht ihrerseits, wie umfassend der Wandel der deutschen Sicherheitspolitik und wie vieldimensional der Umbau der deutschen Streitkräfte ist.

II. Zu diesem Buch Was liegt für einen Fachbereich Sozialwissenschaften (FB SOW) an der Führungsakademie der Bundeswehr (FüAk) näher, als sich mit den skizzierten Themen zu befassen? Zu seinen Merkmalen zählen Zivilität, Wissenschaftlichkeit und Multi- bzw. Interdisziplinarität. Denn er verfügt über eine zivile Leitung, und seine mehrheitlich zivilen Dozenten und Dozentinnen entstammen unterschiedlichen Disziplinen, so dass hier der wissenschaftliche Diskurs auch die eigene Fachexpertise erweitert. Durch seine Einordnung in die höchste Ausbildungsstätte der deutschen Streitkräfte kommt der Fachbereich unmittelbarer, als dies in einer rein zivilen Umgebung der Fall wäre, mit jenen Fragen in Berührung, denen sich die Bundeswehr als militärische Institution und als Einsatzarmee heute gegenübersieht. Wer zu ihnen kompetent lehren will, muss diesbezüglich auch forschen und Erträge in den wissenschaftlichen wie politischen Diskurs einspeisen. Das haben Dozentinnen und Dozenten unseres Fachbereichs immer wieder beherzigt, auch wenn die Führungsakademie als Institution keinen Forschungsauftrag besitzt. In der Regel stellen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des Fachbereichs ihre Forschungserträge in eigenen Monographien oder Sammelbänden sowie in einschlägigen Publikationsreihen ihrer jeweiligen Fachdisziplinen vor. Mit dem vorliegenden Werk setzen wir jedoch eine Praxis

Multidisziplinäre Perspektiven auf Auslandseinsätze der Bundeswehr

19

fort, die mit dem von Stefan Bayer und Volker Stümke herausgegebenen Sammelband „Mensch – Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven“ im letzten Jahr erfolgreich begonnen hat. Die Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlich relevanten Themen, wie im vorliegenden Werk mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, soll die fachspezifischen Ansätze der jeweiligen Disziplinen verdeutlichen und zu einem ‚multiperspektivischen Mosaik‘ zusammenführen. Aktive und ehemalige Dozentinnen und Dozenten liefern aus ihren jeweiligen Forschungsfeldern Beiträge zu einem gemeinsamen Thema, das von wissenschaftlichem, politischem wie militärischem Interesse zu sein verspricht. Die Aufsätze verdeutlichen die Inter- oder doch zumindest Multidisziplinarität des Fachbereichs ebenso wie die Spannweite der hier vertretenen Positionen. Folglich weist der Sammelband über den wissenschaftlichen wie politischen Anspruch hinaus. Er eröffnet seinen Leserinnen und Lesern auch einen Einblick in die Lehre an der Führungsakademie, die sich eben nicht in der Vermittlung offizieller Positionen der Bundesregierung oder des Verteidigungsministeriums erschöpft, sondern auch zur wissenschaftlich gestützten kritischen Reflexion einlädt. Dabei bringen die einzelnen Beiträge nicht die Position der Bundeswehr zum Ausdruck, sie stehen aber auch nicht notwendig im Widerspruch zu ihr. Der vorliegende Band ist in seiner Kombination aus inter- bzw. multidisziplinärem Ansatz und wissenschaftlich reflektierter Innenperspektive bislang einzigartig. Zwar kann das Thema ‚Auslandseinsätze‘, das uns die nächsten Jahre wohl weiter begleiten wird, in einer einzigen Publikation weder umfassend noch abschließend behandelt werden. Wir hoffen dennoch, relevante Aspekte thematisiert und Lücken identifiziert zu haben. Sollten wir darüber hinaus wissenschaftliche und politische Kontroversen anregen können – umso besser.

III. Zu den Beiträgen 1. Politischer und rechtlicher Rahmen Ein gemeinsamer Beitrag des Politologen Sven Bernhard Gareis und der Juristin Kathrin Nolte setzt sich mit gegenwärtigen Legitimationsstrategien für Auslandseinsätze der Bundeswehr auseinander. Dabei handelt es sich um eine für die hiesige Debatte grundlegende Fragestellung, da sie am Selbstverständnis deutscher Politik rührt: Während prominente Partner wie die Weltmacht USA, aber auch gewichtige Staaten wie Großbritannien und Frankreich sich seit Jahrhunderten wie selbstverständlich des Militärs als Instrument der Außenpolitik bedienen, ist dies Deutschland aufgrund seiner

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Sabine Jaberg, Heiko Biehl, Günter Mohrmann und Maren Tomforde

Geschichte nicht so einfach möglich. Veränderungen hinsichtlich dieser militärischen Zurückhaltung bedürfen daher immenser politischer wie verfassungsrechtlicher Anstrengungen, wie Gareis und Nolte aufzeigen. Darüber hinaus verdeutlichen sie Schwierigkeiten und Widersprüche, unter denen sich der Funktionswandel der Bundeswehr von der Verteidigungs- hin zur Interventionsarmee vollzieht. Das Autorengespann moniert insbesondere strategische Defizite, in deren Folge Auslandseinsätze bislang eher von Bündnispartnern erwirkt als von der deutschen Politik auf Grundlage einer eigenen Interessenagenda entschieden würden. Diesem Manko geht der Sozialwissenschaftler Rudolf Hamann in vier pointierten Thesen auf den Grund. Dabei schaut er zum einen auf die politische Klasse, die seines Erachtens den Paradigmenwechsel seit Ende des Ost-West-Konflikts nur unzureichend verarbeitet habe, so dass pragmatisches ‚Durchwursteln‘ an die Stelle strategischen Denkens getreten sei. Zum anderen aber sieht er die Bundeswehr als Institution in einen – politisch durchaus geförderten – intellektuellen und mentalen Gleichschritt fallen, der sich in gebetsmühlenartig wiederholten Leerformeln wie ‚hat sich bewährt‘ augenfällig dokumentiere. Eigenständiges Reflektieren, noch dazu quer zum militärischen Mainstream, sieht der Autor gerade nicht gefördert, sondern unterdrückt. Abschließend setzt er sich mit Ansätzen strategischen Denkens auseinander, die zumindest in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Dazu gehören Forderungen nach einem neuen strategischen Konzept der NATO, aber auch Plädoyers für eine deutsche Sicherheitsstrategie, die in einen Kriterienkatalog münden könnte, sowie Vorschläge zur Reformulierung des Konzepts der Inneren Führung. Allerdings erblickt der Autor auch hier noch keinen erfolgversprechenden Weg aus der gegenwärtigen Malaise. 2. Ausgewählte Dimensionen von Auslandseinsätzen Nach der (grundsätzlichen) politischen wie rechtlichen Rahmung rücken die Auslandseinsätze selbst in den Mittelpunkt. Die Ethnologin Maren Tomforde geht am Beispiel Afghanistans einem lange Zeit unterschätzten Faktor nach, der für den Erfolg einer Auslandsmission aber von entscheidender Bedeutung sein kann: Die eingehende Auseinandersetzung mit lokalen Kulturen sei für den einzelnen Einsatzsoldaten vor Ort ebenso unerlässlich wie für die politisch-strategische Ebene im Heimatland. Kulturelle Besonderheiten der jeweiligen Gastgesellschaft sollten ihres Erachtens von Anfang an in Planung und Organisation der Einsätze miteinbezogen werden. Dies sei nicht nur erforderlich, um den Stabilisierungsmaßnahmen die erforderliche Nachhaltigkeit zu verleihen, sondern auch, um Einsatzsoldaten die Misslichkeit zu ersparen, die Nichtbeachtung kultureller Besonderheiten seitens

Multidisziplinäre Perspektiven auf Auslandseinsätze der Bundeswehr

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der politisch-strategischen Ebene vor Ort individuell ausgleichen zu müssen – sofern dies überhaupt möglich sein sollte. Ebenfalls am Beispiel Afghanistans thematisiert und problematisiert der Politologe und Ökonom Günter Mohrmann das prinzipiell notwendige, konzeptionell wie praktisch aber auch reibungsträchtige Zusammenspiel militärischer und ziviler Aufbaukräfte in Post-Konflikt-Regionen. Insbesondere die Zwischenstellung der Civil-Military Cooperation (CIMIC) zwischen militärischem Auftrag und zivilen Anforderungen führt demnach immer wieder zu immanenten Widersprüchen. Aber auch unterschiedliche Organisationskulturen und wechselseitige Berührungsängste stünden einer optimierten Zusammenarbeit entgegen. Im Interesse eines möglichst effektiven Neubzw. Wiederaufbaus plädiert der Autor für eine stärkere Trennung militärischer und ziviler Komponenten. 3. Der Soldat im Mittelpunkt Die folgenden Beiträge verlagern den Schwerpunkt von den Auslandseinsätzen auf die Soldaten und Soldatinnen, die sie durchführen. Der Soziologe Heiko Biehl eruiert gemeinsam mit dem Pädagogen Jörg Keller die Sicht der Soldaten auf ihre Missionen. Damit füllen die Autoren eine immer noch klaffende Lücke in der anwachsenden Literatur zur Evaluierung militärischer Auslandseinsätze. Sie stützen ihre Analysen auf Befragungen, die das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SOWI) unter Kontingentteilnehmern in Bosnien und Afghanistan durchgeführt hat. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Soldaten zu ihrem Auftrag und den Zielen ihrer Mission stehen, wenngleich ihr Urteil über die Nachhaltigkeit des Engagements eher nüchtern ausfällt. Skeptischer äußern sie sich hinsichtlich der Unterstützung durch Bevölkerung, Medien und Politik in Deutschland. Biehl und Keller erklären dies mit einem anti-ideologischen Reflex, der es den Soldaten ermöglicht, sich zu ihrem Einsatz zu bekennen, seine Zielstellungen mitzutragen und sich zugleich von den offiziellen Verlautbarungen der politisch Verantwortlichen zu distanzieren. Die Befunde gemahnen die Entscheidungsträger, Legitimationsangebote für die Einsätze zu liefern, die sowohl die Öffentlichkeit als auch die Soldaten überzeugen. Dies gilt umso mehr, als es Soldaten bereits schwerfällt, ihren Umgang mit Gewalt auch nur zu thematisieren. Das zumindest ist der Befund von Maja Apelt, die mit Soldaten sowohl aus Kampfeinheiten als auch aus der zivil-militärischen Zusammenarbeit narrative Interviews geführt hat. Dabei richtet die Soziologin ein besonderes Augenmerk auf die Frage, wie die grundsätzlichen Paradoxien verarbeitet werden, mit denen der einzelne Vollstrecker des staatlichen Gewaltmonopols – also auch jeder Bundeswehrsol-

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dat – konfrontiert ist. Das erste Paradox resultiert demnach aus einer Zivilisierung der Gesellschaft, die sich nicht aus der Abschaffung, sondern aus der staatlichen Monopolisierung personaler Gewalt ergibt. Prinzipielle Delegitimierung und konditionierte Verfügbarkeit physischer Gewalt gehen bei diesem Modus der Zivilisierung gleichsam Hand in Hand. Ein zweites Paradox ergibt sich aus der Komplexität heutiger Einsätze, bei denen Soldaten ein breites Spektrum vom Kampfauftrag bis hin zur Friedenssicherung bedienen müssen, das ihnen teilweise widerstreitende Fähigkeiten abverlangt. Das dritte Paradox betrifft die aktuellen Anforderungen an die Professionalisierung: Denn die Soldaten benötigen zusehends Fähigkeiten aus anderen Berufsfeldern, gleichzeitig müssen sie jedoch spezifische Kompetenzen aufweisen, die sie von anderen Professionen unterscheiden. Dass Qualifikationserfordernisse aber nicht auf rein handwerkliche Fähigkeiten beschränkt werden dürfen, unterstreicht der Pädagoge Claus Freiherr von Rosen. Vielmehr müsse der Soldat – gerade auch einer Einsatzarmee – im Sinne der ‚Inneren Führung‘ gebildet werden. Anhand einer Analyse mittlerweile schwer zugänglicher Dokumente rekonstruiert der Autor, wie Innere und äußere Führung, die nach Wolf Graf von Baudissin zusammen gedacht und praktiziert werden müssten, trotz kurzer Phasen der Annäherung konzeptionell immer wieder von einander abgekoppelt und gegeneinander ausgespielt worden sind. In der Folge sei der Soldat bis heute weitgehend auf sich alleine gestellt, beide Führungsaspekte in der Praxis miteinander zu verknüpfen. Dies hält der Autor auf Dauer für unvertretbar und plädiert für eine gezielte Vermittlung erforderlicher Schlüsselqualifikationen der ‚Inneren Führung‘ im Verbund mit dem Training strategischer, taktischer und waffenhandwerklicher Fertigkeiten für den Einsatz. Der pädagogische Ansatz müsse genereller ansetzen als bislang praktiziert. ‚Innere Führung‘ sieht den Soldaten nicht nur als ‚Rädchen im militärischen Getriebe‘, sondern als freie Persönlichkeit und verantwortungsbewussten Staatsbürger. Sie nimmt ihn zugleich moralisch in die Pflicht, wie Matthias Gillner betont. Denn der katholische Sozialethiker erkennt eine prinzipiell ethische Ambivalenz, die selbst in Fällen begründeter und beschränkter Gewaltanwendung stets vorhanden bleibt. Vor diesem Hintergrund würdigt er das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2005. Dieses sichere dem Soldaten mit der Garantie des Rechts auf Gewissensfreiheit den erforderlichen rechtlichen Freiraum, der es dem Befehlsempfänger auch praktisch ermögliche, sich solchen Anforderungen zu widersetzen, die moralische Grenzen verletzen. Gleichzeitig kritisiert Gillner den Umgang zahlreicher Juristen im Umfeld der Bundeswehr mit diesem Urteil. Sie übten eine rhetorisch scharfe, inhaltlich dagegen kaum überzeu-

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gende Kritik an der Entscheidung und versuchten in bundeswehrinternen Informationsschreiben, die Gewährleistungspraxis bei der Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit zu begrenzen. Eine solche Haltung eignet sich aber nicht dazu, dass sich innerhalb der Bundeswehr eine der Inneren Führung gemäße Kultur der Wertschätzung eines ethisch reflektierten Gehorsamsverständnisses entwickelt. Auslandseinsätze sind für den einzelnen Soldaten aber nicht nur mit ethischen Ambivalenzen, sondern auch mit persönlichen Risiken behaftet: Sie setzen ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel, um den Willen der Politik zu erfüllen. Staat und Gesellschaft können daher nicht einseitig Loyalität und Pflichterfüllung verlangen, sondern sie haben die Verpflichtung, für eine optimale soziale Absicherung eingesetzter Soldaten zu sorgen. Ihr haben sie aber lange Zeit nur unzureichend entsprochen. Mittlerweile sind aber im System der sozialen Absicherung einige Fortschritte zu verzeichnen, wie der Jurist Michael Hofmann diagnostiziert. Ausgehend vom 2004 verabschiedeten Einsatzversorgungsgesetz verdeutlicht er die Bemühungen des Gesetzgebers, Einsatzgeschädigten eine rechtlich abgesicherte berufliche Perspektive zu geben. Das neue Einsatz-Weiterverwendungsgesetz, das rechtssystematisch Neuland betritt, schafft die dafür erforderlichen Voraussetzungen. Allerdings ist aus dem aufwendigen und langwierigen Prozess ein komplexes und auch für den Fachmann nicht immer leicht verständliches Gesetzeswerk entstanden. Der Verfasser lichtet den Nebel, indem er Strukturen und Zusammenhänge herausarbeitet, Inhalte veranschaulicht und Hintergründe beleuchtet. Auch in der aktuellen Diskussion über posttraumatische Belastungsstörungen gibt das Gesetz Antworten, die zu einer Versachlichung der öffentlichen Diskussion führen können.

4. Gesellschaftliche und wissenschaftliche Reflexionen Auslandseinsätze bedürfen auch der gesamtgesellschaftlichen Begleitung und der Reflexion durch einen wissenschaftlichen Diskurs. Bislang unterrepräsentiert sind in diesem Zusammenhang wirtschaftliche Fragestellungen – wohl nicht zuletzt aufgrund immenser methodischer Schwierigkeiten. In diese Lücke stößt der Beitrag des Finanzwissenschaftlers und Umweltökonomen Stefan Bayer. Demnach müssen die ökonomischen Faktoren der Auslandseinsätze identifiziert, deren Kosten und Nutzen in Geldsummen übersetzt und miteinander abgewogen werden. Problemverschärfend kommt hinzu, dass die monetarisierten Größen auf den Planungszeitpunkt vereinheitlicht – sprich: diskontiert – werden müssen, um der Gefahr zu entgehen, Verschiedenartiges miteinander zu vermischen. Der Autor betritt Neuland, indem er eine Methodik für die ökonomische Analyse von Auslandseinsät-

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zen entwickelt. Ihre Umsetzung würde es dem Fiskus erleichtern, seine knappen finanziellen Mittel bestmöglich zu verwenden. Während die ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse bei Auslandseinsätzen bislang kaum Beachtung findet, ist die entscheidende Rolle der Medien in diesem Politikfeld unbestritten. Sie gelten heutzutage neben Exekutive, Legislative und Jurisdiktion oftmals gar als ‚vierte Gewalt‘ im Staate. Ihre Berichterstattung prägt die öffentliche Wahrnehmung und nimmt damit Einfluss zumindest auf die politische Agenda. Der Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Hans-Joachim Reeb geht der Frage nach, inwieweit die Interessen der beteiligten Akteure die Verfügbarkeit von Informationen über relevante Aussagen bzw. Ereignisse beeinflussen und wie der Journalismus diese (selektierten) Informationen zu medialen Themen verarbeitet. Darüber hinaus spürt er den Auswirkungen der Berichterstattung auf den politischen Legitimations- und Entscheidungsprozess sowie auf die Akzeptanz der Einsätze in der Öffentlichkeit nach. Auch in der heutigen Zeit handelt es sich bei beiden Kirchen nicht nur um religiöse Institutionen, sondern auch um gesellschaftlich relevante Instanzen. Nach der Schrift der katholischen Bischöfe zum „Gerechte[n] Frieden“ hat im Jahre 2007 nunmehr auch der Rat der Evangelischen Kirche seine Friedensdenkschrift vorgelegt. An ihr problematisiert der evangelische Sozialethiker Volker Stümke Fragen der ethischen Beurteilung militärischer Auslandseinsätze. Dabei stelle die Schrift selbst vor allem das Recht und das Konzept der menschlichen Sicherheit in den Mittelpunkt. Daran anknüpfend rät Stümke dazu, weder die Bundeswehr noch ihre neuen Einsätze grundsätzlich infrage zu stellen. Allerdings mahnt er an, den Frieden auch bei militärischen Maßnahmen stets als Ziel der Politik anzuvisieren. Trotz der schon jahrelang währenden schleichenden Modifikation der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee müsse ein friedenspolitisches Gesamtkonzept aber immer noch eingefordert werden. Dazu nimmt der Autor auch die Bundeswehr in die Pflicht. Die in mehreren Beiträgen angedeuteten friedenspolitisch problematischen Effekte spitzt die Politologin und Friedensforscherin Sabine Jaberg zu. Sie treibt die Entwicklungen gedanklich auf ein mögliches Ende zu, bei welchem das nationale Interesse das grundgesetzliche Friedensgebot auch bei Fragen des Militäreinsatzes übersteuert. Aus Perspektive der Friedensforschung stellt sich für sie die Frage, welche Optionen die ‚Disziplin‘ im Umgang mit jener Lücke favorisieren sollte, die bereits heute zwischen den friedensnormativen Vorgaben der Verfassung und der gültigen Sicherheitsund Verteidigungsprogrammatik klafft. Dabei rät sie eher zu einer Rückbesinnung auf den anfänglich militärkritischen Impetus als zu einer Beteiligung an einer Debatte über Kriterienkataloge. Zu groß sei andernfalls die

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Gefahr, dass die Friedensforschung jenen legitimatorischen Schatten spendet, in dem sich der Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee vollzieht, die letztlich ganz anderen Zwecken als dem Frieden dient. Literatur Geis, Anna (2005): Die Zivilmacht Deutschland und die Enttabuisierung des Militärischen. Frankfurt/M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK-Standpunkte; 2/2005). Lutz, Dieter S. (1981): Weltkrieg wider Willen? Die Nuklearwaffen in und für Europa. Eine Kräftevergleichsanalyse der Nuklearwaffen in und für Europa. Reinbek: Rowohlt Taschenbuchverlag. Mutz, Reinhard (2006): In der Bündnisfalle – Verschiebt sich die militärisch-zivile Balance deutscher Außenpolitik, in: Friedensgutachten 2006. Hrsg. von Reinhard Mutz et al. Münster: Lit, S. 266–274. Rühle, Michael (2008): Am Rubikon der Kampfeinsätze, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Februar 2008. Senghaas, Dieter (1969): Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt.

Zur Legitimation bewaffneter Auslandseinsätze der Bundeswehr – politische und rechtliche Dimensionen Von Sven Bernhard Gareis und Kathrin Nolte Bekanntlich veränderte sich mit der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und der Wiedervereinigung die sicherheitspolitische Lage Deutschlands in fundamentaler Weise, was nicht zuletzt in einem tiefgreifenden Aufgaben- und Funktionswandel seiner Streitkräfte zum Ausdruck kommt. Seit den zu Beginn der 1990er Jahre einsetzenden Engagements in Missionen der Vereinten Nationen (VN) in Asien, Afrika und auf dem Balkan entwickelte sich die Bundeswehr innerhalb eines Jahrzehnts zu einem häufig gebrauchten Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Der Auslandseinsatz ist zu einem konstitutiven Element des Auftrages und vielleicht auch schon des Selbstverständnisses einer ‚neuen‘ Bundeswehr geworden.1 Dagegen ist die Landes- und Bündnisverteidigung – jahrzehntelang die Legitimationsgrundlage für das deutsche Militär schlechthin – gemäß den 2003 erlassenen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ (VPR) nicht länger die „allein strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr“2. Das im Oktober 2006 vorgelegte „Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ führt denn auch an erster Stelle einer Aufzählung von Aufgaben der Streitkräfte die Sicherung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit an, gefolgt vom Beitrag zur Stabilität im europäischen und globalen Rahmen. Erst im dritten Punkt taucht nach der Sorge für die nationale Sicherheit auch der Begriff ‚Verteidigung‘ auf.3 Entsprechend orientieren sich Struktur, Ausbildung und Ausstattung einer auf 250.000 Soldaten verkleinerten Bundeswehr an einem Aufgabenspektrum, in dem weltweite Einsätze den Regelfall darstellen. Zwar sehen sowohl die VPR als auch das Weißbuch den Verteidigungsauftrag gemäß Art. 87 a des Grundgesetzes (GG) als „verfassungsrechtliche Kernfunktion der Bundeswehr“4 an, für die politisch-militärische Praxis aber wird auf den weiten Gestaltungsspielraum verwiesen, den Art. 24 (2) GG sowie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 eröffnen: internationale Missionen an jedem 1 2 3 4

Zum Selbstverständnis der Soldaten vgl. den Beitrag von Apelt in diesem Band. BMVg (2003), Ziff. 12. Vgl. BMVg (2006), S. 13 und S. 70. BMVg (2006), S. 75.

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Platz der Welt, von dem aus Gefahr für die Sicherheit Deutschlands droht, zur Prävention von Krisen und Konflikten, zu ihrer Eindämmung wie auch zu ihrer Nachsorge, einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus.5 Der Auftrag der Bundeswehr wird so in politischer wie auch geographischer Hinsicht entgrenzt: Die Streitkräfte müssen das Land und seine Grenzen nicht mehr vor aggressiven Nachbarn schützen. Vielmehr ist durch das Scheitern von Staaten, durch regionale Instabilitäten, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen oder den transnationalen Terrorismus ein neues, komplexes Risikobündel entstanden. Zu dessen wirksamer Behandlung bedarf es eines differenzierten politischen Instrumentariums, welches auch militärische Einsätze bis hin zum Kampf nicht ausspart. Gegenwärtig (Stand April 2009) beteiligen sich rund 73006 deutsche Soldatinnen und Soldaten an acht Friedensmissionen, insgesamt waren bereits mehr als 200.000 Bundeswehrangehörige weltweit im Einsatz. Im vorliegenden Beitrag sollen die politischen und rechtlichen Dimensionen einer veränderten Legitimationsfigur für die Existenz deutscher Streitkräfte analysiert werden, aber auch die Schwierigkeiten und Widersprüche, unter denen sich der Funktionswandel der Bundeswehr von der Verteidigungs- hin zur Interventionsarmee mit globalem Einsatzradius seit fast zwei Jahrzehnten vollzieht. Eingegangen werden soll dabei vor allem auf die Grundlagen der nationalen Entscheidungsverfahren in Bundesregierung und Bundestag über auswärtige Einsätze der Bundeswehr sowie auf die erheblichen Einflüsse, denen diese Prozeduren aufgrund der engen multinationalen Einbindung Deutschlands in der Sicherheitspolitik unterliegen. Vor diesem Hintergrund soll dann auch nach möglichen strategischen und insofern auch legitimatorischen Defiziten gefragt und Ansätze zu deren Beseitigung aufgezeigt werden. Zuvor jedoch gilt es zumindest in knapper Weise den angesprochenen Wandel der Bundeswehr zu skizzieren, um zum einen das Ausmaß der Veränderungen zu verdeutlichen, zum anderen aber um die grundlegenden Prinzipien der Legitimation von Streitkräften aufzuzeigen, die in Deutschland jahrzehntelang galten und die auch in der Gegenwart von erheblicher Wirkkraft sind.

I. Die Bundeswehr als Verteidigungsarmee Die nach der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 erfolgte vollständige Demilitarisierung des Landes war nicht nur der Vollzug 5 6

Vgl. BMVg (2003), Ziff 5; BMVg (2006), S. 75. Vgl. www.bundeswehr.de/Einsätze.

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des Willens der Siegermächte. Vielmehr war nach den Schrecken des zweiten von Deutschland ausgelösten Weltkrieges gerade in der jungen Bundesrepublik die Abneigung gegen eine Wiederbewaffnung stark ausgeprägt. Die nach heftigen Diskussionen in den frühen 1950er Jahren gegen eine breite „Ohne-mich“-Bewegung durchgesetzte Aufstellung von Streitkräften war daher nur vorstellbar als Reaktion auf die Bedrohung durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten und unter fester Einbindung in multilaterale Bündnisse wie die Nordatlantische Vertragsorganisation (NATO).7 Entsprechend ambivalent wurde die Wahrnehmung neuer militärischer Funktionen von einer skeptischen Öffentlichkeit begleitet.8 Die Bundesrepublik Deutschland verzichtete auf jegliche zur weitreichenden Machtprojektion geeignete Waffensysteme und Fähigkeiten, es existierte kein Generalstab zur umfassenden strategischen Einsatzführung, dafür war die Bundeswehr fest in die integrierten Strukturen der NATO eingebunden.9 Die Bundeswehr blieb vollständig auf ihren Verteidigungsauftrag beschränkt, dieser war bis zur Wiedervereinigung ihre einzige in Politik, Gesellschaft und auch Militär akzeptierte Daseinslegitimation.10 Der exklusiven Orientierung an der Landes- und Bündnisverteidigung entsprechend wurden auswärtige Einsätze der Bundeswehr jenseits dieses Auftrags in einem breiten Konsens über alle politischen und gesellschaftlichen Lager hinweg abgelehnt. In einer engen Interpretation des Art. 87 a (2) GG wurden sogar Beteiligungen deutscher Soldaten an Friedensmissionen der sonst sehr geschätzten und unterstützten Vereinten Nationen als unvereinbar mit dem Grundgesetz abgelehnt.11 Gleichwohl waren deutsche Soldaten von Beginn an in zahlreichen Engagements rund um den Erdball präsent. Doch handelte es sich dabei ausnahmslos um humanitäre, technische, logistische oder sanitätsdienstliche Hilfseinsätze, die ausschließlich gewaltfreie Aufgaben umfassten und die von unbewaffneten Soldaten durchgeführt wurden12. Diese Missionen blieben nach ebenfalls konsensualem Verständnis in Politik und Gesellschaft unterhalb der Schwelle militärischer Einsätze im Sinne von Art. 87 a (2) GG und unterstrichen so das vergleichsweise zivile Bild der Bundeswehr. Die eng gefasste Auslegung von Art. 87 a GG schuf indes auch ein willkommenes Tabu: Im Gegensatz zu ihren Verbündeten, die als ehemalige 7

Vgl. Gareis (2006), Kap. 3. Vgl. Kutz (2007), S. 65; ausführlich: Bald (1994). 9 BMVg (1985), S. 99 f. 10 Vgl. Kümmel (2006). 11 Vgl. Hoffmann (1991). 12 Vgl. Rauch (2004). 8

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Kolonialmächte oder als globale Mächte immer wieder vor schwierigen Herausforderungen standen, blieben der Bundesrepublik jahrzehntelang „Entscheidungen von strategischer Reichweite und moralischer Tragik erspart“13. In der waffenstarrenden Stabilität des Ost-West-Konflikts konnte sich die Bundesrepublik unter Vorhaltung einer erheblichen Streitmacht in der Gewissheit einrichten, dass der Weltuntergang ausbleiben und sie ihr Militär nie würde einsetzen müssen. Nach der Wiedervereinigung und unter fundamental veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen jedoch musste sich auch Deutschland mit neuen militärischen Handlungserfordernissen auseinandersetzen und Prozesse des Lernens und der Neuorientierung durchlaufen, die bis heute noch nicht abgeschlossen sind.

II. Neue Herausforderungen und multilaterale Verpflichtungen Mit der Wiedervereinigung änderte sich ab 1990 die sicherheitspolitische Lage für Deutschland grundlegend. Die Welt stand nach der Zeitenwende von 1989/90 vor neuen Risiken und Herausforderungen. Entlang ethnischer, religiöser, weltanschaulicher, ökonomischer oder territorialer Konfliktlinien entzündeten sich in vielen Teilen der Welt Auseinandersetzungen, die während des Ost-West-Konflikts oftmals unterdrückt oder verdrängt wurden. Die jahrzehntelang überschaubare bipolare Sicherheitsordnung machte einem dezentralen und vielgesichtigen globalen Konfliktszenario Platz. Trug noch der Golfkrieg 1990/91 die Züge des klassischen zwischenstaatlichen Krieges, verlagerte sich im Verlauf der weiteren Jahre die Gewalt immer mehr in die zerrissenen Gesellschaften zahlreicher Staaten Afrikas, Asiens, Lateinamerikas, aber auch Europas hinein. Der Krieg verstanden als organisierte und intentionale Anwendung von Gewalt als Mittel der Politik souveräner Staaten wurde immer seltener, mit der Entstaatlichung der Gewalt ging ihre Privatisierung und Ökonomisierung einher, zunehmend aber auch ihre Entgrenzung und weitere Brutalisierung.14 Wachsende wirtschaftliche Verflechtung und Interdependenz, fortschreitende Globalisierung im Medien- und Kommunikationsbereich wie auch der Verkehrs- und Transportwege sorgten zudem dafür, dass kein Staat in den westlich geprägten Stabilitätsoasen von den direkten und indirekten Folgen von Krise und Krieg auch in entfernten Weltregionen verschont blieb. Angesichts dieser neuen Herausforderungen drängten die Verbündeten immer nachdrücklicher auf deutsche Beiträge zum internationalen Krisenmanagement. Die NATO hatte bereits im Jahr 1991 mit ihrem Strategischen 13 14

Stürmer (1990), S. 247. Vgl. Daase (1999); Kaldor (2000); Meyers (2001); Münkler (2002).

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Konzept auf die neuen Herausforderungen reagiert und unter den Vorzeichen eines breitangelegten sicherheitspolitischen Ansatzes Krisenbewältigung und Konfliktverhütung in ihren Aufgabenkatalog einbezogen.15 Auch die Westeuropäische Union (WEU) erklärte sich 1992 bereit, militärische Aufgaben in einem breiten Spektrum von humanitären und Rettungseinsätzen über die Friedenssicherung bis hin zur gewaltsamen Friedenserzwingung zu übernehmen. Diese sogenannten Petersberg-Aufgaben wurden 1997 in den Amsterdamer Vertrag aufgenommen und bilden seit der in Nizza (2000) erfolgten Inkorporation der operativen Funktionen der WEU in den Vertrag zur Europäischen Union (EU) das zentrale Aufgabenbündel der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Parallel zu diesen Entwicklungen in NATO und EU bemühte sich Deutschland zudem nachdrücklich um die Schaffung multinationaler Streitkräftestrukturen in Europa. Dabei standen gemeinsame Truppenkörper wie die Deutsch-Französische Brigade in Müllheim, das Eurokorps in Straßburg, das Deutsch-Niederländische Korps in Münster oder das Multinationale Korps Nordost in Stettin zunächst in eher symbolischer Weise für das Zusammenwachsen der Staatengemeinschaft in Europa. Die Bewährungsprobe dieser multinationalen Strukturen bildeten indes die zahlreichen internationalen Einsätze auf dem Balkan oder in Afghanistan, in denen Militärverbände aus oft mehr als dreißig Nationen geführt werden mussten. Die jahrzehntelang gern gesehene militärische Zurückhaltung Deutschlands in Verbindung mit erheblichen finanziellen Kompensationen wurde über Nacht als ‚Scheckbuch-Diplomatie‘ kritisiert und solidarisches Verhalten auch in den bald zahlreichen internationalen Militäreinsätzen eingefordert. Mehr aus Bündnisräson denn aus eigenen machtpolitischen Intentionen heraus begann sich Deutschland aktiv am Aufbau neuer multilateraler Streitkräftestrukturen und Instrumente der Sicherheitsvorsorge und schließlich auch an bewaffneten Unternehmungen im Kontext von NATO, EU und UNO zu beteiligen.

III. Rechtliche Voraussetzungen für Auslandseinsätze der Bundeswehr 1. Völkerrecht Der Einsatz bewaffneter deutscher Soldaten im Ausland bedarf zunächst einer völkerrechtlichen Grundlage. Da eine bewaffnete Intervention in einem fremden Land eher selten auf Einladung oder mit dem Einverständnis 15

NATO (1991), Teil III, hier Ziff. 32 f.

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des betroffenen Landes erfolgt („erbetene Intervention“)16, steht einem Einsatz zunächst das völkerrechtliche Gewaltverbot aus Art. 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen entgegen. Danach müssen sich alle Mitgliedstaaten jeglicher Androhung oder Anwendung von Gewalt, die gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Landes gerichtet ist, enthalten. Doch nennt die Charta selbst Ausnahmen von diesem Grundsatz: Der Sicherheitsrat (SR) der Vereinten Nationen kann diejenigen Maßnahmen anordnen, die er für erforderlich hält, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren bzw. wiederherzustellen. Hierzu zählt neben der Aufforderung zur Einhaltung vorläufiger Maßnahmen oder der Abgabe von Empfehlungen durch den Sicherheitsrat auch die Anordnung bzw. die Autorisierung militärischer Zwangsmaßnahmen. Die auf ein solches Mandat des Sicherheitsrates gestützten Interventionen bewegen sich dann wieder in den Grenzen der zulässigen Ausnahmen vom Gewaltverbot und sind damit völkerrechtskonform. Als zweiter Ausnahmetatbestand vom Allgemeinen Gewaltverbot ist das in Art. 51 der Charta verankerte, naturgegebene Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung zu nennen. Dieses Selbstverteidigungsrecht erlaubt die Abwehr eines bewaffneten Angriffs, und zwar nicht nur auf eigenem Territorium.17 Die veränderte Bedrohungslage, insbesondere die gewachsene asymmetrische Bedrohung durch terroristische Anschläge, die nicht-staatlichen Gruppen zuzurechnen sind, hat die Frage aufgeworfen, ob auch gegen solche Angriffe die völkerrechtliche Selbstverteidigung gemäß Art. 51 der Charta zulässig ist und ob hier gegebenenfalls auch präventiv wirkende militärische Maßnahmen ergriffen werden dürfen.18 Gravierende rechtliche Probleme werfen jene Fälle auf, in denen eine bewaffnete Intervention ohne ein zuvor erteiltes SR-Mandat und ohne Vorliegen eines bewaffneten Angriffs durchgeführt wird. Dies geschah 1999, als die NATO – unter Beteiligung Deutschlands – militärisch im ehemaligen Jugoslawien einschritt. Gerechtfertigt wurde dieses Vorgehen damit, dass im Kosovo für die Volksgruppe der Albaner eine humanitäre Katastrophe in Form einer ethnischen Säuberung bevorstand und durch den Einsatz habe verhindert werden müssen. Die Zulässigkeit einer ‚Humanitären Intervention‘ wurde daraufhin erneut und intensiv als mögliche neue, ungeschriebene Ausnahme vom Gewaltverbot diskutiert. Die Meinungen hierzu sind nach wie vor uneinheitlich, die Herausbildung von – unstreitigem – Völker16

So aber beispielsweise der Einsatz Essential Harvest in Mazedonien, der auf Bitten des mazedonischen Staatspräsidenten und mit Billigung der Konfliktparteien durchgeführt wurde. 17 Vgl. Weingärtner (2007), S. 10; Wiefelspütz (2005), S. 260. 18 Die aufgeworfenen Fragen werden hier nicht weiter problematisiert. Näher zu dem Problemkreis vgl. Wiefelspütz (2005), S. 257 ff.

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gewohnheitsrecht kann gegenwärtig sicherlich noch nicht angenommen werden, auch wenn teilweise schon von Völkergewohnheitsrecht in statu nascendi die Rede ist.19 Die politischen Interessen der europäischen Nachbarn, die eine Destabilisierung der Region befürchteten, und auch die westlich geprägten Werte wie der Menschenrechtsschutz (insbesondere in Form des Minderheitenschutzes) haben im Kosovo-Fall zum Tätigwerden in Form einer ‚Humanitären Intervention‘ geführt: Auf der einen Seite moralisch begründet und nachvollziehbar, auf der anderen Seite jenseits geltenden Völkerrechts und damit – noch – völkerrechtswidrig. Für Deutschland resultiert hieraus, dass bewaffnete Einsätze der Bundeswehr grundsätzlich der Legitimation durch den VN-Sicherheitsrat bedürfen, wenn sie nicht – wie die Beteiligung an der Operation Enduring Freedom – im Rahmen von (kollektiven) Verteidigungsmaßnahmen stattfinden. Die deutsche Kosovo-Beteiligung von 1999 bildet die bis heute diskutierte Ausnahme von dieser Regel. 2. Innerstaatliches Recht Die Zulässigkeit eines bewaffneten Einsatzes im Ausland ist gegeben, wenn es für diesen konkreten Einsatz eine Rechtsgrundlage gibt und deren Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, ein entsprechender Kabinettsbeschluss vorliegt und der Deutsche Bundestag gemäß § 1 (2) des Parlamentsbeteiligungsgesetzes (ParlBG) seine – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung zum Einsatz gegeben hat.20 a) Allgemeine verfassungsrechtliche Voraussetzungen Die Rechtsgrundlage für einen Einsatz der Bundeswehr im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme findet sich in Art. 24 (2) GG. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 12. Juli 1994 festgestellt und damit rechtlich bindend festgelegt.21 Art. 24 (2) GG lautet: „Der Bund kann sich einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen und zu diesem Zwecke in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen.“ Das Bundesverfassungsgericht hatte im Rahmen eines Organstreitverfahrens, das im Wesentlichen die Frage nach den Mitwirkungsrechten des Bun19

Vgl. statt aller Wiefelspütz (2005), S. 282 ff. So auch Dreist (2004), S. 129 und S. 135. 21 Gemäß § 31 (1) des Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. 20

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destages bei der Entscheidung über den Einsatz deutscher Soldaten im Rahmen von Aktionen der NATO und der WEU zum Gegenstand hatte, festgestellt, dass als verfassungsrechtliche Grundlage für einen Einsatz der deutschen Bundeswehr im Rahmen und nach den Regeln eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit Art. 24 (2) GG22 heranzuziehen sei. Die Eingliederung in ein solches System sei mit der Übernahme der damit typischerweise verbundenen Pflichten gekoppelt – und damit sei auch ein Einsatz deutscher Streitkräfte in diesem Rahmen zulässig. Auch zum Verhältnis des Art. 24 (2) GG zu Art. 87 a GG hat das Verfassungsgericht eindeutige Aussagen gemacht: Art. 87 a GG stehe der Anwendung des Art. 24 (2) GG als verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit nicht entgegen.23 Insbesondere hieran entzündet sich nach wie vor Kritik. In der Tat könnte ein unvoreingenommener – und am strikten Wortlaut orientierter – Leser aus der Formulierung insbesondere des Art. 87 a (2) GG24 zunächst schließen, dass die Möglichkeit, sich an Auslandseinsätzen zu beteiligen, expressis verbis im GG festgelegt sein müsse. Dieser sogenannte Verfassungsvorbehalt wird im Bereich der möglichen Einsätze der Bundeswehr im Innern, auch und gerade in der aktuellen Debatte um eine Erweiterung der Einsatzoptionen der Bundeswehr (Stichwort Luftsicherheit), außerordentlich stark betont. Fragen des noch zulässigen oder bereits verfassungswidrigen Einsatzes der Streitkräfte bei der Absicherung von Großveranstaltungen (Fußball-Weltmeisterschaft, G8-Gipfel in Heiligendamm), der Luftsicherung oder zur Suche nach Vermissten entscheiden sich meist am Kriterium der expliziten Gestattung dieser Art von Einsatz.25 Gleichzeitig wird besonders auf das sogenannte Gebot der Texttreue verwiesen, das es verbiete, grundgesetzliche Regelungen über ihren Wortlaut hinausgehend zu interpretieren. Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil demgegenüber eine historische Betrachtung und Auslegung26 der in Rede stehenden grundgesetzlichen Vorschriften (Art. 24 (2) und 87 a GG) vorgenommen und anschließend Art. 87 a GG teleologisch reflektiert: Art. 24 (2) GG sei schon vor der Ergänzung des Grundgesetzes um Art. 87 a GG im Jahr 1956 bzw. 1968 vor22

BVerfGE 90, 286, 1. Leitsatz. BVerfGE 90, 286, 2. Leitsatz. 24 „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“ 25 Es sind vier Einsatzmöglichkeiten der Streitkräfte im Innern Deutschlands aktuell denkbar: Innerer Notstand, äußerer Notstand, regionaler und überregionaler Katastrophennotstand (davon abzugrenzen ist die Amtshilfe, die als solche keine zusätzlichen Befugnisse der Streitkräfte begründet). 26 BVerfGE 90, 286, 356. 23

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handen gewesen. Die Wehrnovelle bzw. die Änderung der Wehrverfassung im Rahmen der Notstandsgesetzgebung habe kaum bisher mögliche Einsätze im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme beschränken wollen.27 Zielsetzung der Novelle sei eine ganz andere gewesen, nämlich diejenigen Voraussetzungen zu regeln, unter denen die Streitkräfte im Fall eines inneren Notstandes eingesetzt werden dürften.28 Mit dieser Begründung sah das Verfassungsgericht eine Art implizite Ausdrücklichkeit29 als gegeben an, sich an Auslandseinsätzen im Rahmen von kollektiven Sicherheitssystemen zu beteiligen – mithin erblickte es keinen Widerspruch zur Formulierung des Art. 87 a (2) GG. Mit der Feststellung der verfassungsrechtlichen Rechtsgrundlage – Art. 24 (2) GG – bleibt die Aufgabe, deren einzelne Voraussetzungen kurz darzustellen. Erste Voraussetzung ist die Eingliederung Deutschlands in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, nach dessen Regeln und unter dessen Ägide der geplante Einsatz multilateral durchgeführt werden soll. Welche Organisationen unter diesen Begriff des ‚Systems kollektiver Sicherheit‘ fallen, ist heute wie zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes umstritten30 und folglich auch nicht abschließend für alle existierenden Zusammenschlüsse geklärt; für den zu entscheidenden Fall UNOSOM II hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Judikat von 1994 allerdings eine juristisch entscheidende Definition formuliert: „Ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 (2) GG ist dadurch gekennzeichnet, daß es durch ein friedensicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation für jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit begründet, der wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet und Sicherheit gewährt. Ob das System dabei ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedstaaten Frieden garantieren oder bei Angriffen von Außen zum kollektiven Beistand verpflichten soll, ist unerheblich.“31 Ausgehend von der Präambel des NATO-Vertrags (die Mitglieder vereinigen „ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit“), den Bestimmungen in Art. 5, die den Bündnispartnern gestatten, die Rechte auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung gemäß Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen wahrzunehmen, sowie der gegenseitigen Konsultationspflicht und der Verpflichtung, Streitfälle, an denen sie beteiligt sind, friedlich zu regeln, hat das Verfassungsgericht auch der NATO als Verteidigungsbündnis das geforderte „frieden27 28 29 30 31

BVerfGE 90, 286, 356. BVerfGE 90, 286, 356. Die Wortschöpfung stammt von Jaberg (2008), S. 89. Vgl. Jaberg (2008), S. 90; BVerfGE 90, 286, 347. BVerfGE 90, 286, 5. Leitsatz.

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sichernde Regelwerk“ bescheinigt.32 Die Rechtmäßigkeit eines Einsatzes erfordert mithin die Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in ein solches kollektives Sicherheitssystem wie das der VN oder der NATO und die Durchführung der Einsätze nach deren Regeln und eingebettet in deren System. Das gemäß Art. 59 (2) 1 GG erforderliche Zustimmungsgesetz zum Beitritt zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit stellt den notwendigen innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl für die auf der Grundlage des Vertrags gefassten völkerrechtlichen Beschlüsse dar.33 Zuletzt mit seinem Urteil vom 3. Juli 2007 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die aktuelle Bundesregierung sich mit ihrer Außen- und Sicherheitspolitik innerhalb des Integrationsprogramms der NATO bewege, wie es der Deutsche Bundestag im Wege des Zustimmungsgesetzes zu diesem Vertrag mit verantworte.34 Die Zustimmung zum Neuen Strategischen Konzept der NATO von 1999 und die weitere konsensuale Fortentwicklung des Washingtoner Vertrages seien von der ursprünglichen Zustimmung des Bundestages aus dem Jahr 1955 zum Bündnisbeitritt weiterhin gedeckt. Soweit also die Exekutive den nunmehr erweiterten Aufgabenkreis der Krisenreaktionseinsätze mit verantworte, sei dies im Rahmen des ihr zustehenden weit bemessenen Spielraums im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik Ausdruck einer funktionsgerechten Teilung der Staatsgewalt.35 Zweite Voraussetzung verfassungsrechtlicher Art ist das Vorliegen eines Kabinettsbeschlusses zur Entsendung deutscher Streitkräfte. Der endgültige Kabinettsbeschluss muss dann Angaben über den Einsatzauftrag, das Einsatzgebiet, die rechtlichen Grundlagen des Einsatzes, die Höchstzahl der einzusetzenden Soldatinnen und Soldaten, die Fähigkeiten der einzusetzenden Streitkräfte, die geplante Dauer des Einsatzes sowie dessen voraussichtliche Kosten und seine Finanzierung enthalten. Diese Angaben sind verpflichtend und lassen sich § 3 (2) des seit März 2005 in Kraft befindlichen Parlamentsbeteiligungsgesetzes entnehmen. Liegt ein solcher Kabinettsbeschluss vor, wird er – drittens – dem Bundestag zur Abstimmung zugeleitet. Seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1994 ist vor jedem bewaffneten Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland die grundsätzlich vorherige konstitutive Zustimmung des Bundestages erforderlich.36 Dieser sogenannte Parlamentsvorbehalt ist seit 2005 32 BVerfGE 90, 286, 351; so auch die mittlerweile ‚herrschende Meinung‘: statt aller vgl. Wiefelspütz (2005), S. 145. 33 BVerfG, 2 BvE 6/99 vom 22.11.2001, Absatz-Nr. 152, in: www.bverfg.de. 34 BVerfG, 2 BvE 2/07 vom 03.07.2007, Absatz-Nr. 51, in: www.bverfg.de. 35 BVerfG, 2 BvE 6/99 vom 22.11.2001, Absatz-Nr. 149, in: www.bverfg.de. 36 BVerfGE 90, 286, 3. Leitsatz. Das Verfassungsgericht hatte in einer Art Gesamtschau der wehrverfassungsrechtlichen Regelungen im Grundgesetz und unter Rückgriff auf die Verfassungstradition geschlussfolgert, dass die deutsche Bundes-

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auch einfachgesetzlich in dem bereits erwähnten Parlamentsbeteiligungsgesetz verankert, das als Verfahrensgesetz die Ergebnisse des Streitkräfteurteils umsetzt. Dort heißt es in § 1 (2): „Der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes bedarf der Zustimmung des Bundestages.“ Damit verbleibt zwar auf der einen Seite bei der Bundesregierung die exekutive Prärogative, da sie nach wie vor über die politische Entscheidungshoheit – insbesondere auch für bündnispolitische Erwägungen – verfügt und über die inhaltliche Gestaltung der Beschlussvorlage bzw. über die Frage, ob sie dem Parlament überhaupt eine solche vorlegt, entscheidend die Außen- und Sicherheitspolitik bestimmen kann. Auf der anderen Seite ist zu festzustellen, dass innerstaatlich die Legislative in Form des Bundestages einen enormen Kompetenzzuwachs durch die schlussendliche Bestimmung über das ‚Ob‘ der Entsendung der Streitkräfte erfahren hat. Besonderes Augenmerk ist dabei auf die konkrete Ausgestaltung des Parlamentsvorbehalts zu legen. b) Parlamentsvorbehalt So heißt es in § 3 (3) ParlBG, dass der Bundestag dem Antrag „zustimmen oder ihn ablehnen“ könne. Einerseits wird hiermit deutlich, dass dem Bundestag die endgültige Entscheidungskompetenz durch die schlussendliche Bestimmung über das ‚Ob‘ der Entsendung der Streitkräfte obliegt. Andererseits kann er nicht in einzelne Punkte der Ausgestaltung des beabsichtigten Einsatzes in irgendeiner Weise korrigierend eingreifen, denn er ist nur zur Zustimmung oder Ablehnung berufen; Änderungen des Antrages der Bundesregierung kann er nicht vornehmen. Bündnispolitische Erwägungen, die sich in den konkreten Rahmenbedingungen des geplanten Einsatzes und damit im Kabinettsentwurf widerspiegeln, liegen folglich weiterhin in der alleinigen Hand der Bundesregierung. Auch ein sogenanntes Initiativrecht steht dem Bundestag nach allgemeiner Meinung nicht zu: Er kann also einzig auf die Anträge des Kabinetts reagieren, aber nicht selber tätig werden und gegebenenfalls die Beteiligung an einem Einsatz gleichsam vorschlagen und selbst einbringen. Im Bereich des „vereinfachten Zustimmungsverfahrens“ wird die Genehmigung des Bundestages zum Einsatz mittels einer Zustimmungsfiktion unterstellt, wenn nicht „innerhalb von sieben Tagen nach der Verteilung der Drucksache von einer Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages eine Befassung des Bundestages verlangt wird“37. Anwendung wehr ein „Parlamentsheer“ sei, dessen Entsendung ins Ausland von der Zustimmung des Bundestages abhängig zu machen sei. 37 § 4 ParlBG.

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findet dieses vereinfachte Procedere nicht nur auf Einsätze geringer Intensität und Tragweite wie beispielsweise Erkundungskommandos, sondern auch bei der Verlängerung von Zustimmungsbeschlüssen ohne inhaltliche Änderung.38 Die nachträgliche Zustimmung des Bundestages gemäß § 5 ParlBG kann bei einer Entsendung von Streitkräften, die ohne Verzögerung bei Gefahr im Verzug und daher ohne vorherige Zustimmung des Bundestages vorgenommen werden musste, erfolgen. Hiervon ist regelmäßig auch auszugehen bei geheimhaltungsbedürftigen Einsätzen wie denen des Kommandos Spezialkräfte (KSK). In den genannten Fällen ist es juristisch unstrittig und in § 5 (3) ParlBG auch normiert, dass eine unverzügliche nachträgliche Befassung des Bundestages auch zu einem ablehnenden Votum führen kann mit dem Ergebnis, dass die Streitkräfte aus dem Einsatz zurückzurufen wären.39 Ob § 8 ParlBG, der das sogenannte Rückholrecht des Bundestages regelt, ein umfassendes Rückrufrecht normieren soll, das der Bundestag auch initiativ geltend machen könnte, ist in der Literatur nach wie vor umstritten. So wird teilweise davon ausgegangen, dass ein Revokationsrecht nur in dem Fall des § 5 ParlBG, also bei einer nachträglichen Befassung des Bundestages, möglich sein soll, zum Teil wird aus der allgemein gehalten Überschrift auch auf ein umfassendes Rückholrecht des Bundestages geschlossen.40 c) Zwischenbilanz Das Vorliegen der drei verfassungsrechtlichen Voraussetzungen – Eingliederung in ein System kollektiver Sicherheit, Vorliegen eines Kabinettsbeschlusses und einer grundsätzlich vorherigen konstitutiven Zustimmung des Bundestages – ergänzt die völkerrechtliche Zulässigkeit eines Einsatzes der deutschen Streitkräfte außerhalb des Rechts auf individuelle wie kollektive Selbstverteidigung. Bisher haben sich die jeweiligen Bundesregierungen und auch der Deutsche Bundestag, mit Ausnahme der Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999, an die Voraussetzungen der völker- und verfassungsrechtlichen Zulässigkeit, d.h. an eine Mandatierung des jeweiligen Einsatzes durch den Sicherheitsrat und dessen Durchführung im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit gehalten.41 Der Parlamentsvor38 Vereinzelt werden diese Regelungen unter dem Stichwort ‚Parlamentsentmündigungsgesetz‘ kritisiert; eine nähere Auseinandersetzung mit diesem Vorwurf erfolgt hier nicht. 39 Vgl. schon BVerfGE 90, 286, 388. 40 Der Streit bedarf hier keiner Entscheidung. Da ein solcher Fall in Deutschland noch nicht aufgetreten ist, hat sich die Rechtsprechung mit der Reichweite des Revokationsrechts nach § 8 ParlBG noch nicht befassen müssen. 41 Die Beteiligung an der ebenfalls umstrittenen Operation Enduring Freedom (OEF) stützt sich auf das Selbstverteidigungsrecht ab.

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behalt stellt ein wesentliches Korrektiv für die bis dahin sehr engen Grenzen der parlamentarischen Verantwortungsübernahme im Bereich der auswärtigen Sicherheitspolitik dar. Es besteht fortan gerade kein eigenverantwortlicher Entscheidungsraum der Bundesregierung mehr, vielmehr befinden sich Regierung und Parlament nunmehr in einer Art geteilter Verantwortung beim auswärtigen Streitkräfteeinsatz. Der Parlamentsvorbehalt ist somit ein Teil des Bauprinzips der Gewaltenteilung, nicht seine Durchbrechung.42 3. Weitere Fragen Trotz Parlamentsbeteiligungsgesetz sind auch mehr als vierzehn Jahre nach dem Urteil des Verfassungsgerichtes die Diskussionen zu zwei wesentlichen Punkten nicht abgeschlossen. Umstritten ist noch immer, ob Auslandseinsätze nach Art. 24 (2) GG zugleich auch Verteidigungsanstrengungen nach Art. 87a GG darstellen müssen und wie weit gegebenenfalls dann der Begriff der Verteidigung gefasst werden müsste. In diesem Punkt dürfte sich allerdings auch als Folge der politischen Praxis eine Auffassung dergestalt durchsetzen, dass Art. 24 (2) GG eine Ermächtigungsnorm für Einsätze „außer zur Verteidigung“ gemäß Art. 87a (2) GG darstellt. Schwieriger verhält es sich indes nach wie vor mit der Frage, welche Einsatzformen dem konstitutiven Parlamentsvorbehalt unterliegen und welche nicht. Wie oben gezeigt, sind nach § 2 ParlBG grundsätzlich alle bewaffneten Einsätze oder solche, in denen mit Gewaltanwendung gerechnet werden muss, zustimmungspflichtig, die Teilnahme unbewaffneter Militärbeobachter etwa im Rahmen von VN-Beobachtungsmissionen wie UNOMIG (in Georgien) oder UNMEE (in Äthiopien und Eritrea) dagegen nicht. Wie sind aber Einsätze zu bewerten, in denen deutsche Soldaten zwar nicht selbst Waffen tragen, durch ihre Mitarbeit in Hauptquartieren oder Überwachungsflugzeugen aber möglicherweise den Einsatz von Waffengewalt anordnen oder ermöglichen bzw. in anderer Form in Kampfhandlungen einbezogen werden können? Dazu hat das Bundesverfassungsgericht am 7. Mai 2008 in seiner Entscheidung zu einer seit 2003 anhängigen Klage der FDP-Bundestagsfraktion über einen AWACS-Einsatz deutscher Soldaten über der Türkei während des Irak-Krieges weitere Klärungen vorgenommen. Demnach sind auch unbewaffnete Bundeswehrsoldaten in bewaffnete Unternehmungen einbezogen, wenn sie „als wesentlicher Teil des den bewaffneten Einsatz durchführenden integrierten militärischen Systems handeln“. Wer im Rahmen einer bewaffneten Auseinandersetzung etwa für den Waffeneinsatz bedeutsame Informationen liefert, eine die bewaffnete 42

BVerfG, 2 BvE 1/03 vom 07.05.2008, Absatz-Nr. 73, in: www.bverfg.de.

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Operation unmittelbar leitende Aufklärung betreibt oder sogar im Rahmen seiner militärischen Funktion Befehle zum Waffeneinsatz geben kann, ist in bewaffnete Unternehmungen einbezogen, ohne dass er selbst Waffen tragen müsste.43 Zudem weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass der Bundesregierung in der Frage der möglichen Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Unternehmungen kein eigenständiger Einschätzungsoder Prognosespielraum zusteht. Dies ergibt sich aus dem verfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt zu bewaffneten Bundeswehreinsätzen, welcher dem Bundestag ein originäres Mitentscheidungsrecht bei der Ausübung der auswärtigen Gewalt einräumt. Somit ist auch, wie das Gericht bereits im Leitsatz seiner Entscheidung festhält, die Frage, ob eine bewaffnete Unternehmung vorliegt oder nicht, gerichtlich voll überprüfbar. Folglich hat die Bundesregierung das Parlament frühzeitig und umfassend über den Einsatzzusammenhang sowie Planungen in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit zu informieren.44 Mit diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht eigentlich nur Selbstverständlichkeiten bestätigt und zudem seine bereits 1994 getroffenen Feststellungen und Postulate bekräftigt. Auch damals ging es um einen AWACS-Einsatz und auch damals wurde der Politik aufgegeben, den Parlamentsbeschluss nachzuholen (s. o.). Dass die Bundesregierung 2003 bestrebt war, die mit der parlamentarischen Behandlung immer verbundene öffentliche Debatte über diesen Einsatz zu vermeiden, lag sicher an den spezifischen Umständen des Irak-Krieges. Immerhin hatte die Bundesregierung jedwede Beteiligung deutscher Soldaten kategorisch ausgeschlossen. Allerdings verweist dieser Fall auch auf eine generelle Neigung der Exekutive, die im Kern militärischen Aspekte des auswärtigen Einsatzes von Bundeswehrsoldaten zu verschleiern. Darauf wird weiter unten noch zurückzukommen sein.

IV. Spannungen zwischen nationaler Entscheidungshoheit und multilateraler Einbindung Wie vom Verfassungsgericht festgelegt, dürfen bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr außerhalb der Selbstverteidigung nur im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme durchgeführt werden.45 Dem kommt die traditionell integrationsfreundliche Politik Deutschlands entgegen, ist doch die Einbindung in multilaterale Arrangements seit Gründung der Bundesrepu43

BVerfG, 2 BvE 1/03 vom 07.05.2008, Absatz-Nr. 81, in: www.bverfg.de. BVerfG, 2 BvE 1/03 vom 07.05.2008, Absatz-Nr. 82, in: www.bverfg.de. 45 Die Frage nach der – umstrittenen – Rechtsgrundlage für einen Einsatz zur Evakuierung deutscher Staatsbürger aus dem Ausland bleibt hier außer Betracht. 44

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blik eine zur Staatsräson gewordene Konstante deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Normative Anforderung und politische Praxis ergänzen einander also. Gleichwohl hat sich in den zurückliegenden rund fünfzehn Jahren mit zunehmender Tendenz gezeigt, dass zwischen der multilateralen Verflechtung und den daraus erwachsenden Ansprüchen an Deutschland einerseits sowie der souveränen Entscheidung auf der Grundlage eines komplexen innenpolitischen Verfahrens andererseits ein dauerhaftes Spannungsverhältnis besteht. Dies gilt besonders, wenn eine Mission in die Nähe eines (potenziellen) Kampfeinsatzes gerät. Die intensiven Debatten über die Einsätze in der Demokratischen Republik Kongo (2006) oder den 2007 begonnenen Einsatz deutscher Tornado-Aufklärungsflugzeuge in Afghanistan verdeutlichen, wie schwer sich Politik und Gesellschaft in Deutschland mit der Verwendung der Bundeswehr als einem aktiven Instrument deutscher Außenpolitik nach wie vor tun. Zugleich haben wichtige Verbündete in der NATO eine Diskussion um die Frage angestoßen, ob sich Deutschland in angemessener Weise auch an den gefährlichen Seiten des gemeinsamen Afghanistan-Einsatzes beteilige.46 Die Forderung, deutsche Soldaten auch in den umkämpften Süden zu schicken, begründen sie mit einer Stärkung der Solidarität innerhalb der Allianz, die letztlich auch zum Missionserfolg beitrage.47 Deutschland scheint also einen schwierigen Balanceakt zwischen außenpolitischen Anforderungen und innenpolitischer Zurückhaltung meistern zu müssen: Auf der einen Seite bestehen Handlungszwänge in NATO und EU, die um den Preis der Solidarität die Entscheidungsspielräume der Regierung einengen und in der Folge die parlamentarische Zustimmung über die Bündnisräson quasi präjudizieren und so den Deutschen Bundestag als Vertreter des Souveräns und obersten Legitimationsgeber überspielen könnten. Auf der anderen Seite steht eine sensible Öffentlichkeit, die über ein für momentane Stimmungen eher empfängliches Parlament enge Mandatsgrenzen bewirkt, was wiederum die Handlungsspielräume der Regierung im multilateralen Rahmen begrenzt und gegebenenfalls Sorgen bei den Verbündeten auslösen könnte. Kritiker der engen Einbindung in die Bündnisstrukturen konstatieren tatsächlich eine schleichende Entparlamentarisierung der Auslandseinsätze und fordern erweiterte Kompetenzen der Legislative bei der Bestimmung des 46 Die Beteiligung an der ebenfalls umstrittenen Operation Enduring Freedom (OEF) stützt sich auf das Selbstverteidigungsrecht ab. 47 So forderte der damalige Staatssekretär im US-Außenministerium Nicholas Burns am 23. Oktober 2006 Deutschland sehr dezidiert auf, die „engen und rigiden Restriktionen“ des Einsatzes seiner Soldaten zu überprüfen. Der vollständige Wortlaut des per Videozuschaltung in das 17. Forum „Bundeswehr und Gesellschaft“ in Berlin eingespielten Statements findet sich unter http://www.state.gov/p/us/rm/ 2006/75422.htm.

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internationalen Rahmens, in welchem die Bundeswehr tätig wird. In diese Richtung zielt die Organklage, die die Bundestagsfraktion ‚Die Linke‘ bald nach der Parlamentsentscheidung über den Tornado-Einsatz in Afghanistan beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hat. Darin geht es um die Frage, ob dieser Einsatz überhaupt noch durch den NATO-Vertrag gedeckt sei.48 Angesichts der zunehmenden Komplexität internationaler Friedensmissionen wird in diesem Zusammenhang zudem verlangt, die Reichweite des bislang auf die Verwendung des Militärs beschränkten Parlamentsvorbehaltes auch auf Einsätze der Bundespolizei auszudehnen.49 Beklagt werden zudem mangelnde Informationen seitens der Regierung gegenüber dem Parlament etwa über den Einsatz von Spezialkräften. Dem wird entgegengehalten, dass die internationale Einbindung Deutschlands an sich ein hohes Gut sei und der zuverlässigen Erfüllung der Bündnisverpflichtungen keine allzu hohen Hürden im innerstaatlichen Entscheidungsprozess gegenüberstehen dürften. So fordert Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, die parlamentarische Mitwirkung beim Einsatz deutscher Soldaten in multinationalen Verbänden zu überprüfen,50 der frühere Bundesverteidigungsminister Peter Struck plädiert für eine größere Flexibilität der Bundesregierung bei der Durchführung von Einsätzen51 und auch der stellvertretende Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Hans-Ulrich Klose, regt ein abgestuftes parlamentarisches Beteiligungsverfahren an, das selbst im Falle eines ablehnenden Parlamentsvotums den Verbleib deutscher Offiziere in den integrierten Stäben sichern soll.52 Diese Vorschläge zielen also in Richtung einer Stärkung der Exekutive, die Deutschland ja in den multilateralen Institutionen vertritt, und damit auf eine größere Verlässlichkeit Deutschlands als Bündnispartner. Die Bereitstellung von militärischen Fähigkeiten und deren Einsatz im Rahmen multilateraler Bündnisse und Missionen liegt dabei durchaus auch im deutschen Interesse. Die aktive Beteiligung an gemeinsamen Operationen wirkt als politisches Kapital, dessen Gegenwert in Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten in den Planungs- und Entscheidungsgremien der Bündnisse besteht. Zum anderen jedoch sind auf diese Weise integrierte Strukturen geschaffen worden, aus denen Deutschland seine Kräfte nicht oder nur 48

Vgl. Organstreitverfahren der Bundestagsfraktion Die Linke vom 16. März 2007; verfügbar unter: http://kaleck.org/index.php?id=84,242,0,0,1,0&hashID=7aaa baf82b6f3a3976ed2ba3bfc4ce33. 49 Vgl. den Antrag der Bundestagsfraktion der PDS/Die Linke vom 6. November 2006, Bundestagsdrucksache 16/3421. 50 Vgl. Schäuble auf der Konferenz „Gesamtstaatliche Sicherheit“ der Bundesakademie für Sicherheitspolitik am 8. Dezember 2006 in Berlin. 51 Vgl. Der Tagesspiegel vom 7. Februar 2007. 52 Vgl. Klose (2007), S. 26.

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zulasten der Einsatz- und Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Verbände oder Missionen zurückziehen kann. Mit der Einbindung in diese multilateralen Strukturen gehen denn für alle Beteiligten, also auch für Deutschland, gewisse Beschränkungen souveräner Entscheidungs- und Handlungsspielräume bei der Verwendung des Militärs einher. Insgesamt hat sich Deutschland – in Fragen von Militäreinsätzen traditionell zurückhaltend – seit der Wiedervereinigung stets eher aus Bündnisräson denn aus eigenen politischen Antrieben an internationalen Friedensmissionen beteiligt. Vom Balkan über Ost-Timor oder die Demokratische Republik Kongo bis hin zum Tornado-Einsatz in Afghanistan wurden unter dem Druck der Partner deutsche militärische Beteiligungen in Regionen, Ländern oder Aufgabengebieten bewirkt, die zuvor von den Bundesregierungen kategorisch ausgeschlossen wurden. Zugleich wurde versucht, Umfang und Qualität dieser Einsatzbeteiligungen in einem Rahmen zu halten, der einer Öffentlichkeit akzeptabel erscheint, die sich überwiegend am Leitbild einer ‚Zivilmacht‘53 orientiert. Der Befund einer starken Determinierung von Einsatzentscheidungen durch diesen internationalen Kontext erscheint also vollständig richtig. Fraglich ist daher nur, wie dies zu bewerten ist. Die Antwort fällt mit Blick auf die jüngere deutsche und europäische Geschichte eindeutig aus. Eine einseitige Verfügbarkeit von Militär zur einzelstaatlichen Interessensdurchsetzung gegen Nachbarn ist zumindest in Europa keinem Land mehr möglich, insgesamt sind autonome Militäraktionen immer schwerer vorstellbar, sind dem willkürlichen Gebrauch des Militärs durch einzelne Regierungen enge Grenzen gesetzt. Mit dem so gewonnenen Zuwachs an Stabilität zwischen den an den verschiedenen Sicherheitssystemen beteiligten Staaten hat Deutschland ein wichtiges Ziel seiner multilateral ausgerichteten Politik erreicht. Umgekehrt gilt aber auch, dass die Möglichkeiten jedes einzelnen Staates reduziert werden, seine Streitkräfte einseitig aus multilateralen Strukturen und Missionen herauszuziehen, ohne dass das gemeinsame Anliegen Schaden nimmt. Multilateralismus als Organisationsprinzip internationaler Politik lebt in Theorie und Praxis davon, dass sich Staaten bereit finden, ihre partikularen Interessen zugunsten kollektiver Ziele hintanzustellen. In praxi bedeutet dies, dass mit fortschreitender multilateraler Einbindung eines Staates die Reduzierung seiner Freiheitsgrade zu souveräner nationaler Entscheidung einhergeht – jedenfalls solange er gewillt ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Im Falle der hier betrachteten militärischen Unternehmungen gilt dies für das ‚Ob‘ eines Einsatzes ebenso wie für das ‚Wie‘ seiner Durchführung. Vor diesem Hintergrund geraten vor allem die schnellen Eingreifkräfte wie die NATO Response Force (NRF) oder die EU-Battlegroups in den 53

Zu diesem Konzept vgl. Maull (2006).

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Blick, die innerhalb von fünf bis zehn Tagen nach einem entsprechenden Beschluss des NATO-Rates oder des Rates der EU an jedem Punkt der Welt nötigenfalls auch kämpfen sollen. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Entscheidungsprozess in NATO und EU bis hin zur Verlegungsorder über mehrere Stufen verläuft, dürfte sich aus der Natur der einem militärischen ‚Feuerwehreinsatz‘ zugrundliegenden Situation regelmäßig ein äußerst enger Zeitrahmen ergeben. Ob dieser für das oben dargelegte parlamentarische Beteiligungsverfahren ausreichen wird, erscheint fraglich; umso problematischer dürfte es werden, wenn sich hinter der zu beschließenden Mission tatsächlich ein ‚Einsatz hoher militärischer Intensität‘ verbirgt, wie Kampfeinsätze im euphemistischen Jargon der politischen und militärischen Entscheidungsträger gerne genannt werden. Die auch in Deutschland geführten monatelangen Debatten über Interessen und Ziele im Zusammenhang mit der EU-Operation „EUFOR RD Congo“ im Frühjahr 200654 oder der eingangs erwähnte Streit über die mögliche Einbeziehung deutscher Soldaten in Kampfhandlungen in Afghanistan lassen zumindest vermuten, dass es der Regierung schwer fallen dürfte, einen wirklichen Kampfeinsatz innerhalb der im Bündnisrahmen angemessenen Zeit durch den Deutschen Bundestag zu bringen. In der EU, vor allem aber in der NATO wurden bei den genannten Einsätzen sowohl der Zeitaufwand wie auch der durch die öffentlichen Diskussionen begrenzte politische Handlungsspielraum in Fragen internationaler Militäreinsätze mit Aufmerksamkeit, Sorge und teils auch Unmut registriert. Tatsächlich vergingen von der offiziellen Anfrage der NATO zur Entsendung der Aufklärungstornados nach Afghanistan (11. Dezember 2006) und deren Eintreffen im Einsatzland (9. April 2007) rund vier Monate; in den politischen Diskussionen sind der Regierung zudem eine Reihe von Zugeständnissen etwa bezüglich der Weitergabe der Aufklärungsergebnisse an dritte Staaten abgerungen worden.55 Damit der Parlamentsvorbehalt nicht zum bündnispolitischen Stolperstein gerät, erscheinen Modifikationen des bisherigen parlamentarischen Mitwirkungsverfahrens erforderlich und möglich. Vorstellbar wäre etwa, dass mit der Bereitschaftsmeldung deutscher Verbände für NATO und EU ein auf den Bereitschaftszeitraum begrenzter Vorratsbeschluss durch den Bundestag verabschiedet wird. Dieser könnte die Bundesregierung ermächtigen, die bereitgehaltenen Kräfte gemäß der von ihr im NATO-Rat oder im EU-Rat mitgetragenen Entscheidungen auch tatsächlich einzusetzen. Eine solche Privilegierung von Einsätzen im Rahmen bestehender Bündnisse und Organisationen hat das Verfassungsgericht ausdrücklich eröffnet.56 Insbesondere 54 55 56

Vgl. Gareis (2006a). Vgl. Gareis (2007). BVerfGE 90, 286, 348; vgl. auch Menzenbach (2007), S. 9 f.

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die Bindung an die Einsatzräume könnte gelockert werden, was sowohl der politischen Führung wie auch den handelnden Befehlshabern vor Ort größere Spielräume bei sich verändernden Lagen eröffnen würde. Eine exakte Informationspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament in Verbindung mit dem Rückholrecht gemäß § 8 ParlBG könnte so hinreichende Mitwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten des Bundestages mit den Bündnisanforderungen in Einklang bringen.

V. Strategische Defizite Gerade bezüglich dieses letzteren Sachverhaltes haben jedoch auch die Kritiker der bestehenden Praxis parlamentarischer Kontrolle von auswärtigen Bundeswehreinsätzen in einer Reihe von Punkten recht. So ist zwar der Einfluss des Bundestages bei der Entscheidung über Bundeswehreinsätze hoch – zu beklagen sind dagegen in mancher Hinsicht die begrenzten Kontrollmöglichkeiten während der laufenden Einsätze. Hier kommt der Regierung eine ausgeprägte Informationsüberlegenheit zu, derer sie sich bewusst ist und von der sie Gebrauch macht. Die Berichte an die Bundestagsausschüsse fallen oft kursorisch aus; Informationen müssen häufig in Form parlamentarischer Anfragen eingeholt werden.57 Hier zeigen sich Muster, nach denen die Bundesregierung in den zurückliegenden Jahren ihre Flexibilität dadurch ausgeweitet hat, indem sie höhere Obergrenzen mandatieren ließ als sie Soldaten einzusetzen gedachte. Weitgehend eingeschränkt ist ferner die parlamentarische Kontrolle von Einsätzen des KSK oder der Kampfschwimmer der Marine. Über deren Aufträge und genaue Zahl werden nur die Fraktionsobleute im Verteidigungs- und Auswärtigen Ausschuss informiert.58 Die Informationspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament könnte ohne jeden Verlust an Bündnisfähigkeit verstärkt werden, insbesondere was die Einsätze der Spezialkräfte angeht. So einsichtig Zurückhaltung bezüglich geplanter oder laufender Operationen ist, so wenig begründbar erscheinen die bislang gepflegten Auskunftsverweigerungen bezüglich abgeschlossener Einsätze. Hier könnten handhabbare Kompromisse zwischen dem berechtigten Informationsinteresse des Souveräns, in dessen Namen die Soldaten eingesetzt werden, und dem Geheimhaltungserfordernis der Einsätze gefunden werden. Insbesondere könnte damit aktiv der Gerüchte- und Legendenbildung sowie dem damit einhergehenden Misstrauen in der Öffentlichkeit gegenüber diesen Einsätzen entgegengewirkt werden. Insgesamt geht es also um die Stärkung der Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Versuchung, bei der Entschei57 58

Vgl. Klose (2007). Vgl. Noetzel/Schreer (2007), S. 2 f.

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dung über Bundeswehreinsätze kraft des Parlamentsvorbehalts ein wenig ‚Exekutive zu spielen‘. Deutschland ist zwar seit fast anderthalb Jahrzehnten in vielen Teilen der Welt auch militärisch präsent – eine Debatte in der deutschen Öffentlichkeit über die neue Rolle des Landes in der internationalen Sicherheitspolitik und die Verwendung seines Militärs ist indes in Politik und Gesellschaft vermieden worden.59 Bezogen auf die Einsätze der Bundeswehr wählten die Kanzler von Helmut Kohl bis Angela Merkel und die Verteidigungsminister von Volker Rühe bis Franz Josef Jung den Weg einer schrittweisen Gewöhnung der Öffentlichkeit an die neuen militärischen Aufgaben. Weitgehend offen blieb dabei, welchen Zielen, Interessen und Zwecken militärische Beteiligungen deutscher Soldaten an internationalen Operationen zu dienen haben, welches die Voraussetzungen, Prioritäten und gegebenenfalls auch die Grenzen solcher Einsätze sind, mit welchen Kräften sich Deutschland an welchen Szenarien beteiligen bzw. eben auch nicht beteiligen will. Statt sich in Politik, Gesellschaft und Militär über die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen und die militärischen Beiträge zu ihrer Bewältigung auseinander zu setzen und sich um einen neuen, das alte Paradigma der strikten Verteidigungsfunktion ersetzenden, strategischen Konsens zu bemühen, wurde Deutschland durch mehr oder minder sanftes Drängen seiner Verbündeten in immer schwierigere militärische Unternehmungen hineingezogen. Das reaktive Schema der deutschen Sicherheitspolitik zeigte sich besonders nachdrücklich in der Debatte um den ISAF-Einsatz in Afghanistan, als ab Sommer 2006 die Alliierten immer offener die Bereitschaft der Deutschen zur Teilnahme an Kampfhandlungen im gesamten Einsatzland einzufordern begannen.60 Dieser wachsende Druck, nicht etwa eine strategische Entscheidung der politischen und militärischen Führung war es dann, der zur Bereitstellung von sechs Aufklärungstornados im Frühsommer 2007 und einer Quick Reaction Force im Norden Afghanistans führte. Auch wenn noch so klar definierte Interessen nicht zu einer Checkliste führen können, mittels derer dann über einen Einsatz entschieden wird, so sollte eine strategische Sicherheitskonzeption (welche die VPR von 2003 in Ziffer 80 ansprechen) durchaus Auskunft darüber geben, wie sich Deutschland künftig im internationalen System positionieren will: Als Ordnungsmacht nach britischem oder französischem Vorbild? Als zurückhaltende Zivilmacht, die sich auf die Bereitstellung militärischer Teilfertigkeiten im internationalen Verbund beschränkt? Welche Antwort auch immer gefunden wird: Eine solche längst überfällige Strategiedebatte könnte die weitere sicherheitspolitische Verwendung der Bundeswehr in einen konsistenten Be59 60

Zu den möglichen Dimensionen einer solchen Debatte vgl. Perthes (2007). Vgl. Gareis (2007).

Zur Legitimation bewaffneter Auslandseinsätze der Bundeswehr

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zugsrahmen stellen, den Einsatzeinscheidungen etwas von ihrem notorischen Ad-hoc-Charakter nehmen, die Transparenz der Entscheidungen erhöhen und damit erheblich zur Legitimation der Einsätze gegenüber einer immer wieder zu überzeugenden, kritischen Öffentlichkeit beitragen.

VI. Perspektiven Wenn in den abschließenden Zeilen ein Blick auf die Beschaffenheit künftiger deutscher Streitkräfte geworfen wird, soll zunächst der einleitende Gedanke zu diesem Beitrag in Erinnerung gerufen werden: Danach stellen Streitkräfte ein wichtiges Instrument der Sicherheitspolitik eines Landes dar und spiegeln in einem gewissen Maß die Art und Weise wider, wie dieses Land Beeinträchtigungen seiner Sicherheit wahrnimmt und darauf reagiert. Dies bedeutet, dass in Politik und Gesellschaft, Medien und Öffentlichkeit, strategic community und Militär zunächst eine substanzielle Diskussion über die Verortung des Landes im internationalen System und die damit verbundenen Chancen und Risiken geführt werden müsste. Aus dieser Analyse wären dann in einem zweiten Schritt Ziele und Interessen abzuleiten und nach Prioritäten zu ordnen. In einem dritten Schritt stünde es an, eine möglichst rationale Bestimmung der Mittel vorzunehmen, mit denen diese Ziele erreicht und die Interessen verwirklicht werden sollen. Diese Abfolge soll verdeutlichen, was den Kern jeder außen- bzw. sicherheitspolitischen Strategie ausmacht: eine an den politischen Realitäten orientierte Ziel-Mittel-Relation, die für die Orientierung des Kurses eines Landes sowie als Referenzmaßstab für politische Entscheidungen hilfreich ist. Darüber hinaus übernimmt sie Indikatorfunktionen gegenüber der eigenen Bevölkerung sowie gegenüber dem internationalen System. Auf diese Weise kann sie zu größerer Transparenz und Vertrauen in einem seiner Natur nach schwierigen Politikfeld beitragen. Eine solche Diskussion ist in Deutschland nach der Wiedervereinigung ausgeblieben, und eine konsistente sicherheitspolitische Strategie, entlang derer sich ein rationaler Mitteleinsatz vornehmen ließe, ist nicht erkennbar. Dies gilt gerade auch für die Zukunft der Bundeswehr. Ausweislich des Weißbuches 2006 ist der deutsche ‚level of ambition‘, wie es im internationalen Militärjargon gerne heißt, sehr hoch: „Deutschland strebt weiterhin nach Kompatibilität und Interoperabilität seiner Streitkräfte mit denen der Vereinigten Staaten sowie mit denen seiner anderen Bündnispartner. Sie sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass Deutschland seine militärische Bündnis- und Handlungsfähigkeit und damit seine Rolle als relevanter Partner wahrt“61. Doch nicht nur der Blick auf den vergleichsweise nied61

Vgl. BMVg (2006) S. 35.

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rigen Verteidigungsetat und den noch geringeren Investitionsanteil, sondern vor allem die geradezu paradigmatischen Unterschiede bezüglich der Verwendung des Militärs zwischen Deutschland und den USA, aber auch gegenüber zahlreichen anderen Alliierten lassen Zweifel aufkommen, ob schon die Formulierung grundlegender strategischer Ziele in seriöser Weise vorgenommen wird. Dabei spricht die zitierte Passage des Weißbuches eine grundlegende Wahrheit in aller Offenheit aus: Deutschland wird an Mitsprachemöglichkeiten in den relevanten Entscheidungsgremien verlieren, wenn es nicht zu Beiträgen im NATO-Rahmen bereit ist, die seinem politischen und ökonomischen Gewicht entsprechen. Dabei wird die Angemessenheit dieses Beitrages nicht einseitig in Berlin dekretiert, sondern vor allem in den Hauptstädten der Partnerländer bewertet. Der massive Druck, der seit 2006 und verstärkt seit 2008 von Seiten der NATO-Partner bezüglich einer stärkeren Beteiligung an Kampfeinsätzen aufgebaut wird, belegt dies nachdrücklich. Deutschland droht, wie schon in der Vergangenheit, aus Gründen der Bündnisräson in Szenarien hineingedrängt zu werden, auf die weder seine Soldaten noch Politik und Öffentlichkeit hinreichend vorbereitet sind. Dies ist das Gegenteil strategischen Verhaltens, das doch immer darauf abzielt, das Momentum des eigenen Handelns möglichst selbst zu bestimmen. Auf Deutschland wird wohl im Zeitraffertempo genau die Debatte über seine militärische Rolle im Bündnis und in der Welt zukommen, die zu führen es bislang vermieden hat. Müssen deutsche Soldaten in Kampfeinsätze gehen? Welchen Zielen sollen diese dienen? Unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen sollen sie erfolgen? Müssen die knappen Gelder fokussierter eingesetzt werden und folglich überbrachte Strukturen und traditionelle Partikularismen neu überdacht werden? Ist das Festhalten an der Wehrpflicht noch zeitgemäß, wenn mit erheblichem Personal- und Kostenaufwand pro Jahr Zehntausende junger Männer militärisch nur unzulänglich ausgebildet werden und folglich nie in den Einsatz gehen können? Über diese und viele andere Fragen werden politische und militärische Entscheidungen zu treffen sein, die zuvor – so sollte es in einer Demokratie sein – intensiv in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Bislang hat gerade die Politik, die häufig das mangelnde Interesse der Öffentlichkeit an sicherheitspolitischen Gegenständen beklagt, viel dazu beigetragen, eine offene Debatte um die Zukunft der Streitkräfte zu verhindern. Dies wird auf Dauer nicht möglich sein.

Zur Legitimation bewaffneter Auslandseinsätze der Bundeswehr

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Im Gleichschritt in die Sackgasse? Vier Thesen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr Von Rudolf Hamann Winrich Kühne, Leiter des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze in Berlin, hat es auf den Punkt gebracht: „Wir sind – vor allem wenn es um die Beteiligung der Bundeswehr geht – fast immer dorthin gegangen, wo wir eigentlich nicht hingehen wollten.“1 Typisch dafür ist eine Äußerung des damaligen Verteidigungsministers Rudolf Scharping, der seine Ideen der Öffentlichkeit gerne über die Führungsakademie der Bundeswehr vermittelte. Als er nach einem Vortrag über Auslandseinsätze der Streitkräfte von einem Dozenten gefragt wurde, ob er sich auch einen Einsatz in Ost-Timor vorstellen könnte, kanzelte er den Fragesteller barsch ab: „Sie scheinen mir nicht zugehört zu haben. Nach Ost-Timor gehen wir selbstverständlich nicht.“ Nur kurze Zeit später brachen deutsche Soldaten nach dort auf. Klaus Naumann vom Hamburger Institut für Sozialforschung hat den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr als „Musterfall strukturellen Politikversagens“2 bezeichnet. Er verdeutlicht das Defizit strategischen Denkens der politischen Klasse anhand der bekannten Aussage des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck „Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt“ mit dem Hinweis, man versuche mit dem eindeutigen Begriff Verteidigung einen Einsatz zu legitimieren, „der die politisch-militärische Projektion von ‚Sicherheit‘ weit in das Vorfeld jeder unmittelbaren Bedrohung verlagere“3. Parallel zu den ständig wachsenden Auslandseinsätzen der Bundeswehr beobachtet Winfried Nachtwei, Bundestagsabgeordneter und sicherheitspolitischer Sprecher von Bündnis 90/die Grünen, dass seit 2003 die Ernüchterung im Hinblick auf Dauer, Wirksamkeit und Perspektiven von Auslandseinsätzen wachse und damit der vermeintlich sicherheitspolitische Konsens immer mehr infrage gestellt werde: „Inzwischen besteht der Eindruck einer regelrechten Inflation von Auslandseinsätzen und wachsender Überforde1 2 3

Kühne (2007), S. 25. Naumann (2008), S. 23. Ebenda, S. 25.

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rung: Bei der Öffentlichkeit, bei der Politik, die inzwischen mehrere Großkrisen gleichzeitig [. . .] im komplizierten multilateralen Verbund bewältigen muß, bei den Soldaten, wo sich angesichts ausbleibender Fortschritte Einsatzfrust ausbreitet. Das geht einher mit sinkender gesellschaftlicher Zustimmung zur Politik internationaler Verantwortung generell. Der bisherige vermeintliche sicherheitspolitische Konsens bröckelt immer schneller.“4 Diese Äußerungen, die sich aus dem Bereich der sicherheitspolitischen „strategic community“ fast beliebig vermehren ließen, kontrastieren auffällig mit dem Anspruch der Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR), die Bundeswehr müsse zu jeder Zeit an jedem Ort mit jeder Intensität einsetzbar sein sowie den gängigen Durchhalteparolen des Verteidigungsministeriums, „man sei gut aufgestellt“ und „auf dem richtigen Weg“. Dieser offenkundige Widerspruch zwischen dem selbstbewusst verkündeten Anspruch und der eher tristen Realität führt zu der ersten These:

I. Die deutsche Politik hat den Paradigmenwechsel nach 1989 bis heute intellektuell nur unzulänglich nachvollzogen Gestützt wird diese Aussage bereits durch die VPR von 1992, die – und das ist ungewöhnlich – schon vor der Publikation eines Weißbuches veröffentlicht wurde. Während dieses den Konsens vom Auswärtigen Amt (AA) und dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) bedingt, ist jenes nur ein hausinternes Papier und in der Dokumentenhierarchie von nachrangiger Bedeutung, das zwar vom Kabinett zu Kenntnis genommen wurde, aber politisch nicht zwingend handlungsrelevant ist. Zum Beleg der These ist das Papier aber insofern interessant, als es die sicherheitspolitische Verunsicherung nach Ende des Kalten Krieges vortrefflich widerspiegelt. Entstanden sind die VPR im Planungsstab des BMVg unter Leitung von General Klaus Naumann zu einer Zeit, als einerseits in der Öffentlichkeit mit der Forderung nach einer drastischen Verkleinerung der Bundeswehr die versprochene Friedensdividende eingeklagt wurde, und das AA andererseits sich angesichts der Blockkonfrontation und der zu überdenkenden neuen Rolle der Streitkräfte durch ohrenbetäubendes Schweigen auszeichnete. Die VPR sind daher als Versuch zu begreifen, quasi in einem „bottom-up“-Ansatz von den Fähigkeiten der Streitkräfte auf den Bundeswehrauftrag zu schließen, der wie folgt definiert wird: „Die Bundeswehr schützt Deutschland und seine Staatsbürger gegen politische Erpressung und äußere Gefahr, fördert die militärische Stabilität und 4

Nachtwei (2006), S. 1.

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die Integration Europas, verteidigt Deutschland und seine Verbündeten, dient dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, hilft bei Katastrophen, rettet aus Notlagen und unterstützt humanitäre Aktionen“5. Dass hier zu kurz gesprungen wird, zeigt sich schon auf den ersten Blick. Die Förderung der Integration Europas beschreibt keinen militärischen Auftrag, Katastrophenhilfe ist zwar eine typische Sekundärfunktion (z. B. der Einsatz von schwerem Gerät bei Erdbeben), rechtfertigt aber nicht die Existenz von Streitkräften. Und ob Militär dem Weltfrieden dient, muss angesichts der sogenannten „Neuen Kriege“ zumindest hinterfragt werden – eher stellt es ein Relikt des Kalten Krieges dar, dessen Abschreckungsphilosophie dem Motto folgte „si vis pacem para bellum“. So bleiben bei Licht besehen eigentlich nur die klassischen Aufträge „Schutz und Verteidigung“ übrig, die nach 1989 zwar immer noch prinzipiell sinnvoll sind, ihre derzeitige Bedeutung aber massiv eingebüßt haben. Wie unausgegoren die VPR sind, die damit unfreiwillig die erste These untermauern, illustriert auch die folgende Passage, die die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung“6 fordert, aber keine Aussage darüber macht, welchen Beitrag dazu die Marine mit ihren bescheidenen Mitteln leisten soll. Hier wie auch an anderen Stellen liegt der Verdacht nahe, dass man von amerikanischen Strategiepapieren abgeschrieben hat, ohne die völlig anderen Rahmenbedingungen ausreichend zu reflektieren. Die nachfolgenden Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2003 wählen einen anderen Ansatz, indem sie aus den grundlegend veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen den Auftrag der Bundeswehr ableiten und dann das notwendige Fähigkeitsprofil der Streitkräfte definieren („topdown-Einsatz“). Indes tappen die VPR von 2003 in dieselbe Begriffsfalle wie ihre Vorgängerin, wenn die Argumentation vom erweiterten Sicherheitsbegriff ausgeht. Dieser erweiterte sicherheitspolitische Ansatz ist eigentlich ein Produkt amerikanischer „Thinktanks“, die nach Ende der direkten militärischen Bedrohung durch den Warschauer Pakt, Sicherheit nicht mehr nur als Abwesenheit einer bestimmten Bedrohung definieren.7 Diese Erweiterung des Sicherheitsbegriffs mit der Entkoppelung von Bedrohung und Akteur geht zurück auf die Erfahrungen der siebziger Jahre mit den Ölkrisen sowie dem Zusammenbruch des internationalen Währungssystems, 5 6 7

VPR (1992), S. 29 f. Ebenda, S. 5. Vgl. Daase (1991).

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die das Verhältnis von weltwirtschaftlicher Stabilität und internationaler Sicherheit ins Bewusstsein der USA rückten. Bei dem breiten sicherheitspolitischen Ansatz, der inhaltlich mit neuen Bedrohungsszenarien aufgefüllt wird (Öl, Terrorismus, Drogen, Umwelt) handelt es sich jedoch vorwiegend um nichtmilitärische Risiken, für deren Bekämpfung das Militär als Mittel schon per definitionem kaum taugt. Der Begriffswechsel von der Bedrohung zum Risiko ist mehr als nur von semantischem Interesse. Bedrohung war ursprünglich ein militärisch definierter Begriff, operationalisierbar in Raum, Zeit und Kräften, von dem sich Prognosen und handlungsleitende Strategien ableiten ließen. Risiken sind dagegen nicht akteursgebunden, raumzeitlich entgrenzt, nicht prognosefähig und daher auch nicht strategisch beeinflussbar. Deshalb ist es auch nur konsequent, wenn die neuesten Dokumente den Strategiebegriff durch den des Krisenmanagements ersetzen. Strategien versuchen, in eine prinzipiell unsichere und nicht vorhersehbare Zukunft hinein Handlungsoptionen zu entwerfen. Krisenmanagement ist dagegen reaktiv auf konkrete Ereignisse angelegt. Der Begriffswandel spiegelt zwar die eher unübersichtliche sicherheitspolitische Lage mit ihren komplexen Herausforderungen wider. Aber die in der Realität dominierenden nichtmilitärischen Risiken rechtfertigen gerade nicht den Einsatz militärischer Gewalt – eine Einsicht, der sich vermutlich auf die Dauer auch die USA nicht entziehen können, die immer versucht sind, mit ihrem militärischen Hammer jedes Problem als Nagel zu definieren. Zwar räumt auch das neue Weißbuch ein, dass den neuartigen Risiken weder allein noch vorrangig mit militärischen Mitteln begegnet werden kann. Aber diese einschränkende Formulierung, die fast wortwörtlich an Aussagen der VPR von 1992 anknüpft, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass es bislang an einem strategischen Konzept für den Einsatz des Militärs als Instrument deutscher Außenpolitik fehlt. Dabei ist die Frage nach der zukünftigen Rolle des Militärs beileibe kein deutsches Problem, sondern findet sich auch im derzeit gültigen Strategischen Konzept der NATO von 1999 wieder. Logischerweise möchte man hinzufügen, denn auch die Allianz fühlt sich dem breiten sicherheitspolitischen Ansatz verpflichtet. Mit dem Fortfall der Bedrohung durch den Warschauer Pakt ist der NATO die gemeinsame Geschäftsgrundlage entschwunden, die trotz unterschiedlicher Interessen das Bündnis zusammenhielt. Reformen zur inneren und äußeren Anpassung führen nicht zu einer neuen Identität des Bündnisses. Sie kommen über kosmetische Operationen nicht hinaus, weil Risiken weiterhin unterschiedlich wahrgenommen werden und höchst gegensätzliche Auffassungen darüber existieren, wie ihnen zu begegnen sei. Ein strittiger Punkt, ob es für den militärischen Einsatz zwingend

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eines UNO-Mandates bedarf, wird deshalb in dem Konzept gar nicht erst angesprochen. Auch die Frage, ob die NATO im Prinzip weltweit eingesetzt werden soll oder nicht, wird mit dem Begriff des euro-atlantischen Raumes eher vernebelt als geklärt. In der Realität führt das, wie im Irak, zu einer „coalition of the willing“ – für ein auf Konsens angelegtes Bündnis de facto ein Sargnagel. Grundlegende Differenzen innerhalb der NATO zu Völkerrecht, Krieg, Terror- und Drogenbekämpfung, die auch im Afghanistaneinsatz deutlich werden, werfen Fragen nach der Kooperationswilligkeit, effektiven Multilateralismus und der Interoperabilität von Streitkräften auf. Klaus Naumann hat deshalb auch den Afghanistan-Einsatz zum Musterfall strukturellen Politikversagens erklärt, wo mit der Spaltung der Mandate mit zweierlei Maß gemessen werde: „Hier der ‚gute‘, UN-mandatierte ISAF-Einsatz, dort die Grauzone des ungeliebten OEF-Einsatzes, dem die Ausrufung des NATOBündnisfalles das Plazet erteilt hat.“8 Der ebenso hartnäckige wie vergebliche Versuch der NATO, sich jenseits der derzeit inaktuellen militärischen Verteidigung um eine neue Identität zu bemühen, zeitigt zwangsläufig Auswirkungen auf die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, weil Deutschland nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges jeden Alleingang gemäß der Devise „never alone“ abgeschworen hatte. Das führt direkt zur zweiten These:

II. Durchwursteln ersetzt strategisches Denken Tatsächlich hat das Ende der Blockkonfrontation nach 1989 zu einer Relativierung bewährter Handlungsmaximen deutscher Außenpolitik geführt. Neben dem erwähnten Grundsatz, zukünftig nur noch im Verbund mit anderen Staaten im internationalen System zu handeln, lautet eine zweite Devise „never again“. Sie betont die Abkehr von deutschen Sonderwegen in Form von macht- und expansionsorientierter Außenpolitik, die das wilhelminische und nationalsozialistische Deutschland zweimal in eine Katastrophe geführt hatte.9 Die Absage an traditionelle Formen der Machtpolitik bildete Voraussetzung dafür, dass Deutschland als ein respektierter Akteur in das internationale System zurückkehrte und mit seiner multilateralen und konsequent an zivilen Normen ausgerichteten Außenpolitik wieder Vertrauen und Glaubwürdigkeit gewann. „Ihre Interessen vertreten, ohne Machtpolitik zu betreiben – das war das Erfolgsrezept der alten Bundesrepublik.“10 8

Naumann (2008), S. 8. Vgl. Maull (2004), S. 19 f. 10 Maull (2006), S. 67. 9

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Angesichts der grundlegend veränderten Rahmenbedingungen seit 1989 sind diese außenpolitischen Handlungsmaximen zwar nicht obsolet, haben aber ohne Zweifel an Gestaltungsmacht verloren. So verengt die beschworene Devise „never alone“ die nationalen Handlungsspielräume, und de facto entpuppt sich die NATO als Bündnisfalle, weil hinsichtlich der Auslandseinsätze derart hohe Erwartungen an die Bundesrepublik herangetragen werden, „daß ein Ergebnis offener Handlungsprozeß innerhalb der Allianz, an dessen Ende auch die Ablehnung eines Einsatzes stehen könnte, realistischerweise gar nicht in Frage kommt. Wenn in Brüssel eine militärische Mission beschlossen worden ist, bzw. unmittelbar vor ihrer Verabschiedung steht, kann sich die Bundesrepublik nicht wirklich entziehen – es sei denn, die Bundesregierung riskierte das außenpolitische Ansehen Deutschlands als verantwortlicher, dem multilateralen Handeln verpflichteter Bündnispartner“11. „Never again“ – die zweite Handlungsmaxime, die einer militärisch gestützten Machtpolitik abschwor, schien Ende des 20. Jahrhunderts auch international an Bedeutung zu gewinnen, als nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001, die zuvor eher als „schwarze Löcher“ der internationalen Politik wahrgenommenen (sogenannten) failing states in den Focus von Wissenschaft und Politik gerieten. Der Wandel von einem primär reaktiv ausgerichteten Krisenmanagement zu einem Postulat der Prävention wurde erstmals 1997 in dem Bericht „Carnegie Commission on Preventing Daedly Conflicts“ aufgegriffen. Dahinter stand die simple Erkenntnis, dass das Motto „Vorbeugen ist besser als heilen“ allemal die effektivere und kostengünstigere Strategie ist. Es lag daher ganz auf der Linie deutscher Außenpolitik, als Außenminister Joschka Fischer vor der UNO für eine Kultur der Prävention warb – ein Appell, den Bundespräsident Johannes Rau in einer Rede im Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik am 6. Januar 2000 aufnahm und die Kultur der Prävention als „Gegenentwurf zur Kriegsmaschinerie vergangener Jahrhunderte“12 bezeichnete. Vier Jahre später verabschiedete die Bundesregierung den „Aktionsplan Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“, der Prävention als Querschnittsaufgabe aller relevanten Ministerien und Politikbereiche begreift. Darin hat der Begriff der „vernetzten Sicherheit“ als Resultat der Afghanistanerfahrung den erweiterten Sicherheitsbegriff ergänzt. Aber hinter neuen Wortvorhängen wie „comprehensive approach“ oder „responsibility to protect“ versteckt sich das alte Problem, das theoretisch einleuchtende Postulat der Prävention in politisches Handeln umzusetzen. Auf 11

Kaim (2007), S. 46. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 4/2000, S. 21 f. 12

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operativer Ebene bedeutet dies, ein schlüssiges Konzept für komplexe Wirkungszusammenhänge zu entwickeln und dabei gezielt nach Synergieeffekten zu suchen. Das damit zwangsläufig verbundene Ressourcenpooling ist aber in der Praxis aber kaum umsetzbar, weil das Ressortprinzip und die daran gekoppelte politische Verantwortlichkeit im Grundgesetz vorgeschrieben sind. Verschärft wird diese Problematik noch durch ein unterschiedliches Verständnis von Sicherheit im Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und im Verteidigungsministerium, die derzeit im Rahmen der Großen Koalition von unterschiedlichen Parteien besetzt sind. Da man vernetzte Zusammenarbeit nicht befehlen kann (wer koordiniert wen und wer lässt sich koordinieren?) trägt die politische Klasse das Programm „zivile Krisenprävention“ zwar nach wie vor wie eine Monstranz vor sich her, das aber de facto am Ressortegoismus gescheitert ist. Erschwerend kommt hinzu, dass Ressortabstimmung, sofern sie überhaupt stattfindet, nicht im Vorlauf von Konflikten, sondern im allgemeinen erst ad hoc in konkreten Fällen erfolgt, also reaktiv statt präventiv. Anspruch und Wirklichkeit der Krisenbewältigung laufen daher im politischen Alltagsbetrieb auseinander: Statt der erhofften Synergieeffekte durch vernetztes Handeln kommt es in der Praxis zu einem Durchwursteln im Gestrüpp der Akteure. Außerdem droht in diesem Gestrüpp die zivile Konfliktbearbeitung eher zu einem Anhängsel militärischer Sicherheitspolitik zu denaturieren. Typisches Beispiel dafür ist das Weißbuch 2006, das zwar zunächst auf vernetzte Sicherheit im Bewusstsein eines umfassenden gesamtstaatlichen und globalen Sicherheitsverständnisses rekurriert, sich dann aber bei der Umsetzung auf den rein militärischen Aspekt beschränkt. Zu Recht fordert daher Lothar Brock, dass sich zivile Konfliktbearbeitung diskursiv in die militärische Sicherheitspolitik einzumischen habe: „Der Aktionsplan stellt einen Beitrag zur Institutionalisierung eines solchen Diskurses dar [. . .] das ursprünglich mit dem erweiterten Sicherheitsbegriff angestrebte makropolitische Ziel, Ressourcen aus der Militärpolitik in zivile Handlungsfelder [. . .] umzuleiten, wurde jedoch nicht erreicht. Wir haben es vielmehr mit einem neuen Sicherheitsklima zu tun, das sich in einer präzedenzlosen Ausweitung von Bedrohungsvorstellungen und einer Globalisierung der Verteidigung niederschlägt.“13 So wie der strapazierte erweiterte Sicherheitsbegriff inzwischen zu einer sinnentleerten „catch-all-Kategorie“ ohne analytischen Aussagewert aufgeblasen worden ist, erweist sich letztlich auch „vernetzte Sicherheit“ als bloßer Wechselbalg einer akademischen Wachstumsbranche.14 Dies vermag aber nicht darüber hinwegzutäuschen, dass ein umfassendes Konzept für 13 14

Brock (2004), S. 342. Vgl. Jaberg (2009).

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eine systematische Anpassung der deutschen Sicherheitsarchitektur an die gewandelten Bedrohungen bis heute fehlt. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass nach wie vor Art. 87a GG, der die Aufstellung von Streitkräften einzig zu Verteidigungszwecken erlaubt, die maßgebliche Entscheidungsgrundlage für den Bundeswehreinsatz darstellt.15 Da aber gerade der Verteidigungsfall gegen eine externe Bedrohung derzeit als unwahrscheinlich gelten kann, rückt zwangsläufig der Interessenbegriff in den Focus. Der damalige Verteidigungsminister Struck hat mit seiner These, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt, versucht, eine entsprechende öffentliche Debatte anzustoßen. Aber die in dieser These enthaltene Prämisse, es läge im deutschen Interesse, Bedrohungen dort zu bekämpfen wo sie entstehen, ist kurzschlüssig. Mit derselben Logik könnte man argumentieren, Deutschland sei überhaupt erst in das Fadenkreuz der Terroristen gerückt, seitdem deutsche Truppen in Afghanistan eingesetzt werden. Und wenn Afghanistan, warum dann nicht auch Irak, Somalia oder der Kongo? Auch das Weißbuch verwendet den Interessenbegriff eher vage und schwammig. Auf die entscheidenden Fragen, wann Deutschland zur Wahrung seiner Interessen Streitkräfte einsetzen muss und welche Ziele auf welchem Wege erreicht werden sollen, gibt es keine Antwort. Hanns Maull glaubt indes ein Muster zu erkennen: „Die Bundesregierung beschließt die Entsendung der Bundeswehr zur Mitwirkung an internationalen Friedenseinsätzen und definiert den jeweiligen Frieden ipso facto als deutsches Interesse.“16 Wer selber keine Ziele setzt, steht immer im Verdacht, nur ad hoc und kurzatmig zu reagieren. Die dargelegten theoretisch-konzeptionellen Defizite zeigen die eine Seite der Medaille. Die Kehrseite betrifft das zentrale Mittel deutscher Außenund Sicherheitspolitik selbst, nämlich die Streitkräfte und deren strukturellen Probleme, die aus der nur zähe vorankommenden Transformation und den Auslandseinsätzen der Bundeswehr herrühren. Das führt zu einer dritten These:

III. Die Bundeswehr marschiert im Gleichschritt in die Sackgasse Hier soll nicht auf die Fähigkeitslücken der Bundeswehr eingegangen werden, die aus einer unzulänglichen Finanzierung resultieren und von der Politik verantwortet werden müssen. So ist z. B. die Kategorisierung der 15 16

Vgl. Meyer (2007), S. 33. Maull (2006), S. 63.

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Streitkräfte in Eingreifkräfte (35.000 Mann), Stabilisierungskräfte (70.000 Mann) und Unterstützungskräfte (147.500 Mann) nicht das Ergebnis operativer Planung, sondern aus der Not geboren und erinnert an den bekannten nackten Mann, dem man nicht in die Tasche greifen kann. Hier geht es vielmehr um Defizite, die die militärische Führung selber zu verantworten hat und von Durchhalteparolen wie „hat sich bewährt“, „auf einem guten Weg“, „gut aufgestellt“ nicht länger eskamotiert werden können. Dass die Realität diese Beschwörungsformeln längst konterkariert, dokumentiert eindrucksvoll der Heyst-Bericht, der umgehend in den Panzerschränken des Verteidigungsministeriums verschwand und erst durch Recherche der Presse im Januar 2008 an die Öffentlichkeit gelangte. Dabei handelt es sich um ein Gutachten, das unter dem Titel „Auslandseinsätze der Bundeswehr“ von sieben der ranghöchsten ehemaligen Generäle der Bundeswehr verfasst wurde. An ihrer Spitze stand der ehemalige Oberbefehlshaber der Afghanistan-Schutztruppe ISAF Norbert van Heyst. Von Februar bis Juli 2007 recherchierten die Autoren an unterschiedlichen Standorten und interviewten die wichtigsten Kommandeure aller Auslandsmissionen. Ihr Ergebnis: Die Bundeswehr ist eine umständliche, uneffektive und teilweise unzureichend kontrollierte Organisation.17 Die analysierten Defizite betreffen die Bereiche Planung, Führung und Bürokratie. So kritisieren die Ex-Generäle, dass Auslandseinsätze aus mangelnden strategischen Planungsressourcen im BMVg häufig übers Knie gebrochen werden und wenig Zeit bleibe, Ziele, Wege und Mittel einer Mission kritisch zu durchdenken. Die Folgen „sind zu frühe Festlegungen von Kontingentobergrenzen, die sich [. . .] als zu niedrig erweisen [. . .] oder sehr kurze Zeitvorgaben für die Verlegung von Kontingenten und das Herstellen ihrer Einsatzbereitschaft. Beides kann große Risiken für die Realisierung der Planung oder für die Sicherheit des Kontingents selbst verursachen.“ Dafür setze im Ausland sofort eine lähmende Bürokratie ein. „Regelungsdichte und Informationsflüsse haben [. . .] die Grenze des Handhabbaren überschritten“. Selbst in Afghanistan müssen Bundeswehrsoldaten deutsche Rechtsstandards penibel einhalten – von der Mülltrennung über die Straßenverkehrsordnung bis zur Zahlung eines Fahrkostenzuschusses an die Ortskräfte „i. S. des Erlasses über Werk-, Schul- und Fürsorgefahrten (VMBl 1990, S. 114)“. Tatsächlich bedarf die militärische Realität heute einer neuen Austarierung zwischen Auftragstaktik und Dienstaufsicht. Der schnelle Durchgriff von ganz oben zeigt häufig erst vor Ort die Janusköpfigkeit solcher Aktionen. So leuchtet die Weisung des Verteidigungsministers nach einem töd17

Die folgenden Zitate sind dem Bericht von Bittner (2008) entnommen.

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lichen Anschlag, zukünftig nur noch in geschützten Fahrzeugen in Afghanistan zu fahren, auf den ersten Blick ein. Wenn aber vor Ort nicht genügend geschützte Fahrzeuge vorhanden sind oder bestimmte Aufträge gar nicht in gepanzerten Fahrzeugen ausgeführt werden können, haben die Betroffenen nur die Wahl, sich über die Weisung hinwegzusetzen oder den Auftrag nicht auszuführen. Solche Grauzonen fördern Absicherungsmentalität statt Verantwortung zu stärken. Es entbehrt daher nicht der Ironie, dass ausgerechnet Franz Josef Jung als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt auf der Kommandeurstagung im März 2008 das im van Heyst-Bericht beklagte permanente Durchgreifen höherer Ebenen kritisierte, weil es dem Geist der Inneren Führung widerspräche: „Fehlertoleranz, Vertrauen, Führen mit Auftrag und bereitwillige Übernahme von Verantwortung sind die Schlüssel zur mentalen Entbürokratisierung. Dazu gehört auch, sich bei der rückwirkenden Bewertung von Handlungen schützend vor diejenigen Menschen zu stellen, die im Rahmen ihres Auftrages Verantwortung in Grenzbereichen übernommen haben.“18 Dass auch hier die Praxis anders aussieht, zeigen die Entgleisungen von Coesfeld und die Totenschädelaffäre in Afghanistan. In Coesfeld hatten sich Vorgesetzte bei einer Übung mit simulierter Geiselnahme durch Misshandlungen der „gefangenen Soldaten“ strafbar gemacht. In Afghanistan posierten Bundeswehrangehörige mit Gebeinen wohl russischer Soldaten, die von ihnen selbst geschossenen Bilder wurden in der Bildzeitung veröffentlicht. Unstrittig dürfte sein, dass in beiden Fällen das Fehlverhalten der Betroffenen einer disziplinaren Ahndung bedurfte. Was aber nachdenklich stimmt, ist die Unverhältnismäßigkeit des Durchgreifens, verbunden mit eingespielten Betroffenheitsritualen („wer so etwas mache, habe in der Bundeswehr keinen Platz“), die nur den einzigen Zweck verfolgen, den politischen Schaden für den verantwortlichen Verteidigungsminister zu begrenzen. Der Rauswurf der Übeltäter untermauert daher formal die Handlungsfähigkeit des Ministers, gestützt auf der Grundlage häufig fragwürdiger juristischer Gutachten des eigenen Hauses. Viele dieser ‚juristischen Expertisen‘ halten denn auch einer Überprüfung durch zivile Gerichte nicht stand, aber da die Halbwertzeit von Tagesereignissen äußerst gering ist, verlaufen etliche dieser durch die Presse bekannt gewordenen Affären zumeist im Sand. Ministeriell ist bereits vor Jahren angeordnet worden, dass Meldungen vom Balkan und aus Afghanistan nur noch als sogenannte Klarmeldungen abzugeben sind. In der Folge werden ausschließlich Vorgesetzte gefördert, die den Minister in vorauseilendem Gehorsam unterstützen. Offiziere, 18 Zitiert nach Stephan Löwenstern in seinem Artikel „Durchgriff von oben“ in der FAZ vom 13.3.08, S. 16.

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die die ‚Wahrheit‘ sagen, werden abgekanzelt. Hinzu kommen anhaltende Versuche des Information- und Pressestabes, kritische Stimmen abzuwürgen. Zivilcourage ist offensichtlich unerwünscht. Inzwischen muss man sich fragen, ob hier nicht das im Grundgesetz verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung ausgehebelt wird.19 Problematisch sind die Auslandseinsätze aber noch aus einem ganz anderen Grund: Sie finden vor dem Hintergrund eines mangelnden sicherheitspolitischen Konsenses in Deutschland statt.20 Eine Auswertung relevanter empirischer Untersuchungen durch das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr (SOWI) belegt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung nur Einsätzen zustimmt, wenn diese einen eindeutig friedlichen Charakter aufweisen und der Stabilisierung von Krisenregionen oder dem Wiederaufbau nach Beendigung von Gewaltkonflikten dienen. „Sind diese Voraussetzungen aber nicht erfüllt, dann ist die Bevölkerung mehrheitlich nicht bereit, entsprechende Missionen mitzutragen.“21 Offensichtlich verfestigt sich der Eindruck, dass militärische Zwangsmaßnahmen, selbst wenn sie durch ein VN-Mandat gedeckt sind, immer mit dem Risiko der Gewalteskalation verbunden und häufig kontraproduktiv sind. Gerade in „postheroischen“ Demokratien können gefallene Soldaten fern der Heimat und die sogenannten „Kollateralschäden“ vor Ort die Legitimität solcher Einsätze und damit die politische Durchhaltefähigkeit unterlaufen. Der Generalinspekteur beklagt daher nicht ohne Grund immer wieder, dass die Bundeswehr im Einsatz eine Armee ohne Identität sei und selbst bei tödlichen Unfällen auch in den Streitkräften selbst nur segmentäre Betroffenheit herrsche. Die strikte Tabuisierung des Begriffes „Krieg“ in den Äußerungen der politischen Führung in Kenntnis der öffentlichen Befindlichkeiten kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass „gegenwärtig eine zentrale Forderung der Inneren Führung, nämlich die Existenz eines breiten gesellschaftlichen Rückhalts für die Streitkräfte und deren Aufgaben, nicht hinreichend erfüllt ist. Stattdessen ist ein sicherheitspolitischer Dissens zwischen Politik, Militär und Bevölkerung mit erheblichen Folgen für die Sicherheitspolitik und die Streitkräfte zu konstatieren.“22 Das Engagement der Bundeswehr in Afghanistan, das aller offiziellen Rabulistik zum Trotz immer mehr zu einem Kampfeinsatz mutiert, hat eine weitere Konsequenz für die Innere Führung, nämlich die des sich wandelnden Berufsbildes vom Soldaten. In einer vom möglichen Krieg her gedach19 Vgl. zu diesem Themenkomplex auch den Beitrag von Gillner in diesem Band. 20 Vgl. Biehl (2007), S. 111. 21 Ebenda, S. 109. 22 Ebenda, S. 103.

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ten und zur Einsatzarmee transformierten Bundeswehr, die Kriegstüchtigkeit zum Maß aller Dinge erklärt, feiert nahezu zwangsläufig das Leitbild vom Kämpfer Auferstehung. In erfrischender Deutlichkeit hat es der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Hans-Otto Budde, auf den Punkt gebracht: „Wir brauchen den archaischen Kämpfer und den, der den High-Tech-Krieg führen kann.“23 Ein Kampfgefährte Buddes aus gemeinsamen Fallschirmjägertagen hat denn auch gleich logisch gefolgert: „Eine ‚neue Zeit‘ in der Militärstrategie und Taktik verlangt natürlich einen Soldatentypen sui generis: Der ‚Staatsbürger in Uniform‘ [. . .] hat ausgedient.“24 Tatsächlich markiert dieser Soldatentyp das genaue Gegenteil des von der Inneren Führung propagierten Leitbildes vom politisch denkenden und selbständig handelnden Soldaten. Der Terminus „Soldat“ steht dann nämlich, wie Rose sarkastisch formulierte, als Akronym und bedeutet ausbuchstabiert „soll ohne langes Denken alles tun“25. Fairerweise muss man hinzufügen, dass dieser Rambotyp im Truppenalltag derzeit nur als Minderheit vorkommt, wie eine SOWI-Studie ergab.26 Demnach ließen sich zwei Drittel der befragten Soldaten als Soldaten der Inneren Führung charakterisieren, und nur jeder zehnte entsprach dem Kämpfertyp. „Was allerdings passiert, wenn Kämpferqualitäten zukünftig stärker nachgefragt werden, was sich durch die zunehmend ‚robuster‘ werdenden Einsätze der letzten Zeit bereits abzeichnet, und wie die Streitkräfte dies mit den Vorgaben der Inneren Führung werden vereinbaren können, ist eine noch zu untersuchende Frage.“27 Die Antwort hängt wesentlich davon ab, welche Einstellungen zur Inneren Führung in den Streitkräften sich langfristig durchsetzen. Elmar Wiesendahl unterscheidet in diesem Zusammenhang vier kontroverse Positionen, deren Vertreter aus höchst unterschiedlichen Blickwinkeln darin übereinstimmen, dass eine Weiterentwicklung der Inneren Führung nicht auf der Tagesordnung steht.28 Neben den konservativ geprägten Technokraten, für die das in Friedenszeiten entwickelte Konzept der Inneren Führung unter Einsatzbedingungen wenig aussagekräftig ist, stehen auf der rechten Seite die von Wiesendahl so genannten Totalrevisionisten, die Innere Führung nur als zeitbegrenzte Konzession an die Wiederbewaffnung begreifen. Diese Gruppe gab es übrigens schon in den sechziger und siebziger Jahren und verband sich mit prominenten Generälen wie Heinz Karst und Hellmut 23 24 25 26 27 28

Zitiert nach Rose (2008), S. 7. Zitiert nach ebenda, S. 7. Rose (2007), S. 7. Vgl. Collmer (2007), S. 144. Ebenda, S. 145. Vgl. Wiesendahl (2007), S. 13 ff.

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Grashey, die unter Verteidigungsminister Helmut Schmidt deshalb den Dienst quittieren mussten. Heute sehen ihre Anhänger eine neue Chance, sich zu artikulieren. Ihres Erachtens prägten nicht mehr Verteidigung und Abschreckung sowie die Integration der Bundeswehr in Staat und Gesellschaft die Realität, sondern jetzt müssten die im Prinzip weltweit agierenden Streitkräfte vom Krieg her gedacht werden. Mithin seien die Leitbilder sowohl der Innere Führung als auch des Staatsbürgers in Uniform sinnentleert. Die Gegenposition wird von der Gruppe der Bewahrer und den Anhängern der Bewährungsposition vertreten. Prekär erweisen sich beide Positionen insofern, als sie eine Weiterentwicklung der Inneren Führung trotz neuer Einsatzbedingungen nicht zulassen. Während sich die Bewahrer eigentlich den Herausforderungen der neuen Kriege und den Konsequenzen einer transformierten Bundeswehr nicht wirklich stellen, gehen die Vertreter der Bewährungsposition von unveränderbaren Kernelementen der Inneren Führung aus, die sich in unterschiedlichen Einsätzen bewährt hätten und keiner Anpassung bedürften. So heißt es im Weißbuch 2006 unter der Nr. 80: „Die in der Aufbauphase neuer deutscher Streitkräfte entwickelte Konzeption der Inneren Führung hat sich auch im Einsatz bewährt“ – eine Formulierung, die übrigens auch in der überarbeiteten zentralen Dienstvorschrift 10/1 (Innere Führung) wieder auftaucht. Problematisch ist diese These aus dreierlei Gründen: Erstens fehlt für diese Behauptung jeder empirische Nachweis, zweitens wurde noch drei Jahre zuvor in den Verteidigungspolitischen Richtlinien in Nr. 88 die Weiterentwicklung des Konzepts der Inneren Führung gefordert, „um es an die neuen Einsatzbedingungen der Streitkräfte anzupassen und die Einbettung der Streitkräfte in die Gesellschaft zu verstärken“, und drittens läuft die Bewährungsformel geradezu auf ein Denkverbot hinaus, denn was sich vermeintlich dauerhaft bewährt hat, entzieht sich jeder Kritik. Aber gerade das, was sich in der Vergangenheit bewährt hat, kann für die Zukunft die „Logik des Misslingens“ – so ein bekannter Buchtitel von Dietrich Dörner29 – enthalten. Daraus resultiert die vierte These.

IV. Gerade vermeintlich Bewährtes muss neu durchdacht werden Drei unterschiedliche, in der Öffentlichkeit diskutierte Ansätze strategischen Denkens sollen hier abschließend kurz analysiert werden. Der erste betrifft die Forderung nach einem neuen strategischen Konzept der NATO, von dessen Sinnhaftigkeit die Bundeswehr als Bündnisarmee automatisch 29

Vgl. Dörner (2006).

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profitieren würde. Der zweite setzt sich mit dem Interessenbegriff und den Einsatzkriterien auseinander und fordert die Entwicklung einer Sicherheitsstrategie für Deutschland, während der dritte dafür plädiert, angesichts völlig neuer Rahmenbedingungen das für Friedenszeiten entwickelte Konzept der Inneren Führung neu zu durchdenken. Die Gründe für eine neue NATO-Strategie hat u. a. der damalige General Klaus Wittmann in der FAZ vom 7. Juli 2007 anhand von zwölf Thesen formuliert. Der 11. September, der Irak-Krieg und die Afghanistan-Operation hätten vor allem das Problem militärischer Gewalt in den neuen Kriegen deutlich gemacht und damit auch das überkommene Selbstverständnis der NATO in Frage gestellt. Im Gegensatz zur Zeit des Kalten Krieges würden Bedrohungen heute von den Bündnispartnern unterschiedlich wahrgenommen, und auch die Auffassungen, wie ihnen begegnet werden sollten, ließen sich nicht mehr zur Deckung bringen. Die Osterweiterung sowie die innere und äußere Anpassung der NATO könnten über die grundlegenden Divergenzen und damit über die mangelnde Klarheit ihres Daseinszwecks nicht hinwegtäuschen. Wittmanns Diagnose stimmt, aber die Hoffnung, ein neues strategisches Konzept werde diese Differenzen beheben, trügt, wie Michael Rühle zu Recht betont: „Politik, zumal Sicherheitspolitik, funktioniert anders. Ein neues strategisches Konzept kann einen bestehenden politischen Konsensus dokumentieren, aber keinen neuen Konsensus begründen.“30 Insofern trägt die Debatte über eine neue NATO-Strategie für das Selbstverständnis der Bundeswehr als Bündnisarmee und der daraus abzuleitenden Identität wenig bei. Wenn z. B. im Weißbuch 2006 steht, dass die Beteiligung Deutschlands an friedenserzwingenden oder friedenserhaltenden Maßnahmen abhängig sei von einer Prüfung, ob die entsprechenden Krisen und Konflikte eine Gefährdung der Staatengemeinschaft darstellen, wären demnach die Interessen Deutschlands „gleichzusetzen mit dem Schutz der Staatengemeinschaft (also der Gemeinschaft aller Staaten, eine ebenso nebulöse wie umfassende Kategorie mit entsprechend vagen Interessen) vor Gefährdungen“31. Tatsächlich ist aber die hier vorausgesetzte Interessenidentität der Bündnispartner nach 1989 längst obsolet, und die Divergenzen führen zu Erosionen im Bündnis. Für Hanns Maull sind es nicht die eher unpräzisen Interessendefinitionen, die das Setzen außenpolitischer Prioritäten erschweren, sondern die seit 1990 rapide zunehmende Komplexität der internationalen Beziehungen, das Phänomen der sich ausbreitenden „failing states“ und als Konsequenz eine Machtdiffusion in den internationalen Beziehungen. Aus allen drei Entwick30 31

Rühle (2008), S. 15. Vgl. Maull (2006), S. 70.

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lungen resultiere ein neues, elementares Machtdilemma: „Unsicherheit entsteht nicht mehr primär aus der (tatsächlich oder vermeintlich) gefährlichen Machtakkumulation einzelner Staaten, sondern aus der mangelnden Fähigkeit einzelner Staaten, aber auch mehrerer oder sogar aller Staaten zusammen, die Zukunft im Sinne der eigenen Interessen zu beeinflussen oder möglicherweise katastrophale Gefährdungen abzuwenden.“32 Das aber bedingt die Entwicklung einer deutschen Sicherheitsstrategie, die nationale Interessen in Ziele umsetzt, Wege und Mittel zur Realisierung dieser Ziele definiert und daraus Handlungsoptionen zur Zukunftsgestaltung ableitet. In ihrem Rahmen müsste die deutsche Außenpolitik dann begründen, warum sie die Bundeswehr zu welchem Zwecke und zur Realisierung welcher Ziele im Ausland einzusetzen gedenkt. Der Versuch, stattdessen die Entscheidung über Auslandseinsätze anhand eines Kriterienkataloges festzulegen, der gewöhnlich an die Überlegungen des ICISS-Berichts „Responsibility to Protect“ anknüpft,33 greift zu kurz. „Die in der Öffentlichkeit als grundsätzlich wichtig genannten Kriterien werden fast nie gleichzeitig vorliegen. De facto würde ein verbindlicher Kriterienkatalog zu einer weitreichenden Abstinenz Deutschlands bei der Teilnahme von internationalen Friedenseinsätzen führen“34. Derartige Kriterien stellen allenfalls Hilfsmittel bei der Entscheidungsfindung, aber keine abzuhakende Checkliste dar, zumal jeder einzelne Einsatz als Unikat je spezifischen Bedingungen unterliegt, die gegeneinander abgewogen werden müssen.35 Eine deutsche Sicherheitsstrategie ist zweifellos überfällig, die sich im Kontext europäischer und globaler Sicherheitsinteressen auf eine Risikound Bedrohungsanalyse verständigt und die Qualität von Konflikten nicht primär daran misst, welche Bedeutung sie für die Nachbarn in der NATO und der EU haben. „Die Partner werden selbst dafür sorgen, dass ihre Erwägungen in den intergouvernementalen Beratungsprozess einfließen. Dort sollten sie dann mit der deutschen Position abgeglichen werden.“36 Vor allem müssen im Rahmen einer solchen Strategie Lücken im Weißbuch gefüllt werden, indem z. B. darüber nachgedacht wird, welche prinzipiellen 32

Ebenda, S. 68. Prüffragen in diesem Zusammenhang sind: Dient der Militäreinsatz einer gerechten Sache? Existiert ein klar definiertes, international legitimiertes Mandat? Liegen massive Menschenrechtsverletzungen vor? Bestehen gute Erfolgsaussichten? Welche denkbaren Konsequenzen hat ein Militäreinsatz? Welche Risiken bestehen für die Einsatzkräfte? 34 Kühne (2007), S. 29. 35 Zum Thema ‚Kriterienkataloge‘ vgl. auch die Beiträge von Gareis/Nolte und von Jaberg in diesem Band. 36 Mair (2007b), S. 15. 33

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Chancen und Risiken mit dem Einsatz des Militärs im Rahmen von Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung verbunden sind. So hat die Problematik des Nebeneinanders der beiden unterschiedlichen Mandate von OEF und ISAF in Afghanistan dazu geführt, dass die dortige Bevölkerung, die sowieso nicht zwischen beiden Mandaten unterscheiden kann, das Militär zunehmend nicht als Befreiungs-, sondern als Besatzungsarmee wahrnimmt. Wenn Klaus Naumann heute klagt: „Die politische Klasse der Berliner Republik lässt Strategiefähigkeit vermissen“37, so ist ihm vorbehaltlos zuzustimmen. Die Zeiten, da sich ein Helmut Schmidt einen Namen als strategischer Denker machte, sind offensichtlich unwiderruflich vorbei. Außen- und Sicherheitspolitik stellen heutzutage keine karriereförderlichen Politikfelder mehr dar. Diese traurige Situation setzt sich bis in die höchste politische Ebene fort. So ist die Bundeswehr nach der Wende nicht gerade mit Verteidigungsministern gesegnet worden, die den Diskurs vorangetrieben haben. Volker Rühe bürstete die Innere Führung schon im eigenen Haus gegen den Strich, Scharping verlor mit seiner Poolaffaire („Bin Baden“) jeden Respekt in der Truppe, und Jung beweist jeden Tag eindrucksvoll, dass die erfolgreiche Rolle als Wahlkämpfer für Roland Koch in Hessen nicht automatisch für dieses Ministeramt qualifiziert. Der oft beschworene Diskurs in der Öffentlichkeit fand allein schon deshalb bisher nicht statt, weil sich alle gegen ihn sperrten. Weiterentwicklung der Inneren Führung bedeutet aber gerade auch mehr Ehrlichkeit gegenüber der Öffentlichkeit und keine Tabuisierung von Begriffen wie Krieg und Kampfeinsatz. „Im sicherheitspolitischen Diskurs der Öffentlichkeit (der Gesellschaft) müssen die neuen Aufgaben der Streitkräfte verstanden und akzeptiert werden, wozu es einer von Klischees und Vorurteilen möglichst freien Debatte über den Sinn und Zweck von out-ofarea-Einsätzen bedarf.“38 Wie dargelegt, sieht auch hier die Realität ganz anders aus. „Innerhalb der Organisation der Streitkräfte müssen effiziente und verlässliche Regelungen eingeführt werden, die bewirken, daß die Grundsätze der Inneren Führung auch bei der Erfüllung der neuen Aufgaben nicht vernachlässigt werden.“39 Versteht man Innere Führung als Unternehmensoder Organisationskultur der Streitkräfte,40 dann zeigen die Jahresberichte des Wehrbeauftragten im Allgemeinen und der van Heyst-Bericht über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Besonderen, dass auch auf die37 38 39 40

Naumann (2008), S. 30. von Bredow (2007), S. 133. Ebenda, S. 133. Vgl. Wiesendahl (2007), S. 22 f.

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sem Feld Norm und Wirklichkeit auseinanderfallen. Die Kritik an der Praxis der Führungskultur, auf die die Bundeswehr so stolz ist, bezeichnet zweifellos den schwerwiegendsten Missstand, den die Heyst-Arbeitsgruppe festgestellt hat. Sicher handelt es sich nicht um Zufall, dass dieser Bericht von Generälen verfasst wurde, die ihre Uniform bereits ausgezogen hatten. Derartige schonungslose Kritik steht von aktiven Spitzenmilitärs nicht zu erwarten. Schließlich heißt der entsprechende Begriff „Zivilcourage“ und nicht Militärcourage. Zwar hatte Bundespräsident Horst Köhler 2007 in einer Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr den Offiziernachwuchs ausdrücklich ermuntert, sich kritisch und zwar gerade auch öffentlich zu äußern, aber die offiziell erwünschte Sozialfigur des selbständig denkenden und handelnden Staatsbürgers in Uniform wird intern nur geduldet, solange sie das bewährte Prinzip von Befehl und Gehorsam nicht konterkariert. Dass gerade Spitzenmilitärs heute in der Fachwelt der „strategic community“ am wenigsten vernetzt sind,41 kann nur denjenigen wundern, der noch nicht von ihren Standardbriefings gelangweilt wurde, die sich immer ängstlich an der politischen Leitlinie des Hauses orientieren. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Weißbuchkondensate, die wie ein Mantra genauso vor dem Verband Bayerischer Landfrauen wie vor Expertenrunden heruntergebetet werden. Als fatal erweist sich dabei die Neigung, immer wieder alarmistische Bedrohungsszenarien auszubreiten und zur Abwehr und Bekämpfung den erwarteten Sicherheitsansatz sowie vernetzte Sicherheit zu beschwören. Tatsächlich kommt denen aber nur eine ideologische Funktion zu, weil überwiegend – z. B. bei der Terrorismusbekämpfung – in militärischen Kategorien gedacht und argumentiert wird, obwohl gerade im genannten Beispiel die Streitkräfte wenig zur Problemlösung beitragen können – was nicht zuletzt die Militärs am besten wissen. Es versteht sich von selbst, dass diese Mischung aus intellektuellem Opportunismus und uniformierter Gesundbeterei das genaue Gegenteil dessen ist, was mit dem Leitbild vom Staatsbürger in Uniform eigentlich angestrebt wird. Uwe Hartmann hat auf das Paradoxon hingewiesen, dass die Innere Führung zwar weiterhin als Markenzeichen der Bundeswehr propagiert wird, in der derzeitigen Phase großer Umbrüche aber kaum mehr diskutiert werde und ihre einstige gesellschafts- und militärverändernde Dynamik praktisch nicht mehr wirksam sei.42 Wolf Graf von Baudissin entwickelte sein Konzept der Inneren Führung vor dem Hintergrund der politischen und militärischen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und der organisierten Friedlosigkeit des sich anschließenden Kalten Krieges, in welchem sich zwei waf41 42

Vgl. Naumann (2008), S. 34. Vgl. Hartmann (2007), S. 10.

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fenstarrende Militärblöcke wechselseitig nuklear abzuschrecken versuchten.43 Die von ihm anvisierte Integration deutscher Streitkräfte in Staat und Gesellschaft verband sich mit Schlüsselbegriffe wie „Armee für den Frieden“, „Bundeswehr als Spiegel der Gesellschaft“, „partnerschaftliches Betriebsklima“, „Staatsbürger in Uniform“, „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“. Das geflügelte Wort Raymond Aron hat die damalige Situation des Kalten Krieges auf den Punkt gebracht: Demnach sei Krieg unwahrscheinlich, aber Frieden unmöglich. Definiert man nun in seinem Sinn den Paradigmenwechsel wie folgt „Krieg ist wahrscheinlich, aber Frieden ist möglich“, dann wird sofort deutlich, dass Innere Führung als Unternehmenskultur neu durchdacht werden muss, weil sich der Bezugsrahmen geändert hat und die dargelegten Defizite für sich sprechen. Über Innere Führung nachdenken, heißt deshalb auch immer über den Wandel der Bundeswehr von der Verteidigungs- zur Einsatzarmee nachzudenken. Die üblichen Beschwörungsformeln wie „hat sich bewährt“ verlängern letztlich nur den Weg in die Sackgasse, weisen aber keinen Weg hinaus. Literatur Biehl, Heiko (2007): Zustimmung unter Vorbehalt. Die Deutsche Gesellschaft und ihre Streitkräfte, in: Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Innere Führung für das 21. Jahrhundert. Paderborn: Schöningh, S. 10–116. Bittner, Jochen (2008): Generalabrechnung, in: Die Zeit vom 17. Januar 2008. Bredow, Wilfried von (2007): Erweitertes Einsatzspektrum für die Bundeswehr. Konsequenzen für die Innere Führung, in: Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Innere Führung für das 21. Jahrhundert. Paderborn: Schöningh, S. 129–138. Brock, Lothar (2004): Der erweiterte Sicherheitsbegriff: keine Zauberformel für die Begründung ziviler Konfliktbearbeitung, in: Die Friedens-Warte, 79: 3/4, S. 323–343. Brummer, Klaus/Weiss, Stefanie (2006): Gut, aber nicht gut genug. Das neue sicherheitspolitische Weißbuch der Bundesrepublik Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. Collmer, Sabine (2007): Der flexible Soldat, in: Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Innere Führung für das 21. Jahrhundert. Paderborn: Schöningh, S. 139–153. Daase, Christopher (1991): Der erweiterte Sicherheitsbegriff und die Diversifizierung amerikanischer Sicherheitsinteressen, in: Politische Vierteljahresschrift, 32: 3, S. 425–451. Dörner, Dietrich (2006): Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. 5. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt TaschenbuchVerlag. 43 Zum Konzept der Inneren Führung vgl. auch den Beitrag von von Rosen in diesem Band.

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Flechtner, Stefanie (2007): In neuer Mission Auslandseinsätze und die deutsche Sicherheitspolitik: Kompass 2020. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. Hartmann, Uwe (2007): Innere Führung: Erfolge und Defizite der Führungsphilosophie für die Bundeswehr. Berlin: Miles. Jaberg, Sabine (2009): Vernetzte Sicherheit? Phänomenologische Rekonstruktion und kritische Reflexion eines Zentralbegriffs im Weißbuch 2006. Hamburg: Führungsakademie der Bundeswehr. (SOW kontrovers; 5.) Kaim, Markus (2007): Deutsche Auslandseinsätze in der Multilateralismusfalle?, in: Mair, Stephan (Hrsg.): Auslandseinsätze der Bundeswehr. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. (Studie; 27.), S. 43–49. Kühne, Winrich (2007): Interessen, Kriterien und Probleme deutscher Beteiligung an Friedenseinsätzen – Wann? Wohin? Warum?, in: Die Friedens-Warte, 48: 5, S. 23–40. Kutz, Martin (2006): Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Lange, Sascha (2008): Die Bundeswehr in Afghanistan. Personal und technische Ausstattung in der Einsatzrealität. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. (Studie; 9.) Mair, Stefan (Hrsg.) (2007a): Auslandseinsätze der Bundeswehr: Leitfragen, Entscheidungsspielräume und Lehren. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. (Studie; 27.) – (2007b): Kriterien für die Beteiligung an Militäreinsätzen, in: ders. (Hrsg.): Auslandseinsätze der Bundeswehr. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. (Studie; 27.), S. 11–19. Matthies, Volker (2000): Krisenprävention. Vorbeugen ist besser als Heilen. Opladen: Leske und Budrich. Maull, Hanns W. (2007): Auf leisen Sohlen aus der Außenpolitik, in: Internationale Politik, 58: 9, S. 19–30. – (2006): Nationale Interessen! Aber was sind sie? Auf der Suche nach Orientierungsgrundlagen für die deutsche Außenpolitik, in: Internationale Politik, 60: 10, S. 62–76. – (2004): „Normalisierung“ oder Auszehrung? Deutsche Außenpolitik im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. B 11, S. 17–23. Meyer, Berthold (2007): Von der Entgrenzung nationaler deutscher Interessen. Die politische Legitimation weltweiter Militäreinsätze. Frankfurt/M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. (HSFK-Report; 10.) Nachtwei, Winfried (2006): Thesen und Kriterien zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, MS, S. 1–21. Naumann, Klaus (2008): Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen, Hamburg: Hamburger Edition. Perthes, Volker (2007): Wie? Warum? Wo? Wie oft? Vier zentrale Fragen müssen vor Auslandseinsätzen beantwortet werden, in: Internationale Politik, 62: 5, S. 16–21.

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Rose, Jürgen (2008): Gewissen statt Gehorsam, in: Wissenschaft und Frieden – Dossier 57, Beilage 2, S. 7–11. Rühle, Michael (2008): Der steinige Weg ins globale Zeitalter, in: Internationale Politik, 63: 3, S. 6–15. Wiesendahl, Elmar (Hrsg.) (2007): Innere Führung für das 21. Jahrhundert. Die Bundeswehr und das Erbe Baudissins. Paderborn: Schöningh. – (Hrsg.) (2005): Neue Bundeswehr – neue Innere Führung? Perspektiven und Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung eines Leitbildes. Baden-Baden: Nomos.

„Bereit für drei Tassen Tee?“ Die Rolle von Kultur für Auslandseinsätze der Bundeswehr Von Maren Tomforde In der Vergangenheit blieb die kulturelle Dimension von Auslandseinsätzen entweder weitestgehend unbeachtet oder wurde in Bezug auf bestimmte Themenaspekte betrachtet. Im Mittelpunkt der Untersuchungen standen z. B. die interkulturelle Ausbildung an den Heimatstandorten, der Umgang mit der lokalen Bevölkerung im Einsatzland oder das Zusammentreffen unterschiedlichster Militärkulturen in multinationalen Verbänden.1 Auf der Basis von Literaturrecherche und eigener Feldforschung2 wird in dem vorliegenden Beitrag ein weiterer Blick auf den Zusammenhang von Kultur und Auslandseinsätzen geworfen. Anhand des Afghanistan-Einsatzes wird der These nachgegangen, dass eine eingehende Auseinandersetzung mit der Rolle von Kultur vor Ort im Einsatz für die einzelnen Soldaten und Kommandeure sowie auf der politisch-strategischen Ebene im Heimatland von zentraler Bedeutung sein sollte. Die Bedeutung von Kultur ist auf der lokalen Ebene vielfach bereits erkannt worden, auf der Makroebene spielen lokale Kulturen bisher eine untergeordnete Rolle. Wenn allerdings ein Mandat nicht mit Blick auf diese Kulturen verfasst wird und ein Auslandseinsatz nicht bereits von Anfang an kulturelle Besonderheiten der Gesellschaft(en) vor Ort in die Planung und Organisation mit einbezieht, ist die Nachhaltigkeit der Stabilisierungsmaßnahmen ernsthaft gefährdet. Dies haben bereits vielfältige Erfahrungen der Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten bewiesen.3 Konfliktbewältigung, Aufbau und Entwicklung können langfristig nur im Einklang mit den Menschen vor Ort erreicht werden, 1

Vgl. Bil (2003); Berns/Wöhrle-Chon (2004, 2006); Haußer (2006); Soeters et al. (2006); Tomforde (2008a). 2 Eigene Aussagen zu Themenaspekten, die das Thema ‚Interkulturelle Kompetenz und die Bundeswehr‘ betreffen, basieren auf ethnographischer Feldforschung, die in den Jahren 2003 bis 2007 sowohl in den Einsatzgebieten der Bundeswehr auf dem Balkan und in Afghanistan als auch an Standorten in Deutschland durchgeführt worden ist; vgl. Tomforde (2008, 2009). Auch danach habe ich zahlreiche Interviews mit Berufsoffizieren geführt, deren Ergebnisse zum Teil in die vorliegende Betrachtung mit einfließen. 3 Siehe Bliss/Merten/Schmidt (2007).

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nicht gegen sie oder über ihre Köpfe und Bedürfnisse hinweg. Wenn die lokale Bevölkerung nicht von Anfang an als gleichberechtigter Partner auf der strategisch-politischen Ebene eingeplant wird, kann der einzelne Einsatzsoldat4 zudem interkulturell noch so kompetent sein, er wird aufgrund der Rahmenbedingungen des Militäreinsatzes höchstwahrscheinlich als Besatzer oder ähnliches wahrgenommen werden. Diese Negativperzeption gefährdet eindeutig die Sicherheit der Soldaten (und auch des vor Ort tätigen Zivilpersonals internationaler Organisationen), wie in Afghanistan derzeit zu beobachten ist. Es stellt sich die Frage, ob die Politik und die militärische Führung prinzipiell bereit sind, sich in Afghanistan auf die lokalen Kulturen einzulassen, diese in ihre Konzepte zu integrieren, und ob sie bei ihrem Engagement für Afghanistan – im übertragenen Sinne – Offenheit, Geduld und Zeit für drei Tassen Tee5 mitbringen. Hier wird der deutschen Politik unterstellt, dass sie im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe für Afghanistan (ISAF) tatsächlich Konfliktnachsorge und Friedenserhaltung betreiben will und neben verschiedenen Eigeninteressen auch ein genuines Interesse an der Stabilisierung und am Wiederaufbau des Landes besitzt.6 Sollte dies der Fall sein, wird die Bundesregierung und die militärische Führung langfristig nicht umhinkommen, afghanische Kulturen und lokale Gegebenheiten in ihren Konzepten zu berücksichtigen. Generalmajor James Shaw der britischen Armee resümierte auf einem Symposium zu „Culture in Conflict“ an der Militärakademie in Shrivenham (Großbritannien) im Juni 2008 seinen Irak-Einsatz mit den folgenden Worten: „To operate without cultural understanding is to operate blind and deaf.“7 Dieses Zitat deutet auf zwei Sachverhalte hin: erstens, dass Kultur für Einsätze in kulturfremden Gebieten eine zentrale Rolle spielt und dass diese Notwendigkeit mittlerweile auch von der höchsten militärischen Führung anerkannt wird. Zweitens, dass Einsatzziele allein mit rein technischmilitärischen Mitteln nicht mehr erreicht werden können, weder auf der taktisch-operativen noch auf der strategischen Ebene. Auf der strategisch-politischen Ebene hat Kultur bisher nur in dem Maße Beachtung gefunden, wie sie für den Erfolg internationaler Missionen im Rahmen der Vereinten Nationen (VN), der Nordatlantischen Vertragsorgani4 Aus vereinfachenden Gründen wird im Rahmen dieses Textes das generische Maskulinum verwendet, es bezieht sich gleichermaßen auf Frauen. Derzeit befinden sich acht Prozent Frauen unter den Einsatzsoldaten der Bundeswehr; vgl. Kümmel (2008). 5 In Afghanistan (wie auch in Pakistan, Indien und weiteren asiatischen Ländern) ist es weit verbreitete Tradition, Vertrauen, gute Beziehungen und Korporationen in endlos erscheinenden Teerunden aufzubauen. Vgl. Mortenson/Relin (2007), S. 150. 6 Vgl. Rühle (2009), S. 4. 7 DCDC (2009), S. 1.

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sation (NATO) oder auch der Europäischen Union (EU) für erforderlich erachtet worden ist.8 Denn mittlerweile steht fest, dass auch die Handlungen von Individuen von strategischer Relevanz sein und den Erfolg oder Misserfolg eines ganzen Einsatzes mitbestimmen können.9 Dies zeigte z. B. ein Vorfall im Irak, bei dem britische Soldaten bei der Verfolgung von Attentätern bewaffnet eine Moschee stürmten. Die Aktion blieb ohne Erfolg, die Beziehungen zur lokalen Bevölkerung waren allerdings nachhaltig geschädigt und der Ruf der britischen Truppen vorerst ruiniert.10 Ereignisse der Mikroebene (siehe z. B. auch die ‚Totenkopffotos‘ deutscher Soldaten) können gerade im kulturellen Bereich einen direkten Einfluss auf die Makroebene ausüben. Zeigen Soldaten vor Ort mangelnde kulturelle Sensibilität, kann dies den gesamten Einsatz und die Sicherheit der Truppe gefährden: „Culture is important to peacekeeping at the lower levels of organization where individuals and corporate elements of the mission interact with local populations. At the same time, culture is important at the higher levels of the interaction among organizations that play a role in the mission.“11 Während dem einzelnen Einsatzsoldaten praktisch immer mehr interkulturelle Kompetenz abverlangt wird, ist die strategisch-politische Makroebene, die die Zielvorgaben und Inhalte des Mandats definiert sowie die Art und Weise der Auftragserfüllung vorgibt, auf internationaler wie auf deutscher Ebene bisher weitestgehend ohne den ‚kulturellen Blick‘ ausgekommen.12 Missionen wurden und werden im Allgemeinen von Strategen und Technokraten geplant, so dass Informationen über lokale Praktiken und politische Systeme, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielen.13 Mittlerweile belegen etliche wissenschaftliche Studien, wie zentral die Beachtung kultureller Gegebenheiten für den Erfolg von Einsätzen sein kann.14 Seit dem Scheitern in Somalia sowie durch die Einsätze im Kosovo und in Osttimor, die ebenfalls von einem fehlenden Verständnis für lokale Strukturen und deren kulturelle Kontextualisierung gekennzeichnet waren, steigt das Interesse an der Thematik ‚Auslandseinsätze und Kultur‘ sukzessive an. Substantielle Arbeiten sind in diesem Zusammenhang entstanden, die dazu auffordern, bei internationalen Interventionen und Missionen unbedingt lokale Strukturen und Kulturen einzubinden, statt sie bei Demokrati8

Siehe z. B. Ben-Ari/Elron (2001), S. 276. Vgl. Rubinstein (2008), S. 102; Liddy (2005), S. 140. 10 DCDC (2009), S. 1–3. 11 Rubinstein (2008), S. 39. 12 Vgl. Hohe (2002, 2002a). 13 Vgl. Myint-U/Sellwood (2000), S. 33 f. 14 Heiberg (1990). 9

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sierungs- und Nationsbildungsprozessen nach westlichem Vorbild unbeachtet zu lassen.15 Aufgrund dieser Nichtbeachtung bezeichnete Amitav Gosh16 bereits 1994, nach einer eingehenden Betrachtung der VN-Mission in Kambodscha, Peacekeeping nach westlichem Vorbild als „neo-imperialist canard“ und stellte damit sehr früh das VN-Konzept auch aufgrund eines inhärenten Kulturimperialismus in Frage. Der vorliegende Beitrag untergliedert sich wie folgt: Anhand eines Rückblickes auf den Somalia-Einsatz wird aufgezeigt, wie wenig Kultur bisher in VN-Einsätzen Beachtung gefunden hat und warum dieses Desiderat auch dazu führt, dass die Einsätze zum Teil als ‚neo-imperialistisches‘ Unterfangen empfunden werden. In einem zweiten Schritt wird der Blick auf den ISAF-Einsatz in Afghanistan geworfen und eruiert, inwiefern sich ein Paradigmenwechsel mit Blick auf einen stärkeren Einbezug der afghanischen Bevölkerung (und damit der Kultur) in die Stabilisierungs- und Aufbaumaßnahmen vollzieht. Danach werden anhand des Beispiels der Kultur-Taschenkarten die Probleme aufgezeigt, allen Einsatzsoldaten einen schnellen und knappen Einblick in die Kulturen des Einsatzgebietes zu ermöglichen. Schließlich setzt sich das vierte Kapitel mit dem direkten Kontakt von Bundeswehrsoldaten mit der einheimischen Bevölkerung in Afghanistan auseinander und zeigt die komplexen Herausforderungen dieser interkulturellen Begegnungen auf. Es wird verdeutlicht, dass sich das Militärpersonal in einer ‚interkulturellen Dilemma- bzw. Zwittersituation‘ befindet, da es vor Ort für die eigene Sicherheit genau jene interkulturelle Kompetenz benötigt, die aber auf der politisch-strategischen Ebene kaum Berücksichtigung, geschweige denn Unterstützung findet. Interkulturelle Kompetenz ‚unter Vorbehalt‘ kann jedoch nicht funktionieren und führt langfristig zu Problemen im Kontakt mit der afghanischen Bevölkerung.

I. Rückblende: Der gescheiterte Somalia-Einsatz und die (fehlende) Auseinandersetzung mit Kultur in VN-Einsätzen Bisher ist Kultur in Zusammenhang mit Einsätzen oftmals nur auf eine retrospektive Weise betrachtet worden, um zu ergründen, warum eine Mission (ganz oder teilweise) gescheitert ist.17 Auslandseinsätze bringen die verschiedensten Akteure zusammen: Militärpersonal aus unterschiedlichsten Ländern, Vertreter weiterer internationaler Organisationen (IO), Repräsen15

Lanik (im Druck); Rubinstein (2008); Kammhuber (2007); Hohe (2003, 2002, 2002a); Duffey (2000); Chopra (2000). 16 Gosh (1994). 17 Vgl. Hohe (2002), Duffey (2000).

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tanten von Nichtregierungsorganisationen und – last but not least – die Bevölkerung des Einsatzlandes. Diese Akteure sind durch ihre persönlichen Erfahrungen und Qualitäten, aber auch und vor allem durch nationale bzw. regionale oder gar lokale, aber auch durch institutionelle Kulturen unterschiedlich geprägt. In Konstellationen, die eine derartige kulturelle Vielfalt aufweisen, treten leicht Konflikte und Spannungen auf, die es bereits bei der Planung und Durchführung, und nicht erst retrospektiv, zu beachten und bearbeiten gilt.18 Dies trifft insbesondere auf die VN sowie auf die NATO und EU zu, die in ihren zivil-militärischen Missionen bewusst Akteure unterschiedlichster Organisationen und Nationen zusammenführen, um unter anderem mittels der Symbolkraft des Multikulturellen Stabilität und Frieden in der Konfliktregion zu fördern. Als Vorreiter dieser aktuellen Missionen ist das multinationale ‚klassische Peacekeeping‘, bei dem die sogenannten Blauhelme Waffen allenfalls zum Selbstschutz einsetzen durften, zu einem wichtigen Mittel und wahrscheinlich zum wichtigsten Symbol der Vereinten Nationen (VN) geworden. Es steht für eine normativ-moralische, weltumspannende Kraft, die ihre Wirkung durch die Beteiligung möglichst vieler Nationen erst voll entfalten kann.19 Das Bild der Vereinten Nationen als friedensstiftende, multikulturelle Weltorganisation nahm jedoch mit dem UNOSOM-Einsatz in Somalia Anfang der 1990er Jahre enormen Schaden. Insbesondere nachdem im März 1993 ein sechzehn Jahre alter Junge von kanadischen Peacekeepern zu Tode gefoltert worden war,20 wurde das Scheitern der Mission teilweise einem unterschwelligen Rassismus auf Seiten der Peacekeeping-Truppen zugeschrieben, der letztendlich zur inhumanen Behandlung der Somalier führte. „The most shocking turn of the day for those in the West came in the form of reports and videos of jubilant Somalis dragging American corpses through the streets. These images were perhaps especially shocking for those in the West, because they could not understand how Somalis could act so violently against people who were ‚only trying to help them‘.“21 Es wird deutlich, dass in Somalia, wie auch in anderen Auslandseinsätzen, das Selbstbild der Einsatzkräfte und das Fremdbild der lokalen Bevölkerung zum Teil gravierend auseinander klaffen können.22 Während sich Soldaten und Vertreter ziviler Organisationen als „Helfer“23 und wichtige stabilisierende Kräfte definieren, können sie von weiten Teilen der Men18 19 20 21 22 23

Vgl. Rubinstein (2003). Rubinstein (2008), S. 3. Bercuson (1996). Rubinstein (2008), S. 7. Vgl. Thomas/Kammhuber/Layes (1997). Vgl. Tomforde (2005).

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schen vor Ort z. B. als Besatzer und imperialistische Eindringlinge aufgefasst werden.24 Die Missionen werden nicht selten als die Fortsetzung alter, verhasster (kolonialer, imperialistischer) politischer Muster empfunden: „there is a deep sentiment that the UN and INGOs [international nongovernmental organizations] form a secondary occupying force“, wie der Ethnologe Robert Rubinstein festhält.25 Auch David Last26 sieht, dass die Grenze zwischen imperialer Kolonialpolitik und Friedenspolitik durch internationale Organisationen schnell verschwimmen und dass letztere durchaus Ansätze der ersten enthalten kann. Die potenzielle Kluft zwischen Selbst- und Fremdbildern sollte nicht nur den Kräften vor Ort bewusst sein, sondern bereits bei der Planung von Einsätzen eine Rolle spielen. Durch die Berücksichtigung kultureller Aspekte auf der strategisch-politischen und der taktisch-operativen Ebene sowie durch einen möglichst großen Einbezug der Zivilbevölkerung als gleichberechtigter Partner sollte das ‚Spannungsfeld Kultur‘ so gering wie möglich gehalten werden.27

II. Paradigmenwechsel in Afghanistan? Während der Aspekt der Kultur in den Auslandsmissionen der 1990er Jahre weitestgehend unbeachtet geblieben und ‚lediglich‘ Anlass zu einigen wissenschaftlichen Untersuchungen gegeben hat, stellt sich die Situation im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends etwas anders dar. Die Interventionen im Irak und in Afghanistan haben abermals verdeutlicht, dass Stabilität und Frieden nicht ohne die Berücksichtigung der im Einsatzgebiet anzutreffenden Kulturen von Nachhaltigkeit sein können. So forderte General David Petraeus, der US-Kommandeur für den Nahen und Mittleren Osten, in seiner Rede am 8. Februar 2009 auf der Münchner Sicherheitskonferenz: „Wir müssen zuhören, und wir müssen viele gemeinsame Tassen Tee trinken.“28 Er spielte damit auf die in Afghanistan weit verbreitete Tradition an, Vertrauen und Beziehungen in Teerunden aufzubauen und stellte damit bewusst kulturelle Besonderheiten des Landes in den Vordergrund. Ferner unterstrich er: „Wir müssen zuallererst die Bevölkerung sichern und ihr dienen, wir müssen gute Nachbarn sein.“ Das Zitat enthält eine immanente Widersprüchlichkeit, da ‚Dienen‘ ein Herrschaftsverhältnis beschreibt und Nach24

Vgl. Zürcher/Koehler (2007). Rubinstein (2008), S. 135. 26 Last (2006), S. 63 ff. 27 Weiss (1999); Slim (1996), für Erfahrungen aus der Entwicklungszusammenarbeit siehe Bliss/Merten/Schmidt (2007). 28 Zitiert in Süddeutsche Zeitung (2009), S. 6. 25

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barschaft auf dem Prinzip der Gleichberechtigung beruht. Es stellt sich die Frage, ob Afghanen auf der einen Seite die ausländischen Truppen tatsächlich als gleichberechtigte ‚Nachbarn‘ sehen und ob sie sich auf der anderen Seite auch als gleichberechtigte Partner seitens der Militärs behandelt fühlen. Interessant ist bei Petraeus’ Ansatz trotz des Widerspruchs die Tatsache, dass die afghanische Bevölkerung mehr in die Stabilisierung des Landes einbezogen werden soll. Sie soll endlich als gleichberechtigter Partner29 behandelt werden, wie auch von Präsident Hamid Karsai angesichts wachsender Zahlen der zivilen Opfer gefordert wird.30 Petraeus’ Konzept des Dienens verlangt von den Soldaten, sich der einheimischen Bevölkerung oder vielmehr ihren Bedürfnissen unterzuordnen und diese in den Vordergrund zu stellen. Um diese Prämisse einlösen zu können, müssen die in Afghanistan eingesetzten militärischen Kräfte Wissen über die lokalen Kulturen aufweisen. Darüber hinaus sollte der gesamte ISAF-Einsatz so strukturiert sein, dass er Willen und Bedürfnisse des afghanischen ‚Nachbarn‘ mit berücksichtigt. Stattdessen verschwimmen die Grenzen zwischen Terrorbekämpfung unter dem Mandat der Operation Enduring Freedom (OEF) und ISAF immer mehr. In der Folge werden die ausländischen Soldaten nicht als ‚dienende Nachbarn‘, sondern als rücksichtslose Besatzer wahrgenommen, deren Anzahl auch noch massiv aufgestockt wird.31 „So entsteht Gewaltbereitschaft und ein Nährboden für bewaffnete Gruppen.“32 Trotz (oder auch wegen?) steigender Truppenstärken verschlechtert sich die Sicherheitslage für die Zivilbevölkerung zusehends,33 so dass ein grundlegender Paradigmenwechsel34 in Afghanistan nötig ist, wie er teilweise auf dem NATO-Gipfel von Bukarest im April 2008 angedeutet worden ist.35 Es 29

Vgl. Lanik (im Druck), S. 133. Zitiert in Süddeutsche Zeitung (2009), S. 6. 31 Mitte 2008 waren 65.000 ausländische Soldaten in Afghanistan eingesetzt, vier Mal so viele wie im Jahre 2004. Und dennoch bewegte sich die Truppenstärke immer noch unterhalb dessen, was für militärisch geboten gehalten wurde. US-Präsident Barack Obama will die Truppen am Hindukusch massiv aufstocken. Vgl. Rühle (2009), S. 3; Hippler (2008). 32 Lieser/Runge (2009), S. 34. 33 Laut ACBAR (2008), der Dachorganisation der in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen, starben allein in den ersten sieben Monaten des Jahres 2008 1.000 Zivilisten durch Kampfhandlungen. 34 Vgl. Münkler (2009), S. 11. 35 Die auf dem NATO-Gipfel vorgestellte „Strategic Vision“ mit den vier Kernelementen des 1. langfristigen Engagements in Afghanistan, 2. der gesteigerten Übernahme von Verantwortung durch Afghanen selbst, 3. des umfassenden zivil-militärischen Ansatzes und 4. der stärkeren Einbeziehung der Nachbarländer Afghanistans ist ein erster Versuch eines ganzheitlichen NATO-Konzepts für das Land. Siehe ISAF’s Strategic Vision, 3.4.2008, http://www.nato.int/docu/pr/2008/p08-052e.html. 30

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wird deutlich, dass Afghanistan auf absehbare Zeit kein Zentralstaat im klassischen europäischen Sinne werden wird. Stattdessen bedarf es Geduld und Zeit sowie einer wahrhaftigen Beteiligung der afghanischen Bevölkerung, der Berücksichtigung kultureller Besonderheiten und des Dialoges mit den Nachbarstaaten, um in diesem Land nachhaltige Stabilität und Sicherheit zu gewährleisten. Angesichts eines drohenden Scheiterns36 des ISAFEinsatzes rücken geopolitische Realitäten und lokale Gegebenheiten mehr und mehr in den Vordergrund. Der „Akt westlicher Anmaßung“37 in Afghanistan ein „nation-building“-Projekt nach westlichem Vorbild zu betreiben, ohne afghanische Stammestraditionen und Loyalitätsstrukturen zu beachten und den komplexen historischen Hintergrund Afghanistans und seiner Nachbarn einzubeziehen, wird zusehends in Frage gestellt, wie die Rede von General Petraeus und das neue NATO-Konzept verdeutlichen.

III. Welchen Wert haben Kultur-Taschenkarten? Die Schwierigkeiten, die derzeit in Afghanistan (und im Irak) auftreten, werden zu weiten Teilen auch einem fehlenden kulturellen Wissen zugeschrieben. Um ein nochmaliges Scheitern wie in Somalia zu verhindern, arbeiten westliche Streitkräfte vermehrt an Konzepten, mittels derer interkulturelle Kompetenz unter Soldaten erhöht und lokales kulturelles Potenzial besser in Stabilisierungsmaßnahmen integriert werden kann.38 Seit 2006 werden Debatten darüber geführt, welches Verständnis von Kultur Streitkräfte benötigen und wie Soldaten ein breites, offenes Kulturkonzept nahe gebracht werden kann, welches Kultur nicht als statische, klar eingrenzbare und per Fragebogen zu erhebende ‚Sache‘ definiert.39 Es ist allerdings Teil 36 Michael Rühle hält fest, dass die „internationale Staatengemeinschaft die Definitionshoheit über den Erfolg oder Misserfolg ihres Engagements“ innehabe und ihr stets die Möglichkeit bliebe, „das Projekt Afghanistan als gelungen zu deklarieren und einen Abzug unter Hinweis auf die dringend notwendige Afghanisierung der weiteren Entwicklung zu rechtfertigen.“ Rühle (2009), S. 5. Siehe auch Lanik (im Druck), S. 131. 37 Rühle (2009), S. 2. 38 Insbesondere in den USA werden seit 2006 von allen Truppengattungen unter Hochdruck Ethnologen gesucht, die an den Schulen der Luftwaffe, Marine und des Heeres Ausbildungen nicht nur in interkultureller Kompetenz durchführen, sondern den Soldaten ein allgemeines Verständnis von Kultur vermitteln. 39 Das britische ‚Development, Concepts and Doctrine Centre (DCDC)‘ hat im März 2009 eine neue Doktrin (JDN 1/09) mit dem Titel „The Significance of Culture to the Military“ herausgegeben. Die Doktrin hat folgende Ziele: 1. eine Kohärenz in Hinblick auf Konzepte zur interkulturellen Kompetenz, politische Richtlinien und Ausbildungsmaßnahmen zu garantieren, 2. Militärpersonal die Signifikanz von Kultur nahe zu legen und 3. praktische Handlungsanweisungen für die operationelle Ebene bereit zu stellen (S. V). Vgl. auch den Text des U.S. Strategic Studies Insti-

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der Militärkultur und -logik, nach klaren Eingrenzungen und Anweisungen zu verlangen, gerade in einem fremden und potenziell gefährlichen Terrain, so dass ethnologische Hinweise auf intrakulturelle Differenzen, ethnische Vielfalt und Wandlungsfähigkeit lokaler Kulturen auf Unverständnis stoßen.40 Soldaten fragen eher nach schnell zu erfassenden Lehrinhalten, wie sie Taschenkarten vermitteln sollen. Die „Iraq Culture Smart Card“ des „United States Marine Corps“41 ist ein gutes Beispiel für eine „Kultur-Taschenkarte“, die dem Soldaten auf zwei DIN-A 4 Seiten die wichtigsten Grundzüge irakischer Kultur und ein arabisches Grundvokabular vermitteln soll.42 Derartige Taschenkarten sind unter Wissenschaftlern sehr umstritten und sorgen auf Fachkonferenzen immer wieder für hitzige Debatten. Auf der einen Seite stehen die Unterstützer solcher Kurzinformationen. Sie vertreten die Ansicht, dass es besser sei, Soldaten eine solche Taschenkarte mit in den Einsatz zu geben, um allen ein gewisses Basiswissen vermitteln zu können, auf das die Spezialisten durch Zusatzausbildungen aufbauen können. Auf der anderen Seite stehen die Kritiker, die das den Taschenkarten zugrunde liegende statische, stereotype Kulturkonzept für sehr fragwürdig halten. Sie definieren Kultur eher als verinnerlichtes, dynamisches, soziomorphes Orientierungssystem, welches unser Sein, Denken, Glauben, Fühlen, Interagieren und Handeln beeinflusst, jedoch nicht determiniert.43 Mittels dieses offenen Kulturkonzepts, welches auch im Rahmen des vorliegenden Beitrags zugrunde gelegt wird, können auch erhebliche intrakulturelle Differenzen erklärt werden.44 Kritiker der kulturellen Kurzinformatute zum Thema „On the Uses of Cultural Knowledge“ von Jager (2007). In der neuen Zentralen Dienstvorschrift 10/1 der Bundeswehr zur Inneren Führung findet interkulturelle Kompetenz zwar Erwähnung, allerdings nur in zwei kleinen Abschnitten, siehe BMVg (2008). Eine IK-Weisung, die vergleichbar mit der britischen Doktrin wäre, liegt nicht vor. 40 Vgl. Lanik (im Druck), S. 135. 41 Herunterzuladen unter: http//:www.fas.org/blog/secrecy/2006/07/a_new_iraq_ culture_smart_card.html. 42 Die Bundeswehr hat bisher keine IK-Taschenkarten publiziert. Es gibt nur die „Goldenen zehn Regeln für Soldaten im Auslandseinsatz“, die kulturallgemeine Verhaltenshinweise enthalten und über das Intranet der Bundeswehr einzusehen sind (Quelle: Intranet Bw, Dienstvorschriften-Online, http//:dv-online.bundeswehr.org/ heeresamt/antra_ausbildungshilfsmittel/pdf/0001_96000_01_ausbhilfe_auftreten_und _verhalten_do_donts.pdf, Folien 9–12). Das Militärgeschichtliche Forschungsamt veröffentlicht ständig aktualisierte „Wegweiser zur Geschichte“ zu den einzelnen Einsatzländern; für Afghanistan siehe Chiari (2009), die neben historischen Daten auch Informationen über lokale Strukturen und Lebenswelten enthalten. Diese lehrreichen Bücher können von den Vorgesetzten unentgeltlich für die gesamte Truppe angefordert werden. Siehe auch die Publikationen des „Amts für Geowissenschaften“ der Bundeswehr (AGeo Bw). 43 Vgl. Ingold (2002), S. XX; Bourdieu (1990); d’Andrade (1984). S. 116. 44 Vgl. Barth (2002).

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tionen erachten die zwei Seiten Kultur- und Spracheinweisung sogar für gefährlich, da sie eine (falsche) Handlungssicherheit suggerieren würden. Denn den Taschenkarten liegt ein essentialistisches Kulturverständnis zugrunde, welches zu Vereinfachungen und Ignoranz gegenüber inter- und intrakultureller Vielfalt führen kann. Robert Rubinstein45 hält diesbezüglich fest: „These are stereotyped instructions that focus on the surface elements of culture, most often on those surface aspects that are different or exotic from the perspective of the person giving the instruction.“ Beispielsweise enthält die „Iraq Culture Smart Card“ stereotypisierte Hinweise für kulturadäquate und inadäquate Verhaltensweisen (die sogenannten „dos and dont’s). Allerdings werden etwa die auf der Taschenkarte abgebildeten Gestiken in den verschiedenen Regionen des Irak sehr unterschiedlich gedeutet. Die ausgestreckte rechte Hand, deren Finger nach oben zeigen und einander berühren, kann z. B. in einem Teil des Irak dafür stehen, dass man geduldig sein oder langsamer fahren soll, in einem anderen Teil kann es eine handfeste Beleidigung und ein despektierliches Zeichen sein, welches auf jeden Fall vermieden werden sollte.46 Es wird auch in Zukunft zu diskutieren sein, ob allen Einsatzsoldaten ein breites Verständnis von Kultur im allgemeinen und differenzierte Sichtweisen auf lokale Kulturen im besonderen vermittelt werden kann oder ob die Auseinandersetzung mit Kultur einen längerfristigen Prozess erfordert, der im Militär auf mehreren Ebenen durchlaufen werden muss.47 Es stellt sich ferner die Frage, wie und ob ein besserer Zugang zur lokalen Kultur bei robusteren Einsätzen, die auch Kampfhandlungen beinhalten, überhaupt umgesetzt werden kann.48 Aufgrund der Negativerfahrungen, die das USMilitär in den vergangenen Jahren in Afghanistan (und im Irak) auch in kultureller Hinsicht gemacht hat, rief General Petraeus im Jahre 2006 das „Human Terrain System“ (HTS) ins Leben. Im Rahmen dieser Teams begleiten und beraten uniformierte Sozial- und Kulturwissenschaftler, zu großen Teilen Ethnologen, als ‚embedded scientists‘ die Truppen bei ihren Besuchen in Dörfern. Unter Ethnologen, aber auch unter anderen Sozialwissenschaftlern, wird heftig über das Konzept gestritten.49 Aufgrund 45

Rubinstein (2008), S. 12. Darauf haben Ethnologen der internationalen „Mil_Ant_Net-Yahoo-Gruppe“ im Jahre 2008 durch einen regen Austausch über kulturelle Vielfalt im Irak hingewiesen. Die Yahoo-Gruppe zum Themenbereich „Militär und Ethnologie“ wurde im Jahre 2005 von dem kanadischen Militärsoziologen Brian Selmeski ins Leben gerufen und hat mittlerweile mehr als 500 Mitglieder, Tendenz steigend (persönliches Gespräch mit Selmeski im Juni 2008). 47 Vgl. Tomforde (2008a). 48 Vgl. Hajjar (2006); Varhola/Varhola (2006). 49 Siehe González (2008), Rohde (2007). 46

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erheblicher ethischer Bedenken wurde in den USA das „Network of Concerned Anthropologists“ (NCA) gegründet. Das Netzwerk hat es sich zur Aufgabe gemacht, Ethnologen über die HTS in den von den USA besetzten Kampfgebieten im Irak und in Afghanistan aufzuklären und einen Gegenpol zur neuen Pentagon-Politik zu bilden.50 In Bezug auf den Umgang mit lokalen Kulturen vor Ort in Afghanistan, wählt die Bundeswehr derzeit den ‚Mittelweg‘ zwischen einer essentialistischen Kulturtaschenkarte und den „Human Terrain Teams“, wie im folgenden Abschnitt aufgezeigt wird.

IV. Probleme vor Ort: „Ihr habt die Uhr, wir haben die Zeit“ „Man muss sich vor Ort gut auskennen, um helfen zu können“. So lautete die Aufschrift auf einem Werbeplakat von Caritas International, welches im Winter 2008/2009 auf deutschen Bahnhöfen und anderen Orten großformatig ein Labyrinth von Lehmdächern, das an die Stadt Sanaa im Jemen erinnert, aus der Vogelperspektive zeigte. Sich gut vor Ort auszukennen, nicht nur geographisch, sondern auch kulturell, gerät immer mehr in den Fokus international agierender Streitkräfte, wie Weisungen und Ausbildungsabschnitte an den verschiedensten Militärakademien belegen.51 Auch für Bundeswehrsoldaten stellt sich vor Ort nach wie vor die Frage, wie sie theoretisch Erlerntes anwenden und in einen kulturadäquaten Umgang mit der Zivilbevölkerung münden lassen können. Es bleibt eine Herausforderung mit dem Fremden umzugehen, erst recht, wenn nicht klar ist, wer Freund und Feind ist und wie die Gefahrenlage aussieht.52 Die Soldaten haben oftmals keine Zeit erst drei Tassen Tee zu trinken, bevor sie anfangen, ihren Auftrag zu erfüllen. Sie kommen in ein Dorf, müssen Gespräche führen und sich gleichzeitig um die Sicherheit ihrer Kameraden (Fahrer etc.) sorgen. Zudem müssen Einsatzsoldaten trotz wirtschaftlicher und technologischer Entwicklungsunterschiede, den zum Teil kriminellen und korrupten Strukturen einer durch jahrzehntelangen Krieg geprägten Gesellschaft und dem geringen Wert eines menschlichen Lebens einen kulturoffenen Blick bewahren. Erschwerend kommen fremde Gesprächsmuster (indirekt, umschreibend, informell) hinzu, die Deutschen mit ihren direkten, geradlinigen, gleichzeitig aber auch formellen Kommunikationsformen im Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung oftmals schwer fallen. Im Folgenden wird untersucht, mit welchen interkulturellen Herausforderungen Bundes50

Siehe Gusterson (2008), http://www.concerned.anthropologists.googlepages. com/home. 51 Siehe z. B. DCDC (2009); Jager (2007); BCG (2007); Kammhuber (2007). 52 Vgl. Tomforde (2008a), S. 146 f.

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wehrsoldaten während ihres Afghanistan-Einsatzes konfrontiert sind und welche Strategien sie entwickeln, um mit diesen umzugehen. 1. Das Kontinuum: Zwischen Ablehnung und absoluter Anpassung Der Umgang mit der Kultur im Einsatzland kann die verschiedensten Ausprägungen aufweisen. Die mögliche Spannweite reicht von extremer Ablehnung und Stereotypisierung afghanischer Kultur bis hin zur außerordentlichen Anpassung und Aufgabe eigener kultureller Identität und Lebensweisen. Bundeswehrsoldaten gelten in den multinational ausgerichteten Friedensmissionen als diejenigen, die am ehesten die ‚Köpfe und Herzen‘ der Menschen vor Ort gewinnen.53 Für einige bleibt es dennoch unverständlich, warum sie überhaupt interkulturelle Kompetenz aufweisen und damit in ‚Vorleistung‘ gegenüber der afghanischen Bevölkerung gehen müssen. Nach ihrem Verständnis opfern sie ihre (Lebens)Zeit und Kraft einem Land, welches durch Krieg, Korruption und mittelalterliche Traditionen geprägt ist. Es bleibt für sie unverständlich, warum sie zusätzlich zu ihrer Hilfeleistung auch noch kulturelle Sensibilität aufbringen sollen, wenn sie und ihre Werte von der Gegenseite oft nicht beachtet werden. Für andere Soldaten besteht interkulturelle Kompetenz darin, wie ein befragter Major unterstrich, „dem Gegenüber zu signalisieren, dass man ihn respektiert, auch wenn dies nicht der Fall ist“. Für weitere Soldaten meint interkulturelle Kompetenz die Fähigkeit, sich für die eigene Sicherheit so gut wie möglich in das neue Umfeld einzufügen. Bei einigen Militärangehörigen findet gar ein Anpassungsprozess statt: Diese Männer lassen sich Vollbärte wachsen, lernen so gut es geht Pashtu oder Dari, verbringen lieber Zeit in der Hütte oder auf dem Wüstenboden sitzend und palavernd mit afghanischen Würdenträgern als fernab der ‚Einsatzrealität‘ z. B. im Feldlager in Masare-Sharif im klimatisierten Stabsgebäude am Schreibtisch. Sie passen sich so gut an das afghanische Leben an, dass nicht selten die Rückkehr in das ‚geordnete Leben‘ zu Hause in Deutschland erst einmal schwer fällt und mit einem ‚Rückkehrer-Kulturschock‘ verbunden sein kann. Die Tatsache, dass Bundeswehrsoldaten trotz der Spannweite vertretener Einstellungen zur interkulturellen Kompetenz (IK) ein relativ hohes Ansehen bei der einheimischen Bevölkerung genießen, ist nicht nur der diesbezüglichen Vorausbildung geschuldet, die in vielerlei Hinsicht durchaus noch optimiert und ausgebaut werden kann.54 Sondern es liegen mindestens drei 53

Siehe Zürcher/Koehler (2007). Die Allgemeine Grundausbildung (AGA) sowie die Einsatzvorbereitende Ausbildung für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung (EAKK) enthalten IK-Be54

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weitere Gründe dafür vor: Erstens lässt sich das ‚sensible‘ Auftreten der Soldaten mit ihrer Angst erklären „etwas vor Ort falsch zu machen und dadurch Probleme in Deutschland zu bekommen“, wie ein Oberst in einem Gespräch unterstrich. Zweitens trägt die Last der ‚historischen Schuld‘ dazu bei, die nach wie vor das Handeln vieler Soldaten im Ausland prägt, nicht als Besatzer, sondern als „Helfer“55 auftreten zu wollen. Drittens können die Soldaten durch einen guten, helfenden Kontakt zur einheimischen Bevölkerung trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan einen Sinn in ihrem Einsatz vor Ort erkennen.56 Somit lässt sich bei den Militärs eine Sorge vor Fehltritten, die rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnten, festhalten. Folgende Punkte bestimmen ebenso das Verhalten: die (unbewusste) ‚historische Schuld‘, die Suche nach sinnstiftender Tätigkeit sowie ein politisch-militärischer Ansatz, der Stabilisierung und Wiederaufbau groß schreibt. Diese Kombination der Faktoren trägt zusammen mit der IK-Ausbildung zu kultursensiblem Verhalten vieler Soldaten bei.57 Zum Teil zeigen die Bundeswehrsoldaten vor Ort allerdings eine ‚Hypersensibilität gegenüber dem Fremden‘, die einer guten interkulturellen Verständigung auch abträglich sein kann. Beispielsweise wurde im Feldlager Feyzabad zunächst nicht eine Kirche, sondern ein „Haus der Stille“ errichtet. Die für die Namensgebung zuständigen Bundeswehrangehörigen hatten Sorge, dass der Bau einer Kirche in einem islamisch geprägten Umfeld auf Probleme stoßen könnte. Allerdings sorgt gerade Ungläubigkeit bei Muslimen für Unverständnis, nicht das klare Bekenntnis zu einer anderen Buchreligion. Mittlerweile ist das „Haus der Stille“ in „Kirche“ umbenannt und dem Schutzpatron Michael (Bezwinger des Teufels und des Bösen) geweiht worden.58 Es wird deutlich, dass die Bundeswehr und ihre Soldaten vor Ort nicht nur intensive interkulturelle Beratung benötigen, sondern dass der Einsatz auch mit vielen fundamentalen Fragen verbunden ist: Wie offen muss ich gegenüber dem Fremden sein, muss ich überhaupt in ‚Vorleistung‘ gegenstandteile, die zum Teil nicht über einen zweistündigen Vortrag hinausgehen und oftmals in den späten Abendstunden liegen. Vgl. BGS (2007). 55 Tomforde (2005), S. 580 ff. 56 Bereits während des Somalia-Einsatzes der Bundeswehr rückte der helfende Aspekt immer mehr in den Vordergrund. Dieser erste deutsche Militäreinsatz außerhalb des eigenen Landes nach 1945 war von Pannen und Misserfolgen begleitet, die militärischer und politischer Natur waren. Um dem Einsatz dennoch einen Sinn zu geben, betätigten sich die Bundeswehrsoldaten vor Ort als Entwicklungshelfer und halfen beim Bau von Straßen, Brücken und Schulen – eine Rolle, mit der auch die deutsche Bevölkerung bis heute gut leben kann. Vgl. Kühne (2007) und die Beiträge von Mohrmann und von Biehl/Keller in diesem Band. 57 Vgl. Tomforde (2008a), S. 145 ff. 58 Vgl. Boczek (2008), S. 18.

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über den Afghanen gehen und interkulturelle Kompetenz aufweisen, wenn ich von den Einheimischen ständig unter Beschuss stehe und betrogen werde? Wie kann ich mich auf die fremde Kultur einlassen, wenn ich als Bundeswehrsoldat den Eid geschworen habe, ‚Recht und Freiheit des deutschen Volkes‘ zu verteidigen? Was wollen wir in einem so kulturell fremden und komplexen Land wie Afghanistan und was können wir dort eigentlich leisten? Haben wir als Christen überhaupt eine reelle Chance mit den Muslimen in einen wahren Dialog zu treten? Diese Fragen und viele mehr werden von den interviewten Soldaten immer wieder gestellt. Als problematisch wird von Bundeswehrsoldaten auch die Tatsache erachtet, dass sie sich in interkultureller Kompetenz weiterbilden sollen, diese zum Teil aber nicht wie Angehörige von Hilfsorganisationen im Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung anwenden können. Bei Patrouillen durch weite Gebiete fehlen ihnen oft Gelegenheit und Zeit, Vertrauen aufzubauen und die ‚richtigen‘ Leute und Ansprechpartner zu identifizieren. Vertrauensaufbau gestaltet sich zum Teil bereits im Hinblick auf die Auswahl der Einheimischen schwierig, die im Feldlager als Ortskräfte oder als Sprachmittler angestellt werden. Es ist nicht immer eindeutig zu klären, ob eine Person aus moralisch-sozialen Gründen im Ernstfall dazu verpflichtet sein könnte, im Interesse eines Verwandtschaftsnetzwerks gegen den Arbeitgeber ‚Bundeswehr‘ zu agieren. Es trägt selbstredend zur Verzweiflung und Demotivierung der Soldaten bei, wenn (mal wieder) ein einheimischer Arbeiter entlassen werden muss, weil aus dem Feldlager Dinge entwendet, ein versteckter Sprengsatz gezündet oder sicherheitsempfindliche Informationen herausgeschmuggelt worden sind. Es ist für die Bundeswehrangehörigen unverständlich, dass sie derart ausgenutzt und betrogen werden können, obwohl den Ortskräften gute Gehälter gezahlt werden, sie ihnen in vielerlei, auch immaterieller, Hinsicht helfen59 und durch ihre Anwesenheit einen Beitrag für den Aufbau des Landes leisten wollen, der offensichtlich nicht von allen Einheimischen wertgeschätzt wird. 2. Das Dilemma der Interkulturellen Kompetenz Deutsche Soldaten haben einen Eid darauf geschworen, „das Recht und die Freiheit des Deutschen Volkes“60 zu verteidigen, und so wie sie es verstehen (und wenn von der Politik gewollt) eben auch am Hindukusch. Diese 59 Siehe z. B. den aus einer privaten Initiative entstandenen Verein „Lachen helfen e. V.“, mittels dessen deutsche Soldaten und Polizisten humanitäre Hilfe für Kinder in Kriegs- und Krisengebieten selbständig organisieren (http://www.lachen-helfen.de). 60 § 7 des Soldatengesetzes lautet: „Ich schwöre der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des Deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“

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Grundannahme macht für einige Soldaten eine Auseinandersetzung mit der Kultur des Einsatzlandes erst einmal schwierig. Nach ihrem Selbstverständnis gehen sie nicht nach Afghanistan, um die dortige Kultur zu verstehen und einen kulturadäquaten Fortschritt zu ermöglichen. Sondern sie gehen nach Afghanistan, weil sie das westlich geprägte Demokratiemodell und Menschenrechte in das Land transportieren möchten, um die Sicherheit Deutschlands zu erhöhen. Gleichzeitig sind die internationalen Einsätze Symbol für einen neuen politischen Raum und soziale Verantwortung.61 Die lokalen Kulturen spielen bei diesem Denkmodell eine untergeordnete Rolle. Dennoch müssen die Herzen und Köpfe der Menschen vor Ort zumindest insofern gewonnen werden, dass ein guter Kontakt zur einheimischen Bevölkerung besteht und die Sicherheit der Truppen durch eine breite Unterstützung weitestgehend gegeben ist. Damit befinden sich viele Soldaten in einem interkulturellen Dilemma: Auf der Ebene der obersten militärischen Führung und der Politik spielen interkulturelle Erwägungen offenbar nur dann eine Rolle, wenn es zu einem tödlichen Versehen gekommen ist (siehe unten). Von den Soldaten wird aber erwartet, dass sie im Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung über hinreichende interkulturelle Kompetenz verfügen und dass sie weder sich noch Unschuldige gefährden. Eine darüber hinausgehende Anpassung und ein Einleben in die afghanische Kultur, wie bei vielen Vertretern ziviler Organisationen in Afghanistan zu beobachten ist, ist weder politisch-militärisch gewollt noch möglich. Marianne Heiberg schreibt zu diesem Dilemma: „Stated in a nutshell: a relationship to local civilians built on communication and confidence is a necessary factor for success; a relationship characterized by mounting hostility, suspicion and lack of communication is a sufficient cause for failure.“62 Soldaten müssen – auch wenn sie oder die Führung es eigentlich nicht wollen – ein gewisses Grundwissen an interkultureller Kompetenz und an Verständnis für die Kultur des Einsatzlandes mitbringen, da sie ansonsten Gefahr laufen, kulturelle Besonderheiten zu missachten und so ihre Sicherheit ernsthaft zu gefährden. Ein kulturelles Basiswissen verhindert auch das Aufkommen von Vorurteilen und Stereotypen: „Ethnologisch betrachtet hilft in der afghanischen Gesellschaft ein Verständnis für die Bedeutung symbolischen Kapitals im alltäglichen weiter als eine Ausdeutung vermeintlicher kultureller Symbole, beispielsweise der Physiognomie oder der Kleidung, die zu irreführenden Zuordnungen führt.“63 Ferner ist es notwendig zu wissen, dass es in Afghanistan viel Zeit und mindestens drei Tassen Tee braucht, um ein Vertrauensverhältnis auf61 62 63

Rubinstein (2008), S. 72. Heiberg (1990), S. 148. Lanik (im Druck), S. 137.

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zubauen. Mit unserem westlich geprägten monochronen Zeitverständnis geraten wir in Gesellschaften wie der afghanischen an unsere Grenzen, wenn wir auf die Schnelle Termine abmachen wollen und ‚absolute Pünktlichkeit‘ erwarten. In polychronen Gesellschaften verläuft Zeit nicht linear, sondern in Kurven und Wellen.64 Planungen bleiben flexibel und werden den Bedürfnissen und Gegebenheiten angepasst; Ablenkungen und ‚Verspätungen‘ sind möglich und werden nicht als Störung empfunden, da ‚unendlich‘ viel Zeit vorhanden ist. Soldaten, die nicht mit diesem polychronen Zeitverständnis vertraut sind, sondern Zeit als wertvolles Gut erachten, Störungen in der (langfristigen) Zeitplanung möglichst vermeiden wollen und ihren Tagesablauf nach dem Terminkalender richten, können im Kontakt mit polychronen Gesellschaften wie der afghanischen Frust und Unverständnis aufbauen. Kulturelle Unkenntnis kann schwerwiegende Folgen für die Motivation und die Grundeinstellungen der Einsatzsoldaten haben, wie Robert Rubinstein in anderen Konfliktkontexten feststellt: „In the Gaza and Wanwaylen incidents, peacekeepers’ efforts were frustrated because they did not understand the local cultures and thus could not interpret correctly or respond properly to the actions of the people they were sent to assist. Without knowing local cultural patterns of behaviour and interpretation, peacekeepers too easily react in inappropriate ways, even when they mean well. These examples [. . .] are but two of literally thousands of examples of intercultural misunderstandings that lead to conflict between peacekeepers and local populations.“65 Ähnliches haben die US-amerikanischen Truppen erfahren, als sie im April 2003 Bagdad einnahmen und in einer ‚spontanen‘ Aktion die Statue Saddam Husseins von ihrem Sockel rissen. Dabei bedeckte ein Offizier den Kopf der Statue mit der US-amerikanischen Flagge. Ein Akt, der später als einer der Gründe dafür gesehen wurde, dass den Truppen das Image einer triumphierend einmarschierenden Besatzungsarmee anhaftete und sie von weiten Teilen der Bevölkerung als ‚Yankee Mörder‘ betitelt worden sind.66 Solche schwerwiegenden interkulturellen Fehltritte sind der Bundeswehr in Afghanistan bisher erspart geblieben. Die Bilder deutscher Soldaten, wie sie mit Totenschädeln posierten, die im November 2006 durch die Presse gingen, riefen in Afghanistan keine Reaktion hervor, da es sich bei den Gebeinen offensichtlich um russische handelte. Man mag sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn diese Totenköpfe tatsächlich von afghanischen Verstorbenen gestammt hätten. Als im November 2008 ein deutscher Soldat eine Frau und ihre zwei Kinder an einem Checkpoint er64 65 66

Siehe Levine (1999). Rubinstein (2008), S. 36. Vgl. Sengupta (2003).

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schoss, konnte die Bundeswehr schwerwiegende Folgen abwenden, indem sie Reparationsgelder in Höhe von 20.000 US-Dollar an die hinterbliebene Familie zahlte. Damit sollte die Anwendung der Blutrache vermieden werden. Eine offizielle Entschuldigung seitens der Bundeswehr bei den Angehörigen blieb jedoch aus, so dass der Vorfall dennoch für Negativeinstellungen bei der Bevölkerung gesorgt hat.67 Vor Ort werden die BundeswehrKommandeure durch Interkulturelle Einsatzberater (IEB) beraten und in kulturelle Besonderheiten unterwiesen. Eine Unterstützung, die auch viele Einsatzsoldaten nötig hätten, die tagtäglich mit der lokalen Bevölkerung interagieren. Oftmals werden aus diesem Grunde auf informelle Weise die einheimischen Sprachmittler, die das Militärpersonal außerhalb des Feldlagers begleiten, auch als Kulturmittler genutzt. Selbst wenn so mancher Soldat nicht hundertprozentig davon überzeugt ist, dass interkulturelle Kompetenz nunmehr eine „Schlüsselqualifikation“68 für Einsatzsoldaten darstellt, ist vielen mittlerweile klar, dass kulturunsensibles Verhalten schwerwiegende Folgen sowohl in Afghanistan als auch in Deutschland nach sich ziehen kann. Es stellt sich die Frage, ob ‚Respekt vorgespielt‘ werden kann, wie von dem bereits zitierten Major angedeutet, oder ob es nicht eines wirklichen Strategiewechsels auf allen Ebenen bedarf. Ein Strategiewechsel, der bereits auf der politisch-strategischen Ebene afghanische Strukturen und kulturelle Besonderheiten berücksichtigt und die lokale Bevölkerung tatsächlich als gleichberechtigte ‚Nachbarn‘ in Planung und Durchführung der Wiederaufbau- und Stabilisierungsmaßnahmen integriert. Ein derartiger Paradigmenwechsel würde auch die ‚interkulturelle Zwittersituation‘ der Soldaten vor Ort beenden. Ihnen würde nicht länger von politisch-strategischer Seite signalisiert werden, dass sie IK lediglich zur eigenen Sicherheit benötigen, sondern dass nur der ernst gemeinte Respekt und der Einbezug lokaler kultureller Gegebenheiten für eine Nachhaltigkeit der Stabilisierungsmaßnahmen sorgen kann. Es ist notwendig, dass Kultur als dynamisches Bedeutungs-Orientierungssystem in die Planung und Durchführung zukünftiger Einsätze inkorporiert wird und dass eine Kontinuität zwischen der politisch-strategischen Ebene und der Mikroebene des individuellen Einsatzsoldaten erreicht wird: „This means that in thinking about peacekeeping, culture is not a peripheral subject; it should be a core policy consideration.“69 Ob Politik, militärische Führung und Einsatzsoldaten tatsächlich bereit für diesen Paradigmenwechsel und die ‚drei Tassen Tee‘ sind, wird die Zukunft zeigen.

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Buchen (2008). Vgl. Haußer (2006), S. 441, Berns/Wöhrle-Chon (2004), S. 323, Bil (2003), S. 58. 69 Rubinstein (2008), S. 42. 68

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Auslandseinsätze und zivil-militärische Zusammenarbeit Herausforderungen – Entwicklungslinien – Wirkungen – Perspektiven Von Günter Mohrmann

I. Herausforderungen zivil-militärischer Kooperation Kriseninterventionen mit dem Ziel, in gewaltgeladenen Konfliktregionen zu einem langfristig verlässlichen Frieden beizutragen, bleiben unzureichend, wenn es durch den Einsatz robuster militärischer Mittel lediglich gelingt, die Gewaltakteure einzuhegen. Dadurch wird zwar die Erreichbarkeit eines Zustandes aufwachsender Abwesenheit von personaler Gewalt (Sicherheit) gefördert. Stabilität hingegen kann jedoch erst dann als erreichbar gelten, wenn die Gesamtheit der Bedingungen hinreichend friedensstiftend transformiert worden ist, die für die Gewaltauslösung in einer Konfliktregion ursächlich war und zur robusten Friedensmission geführt hat. Wie insbesondere die Bundeswehreinsätze auf dem Balkan und in Afghanistan zeigen, ziehen deshalb militärische Einsätze in Interventionsgebieten, die als Folge gewaltsamer Konfliktaustragung substanzielle Schädigungen ihrer politischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Ausgangsordnungen aufweisen, anspruchsvolle Wieder- und Neuaufbauprozesse (Nation Building) nach sich.1 Aufbauprozesse vollziehen sich unter den Bedingungen zumeist noch erheblich instabiler Sicherheitslagen. Denn die Profiteure vorangegangener Gewaltausübung sind, soweit keine vollständige Demobilisierung möglich war, erfahrungsgemäß keineswegs bereit, ihre noch vorhandene Macht preiszugeben und sich unmittelbar den Ordnungsvorstellungen der militärischen Interventionsmächte zu beugen. Dementsprechend erscheint es durchaus plausibel, dass ein selbsttragender Frieden erst auf der Grundlage vermehrt durchgesetzter Sicherheit gedeihen kann. Trifft diese empirisch bislang bestätigte Annahme weiterhin zu, dann haben Ausstiegsoptionen des Militärs in Interventionsregionen per se ein langes ‚Mindesthaltbarkeitsdatum‘. Entsprechend dieser Ausgangslage bestimmt die gleichzeitige Prä1 Siehe auch: Ferdowsi/Matthies (2003c), S. 322 ff., Pradetto (2005), Glassner/ Schetter (2007), S. 62 ff.

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senz von zivilen Aufbauhelfern und Soldaten langfristig das Alltagsbild in der Interventionsregion.2 Angesichts der Verflochtenheit ihrer Aktivitäten entstehen unausweichlich Berührungs- und Überschneidungspunkte in einem zivil-militärischen Interaktionsgeflecht. Dies führt zu besonderen Herausforderungen. Diese resultieren zum einen daraus, dass es für eine erfolgreiche militärische Operationsführung teilweise enger Unterstützung durch die zivile Seite bedarf und die Streitkräfte darauf drängen, diese auch zu erhalten. Zum anderen gehört es heute zum Auftragsspektrum von Einsatzarmeen, neben militärischen Kernaufgaben zugleich humanitäre Hilfsleistungen zu erbringen. Seit der Beteiligung der Bundeswehr an den neuartigen Friedensmissionen der Vereinten Nationen (VN), bei denen sich das soldatische Engagement nicht einseitig auf originäre militärische Aufgaben (z. B. Waffenstillstandsüberwachung) beschränkt, sondern Streitkräften zugleich ein Mandat zur Durchführung humanitärer Aufgaben erteilt wird, ist die Frage der Ausgestaltung des Hilfsspektrums durch Soldaten umstritten.3 Besonders massiv wird die Kritik an den humanitären Tätigkeiten des Militärs aus den Reihen von ebenfalls in Konfliktregionen aktiven zivilen Hilfsorganisationen vorgetragen. Sie befürchten vor allem unangemessene Konkurrenz um Aufbauaufträge, die sie glauben im Vergleich zum Streitkräfteeinsatz preiswerter und professioneller durchführen zu können. Weiter warnen sie vor einer schleichenden ‚Militarisierung‘ ihrer Mitarbeiter als Folge personeller Vermischungen, wodurch sie ihre Wahrnehmung in der Bevölkerung als unparteiische und unabhängige Helfer gefährdet sehen. Und sie werfen den Militärs vor, Fortschritte im Aufbau dadurch zu verzögern, dass diese bei ihrer Auftragsausführung nicht der Unterstützung des zivilen Aufbaus, sondern dem Eigenschutz der Truppe grundsätzlich Priorität einräumten. Seit den ersten Einsätzen deutscher Streitkräfte im Rahmen multidimensionaler Friedensmissionen zu Beginn der neunziger Jahre wurde das ehemals weite Aufgabenspektrum des humanitären Engagements der Bundeswehr inzwischen wieder verringert und beschränkt sich im Rahmen der zivilmilitärischen Kooperation heute auf eingegrenzte Unterstützungsleistungen. Dadurch ist die zivile Komponente gegenüber der militärischen wieder erkennbar gestärkt worden. Allerdings ist die Verringerung der direkten praktischen Eingriffe von Soldaten nicht gleichbedeutend mit einem Rückgang des militärischen Einflusses auf den Aufbauprozess. Denn die Bundeswehr, so ihre Weisung „Zivil-militärische Zusammenarbeit/Ausland“ (ZMZ/A), strebt ein enges Zusammenwirken mit der Zivilbevölkerung, den öffentlichen Ein2 Vgl. Bundesregierung (2003): Afghanistan-Konzept vom 1. September, Berlin, S. 8. 3 Siehe im Überblick: Heinemann-Grüder/Pietz (2004), S. 200 ff.

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richtungen und den verschiedenen im Einsatzland befindlichen nationalen und internationalen Akteuren an. Damit will sie zu einer erfolgreichen politischen Gesamtstrategie des Aufbaus beitragen und gleichzeitig die militärische Operationsführung stärken. Mit solchen Interaktionsnetzwerken ergeben sich für die Streitkräfte breit angelegte Sets zivil-militärischer Kooperationsmöglichkeiten. Diese beruhen ihrem Prinzip nach auf Freiwilligkeit. Im Zuge der Verwirklichung einer engeren ressortübergreifenden Zusammenarbeit beim Aufbau in Post-Konflikt-Regionen vollzieht sich die Kooperation aber inzwischen auch formalisiert. Beispiele dafür sind die deutschen Provincial Reconstruction Teams (PRTs) in Afghanistan, die von einer zivil-militärischen Doppelspitze geführt werden. Die angestrebten bzw. formalisierten zivil-militärischen Kooperationen zielen auf Optimierungswirkungen. Diese sind aus der Sicht der Streitkräfte dann effektiv, wenn es zum Nutzen der politischen Gesamtstrategie gelingt, zivilen und militärischen Interessen durch ‚wechselseitige Berücksichtigung‘4 gleichermaßen zu entsprechen. Folgt man der eingangs skizzierten Kritik an der zivil-militärischen Zusammenarbeit, dann steht jedoch kaum zu erwarten, dass sich ein insgesamt einvernehmliches Handeln zwischen den Streitkräften und dem breiten Spektrum der zivilen Hilfsorganisationen realisieren lässt. Allenfalls könnte es zu einer weiteren Annäherung zwischen im Prinzip kooperationswilligen zivilen Kräften und dem Militär kommen. Aber auch in diesem Interaktionszusammenhang setzt dies noch vielfach die Bereitschaft zum Abbau solcher Restriktionen voraus, die bislang noch immer einer denkbar optimalen Annäherung zwischen einzelnen zivilen Hilfsorganisationen und den Streitkräften entgegenstehen. Die folgenden Ausführungen sollen wesentliche Wirkungen der zivil-militärischen Kooperation im Prozess des Neu- und Wiederaufbaus in Post-Konflikt-Regionen erschließen. Damit tragen sie dazu bei, Annäherungsbarrieren zu identifizieren, die im Zuge gewünschter Intensivierungen zivil-militärischer Zusammenarbeit der Abarbeitung bedürften, um auf Dauer ein höheres Maß an konstruktiver wechselseitiger Berücksichtigung bei der Bewältigung der arteigenen Aufgaben beider Seiten erreichen zu können. Der empirische Schwerpunkt dieser Studie gilt den Erfahrungen mit der zivil-militärischen Kooperation in Afghanistan. Mit den PRTs weist das dortige Engagement zwar gegenüber vorangehenden Ansätzen Weiterentwicklungen in der zivil-militärischen Zusammenarbeit auf. Es ist jedoch kein ausschließlich neuer Weg der Kooperation bei Aufbauprozessen. Vielmehr wurden bis dahin wesentliche Erfahrungen vorangehender Friedensmissionen (Somalia und Balkan) bezüglich ihrer nützlichen bzw. kritisch abzulehnenden Wirkungen überprüft und als Lernprozesse veränderungs4

Vgl. Baumgard/Kühl (2008), S. 54 f.

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wirksam umgesetzt. Dies wird im Folgenden schwerpunktmäßig im Zusammenhang der Genese des Bundeswehr-Konzepts zivil-militärischer Zusammenarbeit im Ausland beschrieben, analysiert und bewertet.

II. Zur Genese des Bundeswehr-Konzepts „Zivil-Militärische Zusammenarbeit im Ausland (ZMZ/A)“ 1. Neuartige Auslandseinsätze als Handlungsbedingungen für die Bundeswehr Die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland haben bereits seit 1960 jährlich an Auslandseinsätzen teilgenommen. Bei diesen ersten Missionen handelte es sich um humanitäre Hilfsaktionen, deren Herausforderungen von vornherein auf eindeutige Maßnahmen (Hilfe bei Erdbeben, Dürren, Überschwemmungen, Hurrikans, Waldbränden, Hungersnöten, Seuchen etc.) begrenzt waren. Die Unterstützungsleistungen der Bundeswehr umfassten die Entsendung von Spezialkräften (z. B. Logistiker, Ärzte, Flugpersonal, Hochund Tiefbauingenieure) und die Überlassung von Gerät (Sanitätseinrichtungen, Löschfahrzeuge, Notunterkünfte, Rettungsboote, Flugzeuge, Transportfahrzeuge etc.). Bei den realisierten Hilfsmaßnahmen handelte es sich um bereits vorher langjährig in Weisungen verankerte, also vorbereitete, geübte und teilweise auch im Alltagsbetrieb der Bundeswehr routinemäßig durchgeführte Aufgaben (z. B. Sanitätsleistungen).5 Diese schlichte Begrenzung auf überschaubar zu handhabende humanitäre Single-Issue-Maßnahmen ging verloren, als sich die Bundeswehr im Rahmen des Somalia-Einsatzes „United Nations Operation in Somalia II“ (UNOSOM II) (1993–1994) an einer Friedensmission der VN beteiligte. Das Ziel bestand darin, nach der Erzwingung von Sicherheit (Waffenruhe) zusätzlich humanitäre Hilfe zu leisten und so zur Überlebenssicherung der Bevölkerung und zur Schaffung stabiler Voraussetzungen der Friedensgestaltung beizutragen. Deutschland beteiligte sich an UNOSOM II mit der Entsendung eines verstärkten Nachschub- und Transportbataillons. Dessen Auftrag war es, indische Streitkräfte logistisch zu unterstützen.6 Da diese aber kurzfristig in eine andere Unruheregion befohlen wurden, konzentrierte sich die Bundeswehr ‚ersatzweise‘ auf den humanitären Auftrag. Die Bilanz der Aktion: 18.300 medizinische Behandlungen, 30 Hoch- und Tiefbauprojekte, 650 Hilfsflüge der Luftwaffe.7 In der deutschen Öffentlichkeit entstand so das Bild einer neuartigen Armee, einer ‚Streitkraft 5 6 7

Vgl. Irlenkaeuser (2006), S. 303 ff. Vgl. Gareis (2006), S. 277 f. Vgl. Brackmann (2009), S. 274 ff.

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der Brunnen- und Häuserbauer‘. Der Einsatz führte zu zahlreichen klärungsbedürftigen Fragen. Im Schwerpunkt ging es dabei darum, dass sich die Bundeswehr für den Fall möglicher weiterer Beteiligungen an solchen ‚Mixed Missions‘, in denen neben dem robusten Mandat zugleich ein humanitäres Engagement vorgesehen ist, neu zu definieren hatte.8 Zu klären waren etwa die Möglichkeiten der Beschaffung dafür geeigneten Gerätes, die Lufttransportfrage, die Auswahl und Ausbildung von Spezialpersonal, die Finanzierung humanitärer Einsätze und das wünschenswerte und leistbare Verhältnis zwischen dem traditionellen Auftrag von Streitkräften in Friedensmissionen, dem klassischen Peacekeeping, und dem erweiterten Aufgabenspektrum, das auch Rekonstruktionsmaßnahmen im Einsatzgebiet umfasst.9 Die Frage nach der Ausgestaltung des humanitären Engagements der Bundeswehr hatte längst auch jene Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit auf den Plan gerufen, die wegen der Auftragserweiterung der Streitkräfte künftig erhebliche Nachteile für ihre eigene Arbeit befürchteten. Mit ihrer intensiv in den Medien verbreiteten Frage, ob seit Somalia Bundeswehrsoldaten die besseren deutschen Entwicklungshelfer seien, verlangten sie Aufklärung über die Planung künftiger Aufträge der Bundeswehr in komplexen Friedensmissionen.10 Dabei ging es erstens um grundsätzliche Abgrenzungsfragen für den Fall der Durchführung humanitärer Maßnahmen durch Soldaten. Insbesondere wurde befürchtet, dass es als Folge militärischer Sonderinteressen im Einsatzgebiet zu Restriktionen in der künftigen Ausübung von Hilfsmaßnahmen kommen könnte, wobei militärische Handlungszwänge Entscheidungsfreiräume der Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit zu beschneiden (‚militarisieren‘) drohten. Zweitens ging es um die Gestaltung der Kooperation von staatlichen wie nicht-staatlichen Hilfsorganisationen mit der Bundeswehr. Und drittens ging es vor allem um das Problem der (Drittmittel-)Finanzierung von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit, die dabei zukünftig zu erwartenden Verteilungsregeln und die Rolle der Bundeswehr als neuer ‚Mit-Wettbewerber‘ um knappe Ressourcen.11 Fragen nach dem Verhältnis von militärischem Kernauftrag und humanitärem Engagement von Soldaten gewannen erheblich an Gewicht, als sich die Bundeswehr im Rahmen ihrer seit 1995 eingegangenen Beteiligung an Einsätzen auf dem Balkan mit geradezu voluntaristischem Eifer eigentlich ziviler (Entwicklungs-)Aufgaben bemächtigte. Neben der Bewältigung unmittelbarer humanitärer Notlagen reichten die soldatischen Aktivitäten beträchtlich in strukturprägende Prozesse des Neu- und Wiederaufbaus hi8

Dazu: Bundesminister der Verteidigung (Wochenbericht 9. Juli 1993). Siehe auch: Weber (1997). 10 Grundlegend auch: Matthies (1994), S. 266 f. 11 Siehe auch: Debiel (1996), S. 29 ff. 9

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nein.12 Das weite Spektrum lässt sich hier nur andeuten: Erste Maßnahmen galten der Unterstützung von Flüchtlingen und Rückkehrern. In großer Anzahl wurden Wohnungen instandgesetzt, Schulen wieder aufgebaut oder saniert. Die Bundeswehr beteiligte sich an der Verteilung von Lebensmitteln und Bekleidung aus Spenden, baute Ambulanzstationen, gab mit ihren Feldküchen mehrere hunderttausend Essen aus, unterstützte Projekte in der Landwirtschaft (Musterhof und Ausbildungszentrum), beteiligte sich an umfassenden Infrastrukturmaßnahmen (Straßen-, Brücken- und weiterer Hochbau) insbesondere zur Wiederherstellung von Gebäuden der öffentlichen Verwaltung. Darüber hinaus leitete sie vorübergehend Gefängnisse, beriet Politiker und Verwaltungsmitarbeiter bei der Gestaltung neuartiger administrativer Prozesse und klärte Grundbuchfragen im Falle von Eigentumsstreitigkeiten unter Bürgern. Dieses Vorgehen korrespondierte mit einer sich auch innerhalb der Vereinten Nationen wandelnden Auffassung über ein zeitgemäßes Peacekeeping-Konzept. Zusätzlich zur „klassischen Aufgabe, Waffenstillstände zu überwachen, wurde nun versucht, mit politischen, ökonomischen und sozialen Maßnahmen zu einer Konfliktlösung beizutragen. Das klassische Peacekeeping wurde [. . .] durch Komponenten des ‚Peacebuilding‘ in Form von Unterstützung bei Wahlen, Aufbau von Polizei, Justiz und ziviler Verwaltung, Entwaffnung und Demobilisierung oder der Hilfe bei der Repatriierung von Flüchtlingen ergänzt“.13 Während das Militär erste Rekonstruktionsmaßnahmen wegen des noch gegebenen hohen Gewaltniveaus zunächst weitgehend selbst durchführen musste, entwickelte sich im Verlauf der Missionen ziviles Personal zu einem wichtigen Partner soldatischen Handelns. Mit dem Wandel im Charakter der Friedensmissionen wuchs der Abstimmungs- und Koordinierungsbedarf zwischen militärischen und zivilen Akteuren in anspruchsvollen Aufbauprozessen, die der damalige UN-Generalsekretär Boutros Ghali in seiner „Agenda für den Frieden“ als „Post-Conflict-Peacebuilding“ charakterisierte.14 Allerdings kam es in der Praxis zu einer Vielzahl von Mängeln, die sich letztlich teilweise sehr restriktiv auf die Auftragsdurchführung auswirkten.15 Solche Hemmnisse resultierten vor allem aus unzureichenden Abstimmungsprozessen zwischen Militär und ziviler Aufbaukomponente sowie der Überforderung von nicht für die neuartigen Aufbauaufgaben ausgebildeten Soldaten. Als kontraproduktiv erwiesen sich außerdem Ressentiments zwischen zivilen Helfern und Militärs, ausgelöst wegen ihrer unterschiedlichen Organisationskulturen, der Konkurrenz bei der Einwerbung von Aufbaumitteln sowie 12

Siehe auch: Grünebach (2001). Höntzsch, S. 8. 14 UN-Dok. A/47/277-S/24111: „agenda for peace“. 15 Vgl. Heinemann-Grüder/Pietz (2004), S. 202 f., Runge (2006), S. 17 ff., Höntzsch (2008), S. 34. 13

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der Versäumnisse der Entsendestaaten, die vielfach noch keine Regelungen für eine klare Abgrenzung der Aufgaben ihrer Soldaten gegenüber jenen ziviler Hilfsorganisationen entwickelt hatten. Dies lag vielfach auch daran, dass – wie etwa im Falle Deutschlands – eine ressortübergreifende Zusammenarbeit all jener Ministerien, die eigene Hilfskräfte in Einsatzregionen entsandt hatten, noch in den Kinderschuhen steckte. Erste Klärungen zur Gestaltung komplexer Friedensmissionen brachten die Selbstverständigungsprozesse auf NATO-Ebene hervor. Noch Anfang der neunziger Jahre gelang es dem Bündnis, sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue Existenzberechtigung zu verschaffen, indem es sich den VN und der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) als Akteur eines zeitgemäßen multidimensionalen Peacekeepings empfahl. Nach dem Scheitern der Blauhelm-Aktionen auf dem Balkan, vor allem nach der Tragödie von Srebrenica, „entwickelte sich die NATO zur bestimmenden militärischen Organisation im Bereich der multinationalen Krisenintervention“16. Symbolfunktion für diese Neuausrichtung kam dabei der Tatsache zu, dass das Militärbündnis im Dezember 1995 vom VN-Sicherheitsrat ermächtigt wurde, mit der „Implementation Force“ (IFOR) in Bosnien-Herzegowina aktiv zu werden. Neben dem Auftrag, die Durchsetzung des Dayton-Abkommens mit der Androhung militärischer Gewalt zu sichern, sollte das Militär mittels humanitärer Maßnahmen in Neu- und Wiederaufbauprozesse der Region eingreifen und damit neben der Schaffung von Sicherheit die zweite wichtige Vorleistung zur Herstellung von Stabilität erbringen. Im Gefolge nahmen die Proteste ziviler Hilfsorganisationen gegen die extensive Umsetzung des humanitären Mandats durch Soldaten zu, zumal das Militär zivil-militärische Überschneidungssituationen häufig einseitig zu seinen Gunsten ausschöpfte.17 Die militärische Seite lenkte die Diskussion über zivil-militärische Überschneidungssituationen bei Auslandseinsätzen bereits früh auf deren Auswirkungen auf die militärische Lage. Dabei ging es erstens darum, künftig restriktive Verzerrungen als Folge der Handlungen ziviler Kräfte auf die militärische Operationsführung problemminimierend aussteuern zu können. Dies verlangt in der Praxis genaue Kenntnisse der zivilen Lageentwicklung. Zweitens ging es um die Klärung der Bereitschaft des Militärs zur Unterstützung ziviler Aufbaumaßnahmen mit militärischem Personal und Gerät. Und drittens ging es um die Frage, wie Überschneidungen nutzbar zu machen seien, um die militärische Operationsführung in ihrem Auftrag der Sicherheitsgewährleistung zu unterstützen. In der NATO führte diese Debatte zum Begriff „Civil-Military Co-operation“ (CIMIC). Dort verwendet man 16 17

Höntzsch (2008), S. 12. Siehe auch: Lieser (2002), S. 93 ff., von Pilar (2002), S. 163 ff.

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ihn „seit Ende der 90er Jahre als Bezeichnung für ein militärisches Instrument zur Unterstützung der militärischen Operation, indem mit Hilfe von CIMIC die Koordination und Kooperation mit zivilen Akteuren und dem NATO-Kommandanten strukturiert wird“18. Sein Begriffsinhalt ist bezogen auf die zivil-militärischen Interaktionen ausgesprochen eng spezifiziert worden. CIMIC wurde in der NATO also nicht als Residualkategorie breit definiert, der man alle Spielarten zivil-militärischer Interaktionen zuordnen kann. Im deutschen Sprachgebrauch entspricht dem Begriff CIMIC am ehesten jener der „Zivil-militärischen Zusammenarbeit im Ausland (ZMZ/A)“. In Anlehnung an internationale Gepflogenheiten wird für ZMZ/A im Folgenden dennoch der Begriff CIMIC verwendet. „Lessons learned“-Auswertungen nach dem Einsatz in Somalia und den ersten Balkanerfahrungen führten in der NATO dazu, dass diese erstmals im August 1997 eine Direktive (MC 411) zur Gestaltung von Civil-Military Cooperation herausgab.19 Im Juli 2001 verabschiedete der Nordatlantikrat das Dokument. Im Juni 2003 trat die NATO-CIMIC-Doktrin AJP-9 in Kraft.20 Das primäre Ziel von CIMIC besteht demnach im „support to the mission“. Dies spiegelt sich auch im Begriffsinhalt von CIMIC wider: „The co-ordination and co-operation, in support to the mission, between the NATO Commander and civil actors, including national population and local authorities, as well as international, national and non-governmental organizations and agencies.“21 Die drei Kernfunktionen von CIMIC lauten: erstens „Civil-Military Liaison“ (Verbindungen schaffen mittels Aufbau eines der Operationsplanung und -führung nützlichen zivil-militärischen Beziehungsgeflechts), zweitens „Support to the Civil Environment“ (Unterstützung von zivilen Agenturen während einer Operation mit militärischen Ressourcen) sowie drittens „Support to the force“ (Unterstützung von Operationen mittels ziviler Ressourcen und Informationen).22 Deutschland war in die Entwicklung und Beratung der CIMIC-Konzeption der NATO intensiv eingebunden. Am 30. Oktober 2001 wurde die „Teilkonzeption Zivil-Militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr (TK ZMZ Bw)“ durch den Generalinspekteur der Öffentlichkeit vorgelegt. 2007 folgte eine überarbeitete Fassung. Seither wird in der Bundeswehr an der Weiterentwicklung der Konzeption ZMZ/A gearbeitet. Zurzeit befindet sich das überarbeitete Konzept mit dem Titel „Besondere Anweisung für die Zivil-Militärische Zusammenarbeit im Ausland (BesAnw ZMZ/A)“ im Mitzeichnungsgang des Bundesministe18 19 20 21 22

Höntzsch (2008), S. 23. Vgl. NATO (1997). Vgl. NATO (2001), § 102/1. Ebenda, § 104. Vgl. auch: Höntzsch (2008), S. 37–38.

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riums des Verteidigung (BMVg). Demnach bestehen die Kernaufgaben von CIMIC erstens im „Gestalten der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit“, zweitens im „Informieren, Beraten und Unterstützen ziviler Stellen und Akteure“ sowie drittens im „Mitwirken bei der militärischen Operationsplanung und -führung“. Damit liegt das Dokument eng auf NATO-Linie. Allerdings wird die dritte Kernaufgabe in der Bundeswehr funktional wesentlich weiter gefasst als in der AJP-9 („Support to the Force“). Während das NATO-Verständnis damit primär die Nutzbarmachung ziviler Ressourcen zur Optimierung des militärischen Auftrags meint, wobei die Entscheidung ausschließlich dem militärischen Führer obliegt, interpretiert die Bundeswehr dieses Unterstützungs-Verständnis deutlich ‚ziviler‘. Zwar ist auch in der Operationsführung der deutschen Streitkräfte die Entscheidung des Kommandeurs für seinen militärischen Entschluss formal unteilbar. Jedoch kann sich der Einfluss von CIMIC auf die militärische Entscheidungsfindung in den deutschen PRTs wesentlich interaktiver bemerkbar machen, da diese im Unterschied zu den PRTs anderer NATO-Staaten von einer zivilmilitärischen Doppelspitze geführt werden. Sie lassen folglich ihrer ideellen Konstruktion nach gewisse gegenseitige Abstimmungsmöglichkeiten und dadurch induzierte Einflüsse der zivilen Seite auf die militärische Operationsführung zu. Ähnlich argumentieren auch Baumgard und Kühl. Sie stellen fest: „Die Eigenständigkeit der Aufgabe der ‚Mitwirkung an der Operationsführung‘ soll [. . .] die operative Bedeutung der ZMZBw in der Entscheidungsfindung herausstellen. ZMZBw hat damit dem Charakter nach die Ebene der reinen Unterstützungsfunktion verlassen.“23 Und weiter heißt es: „Die in der deutsch geführten Nordregion Afghanistans jüngst geführten Operationen haben deutlich unter Beweis gestellt, dass militärisches Handeln in einer Stabilisierungsoperation in einem zivil-militärischen Kontext zu betrachten ist. So wird in Afghanistan in sog. ‚focussed operations‘ verstärkt die Nachhaltigkeit der Verbesserung der Sicherheitslage durch eine enge Verzahnung des militärischen Vorgehens mit Folgemaßnahmen der UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) zur Einleitung der zumeist dringend benötigten Humanitären Hilfe und zum langfristig angelegten Wiederaufbau verknüpft. Die Gestaltungsaufgabe bekräftigt die Notwendigkeit einer Aktivierung einer Kooperationsplattform als Basis für kohärentes Zusammenwirken im Sinne einer gemeinsamen Zielerreichung. Es geht um mehr, als nur die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen signalisieren zu wollen.“24 Unter der Rubrik „Ausgestaltung der Kernaufgaben“ sieht die Säule „Gestalten der militärischen Beziehungen“ die Schaffung eines eng ver23 24

Baumgard/Kühl (2008), S. 55. Ebenda, S. 55.

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knüpften Informations- und Beziehungsgeflechts vor. Dies sollte frühzeitig, bezüglich strategischer und operativer Ebenen bereits vor der Verlegung in ein Einsatzland erfolgen. Der Ausbau des Beziehungsgeflechts müsse flankiert werden durch klare Strukturierungen und Institutionalisierung der Kontakte sowie durch Standardisierungen im Falle von Routineaufgaben, um optimale Wirkung zu erzielen. Zur Kontaktanbahnung und langfristigen Absicherung des Beziehungsgeflechts bedürfe es der Sensibilität und Zurückhaltung im Umgang mit zivilen Akteuren bei gleichzeitiger Vermeidung von Fixierungen auf bestimmte Personen. Bei der Gestaltung der Kernaufgabe „Informieren, Beraten und Unterstützen ziviler Akteure“ geht es darum, bei diesen Verständnis für militärische Handlungen, insbesondere bei der Einwirkung auf das zivile Umfeld, zu generieren. Zugleich will die Bundeswehr über die Durchführung geplanter militärischer Maßnahmen informieren, um den zivilen Akteuren Bausteine für das Führen ziviler Lagen zu liefern. Im Gegenzug sollen die Kooperationspartner der Bundeswehr über ihre Absichten zur Führung der zivilen Lage unterrichten. Dabei können Leistungen militärischer Kräfte zum Wiederaufbau abgefordert werden, wenn damit der Realisierung gesamtpolitischer Zielsetzungen bestmöglich gedient würde. Die Bundeswehr sieht darin einen Harmonisierungsbeitrag im zivil-militärischen Interaktionskontext und verspricht sich davon eine Erhöhung der Akzeptanz gegenüber den Streitkräften. Information und Abstimmung fänden jedoch dort ihre Grenzen, wo auf militärischer Seite Einsatzführung und Geheimhaltung, auf ziviler Seite Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gefährdet seien. Die Kernaufgabe „Mitwirken bei der militärischen Operationsführung“ zielt darauf, die militärische Führung bei der Operationsplanung und -führung durch Informationen und Beratung zu unterstützen. Dadurch erhält die militärische Führung unmittelbar Kenntnisse über Zustand und Durchführung der Krisenbearbeitung im zivilen Bereich. Zudem werde so ein wesentlicher Beitrag zum ‚Gemeinsamen Rollenorientierten Einsatz-Lagebild (GREL)‘ erbracht. Zugleich komme es zur Bewertung der wechselseitigen Auswirkungen des militärischen und zivilen Handelns.25 2. Provincial Reconstruction Teams und CIMIC in Afghanistan Afghanistan weist noch immer eine fragile Sicherheitslage auf. Deshalb ist mit einem längeren Verbleib ausländischer Truppenkontingente im Land zu rechnen. Aufgrund personeller und finanzieller Engpässe, entstanden durch die unzureichende Bereitschaft der internationalen Gebergemeinschaft bzw. der militärischen Interventionsmächte, für den Aufbau Afghanistans 25

Vgl. ebenda, S. 55 f.

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deutlich größere Ressourcen bereitzustellen als dies geschehen ist, beschränkten sich die Aufbauleistungen aus dem Ausland lange Zeit hauptsächlich auf die Region Kabul. Dieses Engagement stützte so zwar die Zentralregierung Afghanistans, trug aber darüber hinaus kaum zur Stabilisierung bei. In den Provinzen außerhalb Kabuls beherrschen noch immer Warlords, kriminelle Waffen- und Drogenschieber sowie zahlreiche Milizenführer politisch bzw. religiös motivierter Aufständischer die Gewaltszene. Da die finanziellen und personellen Engpässe es nicht zuließen, ganz Afghanistan der Region Kabul vergleichbar mit Hilfe zu unterstützen, kam es als Ersatzlösung zur Einrichtung von PRTs. Diese sollen den Einfluss der Zentralregierung Kabuls in den Provinzen stärken, indem sie zusammen mit den Aktivitäten regionaler Sicherheitskräfte und Behörden für ein sichereres Umfeld sorgen. Bezüglich des Zieles ‚Entwicklung‘ sollen PRTs, so die Erwartungen, als Inseln erkennbarer Aufbau- und damit einhergehender Prosperitätsfortschritte positive Wahrnehmungen in der Bevölkerung Afghanistans auslösen, weitere Hoffnungen auf mehr Wohlfahrt erwecken und sukzessive konstruktive Strahlungswirkungen über das ganze Land ausbreiten. Im Oktober 2003 hat der Weltsicherheitsrat das Mandat von ISAF (International Security Assistence Force) verlängert. Diese Mission unterstützt im Auftrag der VN die afghanische Regierung im breiten Spektrum des Aufbaus. Im Unterschied hierzu ist die parallel laufende und von den USA geführte Operation Enduring Freedom (OEF) auf die Bekämpfung von alQaida-Terroristen und Taliban beschränkt. Nach der Verlängerung des ISAF-Mandats übernahm Deutschland von den USA das PRT in Kunduz. Ein halbes Jahr später errichtete die Bundeswehr ein weiteres PRT in Faizabad. Später kam noch eine Außenstelle des PRT Kunduz in Taloquan hinzu. ISAF-Soldaten besitzen im Unterschied zu den OEF-Kräften keinen Kampfauftrag, sondern lediglich ein Selbstverteidigungsrecht. PRTs unterstehen dem Befehl der NATO. Die Konstruktion des deutschen PRT-Modells ist, im Unterschied zu vergleichbaren Einrichtungen anderer NATO-Staaten, nicht allein auf den originären militärischen Auftrag ‚Sicherheit‘ konzentriert. Vielmehr folgt sie der Einsicht, dass Stabilität nur im Sinne eines um zivile Komponenten erweiterten Sicherheitsbegriffs erreicht werden kann. Dieser Leitidee folgend, zielt die deutsche PRT-Konstruktion darauf, die beiden in Afghanistan agierenden Komponenten Militär und zivile Hilfskräfte zugleich und zusammen zur Wirkung zu bringen.26 Zum militärischen Anteil eines von Deutschland geführten PRTs gehören ein Stab, ausgestattet mit den üblichen Führungsfunktionen, eine Stabs- und Versorgungskompanie, eine Schutz- und Sanitätskompanie, Feldjäger, ein Pionier- und Kampfmittelbeseitigungstrupp, eine Teileinheit zur Durchfüh26

Siehe auch: Hett (2005).

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rung psychologischer Operationen (PsyOps) und eben CIMIC-Soldaten. Die Führung deutscher PRTs untersteht im Sinne des politisch-strategisch weiter als nur militärisch gefassten Auftrages einer zivil-militärischen Doppelspitze. Diese besteht aus dem Bundeswehr-Kommandeur und einem Diplomaten des Auswärtigen Amtes (AA), wobei dieser die zivilen, der Offizier die militärischen Belange vertritt. Personell ist in den PRTs das Militär deutlich stärker präsent als der zivile Anteil. Letzterem gehören (Beispiel PRT Kunduz) neben dem diplomatischen Vertreter und zwei weiteren Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes vier Mitarbeiter des Ministeriums des Innern (BMI) und Vertreter aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) sowie Repräsentanten der regierungsnahen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit von GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit), KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) und DED (Deutscher Entwicklungsdienst) an. Von den Soldaten eines PRTs (Kunduz ca. 570 Personen) verlassen kaum mehr als ein Viertel täglich das Feldlager, darunter die CIMIC-Spezialisten. Die anderen Soldaten sichern das Lager oder verrichten sonstige im Camp anfallende Aufgaben. Die Einzelteams der CIMIC-Soldaten, zu denen in einem PRT insgesamt 15 bis 25 Soldaten gehören, werden während ihrer Fahrten in die Provinzen zusammen mit der Teileinheit Psyops von rund 100 Soldaten geschützt. Die CIMICTeams operieren nach den Vorgaben ZMZ/A: Sie suchen systematisch Kontakt zu Repräsentanten politisch und gesellschaftlich relevanter lokaler Gruppen, zu religiösen Würdenträgern, zur Provinzleitung und der ihr anhängigen Administration. Und sie knüpfen Netzwerke zu Regierungsorganisationen (ROs), Internationalen Organisationen (IOs) und Nichtregierungsorganisationen (NROs), mit denen sie Kooperationen begründen oder bereits im Entsendeland gemeinsam getroffene Vereinbarungen umsetzen. Im Zuge dessen informieren sie über Absichten des Militärs, erfassen lokale Aufbauwünsche und werben Mittel zur Projektunterstützung ein. Sie wirken bei der Projektplanung und der Auftragsvergabe an lokale Unternehmen und Hilfsorganisationen mit. Dabei erfolgen gegenseitige Abstimmungen, um das Maß der Hilfe zur Selbsthilfe sinnvoll festzulegen, geeignete Unternehmen auszuwählen und Doppelfinanzierungen zu vermeiden. Im Zuge der CIMIC-Aufgaben werden Stimmungslagen im PRT-Umfeld erfasst, Bevölkerungsdaten gesammelt, kartografische Erfassungen durchgeführt, Zustände sozialer Einrichtungen und weiterer Infrastruktur bewertet. Häufig ergeben sich dabei Vorschläge für ‚Quick-Impact-Projekte‘, deren Durchführung für die Notlagenbeseitigung und den Wiederaufbau kurzfristig nützlich erscheinen, weshalb sie sich als ‚Symbolträger guter Taten‘ für die Stärkung des Ansehens des Militärs in der Bevölkerung besonders gut eignen. Insbesondere mit ihren Aktivitäten im Zusammenhang der Auswahl von Projekten greifen CIMIC-Soldaten richtungsmitbestimmend in den lau-

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fenden Aufbauprozess ein. Diese Tatsache erhält dadurch besondere Relevanz, dass CIMIC-Kräfte ihre Entscheidungen letztendlich immer unter dem Gesichtspunkt der Optimierung des militärischen Nutzens zu treffen haben (z. B. Reparatur von Brücken mit Eignung für Militärfahrzeuge, Schaffung von Doppelnutzungsmöglichkeiten für Gebäude als gleichzeitige Schutzräume für eventuelle Evakuierungen). Dadurch ergibt sich im Interaktionszusammenhang von ziviler und militärischer Komponente ein potenzielles Spannungsverhältnis, das immer dann virulent wird, wenn beide Seiten konkurrierende Optionen für die Durchführung von Aufbauprojekten favorisieren. Dem Kommandanten eines PRTs steht für solche Maßnahmen pro Kontingent (vier Monate) ein Handgeld von 15.000 Euro zur Verfügung, die er frei von unmittelbaren Weisungen seines Ministeriums einsetzen kann. Der Vertreter des Auswärtigen Amtes erhält demgegenüber pro Jahr ein Budget von 30 Millionen Euro. Davon können jedoch auch Projekte finanziert werden, die von CIMIC-Soldaten vorgeschlagen werden.27 3. Zur Bewertung von CIMIC Mit der Benennung und Spezifizierung der Kernaufgaben von CIMIC in der Weisung ZMZ/A hat die Bundeswehr entschieden, dass CIMIC Element der militärischen Operationsführung und keine Entwicklungsarbeit ist.28 Damit hat sich das Militär einerseits ein technisches Instrument der eigenfunktionalen Auftragsoptimierung geschaffen. Andererseits entfaltet CIMIC seine Wirkungen gerade und vor allen Dingen im Zusammenhang der Teilhabe an Entwicklungsarbeit.29 Dabei kann es als Folge durchgesetzter militärischer Einwände zu gravierenden Deformationsfolgen für ursprünglich angestrebte zivile Entwicklungsziele kommen, indem etwa Schwerpunktsetzungen und Abfolgen von Neu- und Wiederaufbauschritten zum Zwecke der Stärkung operativer Maßnahmen verändert werden. Folgt man diesen Überlegungen, dann liegt es in analytischer Hinsicht auf der Hand, dass sich wesentliche Wirkungen von CIMIC nicht hinreichend erschließen lassen, wenn sich der Fokus der Untersuchungen nur auf führungstechnische Aspekte richtet. Vielmehr müssen die Auswirkungen auf die Aufbauprozesse ebenfalls einbezogen werden. Dies führt zu Fragen nach den Wirkungen von CIMIC bei der ‚Bestimmung von Aufbauzielen‘ sowie bei deren ‚organisatorischer Umsetzung‘. Bezüglich letzterer richtet sich das Erklä27

Siehe auch: Alff (2008), S. 62 ff. Vgl. treff.bundeswehr.de (12.12.2008). 29 Dazu: Baumgard/Kühl (2008), treff.bundeswehr.de (12.12.2008), Paul (2008), Klingebiel/Roehder (2004), Burghardt/Pietz (2006), VENRO (2003), Schomaker (2008), Runge (2006), Plattform Zivile Konfliktbearbeitung (2004), Mair (2007). 28

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rungsinteresse auf die ,Rollen von Akteuren‘, die ,Strukturen der zivil-militärischen Kooperation‘ sowie die ‚Prozessabläufe‘, innerhalb derer Katalysatoren bzw. Restriktionen der Zielerreichung entfaltet werden. Erst ein solches Erkenntnisinteresse lässt es zu, das Augenmerk nicht verengt auf die Nutzenbewertung von CIMIC für die Streitkräfte zu fokussieren, sondern den Blick für Urteile ganzheitlich auszurichten. Einseitigkeit ist dann gegeben, wenn lediglich nach dem technokratischen Nutzen von CIMIC für die Optimierung der militärischen Operationsführung gefragt wird. Hingehen zielt die Überwindung der Einseitigkeit darauf, CIMIC als Teilmenge eines durch zahlreiche Interessen beeinflussten Aufbauprozesses zu erklären und dabei dessen Kompatibilitäten bzw. Inkompatibilitäten mit dem Gesamtaufbau kritisch zu reflektieren. Eine solche Bewertungsperspektive erfasst das militärische Führungsmittel ,CIMIC‘ analytisch in einem komplexen sozialen Bezugsrahmen. Und an diesem müssen sich einzelne Handlungselemente letztendlich messen lassen, um über ihre Eignung nicht nur in spezifischer Hinsicht, sondern zugleich im Kontext ganzheitlicher Problembewältigung gehaltvoll urteilen und Notwendigkeiten für Veränderungen ohne militärisch induzierte Blickfeldverengungen identifizieren zu können.

III. Zu den Wirkungen von CIMIC beim Aufbau in Post-Konflikt-Regionen 1. Einflussnahmen bei der Bestimmung von Aufbauzielen Das humanitäre Engagement der Bundeswehr in Somalia (1993–1994) war in seiner ersten Phase vornehmlich durch Hilfsmaßnahmen geprägt, die der Erstversorgung kriegsgeschädigter Menschen, dringenden baulichen Wiederaufbaumaßnahmen und der Gesundheitsvorsorge der Bevölkerung galten.30 Damit trug es zur Überlebenssicherung bei, was bei den Hilfeempfängern auf hohe Resonanz stieß. Hingegen provozierte die Bundeswehr Widerstand, als sie im Zuge darüber hinausgehender Bautätigkeiten strukturprägende Eingriffe in elementare Lebensbedingungen der Konfliktregion vornahm. So führten beispielsweise Brunnenbaumaßnahmen in Somalia zur Sesshaftwerdung von Nomaden. Dies löste Konflikte zwischen der angestammten Bevölkerung und den in ihre Lebenswelten Eingedrungenen aus. Nach dem Abzug der Bundeswehr blieb es den betroffenen Somalis überlassen, den durch den Fremdeingriff geschaffenen Verteilungskonflikt untereinander auszutragen.31 Auch auf dem Balkan trug die Bundeswehr mit ih30 31

Vgl. Bundesminister der Verteidigung (Wochenbericht 9. Juli 1993). Vgl. Böge (1994), S. 147–150.

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rem durch Notlagenpragmatismus geprägten Handeln zunächst zur Sicherung des Überlebens bzw. zur Abwendung humanitärer Katastrophen bei. Darüber hinaus entfaltete sie alsbald eine intensive, variantenreiche Beteiligung am Aufbau und bediente ein breites Spektrum an humanitären Aufgaben.32 Diese, so die bald auf den Plan tretenden Kritiker des Bundeswehrengagements, seien aber vornehmlich als Zuständigkeitsbereiche der zivilen Komponente des Aufbaus anzusehen. Insbesondere NROs bemängelten, dass die Bundeswehr ihnen gegenüber als Konkurrent bei der Einwerbung von Finanzmitteln auftrete und sich dabei eine schleichende Begünstigung des Militärs durch die deutsche Politik abzeichne. Weiter galt die Kritik der Tatsache, dass sich die Bundeswehr bei der Bestimmung ihrer Aktivitäten nicht in die Karten blicken ließe. Oft würden vornehmlich nur arteigene, einseitig von erkennbar militärisch-operativen Erwägungen getragene Aufbauprioritäten verfolgt. In den Augen kritischer Entwicklungshelfer führte das sehr breit orientierte humanitäre Engagement der Bundeswehr letztendlich zu einem ‚Kessel Buntes‘, in dem alles zu guten Taten verarbeitet wurde, was in den Augen von Soldaten zur Reputationsaufbesserung des Militärs in der Bevölkerung dienen konnte.33 Diese Entwicklungen mündeten schließlich in massive Forderungen ziviler Hilfsorganisationen und auch der Bundeswehr selbst, die humanitären Aufgaben der Streitkräfte zu begrenzen. Zudem wurde von beiden Seiten verlangt, im Rahmen einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit deutscher Ministerien für eindeutige Regelungen bei Aufgabenzuweisungen und Finanzierungen im Verhältnis ziviler und militärischer Komponente bei Auslandseinsätzen zu sorgen. Die Bundeswehr hat mit ihren an die NATO angelehnten Weisungen ZMZ/A (2001/2007) reagiert und insbesondere mit der Festlegung der drei Kernaufgaben für die zivil-militärische Kooperation ihr Handlungsselbstverständnis für Aufbauprozesse mit deutlich reduziertem zivil orientierten Ansatz dargelegt.34 Der Praxistest vollzieht sich heute insbesondere in den PRTs in Afghanistan. Dort führt die Bestimmung der Aufbauziele aber immer noch zu heftigen Konflikten zwischen ziviler und militärischer PRT-Führung.35 Dies lässt sich am Beispiel einer Entscheidung über ein Brücken- und Straßenbauprojekt illustrieren. Scheint es aus militärisch-operativer Sicht angeraten zu sein, mit den Baumaßnahmen zugleich sicherzustellen, dass die neuen Straßen und Brücken im Falle eines Einsatzes auch mit schwerem Gerät der Bundeswehr befahrbar sind, wird der Kommandeur bei der Projektreali32 33 34 35

Siehe auch: Grünebach (2001). Grundlegend: Klein/Roth (2007). Vgl. Irlenkaeuser (2006), S. 307 f. Siehe auch: Gauster (2008), S. 11 ff.

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sierung auf entsprechend höherwertige – und damit teuere – Baumaßnahmen drängen. Möglicherweise läuft dies darauf hinaus, dass andere als die von zivilen Aufbaukräften eingeplanten und mit der lokalen Administration abgestimmten Straßenverläufe ausgewählt werden. Die als Folge der höherwertigen Bauausführung entstehenden Mehrkosten stellen sich aus Sicht ziviler Projektbeteiligter als Verschwendung knapper Ressourcen dar, sofern mit demselben Mitteleinsatz mehr Streckenkilometer für traditionell verwendete Gefährte (z. B. Ochsenkarren) hätten geschaffen werden können. Und für die Bevölkerung würden mit einer solchen Entscheidung Erwartungen auf einen ihrem Entwicklungsniveau angepassten Infrastrukturzuwachs geschmälert; mit all den problematischen Folgen für die Reputation der ‚Invasionsmächte‘ in der Bevölkerung. Die Literatur verweist darauf, dass das Militär bei solchen Entscheidungen, die den ‚Nerv‘ der Operationsführung treffen, zu hartnäckig ausgetragenen Konflikten mit der zivilen Seite bis hin zur einseitigen Übersteuerung von Projektzielen neigt.36 Einem solchen Konflikt kann vonseiten der Bundeswehr kaum einseitig ausgewichen werden, da das geringe Handgeld, das militärischen Führern für autonome Projekte zur Verfügung steht, keine umfassenden alternativen Maßnahmen zum eigenen Nutzen zulässt. Wenn also solche (unauflösbaren) Entscheidungsrivalitäten zwischen ziviler und militärischer Aufbaukomponente unvermeidbar sind, dann bleibt mit Blick auf eine Verbesserung der zukünftigen Kooperation nur noch die Möglichkeit, auf beiden Seiten Kompromissbereitschaft systematisch einzuüben. Dabei sollte es sowohl zivilen als auch militärischen Akteuren bereits im Vorfeld ihres Auslandseinsatzes darum gehen, sich bezüglich ihrer verschiedenartigen Professionalisierungen und den daraus geronnenen unterschiedlichen Sozialisationstypen gegenseitig zu erklären und so Distanzen im persönlichen Verhältnis zueinander abzubauen. Dies könnte zudem das Verständnis für die jeweiligen Grenzen des Auftragshandelns der anderen Seite erhöhen. In der Konsequenz liefe ein so konditioniertes Verhalten für beide Seiten jedoch auf eine Suboptimierung des eigenen Handelns hinaus. 2. Zur organisatorisch-prozessualen Umsetzung von Aufbauzielen Die Verschiedenartigkeit im Selbstverständnis und Vorgehen militärischer und ziviler Akteure spiegelt sich in besonders eindrucksvoller Weise in der organisatorisch-prozessualen Umsetzung von Aufbauzielen wider. Die Fragen nach den Kooperationsfähigkeiten und den daraus sich ergebenden Aufgabenzuweisungen werden seit dem Somalia-Einsatz der Bundeswehr in 36

Vgl. Pflüger (2006), S. 3 ff., Schneider (2008), S. 147 ff.

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Wissenschaft und Publizistik kontrovers diskutiert. Dabei steht heute allerdings nicht mehr so sehr die Grundsatzfrage der direkten Teilhabe des Militärs an der Durchführung humanitärer Aufgaben mittels Unterstützung durch Personal und Gerät im Vordergrund. Denn Unterstützungen nur auf ein eng geschnittenes Set von Hilfen zu beschränken, darauf hat sich die Bundeswehr in der zweiten Säule von ZMZ/A längst eindeutig festgelegt. Bei den Streitigkeiten über die Kooperationsfähigkeit von Militär und zivilen Aufbaukräften geht es nunmehr um deren Annäherungsverhältnis im denkbaren Verhaltensspektrum von ‚Rollendistanz, Wettbewerb, komplementärer Kooperation oder zivil-militärischer Kooperation‘.37 Dieses Problem stellt sich nach Auffassung der NROs deshalb so eindringlich, weil der Bundeswehr mit CIMIC und zivil-militärischen Doppelspitzen in PRTs gewichtige Eindringungsmöglichkeiten in Entscheidungsprozesse für den zivilen Aufbau gegeben seien.38 Der Auftrag von CIMIC-Soldaten besteht darin, der Bundeswehr mit der angestrebten Netzwerkbildung (erste Säule ZMZ/A) eine breit angelegte und effiziente kommunikative Einmischungs-Plattform zu schaffen und langfristig zur Optimierung der militärischen Operationsführung auszubauen. Die Wirkungen solcher Netzwerke für die Bundeswehr hängen davon ab, ob und inwieweit sich die angesprochenen Hilfsorganisationen, die gesellschaftlich relevanten Kräfte einer Hilfsregion und die auf Hilfe angewiesene Bevölkerung auf Kooperationsangebote der Bundeswehr einlassen. Bei den IOs, ROs und NROs zeichnet sich dabei bis heute kein einheitliches Bild ab. Während einerseits die regierungsnahen Hilfsorganisationen, deren Projekte mit öffentlichen Geldern privilegiert gefördert werden, mit der Bundeswehr eng kommunizieren und zusammenarbeiten, reicht andererseits bei den NROs die Kooperationsbereitschaft von der Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen durch das Militär (zweite Säule ZMZ/A) bis zur Totalverweigerung.39 Letztere wird vor allem mit dem Argument begründet, dass die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr zu einer inakzeptablen Aushöhlung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von NROs führe. Da die Bundeswehr in der Öffentlichkeit als Konfliktpartei wahrgenommen werde, gefährde eine Zusammenarbeit mit dem Militär zudem die Unversehrtheit der eigenen Mitarbeiter, etwa wenn NROs im Konvoi mit der Bundeswehr führen. Dieses Argument wird vor allem von solchen Einrichtungen angeführt, die bereits lange vor militärischen Interventionen in Krisengebieten erfolgreich und ungefährdet gearbeitet haben.40 Als Folge sol37 38 39 40

Vgl. Heinemann-Grüder/Pietz (2004), S. 200. Vgl. Schneider (2008), S. 159 ff. Dazu Haydt (2006), S. 29 f. Vgl. Runge (2006), S. 18 f.

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cher Verweigerungen bleibt die Wirkung von CIMIC auf die kooperationswilligen Hilfsorganisationen begrenzt. Auch im Verhältnis der kooperationswilligen NROs zur Bundeswehr bleibt es angesichts unterschiedlicher Organisationskulturen bei unüberbrückbaren Differenzen. Nach Michael Paul stehe „[a]uf der einen Seite [. . .] die homogen-soldatische Welt der Streitkräfte, in der Disziplin und eine zentrale Befehlsstruktur maßgeblich sind, auf der anderen die von flachen Hierarchien und einem informellen Verhalten geprägte, dezentralisierte, heterogene Struktur der NGOs und anderer im Einsatzgebiet tätigen internationalen Organisationen.“41 Weiter kämen als gravierende Restriktionen hinzu, dass die konkreten Ziele und die damit verbundenen Zeithorizonte beider Organisationstypen erheblich voneinander abwichen. Außerdem entspräche der von der Bundeswehr angestrebte Endzustand „nicht zwangsläufig der aus humanitären oder entwicklungspolitischen Gründen gebotenen Situation“.42 Und daher erwiesen sich „auch die Abläufe bzw. die Zwischenziele als nicht konform“.43 Weitere Restriktionen für den Aufbau ergäben sich dadurch, dass die Einsatzdauer der CIMICSoldaten zeitlich eng begrenzt sei (vier Monate). So bliebe ihnen wenig Zeit, die kommunikativen Netzwerke zu pflegen und auszubauen. Somit fehle es „an Kontinuität, die nötig wäre, um Vertrauen und Verständnis zu schaffen“.44 Und in besonderem Maße gelte dies für die Beziehungen zur Bevölkerung.45 Die kurze Stehzeit von CIMIC-Soldaten führt oft dazu, dass diese mittels schnell umsetzbarer Quick-Impact-Initiativen (Sonderspendenverteilung, medizinische Untersuchungen und Akutbehandlungen, Impfungen für Tiere, Reparaturhilfen, kurzfristige Materialbeschaffungen für Schulen etc.) in der Bevölkerung sehr kurzfristig positive Aufmerksamkeitseffekte zu bewirken versuchen. Solche Maßnahmen sind aber vielfach nicht mit den langfristigen Plänen für den Gesamtaufbau abgestimmt, die auf Nachhaltigkeit zielen. Dadurch kommt es zwar für die CIMIC-Soldaten vielfach noch während ihrer Einsatzphase zu persönlichen Wirkungserfolgen. Diese Maßnahmen erweisen sich aber teilweise insofern als kontraproduktiv, als sie oft einseitig einen mehr oder weniger zufällig ausgewählten Teil der Gesamtbevölkerung begünstigen.46 Folgt man neueren kritischen Studien zu den Wirkungen von CIMIC-Aktivtäten, dann lässt sich die Liste der Problembereiche zivil-militärischer Kooperation noch deutlich erweitern und in exemplarischer Kürze wie folgt darlegen: Die Gewährung einseitig vorteil41 42 43 44 45 46

Paul (2008), S. 24. Ebenda, S. 24. Ebenda, S. 24. Ebenda, S. 25. Vgl. ebenda, S. 25. Dazu auch: Alff (2008), S. 63.

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hafter Sondermaßnahmen, vor allem in einem von der Bevölkerung ohnehin als begünstigte Teilregion empfundenen Gebiet, schürt Verteilungsneid und führt so insbesondere unter den Bedingungen konkurrierender Volksgruppen zu neuen Tendenzen gesellschaftlicher Desintegration. Auf diese Weise führen gewichtige Infrastrukturprojekte unter der Einflussnahme von CIMICKräften zu Unwuchten in der Aufbauarbeit, werden Modernisierungsrückstände ungleichzeitig abgearbeitet. In der Konsequenz wird dadurch der Boden für anhaltende bzw. neue innergesellschaftliche Konflikte bereitet. Diese tragen vermutlich nicht unerheblich zur Verstetigung der Skepsis der interventionskritischen Bevölkerung gegenüber den ausländischen Militärs bei. Auch empirische Studien erhärteten inzwischen den Verdacht, dass die Ablehnung des Militärs in der Bevölkerung von Post-Konflikt-Regionen mit zunehmender ‚Besatzungsdauer‘ stetig aufwächst. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die kulturellen Unterschiede zwischen der Bevölkerung in der Konfliktregion und den Herkunftsländern der Interventionsmächte zu kaum auszugleichenden Konflikten führen. Soldaten fungieren dann als ‚Blitzableiter‘ des angehäuften Lebensfrustes in nachhinkenden Modernisierungsregionen, oder sie gelten gar als Feinde, weil Entwicklung durch hegemoniale Fremdeinwirkung grundsätzlich abgelehnt wird.47 Skepsis gegenüber den Fähigkeiten ausländischer Aufbaukräfte verstärkt sich zudem noch offenkundig dort, wo ausgeprägte Militärpräsenz zwar vordergründig zu mehr Sicherheit führen könnte, jedoch mangels eines hinreichenden Mandats keine nachhaltige Gewalteinhegung durchzusetzen vermag. Dies ist in Afghanistan der Fall, wo die Bekämpfung von Mohnanbau und Drogenhändlern nicht zum Auftrag der Bundeswehr gehört. Als Folge kann die Bevölkerung so keine effektive Zurückdrängung des politischen und gesellschaftlichen Einflusses von Gewaltakteuren erwarten.48 Dadurch bleiben weiterhin jene Personen etablierte Größen, die durch kleptokratisches, gewalttätiges und kriminelles Handeln in zerfallenden Staaten ihren Aufstieg gemacht, die gesellschaftlichen (Friedens-)Balancen zerrüttet und die Zerstörung von Staat und Gesellschaft vorangetrieben haben. Somit sind die Militärs dazu verdammt, nur als Konkursverwalter einer abgewirtschafteten Staatsmasse auftreten zu können. Um allerdings unter solchen Bedingungen wenigstens gewisse humanitäre und gewalteinhegende Anfangserfolge erzielen zu können, besteht die (opportunistische) Chance, sich mit den Gewaltakteuren zu arrangieren. Zivile Hilfsorganisationen beklagen, dass das Militär angesichts seines Auftrags, Sicherheit zu optimieren, dazu neige, Verständigungsverhältnisse mit Gewaltakteuren einzugehen. Weitere – vor allem von NROs – vorgetragene Kritik gilt der Tatsache, dass das Militär bei der öffentlichen Präsentation erfolgreicher Entwicklungsprojekte eine 47 48

Siehe auch: Schneider (2008), S. 167. Vgl. ebenda, S. 153.

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im Vergleich zu den zivilen Hilfsorganisationen personell überproportionale Präsenz zeige. Ein Beispiel, das der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) als Beleg anführt, ist die Teilnahme von Soldaten an publikumswirksamen Grundsteinlegungen für regional bedeutende Bauvorhaben. Und dies geschehe oft gepaart mit dem „Aufmarsch von ganzen Konvois gepanzerter Fahrzeuge, wie ‚Füchsen‘, ‚Wölfen‘ und ‚Dingos‘“.49 Dem folge oft noch, so die weitere Kritik, eine einseitige Vermarktung von Aufbauprojekten durch von Militärs beeinflusste Medien.50 Neben der Bestandsaufnahme von CIMIC-Aktivitäten, die Reformbedarf aufzeigen, erfährt das Engagement der Streitkräfte aber auch ausdrücklich Erfolgsbestätigungen: So ist beispielsweise erkennbar, dass in der Aufbauregion um Kunduz die Anzahl der Hilfsorganisationen, vor allem der NROs, im Vergleich zur Zeit vor der Stationierung des dortigen PRTs beachtlich angestiegen ist. Zugleich hat dort die Anzahl der Sicherheitsfälle erheblich abgenommen. Immer mehr Hilfsorganisationen begrüßen die Möglichkeit, auf ihren Fahrten in Aufbaugebiete den Schutz von Militärpatrouillen zu nutzen. Weiter tragen CIMIC-Soldaten mit ihrer Arbeit informativ zur Fortschreibung auch zivil verwertbarer Lagebilder (z. B. in der Bevölkerung abgefragte Hilfswünsche, Ergebung statistischer Sozialdaten, Erstellung kartografischer Aufzeichnungen) bei.51 Zudem gewinnt solche Unterstützung der zivilen Aufbaukräfte dadurch zunehmend an Substanz, dass neben Berufssoldaten im anwachsenden Maße auch Reserveoffiziere für CIMIC-Aufgaben eingesetzt werden. Dadurch erhofft sich die Bundeswehr einerseits eine höhere Expertise bei der Bewertung der von zivilen Hilfsorganisationen vorgeschlagenen Aufbaumaßnahmen. Andererseits sollen die Reservisten mit ihrem zivilen Berufshintergrund zu einem aufgeschlosseneren Interaktionsklima im zivil-militärischen Beziehungsgeflecht beitragen. 3. Militärisch-funktionaler Änderungsbedarf Mittlerweile hat sich CIMIC als Element der Operationsführung auch im PRT-Zusammenhang etabliert. So kommt Paul in seiner jüngst zum ISAFEinsatz vorgelegten Studie zu dem Ergebnis, „dass CIMIC mit den Aufgaben der Verbindungsarbeit, der Unterstützung von Aufbaufortschritten sowie der Erstellung ziviler Lagebilder für Stabilisierungseinsätze an operativer Bedeutung gewonnen hat“52. Und weiter stellt er fest, CIMIC habe „sich 49

Vgl. ebenda, S. 151 f. Vgl. ebenda, S. 153, Paul (2008), S. 17. – Zur Rolle der Medien vgl. den Beitrag von Reeb in diesem Band. 51 Vgl. Alff (2006), S. 63 f. 52 Paul (2008), S. 6. 50

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zu einem Faktor entwickelt, der einen wichtigen Beitrag zur Wirksamkeit im Einsatz, speziell bei fluiden Sicherheitslagen, leisten kann“53. Zugleich aber merkt er kritisch an, dass CIMIC über keinen „hinlänglichen Streitkräfteansatz“54 verfüge und deshalb in der Zukunft nur Stückwerk bleibe, zumal, wenn es nicht zu personellen Aufstockungen komme. Er schlägt vor, die Kontingentdauer von CIMIC-Soldaten auf mindestens sechs bis zwölf Monate zu verlängern, „da ein häufiger Personalwechsel zum Verlust von Kommunikationsstrukturen führt und den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen zur Bevölkerung und zivilen Akteuren erschwert.“55 Weiter regt er an, den „Kontingentwechsel gestaffelt [durchzuführen, G.M.], damit das vorhandene Wissen besser an die jeweiligen Nachfolger übertragen werden kann.“56 Paul hält es zudem für erforderlich, das CIMIC-Personal, insbesondere beim Anteil der Stabsoffiziere, deutlich aufzustocken, um auf Dauer durchhaltefähige Strukturen zu schaffen. Und er plädiert dafür, bereits im Zuge der Einsatzvorbereitung die ressortübergreifende Zusammenarbeit weiter zu verstärken und dabei grundsätzlich auch Experten von NROs einzubeziehen, um den Informationsaustausch nachhaltig zu verbessern.57

IV. Konsequenzen und Perspektiven Seit den mit hoher voluntaristischer Energie angegangenen Hilfsaktivitäten (Somalia/Balkan) ist das ‚direkte‘ humanitäre Engagement der Bundeswehr inzwischen erheblich reduziert worden. Es erschöpft sich im Rahmen der zweiten Säule von ZMZ/A auf begrenzte unmittelbare Unterstützungsmaßnahmen, bei denen die Bundeswehr im Vergleich zu zivilen Hilfsorganisationen wegen ihrer spezifischen Fähigkeiten (Sicherheit, Gerät) komparative Handlungsvorteile besitzt. Dadurch ist in die direkte Ausführung humanitärer Maßnahmen wieder das auf Spezialisierung und Professionalisierung beruhende Fachleuteprinzip in die Hilfspraxis zurückgekehrt. Trotz der Begrenzung der direkten Eingriffe bleibt der Einfluss der Bundeswehr auf die Zielausrichtung humanitärer Hilfe in Friedensmissionen erheblich. So ist er angesichts des gebotenen Ausbaus ressortübergreifender Zusammenarbeit gerade dadurch gestiegen, dass Soldaten in entwicklungspolitischen Entscheidungsprozessen als Partner eine deutliche Aufwertung erfahren haben. So werden für Aufbauprozesse teilweise Projekte vorgegeben, die bereits in Deutschland zwischen den Ressorts der Entwicklungszusammenarbeit und 53 54 55 56 57

Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Vgl. ebenda.

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dem BMVg abgestimmt worden sind, wobei im Aushandlungsprozess nicht nur entwicklungspolitische Ziele, sondern – dem Gebot gegenseitiger Einvernehmlichkeit folgend – gleichfalls spezifisch militärische Wünsche durchgesetzt werden, die unter Umständen teuer sind, in keinem direkten Zusammenhang mit zivilen Aufbauzielen stehen und letztlich also primär der Optimierung von Sicherheit bzw. der force protection dienen. Hingegen gilt diese Feststellung einer verbesserten einvernehmlichen Zusammenarbeit nicht in gleichem Maße für die Kooperation im PRT-Kontext. Denn die Praxis der Zielabstimmung im Einsatzland zeigt, dass die Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und zivilen Ressortvertretern noch deutlich friktionsloser gestaltet werden könnte, wenn alle Seiten informativer und weniger eigensinnig miteinander umgehen würden. Die Feststellung der Einbindungslücke gilt ebenfalls für NROs und die Bevölkerung, die sich in Afghanistan immer noch nicht hinreichend in Entscheidungen über Aufbauziele involviert sehen. Vielfach verhindern Berührungsängste, die NROs und Teile der Bevölkerung gegenüber Soldaten besitzen, von vornherein eine nähere Zusammenarbeit. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Planungsbeauftragten als Doppelpack von zivilen Verhandlungspartnern und CIMIC-Soldaten auftreten. Dabei wird unterstellt, dass es in der Projektberatung letztendlich keine klare Trennung zwischen zivilen und militärischen Nützlichkeitserwägungen gäbe und die Interessen der Bundeswehr schließlich übersteuernd zur Geltung kämen. Beispiele sind insbesondere Projekte im für das Militär wichtigen Infrastrukturbereich. Denn, so Andreas Schneider vom DED, „[d]a das PRT in der gesamten Provinz Erkundungsfahrten macht und nach eigenem System Distriktprofile erstellt, kann man davon ausgehen, dass ihnen die Probleme dort bekannt sind, sie allerdings militärstrategischen Aspekten und weniger strukturbildenden Programmansätzen unterliegen“58. Und dieser Ansatz werde zudem beeinflusst „durch die hohe Fluktuation bei CIMIC und die Tendenz, militär-strategische Projekte und den Schutz der eigenen Soldaten in den Vordergrund zu stellen.“59 Schneiders Kritik gilt weiter den von CIMIC-Soldaten eigenverantwortlich durchgeführten Quick-Impact-Projekten. Solche ad hoc-Maßnahmen seien zwar PR-freundlich und dienten der force protection, sie entsprächen aber nicht dem Gebot entwicklungspolitischer Nachhaltigkeit.60 Als problematisch erweist sich weiter, dass sich CIMIC-Soldaten, wenn sie Ansatzpunkte für Projekte identifizieren, darüber mit lokalen Politikern erste Gespräche führen und so Hilfe signalisieren. Kommt diese Hilfe später wegen anderer Prioritätensetzungen nicht zustande, machen sich Enttäuschung und Frust breit, die mit einer anschließenden kompensatorischen Gewährung preiswerter Quick Impact-Maßnahmen 58 59 60

Schneider (2008), S. 159 f. Ebenda, S. 160. Vgl. ebenda, S. 159.

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kaum aufzuarbeiten sind und so dazu beitragen, das negative Bild von den ‚Besatzern‘ zu verfestigen. Bei den zivilen und militärischen Akteuren finden sich wegen ihrer differenten ethischen Orientierungen, unterschiedlichen Herkunftsorganisationen und besonderen Sozialisierungsprozesse zum Teil gegensätzliche Rollenverständnisse. Die sich daraus im Aufbaualltag ergebenden Hemmnisse im Falle des gemeinsamen Handelns sind kaum einvernehmlich auszugleichen, insbesondere im Verhältnis von NROs und Armeeangehörigen nicht. Deshalb ist im Prinzip dafür zu plädieren, im Aufbauprozess Berührungen und Überschneidungen zwischen nicht kooperationswilligen zivilen Hilfsorganisationen und dem Militär auf das Notwendige zu beschränken. Dies würde allerdings die eigenfunktionale Wirksamkeit von CIMIC für die militärische Operationsführung beeinträchtigen. Denn CIMIC-Soldaten sind, um eine möglichst hohe militärische Wirksamkeit entfalten zu können, auf die Kooperation mit einem breiten zivilen Umfeld angewiesen. Angehörige von NROs beklagen sich seit langem darüber, dass sich CIMIC-Kräfte netzartig in den Aufbauprozess einwöben und mit ihren Erkundungs- und Einmischungsaktivitäten im Rahmen der Erstellung ziviler Lagebilder in Bereiche vordrängten, die ursprünglich von NROs initiiert und betreut worden seien. Dadurch käme es zu einer immer stärkeren Vermischung zwischen militärischem Engagement und humanitärer Hilfe.61 Solche Eindrücke müssen sich verstärken, wenn sich Soldaten außerhalb ihres Lagers weitgehend nur in gepanzerten Fahrzeugen der Öffentlichkeit präsentieren, wie es für die Bundeswehr seit einem entsprechenden Erlass von 2006 für Afghanistan gilt. Als Folge dessen werden auch die PRTs in der Bevölkerung vielfach primär als militärische Einrichtungen gesehen. Die Bereitschaft zu mehr Trennungen zwischen Militär und Zivilem ist zudem deshalb geboten, weil durch die Vermischung beider Seiten zunehmend die lokalen Partnerorganisationen insbesondere von NROs in den Sog des Militärs zu geraten drohen. Dies kann Gefahren nach sich ziehen, weil viele Menschen in Afghanistan mit dem Militär subjektive Erinnerungen an brutale Repressalien, Menschenrechtsverletzungen, Plünderungen und Vergewaltigungen verbinden. Deshalb wird von solchen Personen im Grunde alles, was mit dem Militär in Beziehung steht, als schädlich für die weitere Entwicklung angesehen und kategorisch abgelehnt. Das Bild vom Militär ist in Afghanistan zudem in den letzten Jahren dadurch stark belastet worden, dass angesichts der sich verschärfenden Sicherheitslage zurzeit keine erkennbaren Exit-Optionen für ausländische Soldaten bestehen, sondern – im Gegenteil – zukünftig eher mit größeren Einsatzkontingenten zu rechnen ist. Zudem ist bei vielen Afghanen nach den langen Jahren der Kriseninter61

Dazu exemplarisch: VENRO: Positionspapier 1/2009.

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vention die Hoffnung auf einen schnellen Aufbau zunehmender Enttäuschung über die reale Lage gewichen. Dabei spielt auch eine Rolle, tagtäglich erleben zu müssen, dass Drogenhändler, Kriminelle, korrupte Politiker, Banden und Menschenrechtsverletzer noch immer die offene Szene beherrschen und die ausländischen Militärs mit ihnen gar zusammenarbeiten. Besonders prekär wird es, wenn solche Kooperationen zu Arrangements führen, die einseitig begünstigend in den Aufbau hineinwirken. Zwar gehen viele Stimmen davon aus, dass PRTs mit ihren CIMIC-Soldaten inzwischen immer positivere Hoffnungsbotschaften in die Bevölkerung senden. Dennoch stellen diese Inseln keinen hinreichenden Ersatz für einen zügigeren und vor allem flächendeckenden Aufbau dar. Wesentliche Folge der notwendigen Militärpräsenz bleibt zudem die Tatsache, dass erhebliche Ressourcen, die dem zivilen Aufbau dienen könnten, durch die hohen Kosten militärischer Einsätze absorbiert werden. Hinzu kommt, dass Projektvorschläge von CIMIC-Soldaten, die nicht nur zivil Nutzen stiften, sondern zugleich Interessen der militärischen Operationsführung bzw. der force protection dienen, weitere Kostensteigerungen bewirken, die zumeist nicht von der Bundeswehr selbst getragen werden, sondern im Zusammenhang von interministeriell abgestimmten Projekten zu Lasten der Mittel für den zivilen Aufbau gehen. Literatur Alff, Christina (2008): Regionaler Wiederaufbau als wirksame Instrumente für Nationbuilding in Afghanistan?, in: Geographische Rundschau, Heft 2, S. 58–65. Anderson, Mary B. (1999): Do no Harm: How Aid Can Support Peace – or War. Boulder: Lynne Rienner. Baumgard, Frank/Kühl, Klaus (2008): Zivil-militärische Zusammenarbeit Bundeswehr – Ein operativer Faktor der Planung und Führung von Stabilisierungseinsätzen, in: Europäische Sicherheit, Heft 10, S. 54–58. Böge, Volker (1994): Im Felde unbesiegt. Der Abzug der Bundeswehr aus Somalia, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2, S. 147–150. Brackmann, Thomas (2009): Neuland betreten, in: Y. Magazin der Bundeswehr, Heft 2, S. 274–277. Bundesregierung (2003): Afghanistan-Konzept vom 1. September 2003, Berlin. Burghardt, Diana/Pietz, Tobias (2006): Themenbereiche und Konfliktfelder zivilmilitärischer Beziehungen. Handreichung. Bonn: BICC, S. 2–7. Debiel, Tobias (1996): Not und Intervention in einer Welt des Umbruchs. Zu Imperativen und Fallstricken humanitärer Einmischung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 33–34/96, S. 29–38. Eberwein, Wolf Dieter/Runge, Peter (Hrsg.) (2002): Humanitäre Hilfe statt Politik? Münster: Lit.

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Hohe Identifikation und nüchterner Blick Die Sicht der Bundeswehrsoldaten auf ihre Einsätze Von Heiko Biehl und Jörg Keller

I. Auslandseinsätze der Bundeswehr in der Diskussion Seitdem die Bundeswehr sich an internationalen Einsätzen beteiligt, also seit nunmehr rund zwei Jahrzehnten, steht die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser Engagements im Raum. Zwar fehlt es an einer dauerhaften Kontroverse in Politik, Medien und Wissenschaft hinsichtlich der Zielsetzung und Zweckmäßigkeit zivil-militärischer Interventionen und Engagements. Aber die Frage der Bundeswehrmissionen ist im öffentlichen Raum latent vorhanden und wird zuweilen heftig diskutiert. Am intensivsten geschieht dies naturgemäß zu Beginn eines Einsatzes, wo über das ‚Ob‘ und ‚Wie‘ einer militärischen Beteiligung gestritten wird. Zudem bietet jegliche Mandatsverlängerung Gelegenheit, sich im parlamentarischen Raum zu den jeweiligen Einsätzen zu positionieren. Die Aufmerksamkeit, die diesen Debatten zukommt, ist abhängig vom jeweiligen Einsatzgebiet, vom Mandat und aktuellen Ereignissen. Daneben treten Fragen nach dem Sinn und Zweck, aber auch den Erfolgsaussichten der Missionen mit zunehmender Einsatzdauer ins öffentliche Bewusstsein. So befindet sich die Bundeswehr seit 1995 in Bosnien und seit 1999 im Kosovo. Angesichts des seit geraumer Zeit ungünstigen Verlaufs konzentriert sich ein Großteil der öffentlichen Aufmerksamkeit gegenwärtig auf den Einsatz in Afghanistan, der vielen als „Musterfall“1 gilt. In der öffentlichen Debatte spielt jedoch kaum – oder zumindest zu selten – die Sicht der Soldaten auf ihren Einsatz eine Rolle. Zwar wird den Interviews von Spitzenmilitärs gelegentlich Aufmerksamkeit geschenkt und die Aussagen von Kontingentteilnehmern dienen der Illustration von Einsatzreportagen. Eine systematische Analyse der Einstellungen der eingesetzten Soldaten steht aber noch aus. Dabei sind die Haltungen der Soldaten zu ihrer Mission aus verschiedenen Gründen von Belang: Erstens sind die Soldaten als letztendliche Träger und Exekutoren des politischen Auftrags geradezu prädestiniert, ein realistisches Bild der Einsatzwirklichkeit zu zeich1

Naumann (2008), S. 8.

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nen. Sie erleben unmittelbar die Situation vor Ort und können authentische Einschätzungen zur Sinnhaftigkeit von Gesamtmissionen und einzelnen Maßnahmen liefern. Zweitens ist aus der Forschung hinlänglich bekannt, dass die Motivation der Soldaten unter anderen von der Unterstützung für die Mission und den Erfolgsaussichten abhängt. Zwar nehmen auch Familie, Kameraden und Vorgesetzte Einfluss auf die soldatische Einsatzbereitschaft. Wie einschlägige Studien belegen, ist die Motivation der Soldaten wesentlich von deren Identifikation mit dem Auftrag geprägt (vgl. Abs. II.1.).2 Drittens fungieren die Soldaten sowohl in die Streitkräfte als auch in die Gesellschaft hinein als Multiplikatoren, die gegenüber Journalisten, Verwandten und Bekannten sowie anderen Soldaten ihre Ansicht zu den Missionen authentisch kommunizieren. Es kann deshalb insbesondere der Politik und den Streitkräften selbst nicht gleichgültig sein, wie und was die Beteiligten über ihren Einsatz denken. Aufgrund dieser Relevanz steht im Folgenden die Sicht der Soldaten im Fokus. Dabei wird untersucht, wie die Soldaten ihren Einsatz und dessen Erfolgsaussichten wahrnehmen, ob sie sich mit ihrem Mandat identifizieren und wie sie den Rückhalt im Heimatland einschätzen. Darüber hinaus wird geprüft, ob diese Einstellungen von der Zahl der bislang absolvierten Einsätze abhängen und ob es Soldatengruppen gibt, die systematisch die Sinnhaftigkeit und Erfolgsaussichten einer Mission positiver oder negativer bewerten (Abs. IV.). Zuvor wird jedoch der politikwissenschaftliche und militärsoziologische Diskussionsstand zur Thematik skizziert (Abs. II.) und die Untersuchungsbasis vorgestellt (Abs. III.).

II. Sozialwissenschaftliche Anknüpfungspunkte: Einsatzmotivation, Evaluierung und Innere Führung In der wissenschaftlichen Literatur finden sich drei Kontexte, in denen die Sicht der Soldaten auf die Einsätze von Relevanz ist. Erstens lässt sich in der Militärsoziologie eine bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreichende Forschungsdebatte nachzeichnen, die den Bezug zwischen den soldatischen Einstellungen und der Bereitschaft zum Einsatz bzw. Kampf analysiert. Zweitens haben in der Politikwissenschaft gegenwärtig Modelle zur Evaluierung von Einsätzen Konjunktur. Anhand diverser Indikatoren wird versucht, die Stärken und Schwächen von militärischen und zivilen Maßnahmen bei der Konfliktbewältigung und beim Wiederaufbau von Staaten und Gesellschaften festzumachen. Drittens unterscheidet die Konzeption der Inneren Führung die Bundeswehr von anderen Streitkräften. Demnach ist es gewollt, dass der Soldat seine Einsatzmotivation aus der Einsicht in seinen Auftrag und den 2

Vgl. Biehl (2005).

Hohe Identifikation und nüchterner Blick

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Sinn seines Einsatzes schöpft. Die einschlägige Forschung belegt, dass es für dieses normative Gebot durchaus eine empirische Grundlage gibt. 1. Einsatzmotivation und Kampfmoral Die Frage nach der Motivation des Soldaten für sein Handeln, für seine Bereitschaft zu Kampf und Einsatz ist ein Kernthema der Militärsoziologie. Die ersten systematischen Studien, die Standards empirischer Sozialforschung folgen und teilweise sogar setzen, führten US-amerikanische Wissenschaftler im Zweiten Weltkrieg durch. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Auffassung verbreitet, Soldaten kämpften, weil sie dazu gezwungen werden oder weil sie bereit sind, für ein größeres Ziel, sei es eine Religion, eine Nation oder eine Ideologie, ihr Leben einzusetzen. Diesen Vermutungen traten die Untersuchungen von Samuel Stouffer et al.3 bei amerikanischen Soldaten und von Edward Shils und Morris Janowitz4 bei Wehrmachtsangehörigen entgegen. Demnach sind es nicht politische, religiöse und ideologische Überzeugungen, die den Soldaten zum Kampf anhalten, sondern der soziale Zusammenhalt im Militär. Wenn der Soldat fest in seine Primärgruppe aus Kameraden und unmittelbaren Vorgesetzten eingebunden ist, dann zeigt er sich eher bereit, seinen Auftrag auszuführen und auch in die Gefahr hinein zu handeln. Diese These hat in der Wissenschaft und in den Streitkräften außergewöhnliche Resonanz erfahren und wirkt bis in die Gegenwart fort. Dabei gibt es seit geraumer Zeit Untersuchungen, die die Ergebnisse von Stouffer et al. sowie Shils und Janowitz relativieren. Die erste wesentliche Analyse, die sich kritisch von den Studien aus dem Zweiten Weltkrieg absetzt, stammt von Charles Moskos.5 Der Autor begleitete in den Jahren 1965 und 1967 zwei Infanterieeinheiten in Vietnam und befragte die Soldaten vor Ort. Im Ergebnis erkennt Moskos die Wirkweise des soldatischen Zusammenhalts zwar an, relativiert jedoch deren Stellenwert. Vor allem aber betont er die Relevanz inhaltlicher Überzeugungen für das soldatische Handeln. Das besondere Verdienst von Moskos ist es, die ambivalente Art und Weise aufzuzeigen, mit der die ‚Überzeugung von dem Wert des größeren sozialen Systems‘ auf die Soldaten wirkt. Dazu führt er aus: „Diese Überzeugung braucht nicht förmlich artikuliert, vielleicht nicht einmal bewusst erkannt zu werden. Doch in einem gewissen Grade muss der Soldat, wenn auch nicht das spezifische Kriegsziel, dann doch wenigstens den Zustand des Sozialsystems, dem er angehört, als allgemein gerecht und annehmbar bewerten. Obwohl es ohne Zweifel richtig ist, dass amerikanische Soldaten es vermeiden, 3 4 5

Vgl. Stouffer et al. (1949). Vgl. Shils/Janowitz (1948). Vgl. Moskos (1968).

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Heiko Biehl und Jörg Keller

offen ideologische Regungen zu zeigen und äußerst zurückhaltend sind, patriotische Reden zu führen, darf das nicht das Vorhandensein von mehr latenten Überzeugungen von der Legitimität, ja sogar von der Überlegenheit der amerikanischen Lebensweise (‚American way of life‘) verdecken.“6 Diese Überzeugung bezeichnet Moskos als „latente Ideologie“, der wiederum ein anti-ideologischer Reflex zueigen ist: „Übereinstimmend legen amerikanische Kampfsoldaten eine profunde Skepsis gegenüber politischen und ideologischen Losungen an den Tag. Paradoxerweise ist Anti-Ideologie ein beständiger und integraler Bestandteil des Überzeugungssystems der Soldaten.“7 Moskos gelingt es, die subtile Dialektik von Identifikation mit dem eigenen System und gleichzeitiger verbaler Distanzierung von ‚denen da oben‘ bzw. dem Einsatzzweck nachzuzeichnen. Im Folgenden gilt es, diese komplexen Zusammenhänge im Blick zu behalten, wenn das Meinungsbild der deutschen Soldaten zu ihrem Einsatz und den politischen Zielen und Entscheidungsträgern analysiert wird. 2. Evaluierung von Einsätzen Das Engagement der Bundesrepublik Deutschland und die Missionen der Bundeswehr in den Krisengebieten auf dem Balkan, am Horn von Afrika und in Afghanistan geht mit erheblichen Belastungen einher und bindet beträchtliche Ressourcen. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Gefahr für Leib und Leben der Soldatinnen und Soldaten, die Einsätze erfordern auch einen hohen finanziellen Aufwand. Seit 1992 sind insgesamt rund 11 Milliarden Euro für Auslandseinsätze ausgegeben worden.8 Es verwundert daher nicht, dass in letzter Zeit das Interesse von Politik, Streitkräften und Wissenschaft an der Evaluierung der Einsätze zunimmt. Neben Anfragen im Deutschen Bundestag kann dieses Interesse am Friedensgutachten 2007 festgemacht werden, welches „Militäreinsätze auf dem Prüfstand“9 sah. Dabei geht das wissenschaftliche Interesse an einer substanziellen Evaluierung der Einsätze über interne Optimierungsbemühungen hinaus.10 Bundeswehrintern erhöhte sich die Aufmerksamkeit für die Thematik, als im Sommer 2006 der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wolfgang Schneiderhan, den Auftrag 6

Ebenda, S. 210. Ebenda, S. 211. 8 Quelle: http://www.welt.de/welt_print/article3041489/Auslandseinsaetze-derBundeswehr-kosteten-bisher-11-Milliarden.html. (Artikel vom 17. Januar 2009, letzter Zugriff: 08. April 2009). – Zum Problem einer umfassenden ökonomischen Analyse der Auslandseinsätze vgl. den Beitrag von Bayer in diesem Band. 9 Vgl. Friedensgutachten (2007). 10 Vgl. Mair (2007); Perthes (2007); Naumann (2008). 7

Hohe Identifikation und nüchterner Blick

125

erteilte, neben dem bereits etablierten Einsatzcontrolling und den unterschiedlichen Verfahren der ‚Lessons Learned‘ ein Wirksamkeitsmonitoring zu entwickeln. All diese Aktivitäten deuten auf ein verstärktes Interesse an einer politisch-strategischen Bewertung der Auslandseinsätze der Bundeswehr hin. Bisher ist allerdings kaum ins Blickfeld geraten, wie die Soldaten ihre Einsatzaufträge beurteilen. Die bisherigen Evaluierungsansätze sind vornehmlich als Ziel- und Mittelkritik auf einer strategischen Makro-Ebene angelegt, obwohl in der Umsetzung die Ansichten und Einstellungen der vor Ort handelnden Individuen eine herausragende Rolle spielen. Sie stellen einen entscheidenden Faktor auf dem Weg zum Erfolg der politisch gewollten und angeordneten Missionen dar. Es ist daher geboten zu beleuchten, wie die betroffenen Soldatinnen und Soldaten ihre Einsätze erleben und bewerten. 3. Innere Führung als normatives Ideal der Bundeswehr Die zentrale Figur der Organisationsphilosophie der Bundeswehr, der Inneren Führung, ist der Staatsbürger in Uniform. In ihm finden der freie und mündige Staatsbürger und der Soldat, der kraft seiner Gewissensentscheidung in den Streitkräften dient und auf dieser Basis seine Aufträge erfüllt, zueinander.11 Dem steht das traditionelle Soldatenbild entgegen, wonach der Einsatz befohlen ist, der Soldat zu gehorchen hat und ihm kein eigenes Urteil über die Legitimität seines Tuns zugestanden bzw. abverlangt wird. Für die Innere Führung ist es hingegen zentral, dass der Soldat seinen Auftrag bejaht, ihn mitträgt und somit grundsätzlich motiviert ist, diesen zu erfüllen. Wörtlich heißt es hierzu in der einschlägigen Vorschrift, dass Innere Führung das Ziel verfolgt, „die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Dienens zu beantworten, d.h. ethische, rechtliche, politische und gesellschaftliche Begründungen für soldatisches Handeln zu vermitteln und dabei den Sinn des militärischen Auftrages, insbesondere bei Auslandseinsätzen, einsichtig und verständlich zu machen“12. Die Innere Führung transportiert damit nicht das Bild vom gehorchenden Untertan, sondern die Vorstellung eines freien, sich selbst zum Gehorsam entscheidenden Staatsbürgers in Uniform. Bis zu welchem Grade diese konzeptionellen Vorgaben eingelöst sind, lässt sich nur empirisch beantworten. Die Antwort auf die Frage, ob die Soldatinnen und Soldaten die politische Entscheidung zu ihrem Einsatz mittragen und ob sie sich ein eigenständiges Urteil bilden, gibt folglich Hinweise auf den Realisierungsgrad der Inneren Führung in der Bundeswehr. 11 Zur Inneren Führung und zur Gewissensfreiheit des Soldaten vgl. die Beiträge von von Rosen und von Gillner in diesem Band. 12 ZDv 10/1, Zi. 401.

126

Heiko Biehl und Jörg Keller

III. Methode und Datenlage: Mix aus qualitativen und quantitativen Methoden Bei der Untersuchung von Auslandseinsätzen ist international das üblich, was in den Sozialwissenschaften stets gefordert, aber allzu selten eingelöst wird: Die Integration sozialwissenschaftlicher Methoden. Auch die folgenden Auswertungen stützen sich auf Untersuchungen, in denen quantitative Befragungen, qualitative Interviews, Fokusgruppendiskussionen und teilnehmende Beobachtungen kombiniert wurden. Basis ist das Projekt ‚Sozialwissenschaftliche Begleitung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr‘ des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (‚SOWI‘) in Strausberg. Nach einschlägigen Vorläuferprojekten von Martin Bock, Ulrike NikuttaWasmuht und Anja Seiffert bei SFOR-Soldaten in Bosnien sowie von Heiko Biehl, Ulrich vom Hagen und Reinhard Mackewitsch bei KFOR-Soldaten im Kosovo etablierte das SOWI 2003 das multidisziplinär angelegte Forschungsprojekt. Auftraggeber ist der Führungsstab der Streitkräfte im Bundesministerium der Verteidigung. Neben anderen Untersuchungsschwerpunkten bestand die Aufgabe des Projektes darin, die Einstellungen der Soldatinnen und Soldaten zu den Auslandseinsätzen und zur Bundeswehr generell, ihr berufliches Selbstverständnis und ihre Motivation für Auslandseinsätze zu untersuchen. Aus den Erhebungen sind wissenschaftliche Publikationen, zahlreiche Gutachten für den internen Gebrauch sowie Ergebnispräsentationen auf diversen Foren hervorgegangen. Das Forschungsprojekt ist mit VertreterInnen der Ethnologie, Politikwissenschaft, Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft multidisziplinär angelegt. Ein Teil der Untersuchungen wurde parallel mit ausländischen Institutionen (etwa Universität Rom III, Landesverteidigungsakademie Wien, Schweizer Psychologisch-Pädagogischer Dienst) durchgeführt. Im Rahmen des Projekts wurden Untersuchungen bei SFOR (2003/2004), KFOR (2004, 2005, 2007), ISAF (2003, 2004) und EUFOR RD CONGO (2007) mit unterschiedlichen Schwerpunkten durchgeführt. Neben den schriftlichen Befragungen begleiteten die Sozialwissenschaftler die deutschen Soldaten bei ihren Einsätzen in Bosnien und in Afghanistan. Die folgenden Auswertungen stützen sich auf die Befragungen bei SFOR und ISAF.13

13

Die in den Analysen verwendeten Daten stammen aus den Jahren 2003 und 2004. Trotz des zeitlichen Abstandes zeigen sich grundlegende Muster soldatischer Einstellungen, die jenseits der Spezifika von Einsatzregionen und -kontingenten Bestand haben. Angesichts der sich zuspitzenden Situation in Afghanistan ist von Interesse, ob die für 2009/10 geplante ISAF-Untersuchung des SOWI abweichende Haltungen der Soldaten zum Sinn und Zweck sowie zu den Erfolgsaussichten ihrer Mission zu Tage fördert.

Hohe Identifikation und nüchterner Blick

127

Die Befragungen fanden jeweils vor Ort statt. Mit der praktischen Durchführung (Verteilung und Rücknahme der Fragebogen) wurden – zuvor vom Forscherteam eingewiesene – Projektoffiziere betraut. Alle Soldaten konnten an den Befragungen anonym teilnehmen. Da die Untersuchung auf freiwilliger Basis stattfand, hat nur ein Teil der Soldaten die Fragebogen ausgefüllt. Die folgende Tabelle 1 weist den Rücklauf sowie die Zusammensetzung der Kontingente und der Stichproben aus. Tabelle 1 Profil Einsatzkontingente und Befragungsdatensätze Einsatzbefragung 7. Einsatzkontingent SFOR im Oktober 2003 Offiziere Soll-Stärke

Unteroffiziere Mannschaften

Gesamt

156

564

404

1124

14

50

36

100

Mit Nennung Dienstgrad

60

197

98

355

Anteile Dienstgrad in Prozent

28

56

17

100

Anteil des Solls in Prozent Rücklauf [Anzahl (Prozent)]

439 (39)

Einsatzbefragung 8. Einsatzkontingent SFOR im Januar 2004 Offiziere Soll-Stärke Anteil des Solls in Prozent

Unteroffiziere Mannschaften

201

624

464

1289

16

48

36

100

103

320

187

610

17

53

31

100

Rücklauf [Anzahl (Prozent)] Mit Nennung Dienstgrad Anteile Dienstgrad in Prozent

Gesamt

688 (53)

Einsatzbefragung 5. Einsatzkontingent ISAF im Mai 200414 Offiziere Soll-Stärke Anteil des Solls in Prozent

Unteroffiziere Mannschaften

264

920

439

1623

16

57

27

100

120

365

120

605

20

60

20

100

Rücklauf [Anzahl (Prozent)] Mit Nennung Dienstgrad Anteile Dienstgrad in Prozent

14

Gesamt

647 (40)

Befragt wurden der deutsche Anteil KABUL MULTINATIONAL BRIGADE (Kabul), das deutsche Einsatzkontingent in Kunduz und die Einsatzgruppe in Termez (Usbekistan).

128

Heiko Biehl und Jörg Keller

Die Rücklaufquoten der Befragungen liegen zwischen 39 Prozent und 53 Prozent. Dies entspricht den Werten, die das SOWI bei Befragungen von Soldaten mit freiwilliger Teilnahme normalerweise erreicht. Sie sind ausreichend, um auf die Gesamtheit der Soldaten in den Kontingenten schließen zu können. Bei den meisten Befragungen zeigen sich leichte Verzerrungen insofern, als Mannschaftssoldaten sich unterdurchschnittlich und Offiziere sich überdurchschnittlich an den Befragungen beteiligen. Dies kommt angesichts unterschiedlicher Hintergründe (Lebensalter, Einbindung in die Streitkräfte, Bildungsabschluss) wenig überraschend. Die Qualität der Befragungsdaten wird dadurch kaum gemindert, da eine hohe Homogenität in den Antworten verschiedener Streitkräftegruppierungen besteht (vgl. Abs. IV). Begleitend zur Untersuchung mittels Fragebogen suchte das Team des SOWI die Kontingente persönlich auf, um neben dem quantitativen Datenmaterial auch unmittelbare Eindrücke aus den Einsätzen zu gewinnen und das Untersuchungsmaterial durch qualitative Interviews zu verdichten. Außerdem nahm es an Abschnitten der Einsatzvorbereitung sowie an Einsatznachbereitungsseminaren teil. Die nachfolgenden Auswertungen stützen sich vornehmlich auf die schriftlichen Befragungen. An die Befragungen von streitkräfteinternen Instituten wird zuweilen die Kritik herangetragen, dass die Soldaten ihre Antworten an den Kriterien sozialer Erwünschtheit ausrichten. Demnach würde ein Teil der Soldaten nicht seine eigene Meinung kundtun, sondern sich entsprechend den wahrgenommenen Vorgaben der politischen Leitung und militärischen Führung äußern.15 Gerade im Zusammenhang mit den Zielen und der Bewertung der Einsätze könnte dies zum Tragen kommen, da diese als politisch bestimmt – etwa durch das in der Inneren Führung gesetzte Primat der Politik – erfahren werden. Zugleich könnte das Bekenntnis zu den Einsatzzielen dazu dienen, von anderen Motivationslagen der Soldaten, etwa finanziellen Anreizen, abzulenken. Ebenso plausibel erscheint aber auch die Gegenposition, wonach Soldaten in ihren Äußerungen keinerlei Rücksichten auf politische Setzungen und Vorgaben nehmen. So könnten sich die Befragten kritisch zu dem Sinn und Zweck ihres Einsatzes positionieren, da solche Distanzierungen im militärischen Kontext durchaus gepflegt werden. In der Militärsoziologie ist dieses Phänomen jedenfalls hinlänglich bekannt und beschrieben.16 Moskos hat, wie bereits dargestellt, die Dialektik aus inhaltlicher Zustimmung zum Einsatz und der soldatischen Negierung dieser Relevanz nachgezeichnet. Dieser Dualismus könnte auch in der Bundeswehr bestehen und die Wirkung sozial (mutmaßlich) erwünschten Antwortverhaltens mildern. Zusätzlich wurden im Projekt mehrere methodische Vorkehrungen ge15 16

Vgl. Braun (1985), S. 146. Vgl. Janowitz (1971, zuerst 1960), S. 225.

Hohe Identifikation und nüchterner Blick

129

troffen, um den Beeinträchtigungen durch kalkulierendes Antwortverhalten entgegenzuwirken. So fanden diverse Skalen und Items Verwendung, die mit unterschiedlichen Formulierungen den gleichen Bereich thematisieren. Wiederholte Befragungen ermöglichen differenzierte Vergleiche und relationale Aussagen. Ferner wurden im Projekt direkte Abfragen von Motiven und Einstellungen mit indirekten analytischen Verfahren sowie quantitative und qualitative Verfahren verbunden. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Befragungen anonym und freiwillig durchgeführt wurden. Von daher wird niemand für seine Aussagen haftbar gemacht oder zu politischen Bekenntnissen gezwungen. All diese Vorkehrungen sollten zur Reduzierung sozial erwünschten Antwortverhaltens beitragen.

IV. Ergebnisse: Hohe Identifikation und nüchterner Blick Die soldatischen Einstellungen zum Einsatz umfassen mehrere Perspektiven. Auf einer ersten Ebene ist zu bestimmen, ob sich die Soldaten überhaupt für die politische Dimension des Einsatzes und der Einsatzziele interessieren. Ebenso vorstellbar wäre eine der Inneren Führung entgegen stehende Haltung. Demnach verstände sich das Gros der Bundeswehrsoldaten als handlungsorientierte Professionalisten, die sich alleine auf die militärische Umsetzung konzentrieren und die inhaltliche Konturierung und Legitimierung den verantwortlichen Politikern überlassen. In einem solch traditionellen Verständnis wird der Einsatz befohlen, der Soldat hat zu gehorchen und es wird ihm kein eigenes Urteil über die Legitimität des Tuns abverlangt. Gelegentlich ist in Zusammenhang mit den zunehmenden Einsätzen der Bundeswehr die Befürchtung geäußert worden, dass sich in den deutschen Streitkräften ein solch unpolitischer Einsatzprofi zunehmend etabliere.17 Um zu prüfen, ob dieser Verdacht berechtigt ist oder ob die Mehrzahl der Soldaten den Vorgaben der Inneren Führung entsprechen, wird die Position zur Aussage „Unser Einsatz hier ist politisch gewollt. Ich muss mir deshalb keine großen Gedanken über Sinn und Zweck des Auftrages machen.“ erfragt. Die weit überwiegende Mehrheit der Soldaten und Soldatinnen geht nicht einfach auf Befehl in den Einsatz, sie reflektieren Sinn und Zweck ihres Auftrages, auch dann, wenn das Parlament die Mission mandatiert hat (Tabelle 2). Bemerkenswert ist, dass dies über alle Dienstgradgruppen hinweg gilt. Auch bei den Mannschaftssoldaten, die eine viel geringere Sozialisation in der Armee aufweisen und denen man gemeinhin ein geringeres politisches Verständnis und Interesse zuschreibt, sind es mehr als 60 respektive 61 Prozent, die sich ein eigenes Urteil bilden (wollen). Dieses Ergebnis 17

Vgl. Seiffert (2005); Kümmel (2007).

130

Heiko Biehl und Jörg Keller Tabelle 2 Notwendigkeit inhaltlicher Überzeugung

Unser Einsatz hier ist politisch gewollt. Ich muss mir deshalb keine großen Gedanken über Sinn und Zweck des Auftrages machen.

Stimme zu Teils-teils Lehne ab Anzahl

7. Einsatzkontingent SFOR

8. Einsatzkontingent SFOR

9 37 63 432

9 26 74 680

Anm.: ‚Stimme zu‘ ist die Prozentwertsumme aus ‚stimme voll und ganz zu‘ und ‚stimme eher zu‘. ‚Lehne ab‘ ist die Prozentwertsumme aus ‚stimme eher nicht zu‘ und ‚stimme überhaupt nicht zu‘.

stützt die Vorgaben der Inneren Führung, stellt aber zugleich eine Forderung an die Politik: Die Soldaten wollen von ihrem Einsatz überzeugt werden und den notwendigen Rückhalt in Politik wie Gesellschaft erfahren. Wenn folglich eine Orientierung auf den Sinn und Zweck der Mission bei den deutschen Soldaten vorausgesetzt werden kann, dann ist im nächsten Schritt die inhaltliche Zustimmung zu den Einsatzzielen zu differenzieren: Zuerst gilt es zu prüfen, ob die Befragten die Entsendung der Bundeswehr grundsätzlich gutheißen. Daran schließt sich die Frage nach der Identifikation mit dem konkreten Mandat und den Aufgaben vor Ort an. Davon unabhängig sind die Erfolgsaussichten der Mission zu betrachten. Bewertet der Befragte diese positiv, so kann er schließlich Stolz auf die eigene Leistung bzw. auf die seines Kontingents oder der Bundeswehr insgesamt entwickeln. Tabelle 3 verdeutlicht, dass die Soldaten mit großer Mehrheit die Entsendung der Bundeswehr auf den Balkan gutheißen. Über 80 Prozent stützen eine entsprechende Aussage, nur ein geringer Teil spricht sich grundsätzlich dagegen aus. Ebenfalls mehrheitlich wird der Afghanistaneinsatz durch die Befragten des 5. Einsatzkontingents ISAF unterstützt, wenn auch – wie zu erwarten – auf niedrigerem Niveau: Zwei Drittel halten die Entscheidung, die Bundeswehr nach Zentralasien zu entsenden, für sinnvoll. Dies tut der Identifikation mit dem Einsatz und den gestellten Aufgaben jedoch keinen Abbruch – im Gegenteil: Sowohl bei SFOR als auch bei ISAF steht eine Mehrheit der Befragten hinter dem Auftrag und den konkreten Aufgaben ihrer Missionen. Dabei ist der Befund, dass sich anteilsmäßig mehr ISAFSoldaten zu ihren Aufgaben bekennen, auf die im Vergleich zu SFOR geringere Routine zurückzuführen. Zugleich bekennt sich ein bemerkenswert hoher Teil der Soldaten in Bosnien und Afghanistan dazu, stolz auf den

Hohe Identifikation und nüchterner Blick

131

Tabelle 3 Identifikation mit dem Einsatz und seinen Zielen Die politische Entscheidung, die Bundeswehr nach Bosnien-Herzegowina (bzw. nach Afghanistan) zu senden, war richtig.

Stimme zu Teils-teils Lehne ab Anzahl

7. Einsatzkontingent SFOR

8. Einsatzkontingent SFOR

5. Einsatzkontingent ISAF

85 14 2 436

85 13 3 682

66 24 10 637

Ich stehe hinter dem Auftrag des deutschen SFOR-Kontingentes (bzw. ISAF-Kontingents).

Stimme zu Teils-teils Lehne ab Anzahl

7. Einsatzkontingent SFOR

8. Einsatzkontingent SFOR

5. Einsatzkontingent ISAF

72 21 7 435

77 17 5 685

79 17 4 632

Ich identifiziere mich mit den mir gestellten Aufgaben.

Stimme zu Teils-teils Lehne ab Anzahl

7. Einsatzkontingent SFOR

8. Einsatzkontingent SFOR

5. Einsatzkontingent ISAF

60 28 12 436

69 24 7 680

81 14 5 641

Ich bin stolz, Soldat des deutschen SFOR-Kontingentes (bzw. ISAF-Kontingents) zu sein.

Stimme zu Teils-teils Lehne ab Anzahl

7. Einsatzkontingent SFOR

8. Einsatzkontingent SFOR

5. Einsatzkontingent ISAF

63 26 12 437

59 30 12 679

77 17 6 634

Anm.: ‚Stimme zu‘ ist die Prozentwertsumme aus ‚stimme voll und ganz zu‘ und ‚stimme eher zu‘. ‚Lehne ab‘ ist die Prozentwertsumme aus ‚stimme eher nicht zu‘ und ‚stimme überhaupt nicht zu‘.

132

Heiko Biehl und Jörg Keller Tabelle 4 Erfolg und Erfolgsaussichten der Einsätze

Durch den Einsatz der Bundeswehr wird den Menschen in Bosnien-Herzegowina (bzw. Afghanistan) geholfen.

Stimme zu Teils-teils Lehne ab Anzahl

7. Einsatzkontingent SFOR

8. Einsatzkontingent SFOR

5. Einsatzkontingent ISAF

76 22 2 436

80 16 3 685

75 21 4 643

Letztendlich ist der Einsatz in Bosnien-Herzegowina (bzw. Afghanistan) nutzlos, da es keine grundlegenden Verbesserungen gibt.

Stimme zu Teils-teils Lehne ab Anzahl

7. Einsatzkontingent SFOR

8. Einsatzkontingent SFOR

5. Einsatzkontingent ISAF

8 21 71 436

10 22 68 684

9 18 73 635

Wenn die Armeen innerhalb der nächsten 10 Jahre abziehen, wird die Gewalt in Bosnien-Herzegowina (bzw. Afghanistan) wieder ausbrechen.

Stimme zu Teils-teils Lehne ab Anzahl

7. Einsatzkontingent SFOR

8. Einsatzkontingent SFOR

5. Einsatzkontingent ISAF

77 17 6 434

76 17 6 683

79 16 5 639

Anm.: ‚Stimme zu‘ ist die Prozentwertsumme aus ‚stimme voll und ganz zu‘ und ‚stimme eher zu‘. ‚Lehne ab‘ ist die Prozentwertsumme aus ‚stimme eher nicht zu‘ und ‚stimme überhaupt nicht zu‘.

eigenen Einsatz zu sein. Dass der entsprechende Anteil bei ISAF höher liegt, dürfte nicht zuletzt am besonderen Charakter und den höheren Anforderungen und Gefährdungen der Mission liegen. Hinsichtlich der Erfolgschancen zeichnen die Soldaten ein differenziertes und durchaus realistisches Bild (Tabelle 4). So wird einerseits anerkannt, dass die Missionen notwendig sind, um der Bevölkerung vor Ort zu helfen.

Hohe Identifikation und nüchterner Blick

133

Jeweils mindestens drei Viertel der Befragten teilen die Ansicht, dass ihr Einsatz den Menschen in Bosnien und Afghanistan zugute kommt. Andererseits sehen die Befragten aber ebenso die weiter bestehenden Konfliktpotenziale und befürchten mehrheitlich, dass bei Abzug der Streitkräfte die Gewalt wieder ausbrechen würde (wobei interessanterweise kein substanzieller Unterschied zwischen Bosnien und Afghanistan zu beobachten ist). Aus beidem leitet eine überwältigende Mehrheit der Soldaten ab, dass ein längerfristiges Engagement der Bundeswehr (wie anderer Organe der internationalen Gemeinschaft) notwendig bleibt, um die Einsatzgebiete dauerhaft zu stabilisieren. Insgesamt erkennen die Soldaten damit die bisherigen Erfolge an, sie sehen aber auch nüchtern die weiterhin bestehenden Schwierigkeiten und Konfliktpotenziale. Somit richten sie sich auf langfristige und mitunter schwierige Einsätze ein. Inwiefern die dazu notwendige Ausdauer besteht, hängt nicht zuletzt von der Stimmungs- und Debattenlage in Deutschland ab. Hierbei hegen die Soldaten mit Blick auf Bevölkerung, Politik und Medien gewisse Zweifel. Nach dem Dafürhalten der Soldaten ist der Rückhalt aus dem Heimatland durchaus gegeben, wenn auch nicht im gewünschten Maße (Tabelle 5). Dass die Bevölkerung den Einsatz unterstützt, sagt nicht mal ein Drittel der Befragten. Dies steht in gewissem Kontrast zu den vorliegenden Umfragen, die seit Jahren zumindest eine breite Unterstützung der SFOR-Mission belegen.18 Offensichtlich beobachten die Soldaten sehr genau und sensibel öffentliche Kontroversen über den Sinn und Zweck von Einsätzen (etwa Afghanistan) bzw. registrieren die Abwesenheit öffentlicher Aufmerksamkeit (Bosnien). Hinzu kommt sicherlich die für Soldaten typische und in der Militärsoziologie bekannte Erwartung öffentlicher Anerkennung. Der Verweis auf fehlende Unterstützung der zivilen Gesellschaft ist fast schon ein Stereotyp militärischer Selbststilisierungen.19 Dies gilt es auch angesichts des nur als durchschnittlich wahrgenommenen politischen Rückhalts zu beachten. Jeweils über ein Drittel kann diesen erkennen, wobei das Meinungsbild unter den ISAF-Teilnehmern polarisierter ausfällt als das der SFOR-Teilnehmer. Nicht uneingeschränkt positiv wird ebenfalls die Berichterstattung der Medien eingeschätzt, wobei auffällt, dass sich die Soldaten in Afghanistan wohlwollender äußern. Dies dürfte eher auf die fehlende Präsenz des Bosnieneinsatzes in den Medien zurückzuführen sein als auf eine kritische Berichterstattung.20 Diese Zahlen legen eine Interpretation nahe, wie sie Moskos in seiner Vietnamstudie ausgearbeitet hat. Die Dialektik von latenter Ideologie und 18 19 20

Vgl. Bulmahn et al. (2008), S. 117 ff. Vgl. Janowitz (1971, zuerst 1960), S. 225. Zur Rolle der Medien vgl. den Beitrag von Reeb in diesem Band.

134

Heiko Biehl und Jörg Keller Tabelle 5 Wahrnehmung der Unterstützung durch Politik, Bevölkerung und Medien in Deutschland

Die deutsche Bevölkerung stimmt dem Einsatz der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina (bzw. in Afghanistan) überwiegend zu.

Stimme zu Teils-teils Lehne ab Anzahl

8. Einsatzkontingent SFOR

5. Einsatzkontingent ISAF

32 52 16 669

27 49 24 630

Die deutsche Politik steht hinter der Arbeit der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina (bzw. Afghanistan).

Stimme zu Teils-teils Lehne ab Anzahl

8. Einsatzkontingent SFOR

5. Einsatzkontingent ISAF

38 43 19 676

41 34 25 634

In den deutschen Medien wird im Großen und Ganzen objektiv und fair über den Einsatz berichtet.

Stimme zu Teils-teils Lehne ab Anzahl

8. Einsatzkontingent SFOR

5. Einsatzkontingent ISAF

31 40 28 676

38 40 23 631

Anm.: ‚Stimme zu‘ ist die Prozentwertsumme aus ‚stimme voll und ganz zu‘ und ‚stimme eher zu‘. ‚Lehne ab‘ ist die Prozentwertsumme aus ‚stimme eher nicht zu‘ und ‚stimme überhaupt nicht zu‘.

antiideologischen Reflexen der Soldaten führt dazu, dass diese sich in hohem Maße mit ihrem Einsatz und dessen Zielen identifizieren. Demgegenüber steht eine distanzierende bis ablehnende Haltung der medialen Berichterstattung, gesellschaftlichen Resonanz und ‚hohen Politik‘. Hierbei handelt es sich um eine Art von Anti-Eliten-Haltung, die es den Soldaten ermöglicht, sich als die entscheidenden Handlungsträger zu stilisieren, die vor Ort jene Leistungen erbringen, auf die es tatsächlich ankommt, um die Mission zum Erfolg zu führen. Dieser Mechanismus hilft ihnen dabei, ihre Situation,

Hohe Identifikation und nüchterner Blick

135

mitsamt den Belastungen und Gefährdungen, besser zu bewältigen. Damit etablieren die Soldaten eine Grenze, die zwischen ‚uns hier im Einsatzland‘ und ‚denen da im Heimatland‘ unterscheidet und dadurch Zugehörigkeit und Anerkennung determiniert. Als Beleg für diese Stereotypisierung mag der Umstand gelten, dass viele Soldaten die Besuche von militärischen Führern und Politikern im Einsatzland sehr kritisch betrachten und den Aufwand, den diese so genannte Dienstaufsicht verursacht, mit kritischem Unterton ins Verhältnis zu den Mitteln für die eigentliche Aufgabenerfüllung setzen. Die Position, selbst hinter der Mission zu stehen und sich zugleich über mangelnden medialen, gesellschaftlichen und politischen Rückhalt zu beklagen, kann nach innen, d.h. in das Einsatzkontingent hinein, durchaus integrativ wirken. Die Interpretation der Kritik an Einsatzzielen und politischen Entscheidungsträgern als anti-ideologischer Reflex birgt naturgemäß die Gefahr der Verharmlosung und Relativierung in sich, da die darin enthaltene tatsächliche (und berechtigte) Kritik an der Politik, den heimischen Medien und der Bevölkerung relativiert werden könnte. Allerdings darf die Analyse des sozialen Mechanismus nicht dahingehend verstanden werden, dass die Kritik der Soldaten per se unberechtigt wäre. Die Analyse anti-ideologischer Aussagen der Soldaten dient lediglich dazu, diese einzuordnen. Substanzielle Aussagen über Ausmaß und Verlauf soldatischer Unzufriedenheiten sind aber erst möglich, wenn vergleichbare und dichtere Daten zu mehreren Einsätzen und Kontingenten vorliegen. Anhand der hier präsentierten Befragungsergebnisse lässt sich ein Vertrauensschwund in die Einsätze oder in die Politik jedenfalls noch nicht ablesen. Ungeachtet dessen bleibt es Aufgabe der politisch und militärisch Verantwortlichen, der Substanz der soldatischen Kritik am Einsatz wirkungsvoll zu begegnen. Problematisch wird die Existenz anti-ideologischer Muster, wenn die Distanz zwischen Insidern und Outsidern, zwischen ‚uns hier im Einsatz‘ und ‚denen da in der Heimat‘ zunimmt. Dies könnte Schwierigkeiten bei der individuellen Reintegration der Soldaten in ihr ziviles Umfeld nach sich ziehen und der Ausbildung einer politisch, militärisch und gesellschaftlich nicht gewollten militärischen Subkultur Vorschub leisten. Von daher gilt es zu beobachten, ob die wachsende Zahl von Missionen und die zunehmende Einsatzbelastung entsprechende Tendenzen befördern. Einen empirisch abgesicherten Aufschluss über eine solche Fehlentwicklung kann wiederum nur die dauerhafte Begleitung und Untersuchung der Einsatzkontingente liefern. Eine Möglichkeit, erste Hinweise auf entsprechende Entwicklungen zu erhalten, bietet jedoch der differenzierte Vergleich von Kontingentteilnehmern mit unterschiedlicher Einsatzerfahrung. Schließlich engagiert sich die Bundeswehr mittlerweile seit fast zwei Jahr-

136

Heiko Biehl und Jörg Keller

zehnten in Auslandseinsätzen. Dies hat – gemeinsam mit der Zunahme der Anzahl von Missionen – zur Folge, dass Einsätze nicht nur für die Bundeswehr als Organisation, sondern auch für viele ihrer Soldaten mehr und mehr zur Routine werden. Zahlreiche Angehörige der Streitkräfte, insbesondere länger dienende Zeitsoldaten und Berufssoldaten, waren mittlerweile zum wiederholten Male im Einsatz. Entsprechend häufen sich Klagen über die hohe Belastung.21 Neben der unmittelbar einsichtigen persönlichen Beanspruchung steht die Frage im Raum, ob die wiederholte Entsendung Zweifel bei den Soldaten an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns und der Missionen insgesamt fördert. Demjenigen, der bereits mehrfach im Einsatz war, könnten eher Bedenken hinsichtlich der Erfolgschancen und der politischen wie militärischen Perspektive kommen. Angesichts einer zuweilen nur schleppenden wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den Einsatzländern sollte es kaum überraschen, wenn bei diesem Teil der Soldaten die Identifikation mit der Mission verloren geht und die Ablehnung wächst. Um diese oftmals vorgebrachten Vermutungen zu testen, werden im Folgenden – exemplarisch anhand der Daten des 8. Einsatzkontingents SFOR – Soldaten mit unterschiedlich großer Einsatzerfahrung hinsichtlich ihrer Haltung zu den Missionen verglichen. Das Gros – rund zwei Drittel – der Soldaten ist mit dem 8. SFOR-Kontingent zum ersten Mal im Einsatz. Für knapp ein Viertel ist es die zweite, für acht Prozent die dritte Einsatzteilnahme. Immerhin sieben Prozent der Befragten sind bereits im Jahr 2004 vier Mal oder häufiger im Auslandseinsatz gewesen. Betrachtet man die in Tabelle 6 dokumentierten Zusammenhänge, dann fällt auf, dass die Einsatzhäufigkeit keinen entscheidenden Einfluss auf die Haltung zur Mission und deren Bewertung ausübt. Nur bei zwei Items zeigt sich der erwartete Effekt: So wird mit zunehmender Zahl der Einsätze ein geringerer Stolz darauf, Teil des Kontingents zu sein, empfunden. Daneben wird die Wahrscheinlichkeit eines Gewaltausbruchs bei Abzug der Streitkräfte höher eingeschätzt. Ein der vermuteten Richtung entgegengesetzter Effekt zeigt sich bei der Identifikation mit den Aufgaben, wobei der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang unklar bleibt: So könnten sich Soldaten, die mit speziellen, längerfristigen Aufgaben, etwa im Rahmen von CIMIC,22 betraut sind, vermehrt in die Einsätze melden. Umgekehrt könnte aber auch die wiederholte Teilnahme dazu führen, dass die Soldaten sich stärker über die ihnen anvertrauten Aufgaben definieren. Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass die Einsatzhäufigkeit keinen relevanten Einfluss auf die Wahrnehmung des Einsatzes durch die Soldaten ausübt. Die Fragen, ob man einen Einsatz für politisch sinnvoll und erfolgreich hält, ob man sich 21 22

Vgl. Deutscher Bundestag (2009), S. 17 f. Zu CIMIC vgl. den Beitrag von Mohrmann in diesem Band.

Hohe Identifikation und nüchterner Blick

137

Tabelle 6 Einstellungen zum Einsatz nach Anzahl bislang absolvierter Einsätze (8. Einsatzkontingent SFOR) 1. Einsatz 2. Einsatz 3. Einsatz 4. Einsatz oder mehr Anteil

62

22

8

Korrelation

7

Identifikation mit dem Einsatz und seinen Zielen Die politische Entscheidung, die Bundeswehr nach Bosnien-Herzegowina zu senden, war richtig. Ich stehe hinter dem Auftrag des deutschen SFOR-Kontingentes. Ich identifiziere mich mit den mir gestellten Aufgaben. Ich bin stolz, Soldat des deutschen SFOR-Kontingentes zu sein.

86

84

81

93

n. s.

78

74

78

84

n. s.

66

70

77

75

.11**

61

55

40

66

–.10*

Erfolg und Erfolgsaussichten der Einsätze Durch den Einsatz der Bundeswehr wird den Menschen in Bosnien-Herzegowina geholfen. Letztendlich ist der Einsatz in Bosnien-Herzegowina nutzlos, da es keine grundlegenden Verbesserungen gibt. Wenn die Armeen innerhalb der nächsten 10 Jahre abziehen, wird die Gewalt in BosnienHerzegowina wieder ausbrechen.

81

78

82

71

n. s.

8

8

20

9

n. s.

74

87

86

80

.08*

Wahrnehmung der Unterstützung durch Politik, Bevölkerung und Medien in Deutschland Die deutsche Politik steht hinter der Arbeit der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina. Die deutsche Bevölkerung stimmt dem Einsatz der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina überwiegend zu. In den deutschen Medien wird im Großen und Ganzen objektiv und fair über den Einsatz berichtet. Anzahl

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Anm.: Ausgewiesen ist die Prozentwertsumme aus ‚stimme voll und ganz zu‘ und ‚stimme eher zu‘. Signifikanzniveaus: *: p < :05; **: p < :01, n. s. = nicht signifikant.

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Heiko Biehl und Jörg Keller

mit ihm identifiziert und einen Rückhalt im Heimatland ausmacht, hängt somit kaum davon ab, wie oft man bereits im Auslandseinsatz war. Als Erklärung für diesen eher unerwarteten Befund ist in Erinnerung zu rufen, dass die Bundeswehr eine Organisation mit sehr hoher Personalfluktuation ist. Das Gros der Einsatzteilnehmer besteht eben nicht aus Berufssoldaten (22 Prozent), sondern aus Zeitsoldaten (55 Prozent), Freiwillig Wehrdienst Leistenden (12 Prozent) und Wehrübenden (11 Prozent). Aufgrund des nur kurz- bis mittelfristigen Verbleibs vieler Soldaten in der Bundeswehr ist davon auszugehen, dass ein Teil der Befragten es selbst in der Hand hat, die Häufigkeit der Einsatzteilnahme zu steuern. Wer familiäre, soziale oder persönliche Probleme mit dem Einsatz hat, wer dessen Zielstellungen nicht einsieht und mitträgt und wer für sich entschieden hat, an keiner weiteren Mission teilzunehmen, für den kann es durchaus beim einmaligen Einsatz bleiben. Ausgenommen hiervon sind eigentlich nur Berufssoldaten. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass diejenigen, die zum wiederholten Male ins Ausland gehen, sich mit den Einsätzen einigermaßen arrangiert haben, was naturgemäß nicht ausschließt, dass auch hier Schwierigkeiten auftreten können. Der permanente und extensive Personalaustausch der Streitkräfte stellt folglich ein probates Instrument dar, um die individuelle Einsatzbelastung zu reduzieren und den Soldaten, die mit den Anforderungen der Einsätze nicht zurechtkommen, die Möglichkeit zur beruflichen Neuorientierung zu bieten. Weiterführende Analysen belegen darüber hinaus, dass auch andere – für die Streitkräfte typische – soziodemographische Größen, wie Geschlecht, Alter, Dienstgrad- und Statusgruppe, keinen wesentlichen Einfluss auf die Bewertung des Einsatzes ausüben. Wie Tabelle 7 veranschaulicht, prägen militärdemographische Merkmale die Einstellungen zum Einsatz nur bedingt. Ein einheitliches Muster zeigt sich nur bei der Identifikation mit Auftrag und Aufgaben. Hier sind es die älteren und dienstgradhöheren (Berufs-)Soldaten, die sich stärker zu ihrer Aufgabe und der ihres Kontingents bekennen. Ansonsten entwickeln männliche Soldaten einen ausgeprägteren Stolz als weibliche. Diese wiederum äußern sich hinsichtlich der Frage, ob den Menschen im Einsatzland geholfen wird, skeptischer. Ältere Befragte und Berufssoldaten verspüren einen größeren Rückhalt in der Politik, Berufssoldaten befürchten zudem überproportional den Ausbruch der Gewalt nach Abzug der Bundeswehr. Trotz dieser Differenzierungen dominiert der Eindruck innermilitärischer Geschlossenheit. Entgegen der Auffassung vieler Soldaten spielen die betrachteten Kriterien keine relevante Rolle, wenn es um die Sicht auf den Einsatz geht. Dies heißt, dass das Bild der verschiedenen streitkräfteinternen Gruppierungen relativ homogen ausfällt. Damit bestätigen die Auswertungen eine ältere Studie von Guy Siebold und

Hohe Identifikation und nüchterner Blick

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Tabelle 7 Einstellungen zum Einsatz in diversen militärischen Gruppierungen (Signifikanzniveaus chi-Quadrat)

Die politische Entscheidung, die Bundeswehr nach Bosnien-Herzegowina zu senden, war richtig Ich stehe hinter dem Auftrag des deutschen SFOR-Kontingentes Ich identifiziere mich mit den mir gestellten Aufgaben Ich bin stolz, Soldat des deutschen SFORKontingentes zu sein Wenn die Armeen innerhalb der nächsten 10 Jahre abziehen, wird die Gewalt in Bosnien-Herzegowina wieder ausbrechen Durch den Einsatz der Bundeswehr wird den Menschen in Bosnien-Herzegowina geholfen Letztendlich ist der Einsatz in BosnienHerzegowina nutzlos, da es keine grundlegenden Verbesserungen gibt Die deutsche Politik steht hinter der Arbeit der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina Die deutsche Bevölkerung stimmt dem Einsatz der Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina überwiegend zu In den deutschen Medien wird im Großen und Ganzen objektiv und fair über den Einsatz berichtet

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Signifikanzniveaus: *: p < :05; **: p < :01, n. s. = nicht signifikant.

T. J. Lindsay23, die die geringe Erklärungskraft soziodemographischer Größen für soldatische Motivation und Kohäsion im US-amerikanischen Kontext belegt.

V. Die Politikbedürftigkeit des Militärischen Es bleibt festzuhalten, dass sich die Soldaten mit den politischen Prämissen ihrer Missionen auseinandersetzen und sich mit überwältigender Mehrheit zu diesen bekennen. Die allermeisten Befragten sehen den Sinn ihrer Mission ein, erkennen bereits erzielte Stabilisierungserfolge an und betonen 23

Vgl. Siebold/Lindsay (1999).

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Heiko Biehl und Jörg Keller

die Notwendigkeit langfristiger Engagements. Allerdings bestehen gewisse Zweifel, ob die politische, mediale und öffentliche Unterstützung vorhanden ist, um die Einsätze letzten Endes zum Erfolg zu führen. Dieses Muster wurde als Dialektik zwischen latenten Ideologien und anti-ideologischen Reflexen im Sinne Moskos‘ gedeutet. Aufgrund der bislang vorliegenden Daten lässt sich (noch?) nicht erkennen, dass die steigende Einsatzfrequenz und die zunehmende Anzahl von Soldaten, die bereits mehrfach im Auslandseinsatz waren, zu wachsenden Zweifeln an der Sinnhaftigkeit und den Erfolgschancen der Missionen führen. Von Seiten der Wissenschaft sollte den Einstellungen und Sichtweisen der Soldaten künftig zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zwar gibt es in der Militärsoziologie eine jahrzehntelange Forschungstradition zu diesem Bereich. Die vorhandenen Befunde und Erkenntnisse fließen jedoch kaum in sicherheitspolitische Analysen zu den Einsatzgebieten ein und sind allzu selten substanzieller Bestandteil der Debatte um die Methoden und Wege einer Evaluierung der Auslandsmissionen. Die präsentierten Befunde können ferner als Beleg für die empirische Wirkkraft der normativen Vorgaben der Inneren Führung gelesen werden. Die Führungsphilosophie der Bundeswehr, die häufig selbst anti-ideologischen Reflexen der Soldaten ausgesetzt ist, fordert den politisch interessierten Soldaten ein, der sich für die Zusammenhänge seines Tuns interessiert und hinter dem Auftrag der Bundeswehr steht. Die allermeisten Soldaten entsprechen diesem Bild und stellen einen hohen Anspruch an die politischen Entscheidungsträger. Die Soldaten der Bundeswehr wollen von ihren Aufgaben überzeugt werden. Auch ihnen – und nicht alleine den Medien und Wählern – sind die Einsätze plausibel zu machen und zu legitimieren. Die Verantwortung dafür liegt bei der Politik. Deshalb unterstreichen die vorgestellten Befunde nochmals die von Klaus Naumann eingeforderte „Politikbedürftigkeit des Militärischen“24. Literatur Biehl, Heiko (2005): Kampfmoral und Einsatzmotivation, in: Leonhard/Werkner 2005, S. 268–286. Braun, Michael (1985): Rationale Akteure und institutionelle Regelungen in Militärorganisationen. SOWI-Berichte Nr. 39. München: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr. Bulmahn, Thomas/Fiebig, Rüdiger/Greif, Stefanie/Jonas, Alexandra/Sender, Wolfgang/Wieninger, Victoria (2008): Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der Bevölkerungs24

Naumann (2008).

Hohe Identifikation und nüchterner Blick

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umfrage 2007 des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr. Strausberg: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr. Deutscher Bundestag (2009): Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten. Jahresbericht 2008. Berlin: Drucksache 16/12200. Friedensgutachten 2007 (2007): Hrsg. von Bruno Schoch et al. Münster: Lit-Verlag. Janowitz, Morris (1971, zuerst 1960): The Professional Soldier. A Social and Political Portrait, 2nd ed. New York/London: Free Press. König, René (Hrsg.) (1968): Beiträge zur Militärsoziologie. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 12). Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag. Kümmel, Gerhard (2007): Eine schwierige Melange – Das Bild des Soldaten der Bundeswehr im Wandel, in: IF – Zeitschrift für Innere Führung, 51: 1, S. 13–16. Leonhard, Nina/Werkner, Ines-Jacqueline (Hrsg.) (2005): Militärsoziologie. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Mair, Stefan (Hrsg.) (2007): Auslandseinsätze der Bundeswehr. Leitfragen, Entscheidungsspielräume und Lehren. Berlin: SWP-Studie S 27. Moskos, Charles C. (1968): Eigeninteresse, Primärgruppen und Ideologie, in: König 1968, S. 201–220. Naumann, Klaus (2008): Einsatz ohne Ziel. Die Politikbedürftigkeit des Militärischen. Hamburg: Hamburger Edition. Perthes, Volker (2007): Wie? Wann? Wo? Wie oft? Vier zentrale Fragen müssen vor dem Einsatz der Bundeswehr beantwortet werden, in: Internationale Politik, 62: 5, S. 16–21. Seiffert, Anja (2005): Der Soldat der Zukunft. Wirkungen und Folgen von Auslandseinsätzen auf das soldatische Selbstverständnis. Berlin: Köster. Siebold, Guy L./Lindsay, T. J. (1999): The Relation Between Demographic Descriptors and Soldier-Perceived Cohesion and Motivation, in: Military Psychology, 11: 1, S. 109–128. Stouffer, Samuel A. et al. (1949): The American Soldier. Studies in Social Psychology in World War II (Bd. 1–4). Princeton: Princeton University Press. ZDv 10/1: Zentrale Dienstvorschrift 10/1 Innere Führung, hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung. Bonn 2008.

Die Paradoxien des Soldatenberufs im Spiegel des soldatischen Selbstkonzepts Von Maja Apelt „Es ist ein Alptraum: Für die Familien in Afghanistan, für die Bundeswehrsoldaten. Für die Bundesregierung. Für den Bundestag. Drei Zivilisten, nach afghanischen Angaben eine Frau und zwei Kinder, sind an einem Checkpoint von afghanischer Polizei und deutschen ISAF-Soldaten in Nordafghanistan getötet worden. Die Opfer saßen in einem von zwei Fahrzeugen, die trotz heftiger Warnzeichen der Sicherheitskräfte auf den Kontrollposten zurollten. [. . .] Nach offiziellen Angaben ist es das erste Mal, dass Zivilisten am Hindukusch bei einem Zwischenfall mit deutschen ISAF-Soldaten starben – eineinhalb Tage nachdem eine Bundeswehrpatrouille nahe Kundus in eine Sprengfalle fuhr und ein 29 Jahre alter Hauptfeldwebel getötet wurde.“ (Zeit online 2008)1 Das Prestige der Bundeswehr in der Gesellschaft war in den neunziger Jahren so gut wie nie zuvor und danach. Deutsche Soldaten schleppten beim Jahrhunderthochwasser am Oderbruch Sandsäcke und zeigten sich in Bosnien und im Kosovo als ‚bewaffnete Sozialarbeiter‘. Auch der Einsatz in Afghanistan schien dieses Bild zu bestätigen und das positive Image zu stärken. Nach einem kurzen Krieg, der nicht nur Al Qaida zerstören sollte, schien die vordergründige Aufgabe der Soldaten in der Sicherung des friedlichen Aufbaus des Landes zu bestehen. In den Medien sah man sie vor allem in der Absicherung von Märkten und beim Aufbau und der Einweihung von Schulen.2 Inzwischen hat sich die Lage aber massiv verschlechtert. Im Süden kämpfen vor allem englische und amerikanische Einheiten im Rahmen der Operation Enduring Freedom (OEF) wieder gegen die Taliban, während im Norden, wo die Bundeswehr am Einsatz der Internationalen Unterstützungstruppe ISAF beteiligt ist, die Anzahl der terroristischen Anschläge wächst. In Politik und Öffentlichkeit wird diskutiert, ob die Bundeswehr in Afghanistan einen Krieg führt und ob sie sich an den Kämpfen in Südafghanistan beteiligen solle oder müsse. 1 Ich danke Cordula Dittmer, Christoph Jan Longen, Jens Warburg und Franka Winter für ihre kritischen Anmerkungen und Hinweise. 2 Vgl. den Beitrag von Reeb in diesem Band.

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Maja Apelt

Diese Lagebeschreibung ist aktueller Ausdruck einer grundsätzlich paradoxen Situation,3 in der sich die Streitkräfte moderner, demokratischer Staaten befinden und die – so meine These – durch drei zentrale Aspekte gekennzeichnet ist. Zum Ersten unterliegt die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols dem Paradox, dass durch die Monopolisierung der Gewalt in den Händen von Polizei und Militär die zivile Gesellschaft potentiell befriedet werden kann und Gewalt prinzipiell an Legitimation verliert. Das Problem für die Akteure4 des staatlichen Gewaltmonopols besteht dann darin, dass diese Delegitimierung auch auf sie zurückfällt. Sandsäcke tragende und Mädchenschulen einrichtende Soldaten finden in einer postheroischen Gesellschaft eher Akzeptanz als ihre kämpfenden Pendants.5 Das zweite Paradox bezieht sich auf die militärischen Einsätze in den Neuen Kriegen, in denen für die regulären Streitkräfte nicht mehr eindeutig ist, in welchem Verhältnis die Fähigkeit des Kämpfens zu anderen im Einsatz notwendigen Fähigkeiten steht. Soldaten müssen kämpfen können und gleichzeitig sozialpädagogische, diplomatische oder auch interkulturelle Kompetenzen erwerben. Unklar bleibt dabei, in welcher Situation sie welche Kompetenzen einsetzen müssen und wie sie situativ von einer Handlungsstrategie in eine andere wechseln können. Wie können sie erkennen, ob das Kind vor ihnen ein Spielzeuggewehr oder ein echtes in der Hand hält? Wie sollen sie wissen, ob die Person ihnen gegenüber eine ihnen freundlich gesinnte Frau in einer Burkha ist oder ob sie darunter einen Sprengstoffgürtel trägt? Und wie sollen sie sich dann verhalten? Daraus ergibt sich ein drittes Paradox, das der Professionalisierung: Soldaten müssen – ähnlich den Ärzten oder Juristen – neben den eigenen Kompetenzen auch Fähigkeiten erwerben, die aus anderen Berufsfeldern stammen. Zugleich benötigt der Soldatenberuf, um nicht von anderen Berufen verdrängt zu werden, eine spezifische Zuständigkeit und Kompetenz. Wie gehen die Angehörigen dieser Berufsgruppe damit um, wie sichern sie ihre berufliche Position und ihre berufliche Identität, wenn sie zunehmend mit anderen konkurrieren und sie die Sicherheit verlieren, eine ganz besondere Kompetenz zu besitzen? 3 Ich übernehme hier die Idee von Jens Warburg, die strukturellen und nichtauflösbaren Widersprüche in den Bedingungen militärischen Handelns mit dem Begriff der Paradoxie zu erfassen – vgl. dazu Warburg (2008) und (2009). Haltiner (2001) nutzt für eine ähnliche auf militärische Organisationen bezogene Bestandsaufnahme den Begriff des Dilemmas. Warburg zieht den Begriff der Paradoxie vor, weil Dilemmata den Akteuren bewusst sind, während Paradoxien zunächst latent wirken. 4 Der Begriff ‚Akteur‘ bezieht sich in dieser Arbeit stets auf die handelnden Personen. 5 Vgl. Münkler (2006).

Die Paradoxien des Soldatenberufs

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Dass der Beruf durch diese Paradoxien geprägt ist, bedeutet nicht notwendig, dass die Individuen diese als problematisch erleben müssen. Wie das Eingangszitat zeigt, können diese Paradoxien erstens zu schwerwiegenden Friktionen bei der Suche nach Handlungsstrategien und nach einer eigenen Positionierung im beruflichen Feld führen. Es könnte zweitens passieren, dass die Akteure diese Paradoxien zwar wahrnehmen, aber als unproblematisch und selbstverständlich erleben. Die dritte Möglichkeit bestünde darin, dass diese Paradoxien deshalb keine Irritationen hervorrufen, weil sie mehr oder weniger selbstverständlich zu jeweils einer Seite hin aufgelöst werden. Welche Folgeprobleme dies aber hervor ruft, bleibt vorerst offen. Die oben gestellten Fragen lassen sich über eine quantitative Untersuchung kaum beantworten, so dass hier der Weg der qualitativen Forschung mittels des narrativen biographischen Interviews gewählt wurde, der eine differenzierte Darstellung und Diskussion einzelner Interviewpassagen ermöglicht. Die Betroffenen kommen selbst zu Wort und können frei entscheiden, was und wie sie von ihrem Beruf und ihren Erfahrungen im beruflichen Alltag erzählen. Die aus den Interviews gewonnenen Texte beschreiben dann, wie sich die Soldaten mit ihrem Beruf auseinandersetzen. Sie ermöglichen einerseits Einsichten darein, wie die Anforderungen an die Streitkräfte und den Soldatenberuf wahrgenommen werden und zugleich, wie sich die Akteure in Auseinandersetzung mit diesen Anforderungen selbst – d.h. ihre Biographie und ihre Identität – konstruieren. Auf Basis der Interviewauswertung will ich zeigen, dass sich die Paradoxien in den Interviews mit den Soldaten widerspiegeln. Um handlungsfähig zu sein, versuchen die Akteure diese Paradoxien aufzuheben. Dies aber – so meine These – führt zu neuen Folgeproblemen. In den anschließenden Ausführungen werde ich zunächst die angesprochenen Paradoxien des staatlichen Gewaltmonopols, der neueren Einsätze und das Professionalisierungsparadox weiter entfalten. Danach wird das methodologische Konzept der Identitätskonstruktion im Rahmen narrativer Interviews vorgestellt. Im dritten Schritt werde ich die empirischen Ergebnisse referieren und im Lichte des Wissens zu den Paradoxien und der Identitätskonstruktion interpretieren.

I. Die Paradoxie des staatlichen Gewaltmonopols Das staatliche Gewaltmonopol dient dazu, die Gewalt anderer Akteure zu kontrollieren bzw. zu unterbinden, um auf diese Weise die Gesellschaft nach innen hin zu befrieden. Gewalt fasse ich als bewusste, gezielte physi-

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Maja Apelt

sche Verletzung anderer bzw. die Zerstörung von deren Lebensgrundlagen oder auch die Androhung einer solchen Verletzung auf. Gewalt wird so zu einer physischen Erfahrung, die an den Leib bzw. die materielle Existenz gebunden ist, damit aber immer auch ein Angriff auf die Psyche darstellt. Die Möglichkeit Gewalt einzusetzen, stellt ein Mittel der Herrschaftssicherung dar, die Notwendigkeit diese einzusetzen gilt indes bereits als Zeichen, dass diese Herrschaft nicht ausreichend gesichert ist.6 Staatliche Gewalt wird in der Regel angedroht oder eingesetzt, um die Gewalt anderer Akteure zu verhindern, zu beenden oder ihr zuvorzukommen. „Gewalt dient der Austreibung von Gewalt. In den Begriff Gewalt ist die Ausschließung von Gewalt bereits eingeschlossen. Der Begriff selbst bezeichnet sowohl ausschließende als auch ausgeschlossene Gewalt. Er bezeichnet einen Fall von Einschließen des Ausschließens und ist insofern ein paradoxer Begriff.“7 Aus der Staatlichkeit der einen Gewalt erwächst Legitimation, während anderen Akteuren die Legitimität ihrer Gewaltanwendung entzogen wird. Aber erst durch die Möglichkeit des Ausbruches von (anderer) Gewalt erhält die staatliche Gewalt ihre Legitimität, sie ist also in ihrer Existenz und Legitimation von jener abhängig. Die Legitimierung staatlicher Gewalt wird damit zu einem besonders hohen Gut. Gesichert wird sie erstens durch die Existenz der Gewalt anderer und zweitens durch die strenge Einhaltung von Regeln und Verfahren bei der Anwendung staatlicher Gewalt, denn nur so lässt sich die Unterscheidung von legitimer und illegitimer Gewalt aufrechterhalten.8 Die Differenz von legitimer staatlicher und illegitimer nichtstaatlicher Gewalt wird im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs zu einer Differenz von Produktion von Sicherheit auf der einen und Gewalt als abweichendem Verhalten auf der anderen Seite. Dadurch wird die Staatsgewalt semantisch unsichtbar gemacht, sie scheint den Charakter von Gewalt verloren zu haben.9 Dies hat Folgen für die Akteure des staatlichen Gewaltmonopols, da diese der zivilen, sich als gewaltlos konstruierenden Gesellschaft zugehören und somit auch der Norm unterliegen, Gewalt nicht einzusetzen oder gesondert zu legitimieren. Aufgrund der Paradoxie staatlicher Gewalt bedürfen die in der zivilen Gesellschaft sozialisierten Akteure bei ihrem Eintritt in 6

Vgl. Arendt (2000), Luhmann (1975). Luhmann (1998), S. 348. 8 Dies ist m. E. der Kern der Diskussion um den Fall Metzler, der zu einem Fall Daschner wurde – vgl. Reemtsma (2005), Bielefeldt (2006). 9 Vgl. Foucault (1977). 7

Die Paradoxien des Soldatenberufs

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die Institutionen des staatlichen Gewaltmonopols einer Resozialisierung, die sie befähigt, unter ganz spezifischen Bedingungen – also ausschließlich innerhalb der Organisation und allein auf Basis der festgelegten Regeln und Verfahren – Gewalt einzusetzen.10 Da die Institutionen und ihre Mitglieder aber Teil der zivilen Gesellschaft bleiben, tragen sie zum einen die erworbene Fähigkeit zur Gewaltausübung in die Gesellschaft und zum anderen die normative Gewaltlosigkeit der zivilen Gesellschaft in die Institution. Das Paradox der Gewalt kann auch dazu führen, dass die Akteure ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt entwickeln. Welche Auswirkungen dieses Paradox staatlicher Gewalt in der Selbstwahrnehmung der Akteure aber tatsächlich hat, kann nur empirisch geprüft werden.

II. Die Paradoxie der militärischen Einsätze Die zweite hier relevante Paradoxie bezieht sich auf die Anforderungen, die sich aus der Eigenart der neueren militärischen Einsätze ergeben. Das Kontinuum der Einsätze der Streitkräfte moderner Staaten bewegt sich zwischen Peacekeeping-Missionen und klassischen Kampfeinsätzen. Damit gehen jeweils sehr unterschiedliche Anforderungen einher. Peacekeeping-Missionen erfordern vor allem ein polizeiliches Handeln der Soldaten. Polizeiliches Handeln zielt auf die Herstellung oder Wahrung der öffentlichen Sicherheit (sic!) und Ordnung sowie auf die Verfolgung von Straftaten. Der Einsatz von Gewalt erfolgt idealtypisch nur auf legaler Grundlage und orientiert sich vorrangig an Kontrollierbarkeit und Dosierbarkeit.11 Polizeiliche Einsätze verlangen eher ein reaktives, also der Situation angepasstes und deeskalierendes Handeln. Die Organisationen müssen zur Abwägung geeigneter Maßnahmen eher umweltoffen sein, die Hierarchien sind eher flach, die Entscheidungen für ein spezifisches Handeln werden weniger in der Hierarchie als vielmehr vor Ort getroffen.12 Klassisches militärisches Handeln bezieht sich auf die Durchführung von Kriegen, d.h. die physische oder materielle Schädigung oder Vernichtung des Gegners und ist in der Regel mit der organisierten Tötung anderer Menschen verbunden. Militärische Einsätze verlangen proaktives Handeln. Ein klares Feindbild nach außen und der Zusammenhalt nach innen gewährleisten die Bereitschaft und Fähigkeit, andere zu verletzen oder zu töten oder ihre Existenzgrundlagen zu zerstören und die Bereitschaft, sich selbst töten oder verletzen zu lassen.13 Der zentrale Integrationsmodus ist dabei die Ka10 11 12 13

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Apelt (2004). Winter (2003), S. 520. Haltiner (2001). Kliche (2004).

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Maja Apelt

meradschaft, als besondere Form der Kollegialität, die auf die Bewältigung von Extremsituationen ausgerichtet ist.14 Das breite Spektrum zwischen polizeilichen Aufgaben und klassischen Kriegseinsätzen mussten Soldaten auch in früheren Epochen bewältigen – man denke dabei an den Einsatz westeuropäischer Streitkräfte in den Kolonien oder die Aufgaben der Besatzungsmächte in Deutschland nach 1945. Die Handlungsstrategien in diesen Einsätzen haben sich aber durch die Demokratisierung der Gesellschaften und die damit einhergehende Verpolizeilichung des soldatischen Handelns sukzessive verändert.15 Neu hinzugekommen ist in der Gegenwart, dass polizeiliche und militärische Handlungsstrategien immer weniger in einem zeitlichen Nach- oder räumlichen Nebeneinander und immer mehr als gleichzeitige Optionen erwartet werden. Dahinter steht, dass die Vereinten Nationen zunächst reine friedenssichernde oder friedenserhaltende Einsätze beschlossen haben. Im Mittelpunkt stand, dass die Streitkräfte durch ihre reine Präsenz die Eskalation von Gewalt verhindern können. Vor allem das Massaker von Srebrenica 1995 zeigte aber, dass dieser Strategie Grenzen gesetzt sind. Im Fall von Srebrenica waren die Soldaten weder ausreichend vorbereitet noch angemessen dafür ausgebildet und hatten auch nicht die entsprechenden Mittel zur Verfügung, um diesen Völkermord zu verhindern. Die UN reagierte darauf mit einer veränderten Strategie und stattete ihre Missionen zunehmend mit einem robusten Mandat aus, d.h. dass der Einsatz von Waffen zur Durchsetzung des Missionsauftrags rechtlich abgesichert wird und dass damit auch die Grenzen zwischen Kriegs- und Friedensmissionen tendenziell verschwimmen. An Kriegseinsätzen im engeren Sinne war die Bundeswehr 1999 im Kosovo beteiligt, darüber hinaus engagiert sie sich zunehmend an der Mission OEF in Afghanistan16 Bisher spielen Kampfeinsätze aber bei der Bundeswehr noch eine untergeordnete Rolle. Die Erfahrungen der US-Armee im Irak zeigen aber, dass sich auch die Kampfeinsätze massiv verändert haben. Militärische Einheiten müssen heute nicht nur Kampforganisationen, sondern gleichzeitig Agenturen des Nation-Building sein.17 In einem Interview zu den Lehren aus dem Irak-Krieg meinte US-General David Petraeus, dass die beste Waffe im Krieg gegen Aufständische sei, nicht (!) zu schießen. 14

Vgl. Grüneisen (2008). Vgl. Winter (2003). 16 Obwohl sich das Aufgabenspektrum deutscher Streitkräfte weitestgehend auf logistische Tätigkeiten beschränkt hat, wird die Mission im Kosovo im Jahre 1999 als erster Kampfeinsatz der Bundeswehr betrachtet, der darüber hinaus völkerrechtlich als nicht abgedeckt gilt. Auch im Falle des seit dem Jahre 2001 hinzugekommenen Einsatzgebietes in Afghanistan lässt sich nicht mehr klar zwischen Friedensund Kriegsmission differenzieren. 17 Vgl. Fichtner (2006). 15

Die Paradoxien des Soldatenberufs

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Die Zivilbevölkerung müsse bereits während eines Angriffes mit allen Mitteln geschützt werden, um sie für den anstehenden Regimewechsel zu gewinnen. Man müsse mitten im Krieg gleichzeitig den Autoverkehr regeln, Schulgebäude aufbauen und Brunnen bohren. Während sich die Peacekeeping-Missionen also in Richtung des Kämpfens öffnen, müssen Kampfeinsätze umgekehrt Handlungsweisen des Peacekeepings integrieren. Aus zwei in strategischer Ausrichtung, organisationalen und mentalen Erfordernissen höchst gegensätzlichen Aufgaben – Kampf und Friedenssicherung – entsteht ein Kontinuum. Wie das Eingangszitat zeigt, weiß der Soldat in einer Situation an einem Grenzkontrollpunkt nicht, ob ihm ein Freund und Kooperationspartner oder ein Feind, der ihn vernichten will, gegenübersteht. Soll der Soldat ihm die Hand reichen oder das Gewehr auf ihn richten? Wird die falsche Entscheidung getroffen, kann einer der beiden sein Leben verlieren oder aus einem Kooperationspartner ein Feind und aus einem Friedensschützer ein Besatzer werden.18 Dieses Paradox der militärischen Einsätze stellt Anforderungen an die Außen- und Sicherheitspolitik, an die militärische Strategie und das Ausbildungsprogramm. Zugleich muss es von den Akteuren vor Ort bewältigt werden. Die Frage, wie sie dies tun, bzw. wie sie dies in ihren Selbstbeschreibungen bearbeiten, kann wieder nur empirisch beantwortet werden.

III. Das Paradox der Professionalisierung Hinter diesem Paradox der Einsätze steht ein drittes Paradox, das der Professionalisierung. Dass Professionalisierungsprozesse zunehmend problematisch geworden sind, stellt kein Spezifikum des Soldatenberufs dar. Auch die Angehörigen anderer Berufsgruppen, wie Ärzte, Juristen oder Betriebswirtschaftler usw., müssen Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, die vorrangig aus anderen Berufsfeldern kommen. Professionalisierungssoziologisch bedeutet das, der Beruf muss eine Professionalisierung im Sinne professionelleren Handelns betreiben,19 d.h. er muss sich ein Mehr an Wissen und Kompetenzen aneignen, unabhängig davon, welcher Berufsgruppe dieses Wissen und diese Kompetenzen zugerechnet werden. Zugleich muss jeder Beruf zur eigenen Bestandssicherung spezifische Kompetenzen erhalten und sichern. Er benötigt eine Zuständigkeit für ein besonderes gesellschaftliches Problem und muss eine Professionalisierung im Sinne einer professionellen Schließung betreiben, da er ansonsten Gefahr läuft, von anderen Berufsgruppen ersetzt zu werden. 18 19

Vgl. von Trotha (2005) und Warburg (2009). Vgl. Meuser (2005).

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So muss der moderne ‚hybride‘ Soldat20 oder ‚miles Protektor‘21 Fähigkeiten erwerben, die ein Polizist oder Sozialarbeiter vielleicht viel besser entwickelt hat. Diese Konzeption aber ist mit der Gefahr verknüpft, dass vielleicht auch Polizisten diese Aufgaben erfüllen könnten. Wird dagegen, wie bei Huntington (1972) die Fähigkeit und Bereitschaft herausgestellt, zu kämpfen und das eigene Leben zu riskieren bzw. das Anderer zu bedrohen, dann bedeutet das auch, dass der Beruf mit Kompetenzen verbunden wird, die keine andere Berufsgruppe genauso ausgebildet hat. Der Beruf besitzt eine eigene Zuständigkeit und kann sich vor dem Eindringen anderer Berufsgruppen in dieses Feld schützen.22 Das Paradox der Professionalisierung besteht also darin, dass die Berufe gegenwärtig beides leisten müssen, den eigenen Bestand durch die Betonung der spezifischen Kompetenzen sichern und zugleich Wissen und Fähigkeiten aus anderen Berufsfeldern übernehmen. Wie aber gehen die Soldaten damit um? Betonen sie ihre Fähigkeit zu kämpfen oder stellen sie die weniger spezifischen Kompetenzen heraus? Welchen Stellenwert haben die besonderen soldatischen Kompetenzen für das Selbstkonzept der Soldaten? Hier interessiert im Folgenden, wie sich das Paradox der Gewalt, das der modernen Einsätze und das der Professionalisierung in soldatischen Identitäten empirisch widerspiegelt, welche Bedeutung Soldaten der Fähigkeit zu kämpfen und Gewalt einzusetzen und welche sie der Möglichkeit, selbst von Gewalt betroffen zu sein, beimessen. Antworten auf diese Fragen aus den Interviews zu bekommen, setzt voraus, sich über die Konstruktion beruflicher Identitäten im Interview zu verständigen. Dazu sind einige grundsätzliche Anmerkungen zum Konzept der Identität notwendig.

IV. Die Konstruktion beruflicher Identitäten Mit dem Konzept der Identität, also der Antwort auf die Frage ‚wer bin ich?‘, entsteht die Vorstellung, dass die Individuen nicht einfach Objekt von naturhaften, triebgesteuerten Abläufen sind, sondern die Möglichkeit entwickeln, sich mit ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt auseinandersetzen, eine innere Kontrollinstanz errichten und sich so von den Zumutungen der Umwelt emanzipieren zu können. Eine ‚eigene Identität entwickeln‘ bedeutet, sich eigenständig zu seiner Umwelt zu positionieren, 20 21 22

Vgl. Haltiner/Kümmel (2008). Vgl. Däniker (1992). Vgl. Abbott (2002), Apelt (2006) und Kühl (2001).

Die Paradoxien des Soldatenberufs

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sich mit ihr zu identifizieren oder sich von ihr abzugrenzen und so einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Die Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität gibt zugleich die Antwort auf die Fragen ‚wie gehe ich mit meiner Umwelt um, was ist mir wichtig, wer will, wer kann ich sein?‘. Da sich die Individuen aber die Umwelt, mit der sie sich auseinandersetzen, nicht aussuchen können, sind sie in der Konstruktion ihrer Identität zwar nicht determiniert, aber auch nicht völlig frei.23 Die Identität ist prinzipiell ein Projekt der Moderne und damit einerseits verknüpft mit der Vorstellung eines eigenständigen, selbstverantwortlichen, freien Subjekts, und andererseits mit der Schaffung eines „stahlharten Gehäuses der Hörigkeit“24, das im Prozess der Individualisierung und Identifikation, also Sozialisation, nach innen transportiert wird. Die Konstruktion der Identität bedeutet auch Herstellung einer inneren Kohärenz angesichts einer funktional differenzierten Umwelt. Die Identität wird so zu einer Instanz der Verknüpfung der unterschiedlichen Rollen, die die Individuen gleichzeitig und in unterschiedlichen Lebensphasen einnehmen. Diese innere Kohärenz verliert aber durch die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, die mit den Schlagwörtern Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung angedeutet werden, seine Selbstverständlichkeit. Die Konstruktion der Identität wird zu einem aktiven Prozess, in dem Identitätsarbeit geleistet werden muss, in dem sich die Akteure beständig über sich selbst und mit anderen verständigen. Letztlich handelt es sich bei jeder Kommunikation immer auch um einen Identifikationsprozess. Methodisch heißt das für die sozialwissenschaftliche Forschung, dass jede Befragung Teil dieses Konstruktionsprozesses ist und jedes Statement in einem Interview nicht nur Informationen zu einem bestimmten Gegenstand liefert, sondern zugleich als Gelegenheit der Konstruktion und Präsentation von Identität verstanden werden muss. Obwohl die Erwerbs- und Berufsarbeit – aufgrund zunehmender Diskontinuitäten – die Identität nicht mehr in gleichem Maße wie früher absichern kann, prägen Berufe die Identität immer noch in ganz besonderem Maße; sie bestimmen die sozialen Räume und Felder, in denen wir uns bewegen und beeinflussen damit auch die Aneignungsweisen und Interaktionsformen in den sozialen Feldern. Berufsbiographische Interviews geben daher einen Einblick in die Auseinandersetzungen der Betroffenen mit den beruflichen Feldern und zugleich in den Prozess der Konstruktion der eigenen Identität. Die folgenden Ergebnisse beruhen auf einer explorativen Untersuchung zum Selbstverständnis von Soldaten. Im Rahmen dieser Untersuchung ha23 24

Keupp et al. (2002). Weber (1978), S. 203.

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ben Studierende25 der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg (Universität der Bundeswehr) – Studierende also, die selbst auch Soldaten sind – narrative berufsbiographische Interviews mit Soldaten geführt. Ergänzt wurden diese biographischen Interviews durch Fragen zu den Erfahrungen und Aufgaben in den Auslandseinsätzen und zum Verständnis des Soldatenberufs. Durch die Interviewführung wurden die Befragten zu Erzählungen angeregt. Zugleich sollte weitgehend sichergestellt werden, dass sie selbst entscheiden, was und wie sie aus ihrem beruflichen Leben erzählen. Dadurch ist für die Auswertung wichtig, was die Interviewpartner erzählen, wie sie es erzählen, zum Teil aber auch, was sie nicht erzählen. Die Interviews wurden mit Soldaten zweier militärischer Einheiten geführt, die in den Einsätzen mit unterschiedlichen Aufgaben betraut worden sind. Eine Einheit kann im weiteren Sinne den Kampftruppen (K), die andere im weiteren Sinne der zivil-militärischen Zusammenarbeit (Z) zugeordnet werden.26 Mit dieser Auswahl sollte also eine Gruppe von Soldaten, die eher dem klassischen Bild des Soldaten entspricht, und eine zweite, die in ihrem Tätigkeitsspektrum eher den neuen Aufgaben angepasst ist, befragt werden. Die zweite Gruppe stammt dabei zumeist ehemalig aus den Kampftruppen und wurde dort zuerst sozialisiert. Zur Gewährleistung der Anonymität wird auf genauere Bestimmungen der Einheiten verzichtet. Alle Befragten waren mindestens einmal, in der Regel zweimal in einem Auslandseinsatz, wobei sie vorwiegend an Missionen im Kosovo (KFOR) und Afghanistan (ISAF) beteiligt waren. Befragt wurden Ober- und Hauptfeldwebel sowie Hauptleute. Alle waren männlichen Geschlechts, geboren zwischen 1965 und 1979 und mehrheitlich verheiratet. Aufgrund der Anlage der Untersuchung und der kleinen Fallzahl – es wurden zehn Interviews, die zwischen 20 Minuten und anderthalb Stunden dauerten, geführt – sind die Ergebnisse nicht verallgemeinerbar, sie besitzen lediglich explorativen Charakter und sollen Anlass für weitere Forschungen geben.

25 Ich danke an dieser Stelle den Studierenden Tobias Herzog, Sven Grüneisen, Christian Mattern, Julia Brandenburg, Mario Müller, Laurence Greeb und Kai Sabrowski für die Durchführung und erste Auswertung der Interviews. Ohne ihr Engagement wäre dieser Aufsatz nicht zustande gekommen. 26 Zur zivil-militärischen Zusammenarbeit vgl. den Beitrag von Mohrmann in diesem Band.

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V. Die Ergebnisse der Befragung 1. Das neue Aufgabenspektrum als Problem soldatischer Identität? Für alle Interviewpartner gehören die Auslandseinsätze inzwischen zum selbstverständlichen Teil ihrer Berufsausübung. Keiner der Befragten äußerte diesbezüglich Zweifel darüber, ob diese wirklich in das Aufgabengebiet der Streitkräfte gehören. Dies entspricht der Bilanz, die auch Nina Leonhard in ihrer Untersuchung zieht,27 wonach die Soldaten die internationale Ausrichtung der Streitkräfte generell und unabhängig von ihrer Truppengattung befürworten.28 Dies zeigt sich beispielhaft in folgenden Antworten: „Der Soldat sollte zumindest an einem Auslandseinsatz teilnehmen, weil er dort etwas für sich persönlich mitnimmt, ob es ihm dort gefällt oder nicht, er nimmt dort etwas mit, was nicht zu verachten ist.“ (Hauptfeldwebel K 2)29 Oder auch: „Wenn ich Soldat werde, muss ich mich damit abfinden, dass ich in einen Einsatz gehe und dass ich vielleicht auch in diesem Einsatz wie auch immer mein Leben verlieren kann“ (Hauptfeldwebel K 3). Interessant ist nun, wie die Soldaten ihre jeweiligen Aufgaben im Einsatz beschreiben. Ein Teil der Soldaten beschränkt sich darauf, die Umstände der Einsätze zu beschreiben und verzichtet – teilweise trotz Nachfrage – auf eine inhaltliche Bestimmung des Auftrages. Dieses Erzählverhalten lässt sich in Interviews beider Einheiten, also unabhängig von den aktuellen Aufgaben nachweisen.30 Bei denjenigen, die ihre Aufträge erläutert haben, zeigt sich über beide Einheiten hinweg die Tendenz, die Aufgaben in Verknüpfung oder Abgrenzung zum klassischen Bild des Soldaten zu erläutern. Die Soldaten, die im Bereich der zivil-militärischen Kooperation tätig sind, stellen – sprachlich teilweise sehr aufwendig – den Zusammenhang zum klassischen Berufsbild her. Ohne diesen Bezug scheint eine Beschreibung der Aufgaben wenig sinnvoll zu sein, wie die beiden Aussagen belegen: „Was 27

Vgl. Leonhard (2007). Vgl. Herzog (2008). 29 Im Folgenden kennzeichne ich die Interviews nur nach Dienstgrad und zugehöriger Einheit, hier also Kampfeinheit (K) oder zivil-militärische Einheit (Z). 30 Warum sie dazu keine Auskunft geben, darüber lässt sich hier nur spekulieren, wobei tatsächlich aus der Perspektive der Identitätstheorie zwei konträre Erklärungen möglich wären: Mit Bourdieu (1987) könnte man behaupten, dass dies in den Bereich der ‚Doxa‘ gehört, also dessen, was so habitualisiert ist, dass es nicht mehr versprachlicht werden kann oder muss. Oder man könnte in Anlehnung an Keupp (2002) vermuten, dass dies unklar ist oder im Widerspruch zu herrschenden Vorstellungen steht, so dass es nicht verbalisiert werden kann. Welche dieser Interpretationen naheliegender ist, kann an dieser Stelle (noch) nicht geklärt werden. 28

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wir im Einsatz hier machen, wir vermitteln, wir koordinieren, [. . .] Wir sammeln Informationen [. . .] Das was die klassischen militärischen Kräfte so nicht leisten [. . .] vor dem Hintergrund des erweiterten Aufgabenspektrums [. . .] kann man das gar nicht vereinheitlichen. Das kann der, ich sag mal, Polizist im Einsatz sein oder der Soldat, der aber polizeiliche Aufgaben übernimmt, das kann aber auch derjenige sein, der [. . .] sich ganz anders darstellt als der bewaffnete Soldat, den man so im klassischen Bild, was man so von einem Soldaten im Kopf hat“ (Hauptmann Z 9). Oder auch: „Im Grunde genommen bin ich ja eigentlich gleich geblieben, ich noch immer in der Nachrichtengewinnung tätig, wenn man das so sieht, halt damals als Aufklärer [. . .]“ (Hauptfeldwebel Z 6). Auch die Soldaten der kämpfenden Einheit beziehen sich auf das klassische Bild des Soldaten und seiner Aufgaben. Dies bedarf dann aber nur weniger Erläuterungen: „[. . .] für uns gab es also letztlich ein klares Feindbild, alles was über die Grenze kommt ist illegal [. . .] was natürlich dann [. . .] unserem ursprünglichen Auftrag, den wir in Deutschland haben, eigentlich schon näher kommt [. . .]“ (Hauptfeldwebel K 2). Indem sie ihre Aufgaben in den Einsätzen beschreiben und den Bezug zum oder den Abstand vom klassischen Soldatenbild erklären, positionieren sie sich im beruflichen Feld des Soldaten. Sie versuchen dabei eine innere Kohärenz zwischen dem gewählten Beruf und den Einsatzaufgaben, zwischen früheren und gegenwärtigen Positionen herzustellen. Den Soldaten, die den Kampfeinheiten zugerechnet werden können, genügt dafür ein kurzer Verweis auf den Zusammenhang von klassischem Aufgabenbereich und Einsatzauftrag. Die Einheit der Aufgaben wird hervorgehoben. Dazu genügt der einfache Hinweis auf den traditionellen Auftrag. Anders die Soldaten mit dem neuen Aufgabenprofil. Diese müssen erst sprachlich konstruieren, was habituell nicht mehr abgesichert ist. Für beide Gruppen bleibt das klassische Bild des Soldaten der Ausgangspunkt der Beschreibung des eigenen Tätigkeitsfeldes, als Fluchtpunkt der Selbstbeschreibung bleibt es für die Identitätskonstruktion bedeutungsvoll. Wird jetzt davon ausgegangen, dass das klassische Berufsbild des Soldaten in der Fähigkeit des Kampfes und des Gewalthandelns besteht, dann stellt sich die Frage, welche Bedeutung dieser Kompetenz in den berufsbiographischen Interviews zukommt, und daran anschließend, ob oder wie sich möglicherweise das Paradox der Gewalt in den Interviews widerspiegelt. 2. Die Thematisierung der Gewalt Bei der Frage, wie die Erfahrungen mit Gewalt thematisiert werden, muss zunächst unterschieden werden zwischen der Gewalt, von der die Sol-

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daten als potentielle Opfer betroffen sind und der, die sie unter Umständen selbst ausüben. Obwohl in konkreten Kampfhandlungen diese Unterscheidung häufig hinfällig wird, ist sie hier von Bedeutung, weil die Opfer- und Täterposition mit unterschiedlichen Legitimationen verknüpft sind. Ich gehe davon aus, dass aufgrund der Paradoxie staatlicher Gewalt die Opferposition eher Legitimation findet als die des Täters. In den Interviews sprechen die Soldaten über die Risiken ihrer Einsätze, also z. B. die Möglichkeit, Opfer von Anschlägen zu werden, sie sprechen aber fast gar nicht über die Möglichkeit, selbst Gewalt, selbst die Waffen einzusetzen. Dies spielt unabhängig davon, ob die Soldaten der Kampfeinheit oder der zivil-militärischen Zusammenarbeit angehören, in den Selbstbeschreibungen keine Rolle, weder bezogen auf die Einsatzerfahrungen noch bezogen auf die Beschreibungen des Berufes. Die Betroffenheit von Gewalt wird ungefähr in der Hälfte der Interviews thematisiert. Dabei sprechen die Soldaten Angst und Risiken nicht direkt an, sondern nur indirekt als Sorge, die andere – ihre Ehefrauen oder die Familie – um sie haben oder als Verantwortung, die sie selbst für andere – ihre Kameraden und die unterstellten Soldaten – tragen, wie sich in folgender Aussage zeigt: „[. . .] ich habe oft mit meiner Familie telefoniert, fast allabendlich wenn ging mit meiner Frau [. . .] Sie wusste, wann ich draußen war und hab ihr dann immer gesagt, [. . .] ich bin jetzt unterwegs [. . .] und wenn ich wiederkomme, habe ich gesagt, ich ruf dann an [. . .]“ (Hauptmann Z 8). Und ein anderer Hauptmann (K 1) stellte fest: „ich glaube, dass die Familie zu Hause wesentlich mehr gelitten hat als ich, [. . .] ich hab immer zu Hause angerufen und hab gesagt, mir geht’s gut, wenn im [. . .] irgend etwas [. . .] besonderes passiert war [. . .]“. In einem anderen Interview verknüpft sich die Fürsorge für die Familie mit der für die Kameraden: „Die Frau [. . .] sagte zu mir bringen Sie mir meinen Mann wieder gesund zurück [. . .] sie guckte mich todernst an [. . .] da kann man nicht versprechen, natürlich bring ich Ihren Mann zurück, ich hab dann dargelegt, dass [. . .] ich alles dafür tun werde [. . .] Und die Frau stand da und hat gewartet und da hab ich dann zu ihr gesagt, hiermit übergebe ich Ihren Mann [. . .] zurück, ab jetzt sind Sie wieder verantwortlich. Das hat mich innerlich doch begleitet. So dass ich glücklich und zufrieden war [. . .]“ (Hauptmann Z 10). Die Sorge für die ihnen unterstellten Soldaten wird z. B. so artikuliert: „ich habe schon als Zugführer immer wenn ich eine Patrouille draußen hatte, nachts wach gelegen und gewartet bis die Patrouille wieder drinne is [. . .] und danach konnte ich ruhig schlafen [. . .]“ (Hauptmann K 1). Im nächsten Zitat zeigt sich, dass der Umgang mit diesen Risiken als Teil des Berufsbildes gesehen wird und dass die Kameradschaft das Medium ist, um diese Belastung zu ertragen: „gleichzeitig hört man, dass ir-

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gendwo auf dem Weg, den man selbst gefahren ist, eine Sprengfalle lag um dann zu wissen, hey da musst du nächste Woche da noch mal hin. Und dann [. . .] sagen, jawohl dann fahre ich und ich beweg mich genauso frei und genauso offen den Menschen gegenüber, das kostet Überwindung und das ist eigentlich auch schwierig, aber puhh, letztlich macht man’s, weil man nun mal Soldat ist, [. . .] mit der richtigen Aussage würde man da auch rauskommen, aber was heißt das [. . .] für andere Soldaten, die [. . .] statt einem selbst dort hin müssen und den Job plötzlich übernehmen müssen [. . .] und die gehen dann dabei drauf und man selbst muss sagen, ja Scheiße, wegen so einer dummen Ausrede habe ich zwar überlebt, aber ich wär nicht so dumm gewesen und hätte das gemacht, weil ich kenn ja das Gelände oder ich kenn die Typen, die da rumrennen [. . .]“ (Hauptmann Z 8). Hier beschreibt der Soldat zunächst das Risiko als Teil seines Berufes. Danach geht er auf die Notwendigkeit der Kameradschaft31 ein, denn diese verpflichtet ihn, sich dieser Situation zu stellen. Im dritten Schritt führt er das Argument der spezifischen Erfahrungskompetenz ein. Das Risiko minimiert sich aufgrund seiner Erfahrungen, die ihn in besonderer Weise verpflichten, seine Aufgaben im Einsatz zu erfüllen. Das nächste Zitat zeigt, dass sich der Zusammenhang von Professionalität, Kameradschaft und Einsatzaufträgen auch umkehren kann. Ist in den vorhergehenden Zitaten Kameradschaft das Medium, den Auftrag zu erfüllen, rückt die Kameradschaft nunmehr an die Stelle der Auftragserfüllung: „Heute sage ich, wenn ich darunter gehe bin ich mir selbst der Nächste, ich und meine Männer müssen alle heile zurückkommen und ich muss manchmal über die Not und das Elend, was die Leute da unten erfahren, [. . .] hinwegschauen, ich kann da nicht bei jedem Einzelnen helfen oder sonst was, ja und ob der nun arm ist oder nicht arm ist, der kann genauso korrupt sein oder Selbstmordattentäter sein [. . .] den dicksten Benz oder sonst was fahren, und da muss ich mir immer selbst der Nächste sein [. . .]“ (Hauptfeldwebel K 3). Da die paradoxe Situation des Einsatzes nicht lösbar zu sein scheint, bleibt als selbstgestellter Auftrag nur die Sorge um die Kameraden und die ihm unterstellten Soldaten übrig. Kameradschaft erfüllt hier also eine ganz besondere Funktion. Sie ist zunächst ein zentrales Element der Organisationskultur. Als nicht formalisierbare Entscheidungsprämisse32 überbrückt Kameradschaft genauso wie Kollegialität die Defizite der formalen Organisationsstruktur, sie unterstützt ein Handeln, das zwar nicht formal 31 Ich interpretiere hier die Interviewaussage als Kameradschaft, auch wenn dieses Wort vom Interviewpartner nicht genutzt wurde. 32 Kameradschaft bleibt eine nichtformalisierbare Entscheidungsprämisse, auch wenn sie in der Bundeswehr zum Gesetz erhoben wurde. Denn trotz aller Formalisierungsversuche besteht das Problem, dass nicht genau bestimmbar ist, was kameradschaftliches Handeln ist – siehe dazu Apelt (2005).

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erwartet werden kann, das aber trotzdem notwendig ist für den Erhalt der Organisation. Kameradschaft geht insofern über Kollegialität hinaus, als dass das Handeln der Akteure auf Extremsituationen ausgerichtet ist, d.h. dass die Organisation von ihren eigenen Organisationsmitgliedern ein Handeln erwartet, das die eigene physische Existenz gefährden kann. Indem Kameradschaft nun zu dem zentralen Element des Berufsethos geworden ist, kann in der Organisation mühelos daran appelliert werden. In dieser Interviewpassage zeigt sich, dass Kameradschaft nicht nur auf die Bewältigung von Extremsituationen ausgerichtet ist, sondern auch der Bewältigung paradoxer Situationen dient. Die Kameradschaft tritt hier an die Stelle der unklaren Organisationsziele: Da der Soldat nicht mehr genau weiß, wie er im Einsatz handeln kann, bleibt ihm als Handlungsorientierung die Fürsorge für seine ihm unterstellten Kameraden.33 Die Thematisierung des Einsatzes von Gewalt spielt nur in zwei Interviews eine Rolle, wobei in beiden ganz im Gegensatz zu den obigen die Notwendigkeit der Legitimierung des Handelns als Subtext mitläuft. In dem folgenden Zitat diskutiert ein Soldat, wie schwer ihm die Entscheidung fiel, einen Warnschuss abzugeben. Auf die Frage, ob der Soldat eine besonders schwierige Lebenssituation erzählen möchte, antwortet er: Die schwierigste Situation „das war eigentlich so im Auslandseinsatz zu entscheiden, geb ich einen Warnschuss ab oder nicht, die Hemmschwelle wirklich den Sicherungshebel auf E zu stellen [. . .] wirklich mit Gefechtsmunition, was man vielleicht im Zentrum hier in Hammelburg [. . .] mit Manövermunition geübt hat [. . .] das war die größte Hürde, diese Hemmschwelle [. . .] weil ich wollte es den Soldaten nicht zumuten und einfach einen befehlen, sondern da muss man halt selber durch [. . .]“ (Oberfeldwebel K 4). Der Soldat stellt dar, wie schwer ihm der Warnschuss gefallen ist und dass er eine Hemmschwelle überwinden musste. Diese bringt er in den Zusammenhang mit der Einsatzausbildung, die ja gerade dazu dient, solche Hemmungen – also mögliche Entscheidungsblockaden – zu verringen. Die Situation stellt für ihn trotzdem keine aus der Ausbildung erwachsene Selbstverständlichkeit dar, sondern ein besonders zu thematisierendes Problem. Der Soldat kommuniziert – so könnte man das Zitat interpretieren – das Problem des Widerspruchs zwischen der zu erwerbenden beruflichen Kompetenz und den internalisierten Normen, er löst es mit dem Verweis auf die Pflicht, für andere da zu sein, die Verantwortung von anderen zu übernehmen und nicht auf andere abzuwälzen. Die Pflicht zur Kameradschaft dient hier, wie oben bereits gezeigt, der Überwindung eines Konflikts, hier ist es der Konflikt zwischen militärischen Anforderungen und ziviler Sozialisation. 33

Vgl. Seiffert (2005).

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Auch in dem zweiten Zitat wird ein Widerspruch zwischen militärischen und gesellschaftlichen Normen diskutiert. Dieses Interview nimmt in dieser Untersuchung eine Sonderrolle ein: Zentrales Thema des Soldaten ist die Überwindung einer Berufskrise, die der Befragte mit dem problematischen Verhältnis von Gesellschaft und Streitkräften begründet. Der Interviewpartner erzählt über das ganze Interview hinweg über keine speziellen Erfahrungen seiner beruflichen Tätigkeit. Statt dessen diskutiert er die für ihn zentrale Frage des Verhältnisses von Gesellschaft und Streitkräften: „das Besondere am Soldatenberuf ist das Rauserziehen aus der Gesellschaft [. . .] um die Gesellschaft zu schützen (muss man) mit diesen Werten brechen, die der Gesellschaft hoch und heilig sind, man soll nicht töten und wir bilden Menschen genau dafür aus, um die Gesellschaft zu schützen [. . .] wir haben Menschen dazu erzogen die einen anderen Umgang mit Tod haben, dann haben sie diesen anderen Umgang auch in einem fernen Land [. . .] dann will die Gesellschaft aber nicht, dass wir so mit Tod umgehen. Also das muss die Gesellschaft meiner Meinung nach auch verkraften und hier sieht man ganz oft dieses, diese Schere die weit auseinanderklafft [. . .] wir haben nie selber geschossen [. . .]“ (Hauptmann K 1). Der Soldat thematisiert nicht die Erfahrung, selbst Gewalt ausgeübt zu haben, aber er fordert von der Gesellschaft, diese Möglichkeit auch zu akzeptieren. Implizit geht er damit vom Paradox der Gewalt aus. Er kritisiert, dass die Gesellschaft im öffentlichen Diskurs das Militär als Gewaltakteur ausschließt. Dazu sucht er einen Gegendiskurs mit dem Ziel der gesellschaftlichen Anerkennung der Besonderheiten des Soldatenberufs zu etablieren. Dass er selbst keine Gewalt angewandt hat, erwähnt der Sprecher, wahrscheinlich um sich selbst in diesem Diskurs zu legitimieren. M.E. zeigt dies, dass er sich dem herrschenden Gewaltdiskurs der postheroischen Gesellschaft nicht entziehen kann. Er muss anfügen, dass er selbst nie geschossen hat, um sich auf diese Weise zu legitimieren.

VI. Schlussfolgerungen Ausgangspunkt meiner Überlegungen waren die Paradoxien der staatlichen Gewalt, der Auslandseinsätze und das Paradox der Professionalisierung. Es wurde die Frage verhandelt, wie sich diese Paradoxien in den Selbstbeschreibungen der Soldaten widerspiegeln. Insgesamt hinterlassen diese narrativen berufsbiographischen Interviews den Eindruck, dass die Frage der Gewalt nur unter bestimmten Bedingungen kommunizierbar ist. Die Angst vor Gewalt wird von den Befragten nur im Zusammenhang mit der Sorge um andere thematisiert. Dies verschafft ihnen die Möglichkeit, Subjekt des Handelns zu bleiben. Sie sind nicht einfach der Gefahr ausgeliefert, sondern können sich als Akteure konstruieren,

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die aktiv mit der Situation umgehen. Sie behalten ihre Handlungsfähigkeit, konstituieren sich trotz der Bedrohung als aktives, willentliches Subjekt. Sie entsprechen damit dem Bild des aktiven, handlungsfähigen, letztlich auch kämpferischen und leidensfähigen Soldaten, zugleich aber auch dem Legitimationsanspruch der zivilen Gesellschaft. Die Möglichkeit, selbst Gewalt einzusetzen, wird weitestgehend dethematisiert. Dies erscheint besonders relevant, da die Interviews nicht von organisationsfremden Zivilisten, sondern von Soldaten geführt wurden. Daraus könnte man ableiten, dass das Legitimationsproblem der Gewalt die Akteure diesbezüglich sprachlos macht. Dies bedeutet aber nicht, dass der Soldat als Kämpfer überhaupt keine Relevanz hätte. Für die befragten Soldaten bleibt der Kämpfer Fluchtpunkt der eigenen Verortung im beruflichen Feld. Andere Indizien für die Relevanz des Kämpfers finden sich außerhalb dieser spezifischen Studie, wenn man z. B. die Symbolik der nonverbalen Selbstdarstellungen der Soldaten in den Auslandseinsätzen betrachtet. So orientieren sich die Soldaten in den Auslandseinsätzen in ihrer Körpersprache und Bekleidung – soweit dies trotz Bekleidungsvorschriften möglich ist34 – am Bild des Kämpfers. Die Soldaten imaginieren häufig den männlichen Kämpfer, wie man ihn in typischen Hollywood-Filmen sieht. Weitere Indizien findet man auch in Selbstdarstellungen von militärischen Einheiten, die in ihrer Symbolik ebenso an den Kämpfer anschließen.35 Die Soldaten orientieren sich damit sowohl an dem polizeilich handelnden Soldaten, an der Figur des bewaffneten Sozialarbeiters als auch an dem soldatischen Kämpfer. Zugleich finden die befragten Soldaten im Interview keine geeignete Sprache für den Kämpfer. Dieser wird in den Interviews – wenn überhaupt – nur im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen zivilen und militärischen Werten verbalisiert. Bei der Thematisierung möglicher Konflikte, die aus den Paradoxien des soldatischen Handelns resultieren, spielt Kameradschaft eine herausragende Rolle. Sie stellt bei der Bewältigung des Risikos, von Gewalt betroffen zu sein, oder selbst Waffen einsetzen zu müssen, eine wichtige Option dar. Diese Option kann unter Umständen an die Stelle der Auftragserfüllung rücken, wenn den Akteuren keine anderen Lösungen aus den paradoxen Situationen zur Verfügung stehen. Daraus ergeben sich Fragen nach möglichen Folgeproblemen. Drei Aspekte scheinen mir dabei von besonderer Relevanz. Zum Ersten stellt sich die Frage, wie die Soldaten die Erfahrungen von Gewalt als Bedrohung für die eigene Existenz – als Angst – thematisieren können, wenn dies im 34

Vgl. Tomforde (2006). Vgl. dazu Bundeswehr. Marine 2009. Dieser Film war bis vor kurzem noch auf der Homepage der Marine zu sehen. 35

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Widerspruch zu der Identitätskonstruktion des Soldaten steht, zugleich aber notwendig ist, um psychische Belastungen zu verarbeiten. Zum Zweiten stellt sich die Frage, wie gut die Soldaten moralisch auf mögliche Kampfeinsätze vorbereitet sind. Diese Frage sollte bei Forderungen nach einer Beteiligung von Bundeswehrsoldaten an Kampfeinsätzen in Rechnung gestellt werden. Zum Dritten stellt sich die Frage, welche Folgen es haben könnte, wenn in paradoxen Situationen Kameradschaft nicht mehr nur Medium der Auftragserfüllung ist, sondern zum eigentlichen Zweck des Handelns avanciert. In Aussicht stünde dann, dass die Binnenorientierung der Streitkräfte gestärkt und die Fähigkeit zu polizeilichem Handeln verringert würde. Die Soldaten sind in der Einsatzarmee angekommen, das heißt aber auch, dass die Paradoxien ihres Handelns bei ihnen angekommen sind.

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Innere Führung und Einsatz aus Perspektive der Pädagogik Von Claus Freiherr von Rosen „Im übrigen können Sie die Absicht und die Methoden dessen, was wir Innere Führung nennen, auch auf einen anderen Nenner bringen. Nämlich, der Versuch, möglichst viel von dem, was an der Menschenführung an der Front geschah, nun auch in die Kaserne zu übernehmen.“ Baudissin 19581

I. Innere Führung – die aktuelle und praktische Antwort für den Einsatz aus den Erfahrungen des Krieges Seit den ersten Tagen des Aufbaus der Bundeswehr war ihre Führungsphilosophie, die Konzeption ‚Innere Führung‘, der Kritik ausgesetzt gewesen, eine realitätsferne Utopie zu sein und jeglicher Erfahrung aus dem richtigen Krieg (Stichwort: ‚Russlanderfahrung‘) zu entbehren. Wolf Graf von Baudissin, als verantwortlicher Schöpfer der Konzeption allgemein als ‚Vater der Inneren Führung‘ anerkannt, resümierte hingegen: „Es wird für mich stets ein Rätsel bleiben, wie Menschen die hohen Leistungen des deutschen Soldaten im Kriege preisen können, um ihm gleichzeitig für den Frieden jede Mündigkeit, jede Fähigkeit zu Selbstdisziplin und verantwortlicher Mitarbeit abzusprechen.“2 Darin wird ein Spannungsverhältnis seit den Anfängen der Bundeswehr offenkundig zwischen Konzeption und Praxis der Inneren Führung einerseits und dem, was gelegentlich als ‚äußere Führung‘ bezeichnet wurde und letztlich das militärische ‚Hauptgeschäft‘ der sogenannten Truppenführung ausmacht.3 1

Baudissin 58,1 – im Original hervorgehoben. Entsprechend begründete Baudissin bereits bei seinem ersten öffentlichen Auftreten 1951 als Referent des Amtes Blank in Hermannsburg die neuen Auffassungen zur Grußpflicht: „womit etwas legalisiert wird, was in den Verhältnissen des Krieges gewachsen ist.“ Baudissin 51,5 s. a. ders. (1969), S. 25. 2 Baudissin 55,8. Vgl. ders. 65,2, s. a. ders. (1969), S. 122. 3 Dass man das Verhältnis von Innerer und äußerer Führung in der Bundeswehr zum Teil recht distanziert behandelt, wird an dem Werk des Bundeswehrgenerals

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Innere Führung ist in theoretischer wie analytischer Hinsicht zweifelsohne von äußerer Führung zu trennen. Dies hat allerdings zu einer getrennten konzeptionellen Bearbeitung der beiden Führungsaspekte im Amt Blank und später im Verteidigungsministerium geführt. Die Konzeption der Inneren Führung ist aber nicht als Gegensatz, sondern als bewusstes Komplementär zur äußeren Führung entwickelt worden: Bis dato sei, so Baudissin, unter Führung vornehmlich Operation, Taktik, Organisation, Versorgung und Nachschub – also äußere Führung – verstanden und generalstabsmäßig bearbeitet worden. Nunmehr sei jedoch notwendig, der Erziehung, der Politischen Bildung, der Information und der Betreuung erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Dies werde „gedanklich und organisatorisch“ zusammengefasst im Sinne des Prozesshaften als „Innere Führung“ sowie als „Inneres Gefüge“ im Sinne des Strukturellen.4 Baudissin war davon überzeugt, dass im Dienst in der Kaserne gelten könne und müsse, was im Krieg Bestand gehabt hatte. So stellte er z. B. fest, dass im Laufe des Krieges bis dahin übliche Strukturelemente der Streitkräfte in ganz bestimmter Weise Veränderungen erfahren hatten: „Diese neuen sozialen Bindungen haben schon während des Krieges bei motorisierten und gepanzerten Verbänden, im Luft- und U-Boot-Krieg zu Auffassungen und Verkehrsformen geführt, die der Vorstellung einer freiheitlichen Lebensgemeinschaft auf partnerschaftlicher Grundlage weit angemessener sind als etwa dem überlieferten Bild patriarchalischer Befehlsgewalt über ‚Unmündige‘. Bilder, Belastungen und Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges haben viele traditionellen Vorstellungen des soldatischen Bereichs – wir dürfen wohl mit gutem Gewissen sagen – positiv erschüttert.“5 Und in einem Brief von 1953 antwortete er einem ehemaligen Offizier: „Gerade Ihre Erfahrungen als Kompanieführer in Holland und Stalinund damaligen Promotors für eine betriebswirtschaftliche Orientierung in den Streitkräften Gerber (1978) deutlich. In dem umfangreichen Personen- und Schlagwortregister fehlen der Name Baudissin ebenso wie die Schlagworte Innere Führung oder andere dazu gehörende Begriffe. Einzig der Artikel „Kooperatives Führen in der Bundeswehr“ nimmt einen Begriff der Inneren Führung auf – wenn auch unter deutlich anderem Vorzeichen. 4 Die hier aufgeführten Begriffe stammen wörtlich aus dem Stichwortmanuskript Baudissin 53,22. Vgl. auch ders. 55,16, s. a. ders. (1982), S. 54 und 64. – Beide Elemente von Führung waren bereits für Baudissin nicht neu: „Menschenführung in der Truppe ist so alt wie Heere und Soldaten überhaupt.“ Jedoch fügt er hinzu: „Diese allgemeine Feststellung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Probleme sich heute in besonderer Weise stellen und nach besonderen Lösungen rufen.“ Baudissin 65,2, s. a. ders. (1969), S. 123. Im Sprechzettel für Heusinger hatte Baudissin 53,13 betont: „Innere Führung mindestens ebenso wichtig wie ‚Äußere Führung‘ “. 5 Baudissin 55,13, s. a. ders. (1969), S. 160 f.

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grad wie Ihr Hinweis auf ein neues Verhältnis vom Offizier zum Mann (‚kameradschaftlicher Erzieher‘) bestärken meine Überzeugung, dass unsere Vorgaben gar kein so wurzelloses ‚Experiment‘ sind, sondern eine logische Weiterführung und Verbreiterung dessen, was einsichtige Menschen aus der Situation heraus bereits in ihrem Bereich taten.“6 Die daraus abgeleitete Selbständigkeit des modernen Soldaten im Gefecht sei, davon war Baudissin überzeugt, nicht mit „alten Kasernenhofmethoden“ zu entwickeln.7 Außerdem war die Konzeption der Inneren Führung ebenso bewusst auf das künftige Kriegsbild hin angelegt worden.8 Erstaunlich ist nun, dass die Argumentation heute genau umgekehrt verläuft, wenn angesichts der ‚neuen‘ Einsatzrealität immer wieder betont wird, Innere Führung müsse aus dem Friedensdienst, dem friedlichen Alltagsdienst in der Kaserne herausgelöst und an die Einsatzgegebenheiten angepasst werden. Anfang des Jahres 2008 ist die Vorschrift „Innere Führung“ von Verteidigungsminister Franz Josef Jung neu erlassen worden. Sie begreift das „Selbstverständnis und die Führungskultur“ bzw. die Führungsphilosophie der Streitkräfte der Bundeswehr im Wesentlichen als geistig-sittliches bzw. ethisches Fundament sowie als normativ-politische Werte zur Orientierung für das Handeln in den Streitkräften. In seinem Tagesbefehl begründete der Minister den Soldaten die Notwendigkeit für die Überarbeitung der Vorgängervorschrift von 1993: „Die Anforderungen, die heute an Sie gestellt werden, haben sich gewandelt. Die Einsätze konfrontieren Sie unmittelbar mit hohen Belastungen und existenziellen Gefahren. Die neugefasste Dienstvorschrift berücksichtigt diese Einsatzrealität und verdeutlicht, dass sich die Innere Führung gerade auch unter Einsatzbedingungen bewährt.“9 Und entsprechend eindringlich wird gleich zu Anfang in der Vorschrift herausgestrichen: Der „militärische Dienst schließt den Einsatz der eigenen Gesundheit und des Lebens mit ein und verlangt in letzter Konsequenz, im Kampf auch zu töten. Der Dienst in der Bundeswehr stellt deshalb hohe Anforderungen an die Persönlichkeit der Soldatinnen und Soldaten. Sie treffen vor allem im Einsatz Gewissensentscheidungen, die ihre ethische Bindung in den Grundwerten findet.“10 Darin deutet sich an, dass nach Auffassung des Ministeriums die Konzeption der Inneren Führung in den fünfzig Jahren Bun6

Baudissin 53,5, s. a. ders. (1982), S. S. 49. Siehe Baudissin 57,4 – damit sind die Methoden der Menschenführung gemeint, oder wie Baudissin auch sagte, der Erziehung und Ausbildung. 8 Ausführlich dazu siehe z. B. Baudissins Vortrag: Probleme praktischer Menschenführung in zukünftigen Streitkräften vor der Studiengesellschaft für praktische Psychologie, ders. 54,17, s. a. ders. (1969), S. 241–255. 9 Jung (2008), S. 4 f. 10 ZDv 10/1 (2008), Nr. 105 – die Worte „Einsatz der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebens“ sind hervorgehoben; entsprechend s. a. Nr. 107, 503 und 505. 7

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deswehrgeschichte fern von alledem gewesen sei, was nun bei Einsätzen vonnöten ist.11 Hier schließt sich nun die pädagogisch-praktische Grundfrage an:12 Wie ist Lernen für den Einsatz möglich? D.h. wie kann in der Ausbildung die notwendige Integration von Innerer und äußerer Führung für das Lernen ermöglicht werden? Wie kann Innere Führung im quasi friedlichen Alltagsdienst des Grundbetriebs und im Einsatz als eins verstanden werden? Wie können die mehr oder weniger abstrakten Aussagen zur Inneren Führung so in die Ausbildung des Soldaten Eingang finden, dass sein Verhalten bei der Planung, Organisation, Anwendung und/oder Androhung von Gewalt davon generell bestimmt wird? D.h. dass sie als Orientierungswissen und Urteilskraft, als Lernfähigkeit und Flexibilität, als Selbstbewusstsein und Selbstverantwortung in die Entwicklung des beruflichen Selbstverständnisses eines jeden Soldaten als freie Persönlichkeit, verantwortungsbewusster Staatsbürger und einsatzbereiter Soldat Eingang finden? Wie ist Innere Führung für den Einsatz in den Vorschriften und der Ausbildung unmittelbar verständlich und einsichtig zu machen? Dem soll anhand von drei didaktischen Aspekten13 nachgegangen werden: 1. anhand des Bildes vom Einsatz aus Sicht der Inneren Führung, 2. anhand der Ziele und Inhalte der Inneren Führung für die Einsatzausbildung in den Vorschriften sowie 11 Dass die Konzeption der Inneren Führung bisher nur für den Frieden geschaffen und deshalb nun sogar abzuschaffen sei, wurde in der Vergangenheit immer wieder öffentlich betont, besonders von höheren Offizieren, die als Rechtsaußen gelten. Sie unterliegen damit aber einem Missverständnis und negieren unter anderem völlig die Unumgänglichkeit von freien Räumen und damit die Notwendigkeit befehlsfreier Führungsmöglichkeiten im Militär, d.h. von Innerer Führung gerade auch im Einsatz. Es wird daher zu beobachten sein, ob die neue ZDv 10/1 nicht nur zum trutzigen Aufbäumen solcher Kräfte gegen die ursprüngliche Konzeption der Inneren Führung missbraucht wird – etwa zur Implementierung von Bildern wie dem des ‚archaischen Kämpfers‘ oder zur Durchsetzung eines rein militärisch-funktionalen Denkens in worst-case-Kategorien, eines staatlichen Machttechnizismus, eines Neo-Militarismus sowie eines Glaubens an die Möglichkeit eines ‚sauberen Krieges‘, der menschliche Opfer und andere Folgeschäden allenfalls als ‚Kollateralschäden‘ behandelt. 12 Die viel grundsätzlichere (wissenschaftlich-theoretische) autologische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit im Sinne Niklas Luhmanns würde vom pädagogisch-praktischen Grundansatz dieses Beitrags zu weit ablenken. 13 Es gibt eine Vielfalt didaktischer Ansätze, z. B. aus Sicht der Bildungstheorie, der Taxonomienlehre oder des Regelkreises vom Lernen oder der Curriculumsplanung. Hier werden aber nur drei Strukturmuster aufgegriffen, denen in vielen der Theorien zentrale Bedeutung zukommt. Darüber hinaus wäre auch nach dem Curriculum zum beruflichen Selbstverständnis des Soldaten unter besonderer Berücksichtigung des Einsatzes zu fragen, dessen Fehlen durch die folgende Detailanalyse deutlich wird.

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3. anhand der Verfahren und Institutionen der Ausbildung zur Inneren Führung für den Einsatz.14

II. Einsatz aus Sicht der Inneren Führung Aus bildungstheoretischer Sicht ist das Einsatzbezogene als Bildungsgehalt zu verstehen, nach dem zu fragen ist, bevor man die Ausbildungsziele und Lerninhalte im Detail betrachtet. Der Einsatz als eine extreme Handlungssituation fordert scheinbar eindeutige Vorgaben, damit ohne langes Nachdenken quasi automatisch nach dem ‚wenn-dann-Prinzip‘ gehandelt und die Gefahr möglichst gering gehalten werden kann. Nur auf diese Weise bleibe das Verhalten von Vorgesetzten wie Untergebenen in jeder Lage erwartbar.15 Allerdings steht der Handelnde in jeder Einsatzsituation stets vor Problemen, wenn nicht gar vor unvermeidbaren Dilemmata, für die er selbständig per Interpretation ad hoc und vor Ort Lösungen finden muss. Baudissin hatte daher festgestellt: „Der Entwurf der Inneren Führung gründet sich nicht auf die Illusion, als ließen sich ausgerechnet im soldatischen Alltag Friktionen und menschliche Spannungen vermeiden.“16 Innere Führung lässt sich geradezu als ambitionierter Versuch begreifen, die zum Äußersten tendierende militärische Gewalt aus ethischem, moralischem, rechtlichem und damit allgemein aus welt-gesellschaftlichem und individuellem Verständnis einzudämmen. Es fragt sich daher, was das speziell Einsatzbezogene ausmacht. Gewöhnlich wird dabei auf die ‚unteren Führungsebenen‘ bis zum einzelnen Geführten geschaut. Für General Robert Bergmann17 steht fest, dass mit der Vorschrift „auf die Bedürfnisse der Soldatinnen und Soldaten als Staatsbürger in Uniform [. . .] flexibel und zeitnah eingegangen werden“ muss: „Große Verantwortung mit politischer Tragweite liegt mehr als zuvor auch auf den unteren Führungsebenen. Dort muss angesichts der Konfrontation mit Not, Elend, Verwundung und auch Tod Innere Führung gestaltet werden.“ Dort lägen die „großen Belastungen bei militärischen Führern und Geführten“. Für diese Probleme seien Lösungen zu finden. Es würde fehl14 Baudissins Ansatz für die Konzeption Innere Führung ist von Grund auf pädagogisch-praktisch, siehe Rosen (1982), S. 11 f., ders. (1986) sowie Hartmann et al. (1999). 15 Daher wird auch immer wieder aus einer rigiden Sicht äußerer Führung behauptet, die Prinzipien der Inneren Führung seien im Einsatz untauglich, weshalb auf sie verzichtet werden müsse. 16 Siehe Baudissin 65,2, und auch ders. (1969), S. 129. Hierzu siehe unter anderem auch Baudissins Ausführungen zu Verantwortung und Gewissen, in: Handbuch (1957), S. 70 ff. 17 Bergmann (2008) S. 3 f., vgl. Jung (2008), S. 4.

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gehen, nun sämtliche Verhaltenskomponenten aus den Gestaltungsfeldern der Inneren Führung hinsichtlich ihrer Einsatzrelevanz auflisten und dann aus pädagogischer Sicht aufarbeiten zu wollen.18 Vielmehr ist das Spezifikum ‚Einsatz‘ als generelle Anforderung an das Verhalten des Soldaten zu verstehen. Die Schöpfer der Inneren Führung hatten sich von Anfang an dagegen verwahrt, Innere Führung auf ein Lernfach mit einzelnen Lerninhalten zu reduzieren.19 Worum es bei Innerer Führung gehe, beschrieben sie anhand des Begriffs der Erziehung (heute würde man diesbezüglich eher von Bildung reden). Pädagogisch spricht man mittlerweile von ‚Schlüsselqualifikationen‘. Sie besitzen allgemeinere Bedeutung als Lernziele und eine vielseitige berufliche Verwendbarkeit. Durch sie wird spezielles Handeln orientiert, erwartbar und wertvoll. Und darüber gewinnt der einzelne Soldat persönliche Flexibilität für sein Handeln. Für Baudissin sind das besonders die Fähigkeiten zum Frieden, zur Freiheit, zur gewissenhaften ethischen Selbständigkeit. Sie lassen sich festmachen in folgenden Bereichen: Recht und Moral, Demokratie, staatsbürgerliche Verantwortung, Persönlichkeit und (Mit-)Menschlichkeit, Konflikt, Rationalität und Funktionalität. Daraus ergeben sich etliche Schlüsselqualifikationen, die sich im Leitbild des freiheitlich gesonnenen Staatsbürgers in Uniform bündeln: „Nach unserer Ansicht hat die Innere Führung nie eine Wahl. Grundgesetz, Kriegserfahrung, soziologische und pädagogische Erkenntnisse in allen Lebensbereichen und – negativ gesehen – die totalitäre Alternative verpflichteten uns, das freiheitliche Bild vom mündigen Menschen als Grundlage von Theorie und Praxis zu setzen.“20 Daran sei alle militärische Praxis zu orientieren – im kalten ebenso wie im heißen Gefecht. Ohne diese Schlüsselqualifikationen verkommt der Soldat zum bloßen Killer-Typ. Im „Handbuch Innere Führung“ war daher schon gewarnt worden: „Man ist sich klar darüber, dass eine Kriegführung ohne Respektierung gewisser – sittlicher – Regelungen nur blindes Wüten und Zerstören ist, das den Soldaten zum Frieden untüchtig macht und den Grund für den nächsten Krieg legt.“21 18

Dies gilt nicht nur, weil die zufällig in die Vorschriften seit 1956 aufgenommenen einzelnen Komponenten sicher um so manches aus der lessons-learned-Literatur zu ergänzen wären. Es würde auch dem Grundverständnis von Innerer Führung widersprechen, wonach selbst scheinbar rein Technisches, rein Taktisches, rein Organisatorisches immer unmittelbar mit Innerer Führung verwoben ist. Schließlich bleibt nach Baudissins anfänglich gemachter Bemerkung, dass auch im Frieden möglich sein sollte, was sich im Krieg bewährt habe und umgekehrt, eine derartige Liste nicht abschließbar. 19 Siehe Baudissin 55,15, s. a. ders. (1982), S. 63 f. 20 Baudissin 65,2 s. a. ders. (1969) S. 125 f.; vgl. ders. 56,8, s. a. Handbuch (1957), S. 42 f. Zum Bild des Staatsbürgers in Uniform siehe Rosen (2006) und ders. (2004).

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Drei Beispiele für Schlüsselqualifikationen der Inneren Führung für den Einsatz sollen nun exemplarisch deren generelle Bedeutung illustrieren. Dies geschieht anhand von drei Einsatzaspekten: am Bild vom heißen Krieg, am Bild vom kalten Krieg – wobei es sich in beiden Fällen um Idealtypen handelt, die nicht mit politisch-historischen Epochen gleichen Namens verwechselt werden dürfen22 – sowie am Bild vom Handelnden im Einsatz. 1. Schlüsselqualifikation am Bild des heißen Krieges In Zeiten des Ost-West-Konfliktes orientierte man sich im Wesentlichen am Bild des heißen Krieges in Form von konventionellen Kriegen mit Implikationen eines begrenzten atomaren Schlagabtausches. Die Diskussion um die ‚Neuen Kriege‘ als wesentlicher Teil des Kriegsbildes heute, um den Einsatz im asymmetrischen Krieg und gegen den internationalem Terrorismus, hat inzwischen die Augen auch für andere Kriegsformen wieder geöffnet. Hinsichtlich der Schlüsselqualifikationen geht es diesbezüglich um die Rationalität von Armeen und deren Einsatz als Ausdruck struktureller politischer Gewalt. Es geht aber auch um individuelle Gewalt als wirksames Phänomen im militärischen Alltag, um rein funktionale, nur durch sachliche Anforderungen bedingte Härte im Einsatz, im Grundbetrieb und in der Ausbildung.23 Hierzu gehört unter anderem auch die Rationalität der 21 Baudissin 56,1; s. a. Handbuch (1957), S. 60; im Original sind die Worte „blindes Wüten und Zerstören“ hervorgehoben. s. a. dass. S. 59 und S. 91. 22 Baudissin unterschied fünf solcher idealtypischen Kriegsbilder: kalter Krieg, subversiver Krieg (auch weltweiter permanenter Bürgerkrieg genannt), nicht atomarer (konventioneller) Krieg, begrenzter atomarer Krieg und totaler atomarer Krieg. Siehe u. a. Baudissin 62,2, ders. (1969), S. 55–77. Zum Verständnis vom subversiven Krieg siehe unter anderem Baudissin 51,5, und ders. (1969) S. 23 f. und S. 205 ff. Das heiße Gefecht wird von Baudissin besonders anhand dessen Technisierung und damit auch Dynamisierung durchdacht. Es heißt dazu unter anderem: „Das Gefecht der Zukunft ist weder eine mechanisch ablaufende Kollektivschlacht, noch besteht es ausschließlich aus Einzelkämpfen – es ist ein dynamisch-technisches Gefecht. Es wird getragen von der Initiative einzelner Soldaten und Gruppen, die aus Verantwortung und Einsicht im Rahmen einer verstandenen Gesamtabsicht handeln.“ Mit dem Begriff permanenter Bürgerkrieg wurde auch der sogenannte Kalte Krieg des damaligen Ost-West-Konfliktes beschrieben: „Allgemeine Friedlosigkeit ist das Kennzeichen dieser Auseinandersetzung, die auf allen Lebensgebieten ausgetragen wird.“ Handbuch (1957), S. 34–39, dass. S. 42 f. und S. 49–77. Diesen Bildern wird hier gefolgt. 23 Disziplin muss daher auch menschlich sein, d.h. Unmögliches, Unnötiges oder gar Unsittliches darf niemals verlangt werden, siehe Handbuch (1957), S. 115. Dazu auch unter anderem Baudissin 51,5, ders. (1969), S. 26; ders. 58,1; ders. 65,2 s. a. ders. 1969, S. 126 f; ders. 70,4, s. a. ders. (1982), S. 138 f. und S. 149, s. a. ders. 71,18.

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prägenden Kraft und Wirkung von Töten und Sterben, d.h. es geht auch um Hoheit und menschlichen Wert im Sterben, aber nicht um kollektivanonyme Heldenverklärung, nicht um einen sui-generis-Anspruch oder gar um eine romantische Verklärung des Todes als Mittel der Selbstverwirklichung. Entscheidungen zum und im Einsatz sind nicht nur politischer Art und singuläre historische Ereignisse, sondern sie gehen an die Persönlichkeit und rühren am Gewissen jedes einzelnen Soldaten. Dort tun sich Probleme auf, mit denen sich der einzelne möglicherweise ein ganzes Leben lang weiter herumschlagen muss. Baudissin betonte deshalb: „Zum beruflichen Ethos des Soldaten gehört es, dass er mit der ihm anvertrauten Gewalt so gewissenhaft wie möglich umgeht [. . .], dass der Soldat weiß, was er tut und tun muss, und dass er mit seiner Befehlsgewalt wie dem Einsatz seiner Mittel gewissenhaft umgeht.“24 Im Sinne der Inneren Führung geht es also darum, Grenzen für militärisches Handeln im Einsatz als ‚Sicherheitsbestimmungen‘ für militärische Führung zu erkennen und durchzusetzen. Dies ist eine erste Schlüsselqualifikation. Dazu ein aktuelles Beispiel: Seit Sommer 2008 gilt die Resolution des UN-Sicherheitsrates, wonach sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen im Zusammenhang mit militärischen Einsätzen nicht mehr als ‚soldatisches Kavaliersdelikt‘, d.h. als ‚Nebenprodukt‘ des Krieges abzutun sind. Systematische Vergewaltigungen werden nicht länger als Kriegsstrategie geduldet, sondern gelten nun als Kriegsverbrechen, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie stellen ‚eine Gefahr für Frieden und Sicherheit‘ dar. Das Fatale bei alledem ist deren Wirkung: Vergewaltigung ist das einzige Verbrechen, bei dem das Stigma der Tat dem Opfer und nicht dem Täter anhängt.25 Wenn also die Soldaten vor und im Einsatz z. B. wegen der Ansteckung mit Aids bei Geschlechtsverkehr besonders eindringlich auf gesundheitliche Gefahren hingewiesen werden, ist dies nicht nur in individueller Hinsicht im Sinne der Inneren Führung hilfreich; dass dort auch ‚Gefahren für Frieden und Sicherheit‘ lauern und völkerrechtliche Tatbestände zu beachten sind, macht deutlich, weshalb eine derartige Frage in einem viel weiteren Umfang von Innerer Führung gesehen werden muss.

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Baudissin 69,20. Siehe Böhm (2008), S. 1. Die Auswirkungen von Vergewaltigungen während des Zweiten Weltkrieges werden erst in den letzten gut zehn Jahren systematisch wissenschaftlich aufgearbeitet. Dabei wird häufig beschönigend unterstellt, die geschwängerten Frauen wären die Verbindungen freiwillig eingegangen. Dass aber selbst in derartigen Fällen lebenslang Traumata zurückbleiben, wird z. B. in dem jüngst erschienen Buch über Kriegskinder in Griechenland, Muth (2008), offensichtlich. 25

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2. Schlüsselqualifikation am Bild des kalten Krieges Wenn heute vom Einsatz in ‚Neuen Kriegen‘ gesprochen wird, ist damit meist eine neue Ausprägung von konventionellen Kriegen infolge asymmetrischer Kräfte- und Waffenverhältnisse gemeint. Auch wenn sich politisches Gewand und regionale Ordnung gegenüber der Ost-West-Konfrontation verändert haben, darf nicht übersehen werden, dass es auch weiterhin eine Form des kalten Krieges gibt, den Baudissin auch als permanenten und weltweiten subversiven Bürgerkrieg bezeichnete. Ihn charakterisierte er folgendermaßen: „Allgemeine Friedlosigkeit ist das Kennzeichen dieser Auseinandersetzung, die auf allen Lebensgebieten ausgetragen wird.“26 Zusammengefasst bedeutet das ‚Dienst für den Frieden‘ für den einzelnen Soldaten als Handelnder vor Ort, für das Militär mit seiner taktisch-operativen Aufgabe sowie für die Politik mit ihrer politisch-militärischen Strategie. Dieser Friedensdienst stützt sich im Wesentlichen auf die abschreckende Funktionalität des politischen Machtmittels der Streitkräfte. Baudissin hatte daher entsprechend zu bedenken gegeben: „Sollten Soldaten nicht auch den Mut haben, sich heute für die Sache des Friedens zu engagieren, und sollten sie nicht eine lohnende Aufgabe darin finden, im Frieden den Frieden zu bewahren und im Krieg den Rückweg in den Frieden offen zu halten – solange Friede nur ein bewaffneter Friede sein kann und Abschreckung die geltende Strategie bleibt?“27 Dies war bereits im Zeichen der Ost-WestKonfrontation für so manchen nicht leicht nachzuvollziehen. Mindestens ebenso schwer ist dies für die politisch-strategische Defensive heute gegenüber dem globalen Terrorismus zu verstehen, zumal sie in ihren konkreten Ausformungen nur wenig mit herkömmlichen Abschreckungsstrategien gemein hat. Das bedeutet eine gewaltige pädagogische Aufgabe im Sinne der Inneren Führung – und zwar nicht bloß als Frage der Politischen Bildung. Die zweite Schlüsselqualifikation beinhaltet also Konflikt-, Kompromisssowie Friedensfähigkeit. Mit anderen Worten: Es geht um das Leitbild des ‚Soldaten für den Frieden‘:28 Der Soldat muss in seinem Verhalten ange26

Handbuch (1957), S. 35. Im Kapitel über Tradition handelt ein umfangreicher Absatz von den Forderungen des Gefechts: Tradition sei nur sachlich aus der Gefechtsnotwendigkeit zu begründen. Die „vornehmste Aufgabe des Soldaten“ sei die des „Beschützers und Bewahrers“. Und letztendlich: „Im Denken des europäischen und damit auch des deutschen Soldaten gilt von jeher der Frieden als der Normalzustand und bildet somit das Ziel, um dessentwillen ein Krieg allein verantwortet werden kann. Vom Frieden her bekommt die Kriegführung ihren Auftrag und ihre Grenzen.“ Handbuch (1957), S. 59. 27 Baudissin 69,9. 28 Das Leitbild des ‚Soldaten für den Frieden‘ hat aber auch zu Missverständnissen Anlass gegeben, die durch die Abstinenz der einschlägigen Vorschriften gegenüber dem Thema ‚Krieg‘ und ‚Einsatz‘ weiter genährt wurden (vgl. die Ausführun-

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messen, menschlich und damit für friedliches Miteinander glaubwürdig sein und bleiben. Da diese Schlüsselqualifikation gerade auch im Einsatz und heißen Krieg gilt, darf er weder Gewalt und Zerstörung provozieren noch sich selbst dazu provozieren lassen. Und nach dem Einsatz muss er wieder zu friedfertigem Verhalten zurückfinden. 3. Schlüsselqualifikation am Bild des Handelnden im Einsatz Der Handelnde – im Grunddienst wie im Einsatz – ist nach dem Verständnis von Innerer Führung eine ‚Persönlichkeit‘ und nicht nur ein ‚Rädchen im Getriebe‘ oder ein ‚Nur-Objekt‘ der militärischen Maschinerie. Es geht um nichts weniger als das freiheitliche Menschenbild für den mündigen Staatsbürger in Uniform als die dritte Schlüsselqualifikation. Zu ihr zählen unter anderem Gewissensfreiheit, Verantwortungsbewusstsein, Selbständigkeit, Entschlusskraft, Wendigkeit, Spontaneität, Anpassungsfähigkeit. Im „Handbuch Innere Führung“ von 1957 hieß es entsprechend, „dass die Aufgaben im modernen Gefecht – schon in den Gefechten des Kalten Krieges, in denen wir heute bereits oder noch stehen – ohne selbständiges, verantwortungsbewusstes Denken und Handeln selbst des einfachen Soldaten nicht zu meistern sind.“29 Dies weist nicht nur auf die Existenz gewisser Freiräume für Ermessen und Handeln im militärischen Führungsalltag hin, sondern fordert sie regelrecht ein. Das ist seit den Anfängen der Bundeswehr ein zentraler Gedanke der Inneren Führung. Er steht im Gegensatz zur totalen Organisation. Baudissin betonte bereits 1952 die Notwendigkeit einer ‚vermenschlichten Organisation‘ und plädierte für freiheitliche Führungsmethoden mit Team-, Gemeinschafts- und Verantwortungssinn.30 Im Handbuch zur Inneren Führung fanden deshalb auch das Miteinander von Vorgesetzten und Untergebenen im Team sowie Interaktion und Kooperation im Rahmen von Befehl und Gehorsam besondere Beachtung. Das entspricht dem Führungsverständnis in der Taktik, dem ‚Führen mit Aufträgen‘: „Gefordert ist eine charakterstarke und in der Urteilskraft gefestigte Persönlichkeit mit emotionaler und moralischer Stabilität, die auch in Krisensituationen unter hohem psychischen und physischen Druck bestehen kann.“31 gen in Abschnitt III. dieses Beitrags). Exemplarisch dafür steht z. B. die Klage eines Offiziers, der 1991 vor einem möglichen Einsatz in Erhac bemerkte, er sei nicht Soldat geworden, um in den Einsatz zu gehen. 29 Handbuch (1957), S. 110. 30 Baudissin 52,5, s. a. ders. (1969), S. 133 f; ders. 54,9. Diese Gedanken stehen auch im Zentrum von Baudissins Ausführungen in der Stein-Preis-Rede, ders. 65,2, s. a. ders. (1969), S. 117 ff. Ebenso siehe Rosen (2005), besonders S. 49–51 und S. 77. 31 Schneiderhan zitiert in Schmitz (2008), S. 22.

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III. Ziele und Inhalte der Inneren Führung für die Einsatzausbildung in den Vorschriften für Innere und äußere Führung Bei Vorschriften handelt es sich aus pädagogisch-curricularer Sicht um Kataloge von Lehr- und Lernzielen. Dabei werden spezielle Vorschriftenaussagen im Sinne einer Lernzielhierarchie gelegentlich auch als Feinziele oder Lerninhalte bezeichnet. Die getrennte konzeptionelle Bearbeitung von Innerer und äußerer Führung im Amt Blank und später im Verteidigungsministerium hat bis heute zur Folge, dass die Lernziele für den Einsatz in zwei voneinander unabhängigen Reihen von Führungsvorschriften der Bundeswehr niedergelegt sind: Während man beispielsweise beim Heer die ‚äußere Führung‘ in der Heeres-Dienstvorschrift (HDv) für Truppenführung (TF) fasst, wurde die Innere Führung zunächst im „Handbuch für Innere Führung“ und später in einer Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) behandelt. Dies führte dann zu einer streng getrennten pädagogischen Vermittlung der Lernziele in Konzeption und Lehre. Die Ausgangsfrage ist daher zu präzisieren: Wie kann der Soldat die Lernziele beider Seiten von Führung in seinem alltäglichen Handeln praktisch miteinander verknüpfen? Gibt es in den Vorschriften entsprechende Querverbindungen, wechselseitige Bezugnahmen oder zumindest mögliche Anknüpfungspunkte für die jeweils andere Führungskomponente, die dem Soldaten weiterhelfen? Dieser Frage soll anhand der Vorschriften seit Anfang der Bundeswehr im direkten Vergleich nachgegangen werden.32 Dabei kann man drei Entwicklungsphasen unterscheiden: 1. die Aufbauphase in den fünfziger und sechziger Jahren, in der die Gedanken der Inneren Führung von Seiten der äußeren Führung strikt abgelehnt wurden, 2. die Konsolidierungsphase in den siebziger und achtziger Jahren, in der sich eine Integration beider Führungsaspekte abzeichnete, und 3. die Transformationsphase seit den neunziger Jahren, die von einem erneuten Auseinanderdriften von Innerer Führung und äußerer Führung und einer starken Tendenz zur Desintegration und zur Restauration gekennzeichnet ist. 32

Die Vorschriften sind bis auf die jeweilige neueste Fassung heute nicht mehr gültig. Alle Vorgängervorschriften waren mit dem Erlass der Nachfolgevorschrift stets zu vernichten. Daher existieren von den früheren Vorschriften kaum noch Exemplare in Bibliotheken, Vorschriftenstellen oder auch im privaten Besitz. Um dem Leser einen aussagefähigen Einblick zu vermitteln, werden daher die relevanten Passagen aus den Vorschriften teilweise ausführlicher und im Kontext dargestellt, damit ein sprachlicher Vergleich möglich ist.

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1. Ziele und Inhalte für die Einsatzausbildung in der Aufbauphase in den fünfziger und sechziger Jahren Die Konzeption ‚Innere Führung‘ wurde Stabsoffizieren und Generälen erstmalig 1956 im ‚Sonthofener Lehrgang‘ in Vorträgen vorgestellt. Diese wurden dann 1957 teilweise in der Zentralen Dienstvorschrift „Leitsätze für die Erziehung“ vom Minister und in Gänze im „Handbuch für Innere Führung“ durch den Generalinspekteur veröffentlicht. Das Stichwortverzeichnis des Handbuchs weist den Begriff ‚Gefecht‘ an mehr als 35 Stellen aus. Der zentrale Beitrag aus Baudissins Feder befasste sich mit dem Thema Staatsbürger in Uniform nicht nur aus den Sichtweisen „Soldat und Demokratie“ sowie „Soldat in der sozialen Wirklichkeit“, sondern besonders aus der Perspektive „Soldat im permanenten Bürgerkrieg“ sowie „Soldat im heißen Gefecht“.33 Daher sei nun für die Erziehung jedes Soldaten wichtig, was früher nur für den Vorgesetzten vorgesehen war; sie müsse an der Kriegswirklichkeit gemessen werden. Baudissins Ausführungen gipfeln in den Leitsätzen,34 wo es zum Sinn der Erziehung z. B. heißt: „Die Bundeswehr schützt Frieden und Freiheit des deutschen Volkes.“ Und weiter zu den Zielen: „Sittliche, geistige und seelische Kräfte bestimmen, mehr noch als fachliches Können, den Wert des Soldaten in Frieden und Krieg.“ Sowie an anderer Stelle: „Der Kampf verlangt Kühnheit und Willenskraft, Besonnenheit und Beharrlichkeit, auch in höchster Gefahr und bis zur Hingabe des Lebens. Darum ist Tapferkeit die ausgezeichnete Tugend des Soldaten. In ihr vereint sich natürlicher Mut, der durch Erfahrung verlässlich wird, mit wachem Geist und wachem Gewissen.“ Seitens der Inneren Führung finden sich also deutliche Hinweise auf entsprechende Aspekte aus dem Gebiet der Truppenführung. Anders verhält sich dies bei den ersten beiden Vorschriften zur Truppenführung,35 die Minister Theodor Blank im März 1956 erließ. Sie beschränkten sich „auf die Grundsätze eines mit herkömmlichen Waffen geführten Kampfes“ sowie die „Führungsgrundsätze des Heeres im Atomkrieg“. Sie behandeln ausschließlich rein taktische Sachverhalte eines konventionellen Krieges bzw. ausschließlich technische und taktische von Atomwaffen. Damit führten diese beiden Vorschriften – entgegen der Intention der Vertreter der Inneren Führung – zu einer scharfen Trennung von äußerer und Innerer Führung. Dies gilt auch für die Überarbeitung von 1959, selbst wenn in deren Vorbemerkung der Einfluss der psychologischen Kampfführung betont und das Thema psychologische Rüstung etwas ausführlicher behandelt 33 34 35

Vgl. Abschnitt II. dieses Beitrags. Handbuch (1957), S. 91 ff., hier Nr. 1, 2 und 6. HDv 100/1, 1956 sowie HDv 100/2, 1956.

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wurde. ‚Innere Führung‘ oder ‚Menschenführung‘ sucht man im Stichwortverzeichnis jedoch vergebens. Dies bedeutet eine so radikale Abwendung von der Inneren Führung, dass diese im Rahmen der Truppenführung nicht einmal gedacht, geschweige denn bewusst praktiziert werden konnte. Auch in der Vorschrift zur Truppenführung aus dem Jahre 196236 fehlen Begriffe wie Innere Führung oder Menschenführung. Das Kapitel „Führung“ behandelt zwar eine Anzahl von Begriffen aus dem Gebiet der Inneren Führung,37 ohne jedoch einen ausdrücklichen Zusammenhang herzustellen und ohne die entsprechenden Grundgedanken der Inneren Führung aufzunehmen. Zum Stichwort ‚Verantwortung‘ z. B. heißt es: „Verantwortungsfreude ist die vornehmste Führereigenschaft. Sie darf jedoch nicht darin gesucht werden, ohne Rücksicht auf das Ganze eigenmächtige Entschlüsse zu fassen oder Befehle nicht zu befolgen. Selbständigkeit dagegen, die sich in richtigen Grenzen geltend macht, ist die Grundlage großer Erfolge.“38 Diese Formulierung scheint die rechtlichen Bestimmungen der Inneren Führung zu Befehl und Gehorsam betont zurückdrängen zu sollen. Die Vorschrift nimmt zusätzlich eine größere Zahl von Themen aus dem Gebiet der Inneren Führung auf wie z. B. die psychologischen Führungsaufgaben. Dabei sticht der deutlich technische und taktische Duktus aus den Vorgängervorschriften sogar bei diesen Ausführungen ins Auge. Die Definitionen z. B. von „Gefahren für die Innere Haltung“ oder „Panik“ stellen eher Versuche nominaler Beschreibungen dar; ihnen folgen kurz und knapp Anweisungen zum Handeln der Vorgesetzten. Bezüge zu ergänzenden Ausführungen aus dem Gebiet der Inneren Führung z. B. zum Verständnis dessen, was in solchen Situationen abläuft, fehlen vollständig. Auch wenn oberflächlich betrachtet sich eine Annäherung der Truppenführung hin zur Inneren Führung durch Umdeutung und Umdefinition zentraler Gedanken der Inneren Führung anzudeuten scheint: In Wirklichkeit bleiben Innere und äußere Führung klar voneinander getrennt. In dieser Phase gab es also in den Vorschriften der Inneren Führung deutliche Bezüge und Anknüpfungspunkte zum Gebiet der äußeren Führung. Seitens der Truppenführung wurden jedoch die Schotten zur Inneren Führung hin heruntergelassen. Der Soldat sah sich damit alternativlos in die Zwangslage versetzt, äußere Führung ausschließlich nach dem Modell 36

HDv 100/1, 1962. Das sind: selbständiges Denken, entschlossenes Handeln, Tapferkeit, Gehorsam, Pflichtbewusstsein, Manneszucht, Leistung, Kampfgemeinschaft, Vertrauen, Kameradschaft und Kampfwert sowie speziell für den Vorgesetzten: Persönlichkeit, Verantwortungsfreudigkeit, Befehl und Gehorsam, persönliche Verantwortung, Wahrung des Rechts und Einheitlichkeit im Denken und Handeln. 38 HDv 100/1, 1962, Nr. 48. 37

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Truppenführung zu lernen und sich für die Einsatzpraxis selbständig seinen Reim mit Blick auf die Innere Führung zu machen. Zielgerichtetes Lernen für die komplexe Führungspraxis wurde so verhindert. 2. Ziele und Inhalte für die Einsatzausbildung in der Konsolidierungsphase in den siebziger und achtziger Jahren 1972 wurde die Vorschrift „Hilfen für die Innere Führung“ erlassen. Darin werden einleitend die verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie die Aufgaben der Bundeswehr im Rahmen einer (friedenderhaltenden) Abschreckung, im Spannungs- sowie im Verteidigungsfall betont. Im Hauptkapitel heißt es unter anderem: „Die Soldaten müssen [. . .] sich im täglichen Dienst auf den Kampf mit der Waffe vorbereiten und darauf einstellen, in die Gefahr hinein zu handeln. Diese Eigentümlichkeiten sind notwendig für die Erfüllung des Auftrages und daher nicht aufhebbar.“39 Schließlich heißt es noch: „Die gemeinsame Sicherheitspolitik und die Einsatzbereitschaft aller Streitkräfte im Bündnis rechtfertigen die Erwartung, dass der Krieg vermieden wird. So hilft die Kampfbereitschaft des Soldaten, den Frieden zu bewahren. Sein Dienst ist Friedensdienst.“40 Und im umfangreichen Fundstellenverzeichnis zu Erlassen und vergleichbaren Dokumenten findet man zu ‚Gefecht‘ und verwandten Begriffen nur das Stichwort ‚Kriegsvölkerrecht‘. Bezüge zum Themenfeld ‚Krieg‘ oder ‚Einsatz‘ werden in dieser Schrift zur Inneren Führung im Gegensatz zur Vorgängerschrift von 1957 also nur angedeutet. Diese (quasi) totale Abstinenz erstaunt auf den ersten Blick. Sie mag auch der Grund dafür sein, dass sich ein Bild und Selbstverständnis vom ‚nur friedlichen‘ Dienst in der Bundeswehr entwickeln konnte. Im Grunde wird man bei der Abfassung der Vorschrift wie bereits im „Handbuch Innere Führung“ davon ausgegangen sein, dass alles, was zur Inneren Führung zu sagen ist, gleichermaßen im kalten wie im heißen Gefecht gilt. Die Hauptbotschaft dieser Vorschrift war, dass der Bundeswehralltag des Kalten Krieges im Sinne der politischen Abschreckung bereits eine Form von ‚Einsatz‘ sei. Da dies aber in der 1972er Vorschrift expressis verbis nicht gesagt ist, bleiben Bezüge und Verknüpfungsmöglichkeiten zu entsprechenden Aussagen in der Vorschrift zur Truppenführung höchst undeutlich. Die Neufassung der Vorschrift „Truppenführung“ von 197341 stellt gegenüber den Vorgängervorschriften aus den fünfziger und sechziger Jahren eine 39 40 41

ZDv 10/1, 1972, Nr. 226. ZDv 10/1, 1972, Nr. 235. HDv 100/100, 1973 mit weiteren Vorschriften in der sogenannten 100er-Reihe.

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wichtige Neuerung dar. Sie beginnt mit dem Thema „Politik und Militärpolitik“ mit Verweisen auf die UNO, auf Friedenspolitik, Abschreckungsstrategie und Kriegsbild. Damit greift sie wesentliche Bezugspunkte auf, die für die Konzeption der Inneren Führung maßgebliche Bedeutung haben. Weiter nimmt sie – wie schon die Vorgängervorschrift – eine große Zahl von Begriffen aus dem Gebiet der Inneren Führung auf. Zur Persönlichkeit des militärischen Führers heißt es z. B.: „Der Führer kann seiner Aufgabe nur gerecht werden, wenn er ein gutes menschliches Verhältnis zu seinen Untergebenen hat und sie zum Mitdenken und Mithandeln heranbildet.“42 Hier zeichnen sich bereits deutliche Anlehnungen an die Innere Führung ab, die noch durch das eigenständige Kapitel „Innere Führung und Personalführung“43 verstärkt werden. Dies ist doppelt bemerkenswert, weil darin zum einen für die Innere Führung zentrale Begriffe überhaupt aufgenommen werden und zum anderen wegen des Duktus‘. So heißt es z. B.: „Die von den Grundsätzen der Inneren Führung bestimmte Menschenführung enthält daher ein außerordentliches Gewicht; sie muss den Soldaten von der Notwendigkeit seines Dienstes überzeugen und ihn anspornen, seine Pflicht treu zu erfüllen.“44 Oder zum Thema Vertrauen: „Vertrauen ist eine Grundlage erfolgreicher Menschenführung und der Kameradschaft. Vertrauen erwirbt, wer durch Wissen, Können und Leistung überzeugt, beherrscht und maßvoll ist, Gerechtigkeit und Geduld übt, Verständnis für den anderen hat, dessen Würde und Rechte achtet und wer unermüdlich für seine Untergebenen sorgt. Je härter die Anforderungen und je größer die Entbehrungen, desto stärker muss der Soldat die Fürsorge seiner Vorgesetzten spüren.“45 Solche Ausführungen hätten ebenso direkt in die Vorschrift „Innere Führung“ Eingang finden können. Dies signalisiert eine erstaunliche Entwicklung: eine Annäherung der Truppenführung an die Gedanken der Inneren Führung bis zu deren Integration. Dies ist umso bemerkenswerter, als sich zeitgleich das Bild einer gegenüber Einsatzfragen abstinenten Inneren Führung formen konnte. Auch wenn die Aussagen in der Vorschrift zur Inneren Führung eindeutige Bezüge vermissen lassen, können dennoch beim Lernen jederzeit Querverbindungen hergestellt und Verknüpfungen in der Führungspraxis selbstverständlich werden. Diese wechselseitige Anschlussfähigkeit bei Einsatz42 Weitere Stichworte sind: Aufgabe des Führers, entschlossenes Handeln, Selbständigkeit, besondere Verantwortung und gemeinsames militärisches Denken und Handeln. 43 In diesem Kapitel 7 werden die von den Grundsätzen der Inneren Führung bestimmte Menschenführung, Grundlagen soldatischer Leistung, Ziele der Inneren Führung, Disziplin, Kameradschaft, Vertrauen, seelische Willenskraft, Furcht und Angst sowie Panik ausführlicher und mit deutlichem Bezug zur Inneren Führung behandelt. 44 HDv 100/100, 1973, Nr. 701. 45 HDv 100/100, 1973, Nr. 705.

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fragen bedeutete aus pädagogischer Sicht eine große Hilfe – für den einzelnen Soldaten genauso wie für die Lehre. Wie noch zu zeigen ist, hat dies auch pädagogisch-praktische Folgen bei der Entwicklung von Lehrgängen in der Führerausbildung gehabt. 3. Ziele und Inhalte für die Einsatzausbildung in der Transformationsphase seit den neunziger Jahren Bereits Ende der achtziger Jahre zeichnete sich eine erneute Kehrtwendung ab. In der ‚verbesserten‘ Fassung der Vorschrift zur Truppenführung von 198746 erscheint der Begriff ‚Innere Führung‘ nur noch an untergeordneter Stelle im Kapitel „Operation“: Demnach stellen „Maßnahmen der Inneren Führung“ eine von fünfzehn „Allgemeinen Aufgaben im Gefecht“ dar, wie etwa Sicherung, Marsch oder Sanitätsdienst. Gleichwohl erstaunt zumindest auf den ersten Blick die große Zahl von Stichworten aus dem Bereich der Inneren Führung, die ins Gebiet der äußeren Führung übernommen werden. Sie erfahren jedoch einen besonderen Zuschnitt, der von Ansätzen der Konzeption ‚Innere Führung‘ eher Abstand nimmt. Sie werden regelrecht umdefiniert. So heißt es z. B. im Abschnitt zur Menschenführung: „Lange Friedenszeit kann dazu verleiten, die intellektuellen Fähigkeiten über zu bewerten; neben diesen und dem fachlichen Können bedingen jedoch die moralischen und seelischen Kräfte den Wert des Soldaten im Krieg. Sie zu stärken und die Eigenschaften des Charakters zu fördern, ist die Aufgabe militärischer Erziehung.“47 Auf der anderen Seite sind die Kapitel „Sicherheitspolitik und Militärstrategie“ sowie „Psychologische Verteidigung“ wegen der politischen Veränderungen nach 1989 wieder außer Kraft gesetzt worden.48 Schließlich fällt wieder ein technisch-taktischer Duktus auf, der in dieser Vorschrift im Gegensatz zur Vorgängerin domi46 HDv 100/100, 1987. Das Kapitel Nr. 6 „Soldatisches Führen“ enthält vier Abschnitte: Einheit der Führung mit den Stichworten: Truppenführung, Ziel des Krieges, Verantwortung der militärischen Führung sowie Führen mit Auftrag; der militärische Führer mit den Stichworten: Persönlichkeit, Einstellung und Handeln, geistige Beweglichkeit und Spannkraft, körperliche Leistungsfähigkeit, entschlossenes Handeln, Selbständigkeit, persönliche Verbindung zu unterstellten Führern und zur Truppe, Grenzen der Technik sowie Sprache; Menschenführung mit den Stichworten: der Mensch als der entscheidende Träger des Kampfes, Grundlagen soldatischer Widerstandskraft und seelische Belastung, psychologische Angriffe des Feindes, Disziplin, Vertrauen, Kameradschaft, Fürsorge, Furcht und Panik. 47 HDv 100/110, 1987, Kap. 6, Abschnitt III, Nr. 616. 48 Dies stellt ein Politikum dar: Zwei Kapitel mit unmittelbarem Bezug zu Fragen der Inneren Führung mussten kurz nach Erlass der Vorschrift wegen der politischen Veränderungen gestrichen werden. Ohne in Spekulationen über Gründe für die Streichungen zu verfallen, kann hier festgestellt werden, dass in der Vorschrift erhebliche Einseitigkeiten des Kriegsbildes vorgeherrscht haben müssen. Die heute sogenannten

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niert. Zum Thema ‚Vertrauen‘ z. B. heißt es: „Das Bewusstsein ungeteilter Verantwortung und die Durchsetzung von Befehl und Gehorsam ermöglichen es dem Führer, seine Truppe nach seinem Willen zu gemeinsamer Leistung zu führen.“49 Und weiter steht: „Gegenseitiges Vertrauen von Führern und Geführten bestimmt den Zusammenhalt der Truppe, es ist Grundlage für das Führen mit Auftrag. Das Vertrauen zur Führung sowie in die eigene Leistungsfähigkeit und Ausrüstung fördert die Kampfbereitschaft und festigt die innere Widerstandskraft, auch in schwierigen Lagen.“50 All dies markiert eine deutliche Abwendung von der Vorgängervorschrift. Die angekündigte ‚Verbesserung‘ entpuppt sich als Rückkehr zu einer Distanz gegenüber der Inneren Führung, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren herrschte. Dies ist eine ‚Verschlimmbesserung‘ hinsichtlich der Bezüge zwischen beiden Führungsbereichen. Dieser Trend setzte sich 1993, zwei Jahre nach den ersten Auslandseinsätzen von Bundeswehr-Kontingenten, auch in der Neufassung der Vorschrift „Innere Führung“ fort. Selbst wenn sich dort Begriffe wie Auftragstaktik und Einsatz finden, vermissten Kritiker Aussagen zur Inneren Führung in Einsätzen. An einer Stelle wird zwar betont, „dass der Soldat im Fall einer bewaffneten Auseinandersetzung auch unter Einsatz seines Lebens kämpfen muss“51. Ansonsten findet das Themenfeld ‚Einsatz‘ nur als Orientierung für die Ausbildung Erwähnung. Auf der anderen Seite wird im Kapitel zu den sogenannten Anwendungsfeldern unmissverständlich festgestellt: „Ziele und Grundsätze der Inneren Führung gelten für den gesamten militärischen Dienst im Frieden wie in Krise und Krieg.“52 Diese Klarstellung bedeutet zwar im Vergleich zur Vorschrift von 1972 einen Fortschritt insofern, als nunmehr eine Fehlinterpretation von Innerer Führung als reiner Friedensmaßnahme ausgeschlossen war. Wie die speziellen Aspekte, Ziele und Inhalte von Innerer Führung aber mit denen der Truppenführung in Verbindung zu bringen sind, blieb weiterhin dem einzelnen Soldaten überlassen. Die Vorschrift „Truppenführung“ von 200053 verzichtet nach 45 Jahren Bundeswehr gleich ganz auf das Stichwort ‚Innere Führung‘.54 Immerhin ‚Neuen Kriege‘ und der ‚Kalte Krieg‘ als ‚Nicht mehr Frieden‘ und zugleich ‚Noch nicht heißer Krieg‘ waren in der Truppenführung weitgehend verloren gegangen. 49 HDv 100/100, 1987, Nr. 603. 50 HDv 100/100, 1987, Nr. 621. 51 ZDv 10/1, 1993, Nr. 209. 52 ZDv 10/1, 1993, Nr. 301 und Nr. 329. Zusätzlich wird auch auf das humanitäre Völkerrecht in bewaffneten Konflikten verwiesen. 53 HDv 100/100, 2000. 54 Im ersten Kapitel zum Einsatz von Streitkräften geht es um eine Abgrenzung von Politik, die im vierten Kapitel über Wesen und Merkmale der Truppenführung

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enthält sie eine Großzahl von Begriffen aus dem Gebiet der Inneren Führung. Zur Persönlichkeit des Führers heißt es z. B.: „Soldatisches Führen ist Grundlage der Truppenführung auf allen Führungsebenen und bei allen Einsätzen des Heeres. Es bewährt sich vor allem im Kampf, unter außergewöhnlichen Bedingungen, in ungeklärter Lage und unter Zeitdruck. Soldatisches Führen verbindet soldatische Tugenden mit den, von der Konzeption Innere Führung bestimmten, Grundsätzen zeitgemäßer Menschenführung.“55 Diese hoch emotionalen Gedanken zur Bewährung im Kampf markieren ebenso wie die Ausführungen zu den erforderlichen Charaktereigenschaften eine betonte Abkehr vom Ansatz der Inneren Führung: „Die Aufgabe und Verantwortung als militärischer Führer, Erzieher und Ausbilder verlangen besondere charakterliche Eigenschaften, geistige und körperliche Fähigkeiten sowie ausgeprägtes soziales Einfühlungsvermögen und Kommunikationsfähigkeit.“56 Und weiter heißt es in derselben Nummer: „Zivilcourage beweist der militärische Führer durch die Fähigkeit, Grenzen des Gehorsams zu erkennen[,] und durch den Mut, ungeachtet möglicher persönlicher Nachteile seine Überzeugung zur Geltung zu bringen.“ Diese Grenzen57 werden unter dem Stichwort ‚Verantwortung‘ allgemein beschrieben: „Gehorsam ist jedoch nicht absolut und unbedingt, sondern an ethische Normen gebunden.“58 D.h. Grenzen reduziert man auf die des Gehorsams und weicht dabei in das nicht mehr Fassbare des Ethischen aus, während etwa durch Recht und Gesetz klar vorgegebene Grenzen unterschlagen werden. All dies deutet darauf hin, dass die Truppenführung nicht nur von der Konihre Fortsetzung erfährt. Das dritte Kapitel zu soldatischem Führen hat drei Abschnitte. Sie weisen eine Vielzahl von Begriffen aus, die zur Inneren Führung gehören: Ein Unterabschnitt befasst sich mit Menschenführung mit den Stichworten Mensch, Vertrauen, Tapferkeit, Disziplin, Moral, Selbstbeherrschung, Einsicht, Opfer, Unterstützung durch die Öffentlichkeit, Kameradschaft, Information, Lageinformation, Medien, Fürsorge, Vorbereitung auf den Einsatz, psychologische Betreuung und seelsorgerische Begleitung. Der zweite Unterabschnitt über Bedingungen des Einsatzes behandelt unter anderem Furcht, Panik, Grenzen der Leistungsfähigkeit sowie Betreuung und Familienbetreuung. Und der dritte Unterabschnitt beschreibt den militärischen Führer nach Persönlichkeit und Beispiel, Verantwortung, Initiative, Beweglichkeit im Denken und Handeln, Widerstandsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Zivilcourage, Haltung und Auftreten, Einfühlungsvermögen, Entscheidungsfreude, Kompromissfähigkeit, Sprache und Umgang mit der Technik. 55 HDv 100/100, 2000, Nr. 301. Bereits die Sprache verrät eine deutliche Distanzierung von der Inneren Führung, wenn hier auf die Innere Führung nur noch per Apposition verwiesen wird. Denn sprachlich bedeutet dies, dass es die Grundsätze zeitgemäßer Menschenführung auch oder überhaupt nur außerhalb von Innerer Führung gibt. 56 HDv 100/100, 2000, Nr. 322. 57 Grenzen der Führung werden in der ZDv 10/1, 2008, Nr. 415, nur unter den Aspekten ‚Einsatzrecht‘ und ‚Verhaltensnormen der Einsatzländer‘ behandelt. 58 HDv 100/100, 2000, Nr. 304.

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zeption der Inneren Führung Abstand nimmt, sondern deren Grundlagen auch bewusst umdeutet. Seit November 2007 gilt eine neue Vorschrift „Truppenführung von Landstreitkräften“.59 Deren Gliederung weicht stellenweise erheblich von der Vorgängervorschrift ab. Dennoch gleichen sich beide Vorschriften inhaltlich in weiten Teilen: So fällt z. B. auf, dass der Begriff ‚Innere Führung‘ wieder nur an untergeordneter Stelle zu finden ist; er erscheint diesmal zwar nicht in einer Apposition, der Satz aus der Vorgängervorschrift wurde jedoch so aufgeteilt und ergänzt, dass Innere Führung und Menschenführung als zwei gleichberechtigte Bereiche unabhängig voneinander stehen. Und andere Begriffe aus dem Gebiet der Inneren Führung werden auch hier wieder in die Truppenführung in dem gewohnten technizistischen Duktus aufgenommen. Außerdem unterscheiden sich beide Vorschriften deutlich gerade hinsichtlich der Möglichkeiten, Verbindungen zur Inneren Führung herzustellen. Z. B. werden die Grenzen militärischer Gewalt und die rechtlichen Beschränkungen für die Truppenführung in besonderen Abschnitten geregelt und die psychologischen Auswirkungen und deren Bedeutung für die Truppenführung ausgiebig unter dem Gefahrenaspekt betrachtet. Hier lassen sich Verknüpfungen zur Inneren Führung herstellen, auch wenn dies nirgendwo besonders erwähnt wird. Fast zeitgleich wurde auch eine neue Vorschrift „Innere Führung. Selbstverständnis und Führungskultur“ erarbeitet und Anfang 2008 erlassen. In dieser fällt der ausdrückliche Bezug zum Thema Einsatz auf: Der „militärische Dienst schließt den Einsatz der eigenen Gesundheit und des Lebens mit ein und verlangt in letzter Konsequenz, im Kampf auch zu töten. Der Dienst in der Bundeswehr stellt deshalb hohe Anforderungen an die Persönlichkeit der Soldatinnen und Soldaten. Sie treffen vor allem im Einsatz Gewissensentscheidungen, die ihre ethische Bindung in den Grundwerten findet.“ Und weiter: Die Grundsätze der Inneren Führung gelten „vom Innendienst bis zum Gefecht unter Lebensgefahr“. Das bedeutet als Verhaltensnorm: „[D]er militärische Auftrag erfordert in letzter Konsequenz, im Kampf zu töten und dabei das eigene Leben und das von Kameraden einzusetzen.“60 Dabei fällt aber auf, dass man das Wort ‚Sterben‘ in der Vorschrift nicht zu benutzen wagt. Gerade dieser Begriff dürfte sich aber im Sinne von Innerer Führung in besonderer Weise eignen, eine 59 HDv 100/100, 2007. Sie wurde am 5.11.2007 vom Inspekteur des Heeres erlassen. Sie ist als Verschlusssache eingestuft und kann daher hier nicht im Detail öffentlich zitiert werden. Sie liegt auch nicht als schriftliche Vorschrift vor, sondern ist nur im Intranet der Bundeswehr verfügbar. 60 ZDv 10/1, 2008, Nr. 105 – in der Vorschrift sind die Worte ‚Einsatz der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebens‘ hervorgehoben – sowie Nr. 107, 503 und 505.

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höchst bedeutsame Verwerfungslinie für den Soldaten gegenüber seiner zivilen Sozialisation zu thematisieren und deutlich zu machen. Als weiterer Mangel lässt sich monieren, dass Aussagen zum aktuellen Kriegsbild und zum Einsatz in ‚Neuen Kriegen‘ fehlen. Und die eher praxisnahen Ausführungen zu den zehn Gestaltungsfeldern von Innerer Führung vermitteln den Eindruck, als habe der Vorgesetzte im Einsatz keine Probleme zu erwarten, als wären Verwundung und Tod oder Einsatz-‚Nachsorge‘ eine Sache ausschließlich für die Seelsorge, die sanitätsdienstliche Versorgung oder die Politische Bildung. Dabei bleiben Aussagen über ethische, rechtliche, politische und gesellschaftliche Grundlagen, d.h. die Grenzen für militärisches Handeln im Einsatz, die ‚Sicherheitsbestimmungen‘ aus Sicht der Inneren Führung, derart abstrakt, dass sie nicht unmittelbar verständlich sind und nicht einfach auf Handlungssituationen im Einsatz übertragen werden können. Oberflächlich betrachtet könnte – alles in allem – durchaus der Eindruck entstehen, die Prinzipien Innerer Führung müssten deshalb nicht mehr ausdrücklich betont werden, weil sie mittlerweile vollständig in die Truppenführung integriert seien. Allerdings zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass die Grundgedanken der Inneren Führung durch nichtssagende Zitierung, wenn nicht gar schleichende Uminterpretation der einschlägigen Begriffe zunehmend verlorengehen. Eine Verknüpfung zur Truppenführung über die zitierten Reizworte hinaus scheint vermieden werden zu sollen. Das Feld der Truppenführung wird dadurch in Führung und Ausbildung von dem der Inneren Führung wieder scharf getrennt. Dies leistet beim Soldaten dem Eindruck Vorschub, dass Innere Führung nicht für den Einsatz zu gebrauchen sei und entsprechend auch nicht ausgebildet werden müsse. Die Aussagen zum Einsatz in der Vorschrift zur Inneren Führung von 2008 erscheinen hingegen hinsichtlich Umfang und Ausführlichkeit nicht nur recht ‚mager‘, sondern bewegen sich auf einem so hohen Abstraktionsniveau, dass es, pädagogisch gesehen, kaum mehr möglich ist, Querverbindungen zur Truppenführung herzustellen. Selbst die entsprechenden Vorgaben in der Vorschrift für Truppenführung von 2007 werden von Seiten der Inneren Führung nicht aufgenommen. Das bedeutet einerseits für die Führungspraxis eine lebensgefährliche Lücke und andererseits ein pädagogisches Manko: Wie in der Aufbauphase ist der Soldat wieder auf sich gestellt, die Grundsätze der Inneren Führung mit den Regeln für Truppenführung in der je individuellen Einsatzsituation für das Handeln vor Ort entsprechend zu harmonisieren und praktisch zu verbinden.

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IV. Verfahren und Institutionen der Ausbildung zur Inneren Führung für den Einsatz Hier stellt sich nun die methodische Frage, wie dem Soldaten dabei zu helfen ist, individuell den Transfer der Schlüsselqualifikationen der Inneren Führung für die Einsatzpraxis bewerkstelligen zu können. Dazu bieten sich drei deutlich voneinander zu unterscheidende Möglichkeiten an: Zum einen besteht die Option, die Fähigkeiten schlicht bei jedem angehenden Soldaten vorauszusetzen. Zum anderen könnte erwartet werden, dass diese Qualifikationen und Fähigkeiten als erhofftes Beiprodukt von Ausbildung, Bildung und Erziehung bzw. in alltäglich erlebter Führung quasi nebenbei per Sozialisation entstehen. Drittens wären die einsatzrelevanten Qualifikationen und Fähigkeiten pädagogisch-didaktisch zielgerichtet zu entwickeln. 1. Die erste Möglichkeit Gegen die erste Möglichkeit sperrt sich bereits der ‚gesunde Menschenverstand‘. Aus pädagogischer Sicht stellt sich darüber hinaus natürlich sofort die Frage, woher diese Ausstattungen der Person denn kommen. Handelt es sich dabei um angeborene Eigenschaften oder um sozial erworbene Charakterausprägungen, die jeder zum Dienstantritt mitzubringen hat? Und als zweites ist zu fragen, wie man ihre Qualifikationen operational abprüfen kann. Stellen die heute gängigen Tests hinreichend geeignete Prüfinstrumente dar? Die Eigenschaften, die hier abzufragen sind, verlangen auf jeden Fall ein umfangreiches Assessment-Center. Weiter ist zu bedenken, dass dies nicht bloß bei Offizierbewerbern, sondern auch bei allen anderen Soldaten angewendet werden muss, die bisher keinem derartigen Auswahlverfahren unterliegen. Bereits dieser Umfang wird ein erhebliches praktisches Problem darstellen, abgesehen davon, dass die Zahl der positiv Getesteten vermutlich den Bedarf nur schwerlich decken dürfte. 2. Die zweite Möglichkeit Wenn man schon die erste Möglichkeit aus grundsätzlichen Erwägungen verwirft und gleichzeitig feststellt, dass die geforderten Qualifikationen in der zivilgesellschaftlichen Sozialisation nicht (mehr) erworben werden, dann wird man dafür sorgen müssen, dass sie sich per Sozialisation im heutigen soldatischen Berufsfeld entwickeln können. Dabei stellt sich aber sofort die ethische Frage, ob man angesichts des Ernstes von Einsätzen auf eine Zufallsproduktion der entsprechenden notwendigen Fähigkeiten spekulieren darf. Vermutlich dürfte diese Möglichkeit angesichts der Zunahme von Ge-

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fahren in den ‚Neuen Kriegen‘ sogar mit der Verfassung in Konflikt geraten, weil sie letzten Endes darauf hinausliefe, unzureichend ausgebildete Soldaten sehenden Auges gleichsam als Kanonenfutter in den Tod zu schicken. Bisher war es in der Bundeswehr üblich, genau nur diesen zweiten Weg zu beschreiten: Zwar streift die Ausbildung von Offizieren, Unteroffizieren und auch für Mannschaften gelegentlich das Thema ‚Innere Führung im Einsatz‘. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist dies aber nie ein wirklicher Schwerpunkt gewesen. Selbst in der Vorschrift zur Inneren Führung von 2008 gibt es kein spezielles Gestaltungsfeld ‚Ausbildung, Dienst im Grundbetrieb und im Einsatz‘. Das bedeutet, dass ‚Einsatz‘ aus Sicht der für die Vorschrift Verantwortlichen weiterhin nur nebenbei stattfindet.61 Dieser zweite Weg reduziert Lernen auf persönliches ‚lessons learned‘, in dem der einzelne Soldat seine Erfahrungen mit Innerer Führung im Führungsalltag, im Grundbetrieb wie im Einsatz, mehr oder weniger bewusst auswertet. Das geschieht durch Versuch und Irrtum. Im Einsatz hat dieses pädagogische Lernprinzip aber den bitteren Beigeschmack, dass die Soldaten dabei genötigt sind, gerade auch an gefährlichen Fehlschlägen und gar an tödlichen Fehlern zu lernen. Dies bedeutet eine doppelte pädagogische Aufgabe: entsprechende Hilfen zur Umsetzung sachlicher Erfahrungen sowie – fast therapeutisch gesagt – zur Verarbeitung emotionaler Erfahrungen zu leisten. Für die sachliche Umsetzung gab es schon zu ‚Kaisers Zeiten‘ das Instrument des Gefechtsberichtes, den die Führer vor Ort zu schreiben und an die Vorgesetzten abzugeben hatten – ein im Stab geführtes Kriegstagebuch ist damit nicht zu vergleichen. Ziele und Inhalte von Innerer Führung und speziell Schlüsselqualifikationen auf diesem Wege selbständig zu evaluieren, stellt eine Aufgabe mit hohen Anforderungen an die persönliche Reife dar. Dazu den Soldaten im Rahmen seiner Möglichkeiten zu befähigen, geht es zum einen. Zum anderen kann ein derartiger persönlicher ‚Gefechtsbericht‘ 61 Dies wird in der Vorschrift von 2008 deutlich, z. B. bei der Frage der Information von Untergebenen zur Vorbereitung auf Einsätze, als Aspekt von Führen mit Auftrag durch die Gewährung von Handlungsspielräumen, im Zusammenhang mit Interkultureller Kompetenz bei Auslandseinsätzen oder als Hinweis an die Vorgesetzten, wegen der Belastungen im Einsatz Gelegenheiten zum persönlichen Gespräch mit den Untergebenen zu nutzen. Innere Führung in den und für die Einsätze kann nach Vorstellung der Vorschrift zusätzlich in einigen Gestaltungsfeldern vorkommen – etwa in der Politischen Bildung einschließlich der Tradition, im Gebiet Recht, speziell im Fach Kriegsvölkerrecht, aber auch in der Soldatischen Ordnung oder bei der Seelsorge. Das bedeutet dann, dass die Ausbildung zur Inneren Führung für den Einsatz außerhalb und getrennt von jener des sogenannten ‚Hauptgeschäftes‘ der Inneren Führung verbleibt; eine Verknüpfung des Hauptgeschäftes mit den anderen Komponenten scheint nicht geboten zu sein.

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– sei er gesprochen, geschrieben, gezeichnet oder sonst wie ausgedrückt – auch Hilfe bei der Bewältigung emotionaler Erfahrungen bieten, wie aus der Psychologie bekannt. Dass dies notwendig ist, scheint erst jüngst durch den Fernsehfilm „Willkommen zuhause“ in ein breiteres Bewusstsein gelangt zu sein.62 Es geht aber nicht bloß um die 245 bedauerlichen schwer Traumatisierten pro Einsatzjahr, die nur in einer therapeutischen Anstalt behandelt werden können und denen die Bundeswehr den freiwilligen und anonymen Weg zu einer Beratungsstelle anbietet.63 Hier wird eine weitere pädagogische Aufgabe deutlich, die mindestens so notwendig erfolgen muss, die Erste psychische Kameradenhilfe am Einsatzort und in der einsatznahen Etappe. Dort muss Hilfe beginnen. Dazu ist jeder Soldat als Kamerad gegenüber dem Kameraden verpflichtet, gleich welchen Dienstgrad und welche Funktion er hat. Diese Art Erste-Hilfe-Stellung kann jeder Soldat lernen. Die pädagogische Frage nach deren Vermittlung wird bislang absolut vernachlässigt. Auch die verschiedenen Hinweise auf Kameradschaft in der neuen Vorschrift zur Inneren Führung lassen diesbezüglich klare und konkretisierbare Aussagen vermissen. 3. Die dritte Möglichkeit Angesichts der Probleme und Unzulänglichkeiten der beiden ersten Möglichkeiten führt kein vernünftiger Weg an der dritten vorbei, nämlich Fähigkeiten im Sinne von Innerer Führung in Einsätzen gezielt auszubilden. Dafür gab es in der Bundeswehr gelegentlich bereits Beispiele: Erstens wurde im Rahmen der Ausbildung von angehenden Fachoffizieren an der Fachschule des Heeres für Erziehung in Munster Anfang der achtziger Jahre im Fach Sozialpädagogik ein halbes Jahr lang das Thema ‚Führen unter erschwerten Bedingungen, im Einsatz und Krieg‘ mit dem Schwerpunkt praktischer unmittelbarer Hilfestellung durch jedermann in derartigen Situationen behandelt und sogar in der Abschlussprüfung zum Staatlich anerkannten Erzieher geprüft. Zweitens waren die sogenannten Ergänzungslehrgänge für Stabsunteroffiziere im Heer Ende der siebziger und in den achtziger Jahren darauf angelegt, Qualifikationen im Sinne von Innerer Führung im Rahmen von Gefechtshandlungen auszubilden. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet immer noch der Bundeswehrausbildungsfilm zur Inneren Führung64 mit dem Thema ‚Befehlsverweigerung im Einsatz,‘ der speziell für die Er62

Gesendet am 2.2.2009 um 20.15 Uhr in der ARD. Zur sozialen Absicherung bei Verletzungen im Einsatz vgl. den Beitrag von Hofmann in diesem Band. 64 Streitkräfteamt 2000, Ausbildungsfilm V 1489, Ausbildung zum Unteroffizier, Innere Führung, 1991: Befehlsgebung, Befehlsdurchsetzung und vorläufige Festnahme. 63

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gänzungslehrgänge entwickelt worden war. Beide angeführten Beispiele verknüpften Innere und äußere Führung miteinander. Sie sind aber bereits in den achtziger Jahren auf ‚hoher Führungsebene‘ wieder verworfen worden. Drittens wurden nach dem Krieg zwischen Großbritannien und Argentinien um die Falkland-Inseln (1982) angehende Bataillonskommandeure zu deren großem Erstaunen am „Zentrum Innere Führung“ erstmals in ihrer soldatischen Laufbahn mit dem Thema ‚Menschenführung im Gefecht‘ konfrontiert. Und viertens wird seit nunmehr fünfzehn Jahren bei der unmittelbaren Vorbereitung auf die Auslandseinsätze dieser Weg vermehrt begangen: In Lehrgängen am „Zentrum Innere Führung“ in Koblenz werden im Rahmen der ‚Zentralen Führerausbildung für Auslandseinsätze‘ neben politischer Bildung, Landeskunde und Rechtsgrundlagen auch Grundsätze der interkulturellen Kompetenz vermittelt.65 Parallel dazu bereitet die Infanterieschule in Hammelburg auf Auslandseinsätze vor. Zur Zielsetzung dafür heißt es: „Wir müssen eine physische und psychische Robustheitsausbildung durchführen. Wir werten zum Beispiel die Erlebnisse von Entführten aus, um den Umgang mit extremen Belastungen üben zu können. Durch unsere Ausbildung werden die Soldaten befähigt, auch bei Stresssituationen eine angemessene Erstreaktion zu zeigen.“66 Einen neuen Ansatz stellen zwei Lernhilfen dar: das ‚Leutnantsbuch‘, das der Inspekteur des Heeres im letzten Jahr den Offizieranwärtern mit auf ihren weiteren Berufsweg gegeben hat; es soll ihnen das Berufsbild des Offiziers näher bringen und als Leitfaden für die Wertediskussion dienen. Eine vergleichbare Schrift für die Feldwebel des Heeres ist angedacht. Außerdem hat das „Zentrum Innere Führung“ die Anweisung erhalten, als Ergänzung zur neuen Vorschrift für Innere Führung eine Ausbildungshilfe zu erarbeiten. Dieser dritte Weg einer zielgerichteten Ausbildung zur Inneren Führung im Einsatz ist demnach möglich. Die Bundeswehr hat ihn bislang aber nur ansatzweise beschritten. Dabei zeigt sich zum einen, dass dies eher auf der Ebene von Offizieren geschieht. Zum anderen gehen Innere und äußere Führung dabei meist (noch) getrennte Wege. Aus pädagogischer Sicht ist auch gravierend, dass es sich scheinbar anbietet, die Themen, Fragen und Aufgaben eher bloß kognitiv anzugehen, d.h. dass sie vielleicht noch ‚erlesbar‘ werden, ohne damit jedoch schon ‚erlebbar‘ oder gar ‚erfahrbar‘ zu sein. Das eigentliche pädagogische Problem des dritten Weges liegt jedoch darin, dass die Qualifikationen für den Einsatz komplex sind und daher nicht in Form von Stoffvermittlung oder durch schlichtes Skill-Training erlernbar sind. Das bedeutet, dass umfangreiches Handlungstraining für die 65 Siehe Lichte (2008), S. 29. – Zum Aspekt der interkulturellen Kompetenz vgl. auch den Beitrag von Tomforde in diesem Band. 66 Hänger (2008), S. 44.

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Qualifikation zur Inneren Führung im Einsatz ebenso notwendig ist, wie dies für das Waffenhandwerk, für die Befehlsgebung vom Gruppenführer an aufwärts oder für die Beurteilung der Lage in der Truppenführung selbstverständlich ist. Wenn also ausgeschlossen werden muss, dass der Handelnde erst in der Einsatzsituation und dann auf sich allein gestellt dazu kommt, bislang getrennt vermittelte und dazu noch rein kognitiv erworbene Lehren und Verhaltensweisen aus Innerer Führung und Truppenführung zur Handlungsfähigkeit praktisch miteinander zu verknüpfen, dann muss dies vorher bereits kombiniert und praxisnah per Training geübt werden. Eine derartige gezielte pädagogische Verknüpfung hat bisher wohl nur im sogenannten Ergänzungslehrgang für Unteroffiziere in den achtziger Jahren in nennenswertem Umfang stattgefunden.

V. Zusammenfassung Die pädagogische Grundfrage aus der Einleitung lautete – stark verkürzt: Wie ist unter den skizzierten Rahmenbedingungen Lernen in Sinne von Innerer Führung für den Einsatz möglich? Lernziele und Inhalte beschreiben zum einen, was als Ergebnis durch Verhaltensänderung zur Fähigkeit oder Fertigkeit geworden sein soll. Dabei enthalten Vorschriftenaussagen selten klare Gesetze, sondern meistens nur ‚Durchschnittswahrscheinlichkeiten‘, die als „die besten der allgemeinen Formen [. . .] an die Stelle der individuellen Entscheidung als kürzere Wege gesetzt und zur Wahl gestellt werden können“67. Dies gilt ganz besonders für Gebiete ‚frei gebliebener Tätigkeiten‘ wie Führung. Sie bleiben also interpretationsbedürftig und verlangen nach einem orientierungsgebenden Rahmen für den Transfer in jeder individuellen Führungssituation. Hierzu zählen insbesondere die Aussagen zur Inneren Führung, deren Anforderungen nur Schlüsselqualifikationen sein können. Sie sind ebenso wie die Fertigkeiten zur äußeren Führung aus den verschiedenen Bildern vom Krieg sowie dem Bild von der handelnden Persönlichkeit im Einsatz zu entwickeln. Sie ergeben sich aus dem Mittel der Gewalt und dessen notwendiger Begrenzung, aber auch aus dem politisch defensiven Grundverständnis und einer ihm entsprechenden Strategie der Abschreckung. Diese Schlüsselqualifikationen haben den Handelnden aus seiner zivilgesellschaftlichen Herkunft her konfliktfähig, kompromissfähig und friedensfähig sein zu lassen oder ihm dazu zu verhelfen, sich entsprechend zu entwickeln. Sie gel67 Siehe Clausewitz (1973), S. 305–311, hier besonders S. 308. Vgl. auch aus rechtlicher Sicht: o.V. (2008), S. 12 f.

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ten nicht nur für Offiziere und Offizieranwärter, sondern genauso für die große Menge der Soldaten im Mannschafts- und Unteroffizierrang. Lernziele haben pädagogisch noch eine weitere Bedeutung: Wie über einen Spannungsbogen zu den künftig zu erreichenden Fähigkeit motivieren sie zugleich zum Lernen. Dafür müssen sie nicht nur anschaulich, verständlich, praxisbezogen und erreichbar sein, sondern sich auch in das ganze Lern- und in das künftige Tätigkeitsfeld einordnen lassen. D.h. die Lernziele der Inneren Führung müssen mit denen für äußere Führung verwoben sein. Dies ist im Verlauf der Bundeswehrgeschichte durch die dauerhafte und zuletzt zunehmende Desintegration zwischen beiden Führungsbereichen bezüglich des Einsatzes gefährlich außer acht gelassen und weitgehend unterbunden worden. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten auf der einen wie auf der anderen Seite hat dies fortschreitend zu einer Entwertung von Innerer Führung für Einsatzfragen geführt. In der ersten Vorschriften-Generation präsentierte sich die Truppenführung gegenüber Gedanken aus dem Gebiet der Inneren Führung zugeknöpft, während die Konzeption der Inneren Führung sich offen als integraler Bestandteil von Führung allgemein verstand. Die Vorschriften aus den siebziger Jahren signalisierten eine wechselseitige Annäherung, wenn nicht gar ein Verstehen und gegenseitiges Durchdringen. Demgegenüber kennzeichnet die Vorschriften seit den letzten zwanzig Jahren und damit auch die derzeit gültige Vorschriften-Generation eine unüberbrückbare Dichotomie und zwar von beiden Seiten her. Dies besitzt immense praktische Konsequenzen für die Führung im Einsatz: Denn Grundlagen der Inneren Führung im Einsatz beiseite zu lassen, hieße zum einen einem blanken Militarismus das Wort zu reden. Und zum anderen macht – wie Clausewitz schon wusste68 – genau das, was der Soldaten im Einsatz zum ersten Mal ‚ernsthaft‘ erlebt, die eigentliche Gefahr aus. All dem kommt erhebliche Bedeutung für die einsatzorientierte Ausbildung zu. Es reicht nicht, darauf zu vertrauen, dass die entsprechenden Fähigkeiten zur Inneren Führung für den Einsatz ‚mitgebracht‘ oder sich schon im Laufe der militärischen Sozialisation einstellen werden. Selbst ‚lessons learned‘ muss gelernt werden. Es reicht auch nicht, bloß spezielle Grundlagen in Form von Kenntnissen von Innerer bzw. äußerer Führung kognitiv in speziellen Fächern zu vermitteln. Für den Einsatz geht es immer um die Ausbildung von komplexen Verhaltensweisen. Verhalten im Sinne von Innerer Führung muss in entsprechenden Einsatzszenarien entwickelt, erprobt und trainiert werden. Dazu stehen für das Training des einzelnen z. B. die Methoden des Rollenspiels oder des Verhaltenstrainings zur Verfügung. Für die Ausbildung von Gesamtheiten bieten 68

Siehe Clausewitz (1973), S. 265 f.

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sich eher die Methoden der Übung oder des Planspieles an. Planspiele zur Inneren Führung hatte es bereits in der Vorbereitungszeit der Bundeswehr gegeben.69 Wie die Gründungsväter der Inneren Führung diese Methode nutzten, um Probleme der Inneren mit denen der äußeren Führung zu verknüpfen, wird an Baudissins Denkschrift70 zur Auswertung der Stabsrahmenübung Lion Noir vom Frühjahr 1957 deutlich.71 Baudissin betonte darin zum Schluss den Ansatz seines Fachgebietes: „Die mit Vorbedacht angesetzte und durchgeführte psychologische Kampfführung hat dem Kriege neue Dimensionen geöffnet. Damit erweitert sich der Verantwortungsbereich des soldatischen Führers beträchtlich. Die Gegenseite hat die Möglichkeiten und den Nutzen der psychologischen Kampfführung erkannt und betreibt sie systematisch.“72 Solche modernen offenen Spielmethoden zählen heute in der Pädagogik zum Standard und sind auch im außermilitärischen Bereich z. B. beim Manager-Training in der Wirtschaft oder in der Politischen Bildung geläufig. Sie können genauso die Grundlage für ein curriculares Gesamtkonzept bilden, wie dies z. B. für den Ergänzungslehrgang gegolten hatte. In den Anfangszeiten der Bundeswehr war dazu auch die Hahn’sche Erlebnispädagogik propagiert und in den neunziger Jahren sogar in zwei Bereichen des Heeres praktisch angewandt worden.73 Auf einen Nenner gebracht, lautet die Antwort auf die Leitfrage: Seit den Anfängen der Bundeswehr zeigen sich bis heute in allen drei didaktischen Aspekten erhebliche Mängel in der pädagogischen Umsetzung der Inneren Führung für den Einsatz. Was die Soldaten an Innerer Führung für den Einsatz bislang gelernt haben, ist eindeutig nur trotz erschwerter Bedingungen möglich gewesen: d.h. erstens ohne Klarheit darüber, dass und welche Bedeutung die Grundlagen der Inneren Führung als Schlüsselqualifikationen für die Einsatzfähigkeit haben, zweitens ohne gemeinsame Zielausrichtung von Innerer Führung und Truppenführung, wenn man nicht sogar sagen muss: im inzwischen wieder zunehmend harschen Abblocken einerseits und im verständnislosen Sich-Versagen andererseits, und drittens ohne all69

Siehe Rosen (1981), S. 83 ff. Baudissin (1957). In der Denkschrift nimmt Baudissin auch Erkenntnisse aus der Stabsübung Counterpunch mit auf. Er lässt seine Arbeit von anderen gegenlesen und beabsichtigt, sie veröffentlichen zu lassen (siehe Tagebuch vom 31.7.1957, 29.8.1957, 3.9.1957, 3.10.1957). Am 1.9.1957 notiert er ins Tagebuch: „Schlussredaktion“ und zwei Tage später, Panitzki sei „sehr angetan“, hielte sie „für eine ausgezeichnete und sehr wichtige Arbeit“ und empfehle, sie Heusinger vorzulegen. 71 Im Einzelnen siehe Nägler (2007), S. 159 ff. 72 Baudissin (1957). 73 Siehe z. B. Baudissin (1969) S. 147 und S. 257. s. a. Süße (1993). An der Kampftruppenschule 2 wurde dies in den neunziger Jahren in die Offizierausbildung eingeführt. In der Britischen Armee gehört outward-bound-Training nach Hahn zum Pflichtprogramm der Weiterbildung eines jeden Offiziers. 70

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gemeine zielgerichtete und methodische Ausbildungsverfahren und Lehrgänge. Das bedeutet, dass man das Thema ‚Innere Führung und Einsatz‘ nicht durch Nachsteuerungen in Details wird in den Griff bekommen können. Wenn Ausbildung zur Inneren Führung für Einsätze wirklich ernst gemeint sein sollte, wird man genereller ansetzen müssen. Literatur Zur Zitierweise der Baudissin-Texte: Sie sind für die Zeit bis 1981 bibliographisch erfasst in ders.: (1982), S. 272–312. Nach der Zählweise in dieser Bibliographie werden die Quellen verkürzt zitiert z. B.: 58,1 (für das 1. Dokument aus dem Jahr 1958); bei Veröffentlichung in einer der beiden Sammelbände von 1969 bzw. 1982 wird zusätzlich durch „s. a.“ auf die dortige Fundstelle verwiesen z. B.: s. a. ders. (1969), S. 69 ff. Bisher nicht erfasste Dokumente sind gesondert als Quellen ausgewiesen und werden kurz zitiert mit dem Erscheinungsjahr, gegebenenfalls mit laufendem Buchstaben, z. B. Baudissin (1994); sie liegen im Baudissin Dokumentationszentrum bei der Führungsakademie der Bundeswehr. Baudissin, Wolf Graf von: Privat-dienstliches Tagebuch 1953–1958, BAMA N 717/1–11. – IV B v. 5.9.1957 VS – Vertraulich, Tagebuch-Nummer 127/57, BAMA Bw2/2574. – (1969): Soldat für den Frieden. Entwürfe für eine Zeitgemäße Bundeswehr. München. – (1982): Nie wieder Sieg! Programmatische Schriften 1951–1981. Hrsg. von Cornelia Bührle und Claus von Rosen. München. Bergmann, Robert (2008): Zeitgemäße Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Inneren Führung, in: if plus, Beilage zur Zeitschrift für Innere Führung, 1/2008. Böhm, Andrea (2008): Eine Historische Tat, in: Die Zeit Nr. 27 v. 26.6.2008, S. 1. Clausewitz, Carl von (1973): Vom Kriege. 18. Auflage. Bonn. Gerber, Johannes (1978): Beiträge zur Betriebswirtschaftslehre der Streitkräfte. Regensburg. Handbuch (1957): Handbuch Innere Führung. Hilfen zur Klärung der Begriffe. Hrsg. v. Bundesministerium der Verteidigung. Führungsstab der Bundeswehr I 6. Bonn. Hänger, Matthias (2008): Belastung. Bis ans Limit gehen, in: Y.SPEZIAL 2008, S. 42–44. Hartmann, Uwe/Richter, Frank/Rosen, Claus von (1999): Wolf von Baudissin, in: Bald, Detlef/Hartmann, Uwe/ Rosen, Claus von (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik im deutschen Militär. Baden-Baden, S. 210–226. HDv 100/1 (1956): Grundsätze der Truppenführung des Heeres (T. F./G.). Hrsg. v. Bundesminister der Verteidigung. Bonn. – (1962): Truppenführung (TF). Hrsg. v. Bundesminister der Verteidigung. Führungsstab des Heeres IV 4. Bonn.

Innere Führung und Einsatz aus Perspektive der Pädagogik

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Für einen „die ethischen Grenzmarken des eigenen Gewissens bedenkenden Gehorsam“ Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewissensfreiheit des Soldaten und seine Konsequenzen für die Bundeswehr Von Matthias Gillner Befehl ist Befehl! Auf diesen klassischen Rechtfertigungsgrund einer ausnahmslos geltenden militärischen Gehorsamspflicht können sich Soldaten in demokratischen Rechtsstaaten nicht mehr so einfach berufen. Spätestens seit dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal hat sich das Bewusstsein für die individuelle Verantwortlichkeit soldatischen Handelns auch in dem wehrrechtlichen Gesetzeswerk zahlreicher liberaler Staaten niedergeschlagen – wenn auch mit erheblichen Unterschieden.1 Die Grenzen des Gehorsams beziehen sich vor allem auf die Ausführung rechtswidriger Befehle. So sind in Großbritannien Soldaten verpflichtet, jeden rechtswidrigen Befehl zu verweigern. Auch in Frankreich dürfen Soldaten zumindest alle offenkundig rechtswidrigen Befehle nicht befolgen; darüber hinaus sind sie berechtigt, alle anderen rechtswidrigen Befehle nicht auszuführen. In Deutschland sind die Soldaten dagegen nur verpflichtet, diejenigen Befehle zu verweigern, durch die eine Straftat begangen würde.2 Lediglich eine Berechtigung zur Verweigerung hingegen erstreckt sich nach gängiger Auffassung insbesondere auf solche Befehle, die gegen die Menschenwürde verstoßen und die zu nicht-dienstlichen Zwecken erteilt wurden.3 Aufgrund dieser Rechtslage überrascht es kaum, wenn Soldaten bei zweifelhaften oder gar erkennbar völkerrechtswidrigen militärischen Aktionen ihren Befehlen nicht nachkommen. Vor allem während des Präventivkriegs 1 Vgl. hierzu die unterschiedlichen Modelle der Gehorsamspflicht in europäischen Wehrrechtsordnungen bei Nolte/Krieger (2002), S. 87 ff. 2 § 11 Abs. 2 S. 1 Soldatengesetz (SG): „Ein Befehl darf nicht befolgt werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde.“ 3 § 11 Abs. 1 S. 3 HS. 1 SG: „Ungehorsam liegt nicht vor, wenn ein Befehl nicht befolgt wird, der die Menschenwürde verletzt oder der nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist.“

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gegen den Irak4 haben sich Uniformierte anderer Streitkräfte geweigert, den militärischen Dienst zu leisten. Neben der unerlaubten zeitweiligen Entfernung von der Truppe und der dauerhaften Desertion5 gab es auch Fälle von Gehorsamsverweigerung, die mit der Rechtswidrigkeit des Krieges begründet wurden.6 In Deutschland widersetzte sich der Stabsoffizier Major Florian Pfaff im April 2003 dem Befehl, an der weiteren Entwicklung eines militärischen Software-Programms mitzuwirken, da sein Disziplinarvorgesetzter nicht ausschließen konnte, dass das IT-Projekt einen Beitrag zum Irak-Krieg leisten könnte.7 Darüber hinaus weigerte er sich, seine Untergebenen zur Erfüllung dieses Auftrags anzuhalten und die Erfüllung dienstaufsichtlich zu überwachen. Zur Begründung berief sich der Offizier gegenüber seinen Vorgesetzten aber nicht nur auf seine gesetzliche Pflicht, einen rechtswidrigen Befehl, der eine Straftat beinhaltet, nicht auszuführen, sondern vor allem auf sein Gewissen, das ihm jede Teilnahme an Unterstützungshandlungen für einen Angriffskrieg untersage. Am 9. Februar 2004 befand ihn die 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord den Soldaten eines Dienstvergehens gemäß § 23 Abs. 1 des Soldatengesetzes (SG)8 und § 18 Abs. 2 der Wehrdienstordnung (WDO)9 für schuldig und setzte ihn in den Dienstgrad eines Hauptmanns zurück. Dagegen legten sowohl der Offizier, der auf Freispruch plädierte, als auch der Wehrdisziplinaranwalt, der den Soldaten 4 Zur völkerrechtlichen und rechtsphilosophischen Diskussion um den Irak-Krieg vgl. z. B. die Aufsatzsammlung von Ambos/Arnold (2004). 5 Seit Beginn des Irak-Krieges sollen aus den Reihen der britischen Streitkräfte jährlich mehr als 1.000 Soldaten dauerhaft desertieren. Vgl. Rose (2008a), S. 42. 6 So weigerte sich Flight Lieutenant Dr. Malcolm Kendall-Smith „aufgrund der in seinen Augen gegebenen Illegalität sowohl des Angriffes auf den Irak als auch der darauf folgenden Besatzung durch die ausländischen Koalitionstruppen [. . .], den ihm erteilten Befehlen zur Teilnahme an der einsatzvorbereitenden Ausbildung und zur Verlegung in den Irak nachzukommen“. Rose (2008a), S. 45. 7 Major Florian Pfaff war seit dem 1. Oktober 2002 mit Aufgaben zur Verwirklichung des IT-Projekts SASPF (Standard-Anwendungs-Software-Produkt-Familien) beschäftigt, das die Effizienz der Streitkräfte im Rahmen multinationaler Operationen steigern und die Interoperabilität zu den USA sowie den anderen Streitkräften von NATO und EU sicherstellen sollte. Er kritisierte, dass sich auch die Bundeswehr durch „die Stationierung von deutschen Soldaten in Kuwait, die Beteiligung deutscher Soldaten an AWACS-Flügen, die Gewährung von Überflug- und Transitrechten für die im Irak operierenden Streitkräfte der USA und Großbritanniens sowie die Bewachung von US-Liegenschaften in Deutschland“ in verfassungswidriger Weise am Irak-Konflikt beteiligen würde. Vgl. die Darstellung des Sachverhalts im BVerwGE 127, 302. 8 „Der Soldat begeht ein Dienstvergehen, wenn er schuldhaft seine Pflichten verletzt.“ 9 „Mehrere Pflichtverletzungen eines Soldaten oder eines früheren Soldaten, über die gleichzeitig entschieden werden kann, sind als ein Dienstvergehen zu ahnden.“

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewissensfreiheit

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aus dem Dienstverhältnis entfernt sehen wollte, Berufung ein. Folglich musste das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) prüfen, ob das Recht auf Gewissensfreiheit auch für Soldaten gelte und unter Umständen die Unverbindlichkeit eines Befehls nach sich ziehen könne.

I. Das Recht auf Gewissensfreiheit Der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts sprach in einem Urteil vom 21. Juni 2005 Major Pfaff das Recht zu, einen Befehl unter Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG10 zu verweigern. Der Befehl, am IT-Projekt SASPF mitzuarbeiten, war demnach unverbindlich, da dem Grundrecht der Gewissensfreiheit der Vorrang gegenüber dem Befehl zukam.11 Zur Begründung berief sich das BVerwG nicht auf die in § 11 des SG enthaltene Aufzählung von Gründen, sondern auf die Unzumutbarkeit des Befehls.12 Gemäß truppendienstlicher Rechtsprechung könne „ein vom Gewissen des Soldaten aufgegebenes Gebot, bestimmte Einzelhandlungen zu unterlassen, die Unzumutbarkeit rechtfertigen“13. 1. Die Schutzwirkung der Gewissensfreiheit Das BVerwG stellt zunächst unmissverständlich klar, dass die Berufung auf seine Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) demjenigen nicht verwehrt ist, der seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nicht nach Art. 4 Abs. 3 beantragt hat.14 Vielmehr könne auch ein Soldat sich gegenüber einem ihm erteilten Befehl auf dieses Grundrecht berufen. Auch wenn die 10 „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ 11 Vgl. BVerwGE 127, 302. Mit einer äußerst umfangreichen Entscheidung, die nicht nur den rechtlichen Grenzen militärischen Gehorsams im Allgemeinen und der Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen im Besonderen gewidmet ist, sondern auch Ausführungen zum Begriff der Verteidigung in Art. 87a GG und zu den völkerrechtlichen Implikationen deutscher Unterstützungshandlungen während des Irak-Krieges enthält, erregte das Bundesverwaltungsgericht hohes öffentliches Aufsehen und rief zum Teil heftige emotional aufgeladene Reaktionen hervor. Vgl. die ausführliche Analyse des Urteils bei Gillner (2009). 12 Dass die Unverbindlichkeitsgründe im § 11 SG nicht erschöpfend geregelt werden, begründet das BVerwG mit dem Wortlaut des § 22 Abs. 1 Wehrstrafgesetz (WStG), der weitere Gründe offen lässt. Vgl. BVerwGE 127, 302 (S. 314). 13 BVerwG, Urteil vom 25. Juni 2005, S. 38 (in BVerwGE 127, 302 nicht aufgeführt). Zur Anerkennung der Gewissensentscheidung als Unverbindlichkeitsgrund in der wehrdienstlichen Rechtsprechung vgl. Bachmann (2006), S. 159 f. 14 „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“

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Verfassung mit dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein einzelnes Gesetz ausdrücklich unter den Gewissensvorbehalt gestellt habe, werde die „Schutzwirkung des Art. 4 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 3 GG“, der die Staatsgewalten auf die Grundrechte verpflichtet, „nicht durch Art. 4 Abs. 3 GG verdrängt“15. Die Geltung der Schutzwirkung des Grundrechts auf Gewissensfreiheit auch für die in einem Sonderstatusverhältnis stehenden Soldaten leitet das BVerwG zunächst aus dem genauen Wortlaut von § 11 Abs. 1 S. 2 SG her: „Er [der Soldat] hat ihre [der Vorgesetzten] Befehle nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen.“ Der Begriff „gewissenhaft“ wird durch Kontrastierung mit dem Adjektiv „gewissenlos“ auf seine ursprüngliche Bedeutung zurückgeführt und die verlangte „gewissenhafte“ Ausführung des Befehls nicht bloß als sorgfältig, sondern als ein die „ethischen ‚Grenzmarken‘ des eigenen Gewissens ‚bedenkender‘ Gehorsam“ interpretiert.16 Zudem ergibt sich die Schutzwirkung für das BVerwG auch aus der Entstehungsgeschichte und dem Regelungszusammenhang des Grundrechts der Gewissensfreiheit und der Normierungen über die Gehorsamspflicht eines Soldaten. Im Gegensatz zur Tradition deutscher Verfassungen, die die Grundrechte für den militärischen Dienst erheblich einschränkten, soll nach dem Willen des Verfassungsgebers in der Bundesrepublik Deutschland „jede Sonderstellung der Streitkräfte im demokratischen und sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG) hinsichtlich der Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 2 GG)“17 verhindert werden. Mit dem Konzept des „Staatsbürgers in Uniform“ stünden dem Soldaten in der Bundeswehr „die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jedem anderen Staatsbürger“ zu (§ 6 S. 1 SG)18. Die im Soldatengesetz vorgesehene Einschränkung dieser Rechte (§ 6 S. 2 SG)19 beziehe sich gemäß verfassungsrechtlicher Regelung nur auf die in Art. 17a GG ausdrücklich aufgeführten Grundrechte (Enumerationsprinzip)20 – nicht aber auf die Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG). 15

BVerwGE 127, 302 (S. 321). BVerwGE 127, 302 (S. 322). 17 BVerwGE 127, 302 (S. 325). 18 „Der Soldat hat die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger.“ 19 „Seine Rechte werden im Rahmen der Erfordernisse des militärischen Dienstes durch seine gesetzlich begründeten Pflichten beschränkt.“ 20 In Art. 17a Abs. 1 GG werden die Grundrechte der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 HS. 1 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und das Petitionsrecht (Art. 17 GG) für die Angehörigen der Streitkräfte (und des Ersatzdienstes), in 16

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewissensfreiheit

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2. Das Schutzgut der Gewissensfreiheit Das BVerwG bestimmt das Gewissen in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)21 als jene innere Instanz, in der ein Mensch sich als moralische Person erfährt, insofern es ihm in Forderungen und Mahnungen kundtut, was er tun oder lassen soll. Im Wissen um die Subjektivität und Pluralität ethischer Maßstabsbildung definiert das BVerwG die Gewissensentscheidung rein formal als „jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ orientierte Entscheidung [. . .], die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt innerlich verpflichtend erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“22. Das Schutzgut der Gewissensfreiheit bezieht sich in der Rechtsprechung auf „den Kern der Persönlichkeit“ des Einzelnen. Die Garantie ihrer Unverletzlichkeit erstreckt sich zum einen auf die Gewissensbildung (forum internum), die nicht nur eine kognitive (vernunftgemäße Erkenntnis moralischer Pflichten), sondern auch eine affektive (gefühlsmäßige Bindung an moralische Pflichten) und eine sozio-psychische (Aufnahme der moralischen Pflichten ins Innere der Person als Zensor) Dimension umfasst. Zum anderen schließt sie auch die Gewissensbetätigung (forum externum) mit ein, die vollzogen wird, sobald sich ein Handelnder in seiner Identität bedroht sieht. Konsequent bestimmt das BVerwG die Unverletzlichkeit des Gewissens mit dem rechtlich freien Vollzug der Bildung von Gewissensüberzeugungen und der Abwesenheit von Zwang zu gewissenswidrigem Verhalten.23 Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Gewissensfreiheit sieht das BVerwG aber erst dort erfüllt, wo von Rechts wegen einer in „Gewissensnot“ geratenen Person („ein solcher, der dies tut, kann ich nicht sein“24) „gewissensschonende Handlungsalternativen“ bereit gestellt werden, wenn „die Rechtsordnung den Einzelnen (anderenfalls) vor die Alternative stellt, gewissenskonform und rechtswidrig oder gewissenswidrig und rechtmäßig zu handeln“. Außerdem müsse die Inanspruchnahme durch den betroffenen Grundrechtsträger „ohne Stigmatisierung und Diskriminierung“ erfolgen können.25 Abs. 2 darüber hinaus auch die Grundrechte der Freizügigkeit (Art. 11 GG) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) eingeschränkt. 21 Prägend für künftige Urteile wurde die Begriffsbestimmung von Gewissen und Gewissensentscheidung des 1. Senats des BVerfG in seinem Beschluss vom 20. Dezember 1960. Vgl. BVerfGE 12, 45. 22 BVerwGE 127, 302 (S. 325 f). Es folgt damit der Definition von Gewissen im Urteil des 1. Senats des BVerfG vom 13. April 1978. Vgl. BVerfGE 48, 127 (S. 173 f.). 23 Vgl. BVerwGE 127, 302 (S. 327). 24 BVerwGE 127, 302 (S. 328). 25 BVerwGE 127, 302 (S. 329).

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3. Die Feststellung einer Gewissensentscheidung Die Probleme ergeben sich für das BVerwG bei der Ermittlung einer Gewissensentscheidung. Zum einen gebe es die Notwendigkeit, in einem Streitfall – unter Umständen gar durch Beweisaufnahme – die Tatsache einer Gewissensentscheidung positiv festzustellen (aber nicht inhaltlich als „falsch“ oder „richtig“ zu bewerten), zum anderen lasse sie sich als Prozess im Innersten einer Person von außen nicht ermitteln. Aber auch wenn ein Gewissensspruch nur mittelbar durch das vom Grundrechtsträger im Medium der Sprache Geäußerte erschlossen werden könne, müsse die Feststellungskompetenz bei der rechtsprechenden Gewalt des Staates liegen, weil allein sie über die Kompetenz einer verbindlichen Auslegung und Anwendung geltenden Rechts verfüge.26 Erforderlich sei hier eine „nach außen tretende, rational mitteilbare und nach dem Kontext intersubjektiv nachvollziehbare Darlegung der Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit der Gewissensentscheidung“27. Den Schwierigkeiten bei der Beweisführung trägt das BVerwG dadurch Rechnung, dass es nur auf „eine „hinreichende Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins des Gewissensgebots und seiner Verhaltensursächlichkeit“28 abhebt. 4. Verhältnis zwischen dem Grundrecht auf Gewissensfreiheit und dem Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung Das BVerwG leitet seine Interpretation, wonach das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung gemäß Art. 4 Abs. 3 GG das Grundrecht auf Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG nicht verdränge, von dem Wortlaut der Regelung, von der Entstehungsgeschichte des Art. 4 GG sowie von dem Regelungszusammenhang und -zweck ab. So lässt sich für das BVerwG schon negativ aus dem Wortlaut der Regelung nicht erkennen, dass sich ein Soldat nicht mehr auf sein Grundrecht auf Gewissensfreiheit berufen könne, wenn er keinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt habe. Vielmehr ergebe sich dem Normtext nach, dass das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung lediglich eine Spezifizierung des Grundrechts der allgemeinen Gewissensfreiheit darstelle und dieses mithin nicht einschränke.29 26 Schafranek (2005, S. 239 Fn. 30) weist darauf hin, dass in der Fachliteratur auch eine abweichende Position vertreten wird. 27 BVerwGE 127, 302 (S. 332). 28 BVerwGE 127, 302 (S. 332). 29 Vgl. BVerwGE 127, 302 (S. 332).

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewissensfreiheit

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Seine Sichtweise stützt das BVerwG vor allem auf die Entstehungsgeschichte des Art. 4 GG. Historisch hätte sich gezeigt, dass ein besonders sensibler und gefährdeter Bereich unter ausdrücklichen Schutz der Verfassung gestellt werden müsse. Dabei rekurriert das BVerwG auf eine Erwiderung des Abgeordneten Fritz Eberhard (SPD) auf den Einwand von Theodor Heuss (FDP), der mit der expliziten Hinzufügung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung einen drohenden „Massenverschleiß des Gewissens“ befürchtet hatte: „Herr Dr. Heuss, Sie sprachen von dem Massenverschleiß des Gewissens, den Sie befürchten. Ich glaube, wir haben hinter uns einen Massenschlaf des Gewissens. In diesem Massenschlaf des Gewissens haben die Deutschen zu Millionen gesagt: Befehl ist Befehl und haben getötet. Dieser Absatz kann eine große pädagogische Wirkung haben und wir hoffen, er wird sie haben.“30 Diese Aussage demonstriert für das BVerwG die Auffassung des Verfassungsgebers, dass eine bloße Gewährleistung der Gewissensfreiheit nicht hinreiche, sondern mit einem expliziten Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung verstärkt werden müsse, „um einen erneuten ‚Massenschlaf des Gewissens‘ (‚Befehl ist Befehl‘) verhindern zu helfen“31. Auch der Regelungszusammenhang macht für das BVerwG deutlich, dass Art. 4 Abs. 3 GG keine „abschließende Spezialvorschrift für den militärischen Bereich“, sondern vielmehr „gegenüber Art. 4 Abs. 1 GG eine eigenständige Regelung mit einem eigenständigen Regelungsgehalt“32 darstelle. Hierfür sprächen sowohl die spätere Aufnahme des Art. 4 Abs. 3 GG in die Verfassung als auch die mit der Norm verknüpfte nähere Regelung durch ein Bundesgesetz.33 Der Regelungsgehalt des Art. 4 Abs. 3 bezieht sich allein auf den Bereich der Wehrpflicht. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung nur denjenigen, „der aus Gewissensgründen den ‚Kriegsdienst mit der Waffe‘ (und damit auch den ‚Friedenswehrdienst‘) schlechthin ablehnt und verweigert“, nicht aber den Soldaten, der seine „im Rahmen der Verfassung und Gesetze auferlegten Dienstpflichten innerhalb der Bundeswehr erfüllen“34 will. Aus diesem Regelungszweck lässt sich für das BVerwG aber nicht eine Aberkennung des allgemeinen Grundrechts auf Gewissensfreiheit für den Soldaten auf Zeit und den Berufssoldaten ableiten.35 30 31 32 33 34 35

Zitiert aus: BVerwGE 127, 302 (S. 335). BVerwGE 127, 302 (S. 336). BVerwGE 127, 302 (S. 338). Vgl. BVerwGE 127, 302 (S. 338). BVerwGE 127, 302 (S. 338 f). Vgl. BVerwGE 127, 302 (S. 338 f.).

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Schließlich stellt das BVerwG fest, dass sich aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur eine abschließende Regelung der Wirkungen der Gewissensfreiheit im Bereich der Wehrpflicht entnehmen lasse. Dagegen könne es auf keine einschlägigen Urteile zurückgreifen, in denen es „um die Berufung eines Soldaten auf seine ‚Freiheit des Gewissens‘ nach Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber einem militärischen Befehl seines Vorgesetzten“36 gehe. Auch wenn das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 GG) nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht die situationsbezogene Kriegsdienstverweigerung schütze, d.h. denjenigen, der lediglich die Teilnahme an bestimmten Kriegen ablehnt37, so müsse es doch „strikt von dem Fall der Berufung eines Soldaten auf sein Grundrecht der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber einem Befehl“38 unterschieden werden, der gerade nicht als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden möchte. 5. Die „Grenzen“ des Grundrechts auf Gewissensfreiheit Auch wenn das Grundrecht auf Gewissensfreiheit weder unter einem einschränkenden Gesetzesvorbehalt noch unter einem numerischen Vorbehalt der Inanspruchnahme steht, können sich aus anderen Grundrechts- und Verfassungsbestimmungen doch immanente Grenzen ergeben.39 Die Einheit der Verfassung verlangt, zwischen kollidierenden Grundrechten und anderen Verfassungsgütern nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz einen schonenden Ausgleich zu suchen. Erforderlich ist eine „ ‚Optimierung‘ des Geltungsgehalts aller beteiligten Verfassungsnormen“40. An diesem Ansatz rüttelt das BVerwG nicht, wenn es sich auf einen Beschluss des BVerfG vom 26. Mai 1970 beruft, der bei einer „logisch und systematisch zwingend“ erscheinenden immanenten Beschränkung des Geltungsanspruchs einer Norm verlangt, dass „dabei ‚ihr sachlicher Grundwertgehalt (. . .) in jedem Fall respektiert werden muss‘ “41. Das BVerwG erklärt ausführlich, dass das Grundrecht auf Gewissensfreiheit nicht mit dem Regelungsgehalt jener Verfassungsbestimmungen kolli36

BVerwGE 127, 302 (S. 340). Das BVerwG erwähnt ausdrücklich die aus dem Fachschrifttum vorgetragenen Bedenken an der bisherigen Ablehnung der Anerkennung einer situationsbezogenen Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. 3 GG. 38 BVerwGE 127, 302 (S. 341). 39 Das BVerwG erwähnt religiöse Riten wie jene „der Tempelunzucht, der Menschenopfer, der Witwenverbrennung oder Polygamie“, die wegen Verstoßes etwa gegen die Art. 1 Abs. 1 geschützte Menschenwürde nicht gedeckt seien. 40 BVerwGE 127, 302 (S. 360). 41 BVerwGE 127, 302 (S. 360). Vgl. auch BVerfGE 28, 243. 37

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diert, die durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung als Begründung für den „verfassungsrechtlichen Rang“ der „Funktionsfähigkeit“ der Bundeswehr herangezogen wurden (Art. 12a, 65a, 73, Nr. 1, 87a und 115a ff.).42 Die Inanspruchnahme des Rechts auf Gewissensfreiheit beinträchtige weder die staatliche Befugnis zur Aufstellung von Streitkräften noch die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes in Bezug auf die Streitkräfte, noch die Kompetenzen der staatlichen Organe beim Verteidigungsfall, noch die allgemeine Wehrpflicht. Die Verfassungsnormierung der „Aufstellung von Streitkräften zur Verteidigung“ bedeute auch nicht, dass die Grundrechte von Soldaten „immer dann zurücktreten müssten, wenn sich die Berufung auf das Grundrecht in den Augen der jeweiligen Vorgesetzten als für die Bundeswehr ‚störend‘ oder für den Dienstbetrieb ‚belastend‘ darstellt“43. Das BVerwG erinnert daran, dass der Verfassungsgeber auf die „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“, wozu auch das Grundrecht der Gewissensfreiheit zähle, als „zentralen Richtpunkt und Maßstab der verfassten Staatlichkeit“ verwiesen hat, die jeder Verfassungsgebung vorausbestehen. Insofern normiere das Grundgesetz „eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte“.44 Der Verteidigungsfall des Grundgesetzes unterscheide sich eben „von dem in früheren Verfassungsepochen vorgesehenen ‚Belagerungszustand‘ “, indem „die Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an ‚Gesetz und Recht‘ (Art. 20 Abs. 3 GG) gerade nicht aufgehoben“45 werden. Das BVerwG weiß um die Gefahren einer funktionalistischen Verzweckung des Menschen auch und insbesondere in der Bundeswehr, wenn es gegenüber den Tendenzen zur „Abwägung“ des Grundrechts auf Gewissensfreiheit gegenüber politisch definierten „Bedarfs-, Effektivitäts- oder Funktionsanforderungen“46 auf 42

BVerwGE 127, 302 (S. 362). Vgl. auch BVerfGE 69, 1 (S. 57 ff.). Ausdrücklich erwähnt das BVerwG jedoch das Sondervotum der Richter Mahrenholz und Böckenförde sowie das Fachschrifttum, die erhebliche Kritik an diesem Urteil äußerten. Vgl. BVerwGE 127, 302 (S. 362). Hebeler (2006, S. 216) kritisiert die Anknüpfung des BVerwG an die Doktrin des Bundesverfassungsgerichts, das der Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr verfassungsrechtlichen Rang zugebilligt hat: „Hinreichend begründet wurde diese These in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nie, sondern es wurde schlicht auf die genannten Grundgesetznormen verwiesen und daraus wie selbstverständlich dieses Rechtsgut abgeleitet. Das Bundesverwaltungsgericht hat dieses Ergebnis in anderen Urteilen übernommen, ohne es zu hinterfragen oder selbst näher zu begründen.“ 43 BVerwGE 127, 302 (S. 364). 44 BVerwGE 127, 302 (S. 364). 45 Ausgenommen hiervon sind die für den Verteidigungsfall die in Art. 115c Abs. 2 GG ausdrücklich genannten Grundrechte. Vgl. BVerwGE 127, 302, (S. 365). 46 BVerwGE 127, 302 (S. 366).

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eine menschenrechtsorientierte Verfassung abhebt. Insofern gehöre zur grundgesetzlichen „Gewährleistung der ‚Funktionsfähigkeit einer wirksamen Landesverteidigung‘ “ stets, „sicherzustellen, dass der von der Verfassung zwingend vorgegebene Schutz u. a. des Grundrechts der Gewissensfreiheit nicht beeinträchtigt wird“.47 Das BVerwG konstatiert dagegen ein Spannungsverhältnis zwischen der Berufung des Soldaten auf Gewissensfreiheit und der verfassungsrechtlich gewährleisteten Befehls- und Kommandogewalt (Art. 65a GG), die auf militärische Vorgesetzte übertragen werden kann. Aber auch hier gilt für das BVerwG, dass die sich „aus der Verfassung ergebenden strikten Bindungen an ‚Recht und Gesetz‘ (Art. 20 Abs. 3 GG), an die ‚allgemeinen Regeln des Völkerrechts‘ (Art. 25 GG) und an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) nicht zur Seite geschoben und durch ‚Abwägung‘ in ihrem Geltungsgehalt und -anspruch gelockert werden dürfen, auch wenn dies politisch oder militärisch im Einzelfall unter Umständen zweckmäßig erscheinen mag“48. Die faktischen Konflikte, die sich aus diesem Spannungsverhältnis ergeben, sind für das BVerwG nach dem Gebot praktischer Konkordanz zu lösen oder noch besser zu vermeiden; es gelte also beide Schutzgüter „zu optimaler Wirksamkeit“49 kommen zu lassen. Für das BVerwG bedeutet dies aber vor allem, dass unter „Wahrung konkret feststellbarer Belange der Bundeswehr“ die „normierte ‚Unverletzlichkeit‘ der Freiheit des Gewissens gewährleistet“ wird.50 Das BVerwG konzentriert sich, wie Frank Schafranek zu Recht bemerkt, lediglich auf das zur Herstellung praktischer Konkordanz gebotene Verfahren, wobei ein „konstruktives Mit- und Zusammenwirken beider Seiten“51 Voraussetzung sei. Vom Soldaten verlangt das BVerwG lediglich, dass die Gewissensnöte dem zuständigen Vorgesetzten „möglichst umgehend und nicht ‚zur Unzeit‘ dargelegt [werden müssten] sowie auf baldmöglichste faire Klärung der zugrunde liegenden Probleme“52 gedrängt werden sollte.53 Dagegen fordert es vom Vorgesetzten, dass er sich dem Gewissensurteil des Soldaten ehrlich zu stellen hat, indem er die Entscheidung weder negieren noch lächerlich machen, noch unterdrücken darf. Außerdem müsse er den betreffenden Soldaten über die „konfliktrelevanten Tatsachen“ (zum 47

BVerwGE 127, 302 (S. 366). BVerwGE 127, 302 (S. 368). 49 BVerwGE 127, 302 (S. 368). 50 BVerwGE 127, 302 (S. 368). 51 BVerwGE 127, 302 (S. 369). 52 BVerwGE 127, 302 (S. 369). 53 Schafranek (2005, S. 244) bemängelt, dass das BVerwG den Begriff der fairen Klärung nicht konkretisiere. 48

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einen die tatsächlichen Auswirkungen der befohlenen Dienstleistung, zum anderen die Konsequenzen einer Nichtausführung des Befehls für die Streitkräfte oder sonstige Schutzgüter) möglichst umfassend informieren und alle Beteiligten über die „maßgebliche Rechtslage“ vergleichsweise objektiv unterrichten.54 Sollte der betroffene Soldat an der Gewissensentscheidung festhalten, kann er den offiziellen Beschwerdeweg (§§ 17ff WBO) antreten, der jedoch keine aufschiebende Wirkung beinhaltet. Bei Unterlassung muss ein gerichtliches Disziplinarverfahren die Rechtslage abschließend klären. Bis dahin sind die Vorgesetzten nach Auffassung des BVerwG „gehalten zu prüfen, ob nach der jeweiligen Sachlage im konkreten Einzelfall von einer Durchsetzung des Befehls einstweilen Abstand genommen und dem Soldaten eine gewissensschonende Handlungsalternative angeboten werden kann (z. B. anderweitige Verwendung, Wegkommandierung, Versetzung o. ä.)“55. Gleichzeitig weiß das Gericht um die praktischen Hindernisse, die sich einer Inanspruchnahme des Rechts auf Gewissensfreiheit entgegenstellen. Zu den Gefahren rechnet es: „sich im Kameradenkreis zu isolieren, zum Außenseiter abgestempelt zu werden oder sonst auf Ablehnung in seinen beruflichen Sozialbeziehungen zu stoßen“, „in einem wegen Ungehorsam eingeleiteten Strafverfahren [. . .] zu einer Kriminalstrafe verurteilt sowie daneben noch in einem gerichtlichen Disziplinarverfahren mit einer empfindlichen Disziplinarmaßnahme belegt zu werden“56. Außerdem sieht das Gericht für die betroffenen Soldaten das Risiko, für den „weiteren beruflichen Lebensweg bei Beförderungen, Verwendungsentscheidungen oder sonstigen Fördermaßnahmen erhebliche Nachteile hinnehmen zu müssen“.57 Insofern stehe auch ein „Massenverschleiß des Gewissens“58 nicht zu erwarten.

II. Kritik am Umgang mit dem Urteil zur Gewissensfreiheit in der Bundeswehr Anstatt das Urteil des BVerwG vom 21. Juni 2005 als Bestätigung des politischen Leitbilds des „Staatsbürgers in Uniform“ und als Stärkung des Konzepts der „Inneren Führung“ zu feiern, beklagen die Rechtsexperten aus dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und der Bundeswehr die Möglichkeit zur Inanspruchnahme des Rechts auf Gewissensfreiheit und üb54 55 56 57 58

BVerwGE BVerwGE BVerwGE BVerwGE BVerwGE

127, 127, 127, 127, 127,

302 302 302 302 302

(S. (S. (S. (S. (S.

369). 371). 370 f.). 370). 370).

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ten in der juristischen Fachliteratur eine rhetorisch scharfe, inhaltlich dagegen kaum überzeugende Kritik an der Entscheidung.59 Schwerer als die überzogene Polemik wiegt jedoch der Versuch, in der G1-/A1-Information „Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen“ vom 18. Mai 200660 die Gewährleistungspraxis bei der Inanspruchnahme der Gewissensfreiheit mit einer äußerst problematischen Interpretation zu begrenzen. 1. Kritik an den juristischen Einwänden gegen das Urteil a) Die Annahme einer Gewissensentscheidung Das Urteil des BVerwG wird dahingehend kritisiert, dass es überhaupt eine Gewissensentscheidung des klagenden Majors annimmt.61 Bereits Pfaffs Begründung für sein Verhalten werde fehlerhaft interpretiert. Denn es seien „anfangs ausschließlich rechtliche, insbesondere völkerrechtliche Gründe“ gewesen, „die den Soldaten zu seiner Gehorsamsverweigerung bewogen“62 hätten. Eine völkerrechtliche Position könne aber nicht als „Kundgabe einer Gewissensentscheidung“ angesehen werden, da sie nicht „als eine Entscheidung nach den ethischen Kategorien ‚Gut‘ und ‚Böse‘ zu klassifizieren“63 sei. Wenn der Soldat jedoch nicht den Gewissenszwang, sondern die Völkerrechtswidrigkeit des Angriffs auf den Irak als Argument für die Verweigerung des Befehls anführe, dann werde die Unverbindlichkeit des Befehls auch nicht mit der Gewissensfreiheit, sondern mit der Strafrechtswidrigkeit des Befehls nach § 11 Abs. 2 SG begründet.64 Von daher hätte das BVerwG die rechtlichen Bedenken gegen den Irak-Krieg prüfen müssen. 59 Vgl. z. B. Sohm (2006) und von Lepel (2006). Dagegen wurde dem Urteil außerhalb des „militärischen Milieus“ hohe Anerkennung entgegen gebracht. Vgl. etwa Geiß (2006) und Hebeler (2006). 60 BMVg RII 2006. Mit G1-/A1 ist der Generalstabs- und Admiralstabsoffizier im Führungsgrundgebiet 1 gemeint, das Personalwesen, Innere Führung sowie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit umfasst. In diesem Schriftstück hat das BMVg auf das Urteil des BVerwG reagiert. Auf drei Seiten will es über „die rechtlichen Voraussetzungen einer Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen“ aufklären und „das Verfahren für den Umgang mit den betreffenden Soldaten“ erläutern. 61 Vgl. Bachmann (2006), S. 167. 62 Dau (2005), S. 257. Schafranek (2005, S. 240) verweist u. a. auf den im Internet auszugsweise veröffentlichten Brief an das Bundeskanzleramt vom 27. März 2003 sowie auf die Eingabe an den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages vom 29. März 2003. „Lediglich in einem Gespräch vom 27.03.03 hat der Soldat nach den Feststellungen im Urteil erklärt, er könne es mit seinem Gewissen und seinem Eid nicht vereinbaren, Befehle zu befolgen, die in irgendeiner Form geeignet seien, die Kriegshandlungen in Irak zu unterstützen.“ 63 Schafranek (2005), S. 241. 64 Vgl. Schafranek (2005), S. 239.

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Diesem Einwand, der einer rein rechtlichen Begründung eine strikt moralische Begründung gegenüberstellt, kann jedoch entgegengehalten werden, dass die rechtliche Argumentation durchaus auch auf moralischen Einsichten beruhen kann. Die Position, sich in keiner Weise an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu beteiligen, vermag durchaus auf dem moralischen Prinzip zu basieren, dass Angriffskriege illegitim sind. Es ist das Gewissen, das mahnen kann, sich an einem gravierenden Völkerrechtsbruch nicht zu beteiligen. Insofern muss die Konstruktion von Widersprüchen in den Aussagen des Soldaten als unsachgemäß zurückgewiesen werden. Vielmehr überzeugt die Einschätzung des BVerwG, das die gravierenden Zweifel des Soldaten an der Vereinbarkeit mit dem geltenden Völkerrecht nicht als „lediglich juristische Bedenken gegen den Krieg“ interpretiert. Das BVerwG weiß, dass „für den in starkem Maße christlich geprägten Soldaten in der Frage des sittlichen ‚Gut‘ oder ‚Böse‘ der Unterstützung eines Krieges im geltenden Völkerrecht und in den maßgeblichen Regelungen des Grundgesetzes das ‚ethische Minimum‘ fixiert ist“65. Die Kritik von Stefan Sohm entzündet sich an der Annahme des Gerichts, es handele sich in diesem Fall um „eine Verletzung des Kernbereichs der Gewissensfreiheit oder unmittelbar der Menschenwürde“66. Er argumentiert mit der Feststellung des Sachverhalts, nach der das BVerwG „lediglich nicht ausschließen konnte, dass sie [die Aufgaben im IT-Projekt SASPF] Unterstützungsleistungen der Bundesrepublik Deutschland für die USA und ihre Verbündeten an einem bewaffneten Konflikt, den er für unvereinbar mit seinem Gewissen hielt, fördern würden“67. Für Sohm steht fest, dass ein solcher „fast schon vernachlässigbarer Zusammenhang“ nicht Gegenstand einer Inanspruchnahme des Grundrechts auf Gewissensfreiheit sein könne. Außerdem würden als typische Eingriffe in die Menschenwürde i. S. von Art. 1 Abs. 1 GG „Sklaverei, Frauen- und Kinderhandel, Folter, körperliche Eingriffe und medizinische Manipulationen zu Züchtungszwecken, Gehirnwäsche, Brechen des Willens durch Hypnose oder Wahrheitsdrogen, massive Verletzungen der körperlichen oder seelischen Integrität“ sowie unter wehrrechtlichen Aspekten etwa „die ehrverletzende Behandlung Untergebener“ gelten.68 Demgegenüber hat das BVerwG bereits darauf hingewiesen, dass „objektiv zwingend vorgegebene Inhalte“ nicht ausgemacht werden können: „Das Kriterium für das Vorliegen einer Gewissensentscheidung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG kann nicht ihrer ‚Wahrheit‘ in Gestalt einer Übereinstim65 66 67 68

BVerwGE 127, 302 (S. 356). Vgl. auch Hebeler (2006), S. 215. Sohm (2006), S. 13. Sohm (2006), S. 13. Sohm (2006), S. 14.

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mung mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen, einem naturrechtlich oder anderweitig bestimmten Sittengesetz, in der Gesellschaft vorherrschenden, also überwiegend vertretenen ethischen Grundüberzeugungen, einer bestimmten ‚Werteordnung‘ oder Ähnlichem entnommen werden. Damit würde gerade die Individualität und Freiheit des Gewissens negiert.“69 Denn im Gewissen erfährt sich der einzelne Mensch selbst als unmittelbar und unvertretbar Betroffener unter den unbedingten Anspruch des Guten gestellt; es bestimmt ihn zu einer ethischen Existenz, es wacht über seine personale Integrität70 – und niemand hat das Recht, von außen aufgrund anderer ethischer Einsichten das Vorliegen einer Gewissensentscheidung zu bestreiten. b) Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung als Spezifizierung des allgemeinen Grundrechts auf Gewissensfreiheit Der Grundaussage des BVerwG, das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Art. 4 Abs. 3 GG verdränge nicht das Grundrecht auf Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG, wird von den Rechtsexperten des BMVg zwar grundsätzlich geteilt; es handelt sich aber nicht einfach „um zwei verschiedene Grundrechte mit unterschiedlichen Schutzbereichen“, wie die Analyse von Sohm suggeriert, sondern um eine Spezifizierung oder Konkretisierung des einen Grundrechts der allgemeinen Gewissensfreiheit. Der Art. 4 Abs. 3 GG bezieht sich nur auf das Wehrpflichtverhältnis und regelt dessen Wirkungen auch abschließend. Darüber hinaus aber hat ein Soldat, der nicht als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden will, als Staatsbürger in Uniform das jedermann garantierte individuelle Grundrecht auf Freiheit des Gewissens.71 So führt das BVerwG bereits in einem Beschluss vom 30. September 1970 aus, „die Persönlichkeitssphäre sei unzumutbar berührt, wenn ein Soldat einen Befehl im Widerspruch zu seinem Gewissen ausführen müsse. Die Gewissensfreiheit sei mit dem in der Verfassung zugrunde gelegten Bild der autonomen sittlichen Persönlichkeit untrennbar verbunden. Eine Gewissensentscheidung könne nach den allgemein anerkannten Grundsätzen über die Unverbindlichkeit unzumutbarer Befehle die Gehorsamspflicht beseitigen.“72 Allerdings nimmt dieses Urteil nur auf einen Gewissensvorbehalt Bezug, der sich nicht gegen einen militärischen Befehl im engeren Sinne richtet. Es behandelt den Fall eines Soldaten, der sich aus Gewissensgründen weigerte, sich vorbeugend gegen Tetanus impfen zu lassen, da zur 69 70 71 72

BVerwGE 127, 302 (S. 327). Vgl. auch Gillner (2007), S. 16. Vgl. auch die Analyse des Urteils von Dau (2005), S. 256. BVerwG DokBer B 1971, S. 3915 zitiert aus: Schafranek (2005), S. 236.

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Gewinnung des Impfstoffes Tiere getötet würden. Die Vorrangigkeit der Gewissensfreiheit wird demnach nur in einem Bereich geklärt, der sich nicht direkt auf den Gehorsam gegenüber Befehlen zu militärischen Aktionen bezieht.73 Auf diesen Beschluss bezieht sich auch das BVerwG in seinem Urteil vom 25. November 1987 über den Missbrauch des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Es stellt fest, dass „unter Umstanden [. . .] in der konkreten Lage, in der es unabweislich wird, sich zu entscheiden, auch dem Grundrecht der Freiheit des Gewissens [. . .] gegenüber einem Befehl das höhere Gewicht zukommen [kann] mit der Folge, dass der Befehl unverbindlich ist“.74 Insofern ist dem Urteil des BVerwG von 2005 zu danken, dass es – wie schon der Beschluss von 1970 und das Urteil von 1987 – unmissverständlich an der Geltung des Grundrechts auf Gewissensfreiheit auch für den Soldaten festhält, militärische Befehle im engeren Sinn (etwa die Aufforderung zur Anwendung von Gewalt) in dessen Geltungsbereich nachdrücklich mit einbezieht und Art. 4 Abs. 3 GG eindeutig als Spezifizierung des Art. 4 Abs. 1 GG bestimmt. Dabei gelingt es den Richtern, diese prägnanten Aussagen mittels Wortlaut sowie entstehungsgeschichtlicher, teleologischer und systematischer Auslegung der beiden Grundrechte eindrucksvoll zu belegen. c) Der Vorrang der Gewissensfreiheit des Soldaten vor der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr Der größte Unmut entlädt sich bei den Juristen des BMVg und der Bundeswehr am Umgang des BVerwG mit der verfassungsrechtlich verankerten Funktionsfähigkeit der Streitkräfte, zu der zweifelsohne das Prinzip von Befehl und Gehorsam gehört. Die prinzipielle Vorrangigkeit des Grundrechts auf Gewissensfreiheit gegenüber anderen Verfassungswerten, die keinen Abwägungsvorgang erlaubt, ist für Sohm „eine der methodischen Hauptschwächen der Urteilsbegründung“75. Schafranek kritisiert das BVerwG, weil es nicht bereit sei, „die Gewissensfreiheit und die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr im konkreten Fall gegeneinander abzuwägen“76. Und von Lepel belässt es nicht nur dabei, im Falle der militärischen Gehorsamsverweigerung eine Abwägung zwischen ernsthaften Gewissensbedenken und der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zu fordern, sondern 73 74 75 76

Vgl. auch von Lepel (2006), S. 18. BVerwGE 83, 358. Vgl. auch Gillner (2008), S. 19 ff. Sohm (2006), S. 15. Schafranek (2005), S. 244.

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gibt auch noch einen Maßstab zur Beurteilung an, der sich aber wiederum an funktionalistischen Normen orientiert: „Ob und inwieweit die Gewissensfreiheit gegenüber der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte zurückzustehen hat, bestimmt sich nach dem verfassungsrechtlich anerkannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Je einsatzrelevanter der die Gewissensnot auslösende Befehl ist, desto eher wird die Ausübung des Grundrechts der Gewissensfreiheit zurückgedrängt.“77 Das BVerwG hat in seinem Urteil die Rechtsprechung des BVerfG nicht einfach abgelehnt, wonach der „Einrichtung“ und „Funktionsfähigkeit“ der Bundeswehr ein verfassungsrechtlicher Rang zukomme.78 Dennoch kann auch dann zwischen dem Grundrecht der Gewissensfreiheit des Soldaten und der verfassungsrechtlich garantierten Funktionsfähigkeit der Bundeswehr nicht „einfach“ abgewogen werden. Indem das BVerwG die Streitkräfte an die Grundrechte bindet, weil die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte jeder Verfassungsgebung vorausliegen,79 stellt es nachdrücklich heraus, dass es keine Nebenordnung zwischen den „elementaren“ Grundrechten des Staatsbürgers in Uniform und der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr gibt, sondern eine Vorrangordnung, insofern die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr von den Grundrechten selbst her gerechtfertigt wird.80 2. Kritik an der Interpretation des Urteils Im BMVg scheint in puncto Gewissensfreiheit nicht unbedingt die Tradition eines Johann Friedrich Adolf von der Marwitz oder eines Claus Schenk 77

von Lepel (2006), S. 22. Die Erwähnung des Sondervotums von Ernst Gottfried Mahrenholz und ErnstWolfgang Böckenförde zum Urteil des BVerfG über das Kriegsdienstverweigerungsneuordnungsgesetz vom 28. Februar 1983 lässt aber eine gewisse kritische Distanz erkennen. Vgl. BVerwGE 127, 302 (S. 362). Die beiden Richter kritisierten, dass der „Einrichtung und Funktionsfähigkeit“ der Bundeswehr ein verfassungsrechtlicher Rang eingeräumt wird, der die Funktion einer verfassungsimmanenten Grundrechtsschranke einnimmt und damit die Integrität der Grundrechtsgeltung selbst gefährdet. Sie halten es vor allem „für verfassungsrechtlich unzulässig, solche möglichen Begrenzungen und Schranken der Grundrechte [. . .] aus bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften (Art. 73 Nr. 1, 87a GG), bloßen Ermächtigungsnormen (Art. 12a GG) oder Organisationsregelungen (Art. 115b GG) herzuleiten“. BVerfGE 69, 1 (S. 59). Vgl. auch Gillner (2009), S. 18. 79 Vgl. auch Geiß (2006), S. 231. 80 Vgl. auch die ähnlich gelagerte scharfe Kritik von Ebeling (2001, S. 102) an der alten ZDv 10/1 Abschnitt Nr. 201 (i. d. F. vom Februar 1993), die mit der Rede vom Spannungsausgleich zwischen individuellen Rechten des freien Bürgers und den militärischen Pflichten eine Nebenordnung suggeriere. „Jede mit militärischen Erfordernissen begründete Einschränkung der Freiheitsrechte muss selber von deren ausgezeichnetem rechtlichen und ethischen Normsinn her legitimiert werden.“ 78

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Graf von Stauffenberg gepflegt zu werden. Eher mag die Überlieferung des Kriegstheoretikers Carl von Clausewitz nachwirken, der an die erste Stelle nicht das Gewissen, sondern den Gehorsam stellte.81 Die bereits erwähnte G1-/A1 Information „Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen“82 gibt zu solchem Misstrauen berechtigten Anlass, nährt sie doch zumindest den Verdacht, dass das Recht auf Gewissensfreiheit des Soldaten einschränkend gehandhabt werden soll. Durch die durchweg eingenommene Perspektive des Befehlsgebers, dessen Anweisungen möglicherweise aus Gewissensgründen nicht mit Gehorsam rechnen können, nicht aber die des Untergebenen, dessen personale Integrität geschützt werden will, widerspricht das regierungsamtliche Schreiben bereits der Grundintention des BVerwG. In seinem Urteil geht es gerade nicht von der Funktionalität der Bundeswehr, sondern von der Würde des Soldaten aus, für den „die Treue zum eigenen Gewissen eine unbedingte Pflicht darstellt“83, die einen Anspruch auf Respekt vom militärischen Vorgesetzten einfordert. Bei der G1-/A1-Information fallen drei schwerwiegende inhaltliche Widersprüche zum Urteil des BVerwG auf. So wird zunächst dem militärischen Vorgesetzten in unzulässiger Weise eine Feststellungskompetenz für Gewissensentscheidungen von Untergebenen zugeschrieben. Aber der Befehlsgeber hat weder das Recht, über die Glaubwürdigkeit einer Gewissensentscheidung zu befinden, noch die Befugnis, darüber zu urteilen, ob das Grundrecht auf Gewissensfreiheit in Anspruch genommen werden darf. Diese Feststellungskompetenz kommt nach geltendem Recht allein den Gerichten zu. Das Schriftstück aus dem BMVg geht aber noch über die Gewährung einer Definitionsmacht über Gewissensentscheidungen hinaus; es schreibt den Vorgesetzten sogar vor, unter welchen Bedingungen „ein Befehl von vornherein nicht geeignet“ ist, „die ethischen Maßstäbe des Soldaten zu verletzen“: wenn nach gegenwärtigem Erkenntnisstand „für den Eintritt der befürchteten Folgen aktuell keine Anhaltspunkte gegeben sind“ und wenn die Gewissensbelastung sich lediglich als mittelbare Folge der Befehlsausführung ergibt“84. Dem BMVg steht es aber nicht zu, den Inhaltsbereich rechtlich zu respektierender Gewissensurteile einzuschränken, indem eine Reihe möglicher Begründungen dem Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 GG vorab entzogen werden.85 81

Vgl. die Analyse von Dillmann (1993). BMVg R II 2 2006. 83 Hoppe (2006), S. 47. 84 BMVg R II 2 2006, S. 2. 85 Hoppe (2006, 48) stellt unmissverständlich klar: „Von Bedeutung sein kann allenfalls die Frage, ob sich an der Art und Weise, in der jemand sich auf sein Gewis82

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Das regierungsamtliche Schreiben behauptet schließlich die Berechtigung des Staates, Menschen „zu gewissensbelastenden Handlungen [zu] zwingen, wenn dies durch ein anderes Verfassungsgut zu rechtfertigen ist“86. Zu diesen Verfassungsgütern gehört für das Dokument zweifelsohne die Einsatzund Funktionsfähigkeit der Streitkräfte. „Wenn die Nichtausführung des Befehls ein solches Verfassungsgut beeinträchtigen würde, kann die Gewissensfreiheit in den Hintergrund treten. Der Befehl bleibt dann trotz Gewissensbeeinträchtigung verbindlich. Die Abwägung ist dem betroffenen Soldaten mitzuteilen.“87 Nun hat das Urteil aber unmissverständlich klargestellt, dass die Gewissensfreiheit vorbehaltlos gilt, dass der Einzelne gerade nicht zu gewissensbelastenden Handlungen gezwungen werden darf. Denn die Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte (Art.1 Abs.3 GG) wird auch im „Verteidigungsfall“ nicht aufgehoben und die Gewährleistung der „Funktionsfähigkeit der Bundeswehr“ beinhaltet zwingend immer auch die Sicherstellung des Grundrechts auf Gewissensfreiheit. Selbst bei einer Kollision mit der Befehls- und Kommandogewalt des Verteidigungsministers darf nicht einfach „abgewogen“ werden; vielmehr ist nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz zu verfahren, dem gemäß keine Abstriche bei der Gewährung der Gewissensfreiheit gemacht werden dürfen.88

III. Würdigung Das BVerwG garantiert in seinem Urteil vom 21. Juni 2005 das Recht auf Gewissensfreiheit auch für den Soldaten und sichert endlich den rechtlichen Freiraum, „der es dem Befehlsempfänger auch praktisch ermöglicht, sich solchen Anordnungen zu widersetzen, die rechtliche bzw. ethische Grenzen verletzen“.89 sensurteil beruft, ablesen lässt, dass es sich tatsächlich um eine schutzwürdige Gewissensentscheidung handelt oder aber möglicherweise um die Verwechslung eines Tatsachenirrtums mit einer Gewissensproblematik, über die die betreffende Person aufgeklärt werden könnte und sollte. Selbst für diesen Fall ist aber daran festzuhalten, dass auch eine Gewissensentscheidung, die auf einem von der urteilenden Person nicht erkannten Irrtum beruht, nichtsdestoweniger für diese verbindlich und daher in den Schutzbereich der Gewissensfreiheit einbezogen bleibt.“ 86 BMVg R II 2 2006, S. 1. 87 BMVg R II 2 2006, S. 3. 88 Vgl. BVerwGE 127, 302 (S. 365–368). 89 Die deutschen Bischöfe (2000), Nr. 141. Die katholische Kirche in Deutschland fordert schon seit langem – zuletzt in dem Grundlagenpapier der Deutschen Kommission Justitia et Pax (2004), S. 46 – eine rechtliche Gewährleistung der Gewissensfreiheit für Soldaten nach Art. 4 Abs. 1 GG im Falle einer Kriegsdienstoder Befehlsverweigerung, da der Gesetzgeber einer situationsbezogenen Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen nach Art. 4 Abs. 3 GG keine Möglich-

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Denn bei der Gewissensfreiheit handelt es sich sowohl in Bezug auf die Bildung (forum internum) als auch auf die Betätigung (forum externum) um ein besonders schützenswertes Gut. Das Gewissen bildet die Mitte der menschlichen Person, es bestimmt ihn zu einer moralischen Existenz und es wacht über seine personale Integrität. Die moralische Selbstbestimmung im Gewissen ist ein wesentliches Merkmal der unantastbaren Würde des Menschen. Daher gebührt dem Recht auf Gewissensfreiheit unter allen anderen Menschenrechten ein besonderer Rang. Die deutsche Verfassung gesteht diese Sonderstellung zu, indem sie die Gewissensfreiheit als selbständiges Grundrecht ohne Gesetzesvorbehalt (Art. Abs. 1 GG) gewährleistet und es im besonders sensiblen Bereich der Gewaltanwendung in einem eigenständigen Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 GG) spezifiziert. Das Urteil des BVerwG bestätigt die vorbehaltlose Geltung des Rechts auf Gewissensfreiheit auch für die in einem besonderen Verhältnis zur staatlichen Gewalt stehenden Soldaten (Sonderstatus). Eine einfache Abwägung mit anderen verfassungsrechtlichen Gütern lehnt es unmissverständlich ab. Voreiligen Funktionalitätserwägungen wird die Gewissensfreiheit der Soldaten nicht geopfert; sie konkurriert als Rechtsgut nicht mit der aufrechtzuerhaltenden Funktionsfähigkeit der Bundeswehr. Zwar sieht das BVerwG auch die Möglichkeit einer Kollision der Befehls- und Kommandogewalt (über Art. 65a GG) mit der Gewissensfreiheit des Soldaten; das zugestandene Spannungsverhältnis muss jedoch nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz gelöst werden, ohne dabei die rechtlich garantierte Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit zu beeinträchtigen.90 Insofern akzeptiert das BVerwG keine verfassungsrechtlichen Beschränkungen der Gewissensfreiheit. Maßstab für die Gewährleistung des Rechts bleibt allein die individuelle Betroffenheit und die Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung des Soldaten.91 Doch die rechtliche Gewährleistung der Gewissensfreiheit des Soldaten zieht innerhalb der Bundeswehr nicht automatisch eine Wertschätzung des keit eröffnet. Gemäß der bischöflichen Erklärung „Soldaten als Diener des Friedens“ (2005, S. 8) hat das Recht auf Gewissensfreiheit auch für Soldaten uneingeschränkt zu gelten, da dieser elementare Grundrechtsschutz die Rechtsstellung sowohl der Bürger im Allgemeinen als auch der Soldaten im Besonderen bestimmt. Dieses Grundrecht „kann nicht unter Berufung auf Gesichtspunkte der militärischen Zweckmäßigkeit oder Funktionsfähigkeit außer Kraft gesetzt werden.“ 90 Hebeler (2006, S. 218) bewertet das Urteil des BVerwG deshalb sogar als „bundeswehrfreundlich“, weil es über Art. 65a GG „der Befehls- und Kommandogewalt einen materiellen verfassungsrechtlichen Gehalt [. . .] zubilligt“. 91 Vgl. auch von Lepel (2006), S. 19. Zur Ernsthaftigkeit einer Gewissensentscheidung gehört für das BVerwG auch die im Zusammenhang des Gebots der praktischen Konkordanz dem Soldaten gemachte Auflage, nicht zur Unzeit Gewissensnöte geltend zu machen.

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ethisch reflektierten Gehorsamsverständnisses nach sich. Damit Gewissensentscheidungen auch faktisch auf breite Akzeptanz in den Streitkräften stoßen, bedarf es einer entsprechenden internen Kultur. Die rechtliche Möglichkeit zur gewissensbedingten Gehorsamsverweigerung ist von Soldaten bislang sehr selten in Anspruch genommen worden. Doch angesichts der aktuellen Einsatzrealität deutscher Streitkräfte dürfte sich dies wohl ändern. Zweifel sowohl an der Legitimität des militärischen Einsatzes selbst als auch der moralischen Berechtigung der „rules of engagement“ und der einzelnen „Befehle vor Ort“ könnten Soldaten verstärkt in Gewissensnöte stürzen.92 Bereits in jüngster Vergangenheit standen einzelne militärische Einsätze der Bundeswehr – insbesondere der Kosovokrieg (1999) – auf einem zweifelhaften völkerrechtlichen Fundament. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 7. Mai 2008 zudem festgestellt, dass die Beteiligung deutscher Soldaten an der Luftraumüberwachung der Türkei durch die NATO vom 26. Februar bis zum 17. April 2003 ohne Zustimmung des Deutschen Bundestags verfassungswidrig war.93 Rechtlich derart bedenkliche Entscheidungen könnten künftig ernsthafte Gewissensprüfungen nicht mehr überstehen.94 Aber selbst eindeutig rechtskonforme Entscheidungen sind aus moralischer Perspektive nicht einfach unbedenklich. Innerhalb des Völkerrechts zeigen sich in Bezug auf gewaltsame zwischenstaatliche Auseinandersetzungen, militärische Interventionen in innerstaatliche Konflikte und die Kriegsführung erhebliche Lücken. Weder gibt es eine „konsensuale Interpretation des Angriffskrieges“95 noch eine rechtliche Kasuistik für militärische Interventionen aus humanitären Gründen, noch einen hinreichenden Rechtsschutz für die Zivilbevölkerung vor kriegerischer Gewalt. Angesichts dieser moralischen Herausforderungen, die sich dem Soldaten schon in einfachen Konfliktsituationen stellen können, bedarf es einer permanenten Bildung des Gewissens. Dem einseitig geschulten Soldaten, vor allem dem hochspezialisierten Technokraten, kann schnell die ethische Sensibilität, Kreativität und Scharfsinnigkeit verloren gehen. Vor allem aber we92 Dies gilt z. B. für die Luftwaffenpiloten, die es 1999 ablehnten, sich während des Luftkrieges gegen Jugoslawien an den Angriffshandlungen zu beteiligen. Vgl. Rose (2006), S. 207. Zuletzt hat OTL Jürgen Rose selbst beantragt, von „allen weiteren Aufträgen [. . .] im Zusammenhang mit der ‚Operation Enduring Freedom‘ [. . .] entbunden zu werden“, da er es „nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, den Einsatz von Tornado-Waffensystemen in Afghanistan [. . .] zu unterstützen“. Rose (2008b), S. 18 f. 93 Auszug der Entscheidung des BVerfG vom 7. Mai 2008, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2008, H. 6, S. 120–124. 94 Vgl. auch Clement (2005), S. 40. 95 Hoppe (2006), S. 49.

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gen der jeder Gewaltausübung zugrunde liegenden Eigendynamiken droht das Gewissen erheblich abzustumpfen, manchmal auch (ganz?) zu verstummen. Da der Soldat aber nicht nur vor seinem Gewissen, sondern auch für sein Gewissen verantwortlich ist, kommt der ethischen Bildung die Aufgabe zu, bei der Entwicklung des Gewissens Orientierungshilfe zu leisten: die Wahrnehmung der Bedürfnisse und Interessen des Anderen zu verfeinern, das Vorstellungsvermögen im Blick auf gewaltlose, mindestens aber gewaltärmere Lösungen anzureichern und die Urteilsfähigkeit bei moralischen Konfliktsituationen zu schärfen.96 Denn für die Ausnahmesituation des Krieges gilt die schon im Friedenszustand gültige Regel erst recht: Massenschlaf des Gewissens scheint allemal wahrscheinlicher als Massenverschleiß.97 Literatur Ambos, Kai/Arnold, Jörg (Hrsg.) (2004): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag. Bachmann, Hans-Georg (2006): Militärischer Gehorsam und Gewissensfreiheit, in: Zetsche, Holger und Stephan Weber (Hrsg.): Recht und Militär. 50 Jahre Rechtspflege der Bundeswehr. Baden-Baden: Nomos, S. 156–168. Clement, Rolf (2005): Die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr und das Gewissen des Soldaten, in: Europäische Sicherheit, H. 8, S. 40–41. Dau, Klaus (2005): Anmerkung zum Zweiten Wehrdienstsenat, Urteil v. 21.06.2005 – BVerwG 2 WD 12.04 –, in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht 47, S. 255–57. Deutsche Kommission Justitia et Pax (2004): Kirchliches Verständnis vom Dienst am Frieden – Dienste für den Frieden. Grundlagenpapier der Deutschen Kommission Justitia et Pax. Schriftenreihe Gerechtigkeit und Frieden. Nr. 103. Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Hirtenschreiben und Erklärungen. Bd. 66. Bonn. – (2005): Soldaten als Diener des Friedens. Erklärung zur Stellung und Aufgabe der Bundeswehr. Hirtenschreiben und Erklärungen. Bd. 82. Bonn. Dillmann, Robert (1993): Der Soldat, sein Gewissen und die Tradition, in: Stimmen der Zeit 211, S. 65–68. Ebeling, Klaus (2001): Verliert die Innere Führung ihr ethisches Fundament?, in: Opitz, Eckardt (Hrsg.): 50 Jahre Innere Führung. Von Himmerod (Eifel) nach Priština (Kosovo). Geschichte, Probleme und Perspektiven einer Führungsphilosophie. Bremen: Edition Temmen, S. 101–115. 96

Vgl. Gillner (2007), S. 16. Auch wenn Rose berichtet, dass sich in Bezug auf den militärischen Einsatz in Afghanistan bereits mehrere Dutzend Bundeswehrsoldaten mit Gewissensnöten bei ihren Anwälten nach Möglichkeiten für eine anderweitige Verwendung innerhalb der Truppe erkundigt haben, so handelt es sich dennoch nicht um eine „Massenverweigerung“. Rose (2008b), S. 20. 97

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Geiß, Robin (2006): Weltbürger in Uniform, in: Archiv des Völkerrechts 44, S. 217–233. Gillner, Matthias (2007): Lexikon Ethik: Gewissen, in: Kompass. Soldat in Welt und Kirche H. 9, S. 16. – (2009): Gewissensfreiheit unter den Bedingungen von Befehl und Gehorsam. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2005 zur Gewissensfreiheit des Soldaten und die katholische Lehre von der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. 2. Auflage. Deutsche Kommission Justitia et Pax, Schriftenreihe Gerechtigkeit und Frieden, H. 117. Bonn. Hebeler, Timo (2006): Anmerkung zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewissensfreiheit des Soldaten, in: Kritische Justiz 39, S. 209–218. Hoppe, Thomas (2006): Gewissensfreiheit als Grenze der militärischen Gehorsamspflicht, in: Auftrag 46, H. 264, S. 47–51. Lepel, Oskar Matthias Freiherr von (2006): Im Grenzbereich von Gesetz und Ethik. Überlegungen zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewissensfreiheit von Soldaten, in: zur Sache. bw. Evangelische Kommentare zur Fragen der Zeit, Nr. 10, 18–25. Nolte, Georg/Krieger, Heike (2002): Europäische Wehrrechtssysteme. Ein Vergleich der Rechtsordnungen Belgiens, Dänemarks, Deutschlands, Frankreichs, Luxemburgs, der Niederlande, Polens, Spaniens und des Vereinigten Königreichs. Baden-Baden: Nomos. Rose, Jürgen (2006): Globale Verteidigung. Von der Entgrenzung des militärischen Auftrags und der Freiheit des Gewissens, in: Sicherheit und Frieden 24, S. 204–209. – (2008a): „Sagt Nein!“ Gehorsamsverweigerung im EU- und NATO-Umfeld, in: Wissenschaft und Frieden, H. 3, S. 42–46. – (2008b): Gehorsam oder Gewissen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 53, H. 6, S. 17–21. Schafranek, Frank (2005): Die Gewissensfreiheit des Soldaten, in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht 47, S. 234–246. Sohm, Stefan (2006): Vom Primat der Politik zum Primat des Gewissens? Anmerkungen zu BVerwG 2 WD 12.04 vom 21. Juni 2005, in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht 48, S. 1–24.

Soziale Absicherung in Auslandseinsätzen – das neue Einsatz-Weiterverwendungsgesetz Von Michael Hofmann Die laufenden Einsätze der Bundeswehr vom afrikanischen Kontinent über das Horn von Afrika, das Mittelmeer, den Balkan und Georgien bis nach Afghanistan stellen an alle Beteiligten hohe Anforderungen und sind mit einem erheblichen Risiko für Leib und Leben des dabei eingesetzten Personals verbunden. In der weit überwiegenden Anzahl handelt es sich dabei um Soldatinnen und Soldaten, die einen Anspruch auf eine den Besonderheiten der Einsätze Rechnung tragende bestmögliche Ausbildung, Ausrüstung und soziale Absicherung haben. Das ‚Ob‘ ist dabei unstrittig, über das ‚Wie‘ gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Auffassungen. Im fortlaufenden Transformationsprozess soll – unter Berücksichtigung der sicherheitspolitischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Umwälzungen – darauf eine Antwort gegeben werden. Der Transformation der Bundeswehr kommt damit auch unmittelbar eine mentale Dimension zu. Die Belastungen des Einzelnen durch die Einsätze verlangen ein hohes Maß an physischer und psychischer Stabilität. Auf diese haben die Angehörigen einen erheblichen Einfluss, denn auch die Partner, Kinder und Eltern sind durch den Auslandseinsatz unmittelbar betroffen. Die soziale Absicherung der Soldatinnen und Soldaten sowie ihrer Angehörigen besitzt in diesen Fällen eine zentrale Bedeutung. Sie weist viele Facetten auf, aber der Versorgung im Fall schwerer Verwundung oder Verletzung, insbesondere wenn diese zu dauerhaften irreparablen Schädigungen führen, kommt eine Schlüsselfunktion zu. Auch im Fall des Todes, der unvermeidbar Begleiter der Auslandseinsätze geworden ist und es auf Dauer wohl auch bleiben wird, haben die Angehörigen im Hinblick auf den unwiederbringlichen Verlust zumindest in materieller Hinsicht einen Anspruch auf eine angemessene Versorgung. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass der Gesetzgeber seit Beginn der Auslandseinsätze über zehn Jahre gebraucht hat, um eine angemessene Versorgung zu etablieren. Letztlich gelang ihm dieses erst mit dem Einsatzversorgungsgesetz1 vom 21. Dezember 2004 und dem Einsatz-Weiterver1

Im Folgenden abgekürzt: EinsatzVG.

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wendungsgesetz2 vom 17. Dezember 2007. Herausgekommen sind zwei komplexe, ineinandergreifende Regelungswerke mit vielfältigen Implikationen. Ob damit der gegenüber dem ‚Dienstherrn‘ entstandene Vertrauensverlust ausreichend kompensiert werden konnte, bleibt fraglich. Selbst einem verständigen Leser bereitet schon das bloße Textstudium Schwierigkeiten. Literatur zum Thema ist so gut wie nicht vorhanden und verallgemeinerungsfähige Erfahrungen liegen noch nicht vor. Daher werden zunächst die wesentlichen Inhalte und Zusammenhänge dargestellt, um den Zugang zur Materie zu erleichtern und um zum besseren Verständnis der Komplexität und Langwierigkeit des Gesetzgebungsverfahrens beizutragen. Das EinsatzVG stellt – vereinfacht gesagt – das versorgungsrechtliche und das EinsatzWVG das statusrechtliche Standbein der sozialen Absicherung in den Auslandseinsätzen dar.3 Beide Gesetze stehen in einem engen inhaltlichen Zusammenhang. Das EinsatzVG hatte das Versorgungsrecht der Soldatinnen und Soldaten an die sich durch die Auslandseinsätze veränderten Rahmenbedingungen angepasst und zu materiellen Verbesserungen geführt. In Ergänzung zu dieser rein materiellen Absicherung schließt das EinsatzWVG die bestehende Lücke, Einsatzgeschädigten auch eine berufliche Perspektive zu geben und sie und ihre Familien nicht dauerhaft zu reinen Empfängern sozialer Leistungen zu degradieren. Ein gesetzlich verankerter Weiterbeschäftigungsanspruch im öffentlichen Dienst trotz oder gerade wegen einer Einsatzschädigung ist epochal – in rechtlicher, politischer und psychologischer Hinsicht. Da das EinsatzWVG auf dem EinsatzVG aufbaut und dieses ergänzt, erschließt sich Sinn und Zweck des EinsatzWVG nur über den Regelungsinhalt des EinsatzVG, das deshalb zunächst in seinen Grundzügen dargestellt werden soll (Abschnitt I.). Obwohl bereits vor 2004 und auch im Zusammenhang mit den Arbeiten am EinsatzVG eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit wiederholt gefordert worden war,4 konnte die be2

Im Folgenden abgekürzt: EinsatzWVG. Daneben gibt es zahlreiche weitere Regelungen und Bestimmungen, wie z. B. Geldleistungen der Wohnungshilfe, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann; siehe auch die Broschüre „Wichtige Hinweise zur finanziellen und sozialen Absicherung bei besonderen Auslandsverwendungen“, Herausgeber BMVg PSZ III 1, 4. Aufl. Stand Januar 2008 sowie den Erlass über die Fürsorge für schwerbehinderte Menschen im Geschäftsbereich des BMVg in Ministerialblatt des BMVg (VMBl) 2007, S. 30 und „Reha-Erlass“ PSZ III 5 vom 08.12.2008 (VMBl 2009, S. 39). Neben diesen Leistungen bestehen auch weiterhin Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung im Rahmen der Beschädigtenversorgung nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses (z. B. Grundrente, Ausgleichsrente, Schwerstbeschädigtenzulage, Berufsschadensausgleich, Pflegezulage, Ehegattenzuschlag). 4 Neben anderen hat dies der Deutsche Bundeswehrverband e. V. seit langem gefordert, vgl. u. a. Die Bundeswehr, Nr. 10/2002, S. 8 f. 3

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stehende Rechtsunsicherheit erst nach einem langwierigen Gesetzgebungsverfahren mit der Verabschiedung des EinsatzWVG Ende 2007 ausgeräumt werden (Abschnitt II.).

I. Das Einsatzversorgungsgesetz 1. Anwendungsbereich Das „Gesetz zur Regelung der Versorgung bei besonderen Auslandsverwendungen – Einsatzversorgungsgesetz (EinsatzVG)“ wurde am 27. Dezember 2004 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht.5 Seine materiell-rechtliche Wirkung entfaltete es gleichwohl zu einem früheren Zeitpunkt. Das Gesetz wurde rückwirkend zum 1. Dezember 2002 in Kraft gesetzt, um den das förmliche Verfahren letztendlich auslösenden Einsatzunfall, den Absturz einer CH 53 in Kabul am 21. Dezember 2002 und den Terroranschlag auf einen deutschen Bus der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) auf dem Transfer zum Flughafen Kabul am 7. Juni 2003 mit einbeziehen zu können.6 Als Artikelgesetz konzipiert, hat das EinsatzVG eine Vielzahl bereits bestehender gesetzlicher Regelungen geändert bzw. ergänzt.7 Im Wesentlichen wurde das Beamtenversorgungsgesetz (BeamtVG) und das insbesondere für Soldatinnen und Soldaten einschlägige Soldatenversorgungsgesetz (SVG) angepasst, um die bis dahin bestehenden Regelungen über Unfälle und Erkrankungen während besonderer Auslandsverwendungen zu verbessern. 2. Definition ‚Einsatzunfall‘ Vor Inkrafttreten des EinsatzVG bestand erhebliche Unsicherheit, wann und unter welchen Voraussetzungen überhaupt ‚Einsatzversorgung‘ gewährt wurde.8 Erforderlich blieb in jedem Einzelfall die mitunter zeitintensive 5

Bundesgesetzblatt (BGBl) 2004 Teil I, S. 3592. Nach dem Hubschrauberabsturz am 21.12.2002 mit sieben Toten hatte der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages in seiner Sitzung am 15.01.2003 einstimmig beschlossen, die Versorgungsleistungen im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen deutlich zu verbessern. Bei dem Terroranschlag am 07.06.2003 starben vier Soldaten, zahlreiche wurden schwer verletzt. 7 Ein Artikel- oder auch Mantelgesetz ist kein eigenständiges, zusammenhängendes Gesetz im klassischen Sinn, sondern es ändert und/oder ergänzt bereits bestehende Gesetze. Es kann dabei mehrere Gesetze aus den unterschiedlichsten Bereichen ändern, die jedoch meistens thematisch und inhaltlich zusammenhängen. 8 Ins Blickfeld der Öffentlichkeit geriet insbesondere der Fall des während eines Kontingenteinsatzes in Albanien bei einem Verkehrsunfall im Mai 1999 tödlich ver6

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und aufwändige Aufklärung der konkreten Verhältnisse und Umstände mit den dadurch verbundenen Unwägbarkeiten und rechtlichen Unsicherheiten. Die Einführung des Rechtsbegriffes des ‚Einsatzunfalls‘ bildete daher die juristische Kernaussage des EinsatzVG: Ein Einsatzunfall liegt vor, wenn eine Soldatin oder ein Soldat eine gesundheitliche Schädigung während einer besonderen Auslandsverwendung erleidet. Davon erfasst werden alle gesundheitlichen Schädigungen aufgrund eines Dienstunfalls während oder infolge des Dienstes, aufgrund eines Unfalls oder einer Erkrankung, die auf die speziellen Verhältnisse im Einsatzland zurückzuführen ist9 oder die im Zusammenhang mit einer Gefangenschaft oder Verschleppung steht.10 Eine besondere Auslandsverwendung liegt vor, wenn es sich um einen von der Bundesregierung beschlossenen Einsatz handelt, bei dem Soldatinnen und Soldaten im Ausland im Rahmen von humanitären und unterstützenden Maßnahmen Dienst leisten.11 Das EinsatzVG trägt dem Umstand Rechnung, dass der Dienst bei einer besonderen Auslandsverwendung in der Regel gefahrvoller und risikobehafteter ist. Der Unterschied zu Auslandsaufenthalten mit Kommandierungen oder Versetzungen in das Ausland sowie sonstigen Auslandsverwendungen liegt zudem in der herausgehobenen politischen Bedeutung der besonderen Auslandsverwendung.12 Deshalb ist für einen derartigen Einsatz in jedem Einzelfall immer ein Beschluss der Bundesregierung erforderlich.13 Mit Hilfe der Legaldefinition des EinsatzVG ist das unglückten Oberstabsarztes. Die verwaltungsgerichtliche Klage der Witwe auf erhöhte Versorgungsleistungen blieb letztendlich erfolglos, da eine gesteigerte Gefährdungslage nicht festgestellt werden konnte. Verfahren und Ergebnis wurden – teilweise zu Recht – heftig kritisiert, die Diskussionen mitunter stark emotionalisiert geführt; vgl. Saalfeld (2008), S. 38. 9 Z. B. eine Malariaerkrankung, Dengue-Fieber, Schlangenbiss, aber auch der dienstliche Sportunfall fallen darunter. 10 § 63 c Abs. 2 SVG. Die beiden letztgenannten Fallgruppen werden damit einem Dienstunfall gleichgestellt. Die konkrete Unfallursache spielt insoweit keine Rolle mehr, es sei denn es liegen vorsätzliches Handeln oder andere besondere Umstände vor, wie z. B. bei einer Trunkenheitsfahrt. 11 Vgl. § 63 c Abs. 1 SVG: „Eine besondere Auslandsverwendung ist eine Verwendung aufgrund eines Übereinkommens oder einer Vereinbarung mit einer überoder zwischenstaatlichen Einrichtung oder mit einem auswärtigen Staat auf Beschluss der Bundesregierung im Ausland oder außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes auf Schiffen oder in Luftfahrzeugen.“ Sie beginnt versorgungsrechtlich mit dem Eintreffen im Einsatzgebiet und endet mit Verlassen desselben. Die gesetzliche Definition deckt sich im Wesentlichen mit den Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung des Auslandsverwendungszuschlages nach § 58a Abs. 2 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG). 12 Zu sonstigen Auslandsverwendungen zählen z. B. Übungen, Seedienst, Flugdienst. 13 Näheres regelt das Parlamentsbeteiligungsgesetz – vgl. den Beitrag von Gareis/Nolte in diesem Band. Liegt kein oder noch kein Beschluss des Bundestages

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Verfahren zur Festsetzung der Versorgung deutlich vereinfacht worden; eine aufwändige und mitunter zeitintensive Prüfung der Unfallursachen und unterschiedlicher Tatbestandsvoraussetzungen kann seitdem entfallen. 3. Leistungen nach dem EinsatzVG a) Leistungen im Überblick Welche einzelnen Versorgungsleistungen bei einem Einsatzunfall im Rahmen der Einsatzversorgung in Betracht kommen, werden in einem umfassenden ‚Leistungskatalog‘ festgelegt. Aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Fallgestaltungen haben Anspruchsberechtigte nach den jeweils individuellen Gegebenheiten ihres Einzelfalles sorgfältig zu prüfen, welche Form der Einsatzversorgung – nach dem EinsatzVG oder dem EinsatzWVG – ihrem Fall am besten gerecht wird. Aus diesem Grund sollen die Leistungen nach dem EinsatzVG, die auf die rein materielle Absicherung Einsatzgeschädigter abzielen, hier in ihren Grundzügen skizziert werden.14 Die wesentlichen Verbesserungen beinhalten die Erhöhung der einmaligen Entschädigung für alle Statusgruppen, die Erhöhung der laufenden Versorgung für Berufssoldatinnen und Berufssoldaten und in diesem Zusammenhang die Gewährung von Ausgleichszahlungen für die übrigen – nicht auf ein Dauerbeschäftigungsverhältnis gerichteten – Statusgruppen15 sowie die Verbesserung der Leistungen an Hinterbliebene.16 b) Einmalige Entschädigungszahlung Im Bereich der statusunabhängigen Leistungen erhalten Einsatzgeschädigte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Einsatzunfalls um wenigstens 50 Prozent beeinträchtigt ist, einen einmaligen Entschädigungsbetrag in vor, kann gleichwohl Einsatzversorgung in den Fällen gewährt werden, in denen eine „vergleichbar gesteigerte Gefährdungslage“ nachträglich festgestellt wird, § 63c Abs. 1 Satz 2 SVG. Beispiele: Fact-Finding-Team, Erkundungskommando, Beobachtermission, Berater im Rahmen humanitärer Einsätze. 14 Im Detail: Saalfeld (2005), S. 25 ff. 15 Dazu gehören Soldatinnen bzw. Soldaten auf Zeit, Grundwehrdienst (GWDL) und freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst Leistende (FWDL) sowie Reservisten und Reservistinnen, die nach §§ 6, 6 a Wehrpflichtgesetz (WPflG) einberufen bzw. herangezogen werden. 16 Zur Hinterbliebenenversorgung (Witwen-, Waisengeld, Witwen-, Waisenrente, Sterbegeld, einmalige Entschädigung, Schadensausgleich bezüglich Sach- und Vermögensschaden, Ausgleichszahlungen, Übergangsbeihilfe) instruktiv Saalfeld (2005), S. 28 f.

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Höhe von 80.000 Euro17. Die Zahlung erfolgt aufgrund der Änderungen des EinsatzWVG nicht mehr wie bislang bei Beendigung des Dienstverhältnisses, sondern unmittelbar nach Feststellung der dauerhaften Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)18. Die Beträge für die einmalige Entschädigung, die hinterbliebenen Ehe- und Lebenspartnern sowie versorgungsberechtigten Kindern gewährt wird, wurde von zusammen 38.350 auf 60.000 Euro erhöht19. c) Erhöhung der laufenden Versorgung Im Bereich der statusabhängigen Leistungen erhalten Berufssoldatinnen und Berufssoldaten als sogenannte ‚qualifizierte Unfallversorgung‘ im Fall der durch einen Einsatzunfall bedingten Dienstunfähigkeit und Versetzung in den Ruhestand, eine laufende Versorgung auf der Basis von 80 Prozent der jeweils ruhegehaltfähigen Dienstbezüge aus der Endstufe der übernächsten Besoldungsgruppe.20 Die Privilegierung der Berufssoldatinnen und Berufssoldaten wird mit der Tatsache begründet, dass diese ihr gesamtes Erwerbsleben auf die im Bereich der Streitkräfte in besonderen Situationen bedingte ‚gefahrgeneigte‘ Tätigkeit ausrichten. Für sie gilt ein Alterssicherungssystem, das dem System der Beamten angeglichen ist. Wie diese erhalten sie bei ihrem Ausscheiden aus dem Dienst ein Ruhegehalt. Die qualifizierte Unfallversorgung stellt somit eine Aufstockung des erdienten Ruhegehaltes dar, indem es fiktiv hochgerechnet wird.21 17 § 63 e i. V. m. § 63 a SVG. Die Voraussetzung der geminderten Erwerbsfähigkeit wurde im Zuge des EinsatzWVG von vormals 80 auf 50 Prozent herabgesetzt, wodurch die praktische Relevanz signifikant erhöht wurde. Bei einer MdE von 80 Prozent ist ein zeitnahes Ausscheiden aus dem Dienstverhältnis regelmäßig zu erwarten. Der steuerfreie Betrag wurde von 76.700 auf 80.000 Euro erhöht. 18 Der Begriff ‚Grad der Schädigungsfolgen‘ (GdS) wird im Zusammenhang mit dem EinsatzVG/EinsatzWVG (noch) nicht verwendet. 19 Entsprechendes gilt für die einmalige Unfallentschädigung nach dem SVG auch bei Inlands- und sonstigen Auslandsunfällen. Bei Ausfall der vorrangig Anspruchsberechtigten wird Eltern/nicht versorgungsberechtigten Kindern 20.000 Euro (statt 19.175 Euro) und Großeltern/Enkeln 10.000 Euro (statt 9.587 Euro) gezahlt. 20 Die übernächste Besoldungsgruppe (BesGrp) bestimmt sich nicht danach, welche BesGrp bei der übernächsten laufbahnmäßigen Beförderung erreicht worden wäre oder ob diese BesGrp in der jeweiligen Laufbahn überhaupt vorgesehen ist. Für die Höhe ist ausschließlich das übernächste Endgrundgehalt maßgebend. Zusätzlich wurden Mindestbesoldungsgruppen festgelegt: für Unteroffiziere BesGrp A 9, für Berufsoffiziere BesGrp A 12 und für Stabsoffiziere und Sanitätsoffiziere BesGrp A 16. 21 Diese Regelung führt dazu, dass Berufssoldatinnen und Berufssoldaten regelmäßig ein Einkommen erhalten, das deutlich über den ansonsten gezahlten Dienstbezügen liegt.

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d) Ausgleichszahlungen Im Gegensatz zu Berufssoldatinnen und Berufssoldaten leisten Angehörige anderer Statusgruppen, also Wehrpflichtige, Soldatinnen bzw. Soldaten auf Zeit sowie wehrübende Reservistinnen und Reservisten nur vorübergehend Dienst in der Bundeswehr.22 Ihre Lebensplanung weicht von der der Berufssoldatinnen und Berufssoldaten erheblich ab. Zum Zeitpunkt der Einsatzschädigung und im Hinblick auf Art und Ausmaß der Verletzung und einer sich anschließenden körperlichen Beeinträchtigung ist dies jedoch letztendlich irrelevant. Um den Folgen für die nicht auf ein Dauerbeschäftigungsverhältnis gerichteten Statusangehörigen besser Rechnung tragen zu können, erhalten diese steuerfreie Ausgleichszahlungen. Gezahlt wird ein Sockelbetrag in Höhe von 15.000 Euro zuzüglich eines Erhöhungsbetrages von 3.000 Euro für jedes vor dem Einsatzunfall zurückgelegten Dienstjahres bzw. 250 Euro für jeden weiteren vollendeten Dienstmonat.23 Dabei wird davon ausgegangen, dass in der Regel vor und/oder nach der jeweiligen Wehrdienstzeit ein anderes Beschäftigungsverhältnis bestand bzw. besteht und daher die Alterssicherung auch durch Einbeziehung in das System der gesetzlichen Rentenversicherung sichergestellt ist. Eine Aufstockung dieser Rentenansprüche durch ein Unfallruhegehalt wäre rechts- und versorgungssystematisch nur schwer zu realisieren und würde zu einer Mischversorgung mit komplizierten Anrechnungsvorschriften führen.24 Insoweit soll der zusätzlich gezahlte einmalige Ausgleich für Wehrsoldempfänger und Soldatinnen bzw. Soldaten auf Zeit etwaig bestehende Nachteile ausgleichen. e) Bewertung In der Gesamtschau zeigt sich, dass die rein materielle Absicherung im Fall eines Einsatzunfalls durch das EinsatzVG zwar erheblich verbessert wurde. Umfassende Rechtssicherheit haben aber lediglich Berufssoldatinnen und Berufssoldaten, die regulär Besoldungsempfänger bleiben, wenn sie trotz der durch den Einsatzunfall bedingten körperlichen Beeinträchtigung künftig noch in der Lage sind Dienst zu leisten. Wenn sie dies nicht können, scheiden sie mit erhöhten Versorgungsbezügen aus dem aktiven Dienst 22

Auch wenn in besonderen Auslandsverwendungen aus politischen Erwägungen heraus zur Zeit GWDL im Gegensatz zu FWDL nicht eingesetzt werden, fallen sie grundsätzlich in den Anwendungsbereich beider Gesetze. 23 Beispiele: Ein Soldat auf Zeit (SaZ 4), der aufgrund eines Einsatzunfalls nach drei Jahren und sechs Monaten Dienstzeit aus dem Dienstverhältnis ausscheidet, erhielte 25.500 Euro, ein SaZ 8 nach sechs Jahren und vier Monaten 34.000 Euro und ein SaZ 12 nach neun Jahren und sieben Monaten 43.750 Euro. 24 Saalfeld (2005), S. 28.

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aus; unter Umständen aus einer Besoldungsgruppe, die bei einem normalen Werdegang ohne Einsatzunfall nicht hätte erreicht werden können. Das EinsatzVG schließt dagegen nicht die Regelungslücke hinsichtlich einer perspektivischen Absicherung derjenigen, deren ursprüngliche Lebensplanung auf außerhalb der Bundeswehr gerichtet war und die sich aufgrund eines Einsatzunfalls nun nicht mehr realisieren lässt.

II. Das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz 1. Überblick Sinn und Zweck des Gesetzes zur Regelung der Weiterverwendung nach Einsatzunfällen (Einsatz-Weiterverwendungsgesetz – EinsatzWVG)25 ist die Sicherstellung dieser zukunftsorientierten Absicherung. Im Mittelpunkt steht daher der Rechtsanspruch auf Weiterverwendung für Personen, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Einsatzunfalls um mindestens 50 Prozent gemindert ist.26 Aufgrund der vergleichbaren Gefährdungslage und des verfassungsrechtlich gebotenen Gleichbehandlungsgrundsatzes werden auch einsatzgeschädigte Beamtinnen und Beamte, Richterinnen und Richter, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie frühere Angehörige der genannten Personengruppen und Helferinnen und Helfer des Technischen Hilfswerks vom EinsatzWVG erfasst.27 Durch einen gesetzlich normierten Weiterverwendungsanspruch abgesichert zu sein und eine berufliche Perspektive aufgezeigt zu bekommen, kommt neben der finanziellen Absicherung eine erhebliche psychologische Wirkung zu. Die Motivation des Einzelnen, das Vertrauen in die Fürsorgepflicht des Dienstherrn – auch mit Blick auf die Angehörigen – sowie die 25 Das EinsatzWVG vom 12.12.2007 wurde am 17.12.2007 im BGBl 2007 Teil I, S. 2861 (und 2962) veröffentlicht und ist am 18.12.2007 in Kraft getreten (letzte Änderung durch den am 12.02.2009 in Kraft getretenen Artikel 15 Abs. 32 des Dienstrechtsneuordnungsgesetzes (DNeuG) vom 05.02.2009 (BGBl 2009, Teil I, S. 160). 26 §§ 7, 8, 11, 14 EinsatzWVG. 27 Die Ausgestaltung des Weiterverwendungs- bzw. Weiterbeschäftigungsanspruchs ist in jeweils eigenen Abschnitten des EinsatzWVG geregelt (Abs. 3 bis 5). Auf eine detaillierte Darstellung der ansonsten weitgehend vergleichbaren Regelungen wird in diesem Zusammenhang verzichtet; dazu aber instruktiv Saalfeld (2005), S. 40 f. Auch ziviles Personal der Länder, das zu einer Bundesbehörde abgeordnet wurde und einen Einsatzunfall erleidet, hat – wenn die Weiterverwendung im bisherigen Dienst- oder Arbeitsverhältnis beim jeweiligen Dienstherrn bzw. öffentlichen Arbeitgeber infolge des Einsatzunfalls nicht mehr möglich ist – einen Anspruch auf berufliche Qualifizierung und Weiterverwendung bei der jeweiligen Bundesbehörde (Abs. 6). Für vorübergehend im Auswärtigen Dienst verwendete Beschäftigte des Bundes gelten besondere Bestimmungen, vgl. § 19 EinsatzWVG.

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Attraktivität des militärischen Dienstes insgesamt wird dadurch wesentlich mitbestimmt. Zum besseren Verständnis von Inhalt und Bedeutung des EinsatzWVG wird zunächst die mit erheblichen Schwierigkeiten verbundene Entstehungsgeschichte skizziert, ehe wesentliche Inhalte und Besonderheiten des EinsatzWVG dargestellt werden. 2. Das Gesetzgebungsverfahren Nach Inkrafttreten des EinsatzVG wurde, trotz zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegender Forderungen, eine wie auch immer geartete Weiterbeschäftigung in den Fachabteilungen des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) zunächst nicht für erforderlich bzw. für nicht realisierbar gehalten. Erst die durch den Führungsstab der Streitkräfte als gemeinsame Position der Teilstreitkräfte und militärischen Organisationsbereiche formulierte „Militärische Forderung“ vom 19. Januar 2006 gab den Anstoß, die Forderung nach Schaffung entsprechender Rechtsgrundlagen zu prüfen und über die konkrete Umsetzung zu entscheiden. Da zwischenzeitlich auch die politische Dimension dieses Vorhabens unverkennbar geworden war, bekam das Verfahren durch die Unterstützung der politischen Leitung des BMVg bis hin zur Bundeskanzlerin die notwendige Dynamik. Gleichwohl dauerte die hausinterne Abstimmung bis zur förmlichen Einleitung der Ressort- und Verbändebeteiligung noch einmal gut zehn Monate.28 Die Bundesregierung beschloss schließlich nach vier erforderlich gewordenen Ressortabstimmungen das Gesetz am 8. August 2007.29 Die Implementierung eines Rechtsanspruchs auf Weiterverwendung gestaltete sich schon deshalb als schwierig, weil der Zugang zu einem öffentlichen Amt losgelöst vom verfassungsrechtlich abgeleiteten Grundsatz der ‚Bestenauslese‘ eben nicht nach Eignung, Leistung und Befähigung erfolgt, sondern unter Heranziehung des Aufopferungsgedankens an eine individuelle Beeinträchtigung anknüpft.30 Diese ist nicht unerheblich oder kompensierbar, sondern im Vergleich zu anderen potentiellen Bewerbern gravierend und unumkehrbar. Insoweit wird konsequent der Zugang zu einem Dauerbeschäftigungsverhältnis im öffentlichen Dienst von dem Erreichen einer MdE von mindestens 50 Prozent abhängig gemacht. So begründet und 28

Eingeleitet am 22. November 2006. Insgesamt wurden 13 Ressorts und 18 Verbände beteiligt; weiteres Gesetzgebungsverfahren: 1. Durchgang im Bundesrat (BR) am 21.09.07, 1. Lesung im Bundestag (BT) am 11.10.07, Ausschussberatungen ab dem 24.10.07, 2. und 3. Lesung im BT am 08.11.07, 2. Durchgang im BR am 30.11.07, Ausfertigung durch den Bundespräsidenten am 12.12.07, Verkündung im BGBl am 17.12.07 und Inkrafttreten am 18.12.07. 30 Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz (GG). 29

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nachvollziehbar – und aus ethisch-moralischen Erwägungen geradezu unabdingbar – die Forderung auf Weiterbeschäftigung auch war, in der bisherigen Rechtssystematik wurde ein solcher Rechtsanspruch nicht abgebildet. Insoweit wurden im Gesetzgebungsverfahren vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) und dem Bundesministerium des Innern (BMI) zunächst erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht. Auch auf einfachgesetzlicher Ebene bestanden erhebliche Einwände. Die rechtliche Ausgangslage nach dem Soldatengesetz stellte sich wie folgt dar: Eine Berufssoldatin und ein Berufssoldat ist nach geltender Rechtslage immer dann in den Ruhestand zu versetzen, wenn infolge eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte die Dienstpflichten nicht mehr dauerhaft erfüllt werden können. Dies gilt auch in dem Fall, in dem die Wiederherstellung der Dienstfähigkeit innerhalb eines Jahres seit Beginn der Dienstunfähigkeit nicht zu erwarten ist.31 Entsprechendes gilt für Soldatinnen bzw. Soldaten auf Zeit, die bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen zu entlassen sind.32 Einen Weiterverwendungsanspruch im Fall eines körperlichen Gebrechens zu implementieren, steht damit auf den ersten Blick im Widerspruch zu den bestehenden Bestimmungen; denn entweder ist man trotz körperlichen Schadens in der Lage, seine Dienstpflichten zu erfüllen – dann hat man im Rahmen des jeweiligen Statusverhältnisses auch künftig seinen Dienst zu versehen. Oder man ist nicht mehr dazu in der Lage, dann muss man – unter Inanspruchnahme der vorgesehenen Versorgungsleistungen – aus dem Dienstverhältnis ausscheiden. Die Betroffenen ohne weitere Konditionierung unter beiden Optionen alternativ wählen zulassen, wäre rechtstechnisch und gesetzessystematisch nicht umsetzbar gewesen. Eine weitere Herausforderung bestand zudem darin, den jeweiligen Besonderheiten der unterschiedlichen Statusverhältnisse Rechnung zu tragen; denn die Rechts- und auch Interessenlage der Berufssoldaten, Soldaten auf Zeit, Wehrpflichtigen und Wehrübenden differieren erheblich. Und schließlich nehmen auch Beamtinnen und Beamte sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Geschäftsbereich des BMVg sowie aus anderen Ressorts bzw. den Bundesländern an besonderen Auslandsverwendungen teil. Dies alles hat zur Komplexität des gesamten Vorhabens geführt, was auch bei der konkreten Ausgestaltung deutlich wird.

31 32

Dienstunfähigkeit nach § 44 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 Soldatengesetz (SG). § 55 Abs. 2 Satz 1 und 2 SG.

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3. Die Regelungen im Einzelnen a) Gesundheitliche Wiederherstellung und berufliche Qualifizierung Der wesentliche Inhalt des EinsatzWVG bestimmt sich durch die Zielrichtung des Gesetzes, trotz Einsatzschädigung eine dauerhafte berufliche Perspektive in der Bundeswehr sicherzustellen.33 Dafür ist es erforderlich, dass nach einem Einsatzunfall zunächst alle Maßnahmen ergriffen werden, um den ursprünglichen Gesundheitszustand wiederherzustellen.34 Neben den medizinischen Maßnahmen sind im Rahmen der Rehabilitation schulische, berufliche oder berufsfördernde sowie soziale Maßnahmen durchzuführen, die die Einsatzgeschädigten in die Lage versetzen, in der Zukunft auch tatsächlich einer sinnhaften Beschäftigung nachzugehen.35 Die berufliche Qualifizierung soll also die Erwerbsfähigkeit entsprechend der jeweiligen Leistungsfähigkeit erhalten, verbessern, herstellen oder wiederherstellen. Damit wird ein eigenständiger Anspruch gegen den Bund auf alle erforderlichen Leistungen zur beruflichen Qualifizierung begründet, der unabhängig von einer späteren Weiterverwendung besteht. Einsatzgeschädigte sollen grundsätzlich wieder in das Arbeitsleben integriert werden. Die Weiterverwendung beim Bund stellt dabei nur eine Option dar. Die berufliche Qualifizierung bei einem Soldaten auf Zeit kann auch mit dem Ziel erfolgen, ihn auf ein zivilberufliches Beschäftigungsverhältnis vorzubereiten. Auch der Reservist möchte möglicherweise vorrangig wieder in seinem vorherigen Beruf arbeiten. In diesem Fall soll die berufliche Qualifizierung die Voraussetzungen dafür schaffen.

33 Der im Sinne des § 3 des EinsatzWVG darüber hinaus gehende Ansatz der beruflichen Qualifizierung auch für andere Bereiche wird zwar im Folgenden angesprochen, der Schwerpunkt der Betrachtung liegt aber im Bereich der Bundeswehr, da hier die weit überwiegende Zahl der Weiterverwendungsansprüche geltend gemacht werden dürften. 34 Auf die umfassenden rettungs- und sanitätsdienstlichen Maßnahmen beginnend mit der Akutversorgung von Notfallpatienten vor Ort über den Lufttransport von Intensivpatienten (STRATAIRMEDEVAC) bis hin zu Rehabilitationstherapien in Spezialkliniken wird hier nicht weiter eingegangen. 35 Rehabilitation umfasst alle Maßnahmen und Hilfen, die zur (Wieder-)Eingliederung kranker und behinderter Menschen beitragen. In dieser Phase braucht noch kein bestimmter Grad einer MdE vorliegen; allerdings darf es sich nicht nur um eine geringfügige Einsatzschädigung (z. B. Schnittwunde und andere folgenlos ausheilende Bagatellverletzungen) handeln, § 1 EinsatzWVG. Der Begriff der ‚Geringfügigkeit‘ ist nicht definiert. In der Praxis wird derzeit davon ausgegangen, dass eine Verletzung/Erkrankung, die zu einer ‚Krankschreibung‘ von zwei Wochen und mehr geführt hat, nicht mehr unter diese Kategorie fällt.

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b) Schutzzeit Die gesundheitliche Wiederherstellung und gegebenenfalls die berufliche Qualifizierung finden im Rahmen der sogenannten Schutzzeit statt.36 Die Schutzzeit soll sicherstellen, dass Einsatzgeschädigte (nicht ohne ihre Zustimmung) wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt oder entlassen werden. Es besteht ein Entlassungsverbot. Die Schutzzeit wurde auf fünf Jahre, mit Verlängerungsmöglichkeit um drei Jahre,37 sowie hinsichtlich des Alters bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres befristet.38 Dies erscheint sachlich gerechtfertigt, da spätestens nach acht Jahren mit keiner nachhaltigen Veränderung des Gesundheitszustandes mehr zu rechnen ist, mithin erscheint aus medizinischer Sicht eine abschließende Bewertung möglich. Darüber hinaus dürfte bei einem solchen Zeitfenster die berufliche Qualifizierung – sogar im Falle eines Studiums – in der Regel abgeschlossen sein.39 Ohne Befristung würde zudem Sinn und Zweck des Gesetzes aus den Augen verloren. Die Schutzzeit dient insbesondere dem Erhalt der Bezüge während der Phase der Unsicherheit hinsichtlich der gesundheitlichen und beruflichen Zukunft, nicht aber der dauerhaften finanziellen Absicherung.40 Da die Schutzzeit unter Umständen Jahre dauern kann, besteht die Gefahr von Nachteilen im beruflichen Werdegang. Diesem Umstand trägt das Gesetz dadurch Rechnung, dass Einsatzgeschädigte auch während der Schutzzeit bei Personalauswahlentscheidungen einzubeziehen sind, so dass sie z. B. befördert oder in eine höhere Besoldungsgruppe eingewiesen werden können.41

36 § 4 EinsatzWVG. Schutzzeit ist die Zeit, in der Einsatzgeschädigte medizinische Leistungen zur Behandlung der gesundheitlichen Schädigung oder Leistungen zur beruflichen Qualifizierung benötigen, um die Aufnahme der bisherigen beruflichen Tätigkeit, eine Weiterverwendung nach dem EinsatzWVG oder eine sonstige Eingliederung in das Arbeitsleben zu erreichen. 37 § 4 Abs. 3 Satz 2 und 3 EinsatzWVG. In der Regel dürften fünf Jahre ausreichend sein, andernfalls kann die Frist um bis zu drei Jahre verlängert werden, wenn in dieser Zeit hinsichtlich der gesundheitlichen Verbesserung und/oder der beruflichen Qualifizierung noch ein Erfolg zu erwarten ist. 38 § 4 Abs. 3 Satz 4 EinsatzWVG. Saalfeld (2008) bezeichnet treffend, dass es nicht Ziel der Schutzzeit sei, einen lückenlosen Übergang aus der Ausbildungs- in die Renten-/Pensionsphase zu gewährleisten (S. 39). 39 § 4 Abs. 3 Satz 2 EinsatzWVG. Die Frist beginnt erst mit der beruflichen Qualifizierung zu laufen („nach Beginn des Bezugs von Leistungen nach § 3“), was eine hierfür gegebenenfalls erforderliche Verbesserung des Gesundheitszustandes voraussetzt; damit dürfte der Einsatzunfall zeitlich noch einmal weiter zurückliegen. 40 Davon erfasst sind auch alle sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche. 41 Unter Beachtung der laufbahnrechtlichen Voraussetzungen; § 5 Abs. 1 EinsatzWVG.

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c) Wehrdienstverhältnis besonderer Art Zur durchgängigen Absicherung bedient sich das EinsatzWVG eines neuartigen Rechtskonstrukts: dem Wehrdienstverhältnis besonderer Art.42 Losgelöst vom Bedarf und einer dienstlichen Notwendigkeit wird ein bereits begründetes Soldatenverhältnis kraft Gesetzes über das reguläre Dienstzeitende hinaus in ein weiteres neues Dienstverhältnis überführt. Nur wenn ein Einsatzgeschädigter dem Eintritt in ein Wehrdienstverhältnis besonderer Art schriftlich widerspricht, entfällt der Rechtsakt, da ein Betroffener nicht gegen seinen Willen im Soldatenstatus belassen werden soll.43 Mit diesem Konstrukt wird eine erhebliche Rechtsunsicherheit für all diejenigen ausgeräumt, die sich nicht in einem auf Dauer angelegten Dienstverhältnis befinden und deren reguläres Dienstzeitende droht.44 Das Wehrdienstverhältnis besonderer Art begründet die Rechtsstellung eines Soldaten auf Zeit, womit alle Leistungen dieser Statusgruppe, insbesondere die Besoldung (weiter)gewährt werden.45 d) Weiterverwendungsanspruch Der weitere Anwendungsbereich des EinsatzWVG eröffnet sich, wenn zum Ende der Schutzzeit feststeht, dass die Erwerbsfähigkeit des Einsatzgeschädigten infolge des Einsatzunfalls um mindestens 50 Prozent gemindert ist und ein schriftlicher Antrag auf Weiterverwendung vorliegt.46 Dabei 42

§ 6 EinsatzWVG. § 6 Abs. 1 Satz 1 EinsatzWVG. Bei Berufssoldatinnen und Berufssoldaten greift das Entlassungsverbot. 44 Signifikant wird dies insbesondere auch bei einem FWDL oder einem für wenige Monate zu einer besonderen Auslandsverwendung herangezogenen Reservisten. 45 § 6 Abs. 2 Satz 1 EinsatzWVG; vgl. dazu die amtliche Begründung Abs. B. zu § 6 EinsatzWVG (BT-Drs. 16/6564). 46 Die Weiterverwendung als Berufssoldat nach § 7 EinsatzWVG kann auch im Mannschaftsdienstgrad oder als Unteroffizier ohne Portepee erfolgen, obwohl die Soldatenlaufbahnverordnung (SLV) keine entsprechenden Laufbahnen im Status eines Berufssoldaten vorsehen. Für Einsatzgeschädigte, die bereits Berufssoldaten sind, ist ein Statuswechsel nicht vorgesehen. Ein Wahlrecht auch für Berufssoldaten war kurzzeitig Bestandteil des Gesetzentwurfs und hätte die Attraktivität insgesamt erhöht, da Fälle z. B. von PTBS denkbar sind, in denen einsatzgeschädigte Berufssoldaten zwar nicht mehr in der Lage sind als Soldat in Uniform, aber durchaus als ziviler Mitarbeiter Dienst zu leisten. Da diesbezüglich aus versorgungsrechtlicher Sicht kein Schutzbedürfnis besteht und im Umkehrschluss auch einsatzverletzten Zivilbeschäftigten eine Wahloption für ein militärisches Dienstverhältnis hätte eingeräumt werden müssen, wurde dieser Ansatz verworfen. Die Weiterverwendung im Beamtenverhältnis auf Lebenszeit oder Weiterbeschäftigung in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis beim Bund richtet sich nach § 8 EinsatzWVG. Eine Weiterverwen43

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wird davon ausgegangen, dass eine Erwerbsminderung unterhalb dieser Grenze die Chance, sich im zivilen Berufsleben zu etablieren, nicht oder nur so unwesentlich beeinträchtigt, dass im Vergleich zu Bewerbern ohne Erwerbsminderung keine Nachteile bestehen. Auch wenn einiges für diese Annahme spricht, steht die Praxistauglichkeit noch aus. Es sind Fälle denkbar, in denen die 50 Prozentgrenze knapp verfehlt wird und die Integration ins zivile Berufsleben gleichwohl scheitert. Ob bei wiederholtem Auftreten solcher Fälle gesetzgeberischer Nachsteuerungsbedarf bestünde oder Verbesserungen bei der beruflichen Qualifizierung notwendig würden, kann erst bewertet werden, wenn mehr ‚Praxiserfahrungen‘ mit dem Gesetz vorliegen.47 Beispielhaft und richtungsweisend ist die gesetzliche Normierung eines Weiterverwendungsanspruchs unabhängig vom militärischen Bedarf. Die Weiterverwendung erfolgt aber im Rahmen der vorhandenen Strukturen, neue Dienstposten für Einsatzgeschädigte werden nicht ausgebracht. Das Problem wird darin liegen, reguläre Dienstposten zu identifizieren, die vom Anforderungsprofil und Tätigkeitsspektrum her geeignet sind, auch bei verringertem gesundheitlichem Leistungsvermögen ausgeübt zu werden.48 Den Zugang zu einem öffentlichen Amt ausschließlich an einen durch einen Einsatzunfall erlittenen gesundheitlichen Schaden zu knüpfen, hätte dem verfassungsrechtlich verankerten Leistungsprinzip beim Zugang zu öffentlichen Ämtern widersprochen.49 Faktisch Dienstunfähige im öffentlichen Dienst irgendwie zu ‚beschäftigen‘, wäre der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln gewesen und auch für die Betroffenen zutiefst unwürdig. Derartige Fälle müssen auch künftig im Rahmen des EinsatzVG, das dafür die angemessene soziale Absicherung bietet, behandelt werden. Um den verfassungsrechtlichen Bedenken Rechnung zu tragen, wurde die Übernahme in ein Dauerdienst- oder Arbeitsverhältnis von einer weiteren Voraussetzung abhängig gemacht: Einsatzgeschädigte haben sich in einer der Weiterverwendung vorgeschalteten sechsmonatigen Probezeit zu bewähren. Niemand soll Tätigkeiten ausüben, für die er nicht geeignet ist; ansonsten handelte es sich bloß um die Gewährung verkappter Sozialleistungen. Der gesetzliche Anspruch auf Weiterverwendung bleibt zwar unberührt, wird aber nur konditioniert gewährt. Die Bewährung setzt zum Beginn der Probezeit – neben den allgemeinen Voraussetzungen50 – die entsprechende Laufbahnbefähigung und dung als Beamter setzt die notwendige Laufbahnbefähigung voraus, die gegebenenfalls im Rahmen der beruflichen Qualifizierung erworben werden muss. 47 Z. B. durch Herabsetzung auf eine Erwerbsminderungsgrenze von 30 Prozent. Zu wünschen und hoffen ist allerdings, dass diese ‚Praxiserfahrungen‘ ausbleiben. 48 Überlegungen, reine ‚Versehrten-Bataillone‘ zu schaffen, wurden aus guten Gründen nicht verfolgt. Nur im jeweiligen Einzelfall kann aufgrund der verbliebenen individuellen Fähigkeiten die Dienstposteneignung festgestellt werden. 49 s. o. Abs. II. 2.

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eine, allerdings abgesenkte, Dienstfähigkeit voraus.51 Die durch einen Einsatzunfall verursachte verringerte gesundheitliche Eignung ist also kein Grund von der Übernahme abzusehen, solange die Einsatzgeschädigten noch ausbildungs- und dienstgradgerecht verwendet werden können. Es wird bei der künftigen Anwendung des Gesetzes darauf zu achten sein, dass zeitgerecht ein geeigneter Dienstposten identifiziert wird, auf den sich die Einsatzgeschädigten zielgerichtet vorbereiten können. Dies bedingt einen verantwortungsvollen Umgang mit der Feststellung der Beendigung der Schutzzeit und der Festsetzung des Beginns der Probezeit. Hat der Einsatzgeschädigte erst einmal seine Probezeit angetreten, bewährt er sich jedoch wider Erwarten in den sechs Monaten nicht, scheitert sein Weiterverwendungsanspruch. Die Möglichkeit, die Einsatzversorgung nach dem EinsatzVG in Anspruch zu nehmen, besteht dann nicht mehr.52 Hierin liegt ein wesentliches Defizit. Die ansonsten enge Abstimmung der versorgungs- und statusrechtlichen Ansprüche im Rahmen beider Vorhaben fällt hier aus. Eine Wahlmöglichkeit bis zum Ende der Probezeit wäre eher im Sinne der Betroffenen gewesen. e) Wiedereinstellungsanspruch Für bereits ausgeschiedene Soldatinnen und Soldaten, bei denen die gesundheitliche Schädigung erst nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses erkannt worden ist, besteht unter bestimmten Voraussetzungen ein Einstellungsanspruch in ein Wehrdienstverhältnis besonderer Art.53 Dieser Anspruch trägt insbesondere posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) Rechnung, die regelmäßig erst zu einem späteren Zeitpunkt auftreten bzw. erkannt werden.54 Die Wiedereinstellung dient zunächst erst einmal der ge50

Dazu gehören: Staatsangehörigkeit im Sinne von Art. 116 GG, Eintritt für die freiheitliche demokratische Grundordnung, charakterliche und geistige Eignung, Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter, keine strafrechtliche Verurteilung im Sinne von § 38 SG. 51 § 7 Abs. 1 Satz 4 EinsatzWVG. Die sonst bei Übernahmeentscheidungen geforderte ‚körperliche Eignung‘ stellt höhere Anforderungen an die Betroffenen. Bei Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis wird statt der (verringerten) Dienstfähigkeit ein Mindestmaß an gesundheitlicher Eignung verlangt, um die künftige Tätigkeit überhaupt ausüben zu können, §§ 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 14 Satz 1 EinsatzWVG. 52 Einzige Ausnahme ist die neben dem EinsatzWVG gezahlte einmalige Entschädigung [vgl. Abs. I. 3. b)]. 53 § 6 Abs. 5 und 6 EinsatzWVG; entsprechendes gilt für die übrigen Statusgruppen, §§ 10 Abs. 2, 12 Abs. 2, 20 Abs. 1 Satz 3 EinsatzWVG. 54 Vgl. Saalfeld (2008), S. 41; vgl. auch „Rahmenkonzept zur Bewältigung psychischer Belastungen von Soldaten und Soldatinnen“ (BMVg, Führungsstab der Streitkräfte (Fü S) I 3, 2008).

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sundheitlichen Wiederherstellung und der gegebenenfalls notwendigen beruflichen Qualifizierung. Im zweiten Schritt ist dann optional eine Weiterverwendung nach dem EinsatzWVG oder eine sonstige Eingliederung in das Arbeitsleben zu prüfen. Die Wiedereinstellung ist innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Jahren nach Eintritt des Einsatzunfalls schriftlich zu beantragen. Bei Erkrankungen beginnt die zweijährige Ausschlussfrist erst mit der erstmaligen ärztlichen Diagnose an zu laufen.55 f) Rückwirkung Von den Regelungen des EinsatzWVG werden alle Einsatzgeschädigten erfasst, die nach dem 30. November 2002 einen Einsatzunfall erlitten haben und sich noch im Dienstverhältnis befinden.56 Zwar ist das EinsatzWVG formell am Tag nach seiner Verkündung am 18. Dezember 2007 in Kraft getreten. Faktisch kommt ihm aber durch die Verknüpfung über die Definition des Einsatzunfalls nach dem EinsatzVG eine echte Rückwirkung zu, sodass alle Einsatzunfälle (im gesetzestechnischen Sinne) in den Anwendungsbereich des EinsatzWVG fallen. Eine Rückabwicklung von Fällen ausgeschiedener Betroffener, die bereits nach dem EinsatzVG abgefunden wurden, ist hingegen aus Gründen des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit nicht beabsichtigt.57

III. Schluss Mit dem neuartigen und weiterführenden Ansatz des EinsatzWVG wurde eine im sozialen Absicherungssystem bestehende Regelungslücke nach langer Zeit geschlossen. In diesem Zusammenhang galt es eine Vielzahl von 55 § 6 Abs. 6 Satz 1 und 2 EinsatzWVG. Sind seit dem Einsatzunfall noch keine zehn Jahre vergangen, kann die Einstellung in ein Wehrdienstverhältnis besonderer Art bei Geltendmachung bestimmter Hinderungsgründe dennoch erfolgen. Der Antrag muss jedoch innerhalb von drei Monaten nach Wegfall des Hinderungsgrundes gestellt werden, § 6 Abs. 6 Satz 3 und 4 EinsatzWVG. Vor Inkrafttreten des EinsatzWVG bereits erkannte gesundheitliche Schädigungen konnten diesbezüglich nicht geltend gemacht werden. In den Fällen, in denen die allgemeine Ausschlussfrist von zwei Jahren bereits abgelaufen war, entfiel dieser Hinderungsgrund mit Inkrafttreten des Gesetzes. Die Drei-Monats-Frist endete folglich am 17.03.2008. Ob trotz der dazu über die bundeswehrinternen Publikationen erfolgten Informationen alle Betroffenen rechtzeitig erreicht werden konnten, ist fraglich. 56 Das Datum 30.11.2002 korrespondiert mit der rückwirkenden Inkraftsetzung des EinsatzVG zum 01.12.2002. 57 Siehe auch Saalfeld, (2008), S. 41. In den Fällen, in denen die Schädigung erst nach dem Ausscheiden erkannt wurde, greift das EinsatzWVG, wenn die Voraussetzungen des Wiedereinstellungsanspruches vorliegen [s. o. Abs. II. 3. e)].

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Rechtsfragen zu klären, die zuvor zu erheblichen Unsicherheiten und Vertrauensverlusten geführt hatten. Ob alle Bedenken mit den zwischenzeitlich in Kraft getretenen Gesetzen ausgeräumt werden konnten, bleibt fraglich. Die Vielschichtigkeit der Risiken und Gefahren bei Auslandseinsätzen lassen aber ein ‚Rund-um-sorglos-Paket‘ illusionär erscheinen. Auch wenn immer über umfänglichere Versorgungsleistungen, höhere Geldbeträge oder längere Fristen gestritten werden wird, liegt nunmehr ein in sich stimmiges und geschlossenes Versorgungs- und Absicherungssystem vor, das Maßstäbe setzt. Betroffene sind nicht mehr auf unwürdige ‚Gnadenakte‘ oder wohlwollende Ermessensentscheidungen angewiesen, sondern sie besitzen gesetzlich verankerte und damit gerichtlich durchsetzbare Ansprüche. Unverständnis auslösende, da mit formal-juristischen Begründungen verweigerte Leistungen dürften der Vergangenheit angehören. Erstrebens- und wünschenswert wäre jedoch ein wesentliches früheres Inkrafttreten gewesen, so dass Unsicherheiten und Vertrauensverluste erst gar nicht hätten entstehen können. Hier sind Staat und Politik ihrer ‚Bringschuld‘ nicht rechtzeitig nachgekommen. Das Dienst- und Treueverhältnis ist keine Einbahnstraße. Wer Soldatinnen und Soldaten aus politischen Erwägungen heraus einem erhöhten Risiko aussetzt, hat gleichsam im Rahmen der Fürsorge uneingeschränkt und umfassend für deren Wohl und das ihrer Familien zu sorgen und eine ausreichende Versorgung sicherzustellen.58 Die Berücksichtigung der Besonderheiten der unterschiedlichen Fallgestaltungen und der von einander abweichenden statusrechtlichen Ausgangslagen, die Beteiligung zahlreicher Ressorts und Verbände bis hin zu den geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken können die zeitlichen Verzögerungen zwar erklären. Die Gesetzesvorhaben hätten aber zeitnah mit Beginn der Auslandseinsätze initiiert werden müssen und nicht erst nach einer Reihe von Prozessen, Beschwerden und wiederholten Forderungen der Berufs- und Interessensverbände. Letztlich kam der entscheidende Vorstoß erst von den Streitkräften und damit von den unmittelbar Betroffenen selbst. Trotz der Bemühungen der Gesellschaft für deutsche Sprache ist ein auch für den juristisch vorgebildeten Leser nur schwer verständlicher Gesetzestext mit einer Vielzahl von Verweisungen entstanden, der auch in der Anwendungspraxis – zumindest in den ersten Jahren – zu einigen Schwierigkeiten führen dürfte. Betroffene werden es schwer haben, ohne qualifizierte Beratung und fachkundige Begleitung ihres ‚Falles‘ mit diesen Gesetzeswerken im wahrsten Sinne des Wortes zu (ihrem) Recht zu kommen.59 Im 58

§§ 30, 31 SG; vgl. auch Poretschkin (2008), zu § 30 Rn. 7. Dieser Umstand wurde auch im BMVg erkannt. In der Personal-, Sozial- und Zentralabteilung wurde ein zum 01.01.2008 neu aufgestelltes Referat – PSZ I 8 – 59

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Einzelfall muss immer sehr sorgfältig geprüft werden, welche Option – Ausscheiden aus dem Dienst mit Einsatzversorgung oder Weiterverwendung nach dem EinsatzWVG – die bessere Alternative ist, also den individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Vorstellungen am nächsten kommt.60 Dies bedingt Kenntnisse der und Verständnis für die Regelungen und ihre Voraussetzungen. Ob für eine weite Verbreitung dieser Kenntnisse gesorgt wird, ist fraglich. Die ‚Erstberatung‘ durch den durchgängig verantwortlich bleibenden Disziplinarvorgesetzten dürfte bereits aufgrund der Komplexität der Gesetze unvollständig bleiben. Spezielle Schulungen sind nicht vorgesehen. Ob der Sozialdienst der Bundeswehr alle diesbezüglichen Defizite auffangen kann, ist offen. Auch die Personalführung wird in besonderem Maße gefordert sein, adäquate Dienstposten zu identifizieren, die in räumlicher Nähe zum bisherigen Dienstort liegen. Dies wird bei weiteren Standortschließungen und damit einhergehendem Rückzug aus der Fläche immer schwieriger werden. Inhaltlich birgt insbesondere die Probezeit ein ‚Restrisiko‘, da Betroffene bei Nichtbestehen nicht mehr die Leistungen nach dem EinsatzVG in Anspruch nehmen können, folglich durch das soziale Netz fallen. Ob sich die damit verbundene negative psychologische Wirkung in der Anwendungspraxis niederschlägt, muss abgewartet werden. Dass auch PTBS in den Anwendungsbereich des EinsatzWVG fallen, war angesichts der immer weiter ansteigenden Anzahl traumatisierter deutscher Soldaten vom Gesetzgeber weitsichtig und ist außerordentlich zu begrüßen.61 Allenthalben wird diesem von der Weltgesundheitsorganisation anerkannten Krankheitsbild noch erhebliches Misstrauen und Unverständnis entgegengebracht. Doch wird es in der Praxis nicht einfach sein, mitunter nach vielen Jahren, festzustellen, ob, wann und durch welches Ereignis eine PTBS ausgelöst worden ist. Da es sich um psychische und Verhaltensstörungen handelt, stellt die berufliche Integration gerade in den Soldatenalltag eine besondere Herausforderung mit der federführenden Begleitung sämtlicher im Rahmen des EinsatzWVG abzuarbeitenden Fälle beauftragt, um so auf ministerieller Ebene erste Erfahrungen zu sammeln, für eine einheitliche Anwendungspraxis zu sorgen und rechtzeitig Handlungs- und Änderungsbedarf zu identifizieren. Zudem erarbeitet eine Arbeitsgruppe den untergesetzlichen Regelungsbedarf. Eine erste Einweisung der mit dem EinsatzWVG befassten Stellen, insbesondere des Sozialdienstes der Bundeswehr, fand am 25./26.02.2008 in Bonn statt. 60 Hierzu ist eine umfassende Einbindung aller Stellen erforderlich, insbesondere des Disziplinarvorgesetzten, der Truppen- und Fachärzte, des Sozialberaters, des Berufsförderungsdienstes und gegebenenfalls der Truppenpsychologen und Militärseelsorger. 61 In den Jahren 2006 bis 2008 wurden 477 Einsatzrückkehrer auf PTBS untersucht und behandelt (Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages Nr. 17/09 vom 04.03.2009).

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dar.62 Auf der anderen Seite werden auch Missbrauchsfälle nicht auszuschließen sein, indem unter dem Vorwand einer PTBS eine Weiterverwendung bei der Bundeswehr erschlichen werden soll, nachdem man möglicherweise zivilberuflich gescheitert ist.63 Noch liegen aber keine ausreichenden Erfahrungen mit PTBS, mit der Probezeit und mit den anderen Regelungen des EinsatzWVG vor, um zu abschließenden Bewertungen zu kommen.64 Das Gesetz muss erst noch seine Praxistauglichkeit unter Beweis stellen. Unterm Strich können trotz der aufgezeigten Mängel die Soldatinnen und Soldaten sowie das in besonderen Auslandsverwendungen eingesetzte Zivilpersonal mit dem Ergebnis insgesamt zufrieden sein. Auch der besonderen Situation der Reservistinnen und Reservisten zwischen Militärdienst und Zivilleben wird ausreichend Rechnung getragen. Mit der sozialen Absicherung des EinsatzVG und des EinsatzWVG ‚im Gepäck‘ kann der Auslandseinsatz – auch aus Sicht der Angehörigen – zumindest etwas unbeschwerter angetreten werden. Literatur Saalfeld, Michael (2005): Versorgung nach dem Einsatzversorgungsgesetz, in Bundeswehrverwaltung (BWV), Heft 2, S. 25–29. – (2008): Die Alternative zur Einsatzversorgung: Weiterbeschäftigung nach dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetz, in Bundeswehrverwaltung (BWV), Heft 2, S. 38–43. Scherer, Werner/Alff, Richard/Poretschkin, Alexander (Hrsg.) (2008): Soldatengesetz, Kommentar, 8. Auflage, München: Verlag Franz Vahlen, Bearbeiter zu § 30: Alexander Poretschkin.

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Soweit ein Weiterverwendungsanspruch geltend gemacht wird. Der Schwerpunkt dürfte hier zunächst auf der gesundheitlichen Wiederherstellung liegen. 63 Hier wird es entscheidend auf die Expertise der Fachärzte ankommen. Insoweit ist der beabsichtigte Aufbau eines zentralen Kompetenz- und Forschungszentrums der Bundeswehr zu begrüßen. 64 Bis Mitte Januar 2009 wurden 80 Anträge nach dem EinsatzWVG gestellt, davon 38 von früheren Soldaten und 42 von ‚aktiven‘ Soldaten; vier Soldaten davon wurden in einem Wehrdienstverhältnis besonderer Art nach § 6 EinsatzWVG bereits übernommen; ein Soldat wurde im März 2009 nach erfolgreichem Bestehen der sechsmonatigen Probezeit als Berufssoldat übernommen.

Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen – eine ökonomische Perspektive Von Stefan Bayer Alle Auslandseinsätze der Bundeswehr induzieren Mittelverwendungen aus dem öffentlichen Haushalt. Die öffentliche Hand ist bei allen ihren Aktionen angehalten, für die öffentliche Mittelverwendung Nutzen-KostenAnalysen anzustellen. Diese Analysen sollen die Planungsgrundlage für staatliche Entscheidungen bilden und dadurch ein effizientes Ausgabeverhalten der Regierung bzw. des Gesetzgebers fördern. Die Vor- und Nachteile öffentlicher Ausgaben, die in Verbindung mit Auslandseinsätzen stehen, sollen nach Maßgabe der Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt gegeneinander abgewogen werden. Insofern müssten auch Auslandseinsätze der Bundeswehr mit Hilfe des ökonomischen Werkzeugs der Nutzen-Kosten-Analyse bewertet werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die knappen öffentlichen Mittel den Verwendungen zugeführt werden, bei denen volkswirtschaftlich die höchsten Renditen erzielt werden können. Das methodische Instrument der Nutzen-Kosten-Analyse besteht in einem ökonomischen Vorteilhaftigkeitskalkül. Sie ist eine Geldrechnung. Die Bewertung in Geld soll es ermöglichen, Vor- und Nachteile eines öffentlichen Projektes in vergleichbarer Weise zu erfassen; Kosten von Auslandseinsätzen werden somit mit den daraus resultierenden Nutzen kontrastiert. Die Monetarisierung von Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen ist jedoch nicht einfach, da in beiden Fällen nicht unerhebliche Probleme bestehen. Die Kostenseite von Auslandseinsätzen ist dabei vermeintlich noch recht problemlos ermittelbar; genau genommen bestehen hier aber die gleichen methodischen Probleme wie bei der Bemessung der Nutzengrößen. Über die direkt anfallenden Kosten wie etwa zusätzliche Treibstoffe, Auslandsverwendungszuschläge etc. gibt der Einzelplan 14 relativ klar Auskunft. Schwieriger erweist sich jedoch bereits die genaue Verbuchung der zusätzlichen Investitionen in Kapitalgüter und deren periodengenaue Verrechnung während der Auslandseinsätze. Noch schwieriger wird es, wenn Leib und Leben der im Ausland eingesetzten Soldaten und des sie begleitenden Zivilpersonals geschädigt werden: Welcher Wert ist für ein Menschenleben anzusetzen? Welcher für einen Menschen, der seinen Beruf in der Heimat wegen im Einsatz erlittener physischer und/oder psychischer Schäden nicht mehr

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ausüben kann?1 Auf der Nutzenseite ergeben sich analoge Probleme: Mit welchem Wert geht das gerettete Leben eines Bundesbürgers aufgrund der Verhinderung eines im Inland geplanten Terroranschlags in die Nutzenbewertung eines Auslandseinsatzes ein? An diesem Beispiel zeigt sich, dass sowohl auf der Nutzen- als auch auf der Kostenseite methodisch gleich gelagerte Fragestellungen zu beantworten sind. Die klassische Ökonomie unterscheidet deshalb in aller Regel nicht zwischen einer Nutzen- und einer Kostenbewertung. Mit Blick auf die Auslandseinsätze würde sie auf die mit ihnen verbundenen Effekte abstellen, die entweder positiv (Nutzen) oder negativ (Kosten) die Ausgangssituation (Gesamtwohlfahrt der Bundesrepublik) beeinflussen. Kosten stellen in der Ökonomie immer das negative Analogon zu Nutzen dar und müssen demzufolge mit dem gleichen methodischen Instrumentarium ermittelt werden. Das zugrunde liegende Nutzenkonzept der Ökonomie ist dabei sehr weitgefasst; neben nutzungsabhängigen Werten gehen auch nutzungsunabhängige Werte in den ökonomischen Gesamtwert (vgl. I.1. „Total Economic Value“) ein. Hierbei stellt sich jedoch das besondere Problem, dass es bei der Nutzenbewertung in der Regel keine Marktpreise gibt, die für die Bewertung der Erträge zugrunde gelegt werden könnten. Insofern muss man mit speziellen Methoden versuchen, die einzelnen Komponenten des ökonomischen Gesamtwertes in Erfahrung zu bringen. Eine exakte Abgrenzung der zu bewertenden (Teil)Komponenten sowie die Suche nach geeigneten Verfahren zur monetären Bewertung stellt ein erstes Problem für den Ökonomen dar. Kosten und Nutzen von Auslandseinsätzen weisen außerdem eine lange Lebensdauer auf; v. a. die Nutzeneffekte wie etwa die Steigerung der Sicherheitslage in der Bundesrepublik verteilen sich in der Regel über viele Jahre. Für die Planung ist es aber nicht unerheblich, wann Erträge bzw. Kosten anfallen. Die Größen müssen aus Gründen der Vergleichbarkeit auf einen einheitlichen Zeitpunkt, typischerweise den Zeitpunkt der Planung, bezogen werden. Dies geschieht durch Diskontierung. Für den Ökonomen stellt sich deshalb eine zweite grundlegende Frage: Wie sollte bei öffentlichen Projekten diskontiert werden? Die Berücksichtigung des intertemporalen Aspektes macht ein dynamisches Planungsverfahren erforderlich. Man verwendet im Allgemeinen die Kapitalwertmethode. Der Kapitalwert einer Investition entspricht dem Barwert der erwarteten Nettoerträge (Erträge minus Kosten) abzüglich des Barwertes der Investitionsausgaben. Eine Investition gilt dann als vorteilhaft, wenn der Kapitalwert größer oder gleich null ist. Mit Blick auf die in Rede stehenden Auslandseinsätze der Bundeswehr drückt ein positiver (negativer) Kapitalwert etwa aus, dass der 1 Vgl. zu diesen Fragen aus US-amerikanischer Sicht am Beispiel des Irakkrieges Stiglitz (2008).

Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen – eine ökonomische Perspektive 237

Barwert der Summe der Erträge größer (kleiner) als der Barwert der Summe der Ausgaben für die Auslandseinsätze ist. Insofern wäre der Auslandseinsatz eine politische Maßnahme, die aus ökonomischer Effizienzsicht zu einer Steigerung der Wohlfahrt in der Bundesrepublik beitrüge. Im Falle eines negativen Kapitalwertes lautet die ökonomische Politikempfehlung, diesen Auslandseinsatz nicht durchzuführen. Nutzen-Kosten-Analysen stellen also ein ökonomisches Vorteilhaftigkeitskalkül dar, das zu eindeutigen Politikempfehlungen in Form eines positiven oder negativen Kapitalwertes führt. Die Ergebnisse müssen dann mit alternativen Nutzen-Kosten-Analysen in Beziehung gesetzt werden, um die beste ökonomische Maßnahme mit dem höchsten positiven Kapitalwert zu realisieren bzw. um diejenigen Maßnahmen zu realisieren, die die höchsten Kapitalwerte aufweisen und die mit dem verfügbaren Budget auch realisiert werden können. Hinzuweisen ist dabei auf den Umstand, dass immer auch die Unterlassungsalternative, im Beispiel also die Nicht-Durchführung eines Auslandseinsatzes, einer Nutzen-Kosten-Analyse unterzogen werden kann, um die ökonomische Vorteilhaftigkeit dieser Maßnahme beurteilen zu können. Die vorstehenden Überlegungen raten eine Zweiteilung der Analyse im Rahmen unseres Beitrags an: Kapitel I. rückt die Auseinandersetzung mit dem Konzept des ökonomischen Gesamtwertes in den Vordergrund und skizziert Verfahren zur Ermittlung der einzelnen Wertkategorien. Kapitel II. stellt die Diskontierung zur Vereinheitlichung von Nutzen und Kosten in den Mittelpunkt und analysiert deren Bedeutung für öffentliche Nutzen-KostenAnalysen. Ein Fazit in Kapitel III. beschießt unsere grundsätzlichen ökonomischen Überlegungen zur monetären Bewertung von Auslandseinsätzen.

I. Der ökonomische Gesamtwert und die Bewertung seiner einzelnen Komponenten 1. Der ökonomische Gesamtwert (Total Economic Value) Die ökonomische Bewertung von Ausgaben, die Sicherheit i. w. S. induzieren sollen, ist klassischer Weise im Rahmen der finanzwissenschaftlichen Theorie angesiedelt. Es handelt sich um eine Frage der Bewertung von öffentlichen Gütern. Diese weisen keine Marktpreise auf, können von jedem genutzt werden, ohne dass die bisherigen Nutzer Nutzeneinbußen in Kauf zu nehmen hätten (Nicht-Rivalität), und es können keine exklusiven Eigentumsrechte an Sicherheit durchgesetzt werden. Ökonomisch liegt die sogenannte Nicht-Ausschließbarkeit vor.2 Für die natürliche Umwelt existieren 2 Vgl. Cansier/Bayer (2003), S. 109 ff.; hier finden sich weitere Überlegungen zu den öffentlichen Gütern aus finanzwissenschaftlicher Sicht. Eine lesenswerte Ein-

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ebenfalls keine Marktpreise, die als Investitionserträge gegen die Kosten der Umweltverbesserungen gebucht werden könnten. Aus Bewertungssicht sind Umwelt und Sicherheit methodisch äquivalent: In beiden Fällen verzehrt deren Bereitstellung monetäre Ressourcen, das dadurch bereitgestellte Gut Umwelt oder Sicherheit ist weitestgehend nicht monetär messbar und die durch die Ressourcenaufwendungen realisierbaren Nutzeneffekte sind überwiegend in der Zukunft verfügbar und müssen somit mit den Kosten in der Bereitstellungsphase mit Hilfe der Diskontierung vergleichbar gemacht werden.3 Bei Umweltfragen ist der Bewertungskontext seit dem Aufkommen internationaler Umweltprobleme von zentraler Bedeutung und wird begleitet von einem stetig steigenden Output an wissenschaftlichen Publikationen, Erkenntnissen und Verfahren. Wir wollen die zentralen Ergebnisse aus der Umweltforschung hier kurz skizzieren und sie auf die Sicherheitsfrage übertragen. Interessanter Weise hinkt die Forschung zur Bewertung von Sicherheit i. w. S. deutlich hinter der Bewertung von Umweltfragen hinterher. Zwar gibt es einige grundlegende Arbeiten im Bereich der Militärökonomie zu Bewertungsfragen nationaler Streitkräfte generell,4 die konkrete Anwendung auf Auslandseinsätze der Bundeswehr findet sich dagegen kaum. Brzoska (2007) argumentiert in diesem Kontext zu vage und bezieht die aus der Umweltökonomie bekannten Ergebnisse zu wenig auf die Sicherheitsfrage. Die Bewertungsliteratur hebt stark auf das Konzept des ökonomischen Gesamtwertes (Total Economic Value) ab. Dieses Standardkonzept aus der Umweltökonomie5 ist ein sehr umfassender Ansatz zur Bestimmung des monetären Wertes einzelner zu bewertender Phänomene. Er setzt sich additiv aus nutzungsabhängigen und nutzungsunabhängigen Wertkomponenten zusammen.6 Bei den nutzungsabhängigen Werten wird in aller Regel zusätzlich differenziert: Neben den direkten Werten können indirekte nutzungsabhängige Werte, Optionswerte und Quasi-Optionswerte existieren. Nutzungsunabhängige Werte unterscheiden sich in Existenz- und Vermächtniswerte. Der Leser erkennt hier bereits deutlich, dass ein ökonomischer Wert somit weit mehr umfasst als den aktuellen Nutzwert für eine einzelne führung in die monetäre Bewertung öffentlicher Güter sowie in ausgewählte konzeptionelle und empirische Probleme findet sich in Schläpfer/Zweifel (2008). 3 Vgl. Kapitel II. dieses Beitrags. 4 Vgl. für eine Übersicht Hartley/Sandler (1995) und (2007) sowie speziell zu Krieg und Frieden Mendez (1997). 5 Vgl. Cansier (1996), S. 78 ff., Faucheux/Noël (2001), S. 315 ff., Perman et al. (2003), S. 399 ff. 6 Bisweilen findet sich auch die Unterscheidung Nutzwert und Nicht-Nutzwert. Beide Begrifflichkeiten lehnen sich eng an die angloamerikanische Terminologie use-values und non-use-values an.

Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen – eine ökonomische Perspektive 239

Person, die ein Gut oder eine Dienstleistung zum jetzigen Zeitpunkt nutzen kann. Das Konzept des ökonomischen Gesamtwertes beinhaltet Wertkategorien, die Werte einer zukünftigen Nutzung erfassen. Zudem werden Werte berücksichtigt, die aus einer Nicht-Nutzung resultieren. Gerade dieser Aspekt mutet zunächst fremd an, weil es nicht in das gängige Vorurteilsraster gegenüber Ökonomen passt. Wir wollen die einzelnen Wertkategorien des ökonomischen Gesamtwertes jeweils näher beleuchten und auf die Bewertung der Auslandseinsätze der Bundeswehr beziehen. Ein direkter nutzungsabhängiger Wert entsteht immer dann, wenn Auslandseinsätze positiv in die Nutzenfunktion der Individuen eingehen, wenn also deren Wohlbefinden oder Gesundheit aufgrund der durch einen Auslandseinsatz verbesserten Sicherheitslage gesteigert wird. Die Messung kann direkt über beobachtbare Marktdaten erfolgen, etwa in der Form, dass geringere Aufwendungen zur Steigerung der individuellen Sicherheit getätigt werden müssen. Indirekte nutzungsabhängige Werte entstehen dadurch, dass die erhöhte Sicherheitslage aufgrund eines Auslandseinsatzes zusätzliche Investitionen ermöglicht, die zusätzliche Arbeitsplätze in der Bundesrepublik schaffen und mithin Absatzchancen für bisherige Unternehmer steigern.7 Für die Bewertung indirekter nutzungsabhängiger Werte können wiederum Marktbeobachtungen herangezogen werden – allerdings bestehen dabei teilweise Abgrenzungsprobleme, die einer sehr sorgfältigen Lösung bedürfen. Der Optionswert liegt auf einer anderen logischen Ebene: Knapp zusammengefasst beschreibt er eine Risikoprämie für irreversibel verlorene Nutzungsmöglichkeiten der – durch Auslandseinsätze produzierten – Sicherheit. Er stellt also auf eine potentielle individuelle Nutzung der Sicherheit in der Zukunft ab. Individuen sind bereit, für ihre künftige Sicherheit bereits in der Gegenwart bestimmte monetäre Aufwendungen zu tätigen. Zentrale Annahmen für die Existenz eines Optionswertes sind zum einen eine Risikoaversion der Individuen und zum zweiten muss davon ausgegangen werden, dass die Nutzung des Gutes Sicherheit irreversibel verloren gehen könnte, wenn das Gut heute nicht aufrecht erhalten würde. Der Optionswert kann dann als Versicherungsprämie für den Verlust der Nutzung des Gutes in der Zukunft interpretiert werden. In unserem Kontext müssten Auslandseinsätze der Bundeswehr den irreversiblen Verlust der Sicherheit in der Bundesrepublik verhindern. Nur in einem solchen Fall würde ein positiver Optionswert in den ökonomischen Gesamtwert eingehen. Dafür wären die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik 7

Wir setzen bewusst die Prämisse, dass die Wirkungsketten ihre Ursache im Auslandseinsatz der Bundeswehr haben, was mit Hilfe aufwendiger ökonometrischer Verfahren eigentlich zu zeigen wäre.

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bereit einen Preis zu bezahlen, um zu verhindern, dass die Sicherheit Deutschlands durch Bedrohungen im Ausland nicht irreversibel verloren ginge (etwa durch transnationalen Terrorismus). Den Quasi-Optionswert gilt es vom Optionswert zu unterscheiden, weil er bereits bei risikoneutralem Verhalten von Individuen beobachtet werden kann. Das Aufschieben einer sicherheitspolitischen Investition wie die eines Auslandseinsatzes führt dazu, dass die Unsicherheiten bezüglich potentieller Effekte klarer zutage treten und fortan adäquatere Investitionsentscheidungen getroffen werden können. Allein durch Warten und Lernen kann die Gefahr irreversiblen Fehlverhaltens, die insbesondere ad hoc-Reaktionen innewohnt, reduziert werden; bereits dieser Umstand stiftet aus ökonomischer Perspektive einen Nutzen im Rahmen des Quasi-Optionswertes. Die nicht-nutzungsabhängigen Werte stellen – wie es der Begriff deutlich zum Ausdruck bringt – darauf ab, dass Individuen ganz bestimmte Güter oder Dienstleistungen weder aktuell noch künftig zu nutzen gedenken. Beim Existenzwert stiftet bereits das schiere Wissen um die Existenz von Sicherheit einen Nutzen, der positiv in den ökonomischen Gesamtwert eines Individuums eingeht. Individuen wollen oder können bestimmte Aspekte der Sicherheit gar nicht für sich selbst nutzen, sind jedoch trotzdem zu entsprechenden Investitionen bereit. Das Motiv für diese Wertschätzung ist altruistisch, möglicherweise stiftet die dauerhafte Existenz von Sicherheit in der Bundesrepublik Dritten einen positiven Nutzen. Zu denken wäre etwa an Bürgerkriegsflüchtlinge, die im sichere(re)n Umfeld der Bundesrepublik Schutz und Erholung finden. Grob werden beim Existenzwert Nutzeneffekte subsummiert, die für Dritte weitestgehend innerhalb der gleichen Periode, aber an regional unterschiedlichen Orten anfallen können. Der Vermächtniswert stellt dagegen im Wesentlichen auf unterschiedliche Zeitpunkte der Nutzenstiftung ab: Zukünftige Generationen können ebenfalls vom Gut Sicherheit profitieren, ohne dass das einen Vermächtniswert angebende Individuum dieses Gut für sich selbst beanspruchen würde. Dies unterscheidet Vermächtniswerte von den Optionswerten, die auf eine potentielle eigene Nutzung abstellen. Sowohl die beiden Optionswertkategorien wie auch die nicht-nutzungsabhängigen Wertkategorien des Existenz- und Vermächtniswertes können nicht mehr durch Marktbeobachtungen ermittelt werden. Hier bedarf es besonderer Verfahren, die in Abschnitt II.2. in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Abbildung 1 fasst die zentralen Elemente des ökonomischen Gesamtwertes nochmals zusammen.8 Die Aufsummierung der einzelnen Komponenten ergibt dann den ökonomischen Gesamtwert: 8

Vgl. Bayer (2004a), S. 79.

Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen – eine ökonomische Perspektive 241

I. Nutzungsabhängige Werte a) Direkte nutzungsabhängige Werte b) Indirekte nutzungsabhängige Werte c) Optionswerte d) Quasi-Optionswerte II. Nicht-Nutzungsabhängige Werte a) Existenzwerte b) Vermächtniswerte. Abbildung 1: Ökonomischer Gesamtwert und dessen Aufteilung

2. Ausgewählte Bewertungsverfahren Nachdem wir das Konzept des ökonomischen Gesamtwertes dargestellt und erläutert haben, wollen wir in diesem Abschnitt einige Verfahren zur Ermittlung monetärer Werte von Auslandseinsätzen skizzieren und die Ideen vermitteln, die hinter den ökonomischen Bewertungsverfahren stehen. Für die weiteren konzeptionellen und methodischen Ausführungen unseres Artikels aus ökonomischer Perspektive müssen einige grundlegende eingrenzende Bemerkungen vorangestellt werden. Wir wollen in diesem Aufsatz auf die monetäre Bewertung abstellen und keine Grundsatzdebatte um die Begrifflichkeiten Sicherheit oder Frieden führen. Unter Sicherheit soll in unserem Papier deshalb pragmatisch all das verstanden werden, was als Grundvoraussetzung für ein gutes Leben in Frieden und Freiheit gilt. Zudem soll die – nicht unproblematische – Prämisse gelten, dass Auslandseinsätze der Bundeswehr diesem Ziel dienlich sind. Mit dieser Prämisse lehnt sich unsere Analyse sehr eng an die dominierende politische Argumentation an, die in Anlehnung an den damaligen Verteidigungsminister Struck immer wieder betont, dass die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt werde.9 Vereinfacht ausgedrückt gehen wir aus methodischen Gründen auf eindeutig identifizierte Zusammenhänge zwischen dem Streitkräfteeinsatz im Ausland und der Erhöhung der Sicherheitslage in der Bundesrepublik aus. 9 Zur Frage, ob und inwieweit Auslandseinsätze der Bundeswehr und anderer Streitkräfte tatsächlich in der Lage sind, die Sicherheit der Entsenderstaaten zu steigern, existiert eine breite Debatte; hingewiesen werden soll etwa auf Jaberg und Hamann in diesem Band, darüber hinaus kann Perthes (2007) empfohlen werden. Auch die ökonomische Forschung könnte im Rahmen ökonometrischer Analysen einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, inwieweit Auslandseinsätze von Streitkräften in der Lage wären, die Sicherheitslage sowohl im Einsatz- als auch im Entsenderland zu steigern.

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a) Preis- und Nutzenansatz10 Es gibt zwei grundsätzliche Ansätze den Wert von Auslandseinsätzen zu ermitteln. Dabei wollen wir unterstellen, dass es sich weitgehend um eine öffentliche Leistung handelt.11 Entweder man ermittelt einen (fiktiven) Preis für Auslandseinsätze und multipliziert damit die für einen Auslandseinsatz notwendige Menge an Faktoreinsätzen (Ressourcen): Dieses Verfahren wird als sog. Preisansatz bezeichnet. Alternativ dazu ermittelt man den Nettonutzen von Auslandseinsätzen für die Bundesrepublik, indem die Kosten des Einsatzes von den dadurch entstehenden Nutzen subtrahiert werden (Nutzenansatz). Zur Verdeutlichung der Unterschiede der beiden Konzepte wollen wir einige ökonomische Grundzusammenhänge darlegen.12 Zur Vereinfachung nehmen wir an, dass alle Nutzen- und Kostenaspekte bereits bewertet wurden. Abbildung 2 stellt den Marktzusammenhang auf einem vollkommenen Markt dar: Die Nachfragekurve bringt die marginale Zahlungsbereitschaft (MZB) der an dem Gut „Auslandseinsätze“ Interessierten zum Ausdruck. Sie ist monetärer Indikator für den Grenznutzen der Nachfrager. Die Angebotsfunktion bringt die Grenzkosten der Produktion von Auslandseinsätzen zum Ausdruck. Durch das Spiel von Angebot und Nachfrage bildet sich der Gleichgewichtspreis p heraus. Der Markt bewertet die Menge X  als Produkt von Preis und Menge: p  X  (Preisansatz). Dieser Betrag stimmt nicht mit dem Wert überein, die alle Beteiligten zusammen der Menge beimessen. Die Nachfrager erlangen einen Bruttonutzen entsprechend der Fläche a þ b þ c. Weil in Höhe der Fläche c Kosten bei den Anbietern entstehen, entspricht der Nettonutzen für Anbieter und Nachfrager zusammen der Fläche a þ b. Fläche a bildet die Summe der realisierten Konsumentenrenten. Die Nachfrager wären bereit, für geringere Mengen als X  einen höheren Preis zu zahlen, als sie tatsächlich müssen. Sie sparen diesen Betrag ein (Konsumentenrente). Fläche b stellt den Gewinn der Unternehmer bei Vernachlässigung von fixen Produktionskosten dar. Man bezeichnet diesen Gewinn auch als Produzentenrente. Der Nettonutzen der Menge X  ergibt sich aus der Summe von Konsumenten- und Produzentenrente (Nutzenansatz). Preis- und Nutzenansatz führen also zu unterschiedlichen Werten. Der Preisansatz erfasst zwar die Produzentenrente, aber auch die Produktionskosten. Insofern fällt die Bewertung von X  aus gesamtwirtschaftlicher Sicht zu 10

Vgl. im Folgenden Cansier/Bayer (2003), S. 218 ff. Sicherlich gibt es auch private Aspekte etwa beim EU-Einsatz „Atalanta“ zur Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika. Zu nennen sind hier z. B. Gewinne bei Reedereien, die Kreuzfahrten in der Region anbieten und damit Gewinne durch den Schutz der Bundeswehr realisieren können. 12 Eine Einführung in die Ökonomie, die sich v. a. an Nicht-Ökonomen wendet, findet sich etwa in Bayer (2008). 11

Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen – eine ökonomische Perspektive 243 p N (= MZB)

A (= dK/dX)

a p*

b c

0

X*

X

Abbildung 2: Bewertung nach dem Preis- und Nutzenansatz. Die Bewertung der Menge des privaten Gutes X  kann entweder nach dem Marktwert Èp  X  ê oder nach der Summe aus Konsumentenund Produzentenrenten (Fläche a þ b) erfolgen.

hoch aus. Nicht berücksichtigt wird dagegen die Konsumentenrente. Nur wenn Konsumentenrente und Kosten übereinstimmen, führen Preis- und Nutzenansatz zum gleichen Ergebnis. Diese Übereinstimmung wäre aber zufällig. Systematisch richtig erfolgt die Bewertung der Wohlfahrtsverbesserung nur durch den Nutzenansatz. Genauso wie für private Güter können wir uns vorstellen, dass die Bevölkerung zunehmenden Mengen eines öffentlichen Gutes einen unterproportional steigenden Nutzen beimisst und die Produktionskosten überproportional zunehmen. Ein fiktiver Preis lässt sich dadurch ermitteln, dass man die Nachfrager nach Auslandseinsätzen befragt, welchen Geldbetrag sie für eine Ausweitung des internationalen Engagements der Bundesrepublik über die bestehende Angebotsmenge hinaus zu zahlen bereit wären. Beim Nutzenansatz muss man die Zahlungsbereitschaft für die gesamte Menge des öffentlichen Gutes schätzen. Die Nutzen-Kosten-Analyse soll Entscheidungen des Staates zugunsten wohlfahrtserhöhender öffentlicher Investitionen fördern. Deshalb bietet sich für die Bewertung der Nutzenansatz an. Man sollte versuchen, alle Bruttonutzen und Kosten von Auslandseinsätzen sowie den Nettowert zu erfassen. Diese Herangehensweise entspricht der Vorstellung, den ökonomischen Gesamtwert von Auslandseinsätzen zu ermitteln. Sie erweist sich allerdings als kompliziert. Einfacher zu handhaben, aber auch ungenauer ist dagegen der Preisansatz. Aus Praktikabilitätsgründen greifen empirische Nutzen-KostenAnalysen meist auf diese Bewertungsmethode zurück. Dafür spricht auch, dass es für die meisten Inputgüter von öffentlichen Investitionen (Einsatz

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von Materialien, Anlagen und Arbeitskräften) Marktpreise gibt. Für diese müssten ja die entgangenen Nutzen geschätzt werden, um bei der Bewertung der Erträge und Kosten öffentlicher Investitionen einheitlich vorzugehen. Das wäre mühsam und kostenintensiv. b) Outputmessung durch Rückgriff auf Marktdaten Manche öffentliche Leistungen beeinflussen die Angebots- und Nachfragebedingungen auf existierenden Märkten. In diesen Fällen kann man auf Marktdaten für die Bewertung von Komponenten des ökonomischen Gesamtwertes zurückgreifen. Generell können mit Hilfe dieser Klasse von Verfahren direkte und indirekte nutzungsabhängige Werte von Auslandseinsätzen geschätzt werden. Options- und Quasi-Optionswerte, aber auch für die nicht-nutzungsabhängigen Wertkategorien können mit diesen Verfahren allerdings nicht geschätzt werden (vgl. unten, Abschnitt c). Beispiel 1: Auslandseinsätze als Vorleistungen der privaten Produktion In den Fällen, in denen Auslandseinsätze einen Produktionsfaktor für die Wirtschaft darstellen, kann man die Auswirkungen auf Angebot und Nachfrage auf den Gütermärkten abschätzen. Die Wirkungen lassen sich wieder im Rahmen eines Wettbewerbsmarktes näher erläutern (Abb. 3). Der Preis fällt wegen der durch den Auslandseinsatz hervorgerufenen Kostensenkung auf p1 und die Produktionsmenge wird auf X1 ausgedehnt. Es treten folgende Effekte auf: – Die Konsumenten erhalten eine zusätzliche Konsumentenrente in Höhe von p0 BCp1 – Die Produzentenrente betrug im Ausgangszustand p0 BE und beläuft sich nach Durchführung eines Auslandseinsatzes auf p1 CF. Die Differenz zwischen der neuen und der alten Produzentenrente (Gewinnsteigerung) beträgt EDCF  p0 BDp1 . – Die Summe der zusätzlichen Konsumenten- und Produzentenrenten entspricht der schraffierten Fläche EBCF. Richtig wiedergegeben werden die Nutzen einer öffentlichen Leistung durch die Summe der zusätzlichen Konsumenten- und Produzentenrenten (Nutzenansatz). Vereinfacht kann man als Wert auch den zusätzlichen Output X1  X0 multipliziert mit einem Durchschnittspreis ansetzen. Dieser Wertansatz ist geringer. Damit korrespondiert aber auch der geringere Ansatz für den Wertverlust bei den Inputgütern. Als Marktdaten stehen für die Bewertung nur Preis und Menge vor dem Auslandseinsatz zur Verfügung. Alle anderen Faktoren insbesondere auch der Effekt des Auslands-

Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen – eine ökonomische Perspektive 245 p

N A0 B

p0

C

D

p1

A1

E F 0

X0

X1

X

Abbildung 3: Zusätzliche Konsumenten- und Produzentenrenten als Wohlfahrtsmaß. Die gestrichelte Fläche entspricht dem Wohlfahrtsgewinn durch ein öffentliches Gut, das die Produktionsbedingungen für ein privates Gut verbessert.

einsatzes auf die Produktionsbedingungen sind auf der Grundlage von Hypothesen zu schätzen. Beispiel 2: Verminderte Lebens- und Gesundheitsrisiken durch Reduktion der Terrorgefahr aufgrund von Auslandseinsätzen Ein Auslandseinsatz der Streitkräfte könnte das Risiko senken, dass Bundesbürger Opfer potentieller Terrorangriffe werden, so dass die Zahl der Todesfälle bzw. der Schwer- und Leichtverletzten (ceteris paribus) reduziert würde. Nach dem Preisansatz ermittelt man die Zunahme des Sozialprodukts, die bei einer Verringerung der Anzahl der Todes- bzw. Verletztenfälle zu erwarten steht. Als Nutzen eines solchen Auslandseinsatzes könnte man dann den Sozialproduktsbeitrag der geretteten Personen über die Zeit prognostizieren und den Barwert der Sozialproduktsgewinne ermitteln. Dieses Konzept ignoriert allerdings nicht zur Einkommensentstehung beitragende Individuen – also v. a. Erwerbsunfähige, Alte und Kinder – und steht damit im Widerspruch zu ethisch-moralischen Überzeugungen und möglicherweise auch im Widerspruch zu Artikel 1 GG. Eine andere, diesen Personenkreis berücksichtigende Möglichkeit besteht darin, die vermiedenen Aufwendungen für die Heilung von Verletzten sowie für weitere krankheitsbedingte Kosten (Rehabilitation, Arbeitsausfall etc.) zu schätzen. Nach dem Preisansatz erhält man einen unteren Wert für einen speziellen Auslandseinsatz.13 13 Die Literatur zur Bewertung von Umweltschäden kennt weitere Verfahren, die in unterschiedlicher Weise das geschilderte Vorgehen in wechselnden Kontexten

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c) Direkte Erfragung der Zahlungsbereitschaft Bei dieser Methode versucht man, die Zahlungsbereitschaft für Auslandseinsätze durch Befragung unter kontrollierten Bedingungen (kontingente Methode, contingent valuation) zu ermitteln. Nur mit dieser Verfahrensweise gelingt es, Options-, Quasi-Options- und die nicht-nutzungsabhängigen Wertkategorien zu monetarisieren und eine vollständige Nutzen-Kosten-Analyse durchzuführen.14 Grundsätzlich befragt man dabei die Bevölkerung oder man nimmt Laborexperimente vor. Dabei macht man genaue Vorgaben, vermittelt Informationen über die Eigenschaften und Wirkungen von Auslandseinsätzen und versucht den Sachverhalt objektiv, nachvollziehbar und so umfassend wie möglich darzustellen. Das gelingt mit Hilfe von Interviews besser als mit schriftlichen Befragungen. Bei der Preismethode fragt man nach den Geldbeträgen (den Preisen), welche die Bürger bei einem gegebenen zu bewertenden Leistungsniveau für einen zusätzlichen Auslandseinsatz zu zahlen bereit wären. Nach der Nutzenmethode hebt man dagegen auf die Zahlungsbereitschaft für die Gesamtmenge von Auslandseinsätzen ab. Der prinzipielle Vorteil der kontingenten Zahlungsbereitschaftsmethode liegt in der Anwendungsmöglichkeit auf alle denkbaren öffentlichen Leistungen. Andererseits sieht sich dieser Ansatz vielfältigen Schwierigkeiten gegenüber, die seine Praktikabilität stark einschränken. Für die Bürger/Probanden ist es schwierig, sich den Nutzen von Auslandseinsätzen konkret vorzustellen und diese Vorstellung in einen Geldbetrag zu übersetzen (Abstraktionsproblem). Außerdem sind die Bürger nur unvollkommen über die das durch Auslandseinsätze entstehende Gut „zusätzliche Sicherheit“ informiert. Diese Schwierigkeiten versucht die Methode dadurch zu überwinden, dass sie die Interviews in besonderer Weise strukturiert. Die Fragen werden möglichst anschaulich und konkret formuliert. Es gibt eine Reihe von Techniken, mit denen die Vorstellungskraft der Befragten verbessert werden kann: Beim Einkreisungsverfahren beispielsweise wird dem Probanden für eine öffentliche Leistung ein Zahlungsbereitschaftsintervall (zum Beispiel 100 bis 1.000 Euro) vorgegeben. Zunächst wird gefragt, ob seine Zahlungsbereitschaft in diesem Intervall liegt. Wenn er bereit ist, 100 Euro zu zahlen, nicht aber 1.000 Euro, wird die Bandbreite eingeengt, etwa auf 200 bis 900 Euro. Die sukzessive Einengung des Intervalls wird solange fortgeführt, vornehmen, um eine monetäre Bewertung der Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen durchzuführen. Vertiefend hierzu vgl. Cansier (1996), S. 78–127, Bayer (2004a) und Markandya et al. (2002). 14 Auch zu diesem Komplex existiert im Rahmen der Umweltökonomie eine breite aktuelle Debatte: vgl. Cansier (1996), Markandya et al. (2002) und zu den Grenzen Bayer (2004a). Eine lesenswerte aktuelle Einführung geben Gerpott/Mahmudova (2008).

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bis die Ja- bzw. Nein-Antworten gegen einen bestimmten Geldbetrag konvergieren. Beim Budgetierungsverfahren hingegen simuliert man eine Kaufentscheidung. Dem Probanden wird ein Budget vorgegeben, das er mit dem Ziel der Nutzenmaximierung auf alternative Verwendungsmöglichkeiten aufteilen soll. Zu den Stärken dieser Methode zählt, dass sie die Testperson dazu veranlasst, in ihrer Entscheidung für eine bestimmte Menge des öffentlichen Gutes auch die Opportunitätskosten zu berücksichtigen. All die konzeptionellen Überlegungen zur Bewertung von Auslandseinsätzen betonen die Möglichkeiten einer umfassenden Monetarisierung mit Hilfe von ökonomischen Bewertungsverfahren. In der Praxis werden insbesondere in den USA v. a. die kontingente Bewertung zur Monetarisierung von Options-, Quasi-Options- und nicht-nutzungsabhängigen Wertkategorien herangezogen, wie im Falle des Exxon Valdez Tankerunfalls vor Alaska geschehen.15 Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass diese Verfahren nicht unerhebliche Schwierigkeiten aufweisen und dass die theoretische wie empirische Bewertungsliteratur zu selten alle ein öffentliches Gut beeinflussenden Größen in die Analyse integriert.16

II. Diskontierung zukünftiger Nutzen und Kosten Wenn alle Nutzen- und Kostengrößen monetär bewertet wurden, wird es in aller Regel so sein, dass die Nutzen- und Kosteneffekte zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten. Sie besitzen deshalb eine unterschiedliche Qualität. Um sie im Rahmen von Nutzen-Kosten Analysen vergleichbar zu machen, diskontiert man die Beträge einheitlich auf den Planungszeitpunkt des öffentlichen Projektes „Auslandseinsatz“. Diskontierung (oder Abzinsung) bezeichnet das negative Analogon zur aus der Finanzmathematik bekannten Aufzinsung. 1. Diskontierungsmotive Als wichtigste Diskontierungsgründe – neben der hier nicht betrachteten Ungewissheit – sind zu nennen:17 1. Gegenwärtige Bedürfnisse werden von den repräsentativen Wirtschaftssubjekten höher bewertet als zukünftige Bedürfnisse (reine Zeitpräferenz). Man verfügt lieber heute über ein bestimmtes Bündel von Konsumgütern als 15

Vgl. Bayer (2004a). Zu den mannigfachen Schwierigkeiten sei nochmals auf Bayer (2004a) hingewiesen. 17 Vgl. Bayer (2000), S. 37–40. 16

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irgendwann in der Zukunft. Die Menschen haben eine Präferenz für die Gegenwart. Als Hauptgründe hierfür gelten Ungeduld und Kurzsichtigkeit (Myopie). Die gesellschaftliche marginale Zeitpräferenzrate gibt das Ausmaß der Minderschätzung des Konsums in der morgigen gegenüber der heutigen Periode an. Damit ein bestimmter zusätzlicher Konsum morgen den gleichen Nutzen bietet wie ein zusätzlicher Konsum heute, müssen morgen mehr Konsumgüter zur Verfügung stehen. Das Ausmaß der notwendigen Höherbewertung wird durch die marginale Zeitpräferenzrate angegeben. Diese bewirkt die nutzengleiche Umrechnung zukünftiger zusätzlicher Konsumgrößen in Gegenwartskonsum. Darin besteht der Zweck der Diskontierung. 2. Menschen erwarten, dass sie später reicher sein werden und bewerten deshalb einen gegebenen zusätzlichen Konsum in der Zukunft geringer als in der Gegenwart (wachstumsbedingte Zeitpräferenz). Voraussetzungen sind hierbei ein steigendes Pro-Kopf-Einkommen und die Gültigkeit der Hypothese vom fallenden Grenznutzen des Konsums mit steigendem Einkommen. Diese Zeitpräferenzrate bestimmt sich nach der Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens und dem Ausmaß der Verringerung des Grenznutzens mit steigendem Konsum (Elastizität des Grenznutzens des Konsums). 3. Wenn der Staat einen bestimmten Eurobetrag für ein öffentliches Projekt einsetzt, dann werden unter Umständen in diesem Umfang private Investitionen verdrängt. Diese Investitionen wären mit einer bestimmten privaten Ertragsrate verbunden gewesen, die nunmehr aber ausbleibt. Die so entgangenen Erträge stellen die Opportunitätskosten des öffentlichen Projektes dar. Deshalb wird verschiedentlich auch vorgeschlagen, die private Ertragsrate von Investitionen als Diskontierungsrate bei öffentlichen Vorhaben zu verwenden. Grundsätzlich bewirkt die Diskontierung mit positiven Raten, dass zeitlich entfernt auftretende Effekte mit deutlich geringerem Gewicht in heute anstehende Entscheidungsprozesse eingehen als zeitnäher auftretende. Langfristige Auswirkungen finden in heutigen Entscheidungen allenfalls geringe Berücksichtigung. Dies ist sowohl ineffizient als auch ungerecht, da bestimmte Kosten nicht bei ihren Verursachern zur Anrechnung kommen, wodurch diese sich im Zeitverlauf einen Vorteil verschaffen. Tendenziell führt das dazu, dass 1. Vorhaben, bei denen zeitnahe Kosten zukünftigen Nutzen gegenüberstehen, nicht realisiert werden und 2. Vorhaben, bei denen zeitnahe Nutzen zukünftigen Kosten gegenüberstehen, umgesetzt werden. Dabei gilt, dass die Asymmetrien mit steigenden Diskontierungsraten stärker ins Gewicht fallen. Umgekehrt trifft auch zu, dass geringere Diskontierungsraten weniger starke Asymmetrien verursachen.

Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen – eine ökonomische Perspektive 249

Bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist in der Regel davon auszugehen, dass die zeitliche Verteilung von Nutzen und Kosten ähnlich gelagert ist wie im ersten Fall oben, dass also zeitnahen Kosten überwiegend zukünftige Nutzen gegenüberstehen. Damit kommt der Diskontierung strategische Bedeutung zu: Je größer die Rate gewählt wird, desto eher bescheinigt die Nutzen-Kosten-Analyse Auslandseinsätzen Ineffizienz. Je geringer die Diskontierungsrate dagegen gesetzt wird, desto eher weist die Untersuchung ihnen Effizienz nach. Insofern muss neben der sorgfältigen monetären Bewertung der mit Auslandseinsätzen verbundenen Effekten auch eine sehr bedachte Auswahl der Diskontierungsrate und -methodik folgen, um ein beliebiges – möglicherweise politisch erwünschtes – Ergebnis zu vermeiden.

2. Richtige Diskontierung Die ökonomische Diskontierungstheorie unterstellt idealtypischer Weise, dass die Summe der beiden (reinen und wachstumsbedingten) Zeitpräferenzraten der Opportunitätskostenrate entspricht. In der Praxis unterscheiden sich die beiden Größen jedoch regelmäßig. Dabei liegt die Opportunitätskostenrate über der Zeitpräferenzrate. Als Ursache dafür kommen v. a. verzerrende Steuern (v. a. Kapitalertragsteuern) in Betracht. Damit erhielte bereits die Entscheidung, mit welcher Rate diskontiert werden soll, eine strategische Komponente: Die höhere Opportunitätskostenrate wertet in der fernen Zukunft anfallende Effekte deutlich stärker ab als die Zeitpräferenzrate. Ihre Auswahl könnte somit von all jenen favorisiert werden, die Auslandseinsätzen kritisch gegenüber stehen und insofern ein Interesse an der Abwertung der in Zukunft anfallenden Nutzeneffekte besitzen. Dagegen dürfte die Zeitpräferenzrate von all denjenigen propagiert werden, die ein starkes Interesse an der Berücksichtigung ebendieser Effekte haben, also denjenigen, die Auslandseinsätzen ihre Effizienz nachweisen wollen. Beide Verfahrensweisen sind jedoch aus volkswirtschaftlicher Sicht inkorrekt. Für die Klärung der Frage der richtigen Diskontierung ist es entscheidend, ob die öffentliche Investition zu Lasten des privaten Konsums oder der privaten Investition geht. Würde das staatliche Projekt ausschließlich private Konsumbeträge verdrängen, so fiele die Antwort relativ leicht: Die richtige Diskontierungsrate ist dann die Zeitpräferenzrate. Bei Verdrängung ausschließlich privater Investitionen müsste analog die Opportunitätskostenrate Verwendung finden. Diese Konstellation ist jedoch kaum zu erwarten. Regelmäßig verdrängen staatliche Entscheidungen beide Arten volkswirtschaftlicher Verwendungen. Die Zeitpräferenzrate bezieht in diesem Fall zukünftige Effekte mit einem zu starken Gewicht in die heutige Entscheidung mit ein, die Opportunitätskostenrate wertet zukünftige Effekte zu stark ab

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und reduziert das Gewicht zukünftiger Effekte in heutigen Entscheidungen. Beide Verfahrensweisen führen zu Ineffizienzen und Ungerechtigkeiten, was unbedingt vermieden werden muss. Wenn durch Auslandseinsätze sowohl Konsum als auch Investitionen verdrängt werden, was bei steuerfinanzierten Auslandseinätzen grundsätzlich deswegen der Fall ist, weil private Steuerzahlungen verfügbares Einkommen reduzieren, ergibt sich das methodische Problem, dass Investitionsund Konsumbeträge volkswirtschaftlich unterschiedlich viel wert sind. Investitionen ermöglichen Mehrkonsum in der Zukunft. Deshalb lassen sich beide Größen nicht einfach aufaddieren. Vielmehr müssen die Investitionsbeträge in Konsumbeträge „transformiert“ werden.18 Die durch die Auslandseinsätze verdrängten Investitionen hätten gemäß ihrer Ertragsrate in den späteren Perioden die Bereitstellung von Konsumgütern ermöglicht. Deshalb müssen die Investitionsbeträge durch ihnen entsprechende Konsumäquivalente ausgedrückt werden. Die verdrängten Investitionen werden bei dieser Methode in entgangenen Konsum umgerechnet. Investitionsbeträgen kommt demnach mehr Wert zu als Konsumbeträgen, weil durch sie in der Zukunft mehr konsumiert werden kann.19 Verdrängte Investitionseinheiten bekommen auf diese Weise einen höheren Wert zugemessen. Dieser ist in der Rechnung anzusetzen, und zwar in der Periode, in der die Investition verdrängt wird. Damit liegen alle zu diskontierenden Größen in Konsumeinheiten vor und sind miteinander vergleichbar. Alle in Konsumeinheiten ausgedrückten Kosten und Erträge lassen sich somit auf den Planungszeitpunkt der öffentlichen Investition mit der Zeitpräferenzrate diskontieren. Insgesamt kann festgehalten werden: – Als Diskontierungsrate kommt am ehesten die marginale Zeitpräferenzrate in Frage. Außerdem sollte die Berechnung mit Hilfe von Konsumäquivalenten durchgeführt werden. Die Umrechnung in Konsum würde sich erübrigen, wenn die Zeitpräferenzrate und die Opportunitätskostenrate übereinstimmen, was aber in der Realität nicht der Fall ist. – Die Erträge der verdrängten Investitionen (Opportunitätskosten) gehen in der Rechnung nicht verloren. Sie werden bei den zu diskontierenden Größen in Ansatz gebracht. – Öffentliche Investitionen können auch private Investitionen nach sich ziehen. Dann ist eine analoge Umrechnung in Konsumäquivalente vorzunehmen. 18 Analog könnten auch die Konsum- in Investitionsbeträge umgerechnet werden, was in der Diskontierungsliteratur bislang jedoch keine Rolle spielt. 19 In der Literatur werden hierzu verschiedene Verfahren vorgeschlagen, vgl. etwa Bayer (2000), S. 171–187.

Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen – eine ökonomische Perspektive 251

Für eine umfassende Nutzen-Kosten-Analyse von Auslandseinsätzen muss dann zur eigentlichen Bewertungsfrage eine Kategorisierung von Effekten hinzukommen: In welchem Ausmaß verdrängt die Steuerfinanzierung von Auslandseinsätzen private Investitionen und privaten Konsum? Darüber hinaus müssen die Ertragskomponenten in Konsum- und Investitionseffekte aufgeteilt und in jenen Perioden ausgewiesen werden, in denen sie tatsächlich auftreten. Erst wenn die ausgewiesenen Investitionsgrößen in Konsumäquivalente umgerechnet worden sind, besteht die Möglichkeit, alle nun vorliegenden Konsumeffekte (Nutzen wie Kosten) im Rahmen einer Nutzen-Kosten-Analyse mit Hilfe der Zeitpräferenzrate auch zu diskontieren. 3. Intergenerationelle Diskontierung Ein öffentliches Projekt wie ein Auslandseinsatz besitzt aber auch sehr langfristige Auswirkungen. Möglicherweise kann nur eine solche Maßnahme dauerhaft Frieden und Freiheit für die Bundesbürger sichern; im Extremfall könnte ein Auslandseinsatz der Bundeswehr auch als Abwehr von einem irreversiblen Aufgeben der durch das Grundgesetz garantierten Grundrechte interpretiert werden. In einem solchen Fall reichen die Nutzeneffekte eines Auslandseinsatzes weit in die Zukunft. Sie berühren auch Generationen, die heute noch nicht leben. Von den Kosten und Nutzen sind unterschiedliche Menschen betroffen. Die Vorliebe für die Gegenwart kann ein Individuum nur für sich selbst empfinden bzw. ableiten. Sie ist rein personenbezogen. Dritte Menschen tauchen in dem Diskontierungsmotiv der reinen Zeitpräferenz nicht auf. Deshalb darf man den Konsum zukünftiger Generationen aus heute geplanten Projekten nicht mit der Zeitpräferenzrate der heute Lebenden diskontieren. Das wäre ein Bruch mit der Logik. Wenn man eine Diskontierung mit der reinen Zeitpräferenzrate vornimmt, dann misst man den zukünftigen Generationen einen geringeren ethischen Rang bei als den heutigen Menschen. Diese Vorgehensweise verstößt gegen das Gleichbehandlungsgebot der liberalen individualistischen Staatsauffassung und ist zudem ineffizient.20 Allerdings gibt es ein zutreffendes Argument für die Diskontierung des Konsums zukünftiger Generationen: Unsere Nachfahren sind möglicherweise wohlhabender als wir. Nach dem Gesetz vom fallenden Grenznutzen würden sie dann den zusätzlichen Nutzen aus einem zusätzlichen Konsum geringer veranschlagen, als es die heutigen Generationen bei dem gleichen zusätzlichen Konsum tun würden. Den gleichen zusätzlichen Nutzen hätten die heutigen Generationen bereits bei einem geringeren zusätzlichen Konsumbetrag. Um diesen zu ermitteln, müsste man zusätzliche Konsum20

Vgl. etwa Cansier (1996), S. 125 f.

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beträge, die späteren Generationen zugute kommen, diskontieren (wachstumsbedingte Diskontierung). Diese Diskontierung lässt sich aber nur dann rechtfertigen, wenn tatsächlich hinreichende Gründe für ein Wachstum der Pro-Kopf-Wohlfahrt über lange Zeit sprechen. Dabei kommt es dann nicht nur auf die Versorgung mit Gütern des Sozialproduktes an, sondern auch auf die Entwicklung anderer wohlfahrtsbestimmender Faktoren, wie insbesondere der Sicherheitslage oder der Umweltqualität.21

III. Fazit Bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr handelt es sich um öffentliche Maßnahmen, die im Rahmen von Nutzen-Kosten-Analysen auf ihre Vorteilhaftigkeit hin untersucht werden sollten. Dazu bedarf es einer vollständigen Bewertung aller auftretenden Effekte während der Planungsperiode. Die Nutzen-Kosten-Analyse als Geldrechnung erfordert, dass alle Kosten- und Nutzeneffekte von Auslandseinsätzen in monetärer Form vorliegen müssen. Die Bewertung in Geld soll es ermöglichen, Vor- und Nachteile eines Auslandseinsatzes in vergleichbarer Weise zu erfassen. Da es für die Effekte von Auslandseinsätzen keine Marktpreise gibt, die der Bewertung der Nutzen und Kosten zugrunde gelegt werden könnten, muss man mit speziellen Methoden versuchen, die Wertschätzung der Bürger zu erfahren. Der Wert von Auslandseinsätzen entspricht dem Nettonutzen dieser Leistung für die Gesellschaft (Nutzenansatz). Weil dieser Wert schwierig zu ermitteln ist, greift man in empirischen Nutzen-Kosten-Analysen meist auf einfachere, aber auch ungenauere Wertmaßstäbe zurück, die die Gefahr einer gewissen Willkür implizieren. Für die Bewertung der Effekte von Auslandseinsätzen steht eine Fülle von Methoden zur Verfügung. Dabei wird zum einen indirekt versucht, über Marktdaten die Wertschätzung der Bürger für bestimmte Leistungen abzuleiten. Zum anderen werden direkte Verfahren angewendet, die Zahlungsbereitschaften oder Kompensationserfordernisse von Effekten, die mit Auslandseinsätzen verbunden sind, zu erfragen. Die monetäre Bewertung sämtlicher Effekte von Auslandseinsätzen lässt sich nicht immer zweifelsfrei durchführen. Die Bewertung des menschlichen Lebens stellt den Ökonomen vor Probleme, weil seine Verfahren immer nur Teilaspekte des menschlichen Lebens erfassen können. Auch die Bewertung des gesamten Leistungsspektrums von Auslandeinsätzen verursacht Schwierigkeiten. Trotz dieser Probleme hat sich die ökonomische Forschung vor allem im Bereich der Umweltökonomie in den letzten Jahren erfolgversprechend weiterentwickelt. Deren Einsichten könnten auf die Bewertung von Effekten durch Auslandseinsätze übertragen werden. Da die Planung (oft) weit in die 21

Zur Vertiefung vgl. Bayer (2004b) und (2000).

Nutzen und Kosten von Auslandseinsätzen – eine ökonomische Perspektive 253

Zukunft reicht, müssen zukünftige und heutige Effekte über die Diskontierung vergleichbar gemacht werden. Die ausgewiesene Vorteilhaftigkeit hängt sehr stark von der gewählten Diskontierungsrate und dem zugrunde gelegten Verfahren ab. Schon marginale Variationen führen zu völlig unterschiedlichen Aussagen über die Projektrealisierung. Die Verwendung einer Daumenregel birgt die Gefahr von Willkürentscheidungen. Wenn Auslandseinsätze auch intergenerationelle Effekte aufweisen, verkompliziert sich die Diskontierung und mithin die sachgemäße Durchführung einer Nutzen-Kosten-Analyse nochmals. Trotz aller gezeigter Schwierigkeiten könnte mit Hilfe von Nutzen-Kosten-Analysen die ökonomische Sinnhaftigkeit von Auslandseinsätzen sowohl für die Bundesbürger als auch für den politischen Raum transparent oder zumindest transparenter als bislang gemacht werden: Die Verausgabung öffentlicher Mittel für Auslandseinsätze könnte direkt mit anderen öffentlichen Mittelverwendungen hinsichtlich der damit jeweils verbundenen ökonomischen Renditen verglichen werden. Dies geschieht auf Basis eines sehr weitreichenden Nutzen- und Kostenkonzeptes und unter Berücksichtigung eines sehr langen Planungshorizontes. Nutzen-Kosten-Analysen erschweren diskretionäre ad-hoc Politikmaßnahmen, bieten aber den großen Vorteil, dass knappe öffentliche Mittel möglichst effizient eingesetzt werden. Dies entspricht auch dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit, der jeglicher öffentlicher Mittelverwendung zugrunde liegen sollte. Die Kehrseite der Medaille darf aber nicht aus dem Blick geraten: Einzelne politische Entscheidungen könnten aus Nutzen-Kosten-Sicht möglicherweise nicht legitimiert werden, was den politischen Gestaltungsrahmen erheblich einzuschränken droht. Zudem könnte sich bei den aktuellen Auslandseinsätzen der Bundeswehr die Frage nach den deutschen Beteiligungen aus Nutzen-Kosten-Sicht stellen: Warum beteiligte sich die Bundesrepublik nicht an der „coalition of the willing“ im Irak, dafür aber am ISAF-Einsatz in Afghanistan? Nutzen-Kosten-Analysen könnten hierfür Antworten liefern, die politische Entscheidungen entweder stützen oder auch in Frage stellen. Bislang sind dem Autor keinerlei Nutzen-Kosten-Analysen zu den bisherigen Auslandseinsätzen der Bundeswehr bekannt, die Antworten auf die analysierten ökonomischen Grundfragen bereithielten. Der daraus resultierende Vorteil besteht auf politischer Ebene darin, dass ökonomische Rentabilitätsüberlegungen für Auslandseinsätze keine Rolle spielen können. Damit kann die Politik losgelöst von Effizienzüberlegungen öffentliche Mittel im Rahmen von Auslandseinsätzen verausgaben, die aus ökonomischer Perspektive möglicherweise besser alternativen Verwendungen zugeführt worden wären; mithin lässt sich der Verdacht einer politischen Willkür bei der Entscheidung über Auslandseinsätze nicht einfach von der Hand weisen.

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Auslandseinsätze der Bundeswehr im Blickfeld der Medien Von Hans-Joachim Reeb

I. Forschungsstand mit Lücken Kriege und Konflikte unter Beteiligung westlicher Demokratien fanden schon immer ein ausgeprägtes journalistisches Interesse. Aber besonders seit dem zweiten Golf-Krieg (1991), über den ca. 1.600 Korrespondenten vor Ort berichteten, nahm kontinuierlich der Umfang des medialen Aufwandes zu. Im Irak-Krieg 2003 befanden sich zeitweise bis zu 7.000 Medienvertreter vor Ort.1 Für diesen Bedeutungszuwachs gibt es mehrere Gründe, die hier nur aufgezählt werden können.2 In den letzten Jahrzehnten vereinfachte und beschleunigte der Einsatz digitaler Aufnahme- und Übertragungstechniken die Nachrichtenproduktion aus Kampfgebieten. Die vormals in der Krisenberichterstattung dominanten Fernsehsender wie CNN oder BBC bekamen sowohl auf dem heimischen Markt (z. B. Fox News des Medienmoguls Rupert Murdoch) als gerade auch aus anderen Weltregionen Konkurrenz. Der arabische Satelliten-Fernsehsender Al Dschasira steht dabei als der Prototyp einer alternativen Berichterstattung. Seit Ende des Ost-West-Konfliktes gibt es in den westlichen Gesellschaften einen erhöhten Diskussions- und Erklärungsbedarf für die Notwendigkeit und den Einsatz von Streitkräften. Dieser spiegelte sich durch das Interesse an den Berichten über den Kosovo-Krieg (1999), die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 und die folgenden militärischen Auseinandersetzungen wider. Die Regierungen reagierten darauf mit ausgefeilten Informationsstrategien. Wohl auch als Lernerfahrung aus dem VietnamKrieg führten die US-Administrationen mit der Pool-Bildung (zweiter GolfKrieg), den multimedialen Pressekonferenzen (Kosovo) oder den ‚Embedded Journalists‘ (Irak-Krieg) neue Instrumente mit dem Ziel der Steuerung der Medienberichterstattung ein. Außerdem wirkten im Hintergrund verschiedene Maßnahmen von der Beeinflussung (z. B. PsyOps) bis hin zur Manipulation der Öffentlichkeit.3 Die Weiterentwicklung des Internets zu 1 2

Vgl. Reeb (2003a), S. 35. Vgl. zum Folgenden die einzelnen Beiträge in Löffelholz (2004).

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einer technischen Anwendungsplattform für prinzipiell Jedermann (Web 2.0) erleichtert zusehends auch privaten Gewaltakteuren den Zugang zur weltweiten Öffentlichkeit. Die Berichterstattung über Kriege westlicher Gesellschaften als Mega-Ereignis führte innerhalb des Journalismus zu einer Selbstreflexion. Die Medien setzten sich kritisch mit Arbeitsbedingungen und vermeintlichen Sachzwängen auseinander. Diese Debatten blieben aber (weitgehend) folgenlos.4 Die ‚Mediatisierung der Sicherheitspolitik‘ steigerte letztendlich auch das wissenschaftliche Interesse an der Kriegsberichterstattung. Es liegen allerdings bisher nur einzelne Fragmente auf dem Weg zu einer Theoriebildung für die internationale Krisen- und Konfliktberichterstattung vor.5 Eine solche Theoriebildung erweist sich auch deshalb als besonders schwierig, weil das Phänomen des Krieges selbst nicht eindeutig erfasst werden kann und unter verschiedenen Kategorien diskutiert wird.6 Deshalb ist es kaum möglich, den Gegenstand der Kriegs- und Konfliktberichterstattung klar zu bestimmen. Mit diesen allgemeinen Abgrenzungs- und Zuordnungsproblemen hat auch die spezielle Analyse von Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu kämpfen. ‚Auslandseinsätze‘ ist zunächst ein umgangssprachlicher Begriff, der sich aus seiner realen Anwendung erklären lässt.7 Gegenüber dem Auftrag der Bundeswehr zur Landesverteidigung gegen eine äußere Bedrohung beziehen sich diese Einsätze laut regierungsoffiziellen Verlautbarungen seit den Verteidigungspolitischen Richtlinien (2003) auf die „internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung [. . .] einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“8, so etwa im Dokument „Konzeption 3 Beispielsweise die Bezahlung irakischer Journalisten für den Abdruck positiver Meldungen über den Fortschritt im Land, die von Offizieren der Psychologischen Operation geschrieben wurden, vgl. Pany (2005). 4 Ganz im Gegenteil bewirkt die aus wirtschaftlichen Gründen betriebene Ausdünnung des Korrespondentennetzes im Ausland eine weitere Abnahme hintergründiger Berichterstattung und eine Konzentration auf wenige Gewaltkonflikte und spektakuläre Ereignisse, vgl. Breckl (2006); Dreßler (2008); Hahn/Lönnendonker/ Schröder (2008). 5 Vgl. Löffelholz (2004), S. 48. 6 Vgl. die umfassende Debatte um den heutigen Kriegsbegriff bei Geis (2006). Die politische Diskussion wird auch von dem unterschiedlichen Interesse der politischen Akteure bestimmt, Gewaltakte als Krieg zu bezeichnen (im Fall des Internationalen Terrorismus durch die USA) oder diese Etikettierung gerade zu vermeiden (im Fall von Counterinsurgency in Afghanistan durch die deutsche Bundesregierung). Definitionsvorschläge für die verschiedenen Formen bewaffneter Konflikte liegen im deutschsprachigen Raum u. a. von der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung oder im Heidelberger Konfliktbarometer vor. 7 Die verfassungsrechtliche Begriffbestimmung von Einsätzen führt hier nicht weiter, vgl. aber die politikwissenschaftliche Strukturierung bei Böckenförde (2008). 8 Bundesministerium der Verteidigung (2004), S. 14.

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der Bundeswehr“ (KdB). Gemeinhin werden sie als die wahrscheinlicheren Aufgaben angesehen, die deshalb auch die Fähigkeiten, Ausrüstung und Strukturen der Streitkräfte bestimmen. „Diese Einsätze zur internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sind Ausdruck der außenpolitischen Handlungsfähigkeit Deutschlands. Sie stellen einen Beitrag zur Stabilität im europäischen und globalen Rahmen und zugleich zur Wahrung deutscher Interessen dar. Sie können – je nach Mandat – Aufgaben unterschiedlicher Art und Intensität umfassen, die von nur zum Eigenschutz befähigten Beobachtermissionen einzelner Soldaten und Soldatinnen bis hin zum friedenserzwingenden Kampfeinsatz eines größeren Kontingentes reichen. Der politische Zweck bestimmt Ziel, Ort, Dauer und Art der Einsätze.“9 Dieses Aufgabenspektrum beschreibt den Kriegseinsatz eher als einen Ausnahmefall. Das legt den Schluss nahe, auch die Berichterstattung über Auslandseinsätze von der Kriegsberichterstattung abzugrenzen. Inwieweit die vorliegenden theoretischen Erkenntnisse über die Kriegsberichterstattung auf die Analyse der Einsatzberichterstattung übertragen werden können, ist ebenfalls noch nicht untersucht worden. Zu analysieren wäre, ob sich Unterschiede in verschiedenen Merkmalen der Berichterstattung und dem ihr unterliegenden Bezügen zur Politik und dem Militär ergäben.10 So lässt sich für die Kriegsberichterstattung beispielsweise feststellen, dass die Medien gegenüber der jeweils eigenen Regierung und den eigenen Streitkräften eher parteiisch sind und regelmäßig den amtlichen Verlautbarungen folgen (Indexing-Theorie). Damit korrespondiert eine Steuerung oder gar Zensierung von Informationen durch Politik und Militär, die für das Publikum unübersichtlich und zum Teil widersprüchlich erscheinen. Das militärische Vokabular findet häufig Eingang in Medienberichte. Insgesamt ist der Krieg zumindest in seiner ersten Phase das beherrschende Medienthema. Die wenigen Studien zu ‚Auslandseinsätzen der Bundeswehr‘ befassen sich hauptsächlich mit inhaltlichen Medienanalysen.11 Damit sind Fragen nach der Rolle der Berichterstattung für die Legitimierung von Auslandseinsätzen in der deutschen Bevölkerung verbunden.12 Fest steht, dass die Platzierung der Themen und Ereignisse Einfluss auf die Wahrnehmung und Diskussion der Auslandseinsätze nimmt. Nachrichtenproduktion lässt sich allgemein als stufenweiser Prozess der Auswahl und Präsentation von Ereignissen verstehen. Nicht jedes Ereignis 9

Ebenda, S. 15. Vgl. den Überblick zur Kriegsberichterstattung: Reeb (2006); zum Forschungsstand: Fröhlich/Scherer/Scheufele (2007). 11 Vgl. Scherer et al. (2005); Viehrig/Ostrowski (2007); Scheufele/Gasteiger (2007); Viehrig et al. (2008). 12 Vgl. Scherer et al. (2005); Großmann (2006) zum Image der Bundeswehr im KFOR-Einsatz. 10

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wird bekannt, nicht über jede bekannte Nachricht wird berichtet und nicht jeder Bericht wird angemessen herausgestellt. Letztendlich wird die Wirklichkeit nicht ‚naturgetreu‘ abgebildet, sondern medial konstruiert. Im folgenden Beitrag soll die Berichterstattung über Auslandseinsätze der Bundeswehr auf der Grundlage der medienwissenschaftlichen Studien darauf überprüft werden, – inwieweit die Interessen der beteiligten Akteure die Verfügbarkeit von Informationen über relevante Aussagen und Ereignisse beeinflussen, – wie der Journalismus diese (selektierten) Informationen zu medialen Themen und Aussagen verarbeitet und – welche Auswirkungen eine solche Berichterstattung auf den politischen Legitimations- und Entscheidungsprozess und die Akzeptanz der Einsätze in der Öffentlichkeit haben. Die Antworten auf die Leitfragen sollen Auskunft über die Möglichkeiten, Bereitschaften und Begrenzungen einer öffentlichen, auch kontrovers geführten Debatte um die Auslandseinsätze der Bundeswehr geben, die als Teil einer grundlegenderen Auseinandersetzung über eine sicherheitspolitische Kultur in Deutschland zu begreifen ist. Unter politischer Kultur wird hier „Art und Umfang politischer Kenntnisse, emotionaler Bindung an das und Bewertung des politischen Systems wie auch Art und Intensität politischen Handelns selbst“13 verstanden. Bezogen auf den Gegenstand geht es also um den Umgang von Politik, den Medien und der Öffentlichkeit mit der Sicherheitspolitik. In diesem Dreiecksverhältnis stellen die Massenmedien kommunikative Verbindungen her (Informationsfunktion). Des Weiteren setzen sie als Sinnstiftungsinstanzen eigene Beiträge in der öffentlichen Debatte (Meinungsbildungsfunktion). Gegenüber dem politischen System üben sie als ‚vierte Gewalt‘ eine Kontroll- und Kritikfunktion aus. Die folgende Analyse bezieht sich auf die an ein breites Publikum gerichteten Massenmedien. Die speziellen Medien der Bundeswehr, die hauptsächlich der Truppeninformation und der Öffentlichkeitsarbeit dienen, werden hingegen als Teil der Institution Bundeswehr verstanden.14 Sie sind wichtige Informationsquellen für den Journalismus. Insofern stellen sie hier eine intervenierende Variable auf die Berichterstattung dar. Die Rolle des Internets und seiner neuen Ausprägungen (Web 2.0) gewinnt für die Information und Kommunikation der Gesellschaft immer größere Bedeutung. Im militärischen Bereich bieten die sogenannten Milblogs neue 13 14

Reichel (1981), S. 320. Vgl. Beier (2006).

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Foren der Kommunikation und Information.15 Allerdings lässt sich auch für dieses Medium feststellen, dass es derzeit eher eine ergänzende und alternative Nachrichtenressource darstellt. Die dort behandelten Themen erhalten im öffentlichen Meinungsbildungsprozess erst dann Relevanz, wenn sie von den etablierten und akzeptierten Meinungsführermedien aufgegriffen werden.

II. Konstruktion der Auslandseinsätze durch die Medienberichterstattung Der journalistische Prozess der Nachrichtenproduktion unterliegt verschiedenen Einflüssen, die einerseits von außen auf das Mediensystem einwirken und andererseits im Journalismus selbst begründet liegen. Als wichtige externe Faktoren können hier politische, ökonomische und technologische Einflüsse gelten, während die Professionalität des Journalisten den bedeutendsten internen Faktor ausmacht. Die Medien treten im Rahmen der politischen Kommunikation in Wechselbeziehung zur Politik.16 Dabei sind Versuche von gegenseitiger Beeinflussung festzustellen. Letztendlich kann aber kein Bereich den anderen dominieren, vielmehr besteht zwischen ihnen ein symbiotisches Verhältnis zum beiderseitigen Nutzen. Demnach sind Medien sowohl Akteure als auch Instrumente in der politischen Kommunikation. Sie prägen die Umgebung, in der Politik gestaltet wird.17 Bezogen auf den Krieg bedeutet das, dass „viele militärische Konflikte der Zukunft [. . .] über die Medien ausgetragen und über die Medien mitentschieden werden“18 dürften. Das heutige Mediensystem wird jedoch auch auf einem globalisierten Markt von ökonomischen Interessen beeinflusst. Politische Nachrichten können oft schon aufgrund des Personalabbaus in kleineren oder mittelgroßen Redaktionen nur noch vordergründig bearbeitet werden.19 Eine hintergründige Berichterstattung muss sich gegenüber Tendenzen zur Personalisierung, Trivialisierung und Dramatisierung behaupten. Der Zwang zur technologisch begünstigten 15

Vgl. Dauber (2006). Military Blogs (Milblogs) werden insbesondere von Soldaten, anderen dem Militär nahe stehende Personen und/oder mit Bezug auf militärspezifische Themen verfasst. Wie allgemein bei Blogs erfolgt eine tagebuchartige Fortschreibung von Nachrichten, Erfahrungsberichten oder Diskussionsforen auf einer Website des Internet. 16 Vgl. Jarren/Donges (2006). 17 Vgl. Löffelholz (2007), S. 30. 18 Münkler (2006), S. 77. 19 Bezeichnend für diese Entwicklung ist die Kündigung der dpa-Informationsdienste durch die WAZ-Gruppe mit der Bemerkung, diese Informationen würden nunmehr die eigenen Redakteure erbringen, vgl. Spiegel Online (2008).

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Beschleunigung, Echtzeit-Präsentation und Tagesaktualität verstärkt die oberflächliche Berichterstattung. Rücksichtnahmen auf Einschaltquoten und Auflagehöhen schränken des Weiteren das journalistische Handeln ein.20 Diese Rahmenbedingungen wirken sich besonders in der Auslandsberichterstattung aus, die unter der massiven Ausdünnung ihres Korrespondentennetzes arg zu leiden hat.21 Innerhalb des journalistischen Systems setzt sich der Selektionsprozess von Ereignissen, über die berichtet wird, durch die Orientierung an Nachrichtenfaktoren fort. Themen werden nach journalistisch relevanten Merkmalen ausgewählt. Dieses Faktum birgt auch gesamtgesellschaftliche Brisanz: Denn nach Erkenntnissen der Agenda-Setting-Forschung sind Medien durchaus in der Lage, die Tagesordnung der politischen Themen zu bestimmen.22 Dies geschieht nicht nur durch die Intensität der Berichterstattung (Sequenz), sondern auch durch die Platzierung und Kontextualisierung des Themas (sogenanntes ‚Framing‘). Damit ist die Bestimmung von Deutungsmustern gemeint, die einem Gegenstand durch die Berichterstattung unterlegt werden. 1. Interessen der Akteure an Informationen über Auslandseinsätze Die Berichterstattung über Auslandseinsätze wird von Interessen unterschiedlichster Akteure – insbesondere der Medien, der Politik, des Militärs und der Öffentlichkeit – beeinflusst.23 Diese Interessen bestimmen den journalistischen Rechercheaufwand einerseits und die Auskunftsbereitschaft der politischen und militärischen Akteure andererseits. a) Journalismus Das prinzipielle Interesse des Journalismus an möglichst umfassender Information kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Der Aufwand, der tatsächlich betrieben wird, um an diese Informationen zu gelangen, hängt jedoch von den skizzierten Rahmenbedingungen im Mediensystem ab. Das Nachrichtensystem der Medien lässt sich organisatorisch in Redaktionen und Reporter unterteilen. In der Redaktion laufen computerunter20 21 22 23

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Jarren/Donges (2006), S. 372; Weischenberg/Malik/Scholl (2007), S. 356. Breckl (2006); Dreßler (2008); Hahn/Lönnendonker/Schröder (2008). Rhomberg (2009), S. 37. Reeb (2008c), S. 585.

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stützt die Meldungen der abonnierten Nachrichtenagenturen und die Berichte der auswärtigen Reporter ein. Die Kommunikationsmöglichkeiten des Heimat-Redakteurs machen ihn zum entscheidenden Gatekeeper, der nicht zwingend auf die Berichte der Reporter im Einsatzgebiet angewiesen ist.24 Da in den Redaktionen die Bundeswehr lediglich als eine (durchaus wichtige) staatliche Institution neben vielen anderen angesehen wird, kommt ihr regelmäßig keine herausragende Beachtung zu.25 Lediglich die überregionalen Zeitungen, Nachrichtenmagazine, Fachzeitschriften und einzelne öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten beschäftigen Fachjournalisten, die sich auf Sicherheitspolitik und Streitkräfte konzentrieren.26 Diese Redakteure verfügen über die entsprechenden Kontakte, um an Hintergrundinformationen von Politikern und Offizieren zu gelangen. Meistens bearbeiten aber auch die Fachjournalisten genauso wie ihre Kollegen zunächst nur die eingehenden Verlautbarungen und Meldungen. Untersuchungen zum Einfluss solcher PR-Maßnahmen belegen, dass die Berichterstattung teilweise bis zu zwei Dritteln auf solchen lancierten Pressemitteilungen basiert, die meist durch Nachrichtenagenturen übermittelt werden.27 Sogar ‚Frontberichte‘ über den Kosovo-Krieg und den Afghanistan-Krieg stützten sich großenteils auf diese offiziellen Vorgaben.28 Eine steuernde Funktion üben des Weiteren die ‚Mainstream-Medien‘ aus. Gehen sie auf Themen ein, folgen ihnen meistens auch andere Redaktionen.29 Darüber hinaus finden sich in den Lokalzeitungen Berichte über Einsätze der im regionalen Einzugsbereich der Leserschaft stationierten Truppenteile.30 ‚Frontreporter‘, die sich auf die Bundeswehr im Ausland spezialisiert haben, gibt es so nicht, allerdings verfügen einzelne Journalisten über entsprechende Erfahrungen.31 Erschwerend kommt die Gefährdungslage sogenannter Unilaterals in Krisengebieten hinzu, die im Allgemeinen als recht hoch 24

Vgl. Bulmahn (2008b), S. 152. Siehe dazu die empirischen Daten unter Abschnitt II.2. dieses Beitrags. 26 Dazu gehören Andreas Flocken für die NDR Info-Sendung „Das Forum: Streitkräfte und Strategien“ (halbmonatlich 30 Sendeminuten) sowie insbesondere Thomas Wiegold (Focus), Stephan Löwenstein (FAZ), Nina Grunenberg (Zeit) und Alexander Szandar (Der Spiegel). 27 Vgl. Jarren/Donges (2006), S. 280. 28 Vgl. Reeb (2002). 29 Vgl. Jarren/Donges (2006), S. 184, siehe dazu unten das Beispiel der „Totenschädel“-Berichterstattung. 30 Untersuchungen zur Lokalpresse liegen nicht vor. Im Irak-Krieg (2003) wurden die eingebetteten Reporter von Lokalmedien gezielt den Truppenteilen aus ihrem Verbreitungsgebiet zugeordnet. Die Berichterstattung über das ‚Leben im Felde‘ fiel entsprechend positiv aus, vgl. Weber (2005). 31 Z. B. Susanne Kölbl vom Spiegel. 25

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anzusehen ist.32 Die Journalisten sind von der logistischen Unterstützung, den Zugangsregelungen und dem Schutz durch das Militär weitgehend abhängig. Die Branche unterwirft sich daher dem ‚Besuchstourismus‘ anlässlich von Aufenthalten deutscher Politiker bei der Truppe und nutzt die vom Verteidigungsministerium organisierten Journalistenreisen ins Einsatzgebiet. Eigenständige Beobachtungen können ‚vor Ort‘ nur begrenzt gewonnen und journalistisch verarbeitet werden. b) Politik Die Politik möchte eine Berichterstattung vermeiden, die Zweifel an den beschlossenen Auslandseinsätzen in der Öffentlichkeit begründen oder verstärken könnte. Die Debatten um die Missionen im Kongo, vor der Küste des Libanon und in Afghanistan spiegelten eine geradezu schon neurotische Furcht der Politik vor Kritik wider.33 Verlautbarungen und Stellungnahmen von Politikern zur Bundeswehr im Auslandseinsatz unterliegen deshalb solchen Legitimationsmustern, die auf Akzeptanz in der Bevölkerung abzielen. In der Regel sind auch nur wenige Politiker (z. B. Mitglieder des Verteidigungsausschusses) umfassend informiert, ohne jedoch ihre Kenntnisse – etwa aufgrund vermeintlicher Geheimhaltungszwänge – öffentlich ausbreiten zu können.34 Der Informationsfluss wird von der Exekutive, d.h. vom Presseund Informationsstab im Bundesministerium der Verteidigung, gesteuert. c) Militär Streitkräfte demokratischer Gesellschaften unterliegen dem Primat der Politik. Folglich bestimmen die politischen Akteure auch die Richtlinien der Informationspolitik und machen dem Militär Vorgaben, nach denen es seine Presse- und Öffentlichkeitsarbeit auszurichten hat.35 In den Einsatzgebieten sind entsprechende Presse- und Informationszentralen (PIZ) eingerichtet worden.36 Dort ringen aber verschiedene Institutionen um das richtige Nachrichtenbild. So verfügen auch internationale Organisationen, verbündete Streitkräfte, zivile Hilfsorganisationen und Diplomaten über eigene 32

Vgl. Reporter ohne Grenzen (2008). Unilaterals sind Korrespondenten, die eigenständig in Krisen- und Kriegsgebieten recherchieren. 33 Vgl. Naumann (2008), S. 39. Naumann führt diese Angst auf eine fehlende Strategiefähigkeit der politischen Elite zurück. 34 Wenige deutsche Politiker versuchen die Öffentlichkeit umfassend zu informieren. Dazu gehört vor allem Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen), der auf seiner Homepage eigene Beobachtungen in den Einsatzgebieten darstellt. 35 Vgl. Reeb (2008b), S. 208; Löffelholz (2007), S. 28. 36 Vgl. Prietze (2005); Löffler (2006).

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Presseeinrichtungen.37 Letztlich möchte das Militär möglichst solche Berichte vermeiden, die die Durchführung eines Einsatzes beeinträchtigen oder gefährden könnten. Die militärische Pressearbeit erfolgt reaktiv und beschränkt sich auf autorisierte Auskünfte.38 Sogar das öffentlich zugängliche Publikations- und Onlinenetz der Bundeswehr, das als wichtige Informationsquelle für Geschehnisse in den Einsätzen zur Verfügung steht, dürfte sich für Journalisten in der Regel als ergiebiger erweisen.39 d) Gegnerische Gewaltakteure Eine herausragende Rolle nehmen im asymmetrischen Kampf mittlerweile die gegnerischen Gewaltakteure ein, um auf die öffentliche Meinung einzuwirken. Unter Ausnutzung moderner Kommunikationstechnologien und ohne Rücksichtnahme auf die Wahrheit gelingt es ihnen auf sehr effektive Weise, durch spektakuläre Berichte und Bilder (Anschläge, Entführungen, Opfer in der Zivilbevölkerung) in die deutsche Berichterstattung zu gelangen und dadurch die Debatte mit Themen zu besetzen, die die Bundesregierung vermeiden möchte.40 Die asymmetrisch agierenden Gegner bedienen sich eigener Printmedien, Rundfunkprogramme und Medienzentren, um in der internationalen Welt präsent zu sein. Besonders werden aber die Möglichkeiten des Internet genutzt, um die eigenen Botschaften weltweit verbreiten zu können. Dabei hat sich ein eingespielter Produktionsund Verbreitungszyklus etabliert, der von Propaganda-Netzwerken gesteuert wird. Er beginnt mit eigenen Videos über Gewaltdarstellungen oder Reden der Anführer, die in Websites integriert werden und über weitere Kanäle von Sympathisanten eine Verbreitung zunächst in hauptsächlich arabischen Medien und von dort in die westliche Welt finden. Die Reaktionen auf solche Berichte in den unabhängigen Medien werden dann wiederum in den eigenen Medien zurückgespiegelt.41 2. Relevanz, Inhalte und Formate in der Berichterstattung Auslandseinsätze haben sich zum zentralen Thema bei der Berichterstattung über die Bundeswehr entwickelt. Wie Scherer et al. in einer Unter37 Beispielsweise hat der im April 2008 gegründete Internet-Kanal NATO Channel TV (http://www.natochannel.tv) seinen thematischen Fokus auf Afghanistan gerichtet. 38 Die Rolle der Pressearbeit wird auch innerhalb der Bundeswehr zum Teil kontrovers diskutiert, vgl. dazu den Tagungsband von Ose (2008). 39 Vgl. Duchscherer (2008). 40 Vgl. Reeb (2008c), Loch (2007). 41 Vgl. Reeb (2008c), S. 590.

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suchung von Berichterstattungsmustern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der Süddeutschen Zeitung für die Jahre 1989 bis 2000 feststellten, finden sie seit der Somalia-Mission 1993 mehr Aufmerksamkeit als Fragen zur Struktur, Ausrüstung oder Finanzierung der Bundeswehr.42 Allerdings beschränkt sich das mediale Interesse an Auslandseinsätzen auf einzelne Phasen und Inhalte. Als leitend für Umfang und Auswahl einschlägiger Meldungen gelten die Nachrichtenfaktoren Neuigkeit, Anschlussfähigkeit (von Debatten und Ereignissen) sowie Dramatik.43 Dementsprechend steigt die Berichterstattung deutlich an, sobald neue Einsatzgebiete in die politische Debatte geraten. Das zeigte sich in besonderer Ausprägung im zweiten Halbjahr 2006, als mit dem Kongo und dem Nahen Osten Regionen in den Blickpunkt traten, die für Kampfverbände der Bundeswehr bisher politisch ausgeschlossen wurden. Entsprechend ausgeprägt war die Berichterstattung über die einsetzende Debatte, wie Viehrig und Ostrowski anhand der Auswertung von fünf großen Tageszeitungen über den KongoEinsatz 2006 feststellen konnten.44 Mit zunehmender Dauer nahm das Medieninteresse an diesen Einsätzen erkennbar wieder ab. Seit 2007 stellen die Berichte über die Situation in Afghanistan das überragende Bundeswehrthema dar. In den Fernsehnachrichten besaßen alle Berichte über die Lage in Afghanistan in der Jahresbilanz die dritthöchste Sendedauer.45 Sendebeiträge, die auf Verteidigungspolitik eingehen, machen ansonsten im Durchschnitt nur ein Prozent aus. Bei den News von RTL, einem von jungen Zuschauern gern gesehenen Fernsehprogramm, sind es sogar nur 0,1 Prozent.46 Dabei fallen bestimmte Schwerpunkte, aber auch blinde Flecken der Berichterstattung ins Auge. a) Einordnung in die innenpolitische Debatten Die Berichte über Auslandseinsätze werden durch die Medien schwerpunktmäßig in eine innenpolitische Debatte eingeordnet.47 Dabei handelt es sich um eine Elitediskussion, denn „das vermittelte Gespräch über die Bundeswehr findet maßgeblich zwischen Politikern, Bundeswehrangehörigen und Journalisten“48 statt. Allerdings stellten Scherer et al. fest, dass diese 42

Vgl. Scherer et al. (2005), S. 285. Vgl. Viehrig/Ostrowski (2007), S. 21. 44 Vgl. Viehrig/Ostrowski (2007), S. 9; zum Libanon-Einsatz Viehrig et al. (2008). 45 Vgl. Krüger (2008), S. 71. 46 Vgl. Krüger (2007), S. 69. 47 Vgl. Viehrig/Ostrowski (2007). 48 Großmann (2006), S. 100. 43

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Debatte erst mit einem großen zeitlichen Abstand seit Beginn des laufenden Einsatzes richtig einsetzt. Insbesondere das geringe Interesse der politischen Eliten führe dazu, dass erst kurz vor einer parlamentarischen Entscheidung die Berichterstattung ansteigt.49 Die mediale Aufbereitung der Debatte gewinnt immer dann an Intensität, wenn ein Dissens zwischen den politischen Akteuren besteht. Daher wird die Berichterstattung insbesondere in der überregionalen Presse als besonders kritisch wahrgenommen. Diese Kritik richtet sich in erster Linie an die Politiker. Dies führt dazu, dass Verteidigungsminister Franz Josef Jung zu den zehn Politikern gehörte, über die 2006 in den Fernsehnachrichten am häufigsten berichtet wurde.50 Die Soldaten werden dagegen von solcher Kritik ausgenommen und als Betroffene von Fehlentwicklungen (mangelnde Ausrüstung, unklares Mandat) dargestellt. Die Afghanistan-Berichterstattung stellt seit 2007 den innenpolitischen Streit um den Zweck des Einsatzes (Kampf oder Stabilisierung) und um die praktische Durchführung in den Vordergrund.51 Grundsätzlich werden mit dieser Debatte die Rolle von Militär, die deutschen Interessen in der internationalen Politik und die Ressourcen für den Militäreinsatz verknüpft. Ebenfalls findet in den Medien ein ‚Kampf um Worte‘ statt, mit denen die jeweilige politische Positionierung verbunden wird.52 b) Konzentration auf außergewöhnliche (negative) Vorkommnisse Ein zweiter Schwerpunkt in der medialen Deutung der Auslandseinsätze ergibt sich aus der Konzentration auf außergewöhnliche, meist negative Ereignisse im Einsatzgebiet. Dazu zählen die Tötung und Verletzung von Soldaten durch Anschläge und schwere Unglücksfälle in Afghanistan sowie das Verhalten der Bundeswehr bei den Unruhen im Frühjahr 2004 im Kosovo oder der Umgang von ISAF-Soldaten mit aufgefundenen Totengebeinen.53 Die intensive Berichterstattung über die Verfehlungen von Ausbildern am Standort Coesfeld Ende 2004 löste kurzfristig in der Qualitätspresse eine 49

Vgl. Scherer et al. (2005), S. 294. Vgl. Krüger (2007), S. 81. 51 Zentrale Themen sind: Verlegung von Tornado-Kampfflugzeugen, Übernahme der QRF, Erweiterung des Einsatzraumes in den Süden, Beteiligung an AWACSFlugzeugen. 52 Gestritten wird um die Verwendung der Begriffe ‚Krieg‘, ‚Kampf‘, ‚gefallene‘ und ‚verwundete‘ Soldaten. In der Berichterstattung wird seit August 2008 von ‚gefallenen Soldaten‘ der Bundeswehr gesprochen, was den Afghanistan-Einsatz begrifflich in die Nähe eines ‚Krieges‘ rückt. 53 Vgl. Bulmahn (2008a), S. 157. 50

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Debatte über ein verändertes Bild des Soldatenberufs aus. Auch reflektierten Reportagen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen die Bedingungen des soldatischen Einsatzes. An diese Berichterstattung knüpften die Medien im Oktober 2006 mit großem Interesse nach der Veröffentlichung der so genannten Totenschädel-Fotos an. Die Diskussion spiegelte eine Aufgeregtheit in Politik und Medien, weniger einen sicherheitspolitischen Diskurs über den Einsatz deutscher Soldaten wider. Die aufgeführten Beispiele machen auch deutlich, dass die Bundeswehr betreffende Ereignisse im Wesentlichen durch das Zusammenspiel von Leitmedien und prominenten Politikern in den Mittelpunkt des Interesses geraten. Die Totenschädel-Fotos aus Afghanistan konnten letztlich nur deshalb die Pressekonferenz zur Vorstellung des Weißbuches 2006 in den medialen Hintergrund drängen, weil sie in der Bild-Zeitung auf der ersten Seite abgedruckt wurden.54 c) Blinde bzw. halbblinde Flecken Sicherheitspolitisch wesentlich brisantere Themen wie die Tätigkeit der Quick Reaction Force (QRF) werden dagegen kaum medial reflektiert. Bereits die beiden Kampfoperationen unter Beteiligung von Bundeswehreinheiten im Herbst 2007 und im Frühjahr 2008 wurden in den deutschen Medien nicht wahrgenommen.55 Vermutet werden kann, dass ein journalistisches Interesse über diese Aktivitäten zu berichten, zwar existiert, aber keinerlei verwertbare Informationen zur Verfügung stehen.56 Auch Fortschritte in der alltäglichen Konfliktkonsolidierung und im Wiederaufbau von Infrastruktur, dem Gesundheitswesen oder von Bildungsstätten mit Hilfe der Bundeswehr finden selten Eingang in die Medien. Beispielsweise wird über den Beitrag deutscher Streitkräfte zum Friedensprozess auf dem Balkan kaum noch berichtet. Der graue Alltag erscheint wenig interessant.57

54

Vgl. ebenda, S. 157. Eine entsprechende Recherche in der Datenbank LexisNexis ergibt, dass die „Operation Harakate Yolo II“ 25 mal in Zeitungen erwähnt wurde, die Operation „Kares“ nur einmal (bei Spiegel online). 56 Das lässt sich aus den Reportagen für die Sendung „Streitkräfte und Strategien“ im Forum von NDR Info schließen (z. B. vom 31.05.2008). Das norwegische Fernsehen hatte dagegen einen Bericht über die frühere QRF mit Hilfe der eigenen Truppe ausstrahlen können (http://www1.nrk.no/nett-tv/indeks/133109, Abruf 17.02.2009). 57 Vgl. Bulmahn (2008b), S. 155. 55

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III. Einfluss der Berichterstattung auf Öffentlichkeit und Politik Die Weiterentwicklung des Kommunikationssystems von einem ‚Transporteur von Informationen‘ in den Phasen des politischen Prozesses zu einem gleichermaßen eigenständigen wie unerlässlichen Akteur wirft die Frage nach den Wechselbeziehungen auf. Inwieweit beeinflussen Medien die sicherheitspolitischen Entscheidungen? Welche Rolle spielt dabei die Bevölkerung? Nutzen die politischen Akteure die Medien, um damit die öffentliche Meinung zu lenken? Sind schließlich andere Umweltfaktoren („Weltöffentlichkeit‘, Akteure im internationalen System) oder weitere Spieler innerhalb des politischen Prozesses zu beachten? Diese Fragen weisen auf die komplexe Struktur im Akteursdreieck von Medien, Öffentlichkeit und (widerstreitende) politische Akteure hin.58 Der wissenschaftliche Erkenntnisstand reicht bisher nicht, um generalisierende Antworten auf diese Fragen geben zu können.59 Dennoch wird der Zusammenhang von Medienberichterstattung und außenpolitischem Entscheidungsprozess bei humanitären Einsätzen unter dem Begriff CNN-Effekt diskutiert.60 Er tritt nach gängiger Auffassung dann ein, wenn sich angesichts beschleunigter Berichterstattung über ein sicherheitspolitisches Problem der Entscheidungs- und Zeitdruck auf die politischen Akteure so stark aufgebaut hat, dass sie sich zum Handeln genötigt sehen. Die Forschung konnte zwar nachweisen, dass wirkungsstarke Fernsehbilder über humanitäre Katastrophen die Öffentlichkeit aufzuschrecken vermögen. Aber nur in Einzelfällen (Somalia 1993, Mozambique 2000) folgten darauf politische Entscheidungen. Die Berichterstattung wirkt sich zunächst im Agenda-Setting aus. Da alternative Informationsquellen in der Regel fehlen, prägt die Berichterstattung das Bild der Öffentlichkeit vom Auslandsengagement der Bundeswehr.61 Damit diese Einsätze von einem größeren, für Sicherheitspolitik eher uninformierten und uninteressierten Publikum erfasst werden, muss eine bestimmte Wahrnehmungsschwelle überschritten sein.62 Erst dann wird die Thematik als bedeutsam betrachtet. Die monatlichen Befragungen des Politbarometers durch die Forschungsgruppe Wahlen belegen, dass das Thema ‚Terror, Krieg und Frieden‘ erst nach den Anschlägen am 11. September 2001, vor und während des Irak-Krieges 2003 sowie nach weiteren 58 59 60 61 62

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Rattinger (2007), S. 323. zur öffentlichen Meinung Biehl/Jacobs (2009), S. 234 ff. Hammerschmidt (2007), Sarcinelli/Menzel (2007), S. 331. Bulmahn (2008a), S. 164. Bulmahn (2008b), S. 158.

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spektakulären Terrorakten in der deutschen Bevölkerung für wenige Monate als besonders wichtig angesehen wurde. Im Übrigen misst die Öffentlichkeit dieser Thematik nur geringe Relevanz bei. Soziale Angelegenheiten stehen deutlich im Vordergrund.63 Die sporadische Berichterstattung hinterlässt bei den meisten Bürgern den Eindruck, über Auslandseinsätze, ihre Kontexte und Verläufe nicht umfassend informiert zu sein.64 Ihr Bild wird vielmehr durch die Berichte über meist außergewöhnliche, negative Ereignisse oder kritische Entwicklungen im Ausland geprägt. Trotz dieser Wissenslücke führt ein grundlegendes Vertrauen in die Bundeswehr zur Akzeptanz der Auslandseinsätze, allerdings bei Differenzierungen und Einschränkungen.65 So bringt die humanitäre Rahmung einer Einsatzbegründung in der Bevölkerung eine weit höhere Zustimmung als eine politisch-militärische Rahmung.66 Vorbehalte bestehen bei den Missionen, die einen militärischen Charakter mit Kampfauftrag aufweisen. Zum Weiteren nimmt die Zustimmung zeitweise ab, wenn konzentriert über Anschläge auf Soldaten berichtet wird. Besonders während eines laufenden Einsatzes wirken sich Bilder über Tod und Elend (kurzfristig) auf das Meinungsbild aus,67 ohne jedoch nachhaltigen Einfluss zu hinterlassen.68 Da solche Ereignisse häufig Anlass für Umfragen geben, nimmt die Zustimmung für den Auslandseinsatz zwar kurzfristig ab. Ohne diese medialen Einflüsse liegen die Akzeptanzwerte aber höher. Die Gewaltakteure in den Einsatzgebieten nutzen solche Effekte aus, um gezielt mit Gräuelbildern die politischen Legitimationsmuster in der westlichen Öffentlichkeit in Frage zu stellen.69 Neben dem Bekenntnis zum Multilateralismus prägte bislang eine ‚Kultur der (militärischen) Zurückhaltung‘ Entscheidungen der deutschen Politik über Auslandseinsätze. Die bisherigen Begründungen für Entsendungen der Bundeswehr basierten eher auf ethischen Kategorien (humanitäre Hilfe, Demokratie und Menschenrechte), 63 Die Daten des Politikbarometers sind für Forschungszwecke abgelegt beim Leibnitz-Institut für Sozialwissenschaften, vgl. Gesis (2008). 64 Vgl. zuletzt Bulmahn (2008c), S. 26. 65 Vgl. ebenda, S. 27. 66 Vgl. Scheufele/Gasteiger (2007), S. 544. 67 Vgl. zur Macht der Bilder: Reeb (2008c), S. 592. 68 Vgl. Bulmahn (2008a), S. 160. 69 Im Sommer 2007 sprach der Pressesprecher von Außenminister Frank-Walter Steinmeier von einem Medienkrieg, den die Taliban in Afghanistan gegen Deutschland und die Nato führen würden. Damals sorgten Informationen der Gotteskrieger über die Umstände zweier entführter deutscher Ingenieure für Aufregung. Die Medien übernahmen die Meldungen. Tatsächlich waren die Taliban an der Aktion gar nicht beteiligt.

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während der militärische Charakter (Aufstandsbekämpfung) marginalisiert wurde. Politischer Druck auf das Regierungshandeln entsteht folglich dann, wenn die Medienberichterstattung die öffentliche Aufmerksamkeit auf die – bislang eskamotierten – militärischen Aspekte (Kampf, Töten, Sterben) lenkt.70 Anstatt sich dieser Kontroverse zu stellen, versucht die Regierung die Debatte um neue oder veränderte Mandate bis zur Grundsatzentscheidung zu vermeiden oder zu verzögern.71

IV. Fazit Das Interesse im Journalismus an einer Berichterstattung über Auslandseinsätze der Bundeswehr besteht durchaus. Angesichts begrenzter Ressourcen bei gleichzeitig hohem Arbeitsaufwand greifen die Redaktionen jedoch häufig auf die Unterstützung der Bundeswehr-Pressestellen zurück. Damit entsteht eine eindeutige Dominanz der Exekutive auf die Informationssteuerung. Die gegnerischen Gewaltakteure im Krisengebiet versuchen ihrerseits mit Berichten und Bildern in die westlichen Medien zu gelangen. Die Bundeswehr wird mittlerweile in der Berichterstattung fast ausschließlich mit Auslandseinsätzen in Verbindung gebracht. Große mediale Aufmerksamkeit besteht aber meist nur zu Beginn eines neuen Einsatzes und bei außergewöhnlichen Ereignissen. Der Fokus wird auch mehr auf die innenpolitischen Debatten gerichtet, insbesondere dann, wenn zwischen den politischen Eliten ein Dissens in Mandatsfragen besteht. Der Bundeswehralltag, militärische Operationen im Einsatzgebiet und die Rolle des Soldaten bleiben weitgehend in den Berichten ausgeblendet.72 Eine solche Berichterstattung kann sich nicht förderlich auf die Ausbildung einer sicherheitspolitischen Kultur auswirken. Sie ist nicht umfassend und hintergründig genug, um mit der Öffentlichkeit in einen informierten Diskurs zu treten. Das Thema Auslandseinsätze kommt somit über eine Elitedebatte nicht hinaus. Befürchtungen der Politik, für ihre Gründe keine breite öffentliche Zustimmung zu erhalten, verhinderten bisher eine offene sicherheitspolitische Debatte über die Rolle der Bundeswehr. Eher sind es die Kommentatoren selbst, die eine solche Diskussion regelmäßig anmahnen. 70

Vgl. Rattinger (2007), S. 317. Symptomatisch für diese Politik steht der Beschluss des Deutschen Bundestags auf Antrag der Bundesregierung, das ISAF-Mandat auf 14 Monate zu verlängern (BT-Drs. 16/10474 vom 07.10.2008), um die Debatte über das Folgemandat bewusst aus dem Bundestagswahlkampf 2009 herauszuhalten. 72 Interessanterweise konnte ein Fernsehfilm der ARD die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Belastungen der Soldaten nach negativen Erlebnissen im Einsatz (Tod, Verwundung) lenken (ARD vom 02.02.2009: „Angriff auf die Seele“). 71

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Auslandseinsätze und die Sorge für gerechten Frieden Ein Blick in die aktuelle Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland Von Volker Stümke „Kriege sollen nach Gottes Willen nicht sein“1 – mit diesem ethischen Imperativ bringt der Ökumenische Rat der Kirchen auf seiner GründungsVollversammlung 1948 in Amsterdam eine Einsicht zur Sprache, die angesichts der beiden Weltkriege und ihrer Gräuel evident gewesen ist. Kurz zuvor, im Jahre 1945, hat auch die Charta der Vereinten Nationen für ihre Mitglieder eine friedliche Beilegung etwaiger internationaler Streitigkeiten (in Art. 2.3.) vorgeschrieben. Dabei sind die in Kapitel VI entwickelten Verfahren auf eine friedliche Beilegung etwaiger internationaler Streitigkeiten ausgerichtet. Kapitel VII sieht für den Fall von Friedensbedrohungen oder gar Angriffshandlungen ein weites Spektrum ökonomischer und militärischer Sanktionen vor. Das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ soll zwar keineswegs beeinträchtigt, wohl aber friedensverträglich konditioniert werden, indem es befristet wird, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“ (Art. 51), zudem müssen solche Maßnahmen der Selbstverteidigung dem Sicherheitsrat angezeigt werden. Diese Überzeugung beansprucht samt den aus ihr gezogenen politischen und rechtlichen Konsequenzen normative Geltung über die historische Situation hinaus. Nicht nur die Erfahrung der Kriege und die Einschätzung, dass weitere Kriege ebensolche Gräuel anrichten werden, standen im Hintergrund dieser Formulierung, sondern ebenso politische und philosophische Einsichten über die Bedingungen der Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens. Andererseits gehört es zur Grundsituation der Ethik, dass vorgegebene Normen – sei es in der harten Form von Gesetzen oder in der weichen Form der Sitten – fraglich werden können, weil sich die historischen Bedingungen geändert haben, so dass die vorgegebenen Handlungs1 Bericht der Vierten Sektion der Gründungs-Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948 (1982), S. 156.

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empfehlungen nicht mehr passen. In einer solchen Situation sind ethische Erwägungen unabdingbar, weil einerseits veränderte Bedingungen an sich noch keine Handlungsanweisungen enthalten – das wäre der berühmte naturalistische Fehlschluss, also der zum Scheitern verurteilte Versuch, aus dem Sein (den historischen Fakten) ein Sollen (geltende Normen) hervorzuzaubern. Andererseits wäre es dogmatistisch, ohne Prüfung und Plausibilierung die alten Normen festzuschreiben, denn sie werden ja in ihrer vorliegenden Gestalt augenscheinlich den geänderten Herausforderungen nicht mehr gerecht. Ob an den Normen festgehalten werden soll, ob sie modifiziert, geändert oder ob sie sogar durch neue Vorschriften ersetzt werden sollen, ist also strittig und kann jedenfalls im Bereich der politischen Ethik nur im Diskurs geklärt werden. In einer solchen Findungsphase befindet sich derzeit die politische Ethik hinsichtlich der für sie zentralen Frage nach Frieden und Krieg. Auf der einen Seite steht die oben genannte normative Erkenntnis, dass Kriege nicht sein sollen. Ihr entspricht der Paradigmenwechsel vom Krieg zum Frieden, wie er in der Friedensforschung vollzogen worden ist: „si vis pacem, para pacem“2 – der Frieden und nicht der Krieg ist demnach der Leitbegriff, an dem sich die politische Ethik und ebenso die internationale Politik orientieren sollen. Auch das Hirtenwort der deutschen Bischöfe „Gerechter Friede“ (2000) und die Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007) wissen sich dieser Grundeinsicht verpflichtet und haben dementsprechend das Leitbild des gerechten Friedens an die Stelle der (traditionellen) Lehre vom gerechten Krieg gesetzt (EKD 1 und GF 1)3. Andererseits kommt es heute vermehrt zu Phänomenen, die von den normativen Vorgaben nicht direkt erfasst werden, wie etwa die „neuen Kriege“4, (insbesondere Landesgrenzen überschreitende Bürgerkriege und ethnische Säuberungen), zusammengebrochene Staaten und nicht staatliche Kämpfer (bspw. Warlords samt Privatarmeen oder auch Terroristen). Auslandseinsätze sind auch für die Bundeswehr inzwischen Realität geworden, sie sind neben die Aufgabe der Landesverteidigung getreten und fordern – pragmatisch einsichtig – entsprechende Beachtung, sollen sie militärisch erfolgreich durchgeführt werden können. Damit geht allerdings die 2

Senghaas (1995), S. 14. Eine Vorform dieser prägnanten Formulierung wurde im Liberalismus des 19. Jahrhunderts formuliert: „si vis pacem, para libertatem et iustitiam“ – vgl. Czempiel (1998), S. 165 f. 3 Auf die beiden Denkschriften wird im Folgenden im Text durch die Kürzel GF (für Gerechter Friede) und EKD (für Aus Gottes Frieden leben) verwiesen. Es folgt die Angabe des Abschnitts. Hervorhebungen der Texte (wie Kursivschrift) werden bei Zitaten übernommen. 4 Vgl. dazu Kaldor (2007) und Münkler (2002).

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Gefahr einher, dass solche pragmatischen Erfordernisse ständig wachsende Bedeutung erlangen und dabei die ethische Frage übertönen, ob bzw. wann solche Einsätze normativ geboten, erlaubt oder verboten sind. Wie solche ethischen Fragen lauten können, soll exemplarisch und plakativ veranschaulicht werden: Reichen die vorgegebenen Normen namentlich des Grundgesetzes und des Völkerrechts aus, um diese Frage zu beantworten? Stellen Auslandseinsätze schlicht die Missachtung der territorialen Integrität eines anderen Landes dar und sind sie daher im Rückgriff auf Art. 2.4. der UNCharta5 abzulehnen? Oder müssen diese Normen modifiziert, an die neuen Herausforderungen angeglichen werden? Müssen also bspw. die Bestimmungen über den Sicherheitsrat reformuliert und das Verhältnis von individuellen Menschenrechten und staatlicher Souveränität geklärt werden? Oder sind die Normen überholt, so dass man sich neu über politisches Handeln auf internationaler Ebene verständigen muss? Hat also die Fixierung auf die Nationalstaaten ihre Zeit gehabt, die aber nunmehr abläuft und durch die Epoche der Globalisierung abgelöst wird? Es kann von der Bundeswehr nicht erwartet werden, hier Antworten zu geben. Aber es darf auch nicht dazu kommen, solche Fragen angesichts des pragmatischen Drucks, Aufträge angemessen zu erfüllen, beiseite zu legen. Vielmehr muss die Frage, wie die Auslandseinsätze der Bundeswehr ethisch zu beurteilen sind, gestellt werden. Mit Blick auf die Ethik folgt daraus die Rückfrage, ob sie Kriterien bereit hält, mit denen eine ausstehende Bewertung plausibiliert und dann auch überprüft werden kann. Auf diese Weise wird die Eingangsthese konkretisiert, dass wir uns in einer ethischen Findungsphase bewegen. Die aufgeworfenen Fragen sollen nunmehr an die Denkschrift der EKD von 2007 gerichtet werden, denn die evangelische Kirche ist unstrittig eine wichtige normative Instanz in Deutschland. Dabei wird zuerst der Gedankengang der Denkschrift kurz vorgestellt, sodann werden die beiden zentralen Begriffe „Recht“ und „Sicherheit“ mit Blick auf die Auslandseinsätze analysiert und am Ende wird bilanziert, welchen Ertrag diese Analyse für die aufgeworfenen Fragen erbracht hat.

I. Der Gedankengang der Denkschrift a) Die Denkschrift ist übersichtlich in vier Kapitel gegliedert. Zuerst werden aktuelle Friedensgefährdungen differenziert aufgelistet. Näherhin wird auf sozioökonomische Probleme, Staatsversagen, zunehmende Waffen5 Art. 2.4. der UN Charta lautet: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“.

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gewalt, kulturelle sowie religiöse Gefährdungspotentiale und schließlich die Veränderung der internationalen politischen Machtverteilung verwiesen. Diese Bedrohungen konkretisieren die Eingangsthese der Denkschrift, dass von einer neuen Weltunordnung auszugehen sei (EKD 9). Vor allem aber verdeutlichen sie, dass nicht nur und nicht einmal primär die militärischen oder im engeren Sinne sicherheitspolitischen Aspekte die gegenwärtige Lage prägen und den Frieden gefährden. Dementsprechend lässt sich der Frieden nicht durch die Konzentration auf den Krieg bzw. dessen Vermeidung sichern, sondern er muss eigens thematisiert werden. Dazu zählt auch, die genannten Faktoren politisch, aber nicht (vorrangig) militärisch, zu bearbeiten und zu entschärfen. Armut und Umweltverschmutzung gefährden den Frieden, sind aber mit militärischen Maßnahmen weder zu verhindern noch zu bekämpfen. Schon die Problemanalyse zeigt also, dass sich die EKD paradigmatisch den aktuellen Einsichten der Friedensforschung verpflichtet weiß. Mit Blick auf diese Problemlage werden im zweiten Kapitel die normativen Grundlagen evangelischen Friedensverständnisses entfaltet. Diese Korrelation wird zwar nicht eigens hervorgehoben, wohl weil die hermeneutischen Implikationen innerhalb der evangelischen Theologie umstritten sind. Andererseits besteht Konsens, dass sich eine Friedensdenkschrift auf aktuelle Problemstellungen zu beziehen und sie folglich zunächst einmal darzulegen hat (EKD 8). Dieser faktischen Lage wird nun ein anderer Indikativ entgegengesetzt: der in Christus gestiftete Frieden Gottes als eine Realität, die zu vergegenwärtigen und zu bezeugen, aber nicht von (Christen-) Menschen erst zu schaffen ist (EKD 37). Im Anschluss an die Vergegenwärtigung des Friedens im Gebet und in der kritischen Selbstreflexion werden die Friedenserziehung, der Schutz des Gewissens und die Arbeit für Frieden und Versöhnung als Aufgaben der Christen erläutert. Damit wird der Frieden nicht nur als politisches Ziel, sondern auch als Leitbegriff für die Kultur und für den Einzelnen entfaltet; auf diese Weise konkretisiert die EKD den Anspruch, paradigmatisch vom Frieden her zu denken (EKD 73). Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten: Der Denkschrift folgend zeigen Problemanalyse wie christlicher Glaube, dass Frieden mehr meint als die Abwesenheit von Krieg, die durch militärische Mittel zu erreichen und zu erhalten sei – und dass dieses Mehr eben nicht nur als eschatologische Hoffnung zu fassen (und dann politisch als nicht realisierbar bei Seite zu schieben) ist, sondern dass Frieden auch gesellschaftliche, kulturelle und individuelle Dimensionen einschließt, deren Verwirklichung schon heute eine Herausforderung darstellt. Mit Blick auf die Leitfrage nach den ethischen Bewertungskriterien für die Auslandseinsätze ergibt sich die Mahnung, sich der einseitigen Zuspitzung dieser Fragestellung bewusst zu bleiben.

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Die Frage, wie dieser Frieden, der als politisches Paradigma vorgegeben und vom christlichen Glauben her konkretisiert worden ist, politisch umgesetzt werden kann, markiert das Thema des dritten Kapitels der Denkschrift. Hier wird folgende These vertreten: „Das ethische Leitbild des gerechten Friedens ist zu seiner Verwirklichung auf das Recht angewiesen“ (EKD 85). Dabei wird das Recht zunächst als Schnittmenge der Forderungen politischer Ethik und der Notwendigkeiten angesichts realer Friedensgefährdungen verstanden: Ethische Forderungen müssen in Rechtsform gegossen werden, damit sie (zumal in einer globalisierten und pluralistischen Welt) politisch wirken können6. Indem dieses Recht jedoch näherhin als Völkerrecht etabliert werden muss, um den internationalen Implikationen zu entsprechen, wächst es zu einer eigenständigen Größe neben den ethischen Forderungen und den politischen Akteuren auf, die auf dieser Ebene zunächst als Staaten zu identifizieren sind. Denn das Völkerrecht schränkt die staatliche Souveränität ein, ohne einen anderen Souverän (bspw. einen Weltstaat) zu etablieren. Darüber hinaus, also neben einer gewaltaversen Regulierung staatlicher Beziehungen, soll das Völkerrecht individuelle Menschenrechte, kulturelle Eigenheiten und das klassische sozialethische Kriterium der Gerechtigkeit berücksichtigen, so dass es in sich spannungsgeladen ist. Auf diese Weise sollen die Dimensionen des Friedens nicht bei der Realisierung reduziert, sondern vielmehr als Desiderate an das Völkerrecht delegiert werden. Integraler Bestandteil des Rechts ist seine Durchsetzbarkeit – und damit rücken der Aspekt einer möglichen Erzwingungsgewalt sowie die ethische Frage nach den Grenzen ihrer Erlaubtheit in den Blick (EKD 98). Diese Frage wird von der Denkschrift zunächst auf der Ebene ethischer Theoriebildung traktiert, indem die Lehre vom gerechten Krieg angesichts des etablierten Paradigmas vom gerechten Frieden zurückgewiesen, ihre Kriterien jedoch in leicht modifizierter Form für eine „Ethik rechtserhaltender Gewalt“ (EKD 102) in Anschlag gebracht werden. In einem zweiten Schritt wird der militärische Gewaltgebrauch dezidiert untersucht und ethisch begrenzt – diese Ausführungen werden im folgenden Kapitel vertieft, weil sie sich auch mit den Auslandseinsätzen beschäftigen. Das vierte Kapitel der Denkschrift formuliert die politischen Friedensaufgaben und konkretisiert damit die inhaltlichen Vorgaben aus Realität und christlicher Ethik, die auf dem Wege des Rechts bearbeitet und gelöst werden sollen (EKD 124). Neben dem allgemeinen Plädoyer für die Wahrnehmung einer europäischen Friedensverantwortung werden folgende konkrete 6

An dieser Stelle besteht weitgehende Übereinstimmung mit der Forderung der katholischen Bischöfe nach „einer internationalen Rechtsordnung mit Strukturen, die es ermöglichen, das Recht durchzusetzen“ (GF 64).

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Aufgaben entfaltet: Die universalen Institutionen sollen gestärkt, Waffenarsenale reduziert, Instrumente ziviler Konfliktbearbeitung demgegenüber ausgebaut und die Konzepte menschlicher Sicherheit (human security) sowie menschlicher Entwicklung (human development) verwirklicht werden. Diese beiden Konzepte tragen das Achtergewicht, was in der Zusammenfassung noch einmal herausgestrichen wird: „Staatliche Sicherheits- und Friedenspolitik muss von den Konzepten der ‚Menschlichen Sicherheit‘ und der ‚Menschlichen Entwicklung‘ her gedacht werden“ (EKD 197). Weil der Sicherheitsbegriff zum klassischen Repertoire militärischer Argumentation zählt, kommt seiner konzeptionellen Modifikation für die hier gestellte Leitfrage zentrale Bedeutung zu. Das dritte Kapitel dieses Beitrags kommt auf diesen Punkt zurück. b) Um das Selbstverständnis der Denkschrift erfassen zu können, ist nunmehr der Blick auf ihr Anliegen und ihre Selbstverortung angeraten. Folgende Passage aus dem Vorwort gibt hier näher Auskunft: „In Denkschriften soll nach Möglichkeit ein auf christlicher Verantwortung beruhender, sorgfältig geprüfter und stellvertretend für die ganze Gesellschaft formulierter Konsens zum Ausdruck kommen. Es ist daher von großer Tragweite, dass die Kammer der EKD für Öffentliche Verantwortung den Entwurf des vorliegenden Textes einstimmig verabschieden konnte und dass auch der Rat der EKD ihn einstimmig bejaht hat“7.

Die bestimmende Rolle, die hier dem Konsens zugewiesen wird, verdient Beachtung. Es wäre zu kurz gegriffen, hierin nur den Rückgriff auf das in der politischen Debatte etablierte Modell einer Diskursethik zu erblicken, die ebenfalls auf den Konsens der Beteiligten abhebt, weil nur so das notwendige Fachwissen integriert und eine selbstbestimmte Politik realisiert werden kann. Darüber hinaus deutet das Zitat an, dass innerhalb der evangelischen Kirche diese Übereinstimmung nicht als selbstverständlich gilt. Schon die Herkunft der Mitglieder der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD aus sehr unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft weist darauf hin, dass hier mit Differenzen der politischen Einschätzung, der ethischen Argumentation und der persönlichen Überzeugungen zu rechnen ist, die – angesichts des für die evangelische Kirche bestimmenden Prinzips des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen – nicht durch kirchenleitende Stellungnahmen nivelliert oder entschieden werden dürfen. Die Unmittelbarkeit jedes Christen zu Gott, die sich nicht nur im Gebet und im Glauben, sondern auch in den „guten Werken“ manifestiert, kann und darf nicht hierarchisch zurückgenommen oder relativiert werden8. Der Konsens ist somit 7

EKD Vorwort S. 8 (nicht in die Nummerierung einbezogen). Daher sollte der Unterschied an dieser Stelle zum Hirtenwort der deutschen Bischöfe nicht verwundern. Sie gehen davon aus, dass die politischen Gefährdungen 8

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der Weg, auf dem sich evangelische Christen über die ethischen Implikationen ihres Glaubens und über deren politische Umsetzung verständigen. Neben der Entsprechung zur Diskursethik und der Beachtung des Theologoumenons vom allgemeinen Priestertum hat die Ausrichtung auf den Konsens noch eine dritte Konnotation. Um den Frieden zu realisieren, wird man weder mit Forderungen noch mit autoritären Vorgaben, sondern ausschließlich durch ein gemeinsam getragenes Vorgehen etwas erreichen können – wenngleich wohl nur mit kleinen Schritten. Aber hängt die Nachhaltigkeit politischer Maßnahmen und folglich rechtlicher Bestimmungen nicht an der individuellen Akzeptanz? Kann man friedensförderliche Maßnahmen gegen die Überzeugung der Menschen einfordern? Für die EKD soll der betonte Konsens demnach dabei helfen, den Forderungen Nachdruck zu verleihen, weil sie sich innerhalb der beteiligten Gremien als tragfähig erwiesen haben, so dass angesichts ihrer repräsentativen Zusammensetzung wohl auch in unserer Gesellschaft Zustimmung erhofft werden darf. In einer demokratischen Gesellschaftsordnung sind alle Bürger aufgerufen, über den Einsatz der eigenen Streitkräfte (zumal im Ausland) nachzudenken und zu einer Position zu gelangen. Der stellvertretend formulierte Konsens der Denkschrift ist also nicht nur inhaltliche Richtungsangabe, sondern auch Zeichen, diesen Konsens gesellschaftlich zu etablieren oder zu modifizieren9. „einer umfassenden Zielperspektive [bedürfen], die nicht nur der Politik eine überzeugende Richtung weist, sondern vor allem die Menschen und Völker zu begeistern und mitzureißen vermag“ (GF 8). Diese Zielperspektive möchten die Bischöfe – selbstverständlich von ihren sozialethischen Prinzipien her – vorstellen und in einen politischen Diskurs einbringen (GF 9). Dass Politik auf Diskurs und Konsens angewiesen ist, halten die katholische wie die evangelische Denkschrift fest. Der Unterschied besteht darin, ob die sozialethischen Prinzipien des christlichen Glaubens bzw. der Kirche eindeutig zu politischen Forderungen übersetzt werden können, so dass nur deren Umsetzung strittig und somit auf Konsensbildung angewiesen ist, wie es das Hirtenwort nahe legt, oder ob nicht diese Strittigkeit schon bei der Übersetzungsarbeit beginnt, was die Denkschrift der EKD betont. Dieser Unterschied spiegelt sich auch im Aufbau des Hirtenwortes wider: Es beginnt nach einer kurzen Einleitung mit der Darlegung des biblischen Befundes als der normativen Grundlage, aus der die notwendige Zielperspektive hergeleitet wird. Dabei wird der Frieden negativ als Gewaltfreiheit und positiv als Gerechtigkeit beschrieben und in die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen eingebettet. Der Frieden dient auf beiden Wegen zur Überwindung der Sünde und der Gewalt wie zum Aufbau versöhnten Zusammenlebens. Allerdings gibt es ein komparativisches Gefälle: Zum „Dienst für den Frieden aller gehört es, sich auch im Rahmen einer gewaltbewehrten Friedensordnung für jenes Mehr an Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit und Versöhnung einzusetzen, das zu erfahren ihnen [i. e. den Christen] geschenkt wurde, und zwar wo und wann immer dies möglich ist“ (GF 55). 9 Mit Recht weist Ackermann (2008) darauf hin, dass dieser Konsens angesichts des „wohlwollenden Desinteresses“, das Bundespräsident Horst Köhler der deutschen Gesellschaft gegenüber der Bundeswehr attestierte, auch ein politisches Signal

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II. Das Recht als notwendige Realisierungsbedingung gerechten Friedens a) Militärische Gewalt wird im dritten Kapitel der Denkschrift nur durch eine doppelte Vermittlung als vereinbar mit dem gerechten Frieden angesehen. Die Realisierung des Friedens erfolgt nicht als Machtsetzung, sondern (1) über das Recht, zu dem konstitutiv auch die Durchsetzbarkeit gehört. Damit ist auch massiver Erzwingungsgewalt grundsätzlich der Weg geebnet, doch bedarf die militärische Form des Gewalteinsatzes darüber hinaus (2) einer ethischen Legitimation, die mit Hilfe einer Liste von „Kriterien einer Ethik rechtserhaltender Gewalt“ (EKD 102) geprüft werden kann. Nur wenn alle Kriterien dieser Liste, die der Lehre vom gerechten Krieg entstammen10, erfüllt sind, könne militärische Gewalt geduldet werden, auch wenn die Denkschrift betont, dass solcher Gewaltgebrauch problematisch bleibe und das „Risiko des Schuldigwerdens“ nicht umgangen werden könne (EKD 103). Die grundlegende Einsicht, dass Kriege nach Gottes Willen nicht sein sollen, wird damit aufrecht erhalten, denn faktisch wird „eine Art internationaler Polizeiaktion nach den Regeln der UN-Charta“ (EKD 104) zur einzig akzeptablen Form des Krieges; und selbst sie bleibt trotz völkerrechtlicher Legalität immer ein Übel, das auf politisches wie gesellschaftliches Versagen (einschließlich der Religionen; vgl. EKD 31) oder individuelle Fehler deutet – nur könnte es sich in manchen Fällen um das geringere Übel handeln. Diese möglichen Fälle werden von der Denkschrift zwar nicht ausbuchstabiert – schließlich gehört es zum Kennzeichen des Krieges, wie ein Chamäleon in jedem konkreten Falle sein Erscheinungsbild etwas zu ändern11; zudem ist eine Denkschrift keine kasuistische Fallsammlung. Doch geht sie dezidiert auf die drei aktuellen rechtlichen Begründungen für militärische Einsätze ein: auf den Präventivkrieg als Bestandteil des Selbstverteidigungsrechts, die humanitäre Intervention und die bewaffneten Friedensmissionen. Mit Blick auf präventive Gewaltmaßnahmen hält sie (in Kapitel 3.3.1) klar fest: „Von keinem Staat der Welt darf Gewalt ausgehen“ (EKD 106); demist. „Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes tragen mit an der Verantwortung, wann Soldatinnen und Soldaten unter Gefahr ihres Lebens sich einsetzen für die internationale Friedensordnung“ (ebd. S. 16). 10 Näherhin rekurriert die Denkschrift auf folgende (traditionelle) Kriterien: Erlaubnisgrund (~ causa iusta), Autorisierung (~ auctoritas principis und legitima potestas), richtige Absicht (~ intentio recta), äußerstes Mittel (~ ultima ratio), Verhältnismäßigkeit der Folgen sowie der Mittel (~ debitus modus) und die Beachtung des Unterscheidungsprinzips (= Unbeteiligte schonen ~ was zum ius in bello gehört). 11 Vgl. Clausewitz (2002), S. 46: „Der Krieg ist [. . .] ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert“.

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entsprechend wird der Kampf gegen den Terrorismus als Aufgabe der internationalen Verbrechensbekämpfung identifiziert und somit der Zuständigkeit des Militärs entnommen – abgesehen von unmittelbaren Maßnahmen der Selbstverteidigung (EKD 106). Das die Bundeswehr sich – soweit bekannt ist – nicht am Krieg gegen den Irak beteiligt hat, entspricht also den ethischen Empfehlungen der evangelischen Kirche; sie nimmt vielmehr die Staaten in die Pflicht, wirksam gegen den Terrorismus zu kämpfen – auch auf eigenem Territorium. b) Als weitaus schwieriger erweist sich die Beurteilung humanitärer Interventionen, markieren sie doch einen ethischen Konflikt zwischen dem Schutz der Menschenrechte und der Integrität wie Souveränität von Nationalstaaten: Darf man zum Schutz der Bevölkerung vor massiven Menschenrechtsverletzungen militärisch im Ausland (also auf dem Territorium eines anderen Staates) intervenieren? Welches Recht ist in solchem Konflikt höher einzustufen? Die Denkschrift bietet (in Kapitel 3.3.2) mehrere Argumentationen, um zu einer ethischen Lösung zu gelangen. Zunächst weist sie darauf hin, dass die Menschenrechte trotz universalen Geltungsanspruches faktisch nicht unstrittig seien und zudem unterschiedlich ausgelegt würden (EKD 110). Diese Deskription der Faktenlage überzeugt allerdings als ethisches Argument nicht. Die Denkschrift fällt an dieser Stelle hinter ihre eigene Argumentation zurück, hatte sie doch zuvor betont, dass es sich bei den Menschenrechten um eine Antwort auf „elementare Unrechtserfahrungen“ handelt, die gerade nicht kulturabhängig seien: „Für jeden Menschen, der irgendwo auf der Erde gefoltert wird oder verhungert, wegen Hautfarbe, Geschlecht oder Religion diskriminiert oder an politischer Selbstbestimmung gehindert wird, ist über alle Kulturgrenzen hinweg evident, dass es zum Schutz der Würde jedes Menschen der Gewährleistung elementarer Rechte bedarf“ (EKD 88)12. Dass es abweichende Deutungen der Menschenrechte gibt, dass es insbesondere Versuche gibt, die Einschränkung oder Nichtakzeptanz bestimmter Rechte durch Rekurs auf kulturelle Eigenheiten zu plausibilieren, kann auch als moralische Ka12 Diese Formulierung erinnert an folgende Äußerung des Bischofs der EKD, Huber (1996), S. 259: „Wer immer auf der Erde gefoltert wird oder verhungert, versteht die Botschaft schnell, der Mensch sei ein Ebenbild Gottes, dem man das nicht antun dürfe“. Huber greift dabei auf ein Zitat von Spaemann (1988), S. 709 zurück. Für die Universalisierbarkeit dieses Gedankens spricht, dass auch der Dalai Lama vergleichbar argumentiert hat: „Ein jeder Mensch, egal welcher Kultur er entstammt oder welche Geschichte sein Land genommen hat, leidet, wenn man ihn drangsalisiert, ins Gefängnis wirft oder gar foltert. Wir müssen deshalb nicht nur einen globalen Konsens über die Notwendigkeit des Schutzes der Menschenrechte einfordern, sondern auch verlangen, daß über die konkret zu schützenden Rechte Einigkeit erzielt wird“ – zitiert nach: Amnesty international (1998), S. 7.

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schierung illegitimer politischer Interessen gelesen werden – zumal angesichts der allgemein menschlichen Erfahrung, dass sich niemand gern als Rechtsbrecher vorführen lässt. Weitaus überzeugender wirkt das zweite Argument der Denkschrift: „Die Anerkennung und Garantie der bürgerlichen, politischen und sozialen Menschenrechte kann nicht an staatlich organisierten Gemeinwesen vorbei, sie muss vielmehr in ihnen, mit ihnen und durch sie verwirklicht werden“ (EKD 111). Logisch gesehen droht kein naturalistischer Fehlschluss, weil die Realisierung und nicht die Geltung durch die faktischen Hindernisse problematisiert wird. Aus dieser Perspektive erhält der Staat die Priorität gegenüber den Menschenrechten, weil er als Bedingung der Möglichkeit gilt, solche Rechte überhaupt realisieren zu können13. Wer das Recht als unabdingbares Medium zur Realisierung gerechten Friedens erkennt, müsse demnach auch den Staat als diejenige Instanz anerkennen, die allein Recht verbindlich formulieren (oder ratifizieren) und seine Geltung durchsetzen kann. Ein militärischer Auslandseinsatz unterminiert diese Aufgaben des (angegriffenen) Staates und dürfe daher nicht erlaubt werden. Dieser Logik bleibt auch das dritte Argument verpflichtet: Eine humanitäre Intervention sei nur dann überhaupt in Erwägung zu ziehen, wenn der Staat seinen Grundfunktionen nicht nachkommt – sei es aus Machtlosigkeit oder aus Bosheit. Nur wenn selbst „die minimale Friedensfunktion einer politischen Ordnung“ beseitigt sei (EKD 112), dürfte der nächste Schritt hin zur militärischen Gewalt vollzogen werden. Der doppelten Vermittlung (s. o. II. a) – gemeint sind Recht und Ethik) folgend, die zwischen militärischer Gewalt und gerechtem Frieden eingezogen wurde, sei erst an dieser Stelle ethisch zu prüfen, ob eine humanitäre Intervention gemäß den „Kriterien rechtserhaltenden Gewaltgebrauchs“ (ebd.) das geringere Übel bedeute. Die causa iusta (Erlaubnisgrund) liegt natürlich in diesem Fall vor; des weiteren erläutert die Denkschrift, welche Vorgaben die Kriterien der Autorisierung (= durch die UN), der richtigen Absicht (= Schutz der Opfer, Sicherung der staatlichen Existenz und Wiederherstellung der politischen Selbstbestim13 Vgl. dazu bereits Brunner (1981). Er unterscheidet vergleichbar zwischen staatlichem Recht und außerstaatlichen, ethischen Gerechtigkeitsforderungen (vgl. ebd. S. 246), zu denen auch die Menschenrechte zählen (S. 249 f.). Mit Blick auf die Realisierung der ethisch relevanten Gerechtigkeit im Staat differenziert Brunner vier Stufen (S. 233 ff.): Zuerst komme das staatliche Gewaltmonopol, das zweitens durch das Recht geprägt und damit der Willkür enthoben werden solle. Eine dritte Stufe werde erreicht, wenn dieses Recht auch dem ethischen Kriterium der Gerechtigkeit genüge. Die oberste Stufe sei gekennzeichnet durch eine gerechte Machtverteilung im Staat, wie sie in einer Demokratie vorgenommen werde. Doch selbst wenn die Menschenrechte als gerechte Normen nicht verwirklicht würden, blieben (auf der 2. Stufe) die Monopolisierung der Gewalt und die Verlässlichkeit der Normen (als staatliche Rechte) als ethische Errungenschaften.

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mung14) und der ultima ratio implizieren. Der Aspekt des äußersten Mittels meint zunächst, dass andere Maßnahmen möglichst schon im Bereich der Prävention ergriffen worden sind, aber leider erfolglos blieben. Darüber hinaus führt er zum Begriff der Nothilfe, die den Kriterienkatalog zu sprengen droht, sofern Not – dem Sprichwort folgend – kein Gebot kennt, der Rekurs auf einen Notfall also alle rechtlichen und ethischen Erwägungen außer Kraft setzen könnte. An dieser Stelle wird der Rückgriff auf die Verhältnismäßigkeit der Folgen empfohlen. Namentlich wird die Gefahr, durch eine als Nothilfe legitimierte humanitäre Intervention „eine Rückkehr zum freien Kriegführungsrecht einzuleiten“ (EKD 114), als schlagendes Argument gegen einen solchen Militäreinsatz aufgeführt. Nicht nur eine Etablierung postwestfälischer Zustände, also die Abkehr von einer nationalstaatlich geordneten Welt, könnte drohen. Vielmehr bedeuteten auch westfälische Zustände, also die Akzeptanz des Kriegsrechts jedes Nationalstaates, einen Rückschritt gegenüber der UN-Charta – eine Gedankenführung, der ich explizit zustimme15. c) In der jüngsten Vergangenheit haben bewaffnete Friedensmissionen zugenommen, so dass die Denkschrift (in Kapitel 3.3.3) auch sie erörtert. Hier geht es zum einen um internationale Krisenbewältigung, zum anderen um die Unterstützung von Staaten, die mit ihren Mitteln Recht nicht mehr durchsetzen können, ferner um militärische Hilfe bei Konsolidierungsmaßnahmen nach einem Krieg. Sofern bei solchen Einsätzen die Souveränität von Nationalstaaten nicht gefährdet und damit der Rechtsträger als Bedingung der Möglichkeit, gerechten Frieden umzusetzen, nicht angegriffen, sondern häufig sogar unterstützt wird, kann die Denkschrift sofort auf die zweite Vermittlungsebene (also die Ethik) übergehen. Bewaffnete Friedensmissionen können also vom Recht und dessen Relevanz für den Frieden her nicht vollständig ausgeschlossen werden (EKD 118), bedürfen aber jeweils einer eingehenden ethischen Prüfung und dementsprechend einer klaren Konditionierung und Limitierung. Wieder rekurriert die Denkschrift auf die von ihr etablierten Kriterien rechtserhaltender Gewaltausübung, dabei erhält allerdings nunmehr der Aspekt „begründete Aussicht auf Erfolg“ (EKD 122) zentrale Bedeutung. Auch er entstammt der Lehre vom gerechten Krieg, ist näherhin ein Bestandteil der Proportionalitätsforderung16. Dementsprechend wurde er von der EKD unter 14

Dass diese Kriterien nicht immer konfliktfrei zusammenstimmen, wird von der Denkschrift leider nicht entfaltet, obwohl sie ständig den Kosovokrieg einbezogen hat, in dem das reklamierte Recht der Kosovaren auf politische Selbstbestimmung mit dem Prinzip der territorialen Integrität des Staates Jugoslawien kollidierte. 15 Vgl. Stümke (2001). 16 Vgl. Gillner (1997), S. 184 f.

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die Verhältnismäßigkeit der Mittel subsumiert (EKD 102). Auf diese Weise trägt die Denkschrift der Skepsis Rechnung, wonach militärische Mittel kaum dazu taugen, Frieden zu schaffen (EKD 117). Diese Skepsis ist zweifach fundiert. Zum einen handelt es sich um faktische Bedenken, ob die militärische Präsenz in solchen Fällen wirklich weiter hilft. Dementsprechend fordert die Denkschrift die Mitsprache der Betroffenen vor Ort (EKD 120) ebenso wie eine klare zeitliche Begrenzung (EKD 118) ein. Beide Maßnahmen sollen gewährleisten, dass die militärischen Instrumente „Bestandteil einer kohärenten Friedenspolitik unter dem Primat des Zivilen bleiben“ (ebd.). Zum anderen steht hinter der Skepsis der grundsätzliche Vorbehalt der Friedensforschung, dass man den Frieden nur oder zumindest vorrangig mit friedlichen Mitteln erreichen kann. Diese Skepsis lenkt zurück zu den Grundannahmen der Denkschrift und dokumentiert so, dass die kritische Würdigung der Auslandseinsätze konsequent aus den eigenen Prämissen entwickelt worden ist. Fraglich bleibt nun noch, welche Ziele und Maßnahmen an die Stelle militärischer Gewalt auf dem Weg zum gerechten Frieden treten sollen – damit geht es um die Darlegung der politischen Friedensaufgaben, die in der Denkschrift auf die Begriffe der menschlichen Sicherheit und der menschlichen Entwicklung zulaufen.

III. Die Modifikation des Sicherheitsbegriffs Wer nicht den Krieg, sondern den Frieden zum Paradigma der Politik erhebt, muss auch Ziele angeben können, die über eine Vermeidung (oder Begrenzung) des Krieges hinausgehen, die also nicht auf den Krieg – und sei es negativ – fixiert sind, sondern helfen wollen, den Frieden zu gestalten („para pacem“). In diesem Sinn nennt die Denkschrift der EKD fünf politische Friedensaufgaben, von denen die letzte, weil ihr besonderes Gewicht zukommt17 nunmehr analysiert werden soll – zumal sie thematisch einen klassischen Begriff zur Legitimation des Militärs aufgreift: nämlich menschliche Sicherheit (human security) und menschliche Entwicklung (human development) in Kapitel 4.5. 17 Diese Behauptung lässt sich – wie bereits erwähnt – dadurch belegen, dass die Zusammenfassung des vierten Kapitels explizit auf diese beiden Begriffe rekurriert: „Staatliche Sicherheits- und Friedenspolitik muss von den Konzepten der ‚Menschlichen Sicherheit‘ und der ‚Menschlichen Entwicklung‘ her gedacht werden“ (EKD 197). Die anderen Ziele werden von dieser Perspektive her noch einmal genannt. Vgl. dazu auch Senghaas-Knobloch/Reuter (2008), S. 8: „Paradigmatisch wird dabei [i. e. im vierten Kapitel] vom Erfordernis einer neuen Weltinnenpolitik im Sinne von global governance und von der Orientierung an den UN-Konzeptionen Menschlicher Sicherheit und Menschlicher Entwicklung ausgegangen“.

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Mit der Rede von der menschlichen Sicherheit rekurriert die Denkschrift explizit auf den „Human Development Report“ des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) von 1994 (EKD 185). Dieser Bericht hat nicht nur das Feld der Sicherheit erweitert, indem neben die klassischen militärischen Bedrohungen auch wirtschaftliche, ökologische, kulturelle und durch die globale Vernetzung evozierte oder verstärkte Probleme in die Außen- und Sicherheitspolitik einbezogen werden – so wie es bereits die Rede vom erweiterten, aber weiterhin staatsbezogenen Sicherheitsbegriff insinuiert18. Vor allem aber wurde mit der human security „eine Änderung des Referenzobjektes der Sicherheit“19 vorgenommen: Nicht mehr der Staat und seine territoriale Integrität sind der entscheidende Bezugspunkt von Sicherheit, sondern Menschen. Sicherheit bedeutete damit nicht mehr primär die Unversehrtheit nationaler Grenzen, dementsprechend wäre auch das Militär, das diese Grenzen vor Angreifern durch Verteidigungsfähigkeit sichern soll, nicht mehr der erste, geschweige denn der wichtigste Ansprechpartner und Garant für Sicherheit20. Vielmehr wird es zur Aufgabe des Staates und all seiner Institutionen (bis hin zum Militär), die Sicherheit der Menschen zu schützen und zu befördern. Diese Schutzverantwortung des Staates für seine Bürger impliziert dabei nicht nur den Schutz der nationalen Souveränität, sondern wird auch zu einer Pflicht des Staates gegenüber den Menschen und zur Beachtung ihrer Rechte. Dementsprechend sind im Bericht der International Commission on Intervention and State Sovereignty 2001 die Menschenrechte im Konfliktfall gegenüber der staatlichen Souveränität gestärkt worden21. Staaten stünden demnach in der Verantwortung, den Schutz der Bürger zu garantieren („responsibility to protect“22). Sofern sie dieser Verpflichtung in sehr schwerwiegenden Fällen (konkret: Genozid, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) nicht nachkommen, werde sukzessive die Verantwortung delegiert – zunächst an Regionalorganisationen und schließlich an die UN, die dann Maßnahmen beschließen sollten. Dabei stellt auch militärisches Eingreifen ein Mittel dar, das jedoch lediglich als ultima ratio akzeptiert werden kann. Dieser Zusammenhang von menschlicher Sicherheit und Schutzverantwortung bis hin zu militärischen Gewaltmaßnahmen wird von der Denkschrift allerdings nicht erwähnt, obwohl an dieser Stelle die traditionelle Verwendung des Sicherheitsbegriffs anklingt. 18

Vgl. Debiel/Werthes (2005), S. 8 f. Krause (2008), S. 32. 20 Vgl. Benedek (2005), S. 29: „Im Idealfall wird das Militär zum Verbündeten der zivilen Kräfte in der Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit und dem Schutz der Bevölkerung“. 21 Vgl. Zwitter (2007), S. 234 f. 22 The Responsibility to protect (2001). 19

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Die Sicherheit von Menschen wird vielfältig bedroht. Der Bericht von 1994 (UNDP) nennt sieben konkrete Bedrohungen, welche die Menschen im wirtschaftlichen (Arbeit, Ernährung) oder im ökologischen (Gesundheit, Umwelt) Bereich tangieren oder die dem Adressatenkreis entsprechend in persönliche, gemeinschaftliche und politische Sicherheitsrisiken unterschieden werden. Noch deutlicher tritt die Fokussierung auf den Menschen jedoch hervor, wenn man die geläufige Grundunterscheidung in Freiheit von Furcht (freedom from fear) und Freiheit von Not (freedom from want) betrachtet. Dass je nach Gewichtung dieser beiden Bereiche ein enges (auf Furcht und damit Gewalt konzentriertes) und ein weites (die vielfältigen Formen menschlicher Not einbeziehendes) Verständnis menschlicher Sicherheit in der politischen Debatte sowie der internationalen Politik begegnet, soll nur erwähnt werden, ebenso die zentrale Bedeutung, die den Menschenrechten gemäß diesem Sicherheitsverständnis zukommt23. Wie verortet sich nun die Denkschrift in dieser politischen Debatte um menschliche Sicherheit? Klar ist, dass sie den Ansatz bei den Menschen und ihren Ängsten und Nöten teilt und explizit mit den ethischen Grundbegriffen der Menschenwürde und des gerechten Friedens verbindet (EKD 187). Ihr zentrales Anliegen besteht in der Rückbindung der Sicherheit an die menschliche Entwicklung, was schon durch die Überschrift zur Geltung kommt. Dementsprechend werden sowohl die auf die Freiheit von Furcht gerichteten Maßnahmen (Kanadas) wie das die wirtschaftlichen Aspekte einbeziehende Engagement (Japans) und ihre Erfolge gewürdigt (EKD 186), so dass die EKD selbst das weitere Konzept vertritt. Mit Blick auf die eigene, kirchliche Entwicklungsarbeit spricht die Denkschrift von der „Hilfe zur Selbsthilfe“ und zieht so die Verbindung zum Begriff der Befähigungsgerechtigkeit (EKD 188). Dennoch ist ihr Vertrauen zu den gesellschaftlichen Trägern und deren Arbeit begrenzt, denn ihre Ausführungen münden in eine staatszentrierte Empfehlung: „Die dauerhafte Befähigung Einzelner und die Stärkung ihrer sozialen Rechte ist allerdings ohne den Aufbau und Ausbau geeigneter Institutionen zur Gewährleistung öffentlicher Güter nicht möglich“ (EKD 189) – und diese Institutionen müssen im System der Vereinten Nationen kohärent integriert sein. Auch menschliche Entwicklung bleibt also auf Verrechtlichung angewiesen, das ethisch ausgewiesene Recht auf Entwicklung muss zu einer geltenden Norm ausgebaut werden (EKD 94f) – ausgehend von den jeweili23 Vgl. dazu Ulbert/Werthes (2008). Ihnen folgend wird das engere Verständnis humanitärer Sicherheit vor allem von Kanada vertreten, während Japan zudem und verstärkt soziale und ökonomische Aspekte einbezieht. Auf Menschenrechte und damit auf Rechtssicherheit legen vor allem europäische Akteure den Schwerpunkt. Es dominiert aber trotz dieser Unterschiede der gemeinsame Rekurs auf die einzelnen Menschen.

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gen Gesellschaften und vermittelt über deren Rechtsnormen hin zu internationalen Vereinbarungen. Der Gedankengang der Denkschrift ist somit in sich stimmig.

IV. Ausblick Eine Denkschrift ist kein Rezeptbuch, dementsprechend liefert auch „Aus Gottes Friedenleben“ keine Kasuistik, sondern formuliert grundlegende Einsichten der Evangelischen Kirche in Deutschland. Der Anspruch liegt darin, einen gesellschaftlichen Konsens festzustellen, auf den Politik und Recht rekurrieren können. Demnach werden weder die Bundeswehr noch ihre neuen Einsätze grundsätzlich infrage gestellt, eine konkrete Bewertung einzelner Einsätze wird jedoch nicht vorgenommen. Allerdings formuliert die Schrift bestimmte Prämissen, von denen her Legitimität wie Aufgaben der Streitkräfte zu definieren sind. Ziel der Politik ist der Frieden und das Militär kann sich nur legitimieren als ein Mittel, diesen Frieden zu befördern. Dabei muss seine Gewaltanwendung strikt dem Recht, insbesondere dem Völkerrecht subsumiert sein. Konkret auf die Neuausrichtung der Bundeswehr bezogen finden sich zwei kritische Anmerkungen: Zum einen wird moniert, dass ein „friedensund sicherheitspolitisches Gesamtkonzept [. . .] bisher noch nicht hinreichend erkennbar ist“ (EKD 149).24 Zum anderen erfolge derzeit eine „einseitige Prioritätensetzung zugunsten der Auslandseinsätze“ (EKD 152), die allerdings als Folge der ersten Schwäche angesehen wird. Es besteht also die Gefahr, dass die Bundeswehr in eine Interventionsarmee transformiert wird, die ohne ein erkennbares Konzept nur in Reaktion auf aktuelle Notlagen eingesetzt wird. Ein erforderliches friedenspolitisches Konzept kann die Bundeswehr sich nicht selbst geben, das widerspricht schon ihrem Selbstverständnis vom Primat der Politik, die also zuerst gefordert ist. Aber könnte die Bundeswehr nicht (noch stärker) ein solches Konzept einfordern und zumindest entsprechende Debatten anregen? Zumindest die Denkschrift der EKD würde das unterstützen. Literatur Ackermann, Dirck (2008): Erstmals wieder ein Konsens. Auslandseinsätze der Bundeswehr und christliche Friedensethik; in: zursache.bw. Evangelische Kommentare zu Fragen der Zeit, Nr. 13/2008, S. 12–16. Amnesty international (1998): Jahresbericht 1998. Frankfurt/Main: Fischer. 24

Vgl. dazu die Beiträge von Hamann und von Jaberg in diesem Band.

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Wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe . . . Zur Begründung eines friedenswissenschaftlichen Standpunkts zum Norm-Empirie-Problem bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr Von Sabine Jaberg Wenig erinnert noch an den demilitarisierten Staat, als der die Bundesrepublik Deutschland vor sechzig Jahren gegründet wurde. Augenscheinlich bewegt sich die hohe Politik in einem nahezu unbegrenzten Raum militärischer Möglichkeiten. Der Weg dorthin ist in unterschiedlich langen Etappen genommen worden, in denen das Handeln der Staatsorgane jeweils bestimmten Tabus unterlag, deren Überschreitung den meisten Zeitgenossen politisch undenkbar wie verfassungsrechtlich unzulässig erscheinen musste.1 Auch wenn diese Verbote unterschiedliche Halbwertszeiten aufwiesen, keines von ihnen hatte Bestand. Konrad Adenauers Politik der Westintegration brach das erste Tabu, denn sie bescherte dem Land nicht nur weitgehende Souveränitätsrechte, sondern auch eine eigene Streitmacht. Deren Auftrag wurde im Grundgesetz 1956 in Artikel 87a strikt auf die Verteidigung konditioniert. Auslandseinsätze jenseits der Verteidigung blieben auch nach der 1968 eingefügten Notstandsverfassung kategorisch untersagt. Dieses zweite Tabu fiel spätestens Anfang der neunziger Jahre: Damals beteiligte sich die Bundeswehr in Somalia an einer Mission der Vereinten Nationen (UNO) und trug auf Grundlage eines Mandats des Sicherheitsrats gemeinsam mit den Verbündeten der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) zur Überwachung des Luft1 Sicherlich lohnte es sich, die jeweiligen Tabus genauer auf ihre soziale Trägerschaft zu untersuchen. Allerdings würde dies den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen: Denn zum einen wären bei einer solchen eher soziologischen Ausweitung des Untersuchungsansatzes zusätzlich theoretische Erörterungen und empirische Studien über das voraussetzungsvolle Zusammenspiel von Gesellschaft und Staat in Demokratien im Allgemeinen und mit Blick auf die deutsche Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik im Besonderen anzustellen, die darüber hinaus für die identifizierten Tabus zu konkretisieren wären. Zum anderen fokussiert der vorliegende Beitrag ohnehin auf das Handeln bzw. den Handlungsspielraum der Staatsorgane, so dass die ‚Soziologisierung‘ der Fragestellung auch nicht zwingend erforderlich ist.

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raums und der Adria im Kontext der Jugoslawienkriege bei. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seinem Urteil 1994 Auslandseinsätze der Bundeswehr im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme für verfassungskonform. Zu dieser Art Zusammenschluss rechnete es nicht nur die (binnenorientierten) Vereinten Nationen, die Frieden zwischen ihren Mitgliedern nach gemeinsam vereinbarten Regeln gewährleisten und äußerstenfalls mit militärischen Sanktionen wiederherstellen sollen, sondern auch Verteidigungsbündnisse wie die NATO, in denen sich Staaten zur Selbsthilfe gegen äußere Bedrohungen zusammenschließen. Damit hob das Karlsruher Gericht auch eine in der Fachwelt bislang weitgehend akzeptierte kategoriale Differenz auf.2 Nichtsdestoweniger unterstrich es den faktischen Legitimationsund Funktionszusammenhang der streitigen Einsätze mit den Vereinten Nationen. Der Kosovokrieg beseitigte dann endgültig das dritte Tabu: Erstmalig beteiligte sich die Bundeswehr außerhalb einer Verteidigungslage an einem Waffengang, der nicht von der Weltorganisation autorisiert war. Begründet wurde dies mit der humanitären Notlage in der jugoslawischen Teilrepublik. Dies markiert im Umkehrschluss ein viertes Tabu, als Militäreinsätze jenseits des Verteidigungsauftrags und ohne UNO-Mandat allenfalls als sogenannte ‚humanitäre Intervention‘ zulässig sind. Mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) 2003 aus der Ära der rot-grünen Bundesregierung und dem Weißbuch 2006 aus der Zeit der großen Koalition, der fortwährenden Beteiligung der Bundeswehr an der Anti-Terror-Operation der USA ‚Enduring Freedom‘ (OEF),3 aber auch durch aktuelle Debat2

Vgl. Jaberg (2006), S. 27–41. Bei der ‚Operation Enduring Freedom‘ (OEF), die die USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausgerufen haben, handelt es sich um eine völkerrechtlich schillernde Mission. So stützt sie sich auf das in Artikel 51 der UNOCharta verankerte Recht auf Selbstverteidigung, das der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bereits in seiner Resolution 1368 unmittelbar nach den terroristischen Attentaten ebenso bekräftigte wie das Erfordernis der Übereinstimmung sämtlicher Maßnahmen mit der Charta. Ein eigenes Mandat für eine militärische Reaktion der USA erteilte er jedoch nicht – was gemäß Artikel 51 für unmittelbar der Selbstverteidigung dienende Aktionen auch solange nicht erforderlich ist, bis der Sicherheitsrat die seines Erachtens erforderlichen Maßnahmen trifft. Die Inanspruchnahme des Rechts auf Selbstverteidigung wird aber seit der Resolution 1373 vom 28. September 2001 immer fragwürdiger, in der der Sicherheitsrat unter Berufung auf Kapitel VII auch Schritte zur Terrorbekämpfung beschlossen hat – vgl. Paech (2001). Acht Jahre später dient OEF eher einer militärisch gestützten Ordnungspolitik als der Selbstverteidigung gegen einen stattfindenden oder unmittelbar bevorstehenden Angriff. Mit der Überreizung des Rechts auf Selbstverteidigung in Kombination mit dem fehlenden UNO-Mandat entbehrt OEF einer belastbaren völkerrechtlichen Basis. Allerdings spricht ihr der Sicherheitsrat in seinen einschlägigen Beschlüssen mittlerweile regelmäßig seine Anerkennung aus und begreift sie als Kooperationspartner der von ihm mandatierten Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe für Afghanistan (ISAF) – so etwa in der Resolution 1833 vom 22. September 2008. 3

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ten etwa über Energiesicherheit scheint dieses letzte Tabu zu fallen. An diesem Verdacht knüpft der vorliegende Beitrag an und nimmt folgende Problemfelder ins Visier. – Der erste Themenkomplex klärt zum einen die Diskrepanz zwischen der Friedensnorm des Grundgesetzes und der gegenwärtigen sicherheits- wie verteidigungspolitischen Programmatik auf. Zum anderen identifiziert er unterschiedliche Möglichkeiten, mit diesem Norm-Empirie-Problem umzugehen. – Der zweite Block widmet jenem Instrument besondere Aufmerksamkeit, dem Politik wie Wissenschaft gegenwärtig am ehesten zuzutrauen scheinen, die Diskrepanz zwischen Norm und Empirie in den Griff zu bekommen: dem Kriterienkatalog. Dabei soll es weder darum gehen, unterschiedliche Vorschläge zu durchleuchten, noch ein eigenes Modell zu präsentieren. Vielmehr stellt sich aus Sicht der Friedensforschung die für sie viel grundsätzlichere Frage nach der normativen Geeignetheit eines solchen Mittels, das auf der Prämisse beruht, militärische Gewalt könne zumindest unter bestimmten Umständen einen friedensdienlichen Beitrag leisten. Insofern erweist sich die Auseinandersetzung um das Instrument des Kriterienkatalogs als Vehikel zur Klärung eines friedensnormativen Standpunkts zu militärischer Gewalt im Allgemeinen und zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr im Besonderen.

I. Das Norm-Empirie-Problem Zur Aufklärung des Norm-Empirie-Problems ist es zunächst erforderlich, die normativen Vorgaben der Verfassung hinsichtlich des Bundeswehreinsatzes im Ausland herauszuarbeiten. Dabei werden auch – die dem Streitkräfteurteil des Bundesverfassungsgerichts (logisch) vorgelagerten4 – Interpretationstechniken grundsätzlich auf ihre Plausibilität getestet. Danach gilt es, den Normbestand mit der Empirie der aktuellen Sicherheits- und Verteidigungsprogrammatik zu konfrontieren. Diese lässt sich zum einen nach Erweiterungen des Raums militärischer Möglichkeiten befragen, zum anderen Dieses Arrangement mit der ‚Realität‘ vermag aber das fehlende Mandat zumindest nicht vollständig zu kompensieren. Insofern ist die Mitwirkung der Bundeswehr an der ‚Operation Enduring Freedom‘ völkerrechtlich – und folglich auch verfassungsrechtlich – mehr als fragwürdig. 4 Die unterschiedlichen Interpretationstechniken sind dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts insofern logisch (nicht zwingend chronologisch) vorgelagert, als sie unabhängig von ihm bestehen. In der Sichtweise dieses Beitrags erscheint das Streitkräfteurteil nicht als integraler Bestandteil der Verfassung, sondern es fungiert (bildhaft gesprochen) als Brücke über die eklatante Lücke zwischen Grundgesetz und ‚Realität‘.

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nach (noch) bestehenden Tabus abklopfen. Eingedenk der Tendenz seit Bestehen der Bundesrepublik, gesetzte Grenzen im Umgang mit dem militärischen Instrument immer wieder zu überschreiten und neu zu fixieren, stellt sich zwangsläufig die Aufgabe, identifizierte Tabu-‚Kandidaten‘ auf ihre Belastbarkeit zu testen. Danach sollen die logisch möglichen Optionen im Umgang mit der Lücke zwischen normativer Vorgabe und tatsächlicher Programmatik aufgezeigt und kurz problematisiert werden. 1. Normatives (grundgesetzliches) Soll Das Grundgesetz steckt den Rahmen für zulässige Einsätze der Bundeswehr ab. Demnach stellt Artikel 26 (Absatz 1) bereits die Vorbereitung zu Angriffskriegen unter Strafandrohung: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskriegs vorzubereiten, sind unter Strafe zu stellen.“ Auch wenn über die genaue Justierung des objektiven Kriteriums der Geeignetheit und des subjektiven Kriteriums der Absichtlichkeit gestritten werden mag, ist die prinzipielle Botschaft eindeutig. Artikel 87a (Absatz 1) ist an Klarheit nicht zu überbieten: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Andere Zwecke mögen zwar gemäß Absatz 2 hinzukommen, soweit das „Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt“. Zur Begründung des Aufstellungs- und Daseinszwecks taugen diese Zusatzaufträge nicht. Und Artikel 115a (Absatz 1) enthält eine materielle Legaldefinition des Verteidigungsfalls. Dieser setzt voraus, „daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht“. Damit ist einzig der Einsatz zur Landesverteidigung im Falle eines stattfindenden oder zumindest unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriffs auf bundesdeutsches Territorium eindeutig durch den Wortlaut der Verfassung gedeckt. Unter interpretatorischer Einbeziehung des Entstehungskontextes lässt sich auch die Verteidigung angegriffener Bündnispartner noch rechtfertigen, schließlich ist die Aufstellung der Bundeswehr mit dem Beitritt zu zwei Militärallianzen einhergegangen. Von besonderer Bedeutung wäre hier der Vertrag zur Westeuropäischen Union (WEU), der – anders als der NATOVertrag – im Falle eines Angriffs auf ein Mitglied einen militärischen Beistandsautomatismus vorsieht, den der Gesetzgeber offenbar zu vollziehen bereit war.5 Eine darüber hinausgehende Ausdehnung des grundgesetzlichen 5 Im NATO-Vertrag vereinbaren die Parteien im Artikel 5 für den Verteidigungsfall lediglich, einander Beistand zu leisten, „indem jede von ihnen unverzüglich [. . .] die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt trifft, die sie für erforderlich erachtet“. Der WEU-Vertrag kennt einen solchen Ermessensspielraum

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Verteidigungsbegriffs in Artikel 87a auf „alle entsprechend defensiv geprägten völkerrechtlichen Beistandslagen“6 jenseits der Bündnisgrenzen erforderte sogar, den Verteidigungsbegriff nicht nur von dessen materieller Definition, sondern darüber hinaus vom Entstehungskontext der Wehrnovelle abzukoppeln. Auch der Verweis auf Artikel 25, der das Völkerrecht den nationalen Gesetzen vorordnet, sticht in diesem Zusammenhang nicht.7 Zwar erlaubt es zweifelsfrei Nothilfe auch für solche Angriffsopfer, die nicht dem eigenen Verteidigungsbündnis angehören. Allerdings steht es Staaten frei zu entscheiden, ob sie von eingeräumten Rechten Gebrauch machen wollen. Ein entsprechender verfassungsrechtlicher Verzicht stellt seinerseits keinen Verstoß gegen Völkerrecht dar, dem durch Einräumung eines Vorrangs vor den Bundesgesetzen wieder zur Geltung verholfen werden müsste. Gemäß Artikel 24 (Absatz 2) darf der Bund „zur Wahrung des Friedens“ einem „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ beitreten, wie einzig die Vereinten Nationen unbezweifelbar eines darstellen. Mangels expliziter Erwähnung scheitert aber der Einsatz der Streitkräfte zur Friedenssicherung bis heute (strenggenommen)8 am Ausdrücklichkeitsgebot des Artikels 87a (Absatz 2), dem alle Aufgaben jenseits des Verteidigungsauftrags zwingend unterliegen. Soll ein entsprechender Beitrag der Bundeswehr im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme dennoch als (quasi uneingeschränkt)9 zulässig konstruiert werden, bleiben zwei Optionen: Entweder wird die Geltungsreichweite des Ausdrücklichkeitsgebots qua Setzung auf den Einsatz im Innicht: Denn hier verpflichten sich die Parteien im Bündnisfalle dazu, „alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung zu leisten“ (Artikel V). – Im Rahmen des oben skizzierten historisch-genetischen Interpretationsansatzes scheint sich auch ein unterstützender Hinweis auf Artikel 24 (Absatz 2) anzubieten, der dem Bund den Beitritt zu kollektiven Sicherheitssystemen erlaubt. Allerdings sind dieser Argumentation zwei Grenzen gesetzt: Zum einen müsste hier der – ordnungspolitisch äußerst fragwürdigen – Interpretation des Bundesverfassungsgerichts gefolgt werden, wonach auch Militärbündnisse kollektive Sicherheitssysteme sein könnten. Und zum anderen fehlt der verfassungsrechtlich geforderte ausdrückliche Verweis auf den Einsatz militärischer Mittel. Letztlich ist die Abstützung auf Artikel 24 (Absatz 2) gemäß der hier skizzierten historisch-genetischen Interpretationsweise nicht zwingend erforderlich, um die grundgesetzliche Zulässigkeit von Bündnisverteidigung zu begründen. 6 Hernekamp (1996), S. 398 (Herv. SJ). 7 In Artikel 25 heißt es: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“ 8 Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Streitkräfteurteil 1994 entschieden, die fehlende Einlösung des Ausdrücklichkeitsgebots stehe einer Entsendung nicht entgegen. Insofern existiert gegenwärtig die Möglichkeit, Auslandseinsätze der Streitkräfte mit diesem Judikat und der nachfolgenden Rechtsprechung auch verfassungsrechtlich zu legitimieren. Es geht aber an dieser Stelle um die dem Entscheid (logisch) vorgelagerten Interpretationstechniken.

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nern begrenzt, was aber an der Formel des einschlägigen Artikels scheitert, die die Verteidigung als alleinigen äußeren Einsatzzweck geradezu bekräftigt.10 Oder aber es wird eine ‚implizite Ausdrücklichkeit‘ behauptet, wonach die im Grundgesetz eingeräumte Möglichkeit des Beitritts zu kollektiven Sicherheitssystemen die Bereitschaft zur Übernahme aller sich hieraus ergebenden Pflichten unausgesprochen einschließe.11 Allerdings kennen die Vereinten Nationen keinen Beteiligungszwang an militärischen Beugemaßnahmen gemäß Kapitel VII ihrer Charta. Das Argument läuft empirisch mithin ins Leere.12 Eine dritte – jüngst von Otto Depenheuer an prominenter Stelle ins Spiel gebrachte13 – Option liefe auf eine konditionierte Teilnahme an militärischen Operationen kollektiver Sicherheitssysteme hinaus. Demnach sei das Engagement deutscher Streitkräfte in einem solchen Rahmen zwar prinzipiell gestattet, aber ausschließlich dann und nur insoweit, als die jeweiligen Missionen einen Bezug zur Verteidigung Deutschlands aufweisen.14 Mithin entspränge die Ermächtigung zu Auslandseinsätzen nicht erst waghalsiger Auslegungsakrobatik,15 sondern direkt dem Verteidigungsauf9 ‚Quasi uneingeschränkt‘ soll an dieser Stelle besagen, dass das gesamte Einsatzspektrum im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme prinzipiell abgedeckt ist, sofern sich diese Arrangements ihrerseits an ‚Recht und Gesetz‘ halten. 10 Artikel 87a (Absatz 2) lautet: „Außer zur Verteidigung dürfen Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt“ (Herv. SJ). Sogar dann, wenn die Geltungsreichweite dieses Ausdrücklichkeitsgebots interpretatorisch auf den Einsatz im Inneren begrenzt würde, kann die einleitende Formel ‚außer zur Verteidigung‘ eigentlich gar nicht anders gelesen werden denn als Bekräftigung der Verteidigung als alleinigen äußeren Einsatzzweck. 11 Diese ‚implizite Ausdrücklichkeit‘ könnte insofern auch als ‚indirekte‘ oder ‚importierte‘ Ausdrücklichkeit‘ bezeichnet werden, als die militärischen Verpflichtungen, die mit Beitritten zu Kollektivsystemen eingegangen werden, gedanklich in den Wortlaut des Artikel 24 (Absatz 2) integriert werden. Dies setzt jedoch zwingend voraus, dass die einschlägigen Verträge militärische Beiträge ausdrücklich vorschreiben. Allerdings verabschiedet sich eine solche Interpretation vom Gebot der Texttreue, das bei jeder Auslegung einer Verfassung zu beachten ist. – Vgl. hierzu auch den Beitrag von Gareis/Nolte in diesem Band. 12 Anders sähe die Argumentation aus, wenn die ordnungspolitisch indifferente Position des Karlsruher Streitkräfteurteils von 1994 übernommen würde, wonach auch Militärbündnisse wie NATO und WEU Kollektivsysteme im Sinne von Artikel 24 (Absatz 2) darstellen können. Denn der WEU-Vertrag sieht einen militärischen Beistandsautomatismus vor. 13 Depenheuers Interpretation findet sich im Grundgesetz-Kommentar von Günter Dürig und Theodor Maunz. Dort zeigt der Autor auch auf, an welche bisherigen Argumentationen er anknüpft – vgl. Depenheuer (2008), S. 65 f. (Rdnr. 126); hier: Anm. 8. 14 Vgl. Depenheuer (2008), S. 68 (Rdnr. 131). 15 Hierzu zählt die Beschränkung des Ausdrücklichkeitsgebots auf Einsätze im Innern ebenso wie die interpretatorische Einbeziehung völkerrechtlicher Verträge (siehe oben).

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trag gemäß Artikel 87a. Gegenüber der strikt am Entstehungskontext der Wehrverfassung ausgerichteten historisch-genetischen Interpretation bringt dies eine Weiterung insofern, als neben NATO und WEU nun auch die Vereinten Nationen unmissverständlich zu den verteidigungsrelevanten Organisationen zählen.16 Das gravierende Problem dieser Interpretation liegt aber weniger im exegetischen Detail als vielmehr im generell gewählten Ansatz. Denn es handelt sich um eine äußerst einseitige Auslegung der Verfassung im Lichte des Sicherheits- und Verteidigungsparadigmas zu Lasten ihrer Friedensnorm, auf die Artikel 24 (Absatz 2) in der Formel „zur Wahrung des Friedens“ ausdrücklich rekurriert.17 Entsprechend dehnt Depenheuer den grundgesetzlichen Verteidigungsbegriff und damit die Erlaubnis zum Streitkräfteeinsatz weit über das bislang verfassungsrechtlich wie völkerrechtlich klar Zulässige aus.18 So bezieht er „nicht kontrollierbare Flüchtlingsströme“19, „sicherheitspolitisch gefährliche[.] failed states im unmittelbaren regionalen Einzugsbereich“20, „vertragswidrige Unterbindung der Energieversorgung“21 oder sonstige „Gefährdung[en] der internationalen Sicherheit“22 der Möglichkeit nach dann in den Verteidigungsauftrag ein, wenn „unmittelbar Rückwirkungen auf den deutschen Staat und seine legitimen Sicherheitsinteressen“23 zu erwarten stehen. Würde ein solcher – letztlich auf den erweiterten Gesamtbereich der Sicherheitspolitik ausstrahlender24 – 16

Während die Mitgliedschaft in NATO und WEU mit der Aufstellung der Bundeswehr in den fünfziger Jahren einherging, trat die Bundesrepublik erst in den siebziger Jahren der UNO bei. 17 Vgl. Jaberg (2008c), S. 84–88. 18 Artikel 51 der UNO-Charta erlaubt Staaten den Rückgriff auf das „naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“ ausschließlich „im Falle eines bewaffneten Angriffs“. Militärische Operationen, die hierdurch nicht gedeckt werden, bedürften zumindest eines Mandats des Sicherheitsrats der Weltorganisation. Und Artikel 115a des Grundgesetzes gestattet einzig die Verteidigung gegen einen stattfindenden oder doch zumindest unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriff zweifelsfrei (siehe oben). 19 Depenheuer (2008), S. 61 (Rdnr. 117). 20 Depenheuer (2008), S. 61 (Rdnr. 117). 21 Depenheuer (2008), S. 30 (Rdnr. 48). 22 Depenheuer (2008), S. 68 (Rdnr. 131). 23 Depenheuer (2008), S. 61 (Rdnr. 117). Mit dieser Konditionierung hofft er zwar, einer Entgrenzung insofern entgegenzuwirken, als er den Streitkräfteeinsatz zur Wahrung allgemeinpolitischer Interessen ohne unmittelbaren Sicherheitsbezug für verfassungswidrig erklärt. Allerdings weiß er auch um die Schwierigkeiten einer sauberen Grenzziehung. Letztlich dürfte es der Politik in einer interdependenten Welt kaum schwerfallen, irgendeinen sicherheitspolitischen Bezug zu konstruieren. – Vgl. ebenda, S. 61 (Rdnr. 116) und S. 30 (Rdnr. 47 f.). 24 Bei allen Abgrenzungsproblemen besteht bislang weitgehend Einigkeit darüber, dass der Begriff der Verteidigung enger gefasst ist als jener der Sicherheitspolitik. – Vgl. Gareis (2005), S. 13.

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Verteidigungsbegriff völkerrechtlich stilbildend, käme dies nolens volens einer Rückkehr zum Faustrecht gleich. Damit wäre die in der Präambel der Verfassung ausdrücklich verankerte Pflicht des deutschen Volkes, „dem Frieden der Welt zu dienen“, ad absurdum geführt. Unabhängig davon, wieweit der verfassungsrechtliche Rahmen für den Streitkräfteeinsatz gezogen wird: Der Wortlaut des Grundgesetzes deckt einzig die Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff eindeutig. Jeder darüber hinausgehende Auftrag verlangt nach starken interpretatorischen Eingriffen mit schwacher Belastbarkeit – ausgenommen hiervon wäre allenfalls die Erfüllung der militärischen Beistandspflicht auf Grundlage des WEU-Vertrags. Einsatzzwecke

Interpretationstechniken

nur Landesverteidigung

Verknüpfung von Art. 87a (1) mit Art. 115a (1)

Landesverteidigung und Bündnisverteidigung

Entkopplung von Art. 87a (1) von Art. 115a (1) in Verbindung mit Entstehungskontext (NATO, WEU) – evtl. Hinweis auf Art. 24 (2)

Landesverteidigung, Bündnisverteidigung und sonstige defensive Beistandslagen

Entkopplung von Art. 87a (1) von Art. 115a (1) sowie Entkopplung vom Entstehungskontext, aber in Verbindung mit Art. 25

Einsätze im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme

– Verweis auf Art. 24 (2) plus Interpretation von Art. 87a (2) im Sinne impliziter Ausdrücklichkeit – Verweis auf Art. 24 (2) plus Begrenzung von Art. 87a (2) auf Einsätze im Innern – Interpretation von Art. 24 (2) im Lichte von Art. 87a (1) (Konditionierung auf Einsätze zur Verteidigung)

Zusammenfassung: Welche (äußeren) Einsätze der Streitkräfte lassen sich durch welche Interpretationstechniken begründen? Art. Art. Art. Art. Art.

24 (2) 25 87a (1) 87a (2) 115a (1)

kollektive Sicherheitssysteme (Beitrittsrecht) Völkerrecht (unter besonderer Berücksichtigung des Rechts auf Nothilfe) Verteidigung als Streitkräftezweck sonstige Einsatzzwecke (Ausdrücklichkeitsgebot) Verteidigungsfall (materielle Legaldefinition)

2. Empirisches (tatsächliches) Ist Die verfassungsrechtlichen Fesseln beim Streitkräfteeinsatz sind im Zusammenwirken politischer Grundsatzdokumente und Karlsruher Rechtsprechung weitgehend abgestreift. Es besteht ein mittlerweile nahezu unbegrenzter Raum militärischer Möglichkeiten. Auch wenn dieser nicht zwingend

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ausgeschöpft werden muss, erlauben VPR und Weißbuch Bundeswehreinsätze mehr oder weniger ausdrücklich in folgenden Kontexten: – Präventive Selbstverteidigung: Obwohl das Weißbuch anders noch als die VPR den Bogen zu einem erweiterten Verteidigungsbegriff nicht explizit schlägt,25 finden sich verklausulierte Formulierungen, die auch ein präventives Verständnis von Selbstverteidigung decken, das nicht erst angesichts eines erfolgten oder unmittelbar bevorstehenden Angriffs auf die Bundesrepublik greift: „Sicherheitsvorsorge kann [. . .] am wirksamsten durch Frühwarnung und präventives Handeln gewährleistet werden und muss dabei das gesamte sicherheitspolitische Instrumentarium einbeziehen.“26 Der Einsatz militärischer Gewalt ist hier als Beitrag zur Prävention mitgedacht; an anderer Stelle gilt die „Bundeswehr mit ihrem gesamten Fähigkeitsspektrum“ sogar ausdrücklich als Mittel zur „frühzeitigen Konflikterkennung, Prävention und Konfliktlösung“27. – Antizipatorische Nothilfe für Bündnispartner: Die Beistandsverpflichtung gegenüber Bündnispartnern erfährt eine Erweiterung, wenn sie – wie bereits in den VPR – auch bei „Krisen und Konflikten“ gilt, „die zu einer konkreten Bedrohung eskalieren können“28. Nicht mehr einzig stattfindende oder unmittelbar drohende militärische Angriffe, sondern bereits geschätzte Eskalationspotentiale könnten demnach militärische wie nichtmilitärische Beistandsleistungen auslösen. Damit ergibt sich auch eine unmittelbare Anschlussfähigkeit an die Figur ‚antizipatorischer Selbstverteidigung‘, die die USA in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie 2002 für sich sogar dann reklamieren, „wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird“29. Und genau dieses Argument haben die USA gemeinsam mit Großbritannien im Vorfeld ihres völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen den Irak 2003 mehrfach gespielt.30 – Reformulierung der responsibility to protect: Das Weißbuch beruft sich auf die ‚responsibility to protect‘, die die UNO-Generalversammlung anlässlich des Weltgipfels 2005 beschlossen hat. Mit dieser Formel beanspruchen die Vereinten Nationen für sich das Recht, „rechtzeitig und ent25 Der einschlägige Passung lautet: „Verteidigung [lässt sich] geografisch nicht mehr eingrenzen, sondern trägt zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer diese gefährdet ist.“ – VPR (2003), Zi. 5. 26 Weißbuch (2006), S. 29. 27 Weißbuch (2006), S. 20. 28 Weißbuch (2006) S. 75 (Herv. SJ). 29 NSS (2002), S. 23. – Die Argumentationsfigur antizipatorischer Selbstverteidigung taucht auch im Nachfolgedokument von 2006 auf. – NSS (2006), S. 22 f. – Solange aber die Antworten auf die aufgeworfenen Fragen noch ausstehen, ist auf unklar, ob der zum Feind Erklärte tatsächlich attackieren wird. 30 Vgl. Jaberg (2008c), S. 102 f.

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schieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen“31. Das Weißbuch nimmt jedoch zwei Veränderungen vor:32 Zum einen erhebt es gerade den ohne UNO-Mandat geführten Kosovokrieg der NATO 1999 zum Paradigma. Eigenmächtige ‚humanitäre Interventionen‘ bleiben zumindest kurz- und mittelfristig durchaus im Repertoire der hohen Politik, denn das Weißbuch erwartet erst langfristig Auswirkungen auf die Mandatierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Zum anderen findet eine Erweiterung des inhaltlichen Einzugsbereichs statt, wenn sich die Schutzverantwortung auch auf „die Abwendung von humanitären Katastrophen, die Bekämpfung terroristischer Bedrohungen und de[n] Schutz der Menschenrechte“33 erstrecken soll. – Internationale Konfliktverhütung: Zwar gilt die „Verteidigung Deutschlands gegen äußere Bedrohungen“ weiterhin als „Kernfunktion der Bundeswehr“34. Allerdings lösen andere Funktionen wie die „[i]nternationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“ sie als „strukturbestimmende Aufgabe“ ab und „prägen maßgeblich Fähigkeiten, Führungssysteme, Verfügbarkeit und Ausrüstung der Bundeswehr“35. Dieser Wechsel des strukturellen wie funktionellen Primats bewirkt eine Verkehrung grundgesetzlicher Vorgaben. – Bundeswehr als Instrument der Außenpolitik: Mittlerweile rangiert im Weißbuch nicht nur das Ziel der „Stabilität im europäischen und globalen 31

Resolution der Generalversammlung A/Res/60/1, Zi. 139 (Herv. SJ). – Zur ‚responsibility to protect‘ vgl. u. a. Luck (2008) und Schorlemer (2007). 32 Der einschlägige Passus lautet im vollen Wortlaut: „Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen im Kosovo gewinnt auch im Völkerrecht der Gedanke zunehmend Anerkennung, dass die Abwendung von humanitären Katastrophen, die Bekämpfung terroristischer Bedrohungen und der Schutz der Menschenrechte den Einsatz von Zwangsmaßnahmen erfordern können. Als Reaktion auf die Intervention im Kosovo ist die völkerrechtliche Lehre von der ‚Responsibility to Protect‘ entstanden. Auch wenn die Staaten, die sich die Lehre zu Eigen gemacht haben, wahrscheinlich noch nicht in der Mehrheit sind, prägt die Debatte um die ‚Responsibility to Protect‘ doch zunehmend das Denken westlicher Länder. Dies wird langfristig Auswirkungen auf die Mandatierung internationaler Friedensmissionen durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben. Denn gerade wenn es zum Einsatz militärischer Gewalt kommt, ist die völkerrechtliche Legitimation entscheidend.“ – Weißbuch (2006), S. 57 f. 33 Weißbuch (2006), S. 57. 34 Weißbuch (2006), S. 13. 35 Weißbuch (2006), S. 93 und S. 72.

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Rahmen“, sondern auch die Sicherung der „außenpolitische[n] Handlungsfähigkeit“ im Auftragskatalog noch vor der „nationalen Sicherheit und Verteidigung“36. Bereits die VPR betonen: „Um seine Interessen und seinen internationalen Einfluss zu wahren [. . .], stellt Deutschland [. . .] Streitkräfte bereit, die schnell und wirksam zusammen mit den Streitkräften anderer Nationen eingesetzt werden können.“37 Mit dieser Formel wird dem Einsatz der Bundeswehr zu ganz anderen Zwecken als der Friedenssicherung und der Verteidigung Tür und Tor geöffnet. Sie reichten potentiell von eher ‚weichen‘ Zielen wie der Pflege angeschlagener Beziehungen zu wichtigen Bündnispartnern über die Untermauerung eines Anspruchs auf einen nichtständigen oder gar ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat38 und die Demonstration militärischer Handlungsfähigkeit z. B. der Europäischen Union (EU) bis hin zur Durchsetzung ‚harter‘ nationaler Interessen. Und genau bei diesem letzten Punkt legt das Weißbuch nach, auch wenn es die Allzweckformel der VPR nicht vollständig wiederholt.39 So placiert es etwa „Verwerfungen im internationalen Beziehungsgefüge, Störungen der Rohstoff- und Warenströme, beispielsweise durch zunehmende Piraterie“40 auf der sicherheitspolitischen Agenda. Obgleich es die möglichen Konsequenzen nicht ausbuchstabiert, schließt es auch keine ausdrücklich aus. Dabei wäre prinzipiell ein weites Einsatzspektrum denkbar: Es reichte vom bloßen Begleitschutz, wenn es um die Sicherung der Versorgungswege gegen Piraterie geht, bis hin zum Regimechange, wenn Beeinträchtigungen auf der Tagesordnung stehen, die durch ‚Verwerfungen im internationalen Beziehungsgefüge‘ entstanden sind. Das Weißbuch stellt damit ebenso wie die vorgängigen VPR genügend Legitimationspotential bereit, mit dem auch eine Mitwirkung deutscher Streitkräfte am Irakkrieg (2003) hätte begründet werden können – entsprechende politische Absicht der Regierung und Zustimmung des Parlaments vorausgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht wäre im Falle seiner Anrufung dann zwar eine mögliche, aber – eingedenk seiner bisherigen Recht36

Weißbuch (2006), S. 70. VPR (2003), Zi. 72. 38 Bereits bei der Besetzung der nichtständigen Sitze im Sicherheitsrat spielt gemäß Artikel 23 (Absatz 1) „in erster Linie der Beitrag [. . .] zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und zur Verwirklichung der sonstigen Ziele der Organisation“ eine Rolle. 39 So heißt es im Weißbuch ‚nur‘: „Die Bundesregierung wird [. . .] auch künftig in jedem Einzelfall prüfen, welche Werte und Interessen Deutschlands den Einsatz der Bundeswehr erfordern“. – Weißbuch (2006), S. 29. – Da die Sicherung von Einfluss in der Theorietradition des sogenannten ‚Realismus‘ gemeinhin zu den ‚nationalen Interessen‘ gezählt wird, wäre sie durchaus vom Interessenbegriff, wie er im Weißbuch verwendet wird, mit abgedeckt. 40 Weißbuch (2006), S. 26. 37

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sprechung – keineswegs unüberwindbare Hürde gewesen: Es begreift auch Bündnisse wie die NATO als kollektive Sicherheitssysteme, und der nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erstmalig ausgerufene Bündnisfall steht weiterhin in Kraft, so dass auch die im Irakkrieg aktive ‚Koalition der Willigen‘ durchaus als gerechtfertigt hätte angesehen werden können (keineswegs müssen). Darüber hinaus interpretiert es den Kosovokrieg als Stärkung der Autorität des Sicherheitsrats, ohne dessen fehlendes Mandat zumindest zu monieren. Den Richtern genügt es, dass „die Gipfelerklärung zum Kosovo eine Lösung dieser Krise und eine Beendigung des NATO-Einsatzes auf der Grundlage einer Resolution des UN-Sicherheitsrats anstrebt, nachdem der Rat [des Bündnisses, SJ] sich bereits maßgeblich auf Resolutionen des Sicherheitsrats bei der Begründung der Luftschläge gestützt hatte“41. Gleiches ließe sich mit gutem Grund auch für den Irakkrieg behaupten, schließlich haben sich die USA immer wieder auf den Resolutionsbestand der Vereinten Nationen (insbesondere die Resolutionen 687 und 1441) berufen.42 Ohne Hinweis auf das absolute Gewaltverbot der UNO-Charta, das Staaten nicht erst die Anwendung, sondern bereits die Androhung von Gewalt untersagt,43 unterstützt das Bundesverfassungsgericht das weite Sicherheitsverständnis der NATO. Demnach könnten „ ‚im Falle von Krisen, die möglicherweise zu einer militärischen Bedrohung der Sicherheit der Bündnismitglieder führen, [. . .] die Streitkräfte des Bündnisses innerhalb eines breit angelegten sicherheitspolitischen Ansatzes politische Maßnahmen ergänzen und ihnen Nachdruck verleihen und damit zur Bewältigung derartiger Krisen und ihrer friedlichen Lösung beitragen‘ “44. Im Urteil von 2001 attestiert das Karlsruher Gericht sogar das ‚Recht der freien Hand‘, wenn es den politischen Führungen im Krisenfalle gestattet, „die geeignete Reaktion aus einem Spektrum politischer und militärischer Maßnahmen auszuwählen“45. Der Entscheid zum Tornado-Einsatz in Afghanistan (2007)46 verleiht in Ziffer 55 dem entgrenzten Verteidigungsverständnis mit der Allzweckformel „Krisenreaktionseinsätze [. . .] auch unabhängig von einem äußeren Angriff“ seinen begrifflichen Ausdruck.

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BVerfGE, 104, 151, S. 211 f. Vgl. Jaberg (2003). 43 Gemäß UNO-Charta sind vom Gewaltverbot nur Maßnahmen zur Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff (Artikel 51) und Sanktionen des Sicherheitsrats gemäß Kapitel VII ausgenommen. 44 BVerfGE, 90, 286, S. 300 f. (Herv. SJ). 45 BVerfGE, 104, 151, S. 214. 46 BverfG, 2 BvE2/07 vom 3. Juli 2007. (http://www.bverfg.de/entscheidungen/ es20070703_2bve000207.html.) (abgerufen: 9. Juli 2007). 42

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3. Mögliche Tabus auf dem Prüfstand Selbstverständlich lassen sich sicherheits- und verteidigungspolitische Grundlagendokumente nicht nur unter der Fragestellung betrachten, welche Militäreinsätze sie bei Bedarf zu legitimieren in der Lage wären. Vielmehr besteht die Möglichkeit, sie nach offen formulierten oder auch versteckten Tabus abzuklopfen. Dabei bieten sich zunächst drei ‚Kandidaten‘ an: – Nationale Alleingänge jenseits von Rettungs- und Evakuierungsoperationen: Das Weißbuch bekennt sich zu einem „wirksamen Multilateralismus“, bei dem Deutschland „seine sicherheitspolitischen Interessen vor allem in internationalen und supranationalen Institutionen wahr[nimmt]“47. Hierzu zählt es außer der NATO auch die EU, die UNO sowie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Lediglich die Rettung und Evakuierung deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger liege „grundsätzlich in nationaler Verantwortung“48. Diese Aufgabe müsse „weltweit eigenständig, aber auch mit Beteiligung von Verbündeten und Partnern wahrgenommen werden können“49. Entsprechend sieht das Weißbuch hierfür bis zu 1.000 Einsatzkräfte vor.50 – Angriffskriege: Einer Beteiligung Deutschlands an einem Angriffskrieg schiebt das Grundgesetz gleich einen doppelten Riegel vor:51 Zum einen stellt es in Artikel 26 bereits die Vorbereitung eines solchen Unterfangens unter Strafe. Zum anderen bekennt es sich zum Völkerrecht. Und zu dessen Normbestand gehört noch immer das absolute Gewaltverbot der UNO-Charta. Ist damit aber die Gefahr verlässlich gebannt, dass Deutschland sich an militärischen Aggressionen beteiligt – und zwar auch mit militärischen Mitteln? Sogar das gröbste Unrechtsregime, das die Geschichte bislang gesehen hat, das faschistische Deutsche Reich, hat seinen Angriff gegen Polen als Verteidigungsmaßnahme inszeniert – ab 5.45 Uhr wurde bekanntlich nicht ‚geschossen‘, sondern es wurde ‚zurückgeschossen‘. Wieviel schwerer würde sich das demokratische Deutschland tun, einen Angriffskrieg zu erklären, zumal hier bereits der Kriegsbegriff tabuisiert scheint?52 Faktisch liegt die Hürde ‚Angriffskrieg‘ unüberwindbar hoch. Um überhaupt als Maßstab zu taugen, müsste sie gesenkt werden. Wer die 47

Weißbuch (2006), S. 28 f. – Eine ähnliche Formulierung findet sich auf S. 34. Weißbuch (2006), S. 73 (Herv. SJ). 49 Weißbuch (2006), S. 73 (Herv. SJ). 50 Vgl. Weißbuch (2006), S. 91. 51 Vgl. Abschnitt I.1. dieses Beitrags. 52 Anna Geis sieht insbesondere im Begriff der humanitären Intervention eine „paradoxe Wendung“ am Werk, die darin besteht, „die Tabuisierung des Krieges dadurch aufzuheben, dass sie den Begriff ‚Krieg‘ tabuisiert“ – Geis (2005), S. 10. 48

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Mitwirkung an einem Angriffskrieg (oder anderweitigen völkerrechtswidrigen Militäraktionen) verlässlich ausschließen will, hätte bereits darauf zu achten, dass die Grenze zwischen Angriffshandlungen und Verteidigungsmaßnahmen nicht noch weiter verschwimmt, als es im Grundgesetz mit der Einbeziehung der Präemption in den Verteidigungsfall bereits angelegt ist.53 – Militärische Absicherung bzw. Durchsetzung partikularer Anliegen: Sicherlich lässt sich die Verfolgung politischer oder ökonomischer Ziele jenseits des verfassungsrechtlich Zulässigen insbesondere dann nicht verlässlich ausschließen, wenn sie als ‚hidden agendas‘ in Missionen eingebettet sind, die zumindest vordergründig solchen Zwecken dienen, die durch Völkerrecht und höchstrichterliche Auslegung des Grundgesetzes einigermaßen abgesichert sind bzw. scheinen. Dies beträfe z. B. das AfghanistanEngagement im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF). Zwar basiert es auf einem Mandat der Vereinten Nationen, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zweifelsohne zu jenen Kollektivsystemen rechnet, an denen sich Deutschland mit Streitkräften beteiligen darf. Allerdings dient der Einsatz am Hindukusch aber durchaus auch, wenn nicht gar primär der Kurierung des seit dem Irakkrieg (2003) angeschlagenen Verhältnisses zu den USA.54 Dazu besitzt die Bundeswehr aber keinen verfassungsrechtlichen Auftrag. Solche ‚hidden agendas‘ stellen mithin schon längst kein Tabu mehr dar, die ungeschminkte Verfolgung partikularer Anliegen – insbesondere die Absicherung bzw. Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen oder welt- bzw. regionalordnungspolitischer Ziele – möglicherweise schon. Denn schließlich bekennt sich das „Deutsche Volk“ in der Präambel der Verfassung dazu, „dem Frieden der Welt zu dienen“. Dies könnte dem Entgrenzungspotential des Weißbuchs einen Riegel vorschieben. Denn Militäreinsätze einzig zur blanken Interessenpolitik, die nicht durch irgendeinen friedensnormativen Mehrwert flankiert oder doch zumindest kaschiert wird, stehen in augenfälligem Widerspruch zum Friedensgebot. Gewiss kann keine Prognose abgegeben werden, welches Tabu in Zukunft bestehen bleiben und welches fallen wird. Allerdings scheint es möglich, die Belastbarkeit zu testen. – Nationale Alleingänge jenseits von Rettungs- und Evakuierungsoperationen: Durch die Einbindung in die NATO, vor allem aber aufgrund lückenhafter militärischer Fähigkeiten verfügt die Bundesrepublik nicht über das Potential, wie die USA über einen längeren Zeitraum komplexe Kriegs53 54

Vgl. Abschnitt I.1. dieses Beitrags. Vgl. Jaberg (2008c), S. 100–102.

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operationen alleine durchzuführen. Das betrifft zum einen den Personalansatz: So sieht das Weißbuch ‚nur‘ 35.000 Eingreifkräfte (einschließlich der Spezialkräfte) vor, die zu vernetzten Operationen hoher Intensität in der Lage wären. Von den 70.000 für Szenarien niederer und mittlerer Intensität eingeplanten Stabilisierungskräften sollen maximal 14.000 gleichzeitig zum Einsatz kommen. Die verbleibenden 147.500 Unterstützungskräfte dienen vor allem der Aufrechterhaltung des Grundbetriebes. Zum anderen aber sprechen technische Fähigkeitslücken – insbesondere bei der strategischen Verlegbarkeit – gegen künftige militärische Alleingänge. Auch wenn das Weißbuch hier einen „Mindestumfang an eigenen militärischen Kapazitäten [für] unerlässlich“ hält und der Bundeswehr mit dem Airbus A 400 M „erstmals die Fähigkeit zur schnellen weitreichenden Verlegung in Einsatzgebiete auch außerhalb Europas“ attestiert,55 so favorisiert die noch von Peter Struck erlassene „Konzeption der Bundeswehr“ (2004) beim ebenfalls relevanten Problem des militärischen Seetransports „europäische Lösungen“56. Für größere und über einen längeren Zeitraum angelegte eigenmächtige Kampfhandlungen reichen die Bordmittel weder jetzt noch in absehbarer Zeit aus. Allenfalls besäßen die Einsatzkräfte – insbesondere das Kommando Spezialkräfte – die Fähigkeit zu verdeckten militärischen Operationen, mit den Regionen zwar nicht erobert und beherrscht, aber immerhin destabilisiert werden könnten.57 – Angriffskriege: Einige Argumentationsfiguren des Weißbuchs stimmen skeptisch, weil sie den Graubereich zwischen gerader noch erlaubter Selbstverteidigung und schon verbotenem Angriffskrieg erweitern: Hierzu zählt erstens das verklausulierte Bekenntnis zur ‚präventiven Selbstverteidigung‘, zweitens die Einräumung ‚antizipatorischer Nothilfe‘ für Bündnispartner in mutmaßlich eskalationsträchtigen Konfliktlagen. Hinzu kommt drittens die Erhebung des ohne UNO-Mandat geführten Kosovokriegs 1999 zum Paradigma der ‚responsibility to protect‘, der letztlich nur durch das völkerrechtlich fragwürdige Konstrukt der humanitären Intervention vor dem Verdikt des Angriffskriegs geschützt wird.58 – Militärische Absicherung bzw. Durchsetzung partikularer Anliegen: An dem Tabu, Streitkräfte zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen einzusetzen, wird kräftig gerüttelt. Im Weißbuchentwurf wurde das nationale Interesse ganz allgemein zum alleinigen Maßstab erhoben. Auch wenn 55 Weißbuch (2006), S. 115. – Allerdings stehen der Einsatzfähigkeit des Airbus‘ immer noch technische Probleme entgegen – vgl. Löwenstein (2009). 56 Konzeption der Bundeswehr (2004), S. 90. 57 Allerdings besteht in der derzeit rein hypothetischen Frage, welche Szenarien die Bundeswehr aus eigenem Beritt bewältigen könnte, Forschungsbedarf. 58 Vgl. Merkel (2000).

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die veröffentlichte Fassung ihm den Wert als weitere Prüfinstanz zur Seite stellt,59 bleibt das nationale Interesse als entscheidender Referenzpunkt bestehen. Insbesondere der Themenkomplex ‚Energiesicherheit‘ und ‚Freiheit der See- und Handelswege‘ dürfte sich hier als Einfallstor für eine militärische Stützung blanker Interessenpolitik eignen. Denn er befindet sich nicht nur seit geraumer Zeit auf der Agenda,60 sondern hier sind bereits erste Schritte gemacht, wenn bei der Verlängerung des Mandats der Marine am Horn von Afrika der „Beitrag zum Schutz dieser für den Welthandel strategisch wichtigen Seepassage“61 mittlerweile ausdrückliche Würdigung erfährt. Unter dem Mandatsschirm der Vereinten Nationen geht die Bundeswehr im Rahmen einer EU-Mission vor der somalischen Küste schon aktiv gegen Piraterie vor. Kommentatoren des politischen Geschehens wie Stephan Löwenstein bescheinigen mit gutem Grund, dass es selten so offensichtlich um die Wahrung nationaler Interessen ging wie in diesem Fall. Aufgrund der hohen Zustimmungsrate im Bundestag von etwa achtzig Prozent lässt sich mit Löwenstein der plausible Schluss ziehen, wonach nicht nur in der programmatischen Entwicklung, sondern auch in der praktischen Politik „Interessen inzwischen als legitimes Motiv anerkannt“62 seien. Selbst wenn beim derzeitigen Einsatz weitere Faktoren – wie bestehende UNO-Mandate, die Einbettung in einen EU-Rahmen oder der quasi polizeiliche Charakter des Auftrags – eine Rolle gespielt haben mögen: Eingedenk der bisherigen Erfahrung bei der Auflösung bestehender Tabus lässt sich eine tendenzielle Entkopplung von diesen begrenzenden Faktoren keineswegs ausschließen. Darüber hinaus hängt das Funktionieren des westlichen Zivilisationsmodells entscheidend von einer hinreichenden Energieversorgung ab, mithin dürfte sich der Problemkomplex gut für eine vollständige ‚Versicherheitung‘ (securitization) eignen: Demnach suggeriert das Sicherheitsetikett eine existentielle Dimension, die zum Einsatz militärischer Mittel gleichsam naturgemäß berechtigt.63 4. Wege zur Behebung des Norm-Empirie-Problems Das Norm-Empirie-Problem besteht in der (wachsenden) Diskrepanz zwischen dem, was der originäre Wortlaut des Grundgesetzes vorsieht, und der 59

Vgl. Abschnitt I.2. dieses Beitrags. Vgl. Meier-Walser (2006), Varwick (2008), Busse (2008). 61 Deutscher Bundestag, Drucksache 16/6939 vom 7. November 2007, S. 3. Ebenso: Deutscher Bundestag, Drucksache 16/3150 vom 25. Oktober 2006, S. 2. 62 Löwenstein (2008). 63 Vgl. Buzan et al. (1998), Jaberg (2009), S. 20–24. 60

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tatsächlichen bzw. möglichen Einsatzrealität. Diese Kluft wird gegenwärtig ausschließlich durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts notdürftig überbrückt. Wer sich mit dem status quo aber nicht bescheiden möchte, dem bleiben drei Optionen: – Problembehebung durch Anpassung der Einsatzrealität an das Grundgesetz (zurück zum status quo ante), – Problembehebung durch Anpassung der Verfassung an die Einsatzrealität (Grundgesetzänderung), – Problemmanagement durch Kriterienkataloge. Insbesondere die dritte Lösung erfreut sich im Moment sowohl in Wissenschaft als auch in Politik größerer Beliebtheit.64 Dies dürfte vor allem den Defiziten der beiden anderen Optionen geschuldet sein. Die erste Variante – zurück zum status quo ante – erscheint aufgrund ihres rein restaurativen Charakters wenig attraktiv, zumal eine Rückkehr zum ‚alten‘ Zustand auch mit praktischen Hindernissen zu kämpfen hätte: Denn zum einen wirkt die ‚normative Kraft des Faktischen‘. Deutschland und seine Rolle in der Welt haben sich eben durch die Praxis seit Anfang der neunziger Jahre verändert. Und zum anderen bliebe die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestehen, die den Verfassungsrahmen für Streitkräfteeinsätze deutlich erweitert hat. Hier wäre also ebenfalls eine Rücknahme oder doch zumindest eine deutliche Korrektur der bisherigen Rechtsprechung erforderlich, was aber kaum zu erwarten steht. Hinzu käme ein speziell friedenswissenschaftliches Problem: Insbesondere solche Ansätze, die bewaffnete Einsätze etwa zum Schutz bedrohter Bevölkerungen zumindest zu erwägen bereit sind,65 könnten um den friedenspolitischen Kollateralnutzen des erweiterten Einsatzspektrums fürchten. Die zweite Option – Anpassung des Grundgesetzes an die Realität – birgt die Gefahr, den Erlaubnisraum erneut auf Dauer verfassungsrechtlich zu fixieren. Je nach Standpunkt könnte dieser Raum jetzt oder künftig als zu eng oder zu weit gefasst erscheinen. Damit verspricht der dritte Vorschlag – Problemmanagement durch Kriterienkataloge – den angemessenen Weg zu weisen, sofern die Schwierigkeiten im Umgang mit Auslandseinsätzen nicht auf einen Mangel an politischer Führung verkürzt werden sollen.66 Denn er knüpft pragmatisch an der 64 Vgl. u. a.: Raidel (2008), Hippler (2007), Perthes (2007), CSU (2007), Weisser (2006). 65 Vgl. Abschnitte II.2.b) und II.2.c) dieses Beitrags. 66 Michael Rühle etwa lehnt „abstrakte[.] Kriterienkataloge“, an die sich bei der nächsten Krise ohnehin niemand mehr erinnere, mit dem Argument ab, Auslandseinsätze der Bundeswehr seien „ausschließlich eine Frage der politischen Führung“. – Rühle (2008).

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veränderten Realität an und eröffnet der hohen Politik Chancen, sich in der Frage der Auslandseinsätze konzeptionell auszurichten und gleichzeitig flexibel auf Veränderungen zu reagieren.67 Grundsätzlich können Kriterienkataloge auf den Raum militärischer Möglichkeiten drei Effekte ausüben. Sie könnten ihn begrenzen, weiter ausdehnen und strukturieren helfen.

II. Kriterienkataloge – ein probates friedenswissenschaftliches Instrument? Das in Politik und Wissenschaft beliebte Instrument des Kriterienkatalogs findet auch in die Friedensforschung Einzug. So enthält das jährlich von fünf renommierten Instituten herausgegebene Friedensgutachten im Jahre 2007 einen Vorschlag von Jochen Hippler für einen Kriterienkatalog.68 Allerdings soll es an dieser Stelle nicht darum gehen, diesen im Detail zu referieren, zu analysieren und zu problematisieren. Vielmehr fungiert er als Sprungbrett, um sich mit den immanenten Ambivalenzen dieses Instruments auseinanderzusetzen und Fragen der friedenswissenschaftlichen Positionierung zu erörtern. Dabei werden mögliche Optionen identifiziert und deren jeweilige Begründungsratio offengelegt. 1. Immanente Ambivalenzen Unzweifelhaft sind dem Hippler’schen Kriterienkatalog die friedenspolitischen Absichten eingeschrieben: Erstens nimmt er eine entsprechende Konditionierung vor, wenn er einzig „schwerste humanitäre Notlagen wie Völkermord und größere ethnische Säuberungen“69 als legitime Interventionsgründe anerkennt und imperiale Einmischungen ablehnt. Zweitens möchte er das Völkerrecht schützen, das seit der UNO-Charta als „Friedenskraft“70 gilt. Deshalb verlangt er eine klare Rechtsgrundlage, die einzig mit einem Mandat des Sicherheitsrats nach Kapitel VII gegeben sei. Damit eng verbunden begreift Hippler drittens kollektive Regelwerke wie diejenigen der Vereinten Nationen und ihrer regionalen Abmachungen bzw. Einrichtungen als Bremsmechanismen gegenüber imperialen Alleingängen. Viertens verweist er den Einsatz von Streitkräften in den Rang einer ultima ratio, zu der ausschließlich dann gegriffen werden dürfe, „wenn zuvor alle 67 Wenngleich dieser dritte Weg als Alternative zu den beiden anderen gegangen werden kann, so besteht doch zumindest auch die Option, ihn als Vorarbeit für eine spätere Grundgesetzänderung zu begreifen. 68 Vgl. Hippler (2007). 69 Hippler (2007), S. 120. 70 Kimminich/Hobe (2000), S. 44.

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anderen, zivilen Möglichkeiten einer Konfliktlösung ausgeschöpft wurden oder nachweislich aussichtslos sind“71. Fünftens ordnet er das militärische Instrument der politischen Logik prinzipiell unter und versucht mehrfach, einer Verselbständigung bzw. Überbetonung des militärischen Anteils entgegenzuwirken, indem er etwa eine „zivile[.] Führung“ im Einsatzgebiet, eine „begleitende und bilanzierende Evaluierung durch externe Fachleute“72 sowie eine „durchdachte[.] Exitstrategie“73 verlangt. Sechstens geht es Hippler primär um gelungene Konfliktbearbeitung, die zuerst der Bevölkerung des Ziellandes dient, wenn er für ein „politische[s] Gesamtkonzept[..]“ plädiert, das nicht nur „die allgemeinen Politikziele in akteurspezifische, operationalisierbare Unterziele auflöst“, sondern auch „politische Lösungen und entwicklungspolitische Mittel ins Zentrum stellen“74 soll. Außerdem müsse ein solches Interventionsprojekt über eine „tragfähige gesellschaftliche Basis im Zielland“75 verfügen. Siebtens fordert er einen „belastbaren Konsens[..] in der deutschen Innenpolitik“76, der nicht nur Verlässlichkeit des Engagements garantieren, sondern hier zum inneren Frieden beitragen kann. Sicherlich wirft dieser Kriterienkatalog auch friedenswissenschaftliche Nachfragen auf.77 Sie müssen an dieser Stelle aber nicht vertieft werden, schließlich geht es um eine grundsätzliche Reflexion auf friedensstrategische Ambivalenzen eines solchen Instruments. Denn der Versuch einer Konditionierung kann entweder erfolgreich sein oder scheitern. Während der erste Fall zumindest dann als unbedenklich gelten kann, wenn die zugrundeliegenden friedenspolitischen Prinzipien geteilt werden,78 stellen sich im zweiten Fall beachtenswerte Probleme ein. Denn dann wäre nicht nur das eigentliche Ziel verfehlt, sondern zusätzlicher ‚Kollateralschaden‘ zu verzeichnen. Die Friedensforschung hätte – nolens volens – mit ihren Kriterienkatalogen dazu beigetragen, jenen legitimatorischen Schatten zu spenden, in welchem sich der Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee vollzogen hätte, die ganz anderen Zwecken als dem Frieden diente.

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Hippler (2007), S. 120. Hippler (2007), S. 120. 73 Hippler (2007), S. 121. 74 Hippler (2007), S. 121. 75 Hippler (2007), S. 119. 76 Hippler (2007), S. 121. 77 Insbesondere stellt sich die Frage, was wäre, wenn die gleichen imperialen Ambitionen, die Hippler hinter Militärinterventionen mächtiger Staaten vermutet, im Falle eines Völkermords einen Interventionsbeschluss der Vereinten Nationen blockierten. 78 Vgl. Abschnitt II.2. dieses Beitrags. 72

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2. Friedenswissenschaftliche Positionierung Jede friedenswissenschaftliche Positionierung verlangt zunächst nach einer normativen Grundsatzentscheidung über die eigene Gewalttoleranz. Dabei besteht einerseits die Möglichkeit, eine Parteinahme für Gewalt – in welcher Form und zu welchem Zweck auch immer – kategorisch abzulehnen. Mit Blick auf das Instrument des Kriterienkatalogs impliziert dies zumindest einen Mitwirkungsverzicht. Andererseits gibt es aber auch Versuche, eine gewisse Restgewalt friedenspolitisch zu instrumentalisieren. Für die Debatte über das normativ grundsätzlich zweischneidige Instrument des Kriterienkatalogs kann das zweierlei bedeuten: Entweder die Friedensforschung beteiligt sich an ihr, weil sie sich von Einsätzen der Bundeswehr einen friedenspolitischen Mehrwert verspricht. Dies liefe dann aber auch auf eine Inkaufnahme der Ambivalenzen hinaus. Oder aber sie fördert stattdessen Debatten über ordnungspolitische Alternativen. Hierzu zählten insbesondere Plädoyers für bessere Instrumentarien der Vereinten Nationen (z. B. organisationseigene Blauhelme, Verbesserung der Krisenprävention), die den Rückgriff auf nationale Streitkräfte überflüssig machten. Damit wäre die Kalkulation hinfällig, Auslandseinsätze aus friedenspolitischen Erwägungen zulassen und entsprechend konditionieren zu ‚müssen‘.79 Für alle aufgezeigten Möglichkeiten – Verzicht auf jegliche Gewaltlegitimation (Option 1), Beteiligung an der Debatte über Kriterienkataloge (Option 2) und Beförderung alternativer Ordnungsmodelle (Option 3) – sprechen gute friedenswissenschaftliche Gründe. Diese gilt es schrittweise zu plausibilisieren, indem zunächst Argumente für die gewaltfreie Option 1 und danach für die beiden gewalthaltigen Optionen 2 und 3 dargelegt werden, um abschließend die speziellen Gründe für die dritte Möglichkeit zu identifizieren. Dabei hängt die Entscheidung für eine der genannten Alternativen von den jeweiligen Antworten auf folgende Fragen ab: – Worin besteht der (primäre) Auftrag von Friedensforschung? – Wie ist die Friedensnorm inhaltlich konstruiert? – Welche Effekte auf die Konfliktbewältigung werden erwartet? a) Argumente für Option 1 Auftrag der Friedensforschung: Der Verzicht auf jegliche Gewaltlegitimation liegt dann nahe, wenn der friedenswissenschaftliche Auftrag wie 79 Zwar ließe sich die UNO-Option auch in einer strikt gewaltfreien Variante denken. Blauhelme wären demnach ausschließlich als unbewaffnete oder allenfalls leichtbewaffnete Einheiten denkbar. Allerdings handelte es sich dann eher um eine Spielart der ersten Option, die die Legitimierung personaler Gewalt kategorisch ablehnt.

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folgt konstruiert wird: Entweder Friedensforschung beschränkt sich in einer sozialkonstruktivistischen Variante auf die Funktion eines Seismographen, der Gewalt- und Friedensdiskurse in Wissenschaft wie Gesellschaft aufzeichnet, ohne selbst eine normative Position zu vertreten.80 Oder sie konzentriert sich in ihrer empirisch-analytischen Spielart vornehmlich auf die Untersuchung stattfindender Gewaltprozesse und verzichtet damit ebenfalls auf einen eigenen normativen Standpunkt.81 Oder sie begreift sich in einer pazifistischen Variante als Anwältin der Gewaltfreiheit in einem arbeitsteilig geführten Diskurs. Die Berechtigung des pazifistischen Standpunkts ergibt sich nach Harald Müller durch seine Eigenheit, stets an die „unverrückbare Ungerechtigkeit jedes Krieges“82 zu erinnern. Dadurch zwinge er Befürworter humanitärer Intervention dazu, „die Messlatte sehr hoch zu legen, bevor sie die Gewaltanwendung befürworten“83. Eine solche Sichtweise erlaubt es, das pazifistische Argument besonders pointiert zu spielen, weil sie sich nicht so sehr mit den praktischen Auswirkungen beschäftigen müsste. Allerdings birgt sie auch die Gefahr, im Wissen um die Relativität des eigenen Standpunkts diesen nicht mit letzter Konsequenz zu verfechten oder ihn in politischen Drucksituationen frühzeitig zu räumen. Diese Gefahr würde jedoch dann minimiert, wenn die argumentationstaktische Position durch eine normativ-prinzipielle Dimension angereichert und gefestigt würde.84 Friedensnorm: Option 1 drängt sich auch dann auf, wenn der Begriffsinhalt des Friedens mit absoluter Gewaltfreiheit gleichgesetzt wird. Denn schließlich wird er in der Regel als Komplenym konstruiert, wonach Frieden zuerst Nicht-Krieg bzw. Nicht-Gewalt bedeutet. Für diesen Definitions80

Vgl. Weller (2005). Zu dieser Ausrichtung zählen etwa das Correlates of War-Projekt (http://www.correlatesofwar.org) sowie Studien der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) (http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/Ipw/ Akuf/index.htm) oder auch des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK) (http://www.hiik.de). 82 H. Müller (2002). 83 H. Müller (2002). 84 Dabei besteht nicht nur die Möglichkeit, die Friedensnorm absolut gewaltfrei zu fassen (siehe weiter unten). Es existiert auch die Alternative eines ‚erkenntnistheoretischen Pazifismus‘, der sich um die Schärfung eines pazifistischen Blicks auf die Weltläufte bemüht. Seine epistemischen Imperative (EI) lauten: „wehre dich gegen Dämonisierungen der Gegenseite und versuche immer, den Fall aus der Sicht der Gegenseite zu verstehen“ (EI 1), „suche immer nach friedfertigen Alternativen zu einem geplanten Militäreinsatz“ (EI 2), „schärfe deinen Blick für die unkontrollierbaren, irreversiblen Nebenfolgen eines militärischen Einsatzes und achte besonders auf die Gefahr, dass ein weiterer Weltkrieg ausbrechen könnte“ (EI 3) – O. Müller (2007), S. 42, S. 46 und S. 48. – Zur Uneindeutigkeit des Pazifismusbegriffs vgl. auch Brücher (2008) und Grotefeld/Strub (2007). 81

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modus hat Johan Galtung das Schlagwort des negativen Friedens geprägt, der präziser als negativ definierter Frieden bezeichnet werden müsste. Frieden besteht seines Erachtens in der „Abwesenheit von personaler Gewalt und Abwesenheit von struktureller Gewalt“85. Während Galtung spätestens in seinem erkenntnistheoretischen Yin und Yang-Modell mit dichotomen Konstruktionen explizit bricht und im Frieden Gewaltelemente und in der Gewalt Friedenselemente immerhin als Denkmöglichkeit zulässt,86 erklärt Wolf-Dieter Narr einen „pazifistisch umfassende[n] Friedensbegriff“87, der Relativierungen nicht gestatte, weiterhin für notwendig.88 Konfliktbearbeitung: Ein Beitrag zur Gewaltlegitimierung verbietet sich geradezu, wenn positive Auswirkungen auf die Konfliktbewältigung ausschließlich von friedlichen Methoden zu erwarten stehen. Insbesondere in Anschluss an Mahatma Gandhis ‚satyagraha‘ (‚Gütekraft‘)89 stellt aktive Gewaltausübung im Dienste des Friedens einen immanenten Widerspruch dar. Die – quasi-religiöse – Grundüberzeugung ist einfach: „So wie aus dem Samen eines Baumes nur ein Baum hervorgehen kann, so kann aus einem guten Mittel nur ein guter, aus dem bösen Mittel nur ein böser Zweck hervorgehen.“90 Sogar Notwehr erscheint in dieser Perspektive, wird sie konsequent zu Ende gedacht, als problematisch, denn in der Opferung des eigenen Lebens gelange „eine Kette tödlicher Gewalttaten an ihr Ende“91. b) Argumente für Optionen 2 und 3 Auftrag der Friedensforschung: Die zwei Optionen – Diskussion von Kriterienkatalogen und Plädoyers für eine Stärkung der Vereinten Nationen – rücken zumindest in den friedenswissenschaftlichen Prüf- und Möglichkeitsraum, wenn die Aufgabe der ‚Disziplin‘ über die Funktion einer Anwältin des Friedens in einem kontroversen Diskursfeld hinaus auf die aktive Konfliktbewältigung ausgedehnt wird. Diese Position liegt insofern nahe, als Friedensforschung von Beginn an als (angewandte) Wissenschaft in praktischer Absicht etabliert worden ist – und zwar über wissenschaftstheoretische und ‚politische‘ Grenzen hinweg.92 Eine solche Ausrichtung müsste möglichen Wirkungen, die ein Eingreifen oder Nichteingreifen mit gewalt85 86 87 88 89 90 91

Vgl. Galtung (1975), S. 32 (Herv. im Original). Vgl. Galtung (1998) und Jaberg (2008a). Narr (2006), S. 123. Vgl. Narr (2006), S. 118. Diese Übersetzung stammt von Martin Arnold – vgl. Arnold (1999). Sternstein (1984), S. 15. Sternstein (1984), S. 10.

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freien oder gewaltsamen Mitteln mutmaßlich aufweisen wird, größeres reflexives Gewicht einräumen, ohne damit jedoch eine Antwort zugunsten gewalthaltiger Ansätze zu präjudizieren. Friedensnorm: Hingegen führt kaum ein Weg an eine der beiden Optionen vorbei, wenn der Friedensnorm selbst eine gewisse Restgewaltsamkeit eingeschrieben wird. Dies gilt zum einen für Carl Friedrich von Weizsäckers Konzept der Weltinnenpolitik, das auf zwei Pfeilern baut: der „Beurteilung weltpolitischer Probleme mit innenpolitischen Kategorien“93 und der Existenz „übernationaler Institutionen“94, die ihren Mitgliedern gegenüber quasi innenpolitisch agieren.95 Die prinzipiell für tragfähig erachtete Lösung, die der (demokratische) Nationalstaat für die Überwindung des ‚Kriegs aller gegen alle‘ geleistet hat, soll soweit wie möglich auf das internationale System übertragen werden, ohne jedoch die Schwelle zum Weltstaat zu überschreiten. Dazu gehört die Absicht, innerhalb der Vereinten Nationen einer globalen Exekutive, einer globalen Legislative und einer globalen Judikative möglichst nahezukommen.96 Dabei bieten sich zwei Optionen an: Entweder die weltinnenpolitische Organisation wird zum Schutz weltinnenpolitischen Rechts mit eigenen Truppen ausgestattet, oder die Mitglieder stellen bei Bedarf Streitkräfte zur Verfügung. Während die erste Variante auf die Favorisierung alternativer ordnungspolitischer Diskurse hinausliefe,97 drängte die zweite Variante in Richtung Kriterienkataloge. Zum anderen räumt Dieter Senghaas‘ Konzeption eines zivilisatorischen Hexagons dem staatlichen Gewaltmonopol im Zusammenspiel mit anderen Eckpunkten eine entscheidende Wirkung für den inneren Frieden einer Gesellschaft ein.98 Zumindest im durchaus naheliegenden Fall seiner Instrumentierung mit Streitkräften stellt sich zwangsläufig die Frage nach den Einsatzbedingungen und damit nach expliziten oder impliziten Kriterienkatalogen. Senghaas betont „zumindest konzeptuell“99 die Bindung an heutiges Völkerrecht. Gleichzeitig entwirft er zum Schutz bedrohter Bevölkerungen eine umfangreiche „Kasuistik legitimer Interven92 Vgl. Galtung (1968) und Kaiser (1970), S. 58–62. – Kritisch zum Praxisanspruch vgl. Alfs (1995), Daase (1996) und Weller (2008). 93 Weizsäcker (1963), S. 131. 94 Weizsäcker (1963), S. 131. 95 Vgl. E. Müller (1995). 96 Vgl. Jaberg (2008b). 97 Vgl. Abschnitt II.2.c) dieses Beitrags. 98 Das Hexagon besteht aus folgenden sechs Eckpunkten: (1) Gewaltmonopol, (2) Interdependenzen und Affektkontrolle, (3) Verteilungsgerechtigkeit, (4) Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung, (5) politische Teilhabe und (6) Rechtsstaatlichkeit. – Vgl. Senghaas (2004), S. 30–41. 99 Senghaas (2004), S. 127 (Herv. im Original).

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tion“100, die mit dem Gebot völkerrechtlicher Legalität zumindest der Möglichkeit nach konfligiert, weil sie den Erlaubnisraum für nationale Streitkräfte, Militärbündnisse und ad hoc-Koalitionen in bislang dem Sicherheitsrat vorbehaltene Bereiche erweitert.101 Konfliktbearbeitung: Die Wahl fällt auch dann auf eine der gewaltangereicherten Alternativen, wenn der Einsatz bewaffneter Kräfte wenigstens potentiell als friedensdienlich gilt – etwa um Raum für politische Lösungen zu schaffen oder Menschen vor direkter Gewalt zu schützen. Im weltinnenpolitischen Rahmen der UNO hat sich mittlerweile ein ganzes Maßnahmenspektrum von der Friedenswahrung über Friedenserzwingung bis hin zur Friedenskonsolidierung entwickelt, das in unterschiedlichen Graden auf personale Gewalt zurückgreift: Während etwa die aus der Mode gekommenen klassischen Blauhelme ihre Waffen allenfalls zum Selbstschutz verwenden durften, wird dies heute in der Regel auch zur Durchsetzung des Missionsauftrags gestattet. Die in der Charta vorgesehenen und nunmehr auch im Kontext der ‚responsibility to protect‘102 erwähnten Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII erlauben sogar den robusten Kampfeinsatz. Allerdings fehlen der Weltorganisation bislang die erforderlichen Bordmittel. Sie bleibt in allen diesen Fällen auf die Bereitschaft der Mitglieder angewiesen, im Bedarfsfall Truppen bereitzustellen. Aber auch die zivilisierungstheoretisch eingebundene Senghaas’sche Interventionskasuistik basiert auf der Annahme, dass Menschen vor widrigen Umständen wie etwa Genozid, Kriege und Bürgerkriege, Verletzung von Minderheitenrechten, ökologische Kriegführung und Proliferation von Massenvernichtungswaffen auch mit Waffengewalt geschützt werden müssen, wenn diese Erfolg verspricht.103

100 Senghaas (2004), S. 60 (Herv. SJ). – Senghaas geht von einer vierfachen Schutzbedürftigkeit aus: Schutz der Freiheit, Schutz vor Gewalt, Schutz vor Not und Schutz vor Chauvinismus. – Vgl. Senghaas (1994), S. 185–188. – Begrifflich besteht zwischen ‚Kasuistik‘ und ‚Kriterienkatalog‘ zwar insofern eine Differenz, als ‚Kasuistik‘ auf ein komplexes und in sich stimmiges Regelsystem abhebt, das allgemeine Normen auf konkrete Handlungssituationen begründet anzuwenden erlaubt, während der Katalog eher ein möglichst einfach zu handhabendes Verzeichnis von Prüfkriterien meint, die nacheinander abzuarbeiten und gegebenenfalls zueinander in Beziehung zu setzen sind. Ob der begriffliche Unterschied auch praktische Wirksamkeit erzielt, hängt jedoch sehr von der einzelnen Kasuistik bzw. dem einzelnen Katalog ab. 101 Denn seines Erachtens ist eine „Politik, die gravierenden Verstößen gegen die Schutzbedürftigkeit von Menschen entgegenwirkt, von vornherein und prinzipiell legitim, wenn sie glaubhaft auf die Wiederherstellung solchen Schutzes ausgerichtet ist“ – Senghaas (1994), S. 187 f. (Herv. SJ). Siehe auch weiter unten. 102 Vgl. Abschnitt I.2. dieses Beitrags. 103 Senghaas weiß aber auch um Gefahren der Überforderung und um Grenzen der Machbarkeit. Deshalb spielen bei ihm „Opportunitätsgesichtspunkte [. . .] eine

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c) Argumente speziell für Option 3 Auftrag der Friedensforschung: Der UNO-Option gebührt gegenüber Kriterienkatalogen dann der Vorzug, wenn ein unverzichtbarer Beitrag der Friedensforschung darin gesehen wird, diese ordnungspolitische Alternative zumindest im Diskurs präsent halten, weil sie andernfalls dem Möglichkeitsraum ganz entschwindet. Für eine solche Einschätzung besteht aktuell durchaus Anlass. Denn zum einen reduziert sich die Debatte über die Beteiligung des Sicherheitsrats an militärisch gestützten Operationen auch in friedenswissenschaftlichen bzw. friedenspolitischen Kontexten – wie dem Hippler’schen Kriterienkatalog oder der Denkschrift der evangelischen Kirche104 – mittlerweile auf die Mandatierung. Der Sachverhalt, dass diese Praxis nur mit gewisser Auslegungsakrobatik aus dem Wortlaut der Charta abzuleiten ist,105 gerät weitgehend in Vergessenheit. Schließlich ist es nicht nur Sache des Sicherheitsrats, über die einzuleitenden Maßnahmen zu befinden, sondern nach Artikel 42 ist „er“ es, der „mit Luft-, See oder Landstreitkräften die zu Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen [kann]“. Zu diesem Zwecke verpflichten sich die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 43, ihm „nach Maßgabe eines oder mehrerer Sonderabkommen [. . .] Streitkräfte zur Verfügung zu stellen“. Allerdings sind sie ihren diesbezüglichen Verpflichtungen bislang nicht nachgekommen. Zum anderen huldigt das Weißbuch der Bundesregierung zwar der entscheidenden Rolle der Vereinten Nationen und der ‚Hauptverantwortung‘ des Sicherheitsrats, allerdings werden die nachfolgenden Ausführungen diesem Anspruch nicht gerecht, ja sie konterkarieren ihn teilweise (z. B. Neuinterpretation der ‚responsibility to protect‘, verklausuliertes Bekenntnis zur präventiven Selbstverteidigung und zur antizipatorischen Nothilfe).106 Friedensnorm: Je stärker die Vereinten Nationen als Hort der Weltinnenpolitik begriffen werden, desto mehr spricht für ein Plädoyer zu ihrer Stärkung. Eine solche Sichtweise liegt insofern aus konzeptionellen Erwägungen nahe, als Weizsäcker weltinnenpolitische Sichtweise und weltinnenpolitische Organisation prinzipiell gleich gewichtet.107 Bei allen praktischen Unzulänglichkeiten kommt die UNO diesem Ideal heute am nächserhebliche Rolle: Was kann aufgrund welcher Interventionen mit welcher Wahrscheinlichkeit tatsächlich erreicht werden?“ – Senghaas (1994), S. 187. 104 Zum Hippler’schen Kriterienkatalog vgl. Abschnitt II.1. dieses Beitrags und zur Denkschrift der Evangelischen Kirche vgl. EKD (2007), S. 96. – Zu letzterer siehe auch den Beitrag von Stümke in diesem Band. 105 Vgl. Brock/Elliesen (1993), S. 36–44. 106 Vgl. Abschnitt I.2. dieses Beitrags. 107 Vgl. Abschnitt II.2.b) dieses Beitrags.

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ten.108 Grundsätzlich stimmt dem auch Senghaas zu, allerdings sieht er das weltinnenpolitische Kollektivsystem durch interessenorientierten Missbrauch des Vetorechts zur reinen „Machtfigur“ schrumpfen, „die nach Opportunitätsgesichtspunkten in alle möglichen Richtungen manipuliert wird“109. Insbesondere fehle es an einem institutionalisierten Friedensverfassungsrecht zur Überwindung des „quasi-absolutistischen Charakter[s] des derzeitigen Status des Sicherheitsrates“110. Gleichsam naturgemäß findet damit eine Öffnung gegenüber solchen Interventionen statt, denen ein weltinnenpolitischer Effekt zumindest unterstellt wird – wie im Falle des Kosovokriegs 1999 geschehen: Nach Ansicht seiner Befürworter habe die NATO gleichsam stellvertretend für einen blockierten Sicherheitsrat gehandelt.111 Demnach gewönnen Erörterungen über Kriterienkataloge – oder wie Senghaas formuliert: über eine „Kasuistik legitimer Intervention“112 – an friedenspolitischem Gewicht, ohne damit jedoch Initiativen zur Stärkung des weltinnenpolitischen Charakters der Vereinten Nationen überflüssig zu machen. Konfliktbearbeitung: Eine Favorisierung alternativer ordnungspolitischer Diskurse drängt sich insbesondere dann auf, wenn akut die Gefahr droht, dass ein über die Selbstverteidigung hinausgehender Handlungsspielraum für nationale Streitkräfte bzw. Militärbündnisse die in der Friedensnorm vorgesehene Restgewalt entkontextualisiert und anderen Zwecken verfügbar macht. Zumindest dann, wenn der damit verbundene Schaden für gewichtiger erachtet wird als der einhergehende Nutzen, müsste eher über verbesserte Instrumentarien für die UNO als über Kriterienkataloge für Auslandseinsätze der Bundeswehr diskutiert werden. Eingedenk der Entwicklungen seit Ende des globalen Macht- und Systemkonflikts sprechen einige Indizien für die Einschätzung, dass deutsche Streitkräfte weiter von einem Spezialinstrument der Verteidigung zu einem Instrument zur Durchsetzung allgemeiner nationaler Interessen mutieren: die kontinuierliche Erweiterung des Handlungsspielraums für die Bundeswehr seit Ende der Ost-West-Konfrontation mit einer immensen Beschleunigung nach dem 11. September 2001, die aktuellen Plädoyers etwa für Energiesicherheit und militärischen Begleitschutz für Seetransporte,113 aber auch die Verschiebung des Einsatzschwerpunkts vom Balkan nach Afghanistan und die damit verbundene Verlagerung vom Stabilisierungs- zum Kampfauftrag.114 Last not least dürfte 108

Vgl. Jaberg (2008b). Senghaas (2004), S. 58. 110 Senghaas (2004), S. 60. 111 Vgl. Senghaas (2000) und Habermas (2000). 112 Senghaas (2004), S. 60. 113 Vgl. die einführenden Bemerkungen und Abschnitt I.2. dieses Beitrags. 114 Mitte Dezember 2008 versehen im Kontext der Internationalen Unterstützungstruppe in Afghanistan mehr als die Hälfte der insgesamt 6.600 im Auslandseinsatz 109

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sich Deutschland seine etwa 30 Mrd. Euro jährlich für die Bundeswehr wohl kaum ausschließlich dafür leisten, in entfernten Regionen Wahlen zu unterstützen und Menschen vor Völkermord zu bewahren.

III. Bewertung Eine friedenswissenschaftliche Positionierung zu Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte begründet sich weder aus einer idealisierten Vergangenheit, in welcher die Mitwirkung der Bundesrepublik am Abschreckungssystem zu einer Ära militärischer Enthaltsamkeit verklärt wird. Noch darf sie sich im pragmatischen Problemmanagement der Gegenwart durch Kriterienkataloge erschöpfen. Beides springt zu kurz, wenn nicht auch vom möglichen Ende her gedacht wird. Und das birgt – eingedenk der bisherigen Dynamik bei der Erweiterung des tatsächlichen wie potentiellen Auftragsspektrums – gewichtige Gefahren: Zum einen droht das nationale Interesse als alleinentscheidende Instanz beim Streitkräfteeinsatz freigesetzt zu werden. Dabei bieten sich gegenwärtig insbesondere Themen wie Energiesicherheit samt Freiheit der See- und Handelswege als Einfallstor für nackte Interessenpolitik an. Zum anderen schließt die im Weißbuch umformulierte ‚responsibility to protect‘ die Mitwirkung an völkerrechtlich zumindest fragwürdigen Militäraktionen nach dem Vorbild des Kosovokriegs (1999) als Möglichkeit weiterhin ein. Des weiteren könnte Deutschland sich zur ‚antizipatorischen Nothilfe‘ für Bündnispartner gerufen sehen. Eine Garantie, dass sich die hohe Politik einem solchen Waffengang wie im Irakkrieg 2003 verweigern wird, besteht nicht – schließlich haben damals zweifelsohne auch wahltaktische Überlegungen der rot-grünen Koalition zumindest eine Rolle gespielt. Bliebe noch die Hoffnung auf das Bundesverfassungsgericht, das aber angesichts der Kontinuität seiner bisherigen Rechtsprechung keine unüberwindbare Hürde darstellt. Solange die – zugegebenermaßen pointiert – skizzierten Gefahren wahrscheinlich sind oder doch zumindest nicht verlässlich ausgeschlossen werden können, sollte sich die Friedensforschung eher auf ihren ursprünglichen militärkritischen Impetus besinnen und zivile wie ordnungspolitische Alternativen befördern, als eigene Kriterienkataloge in die aktuelle Debatte über Auslandseinsätze der Bundeswehr einzuspeisen. Andernfalls läuft sie Gefahr, jenen legitimatorischen Schatten zu spenden, in welchem Streitkräfte zusehends zum Instrument der Wahrung bzw. Durchsetzung ‚nationaler Interessen‘ mutieren. befindlichen Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst, nämlich 3.480. Auf den Kosovo entfallen ‚nur‘ noch 2.200 und auf Bosnien-Herzegowina gar ‚nur‘ 120 Bundeswehrangehörige. – Vgl. http://www.bundeswehr.de (abgerufen am 22. Dezember 2008).

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Autorenverzeichnis Privatdozentin Dr. Maja Apelt: Soziologin, Professurvertreterin, Helmut-SchmidtUniversität Hamburg, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Lehrbeauftragte am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Organisations-, Militärsoziologie, Geschlechterforschung, wichtige Publikationen: (i) Sozialisation in „totalen“ Institutionen; in: Hurrelmann, Klaus et al. (Hrsg.): Handbuch für Sozialisationsforschung. Weinheim 2008, S. 372–383; (ii) Under Pressure – Das Militär im Zeichen veränderter Geschlechterverhältnisse und neuer Kriege, in: Meuser, Michael et al. (Hrsg.): Dimensionen von Geschlecht: Der Fall Männlichkeit. Münster 2007 (zusammen mit Cordula Dittmer), S. 68–83; (iii) Frauen und Militär. Empirische Befunde und Perspektiven zur Integration von Frauen in die Streitkräfte. Wiesbaden 2005 (gemeinsam mit Christiane Bender und Jens-Rainer Ahrens). Privatdozent Dr. Stefan Bayer: Volkswirt, Dozent am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Interessenschwerpunkte: angewandte Finanzwissenschaft und Umweltökonomie, wichtige Publikationen: (i) Die Mittelausstattung der Bundeswehr – Der Einzelplan 14 im Spannungsfeld zwischen Auftragslage und (finanzieller) Realität, in: Gießmann, Hans J./Wagner, Armin (Hrsg.): Armee im Einsatz. Grundlagen, Strategien und Ergebnisse einer Beteiligung der Bundeswehr. BadenBaden 2009, S. 224–234; (ii) Sustainability Gaps in Municipal Solid Waste Management: The Case of Landfills, Environment, Development and Sustainability, 2009, Vol. 11, No. 1, S. 43–69 (zusammen mit Jacques Méry); (iii) Mensch: Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven. Berlin 2008 (hrsg. zusammen mit Volker Stümke). Dr. Heiko Biehl: Sozialwissenschaftler, Leiter des Forschungsschwerpunkts ‚Multinationalität/Europäische Streitkräfte‘ am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr und Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft und Militärsoziologie an der Universität Potsdam, davor Dozent am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Parteienforschung und Militärsoziologie, wichtige Publikationen: (i) How Much Common Ground is Required for Military Cohesion? Social Cohesion and Mission Motivation in the Multinational Context, in: Leonhard, Nina/Aubry, Giulia/Casas Santero, Manuel/Jankowski, Barbara (Hrsg.): Military Co-operation in Multinational Missions: The Case of EUFOR in Bosnia-Herzegovina. Strausberg 2008, S. 191–220; (ii) Von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee. Konturen eines gehemmten Wandels, in: Kümmel, Gerhard (Hrsg.): Streitkräfte im Einsatz. Zur Soziologie militärischer Interventionen. Baden-Baden 2008, S. 9–20; (iii) Soziale Entwurzelung und Repräsentationsverlust der Parteien, in: Jun, Uwe/Niedermayer, Oskar/Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Zukunft der Mitgliederpartei. Opladen 2009 (i. E.).

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Professor Dr. Sven Gareis: Politikwissenschaftler, Dozent am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Honorarprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Interessenschwerpunkte: Internationale Friedenssicherung und Sicherheitspolitik, wichtige Publikationen: (i) Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik. Opladen, 2. Auflage 2006; (ii) Die Vereinten Nationen. Opladen, 4. Auflage 2006 (mit Johannes Varwick); (iii) The United Nations. Houndmills und New York 2005 (mit Johannes Varwick). Dr. Matthias Gillner: Katholischer Sozialethiker, Dozent am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Moralphilosophie und Friedensethik, wichtige Publikationen: (i) Bartolomé de Las Casas und die Eroberung des indianischen Kontinents. Das friedensethische Profil eines weltgeschichtlichen Umbruchs aus der Perspektive eines Anwalts der Unterdrückten. Theologie und Frieden Bd. 12. Stuttgart 1997; (ii) Praktische Vernunft und militärische Professionalität. WIFIS-Aktuell Bd. 23. Bremen 2002; (iii) Gewissensfreiheit unter den Bedingungen von Befehl und Gehorsam. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2005 zur Gewissensfreiheit des Soldaten und die katholische Lehre von der Kriegsdienst- und Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen. Schriftenreihe „Gerechtigkeit und Frieden“ der Deutschen Kommission Justitia et Pax Bd. 117. Bonn 2. Auflage 2009. Professor Dr. Rudolf Hamann: Sozialwissenschaftler, Ltd. Wiss. Dir. i. R. und ehemals Dozent für Konfliktforschung am Fachbereich Sicherheitspolitik und Strategie der Führungsakademie der Bundeswehr und davor am Fachbereich Sozialwissenschaften, Gastprofessor am Estonian National Defense College in Tartu/Estland, Interessenschwerpunkte: Konfliktforschung, internationale Beziehungen, Probleme politischer Bildung, wichtige Publikationen: (i) Die „Süddimension“ des Ost-WestKonfliktes. Das Engagement der Supermächte in Krisen und Kriegen der Dritten Welt. Baden-Baden 1986 (hrsg.); (ii) Militärische Gewalt in der Risikogesellschaft. Bremen 1996; (iii) Entfremdung im Beruf. Überlegungen zur Fort- und Weiterbildung von Sozialkundelehrern in Mecklenburg-Vorpommern. Rostock 1996. Michael Hofmann: Rechtswissenschaftler, Bundesministerium der Verteidigung, Verwendungen als Rechtsberater und Wehrdisziplinaranwalt in verschiedenen Kommandobehörden und als Rechtsdozent am Fachbereich Sozialwissenschaften der Führungsakademie der Bundeswehr. Dr. Sabine Jaberg: Politologin, Dozentin am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Friedensforschung, Weltordnungsmodelle, deutsche Friedens- und Sicherheitspolitik, wichtige Publikationen: (i) Sag mir wo . . .? Auf der Suche nach der grundgesetzlichen Friedensnorm beim Streitkräfteeinsatz. Hamburg 2006; (ii) Systeme kollektiver Sicherheit in und für Europa in Theorie, Praxis und Entwurf. Ein systemwissenschaftlicher Versuch. Baden-Baden 1998; (iii) Realtypen der Friedensforschung. Ein deskriptivanalytischer Versuch, in: Calließ, Jörg/Weller, Christoph (Hrsg.): Friedenstheorie: Fragen – Ansätze – Möglichkeiten. Rehberg-Loccum 2003, S. 49–82. OTL Dipl-Päd. Jörg Keller: Oberstleutnant und Pädagoge, Dozent für Soziologie am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, bis 2008 Leiter des Forschungsprojekts „Sozialwissenschaftliche Begleitung der

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Auslandseinsätze der Bundeswehr“ am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in Strausberg, Interessenschwerpunkte: Organisationssoziologie, Auslandseinsätze der Bundeswehr, Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Streitkräften, wichtige Publikationen: (i) Soldat und Soldatin – Die Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit am Beispiel von Printmedien der Bundeswehr, in: Ahrens, Jens-Rainer/Apelt, Maja/Bender, Christiane (Hrsg.): Frauen im Militär. Wiesbaden 2005; (ii) Streitkräfte und ökonomisches Kalkül: Top oder Flop, in: Richter, Gregor (Hrsg.): Die ökonomische Modernisierung der Bundeswehr. Wiesbaden 2007; (iii) Menschenbild und Gender, in: Bayer, Stefan/Stümke, Volker (Hrsg.): Mensch: Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven. Berlin 2008. Dr. Günter Mohrmann: Ökonom und Politologe, Dozent am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Weltwirtschafts- und Weltwährungssystem, Europäische Integration, ökonomische Aspekte internationaler Krisenbearbeitung, internationale Rüstungswirtschaft, wichtige Publikationen: (i) Liberale in Bremen. Die FDP-Fraktion in der Bürgerschaft 1951–1991. Bremen 1991; (ii) Der Kampf um Wasserressourcen. Krieg um knappes Wasser?, in: Krech, Hans (Hrsg.): Vom II. Golfkrieg zur Golf-Friedenskonferenz. Bremen 1996, S. 367–391; (iii) Der Mensch in der ökonomischen Globalisierung. Zur individuellen Bewältigung epochaler Wirtschaftsentwicklungen, in: Bayer, Stefan/Stümke, Volker (Hrsg.): Mensch. Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven. Berlin 2008, S. 93–118. Oberregierungsrätin Kathrin Nolte: Juristin, Dozentin für Rechtswissenschaften am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Staats- und Verfassungsrecht, Demokratie und Demokratisierung, Völkerstrafrecht und Internationale Strafgerichtshöfe. Dr. Hans-Joachim Reeb, Erziehungs- und Sozialwissenschaftler, Lehrbeauftragter an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg, davor Dozent am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Bezüge der Sicherheitspolitik und Streitkräfte zur Gesellschaft, Massenmedien und Pädagogik, wichtige Publikationen: (i) Gefragte Meinung. Demoskopie als Thema und Methode der politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 2009; (ii) Sicherheitspolitik als Bildungsgegenstand. Normative Grundlagen und empirische Analysen der Unterrichtung an Schulen, Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Bremen 2008; (iii) Sicherheitspolitische Kultur in Deutschland seit 1990. Bremen 2003. Professor Dr. Claus Freiherr von Rosen: Erziehungswissenschaftler und Berufsoffizier, zuletzt Dozent am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Leiter des Baudissin Dokumentationszentrums bei der Führungsakademie der Bundeswehr, Dozent am Estonian National Defence College Tartu, Interessenschwerpunkte: Innere Führung, Wehr-Pädagogik, Baudissin-Forschung, Clausewitz-Forschung, wichtige Publikationen: (i) Mitherausgeber und Autor zum Jahrbuch Innere Führung 2009: Die Rückkehr des Soldatischen. Eschede 2009; (ii) Erfolg und Scheitern der Inneren Führung aus Sicht von Wolf Graf von Baudissin, in: Schlaffer, Rolf J. et al. (Hrsg.): Wolf Graf von Baudissin 1907–1993. Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. München

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2007, S. 203–233; (iii) Staatsbürger in Uniform in Baudissins Konzeption Innere Führung, in: Gareis, Sven Bernhard et al. (Hrsg.): Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, 2. Aufl. Wiesbaden 2006, S. 171–181. Privatdozent Dr. Volker Stümke: Evangelischer Sozialethiker, Dozent am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Privatdozent für systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, Interessenschwerpunkte: Politische Ethik, Eschatologie, Theologie Luthers, wichtige Publikationen: (i) Das Friedensverständnis Martin Luthers. Grundlagen und Anwendungsbereiche seiner politischen Ethik. Stuttgart 2007; (ii) Überlegungen zur gegenwärtigen Folterdebatte. Hamburg 2007; (iii) Mensch. Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven. Berlin 2008 (hrsg. zusammen mit Stefan Bayer). Dr. Maren Tomforde: Ethnologin, Dozentin am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Lehrbeauftragte am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Interessenschwerpunkte: Kulturtheorien, ethnologische Friedens- und Konfliktforschung, kulturelle Räumlichkeit, Migration/Disapora, Religion, wichtige Publikationen: (i) The Hmong Mountains: Cultural Spatiality of the Hmong in Northern Thailand. Berlin 2006; (ii) Towards Transnational Identities in the Armed Forces? German-Italian Military Cooperation in Kosovo, in: Soeters, Joseph/Manigart, Philippe (Hrsg.): The Management of Cultural Diversity during Multinational Crisis Response Operations: A Comparative Analysis, London 2008; (iii) Zu viel verlangt? Interkulturelle Kompetenz während der Auslandseinsätze der Bundeswehr, in: Kümmel, Gerhard (Hrsg.): Streitkräfte im Einsatz: Zur Soziologie militärischer Interventionen. BadenBaden 2008.