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German Pages [339] Year 2020
Pit Wahl (Hg.)
Bildung und innere Bilder
Beiträge zur Individualpsychologie
Band 46: Pit Wahl (Hg.) Bildung und innere Bilder
Pit Wahl (Hg.)
Bildung und innere Bilder
Mit 39 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Ausschnitt aus dem Bild »Da staunst Du, was?« von Hanni Müller-Kranzhoff (2020), Privatbesitz Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co. BuchPartner, Göttingen Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 0722‐8902 ISBN 978-3-666-45025-9
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Regine Kroschel Menschen, Orte, Landschaften – Was wir wissen und wie dieses Wissen unsere inneren Bilder formt . . . . . . . . . 18 Gary S. Schaal Welche Zukunft hat die Demokratie im Zeitalter der Digitalisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Anna Katharina Dembler Gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus – Brücke zu inneren Bildern – Welche Bedeutung hat dies für »Bildung«? . . . . . . . . 34 Korinna Bächer Spiel-Räume für Familien: Selbstwirksam gegen Entmutigung 58 Maria Johne Dem Vergessen entgegenwirken – Psychoanalytische Behandlung von Stasi-Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Emre Arslan und Verena Ackermann-Arslan Die gespaltenen inneren Bilder einer Bildungsaufsteigerin . . . . 96 Thomas Abel Von inneren Bildern zu Objektrepräsentanzen – Lebensstilanalyse und »Zentrales Beziehungskonfliktthema« . 120
6Inhalt
Jochen Schmerfeld Die Arbeit an inneren Bildern vom Kindsein – dargestellt am Beispiel des Films »The Florida Project« (USA 2017) . . . . . . . 134 Ulla M. Nitsch Heini und Mia machen sich ein Bild von der Welt . . . . . . . . . . 154 Karl Heinz Witte Einbilden, Einbildung – zur Wort- und Begriffsgeschichte . . . . 232 Gertraud Butzke-Bogner Unerkannt hochbegabt – über die Annäherung von Denken und Fühlen im und durch den analytischen Prozess . . . . . . . . . 238 Elena Stüttgen Wirbelsturm in einem vernichtenden Chaos: Janoschs Bilder von sich selbst und der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Barbara Bremer Menschen in der DGIP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
Vorwort
Das Vorwort zu einem Tagungsband schreibt man meist dann, wenn alle Beiträge lektoriert sind – erneut und kompetent zusammen mit Peter Manstein – und noch einmal als Ganzes angeschaut werden. Just in dem Moment des Revuepassierenlassens der Texte zum Tagungsthema »Bildung und innere Bilder« tauchten in mir die Bilder aus einem literarischen Text auf, den ich parallel zur Lektoratsarbeit gelesen habe: Karl Ove Knausgårds Roman »Sterben« (2009, dt. 2011, S. 248 f.): »Dann sah ich aus dem Fenster. Der Himmel über dem Krankenhaus auf der anderen Straßenseite war klar und blau. Die niedrig stehende Sonne blitzte in Fensterscheiben, Schildern, Geländern, Motorhauben. Der Frostnebel, der von den Menschen aufstieg, die auf dem Bürgersteig vorbeigingen, ließ es so aussehen, als würden sie brennen. Alle waren dick vermummt. Mützen, Schals, Handschuhe, dicke Jacken. Schnelle Bewegungen, verschlossene Gesichter. Ich ließ den Blick über den Fußboden schweifen. Es war ein relativ neuer Parkettboden, dessen rotbrauner Ton keinerlei Verbindung zu dem Jahrhundertwendestil der übrigen Wohnung hatte. Plötzlich sah ich, dass die Astlöcher und Jahresringe etwa zwei Meter von dem Stuhl entfernt, auf dem ich saß, ein Bild von Christus mit der Dornenkrone ergaben. Es löste bei mir keine Reaktion aus, ich registrierte es bloß, denn Bilder wie dieses, erschaffen von Unregelmäßigkeiten im Fußboden und an den Wänden, in Türen und Leisten, gibt es in allen Gebäuden – ein Stockfleck an der Decke sieht aus wie ein rennender Hund, die abgewetzte Farbschicht auf einer Stufe wie ein verschneites Tal mit einer Gebirgskette in der Ferne, über der sich die Wolken näher wälzen – dennoch schien der Anblick in mir etwas in Gang gesetzt zu haben, denn als ich zehn Minuten später aufstand, zum Wasserkocher
8Vorwort
ging und ihn füllte, fiel mir auf einmal etwas ein, was an einem Abend vor langer Zeit geschehen war, weit zurück in meiner Kindheit, als ich ein ähnliches Bild auf dem Wasser gesehen hatte, das in einer Reportage über einen verschwundenen Fischkutter gezeigt wurde. In den Sekunden, die es dauerte, den Wasserkocher zu füllen, sah ich unser Wohnzimmer vor mir, den teakverkleideten Fernseher, das Schimmern der Schneeflocken mancherorts auf dem dunkler werdenden Hügel vor dem Fenster, das Meer auf dem Bildschirm, das Gesicht, das sich plötzlich darin zeigte. Mit den Bildern stellte sich auch die Stimmung von damals ein, des Frühlings, der Siedlung, der siebziger Jahre, des Lebens in unserer Familie, wie es sich damals gestaltete. Und mit der Stimmung eine beinahe unbändige Sehnsucht. In diesem Moment klingelte das Telefon.« Diese Passage kann als literarischer Kommentar verstanden werden: In ihm sind viele der Zutaten enthalten, die in den Themen der Jahres tagung der DGIP 2019 vorkommen: Bilder, die spontan im Innern der Menschen aufsteigen können – ein Gemisch aus Assoziationen und unmittelbaren Eindrücken, die sich spontan einstellen und gleichzeitig mit dem bereits vorhandenen Erinnerungsschatz verknüpft und ihm hinzugefügt werden. Die persönlichen Erinnerungen wiederum sind verknüpft und verwoben mit kulturell erworbenem und zumindest latent vorhandenem ikonografischem und symbolischem Wissen, wie im Falle des »Christus mit der Dornenkrone«. Sei es beim Lesen eines Textes, beim Zuhören eines Vortrags oder beim Betrachten eines Bildes – immer ist auch der eigene Erfahrungsschatz berührt und beteiligt, ebenso wie die im Gedächtnis gespeicherten Fakten, wie der durch Bildung geprägte Wissensstand und wie die kulturellen »Wahrheiten« der Umgebung, in der man sozialisiert wurde. Alle Menschen tragen sowohl individuell ausgeformte als auch verallgemeinerte, generalisierte innere Bilder in sich – das kann ein biblisches Bild sein, ein gemaserter Holzfußboden oder eine bestimmte Wolkenformation. All das ist möglich, weil wir – trotz Ungleichheiten und bestehender Zugangsbarrieren – in einer gebildeten Gesellschaft leben, in der die meisten Menschen sprechen, denken, lesen und schreiben können, eine Schule besucht haben und in einer jeweils spezifischen Form am Gemeinschaftsleben teilhaben. Wäre dies nicht
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der Fall, könnte ein Text wie der von Karl Ove Knausgård kaum sinnhaft aufgenommen und verstanden werden und vor allem: Er würde uns nicht innerlich berühren. Bildung ist ein gemeinschaftlich erschaffenes, immaterielles »Produkt«, an dessen Herstellung, Weiterentwicklung und Weitergabe sehr viele Menschen und Institutionen beteiligt sind: Eltern, Geschwister, nahe Bezugspersonen, Kinder, Erwachsene, Alte, Schule, Ausbildung, Beruf. Sie alle sind Teil des dynamischen und sich ständig entwickelnden Prozesses der Herausbildung von Kultur: Spracherwerb, die Aneignung von Kulturtechniken aller Art (Lesen, Schreiben, Rechnen), die Ansammlung, Sicherung und Weitergabe von Wissen, die Kreierung von Neuem, z. B. im Spiel oder in der künstlerischen Produktion. Ohne geschichtliche, historische, religiöse und kulturelle Kenntnisse, ohne Sprache überhaupt, wäre menschliches Miteinander kaum möglich. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen Bildung und inneren Bildern, zwischen Denken, Fühlen und Handeln. Wie aber vollzieht sich der Prozess der Aneignung von Bildung und wie entstehen innere Bilder? So einfach diese Frage auf den ersten Blick erscheinen mag, so schwer ist sie genau zu beantworten. Nicht nur, weil sie in jeder Phase der menschlichen Entwicklung unterschiedlich erlebt, beschrieben und beforscht wird. Bildung als ein Aneignungsprozess vollzieht sich zudem nicht nur auf der bewussten Ebene des Erlebens und Verhaltens, sondern auch in den sehr viel schwerer zu erfassenden unbewussten personalen Schichten. Erworbenes Wissen ist also nicht notwendigerweise immer explizites, jederzeit abrufbares Wissen, sondern ein Teil unserer Kenntnisse ist implizit sprachlich und bildhaft in uns repräsentiert. Insofern umfasst die sich ständig verändernde Bildung intellektuelle ebenso wie emotionale Bereiche: Schichten, die selbst wieder in vielfältigen Formen aufeinander bezogen und miteinander verwoben sind. Archaisches und Ursprüngliches, Unlogisches, Irrationales, Phantastisches und Ambivalentes mischen und verbinden sich mit kognitivem und intellektuellem Wissen, das oft mehr oder weniger mühsam im Laufe einer sich ständig in Bewegung befindlichen Entwicklung angeeignet werden muss. Bildung ist in diesem Sinne also immer bewusst und unbewusst, kognitiv und emotional, ist immer gleichzeitig intellektuelle Wissensaneignung und »Herzensbildung«.
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Regine Kroschel verknüpft in ihrer »Begrüßungsansprache« das Thema der Jahrestagung der DGIP mit eigenen Eindrücken und Bildern vom Ort des Tagungsgeschehens, d. h. von Potsdam und der Mark Brandenburg – mit Bildern, die wiederum verwoben sind mit historischem Wissen. Sie erinnert an (frühere) geschichtliche Ereignisse, die mit dem Tagungsort und der ihn umgebenden Region verbunden sind, und reichert sie mit eigenen inneren Bildern an. So tritt sie mit den Anwesenden in Kontakt, belebt vorhandenes Wissen, auch durch Fakten, die nicht allen bekannt sind, regt gedankliche Auseinandersetzungsprozesse an, aktiviert vorbewusstes und implizites Wissen und berührt so auch die unbewussten Schichten der Zuhörerinnen und Zuhörer. Einen explizit gesellschaftlichen und soziologisch-politischen Zugang wählt Garry S. Schaal in seinem Beitrag, der sich mit der Frage »Welche Zukunft hat die Demokratie im Zeitalter der Digita lisierung?« auseinandersetzt. Er belegt in beeindruckender Weise, wie heute weitverbreitete, wenn nicht gar vorherrschende virtuelle Kommunikationsgewohnheiten und -strukturen sowie die ständig fortschreitende Digitalisierung des gesellschaftlichen Lebens die Wahrnehmung zwischenmenschlicher Beziehungen, die Informationsgewohnheiten und letztlich auch unsere Menschen- und Weltbilder in – teilweise – problematischer Weise verändern. Auch wenn auf die Möglichkeiten eines verantwortlichen Umgangs mit digitalen Austauschprozessen verwiesen wird, stellt der Beitrag eine eindrückliche Warnung dar vor den potenziellen Schädigungen und Gefährdungen demokratischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse im Zuge der aufgezeigten Entwicklungen. In ihrem Beitrag »Gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus – Brücke zu inneren Bildern – Welche Bedeutung hat dies für ›Bildung‹?« untersucht Katharina Dembler das Tagungsthema unter Gesichtspunkten, die sich in zwischenmenschlichen Beziehungen und auch in psychotherapeutischen Behandlungsverläufen heraus- und abbilden. Nach Auffassung der Autorin geht es bei dem Versuch, sich zu verständigen, immer auch darum, Zugang zur inneren Welt des Gegenübers, unter Rückgriff auf eigene Erlebnisse und Erfahrungen zu finden. Ein solcher Zugang kann durch Entdecken und Erkunden sowie letztlich durch die Erschaffung eines gemeinsamen, emotional basierten Aufmerksamkeitsfokus hergestellt werden. Zugrunde liegt diesem Gedanken die Erfahrung und
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Erkenntnis, dass nur in Beziehung verändert werden kann, was in Bezogenheit entstand. Dass hierzu immer eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsames Bezugswissen nötig ist, gilt als notwendige, aber noch nicht hinreichende Voraussetzung: Erst wenn Wissenserwerb eingebettet ist in eine konstruktive Persönlichkeitsentwicklung, kann man auch von einem konstruktiven Wissenserwerb sprechen. Beispielhaft wird dies auch an verschiedenen ikonografisch bedeutsamen, historischen Bildwerken verdeutlicht, deren kulturübergreifende Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden. In ihrem Beitrag »Spiel-Räume für Familien: Selbstwirksam gegen Entmutigung« berichtet Korinna Bächer über ein vom Kinderschutzbund Köln entwickeltes und getragenes heilpädagogisch-sozialtherapeutisches Gruppenangebot für Eltern und Kleinkinder, das in der Tradition der Individualpsychologie der 1920er und 1930er Jahre gesehen werden kann und das auf einem interaktionell-psychoanalytischen Ansatz basiert. Bei dem Projekt geht es um Aufklärung, Betreuung und Förderung von in sozial prekären Verhältnissen lebenden Eltern und deren Kinder, um Beratung und Unterstützung in Erziehungsfragen, um basale kognitive und emotionale Entwicklungsförderung. Die angebotenen und praktizierten Formen von Beziehungsgestaltung haben das Ziel, durch positive, nichtwertende und spiegelnde Resonanz sowie die Einübung konstruktiver Interaktions- und Konfliktformen und über die Erfahrung von Verlässlichkeit und Berechenbarkeit zur Herausbildung von sicheren Bindungen und positiven inneren Repräsentanzen relevanter Bezugspersonen zu gelangen. Erreicht wird dies auch durch eine Vielzahl lebenspraktischer Hilfen, durch Geschmacksbildung – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn –, durch solidarische Unterstützung und durch die unmittelbare Erfahrung von Mitmenschlichkeit und Gemeinschaftsgefühl. So entstehen innere Bilder und Repräsentanzen, so vollzieht sich »Herzensbildung«. Maria Johne untersucht in ihrem Beitrag »Dem Vergessen entgegenwirken – Psychoanalytische Behandlung von Stasi-Kindern«, welche Spuren der Überwachungsstaat in der ehemaligen DDR in den Nachkommen, sowohl der Opfer wie der Täter, hinterlassen hat. Sie legt dar, dass die weitreichenden traumatischen Auswirkungen für die Kinder der Opfer und Täter des Nationalsozialismus intensiv beforscht wurden, während den Kindern der Mitarbeitenden und Opfer des Staats
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sicherheitsdienstes bislang wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Anhand eigener Erfahrungen in der therapeutischen Arbeit mit Betroffenen zeigt sie auf, in welcher Weise Schuld und Scham über vier Generationen hinweg in einer »Stasi-Familie« transgenerational weitergegeben wurden. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt dabei gespaltenen Loyalitäten, welche die Beziehung zwischen Analytiker(in) und Patient(in) in der psychoanalytischen Behandlung tiefgreifend beeinflussen. Emre Arslan und Verena Ackermann-Arslan haben ihren Beitrag unter die Überschrift gestellt: »Die gespaltenen inneren Bilder einer Bildungsaufsteigerin – Ist die soziogenetische Betrachtung für die Psychotherapie unabdingbar?« Sie benennen auf diese Weise bereits die Aspekte, unter denen sie das Tagungsthema betrachten wollen: Es geht um die wechselseitige Bezogenheit von individuellen, seelischen Entwicklungsprozessen (samt den dazu gehörenden Bildungsbiografien) mit dem sozialen Umfeld – zu dessen Verständnis die Forschungsansätze und -ergebnisse der Sozialwissenschaften wesentlich beitragen können. Dabei verwendet das Autorenpaar einen Bildungsbegriff, der sich hauptsächlich auf erworbenes, intellektuelles und kulturelles Wissen bezieht, macht gleichzeitig aber auch deutlich, dass ein jeweils individuell erworbener Wissens- bzw. Bildungsstandard auf dem Hinter grund der sozialen Herkunft des betroffenen Menschen zu erheblichen inneren Konflikten, sogar zu gesundheitsgefährdenden seelischen Fehlverarbeitungsprozessen führen kann. Am Beispiel einer jungen Bildungsaufsteigerin wird beleuchtet, dass und wie intrapsychische Phänomene nicht nur über die innerfamiliäre (Psycho-)Dynamik, sondern notwendigerweise komplementär und parallel auch mittels soziologischer Analysen erklärt werden müssen. Thomas Abel begründet in seinem Beitrag »Von inneren Bildern zu Objektrepräsentanzen – Lebensstilanalyse und ›Zentrales Beziehungskonfliktthema‹«, dass und warum Alfred Adler als ein Pionier der Objektbeziehungstheorien angesehen werden kann. Adler hat in seinen entwicklungspsychologischen Konzeptionen den frühen Kindheitserinnerungen eine wichtige Bedeutung, auch für die Erfassung und Analyse des Lebensstils einer Person, beigemessen. Diese können sowohl als konkrete Erinnerungen aufgefasst werden, aber auch als zentrale und bedeutsame innere Bilder des jeweiligen Individuums. In ihnen bilden sich neben relevanten Lebensthemen vor allem auch bedeutsame
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und typische Beziehungsmuster ab. Diese wiederum geben Aufschluss über die wichtigsten Objektbeziehungen eines Menschen. Ausgeführt wird, dass das Modell des »Zentralen Beziehungskonfliktthemas« von Lester Luborsky Adlers Lebensstilanalyse sinnvoll ergänzt bzw. erweitert und dass sich viele Auffassungen der Individualpsychologie in der modernen Objektbeziehungspsychologie wiederfinden. Dies wird anhand einer Fallvignette und den frühesten Lebenserinnerungen eines Patienten veranschaulicht. Bildung entsteht, indem wir Erfahrungen machen, sie uns aneignen, sie bewahren, verarbeiten und auch weitergeben. Eine besondere Form der Weitergabe gelingt durch künstlerische Produkte – in Literatur, bildender Kunst, Theater oder auch im Film. Solche filmischen Fantasieprodukte sind Ausdruck der Erschaffung besonderer Bilderwelten, die zunächst sowohl auf den inneren Bühnen beim Drehbuchschreiben, bei der Regie und bei den Schauspielern und Schauspielerinnen entstehen, dann aber in äußeren bewegten und bewegenden Bildern beliebig oft gezeigt und kommuniziert werden können. Dieses Feld wird von Jochen Schmerfeld in seinem Beitrag »Die Arbeit an inneren Bildern vom Kindsein – dargestellt am Beispiel des Films ›The Florida Project‹ (USA 2017)« bearbeitet. Dabei geht es ihm (wie den Filmschaffenden auch) darum, die im Menschen geronnenen, mehr oder weniger fest gefügten Bilder – in diesem Fall von Kindheit – zu flexibilisieren und gegebenenfalls zu verändern. Das filmische Narrativ ist insofern nicht nur Ausdruck der inneren Bilderwelt der Menschen, die den Film erschaffen, es weckt auch selbst Erinnerungen, löst Gefühle aus und spricht innere Repräsentanzen an, die zur Auseinandersetzung mit dem Kind- und Erwachsensein anregen. Hier finden sich auch die Nahtstellen zwischen Entwicklungs- und Kulturpsychologie, denn wie kaum ein anderes Medium spielt der Film mit Fantasie, archetypischen Erlebnisformen, mit dem Möglichkeitsraum und kreativen Gestaltungsmöglichkeiten. Von einer ganz anderen, eher klassisch-bildungsbiografischen Seite nähert sich Ulla M. Nitsch dem Thema. Ihr Beitrag »Heini und Mia machen sich ein Bild von der Welt – Identifikations-, Handlungs- und Bindungsangebote in Fibelbildern aus NS-Zeit und Gegenwart« untersucht den Einfluss von Abbildungen in Kinderbüchern in vergangenen und heutigen Zeiten. Die Erstlesebücher, die sie vorstellt und analy-
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siert, dienen – wie alle Fibeln –zunächst dem konkreten Erlernen des Lesens, sie spiegeln darüber hinaus aber auch reale Verhaltensweisen von Kindern wider und bilden zudem Vorstellungen von Erwachsenen über (als meist ideal skizzierte bzw. erwünschte) Kindheit und Kindsein wider. Darüber hinaus werden aber in den bildlichen Darstellungen auch Fiktionen von mehr oder weniger idealtypischen Kinder- und Erwachsenenwelten dargestellt bzw. propagiert. In den von der Autorin ausgewählten Schulbüchern aus der Zeit des Nationalsozialismus – einer Zeit also, in der die Herrschenden einen radikalen Anspruch auf einheitliche Formung von Menschen im Sinne der Ideologie und des Menschenbildes des Nationalsozialismus und dem mit diesem untrennbar verbundenen Führerkultes hatten und durchsetzten – wird der menschen- und weltbildprägende Charakter von Fibeln besonders deutlich. Die Autorin zeigt detailliert auf, in welch hohem Maße Auf- und Abwertungen anderer, weltanschauliche Wertungen und Ideologien in Bildungs- und Erziehungsprozesse einfließen und diese prägen. Ihre Analyse zeitgenössischer Lesebücher macht zudem die Differenziertheit und Vielfältigkeit aktuell gebräuchlicher Lernmittel deutlich – sie sind (anders als die NS-Fibeln) in dem vermittelten Menschen- und Gemeinschaftsbild unter einem human-demokratischen Anspruch generell zu loben, aber nicht frei von Mängeln, Einseitigkeiten und entsprechenden Verzerrungen. Wie kaum ein anderer unter den Autoren dieses Bandes bezieht sich Karl-Heinz Witte unmittelbar auf den Kern des Themas Bildung und innere Bilder. Sein Beitrag steht unter der Überschrift »Einbilden, Einbildung – zur Wort- und Begriffsgeschichte. ›Eingebildetes‹ bei Alfred Adler«. Ausgehend von Meister Eckhart, Theologe und Philosoph des Spätmittelalters, zeichnet er nach, dass und wie die Worte »informare« (einbilden) und »transformare« (überbilden) in die deutsche Sprache eingeführt wurden und sich in ihr weiterentwickelt haben. Auch bei Alfred Adler finden sich Spuren dieser ursprünglichen Wortbedeutung. So spricht Adler von der »Kraft der Einbildung«, von fast vergessenem »Bildzauber« und der Möglichkeit, »durch Willenskonzentration und magische Beihilfen ein, sei es heilsames, sei es schädliches Bild (zum Beispiel die Vorstellung einer Krankheit) auf eine andere Person zu übertragen« (Adler, 1912/2007, S. 258). Diese Sichtweise betont nicht nur die Kraft und Macht der Vorstellung, sie benennt auch – zumin-
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dest implizit – die Leib-Seele-Einheit und die Grundlagen der Psychosomatik. Für die psychotherapeutische Praxis bedeutet das, dass es im intersubjektiven Geschehen des therapeutischen Prozesses immer auch darum geht, die – oft unbewussten – inneren Bilder und Gestalten, die jeder von sich und von anderen hat, zu erforschen und zu erkennen. Dabei gilt es, nicht zu vergessen, dass Affekte, Gemütszustände, Einstellungen und Motivationen letztlich unsichtbar sind. Trotzdem können wir Vorstellungen darüber bei uns und bei anderen haben und glauben, dass das, was wir z. B. in Fallberichten mitzuteilen versuchen, real ist. Die hiermit verbundene Paradoxie, dass innere Bilder gleichzeitig unfassbar und dennoch beschreibbar sind, spielt in der Psychotherapie eine große Rolle. Denn: Wir brauchen Bilder und Worte, um diese (eigentlich nicht »verwort- und bebildbaren«) Prozesse zu erspüren, zu erfassen, zu beschreiben, um uns miteinander zu verständigen. Während in der Bildungsdebatte der vergangenen Jahre lange Zeit die Situation von Kindern in bildungsfernen Familien und deren Entwicklungsmöglichkeiten im Fokus der Aufmerksamkeit stand, lenkt Gertraud Butzke-Bogner in ihrem Beitrag »Unerkannt hochbegabt – über die Annäherung von Denken und Fühlen im und durch den analytischen Prozess« den Blick auf Personen, die als hochbegabt gelten (können). So erinnert sie zunächst daran, dass intellektuelle Hochbegabung nicht notwendig immer auch mit überdurchschnittlichen sozialen und kommunikativen Kompetenzen einhergeht. Daran anschließend beschreibt sie, dass und wie die Umwelt oft auf hochbegabte Kinder reagiert und wie mit ihnen umgegangen wird. Besonders in der Kinderund Jugendkultur werden hochbegabte Gleichaltrige – entgegen einer parallel durchaus existierenden Leistungsideologie – oft geringschätzig behandelt und ausgegrenzt. Hierbei wird nicht nur das gesunde menschliche Grundbedürfnis, in der jeweils spezifischen Eigenart gesehen und wertgeschätzt zu werden, frustriert. Betroffene werden zudem in ihrer Entwicklung oft massiv behindert und geschädigt. Insofern ist der Beitrag ein Plädoyer, die Besonderheiten von Hochbegabten aufmerksamer wahrzunehmen und angemessen zu berücksichtigen. Elena Stüttgen ergänzt die Sicht auf das Tagungsthema durch eine klinisch-behandlungspraktische Falldarstellung. Unter der Überschrift »Wirbelsturm in einem vernichtenden Chaos: Janoschs Bilder von sich selbst und der Welt – Von der Zersplitterung zur Selbstfindung in der
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Kinderanalyse« beschreibt sie die analytische Psychotherapie mit einem zu Behandlungsbeginn etwa sechsjährigen Jungen. Der Text, der in der Tradition der Veröffentlichungen von im Kandidatenforum vorgestellten Abschlussarbeiten steht und 2019 mit dem Annemarie-Wolf-Preis für die beste Arbeit aus dem Bereich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ausgezeichnet wurde, zeichnet differenziert und reflektiert die Vielfalt psychodynamischer Überlegungen und daraus abgeleiteter psychotherapeutischer Handlungsmöglichkeiten nach. So zeigt die Verlaufsbeschreibung dieses »Falls« die gelungene Balance von Empathie und Reflexion, von Identifikation und Abgrenzung. Deutlich wird, dass »Verstehen« im therapeutischen Prozess immer auch »Antworten« heißt, und zwar »Antworten« mit der gesamten Präsenz der beteiligten Personen. Eine therapeutische Beziehung so zu gestalten, schließt die Bereitschaft und Fähigkeit ein, sich auf emotionale Verwicklungen einzulassen, auf die Not des Gegenübers mit feinfühliger Resonanz zu reagieren und doch gleichzeitig auch eine reflektierende Haltung einzunehmen, die hilft, die mit der Resonanz verbundenen »Wirbelstürme« zu überleben und zum Positiven zu wenden. Nicht zuletzt lässt sich auch das Interview, das Barbara Bremer im Rahmen des Formats »Menschen in der DGIP« mit Almuth BruderBezzel geführt hat, schlüssig auf Bildung und innere Bilder beziehen. Almuth Bruder-Bezzel, gleichermaßen Praktikerin wie Wissenschaftlerin, ist nämlich nicht nur eine außergewöhnlich interessierte, politisch engagierte und gebildete Forscherin, sie hat auch selbst das Bild von Alfred Adler, seiner Person und seinen Verstehens- und Erklärungsansätzen der menschlichen Psyche – also auch unsere inneren Bilder des Begründers der Individualpsychologie – lebendig gehalten, interpretiert und mitgeprägt. Besonders bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die zahlreichen Veröffentlichungen, die sich mit den Originaltexten von Adler und der Geschichte der Individualpsychologie beschäftigen. Beispielhaft seien hier erwähnt: die (Mit-)Herausgeberschaft von drei Bänden der Alfred Adler Studienausgabe, zahlreiche Bücher über die Geschichte der Individualpsychologie – so 2019 eine Arbeit, die sich mit Alfred Adlers Beziehungen zu Wiener Kreisen in Politik, Literatur und Psychoanalyse beschäftigt – und eine Vielzahl von Zeitschriftenartikeln. Erwähnt werden muss zudem ihr verbandspolitisches Engagement, z. B. als langjähriges Mitglied in der Fachgruppe
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Wissenschaft, in der Arbeitsgruppe Jahrestagungen, als Mitbegründerin des Alfred Adler Instituts Berlin, als Angehörige des Landesverbands Berlin-Brandenburg der DGIP, einschließlich der Tätigkeit im Vorstand und bis heute als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin. Almuth Bruder-Bezzel prägte und prägt weiterhin das Bild der zeitgenössischen Individualpsychologie und malt es entscheidend mit in kräftigen und lebendigen Farben. Ich wünsche denen, die an der Jahrestagung der DGIP 2019 in Potsdam teilgenommen haben, aber natürlich auch allen weiteren Interessentinnen und Interessenten mit dieser Zusammenstellung eine gute »Nachlese« und vielfältige Anregungen für die eigene pädagogische, psychotherapeutische und psychoanalytische Arbeit und letztlich auch für die eigene Weiterentwicklung und -bildung. Pit Wahl
Literatur Adler, A. (1912/2007). Organdialekt. In A. Adler, Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Frühe Schriften (1904−1912). Hrsg. v. A. Bruder-Bezzel (Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 1, S. 250–259). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bruder-Bezzel, A. (2019). Alfred Adlers Wiener Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse. Beiträge zur Geschichte der Individualpsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Knausgård, K. O. (2009, dt. 2011). Sterben. Roman (aus dem Norwegischen übersetzt von P. Berf). München: Luchterhand Literaturverlag.
Regine Kroschel
Menschen, Orte, Landschaften – Was wir wissen und wie dieses Wissen unsere inneren Bilder formt Begrüßungsansprache der ersten Vorsitzenden des Alfred Adler Instituts Berlin zur Jahrestagung der DGIP am 31.10.2019 in Potsdam
Was wir gerade tun, was wir denken und fühlen, unser gesamtes menschliches Leben ist geprägt durch innere Bilder – Bilder, die wir uns von uns selbst, von den anderen, also unseren Mitmenschen, und von der Welt machen, in der wir leben. Wie innere Bilder entstehen, wie sie sich zusammenfügen, wie sie sich entwickeln und wie sie unser Fühlen und Handeln beeinflussen und manchmal sogar gegen unseren Willen bestimmen: Mit diesen Fragen werden sich die Beiträge beschäftigen, mit denen wir in den nächsten Tagen Bekanntschaft machen werden. Zu dem, was unser Denken und Erleben bildet, gehören sowohl die sinnlichen Eindrücke, die wir unmittelbar von unserer Umgebung aufnehmen, als auch die Informationen, die wir eher nur vermittelt über die Orte und Landschaften – etwa über ihre Geschichte – haben, an denen wir uns befinden. Über die Gegend hier in und um Potsdam herum möchte ich nun kurz sprechen. Ich tue also etwas für Ihre Bildung, vor allem aber rechne ich fest damit, dass in jeder und jedem Einzelnen innere Bilder entstehen werden – unterschiedlich und höchst individuell, und doch mit Schnittmengen, auf die wir uns dann gemeinsam beziehen können.
Es sind innere Bilder, die zum einen mit der langen und besonderen Geschichte Potsdams bis zum Zusammenbruch der DDR zu tun haben und zum anderen mit der oft nur unzureichend reflektierten kurzen Geschichte Potsdams in den letzten dreißig Jahren: Wir befinden uns hier in einer Kulturlandschaft, die einige Jahrhunderte alt ist – das ist ein an einem individuellen Leben gemessen vielleicht langer Zeitraum, aus erdgeschichtlicher Perspektive betrachtet aber ziemlich jung. Andere Gegenden der heutigen Bundesrepublik sind schon viel früher, vor Jahrtausenden, von Menschen für Ackerbau und Viehzucht urbar gemacht worden. Die Landschaftsform des Urstromtals, die wir hier vorfinden, tritt wie dicht nebeneinandergelegt auf, es sind schnell wechselnde Land-
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schaftsformen von flachen Rücken und Tälern. Das hier existierende geringe Gefälle der Erdkruste lässt das Wasser nur langsam abfließen, sodass trotz der vorherrschenden sehr geringen Regenmengen das Land von Gewässern geprägt ist. Zu den Seen – wie dem Templiner See, den wir von unserem Tagungsort aus sehen können – kommen zahlreiche Entwässerungsgräben, die angelegt wurden, um das Land trockenzulegen und es so nutzbar zu machen. Die Böden in der Region sind stellenweise sehr fruchtbar. Es überwiegen jedoch die nährstoffarmen Sandböden, die der Mark Brandenburg ihr charakteristisches Gepräge geben. Als Gründungsjahr der Mark Brandenburg als politische Einheit gilt das Jahr 1157. Damals eignete sich der Askanier Albrecht der Bär das Gebiet an und machte es zum Bestandteil des Heiligen Römischen Reichs. Von 1415 bis 1918 stand die Region unter der Herrschaft der aus Schwaben stammenden Familie der Hohenzollern, die 1486 in Berlin ihre Residenz gründete. Die kleine Hausansammlung an der Furt über die Spree zwischen Spandau und Köpenick beherbergte bis dahin vor allem durchreisende Händler und hatte erst 150 Jahre zuvor Stadtrecht erhalten. 1701 erhielt der Kurfürst von Brandenburg die Königswürde, weil er eine ordentliche Menge Geld in die Kriegskasse des Kaisers gegeben hatte. Er nannte sich König in Preußen, wobei Preußen bis dahin ein unbedeutender baltischer Landstrich im polnischen Teil des Herzogtums war. Dieser erste König in Preußen, Friedrich I., entwickelte das Land durch die Ansiedlung von Kunst und Wissenschaften sowie die Gründung der Universitäten in Halle und Berlin. Außerdem organisierte er Militär und Verwaltung straff und bezahlte seine Beamten gut, sodass sie ihm mehr verpflichtet waren als der Korruption. Verfehlungen wurden schwer bestraft. Sein vielschichtiger Enkel, Friedrich II., in die Geschichte eingegangen als der Alte Fritz, beschäftigt die Brandenburger bis heute. Er war musikalisch und feingeistig, dabei ein Feldherr von Rang und eigensinniger Sturkopf. Er lud diejenigen nach Brandenburg ein, die in anderen Gegenden Westeuropas ihre Heimat verlassen mussten, weil sie auf ihren protestantischen Glauben mit seiner Eigenständigkeit im Denken nicht verzichten wollten. Diese Menschen brachten wertvolle handwerkliche Fähigkeiten, Bevölkerungszuwachs und ökonomischen Schwung in die bis dahin bevölkerungsarme Mark ein.
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Regine Kroschel
Migranten aus Holland legten mit ihrer Mühlentechnik das sumpfige Land trocken. Auf den kargen Böden gedieh der Anbau der südamerikanischen Kartoffel – vor allem dem Alten Fritz ist diese Neuerung zu verdanken – und ermöglichte weiteren Bevölkerungszuwachs. Dieser eigenbrötlerische Regent war seiner Hauptstadt Berlin mit ihrem Lärm und Schmutz irgendwann überdrüssig und baute sich auf dem neu entwässerten Land in Potsdam ein kleines Schloss, in dem er ohne Sorgen zu leben hoffte. So gewann Potsdam an Bedeutung. Die neuen Flächen, der Ideenreichtum der Migranten und die fehlenden Zunftverpflichtungen in der jungen Stadt Berlin förderten neue Produktionstechniken, die Bevölkerung wuchs im 19. Jahrhundert durch Zuzug aus den weiten ländlichen Gebieten Preußens und Polens in rasantem Tempo. Nach dem schweren Einschnitt durch den Ersten Weltkrieg und der Auflösung der Monarchie entwickelte sich Berlin in den 1920er Jahren zur zweiten deutschsprachigen Weltstadt neben Wien. Durch die Machtübernahme der Faschisten in den 1930er Jahren verlor Berlin dann aber durch Vertreibung, Gefangennahme und Vernichtung wichtige kulturtragende Personen und später, im Bomben hagel, seine basale Funktion als sicherer Ort für seine Bewohner – so wie das ja in vielen Gegenden Deutschlands der Fall war. In der Nachkriegszeit erlahmten die lebendigen Verbindungen zwischen Berlin und Potsdam durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Besatzungszonen und -sektoren. Schließlich wurde Potsdam 1961 mit dem Bau der Mauer völlig abgeschnitten. Es war nun ein von Berlin, der Hauptstadt der DDR, weit entfernter Ort, weil eine räumliche Verbindung nur um West-Berlin herum möglich war. Erst das wirtschaftliche Scheitern der Idee des solchermaßen praktizierten Sozialismus und der Eigenwille und die Freiheitsliebe ihrer Bewohner ließ die DDR 1990 zusammenbrechen. Die nachfolgenden Umwälzungen in den neuen Bundesländern waren so erheblich, dass die Finanzierung des Betriebs der Entwässerungspumpen, die weite Teile der Mark Brandenburg zu bewohnbarem Land machen, infrage stand. Die Bedrohung durch die Natur war jedoch so überzeugend, dass sich nach der Flutung der ersten Felder eine praktikable Lösung fand. Für mich ist dies ein anschauliches Beispiel dafür, was die Bevöl-
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kerung in den neuen Bundesländern an Bedrohlichem durch die Wende erfahren hat. Dies betraf ja nicht nur die Entwässerungsfrage, auch die Preise vieler Lebensmittel und Alltagsgegenstände erhöhten sich zum Teil erheblich. Außerdem verschwanden vertraute Verbrauchsgüter aus den Regalen der Kaufhallen und wurden durch neue ersetzt. Die Verwaltung wurde von Grund auf neu organisiert, Firmen verkauft und geschlossen, nur wenige weiterbetrieben. Selbst Universitäten wurden teilaufgelöst und unbenannt. Unabhängig von Fachgebiet und politischer Haltung verloren viele Professoren ihre Stellung. Kaum einer konnte mehr in seinem Beruf weiterarbeiten. Und die Differenz zum Westen wurde alltäglich deutlich spürbar: Die Preise erhöhten sich nicht nur: Kleidung ist im Westen billiger gewesen, auch Autos oder die aufkommenden Computer. Vieles gab es in der DDR praktisch nicht: Zitrusfrüchte, Bananen, Ananas und ähnliches, während es in der BRD zum Alltag gehörte und finanzierbar war. Potsdam ist inzwischen eine lebenswerte Stadt, die zudem von den Abgaben einiger sehr reicher Bürger profitiert. Das Land Brandenburg jedoch ist seit den 1990er Jahren wieder entvölkert und fast so arm und leer wie Mecklenburg-Vorpommern. Im Westen wurde die DDR ebenso wie die Wende von vielen »wegignoriert«, wie Kati Witt, die bekannte Eiskunstläuferin, es in einem Interview vor einigen Tagen nannte. Doch auch diese kreative Steigerung des Wortes kann kaum beschreiben, wie sich eine »Migration ohne Ortswechsel« – so auch der Titel eines Forschungsprojekts der Volkswagen-Stiftung – anfühlt. Michael Froese aus Potsdam hat uns auf der Jahrestagung der DGIP in Köln 2015 davon erzählt und seinen Bericht mit den bewegten Worten geschlossen, dass erst seine Kinder die Chance haben, mit Bildung einer eigenen Identität wirklich in der aktuellen bundesdeutschen Gesellschaft anzukommen. Kolleginnen und Kollegen, die aus den neuen Bundesländern stammen, treten selten als solche hervor. Wer in Berlin oder Westdeutschland lebt, spricht seinen Heimatdialekt meist nur, wenn er aus der alten Bundesrepublik stammt. Die aus den neuen Ländern wollen sich »im Land der Sieger nicht anhören lassen, dass sie von Besiegten abstammen«. Letzteres ist die von mir erinnerte Formulierung eines Ausbil-
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Regine Kroschel
dungskandidaten am Berliner Alfred Adler Institut. Seinen Dialekt spricht er nur zu Hause. Ich hoffe, dass ich einige Bilder, die ich in mir von diesem Ort und dieser Gegend trage, in Ihnen lebendig werden lassen konnte.
Gary S. Schaal
Welche Zukunft hat die Demokratie im Zeitalter der Digitalisierung?
Zusammenfassung Welche Konsequenzen haben Prozesse der Digitalisierung für die Qualität und den Bestand von Demokratie? Kurz: Digitalisierung gefährdet die Demokratie, so wie wir sie heute kennen und normativ schätzen. Es spricht vieles dafür, dass jene Anpassungen, die für eine »digitalisierungskompatible« Demokratie notwendig wären, ihren normativen Kern so stark verändern würden, dass diese transformierte Form von Demokratie nur noch entfernt Ähnlichkeit mit einer anspruchsvollen Idee von politischer Selbstregierung besitzen würde. Das größte Problem resultiert daraus, dass vernetzte Herausforderungen zu emergenten Phänomenen führen, die man nur schwer politisch antizipieren und demokratisch gestalten kann. Die Zukunftsfähigkeit von Demokratie – zumal der Demokratie in Deutschland – basiert auf der Kompetenz, der Bereitschaft und dem Mut, die notwendigen, grundlegenden und sicher auch verunsichernden politischen und gesellschaftlichen Transformationen zeitnah anzugehen.
Bedrohungen der Demokratie Demokratie ist eine überaus anpassungsfähige Herrschaftsform, die in ihrer 2.500-jährigen Geschichte bereits viele Transformationen durchlebt hat. So ist unsere heutige, liberal-repräsentative Demokratie weit von jener Form der direkten Demokratie entfernt, die in der klassischen Antike in den griechischen Stadtstaaten praktiziert wurde (Vorländer, 2003). Demokratien sind somit immer eingebettet in gesellschaftliche, wirtschaftliche, technologische etc. Kontexte, auf die sie reagieren und die sie selbst verändern. Eine der größten Transformationen der letzten Jahrhunderte stellt die Digitalisierung dar (Helbing, 2019). Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Konsequenzen Prozesse der Digitalisierung für die Qualität der Demokratie, wenn nicht sogar für den Bestand der Demokratie haben.
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Gary S. Schaal
Ich vertrete die These, dass Digitalisierung die Demokratie, so wie wir sie heute kennen und normativ schätzen, gefährdet. Und aus heutiger Perspektive spricht vieles dafür, dass jene Anpassungen, die für eine »digitalisierungskompatible« Demokratie notwendig wären, ihren normativen Kern so stark verändern würden, dass diese transformierte Form von Demokratie nur noch eine Schwundstufe der Idee der Selbstregierung wäre (Helbing, 2015). Warum ist die Demokratie durch Digitalisierungsprozesse so gefährdet? Die besondere Qualität dieser Prozesse besteht darin, dass sie die Demokratie auf mehreren Ebenen gleichzeitig herausfordert. Häufig wird der Fokus nur auf isolierte Probleme oder spezifische Aspekte der Digitalisierung gerichtet: digitales Wählen und seine Manipulationsmöglichkeiten oder die digitale Öffentlichkeit, ihre Filterblasen und Echokammern. Isoliert betrachtet scheint es leicht, politische Lösungen zu finden. Das eigentliche Problem resultiert jedoch daraus, dass vernetzte Herausforderungen zu emergenten Phänomenen führen. Emergente Probleme sind durch die Tatsache charakterisiert, dass sie mehr sind als die Summe ihrer Einzelteile; d. h., dass durch die Vernetzung von unterschiedlichen, isoliert betrachtet relativ unbedeutenden Prozessen politische Herausforderungen resultieren können, die gravierend sind. Politische Herausforderungen, die aus emergenten Phänomen resultieren, können nur schwer antizipiert werden, weshalb Politik von ihnen häufig überrascht wird und politische Lösungen deshalb aus systematischen Gründen nur mit großer zeitlicher Verzögerung entwickelt werden. Die aus der digitalen Vernetzung resultierenden politischen Herausforderungen besitzen zusammenfassend eine Problemqualität, die Demokratien vor große Herausforderungen stellt. Nichtsdestotrotz können klar strukturierte Herausforderungsbereiche oder -sphären identifiziert werden: – Erstens wird die Demokratie von innen herausgefordert, weil ihre Werte, Verfahren und Institutionen bei der Bevölkerung durch Prozesse der Digitalisierung an Akzeptanz verlieren, wodurch auch die Legitimation und die Legitimität demokratischer Herrschaftsordnungen sinkt. – Zweitens gerät Demokratie von außen, in vergleichender Perspektive, unter Druck. In der Systemkonkurrenz mit sozialistischen oder autokratischen Herrschaftsformen hat die Demokratie nicht nur
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durch ihre höhere Normativität gepunktet, durch ihre konsequente Orientierung an Grund- und Menschenrechten und ihre intrinsischen Qualitäten, sondern auch durch ihre höhere Leistungsfähigkeit: Demokratien ermöglichten ihrer Bevölkerung grosso modo einen höheren Lebensstandard als alle anderen Herrschaftssysteme. In den letzten Jahren jedoch haben sich wirtschaftlich hoch konkurrenzfähige autokratische Systeme herausgebildet, die intensiv an der Digitalisierung aller Bereiche des Lebens arbeiten. Das einschlägigste Beispiel für diese Gruppe von Staaten ist China. Betrachtet man etwa in globaler Perspektive die Anziehungskraft des chinesischen Modells mit jenem der Demokratie – z. B. westeuropäischer Prägung – aus afrikanischer Perspektive, wird deutlich, dass die chinesische Herrschaftsform an Attraktivität gewinnt (Lu u. Shi, 2014). Die sinkende ökonomische Wettbewerbsfähigkeit von Demokratien kann auch einen destabilisierenden Effekt nach innen besitzen, z. B. durch Einschnitte in das soziale Netz. – Drittens werden Demokratien durch Prozesse der Digitalisierung zunehmend verletzlicher gegenüber Angriffen von außen. Unter den Stichworten »hybride Bedrohungen« und »hybride Angriffe« werden jene Akte ausländischer Mächte und Terrorgruppen subsumiert, die darauf zielen, den angegriffenen Staat mit Mitteln zu destabilisieren und unterhalb der Schwelle eines Krieges liegen (Schmid, 2019). Hybride Angriffe haben bereits destabilisierende Effekte erzeugt: Erinnert sei an die Manipulation der amerikanischen Präsidentschaftswahlen, die hybride Einflussnahme auf den öffentlichen Diskurs über den Brexit in England oder die russische Operation »Armageddon«, die der Annexion der Krim vorausging (Murphy, 2018). Die Manipulation öffentlicher Meinung, das Streuen von »Fake News«, etc. kann auch etablierte Demokratien destabilisieren. Und die Mittel hierfür sind so kostengünstig, dass sie für eine zunehmend größere Gruppe von ausländischen Gegnern staatlicher und nicht staatlicher Natur nutzbar werden. In der Summe ergibt sich somit das Bild einer von innen wie von außen gleichzeitig herausgeforderten Demokratie. Aus diesem Problemportfolio wird im Folgenden auf einen Bereich näher eingegangen: die wachsende Bedrohung von innen.
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Gary S. Schaal
Zentrale Voraussetzungen und Ideale der Demokratie verlieren an Überzeugungskraft Jedes Modell politischer Herrschaft basiert auf einer Vorstellung über die Natur des Menschen. Im Zuge der Aufklärung und der historischen Entfaltung liberalen Gedankenguts hat sich in Europa und Amerika der normative Individualismus durchgesetzt, d. h. die Vorstellung, dass jeder Mensch einmalig ist und dass aus seiner Einmaligkeit auch sein intrinsischer Wert folgt (Vorländer, 2003). Aus der zentralen Bedeutung des Individuums folgen rechtlich starke Grund- und Menschenrechte und politisch die Vorstellung, dass politische Ordnungen vom Individuum und nicht vom Kollektiv her konzipiert werden sollen. Demokratietheoretisch übersetzt sich der normative Individualismus in die liberale Kernidee, dass jeder Mensch für sich selbst am besten weiß, was für ihn gut ist, und deshalb kein anderer advokatorisch oder paternalistisch für ihn sprechen darf. Das »one person – one vote«-Prinzip ist deshalb im normativen Individualismus verwurzelt. Der normative Individualismus wird durch Prozesse der Digitalisierung herausgefordert – und mit ihm die politische Ordnung, die auf ihm basiert: die Demokratie. Verantwortlich hierfür ist die zunehmende Berechenbar- und Vorhersagbarkeit menschlichen Handelns auf Basis von »Big Data« (Harari, 2017). Ein triviales Beispiel hierfür sind Produktempfehlungen bei Amazon. Die Vorausberechenbarkeit individuellen Handelns wirft jenseits des trivialen Beispiels ernsthafte Fragen auf, die sogar für den Bestand der Demokratie von Bedeutung sind: Die Berechenbarkeit individuellen Handelns führt zur Entzauberung der kritischen Vernunft jedes Einzelnen (Harari, 2017). Die Befähigung, den eigenen Verstand zu nutzen, ist eine wichtige normative Basis von Demokratie. In jenem Maße, in dem menschliches Handeln berechenbar wird, verliert der Anspruch des Einzelnen auf Einmaligkeit an Überzeugungskraft. Der Historiker Harari vertritt vor diesem Hintergrund die Position, dass Digitalisierung nicht – wie typischerweise behauptet wird – zu einer stärkeren Individualisierung führt (Reckwitz, 2017), sondern den gegenteiligen Effekt besitzt, d. h. eine Rückkehr der Bürger zu einer (disponiblen) Masse. Da politische Ordnungsvorstellungen zumeist um ein Menschenbild herum konstruiert werden, ist es nicht unwahrscheinlich, dass im Zuge der zunehmenden Berechenbarkeit
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individuellen Handelns durch Big Data wir selbst – als Bürgerinnen und Bürger – Teil daran haben werden, die menschliche Natur anders, d. h. weniger individualistisch, zu deuten. Ein solches Konstrukt würde die Demokratie nicht stärken, sondern schwächen.
Digitaler Gattungsbruch Digitalisierung, Vernetzung, Big Data, die rasante Entwicklung von Rechenkapazität – diese Prozesse haben auch zu immensen Fortschritten in den Lebenswissenschaften geführt. Und auch aus diesen Fortschritten können für die Demokratie fundamentale Herausforderungen resultieren. Eine spezifische Gruppe von Herausforderungen birgt die Gefahr eines digitalen Gattungsbruches. Die Vorstellung eines Gattungsbruches ist von Hannah Arendt (1991) nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt worden und wurde vor einigen Jahren prominent von Zimmermann wieder aufgegriffen (Zimmermann, 2005). Sie wollte damit in einem Begriff zusammenfassen, dass die Nationalsozialisten die Einheit der Menschen als Gattung infrage gestellt haben, indem sie jüdische Mitbürgerinnen und -bürger durch ihre Rhetorik dehumanisierten. Arendt sah im Gattungsbruch einen Faktor, der die nationalsozialistischen Verbrechen an den jüdischen Mitbürgern für die Täter emotional erleichtert hat. Autokratien und faschistische Staaten sind Herrschaftsformen der Ungleichheit. Demokratie ist die politische Herrschaftsform der Gleichen. Und auch wenn wir empirisch wissen, dass sich Menschen praktisch in vielerlei Dingen unterscheiden, so sind wir doch als Menschen gleich. Und aus dieser prinzipiellen Gleichheit resultiert auch das Ideal, dass jeder Mensch das gleiche Recht hat, im demokratischen Prozess seine Stimme zu erheben und gleiches Gehör für seine Wünsche zu finden. Diese Gleichheit ist bedroht. Der Begriff des digitalen Gattungsbruch soll jene Entwicklungen zusammenfassen, die darauf hinauslaufen, dass die Einheit der Menschheit als Gattung der Gleichen infrage stellt wird, weil der Mensch seine eigene Natur verändert. Vorstufen werden bereits heute in Form von Neuro-Enhancement praktiziert. Die Realisierung der Verheißungen der Lebenswissenschaften – künstliche Organe, DNA-Manipulation – in Verbindung mit der Verschmelzung von Mensch und Technik (Cyborgs)
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können das Ende der intrinsischen Gleichheit aller Menschen bedeuten, und damit das Ende des Ideals der gleichberechtigten demokratischen Herrschaft aller Bürger. Denn unter Bedingungen der Selbstoptimierung und Selbsttransformation des Menschen ist es nicht nur denkbar, sondern auch wahrscheinlich, dass es Unterschiede – in der körperlichen und/oder kognitiven Leistungsfähigkeit – geben wird, die es empirisch massiv erschweren werden, das Ideal politischer Gleichheit kontrafaktisch zu verteidigen. Denn wenn durch Neuro-Enhancement eine bestimmte Gruppe der Gesellschaft kognitiv deutlich höhere Kapazitäten besitzt als der Rest der Bevölkerung, ist das Argument, dass diese Gruppe eine politische Elite bilden soll, damit bessere politische Entscheidungen getroffen werden können, naheliegend. Transhumanz führt zudem zu einer Vertiefung von zwei Spaltungen, die heute bereits existieren. Da Selbstoptimierung kostenintensiv sein wird, wird sie die Spaltung zwischen Armen und Reichen innerhalb der Demokratie erhöhen. Gleichzeitig wird die Spaltung zwischen Staaten der Weltgesellschaft forciert, und zwar entlang der Frage, ob sich die Bevölkerung eines Landes Optimierung leisten kann oder nicht.
Politische Meinungsbildung Ein Ideal von Demokratie ist die autonome politische Meinungsbildung ihrer Bürgerinnen und Bürger. Dieses Ideal basiert auf einer starken Vorstellung von politischer Öffentlichkeit, denn sie ist jener Ort, wo Bürgerinnen ihre Interessen durch Deliberation identifizieren, um so zu fundierten politischen Präferenzen zu gelangen (Habermas, 1992). Hintergrund dieser Vorstellung ist, dass Bürgerinnen im öffentlichen Diskurs ihre politischen Wünsche auf Nachfrage begründen müssen. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass egoistische politische Wünsche im Dialog herausgefiltert werden, weil sie nicht gemeinwohlorientiert begründet werden können. Damit sichert der öffentliche Diskurs die Qualität demokratischer Politik – Digitalisierung hat in den letzten Jahren Prozesse beschleunigt und intensiviert, die die Funktion von Öffentlichkeit infrage stellen (Sunstein, 2017): – Dies ist erstens die zunehmende Pluralisierung von Öffentlichkeit. Denn Öffentlichkeit existiert nicht mehr im Singular, sondern nur
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noch im Plural. Pluralisierung von Öffentlichkeiten wäre aus demokratischer Perspektive dann unproblematisch, wenn die Teilöffentlichkeiten vernetzt wären und Informationen und Argumente von einer Öffentlichkeit zur anderen weitergeleitet würden. – Gegenwärtig beobachten wir jedoch zweitens den Trend einer zunehmenden Fragmentierung der Öffentlichkeiten, d. h. einer zunehmenden Selbstbezüglichkeit der Teilöffentlichkeiten. – Die Selbstreferenzialität bereitet drittens den Boden für einen weiteren empirischen Trend, nämlich die Radikalisierung der politischen Meinungen in diesen Echokammern. Diese drei Entwicklungen, die in den letzten Jahren durch Digitalisierungsprozesse massiv beschleunigt und vertieft wurden, schwächen die Leistungsfähigkeit der Öffentlichkeit. Damit wird eine zentrale Voraussetzung des Funktionierens von liberalen Demokratien infrage gestellt (Schaal, 2019). Die Funktionsdefizite politischer Öffentlichkeit haben Auswirkungen auf die Politik, die bereits heute deutlich sichtbar werden. Eine wichtige Konsequenz – gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung nachhaltiger und generationengerechter Politik – ist Schwächung sachorientierter, fakten- und evidenzbasierter Politik. Die Schwächung der demokratischen Öffentlichkeit ist dem Prozess ihrer Ausdifferenzierung selbst eingeschrieben. Dahinter verbirgt sich nicht zwingend eine manipulative, die Demokratie schwächen wollende Intention. Trotzdem sind diese digital fragmentierten Öffentlichkeiten leichter zu manipulieren als eine integrierte Gesamtöffentlichkeit. In den letzten Jahren ist intensiv darüber diskutiert worden, dass mit den Daten, die über die sozialen Netzwerke erhoben werden, politische Akteure im Wahlkampf sehr erfolgreich »Mikrotargeting« betreiben können. Dies wird im aktuellen Diskurs als Manipulation gedeutet, die den demokratischen Prozess verzerrt und gefährdet. Die wirkliche Bedrohung resultiert jedoch nicht aus der sekundären Nutzung von Social-Media-Daten. Gefahr droht, wenn Facebook, Twitter oder Google ihre Daten selbst nutzen, um ihre (wirtschafts-) politischen Interessen durchzusetzen. Diese Unternehmen können mit ihren eigenen Daten weitaus effektiver, effizienter und unsichtbarer manipulieren als andere Akteure dies können. Der Super-GAU der Meinungsmanipulation in der Demokratie würde also darin bestehen,
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dass die großen Social-Media-Anbieter selbst zu politischen Akteuren werden, die ihre eigene Agenda auf Basis ihrer eigenen Daten durchsetzen. Dass sie dies noch nicht getan haben, heißt nicht, dass sie es nicht in Zukunft tun werden. Ein weiteres Ideal der Aufklärung ist die Autonomie (Dahl, 1989). Die Frage, ob Social Media unsere politische Meinungsbildung beeinflusst oder gar bestimmt, wirft ein kritisches Licht auf die Frage der Autonomie unseres politischen Entscheidens. In der Diskussion ist die Frage, ob wir als Bürgerinnen und Bürger noch autonom entscheiden oder ob bereits heute Algorithmen über uns und die aktuelle Politik bestimmen. Diese Frage ist berechtigt und gibt Anlass zur Sorge. Sie verkennt jedoch die Natur der sozialen Welt des Digitalen. Digitale Assistenten zum algorithmenbasierten Ranking von Informationen im Netz werden wir immer benötigen. Dies ist keine Filterung, sondern notwendige Priorisierung. Aber auch diese Priorisierung besitzt gravierende Auswirkungen auf die Konstruktion der sozialen Welt des Digitalen. Denn die Nutzer(innen) digitaler Medien können keine Vorstellung des Ganzen der digitalen sozialen Welt besitzen. Die digitale soziale Welt ist eine algorithmische Konstruktion, bei der wir nicht wissen, was wir nicht wissen, d. h. wir können nicht wissen, welche Horizonte des Sozialen jenseits unserer je spezifischen Konstruktion existieren. Und diese konstitutive Abhängigkeit von Algorithmen für die Konstruktion von digitaler sozialer Wirklichkeit muss in ihrer Radikalität noch stärker ausbuchstabiert werden, wenn autonomes Entscheiden unter Bedingungen von Digitalität diskutiert wird. Schließlich existiert ein Trend zur Selbstentmachtung von Politik. In der Diskussion ist das Argument, dass politische Entscheidungen zunehmend komplexer werden, weil die Herausforderungen einer globalisierten, digital vernetzten Welt ebenfalls komplexer werden. Demokratie ist jedoch eine Staats- und Herrschaftsform, die für politische Systeme entworfen wurde, deren Komplexität deutlich geringer war als jene heutiger Gesellschaften. Zugleich ist die Tragweite heutiger politischer Entscheidungen ungleich höher als in den letzten Jahrzehnten oder Jahrhunderten – von dem Einsatz von Atomwaffen einmal ganz abgesehen. Vor diesem Hintergrund wird in der Diskussion das Argument vertreten, dass die Fehlertoleranz demokratischer Politik heute geringer sei als in der Vergangenheit. Es besteht ein wachsender Bedarf nach
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epistemisch hochwertigen Entscheidungen, umgangssprachlich: sachlich angemessenen, »guten« politischen Entscheidungen (Willke, 2014). Doch wenn Prozesse der Digitalisierung Quelle von politischen Herausforderungen sind, können sie dann nicht auch Quelle von politischen Lösungen sein? Deshalb werden algorithmische Entscheidungs(unterstützungs)systeme (ADM) eingeführt: Auf Basis von Big Data sollen sie politische Entscheidungsträger beraten. Hierdurch soll die Evidenzbasierung von Politik und damit auch ihre Qualität verbessert werden (Krüger u. Lischka, 2018). Ein gängiges Beispiel hierfür ist »Predictive Policing«, d. h. die Allokation von Polizeikräften zur Prävention von Straftaten aufgrund von algorithmischen Analysen. Empirische Untersuchungen können zeigen, dass Entscheidungsträger, die algorithmische Entscheidungshilfen erhalten, sich in der Regel an diesen Empfehlungen orientieren. Dies kann mittelfristig zu einer Selbstentmachtung von Politik führen. Denn die Entscheidungsmacht läge dann weniger bei Politikern bzw. Politikerinnen, als bei denjenigen, die die zugrunde liegenden Algorithmen programmiert haben, die Daten bereitstellen und die Ziele spezifizieren, die algorithmisch optimiert werden sollen. Diese Entwicklung hat gravierende Konsequenzen für die Frage, was in einer digital eingebetteten Demokratie bedeutungsvolle politische Partizipation bedeutet. Vieles spricht dafür, dass bedeutungsvolle politische Partizipation in einem solchen Kontext z. B. nicht mehr die Wahl einer Partei ist, sondern die aktive Mitgestaltung der algorithmischen Grundlagen von Entscheidungsfindungssystemen. Bürger(innen) benötigen in einem solchen Umfeld deshalb »digital literacy«, um ihre politischen Beteiligungsrechte noch bedeutungsvoll auszuschöpfen.
Rettung? Wie kann die Demokratie vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen gestärkt werden? Es ist an der Zeit, Demokratie grundlegend neu zu denken. Dies bezieht sich jedoch nicht auf die Werte der Demokratie, sondern auf die Verfahren und Institutionen, mit deren Hilfe sie empirisch umgesetzt werden (Fleuß, Schaal u. Helbing, 2019). Wir müssen
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uns davon lösen, dass die liberal-repräsentative Demokratie die höchste (und letzte) Entwicklungsstufe von Demokratie ist. Wir benötigen vielmehr institutionelle Fantasie, um mithilfe von neuen Verfahren und Institutionen jene normativen Werte, die wir hoch schätzen – Freiheit, Gleichheit, Machtkontrolle –, auch in Zukunft zu gewährleisten. Dies bezieht sich u. a. auf die Fragen, wie politische Beteiligung ausgestaltet werden kann, welche Formen der politischen Willensbildung angemessen sind (Parteien genießen keinen Artenschutz!) bis hin zur räumlichen Einheit der Demokratie. Sie ist weder an den demokratischen Nationalstaat gebunden, noch muss sie trotz ihrer globalen Vernetztheit in supranationalen politischen Einheiten aufgehen. Genauso denkbar ist die Rückkehr in die demokratische Kleinräumigkeit, heute zumeist unter dem Label »Smart City« diskutiert (Anthopoulos, 2017). Klar ist jedoch auch, dass alle genannten Prozesse die Anforderungen, die Demokratie an ihre Bürgerinnen und Bürger stellt, deutlich erhöhen. Mehr noch als in der Vergangenheit wird der Erfolg von Demokratien auf Kompetenzen, Einstellungen und Motivationen basieren, die anspruchsvoll und zugleich volatil sind; deren Existenz für die Demokratie notwendig ist, deren Ausbildung jedoch nicht naturwüchsig erfolgt. Die Zukunftsfähigkeit von Demokratie – zumal der Demokratie ist Deutschland – basiert auf der Kompetenz, der Bereitschaft und dem Mut, die notwendigen, grundlegenden und sicher auch verunsichernden Transformationen zeitnah anzugehen.
Literatur Anthopoulos, L. G. (2017). Understanding Smart Cities: a Tool for Smart Government or an Industrial Trick? Cham: Springer. Arendt, H. (1991). Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (7. Aufl.). München: Piper. Dahl, R. A. (1989). Democracy and its Critics. New Haven: Yale University Press. Fleuß, D., Schaal, G. S., Helbig, K. (2019). Empirische Messung digitalisierter Demokratien: Erkenntnistheoretische Herausforderungen und eine wissenschaftstheoretische Antwort. Politische Vierteljahresschrift, 60 (3), 461–486. Habermas, J. (1992). Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Harari, Y. N. (2017). Homo Deus. München: Beck.
Welche Zukunft hat die Demokratie im Zeitalter der Digitalisierung?33 Helbing, D. (2015). Thinking Ahead – Essays on Big Data, Digital Revolution, and Participatory Market Society. Wiesbaden: Springer. Helbing, D. (2019). Towards Digital Enlightenment. Wiesbaden: Springer. Kahler, M. (2013). Rising powers and global governance: negotiating change in a resilient status quo. International Affairs, 89 (3), 711–729. Krüger, J., Lischka, K. (2018). Damit Maschinen den Menschen dienen. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. Lu, J., Shi, T. (2014). The Battle of Ideas and Discourses Before Democratic Transition: Different Democratic Conceptions in Authoritarian China. International Political Science Review, 36 (1), 20–41. Murphy, M. (2018). »Sea of Peace« or Sea of War – Russian Maritime Hybrid Warfare in the Baltic Sea. Naval War College Review, 71 (2), 1–27. Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp. Schaal, G. S. (2019). Herausforderungen für demokratische Öffentlichkeit im Prozess der Digitalisierung. In J. Bedford-Strohm, F. Höhne, J. ZeyherQuattlender (Hrsg.), Digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit. Ethik und politische Partizipation in interdisziplinärer Perspektive (S. 121–134). Baden-Baden: Nomos. Schmid, J. (2019). Hybrid Warfare – a Very Short Introduction. COI S&D Conception Paper. Helsinki: Hybrid CoE. Sunstein, C. (2017). #Republic. Princeton: Princeton University Press. Vorländer, H. (2003). Demokratie: Geschichte, Formen, Theorien. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung. Willke, H. (2014). Demokratie in Zeiten der Konfusion. Berlin: Suhrkamp. Zimmermann, R. (2005). Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft. Reinbek: Rowohlt.
Anna Katharina Dembler
Gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus – Brücke zu inneren Bildern – Welche Bedeutung hat dies für »Bildung«?
Zusammenfassung Die These, dass alle psychoanalytischen Konzeptualisierungen in bestimmten Grundannahmen über die menschliche Natur wurzeln, wird dargestellt. Fundierend ist das Konzept der »Person« und personaler Bezogenheit. Auf diesen basalen Vorstellungen beruhen die psychoanalytischen Entwicklungstheorien im Einvernehmen mit neurophysiologischen Befunden. Der Mensch als Person ist als eine in sich metastabile, nach innen und außen konfliktfähige Einheit zu sehen, die Triebe und Selbstwert in lebbaren Abstimmungen mit den Beziehungspersonen und der jeweiligen Kultur gestaltet. Dieses Menschenbild ist die Grundlage für die Zuschreibung von Verantwortung. Die psychoanalytischen Konzepte verbinden die Befunde, die das »Sein« als Entwicklung in psychologischer, sozialer und kultureller Dimension beschreiben, mit der Dimension des »Sollens«. Das Modell von Freud fasst die Person entsprechend in Es, Ich und Über-Ich, die in Abstimmung gebracht werden müssen. Was wir Gesundheit und Pathologie nennen, wurzelt beides in der Entwicklung dieser Persönlichkeitsdimensionen, die in den ersten Lebensjahren entstehen. Therapie bedeutet, Zugang zu finden in die innere Welt des Patienten unter Rückgriff auf die eigene. Der Zugang ereignet sich im Finden eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus, der emotionaler Natur sein muss. Kognitive Inhalte allein reichen nicht. Nur in Beziehung kann verändert werden, was in Bezogenheit entstand. Dazu zwei Fallvignetten. Wird der Boden des Konzeptes der »Person« verlassen, verliert »Verantwortung« die Verortung, wird sinnlos, Beziehung weicht chaotischen Triebäußerungen. Es taucht die Frage auf, ob das »Personsein« im derzeit sich entwickelnden Menschenbild als kollektiv wirksames Ideal noch Gültigkeit hat. Da auch »Bildung« sich in Bezogenheit ereignet, rein funktionaler Kenntniserwerb jedoch unter Omnipotenzphantasien gefährlich wird, muss schärfer gefasst werden, was unter »Bildung« verstanden werden soll. Bildung verdient diesen Namen nur, wenn der Wissenserwerb eingebettet ist in eine konstruktive Persönlichkeitsentwicklung.
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Vorbemerkung Einer kurzen Vergewisserung analytischer Grundannahmen sollen Überlegungen zum Sprung von der Ebene der Konzeptualisierungen auf die Handlungsebene im Behandlungszimmer an die Seite gestellt werden. Wichtig ist mir, herauszuarbeiten, auf welchem Menschenbild unsere analytischen Konzepte beruhen – mit der bangen Frage, ob dieses Menschenbild in unseren Tagen noch relevant ist. Dem verzweigten Baum psychoanalytischer Theoriebildung liegen einige basale, für alle analytischen Konzepte relevante Annahmen zu Grunde, so meine These. Hierzu einige begriffliche Klärungen. Wir erheben einen hohen Anspruch, indem wir Aussagen zu Grundkonstitutionen des »Humanum« machen. Wie können wir diesen Anspruch verteidigen? Ansprüche, zum Wissen über das Menschsein beizutragen, berühren unumgänglich die Bestimmung von Bildung. Was wollen wir unter »Bildung« verstehen? – ein im öffentlichen Diskurs sehr redundant und unscharf gebrauchtes Wort. Wie können wir uns an das Verhältnis von Kenntnissen, Wissenserwerb und emotional-personaler Verfasstheit – wir sprechen gern von Persönlichkeitsstruktur – annähern? Alle genannten Elemente, so meine These, sind für das, was wir »Bildung« nennen, unabdingbar von Bedeutung. Auf der individuellen Ebene unter dem spezifischen Gesichtspunkt einer therapeutischen Beziehung soll es dann um eine Beschreibungsform der Beziehungsaufnahme im Sinne eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus gehen. Zwei Fallvignetten bilden die Brücke zwischen Begrifflichkeit und konkretem Geschehen.
Eine kurze historische Besinnung Adler (1928/1982) hatte in seiner Zeit bereits die Vorstellung vom Menschen als einem Geschöpf, das aus äußeren Einflüssen und inneren Bedingungen sich zu einer recht stabilen Struktur, körperlich wie geistig, entwickelt und im »Lebensstil« die zunächst in viele Richtungen offenen Entwicklungsmöglichkeiten der »schöpferischen Kraft« final bindet.
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Anna Katharina Dembler
Er nahm daher den Menschen stärker als gerichtetes, sich ausrichtendes Wesen wahr im Sinne einer komplexen Einheit als der zeitlebens eher kausal determiniert denkende Freud, der im damalig gültigen naturwissenschaftlichen Paradigma stärker – besser gesagt ambivalent – gebunden blieb.1 Jung wiederum, als drittes Urgestein analytischen Denkens, stellte den Begriff des »Wandels« in den Mittelpunkt seiner Beobachtungen und Überlegungen (Jung, 1912/2011) und betonte damit das Gleiche im Unterschiedenen der Person, das rätselhaft Eigenartige in der Vorstellung von der Identität eines Menschen. Der Begriff des Wandels taucht dann in den »Transformationen« bei Bion (1965/2016) wieder auf. Der gemeinsame Grund, der ein »Entweder-oder« solcher unterschiedlichen Näherungsweisen heute als obsolet erscheinen lässt, findet sich in der Idee der zirkulären Kausalität, die in allen lebenden Systemen bestätigt wird. Die Biologen Maturana und Varela (1984, dt. 1990) bezeichneten die Entfaltung von lebenden Wesen als Autopoiese, ein Begriff, der sowohl die kausale Bedingtheit als auch die metastabile Binnenstruktur jedes lebendigen Organismus als sich selbst behauptende Struktur in sich fasst. In der Analytischen Philosophie des Geistes prägte Davidson den Begriff des »Tokens«, der eine kausale Bedingtheit eines Ereignisses ausdrückt, ohne eine generelle Gesetzmäßigkeit zu implizieren. Davidson spricht auch vom »anomalen Monismus« (nach Beckermann, 2004). Dies besagt, dass die Sprache der physikalischen Prozesse und die Sprache des Mentalen nicht aufeinander reduzierbar sind (Cavell, 1993/1998). In der Neurophysiologischen Forschung wird der Begriff der »Supervenienz« präferiert, um die Schnittstelle zwischen den neurophysiologischen Vorgängen und der Welt des Mentalen (Leib-Seele-Problem in älterer Lesart) zu markieren bzw. nach Stand der Kenntnisse vorläufig greifbar zu machen (Walter, 1997). In dieser vorsichtigen Formulierung deutet sich meine fragende Haltung allen Konzepten zum Thema des »Mentalen«, »Seelischen«, »Sozialen« und daraus wachsend des »Kulturellen« an. Gibt es kulturübergreifend Gemeinsames? Etwas, das wir als wesentlich für das »Humanum« ausmachen? 1 Hierzu die Ebenenwechsel in der Begrifflichkeit von mechanistischem und psychologischem Denken, z. B. in »Jenseits des Lustprinzips« (Freud, 1940/1999).
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Tomasello (2014, zit. nach Kirsch, 2019) findet als anthropologische Konstante die angeborene Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Kommunikation, die allerdings in tatsächlicher Ausübung entwickelt werden muss. Hier liegt die Verwandtschaft zu Adlers Ideen. Diese »Einübung« wiederum ist je unterschiedliche kulturelle Praxis und führt zu unterschiedlichen Bildern vom »rechten« Menschsein, was sowohl Ideen vom »Sein« als auch vom »Sollen« in sich birgt. Mit gutem Grund kann der kulturelle Gesichtspunkt sowohl von den Weiten menschlicher Kulturbildung in der Gegenwart als auch in historischer Perspektive bis auf die Ebene jeder Familie hinuntergeführt werden: Vermitteln sich doch in jeder Familie mehr oder weniger bewusste, abgestimmte oder widersprüchliche Konzepte von »Sein« und »Sollen«. Die hieraus entstehenden Konfliktebenen wurden in familientherapeutischen Beobachtungen und Konzepten ausgearbeitet (u. a. Böszörmény-Nagy, 1981; Welter-Enderlin, 1999; Simon, 1993). Wir haben es also in jeder menschlichen Begegnung sowohl mit dem grundlegenden Wesenszug von Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft als auch mit den bisherigen »Einübungen« in der individuellen Geschichte im kulturellen Kontext zu tun. Hier muss angemerkt werden, dass in der Notwendigkeit der »Einübung« – man könnte sagen der kulturellen Schulung – neben der Hoffnung auf gedeihliche Formen des Zusammenlebens ebenso die Möglichkeit der Entgleisung liegt. Die Freisetzung aggressiv-destruktiver Kräfte ist jederzeit möglich. Die Offenheit kultureller Lebensformen bedingt den Reichtum und die Achillesferse der menschlichen Art. Die Freiheit eröffnet auch die Möglichkeit des »Bösen«, wie Rüdiger Safranski (2011) schlüssig ausführt.
Bedeutung für alle Formen der Psychotherapie, speziell für die Psychoanalyse Als Therapeuten haben wir ein Anliegen, das auf Veränderung gerichtet ist, hin zum besseren Gelingen des Lebens – bei einzelnen Personen, in Gruppen oder Familiensystemen. Veränderung in der inneren Welt der einzelnen Person und in Beziehungen führt über den Zugang zu inneren Welten. Wie kann dieser Zugang gefunden werden? Therapie kann nicht auf Beobachtung und Belehrung beschränkt sein. Trieb und
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Wunschwelt (Es) müssen mit dem realen Sein und dem Sollen (Über-Ich) in ein von der Person als »gut« erlebtes Gleichgewicht gebracht werden, was wir auch als Ich-Bildung beschreiben. Therapeutische Anliegen haben daher immer etwas Zielgerichtetes. Wohin soll der innere Weg gehen, wovon weg soll er führen? Welche Rolle spielt jeweils die Realitätsebene, welche die symbolisch-mentale Verarbeitung von Gegebenem? Welche Rolle kommt dem kulturellen Umfeld zu? Wie kann der Zugang gefunden werden? Gewiss spielt in jeder Therapie Sprache eine zentrale Rolle, aber ebenso Körpersprache, mannigfache kreative Gestaltungen, die see lisches Erleben darstellen (siehe Abbildung 1). »Bildung« und »innere Bilder«, das sind beides Wörter, die sofort eine Fülle von Assoziationen, Gedanken und »Bildern« bei jedem, der sie vernimmt – je individuell geprägt – hervorrufen. Wir sind im Sprachraum, bei Max Ernst im »Bild«, das er ironisch »Beim ersten klaren Wort« nennt. Die Formensprache ist klar, der Inhalt rätselhaft. Diesen Titel für dieses Bild deute ich als Versuch, den Hiatus zwischen einem Ausruf – nichts anderes kann ein solcher Titel oder Name leisten – und der Bildphantasie zu überspringen. Damit werden wir eingespannt zwischen dem Bedürfnis nach präzisen Inhaltsbestimmungen und andrerseits Konnotationshöfen, die oft bildhaft sind und dem gefühlshaft-geistigen Pol zugehören, die Freud einst den »Primärprozess« nannte. Max Ernst lädt ein, sich Phantasien, weiträumigen inneren Welten zu öffnen. Im Gegenpol dazu fordert die Haltung rationaler Analyse dazu heraus, einzugrenzen, was die Begriffe des »Seelisch-Mentalen« und des »Kulturellen« bedeuten sollen. Wir stehen also im Spannungsfeld unserer primär- und sekundärprozesshaften Befähigungen. Dazu im Folgenden weitere Gedanken in der Tradition analytischen Denkens. Welche analytischen Grundannahmen leiten uns? Seelisches fußt im Soma, vegetative Erregungen sind sowohl Basis als auch Ausdruck von Seelischem, die meisten Lebensvorgänge sind unbewusst, zu großen Anteilen prinzipiell, zu anderen Anteilen bewusstseinsfähig: Sei es als prozedural erlebte Stimmung, sei es als sprachfähiges Gefühl – bis hin zu ausgestalteten Vorstellungen, Theorien und Bildern von sich, vom anderen und der Welt. Im Bereich des bewusstseinsfähigen Anteils der Person gründen sowohl analytische Entwicklungs- und Störungs-
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Abbildung 1: Max Ernst: »Beim ersten klaren Wort«/»Au premier mot limpide« (1923), Kunstsammlungen NRW
modelle als auch Ideen und schließlich technische Vorschläge zur Veränderung des seelischen Gefüges. Inzwischen ist der Bereich erweitert, weil gezeigt werden konnte (Roth, 2011; Kandel, 2012, dt. 2012), dass über Kommunikation auch Seinsbereiche, die im limbischen System
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wurzeln und damit selbst nicht bewusstseinsfähig sind, begrenzt beeinflusst werden können, z. B. bei Angsterkrankungen und psychosomatischen Leiden. Es wäre auch möglich, zu sagen: Das Mentale durchwaltet das Sein in seiner körperlichen Dimension (Cavell, 1993/1997). Anders als in der Theory of Mind meint der Begriff des Mentalen, der Mentalisierungsfähigkeit im Sinne Fonagys und Targets (2007), ausdrücklich das Gesamt gefühlshafter und kognitiver Vorgänge. Dies entspricht den Konzeptualisierungen Ciompis (1982/1998): Auch er betont den Entwicklungscharakter kognitiver und affektiver Schemata unter Rückgriff auf die Forschungen Piagets und Inhelders (1977) zur kognitiven Entwicklung und auf systemische Ansätze (Simon, 1993). Er beschreibt die Untrennbarkeit des kognitiven und affektiven Pols der Person in Auseinandersetzung mit der begegnenden Umwelt sowie dem inneren Zustrom von Reizen und mentalen Empfindungen. Wir pflegen diese Vorgänge »Erfahrung« zu nennen. »Erfahrung« fasst als Begriff in sich sowohl passives Hinnehmen als auch Aktion, gefühlshaftes Bewerten ebenso wie kognitives Einordnen. Piaget prägte dazu die wissenschaftlichen Begriffe von Assimilation und Akkomodation. Lust ist mit Abgestimmtheit, harmonischem Zusammenspiel der Erfahrungsaspekte gepaart, Unlust mit hoher Spannung zwischen den Anteilen und innerer Widersprüchlichkeit. Hier haben sich die Vorstellungen seit den Annahmen von Freud stark gewandelt: Nicht Spannungsreduktion/»Abfuhr« per se bedingt Lustempfinden, sondern gut austarierte, alle Einflüsse zu einem in sich stimmigen Ganzen ausgestaltete Spannungen heben das Lebensgefühl und vermögen Lust-Unlust-Antagonismen auf unteren Ebenen zu integrieren. Störungsquellen entspringen aus der individuellen Person oder der Umwelt oder dem Zusammenspiel von beidem und wirken sich je nach Entwicklungsstand der Person unterschiedlich destruktiv aus. Der »Affektlogik«, dem »Lebensstil«, der »Mentalisierungsfähigkeit« oder der »Struktur« seiner Person folgend, bewegt sich jeder Mensch in seinen Beziehungsnetzen. Er tendiert dazu, sich und die Welt demgemäß zu interpretieren. Wünschen, glauben, überzeugt sein, das findet hierin den »roten Faden«. Hier öffnet sich die Lehre von Übertragungen, Abwehr und Gefühlsordnungen in ihrer Vielfalt – immer gemäß der Notwendigkeit, das innere Gleichgewicht, um welchen Preis auch immer, zu erhalten. In allzu heftiger Widersprüchlichkeit sowie den Versuchen, dennoch zu einem Gleichgewicht zu kommen, ist die Quelle für Psychopathologie zu
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suchen, die ihrerseits Destruktivität unterschiedlichen Ausmaßes freisetzt. Wesentlich sind hier die Arbeiten Kleins (1972) und Bions (1965/2016), die wiederum – in völlig verschiedener Begrifflichkeit – die Überlegungen Jungs zum Phänomen des »Wandels« im seelischen Gefüge spiegeln. Wir wenden den Blick in unseren Tagen zusätzlich stärker auf die Bedeutung des kulturellen Kontextes, ganz einfach, weil es im Zuge der Globalisierung zu viel häufigeren Begegnungen mit zunächst fremden kulturellen Prägungen im Alltag kommt und im Falle einer Therapie diese Dimension stärker berücksichtigt werden muss. Wir ahnen alle, dass hier gewaltige Integrationsarbeit, im Unterschied zur Beliebigkeit, vor uns liegt.
Wie wächst »Therapie« aus solchen Grundannahmen? Therapie soll helfen, die inneren Abstimmungen günstiger zu gestalten. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, den personalen Kontakt zwischen Analytikerin und Analysand aufzubauen, weil nur auf dem Beziehungsweg verändert werden kann, was auf dem Beziehungsweg sich einmal herausgebildet hat, entsprechend dem menschlichen Entwicklungsschicksal. Mit dem Begriff der Therapie haben wir also den Sprung von der Ebene des Beobachtens, Konstruierens, Konzeptualisierens auf die Handlungsebene vollzogen. Worin fußt analytisches Handeln? Fundierte Vorstellungen über die menschliche Entwicklung, Ideen bzw. ein Vorstellungskanon, was ein Mensch sei und sein sollte – zwei Aspekte, die philosophisch nicht verwechselt werden dürfen (Schnädelbach, 2013) –, begründen analytisches Handeln. Jegliches Handeln muss zwingend die konzeptionelle Beobachtungsebene mit der evaluativen (»was wird als gut geschätzt/was als schlecht«) und der präskriptiven (»was darf/was soll sein, was nicht«) in Ausgleich bringen. Im analytischen Raum ist Handeln allgegenwärtig. Auch Schweigen bedeutet hier Handeln, ein intentionales Geschehen und damit bedeutsam. Auf Analytikerseite wird Schweigen bewusst eingesetzt, weil wir wissen, dass Schweigen Assoziationen, regressives Erleben fördert – ein Prozess, der tieferen Schichten der Persönlichkeit in der Beziehung zum Analytiker Raum zu geben vermag, was erwünscht ist, um Heilungskräfte freizusetzen, dies jedoch in Abhän-
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gigkeit von der Struktur der Persönlichkeit der Analysandin: Liegt eine primäre narzisstische Verarmung vor, ein »Noch-nicht« differenzierter Erlebnisfähigkeit, kann das Schweigen traumatisch wirken. Es kann eine Leere, die keine inneren Zuflüsse kennt, unrettbar auslösen. Schon beim Element des »Schweigens« als Handlungsprinzip taucht also die Vorstellung von »Dosierung« und situativer Angemessenheit auf. Auch hier kein Entweder-oder, sondern Abstimmung auf den jeweiligen Moment, der vom Analytiker affektiv-kognitiv möglichst zutreffend erfasst werden muss. Buchholz (1999) spricht von der Notwendigkeit, jede Therapie zu individualisieren. Die »inneren Bibliotheken« analytischer Konzepte und hoffentlich solide Selbstkenntnis helfen dem Therapeuten bei der Suche nach individuell angemessener Intervention. Differenzierte Weisen des Erlebens, bewusst und unbewusst, damit auch sprachlich fassbare Konfliktfähigkeit sind dem Menschen nicht per se gegeben. Sie werden entwickelt im Zuge der Beziehungsgeschichte des einzelnen Menschen in den ersten Lebensjahren. Wir haben es unausweichlich mit »Bildern«, mit »Bildung« und auch »begriff lichem Denken« zu tun. In jeder Begegnung im Behandlungszimmer ist sicher: Die Informationsflüsse sind immer reziprok, auch wenn die Aspekte von aktiv und passiv asymmetrisch verteilt sind. Bewusstes und Unbewusstes stehen sowohl intra- als auch interpersonell im Austausch miteinander.2 Jegliche Therapie strebt Veränderungen an, so die These, da das bisher Gelebte als schmerzlich, fremd, symptombehaftet oder ungenügend erlebt wird. So schon seit Menschengedenken – man denke etwa an den Schamanismus. Die Ideen zur »Behandlung« fußen auf den je gültigen Menschen- und Gesellschaftsbildern und sind entsprechenden Wandlungen unterworfen. Auch unsere Konzepte sollten in meinen Augen als Ausdruck einer solchen geschichtlichen Gesamtkonstellation gesehen werden und nicht als aller Weisheit oder aller Möglichkeiten letzter Schluss. Jedoch sind unsere Konzepte »gut« im Sinne von hilfreich, konstruktiv, heilsam für Personen, Familien und alle unsere gelebten Formen des Zusammenlebens. Als solche sind sie von uns hoch geschätzt, und sollten, so meine ich, verteidigt werden. 2 Hierzu auch die Studienergebnisse der Single Case Psychotherapy Research Group Frankfurt/SCPRGF (Brockmann et al., 2018a, 2018b).
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Es gibt Anzeichen, dass sich derzeit ein Paradigmenwechsel im Menschenbild vollzieht. Aus Verantwortung wahrnehmenden, erlebenden und auch leidenden Personen mit je individuellen Zügen und Begrenzungen, die sich aus ihrem »Lebensstil« und ihrer kulturellen Einbettung ergeben, werden Konsumenten, User, Funktionseinheiten, Knotenpunkte in Datenströmen, deren »Störungen« den Betrieb nicht lange aufhalten sollen und möglichst reibungslosem Funktionieren rasch und optimal mit geringen Kosten wieder zugeführt werden sollen. Das affektive Leben wird mehr und mehr auf das Verteilen von »Likes« eingeebnet. Dies führt zu einem »Wuchern des Gleichen« wie Han (2016) es nennt, wobei das »Gleiche« eine Gleichschaltung bedeutet, die das Verschiedenartige nicht zulässt unter dem Primat des Konsumbetriebs, der »eine Fülle ist, in der nur noch die Leere durchscheint« (Pariser, 2012, S. 22). Aus analytischer Denktradition und Erfahrung können wir dazu Stellung beziehen aus guten Gründen. Wir sind hier sowohl auf der phänomenologischen als auch auf der evaluativen und präskriptiven Ebene gefordert: Unser psychologisch-physiologisches Wissen, unsere historische Perspektive begründen unser Menschenbild. Es geht um das Bild des »Personseins«. Dies heißt: Das Interesse an mir und anderen, Beziehungsaufnahme und ihre Gestaltung sowie Zuschreibung von Verantwortung sind konstitutive Elemente des menschlichen Lebens. Die Bescheidenheit, nicht das »Ganze des Lebens« zu kennen, bildet den Hintergrund. Wo der Mensch sich auf ein Bündel von je aktuellen Bedürfnissen – im Pingpongspiel mit Bedürfnisbefriedigern und »Influenzern« reduziert – wahrnimmt, geht das Bild der »Person« verloren. Dies führt zum Ansteigen frei flottierender, willkürlicher, keinem »Verstehen« mehr zugänglicher Aggression, wie es die »Shitstorms« und zusammenhanglose reale Gewaltausbrüche täglich vor Augen führen. Nur im Gefüge einer »Person« können Scham- und Schulderleben in differenzierter Weise als Wächter der Grenze zwischen mir, dem Gegenüber und der begegnenden Umwelt (Wurmser, 1987/1993) regulierend wirken. Im Meer sind es die Plastikmüllströme, die Spiegel unserer ufer losen Lebensweisen sind, im Internet sind es die Affektmüllströme, die jeglicher Rationalität und Einfühlbarkeit enthoben sind und längst auch ins reale Leben schwappen. Die globale Vernetzung spiegelt inhaltliche Bedeutungen vor, die sich jedoch leicht als dünne Mäntelchen vagabundierender Aggression entlarven lassen. Emotionalisierung nicht mehr
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überprüfbarer rationaler Inhalte führen zu Polarisierungen in innerer Orientierungslosigkeit, die ihrerseits aggressive Ausbrüche bedingt. In analytischer Lesart entspricht dies einer ungeheuren kollektiven Regression. Was dies für Wissensbestände bedeutet, ist nicht vorhersehbar. Auch die Fülle entwicklungspsychologischer Befunde und Konzepte, des Wissensbestandes insgesamt, auf denen das analytisch psychologische und neurophysiologische Menschenbild beruht, ist nicht davor geschützt, »vergessen« zu werden. Da aller Schmerz letztlich vom Leben kommt (Segal, 1993; Tenbrink, 2019a, 2019b), die technischen Möglichkeiten dies leugnen und vorgeben, Schmerzfreiheit und unbegrenzte Macht liefern zu können, müssen wir schließen, dass Leben als solches in Gefahr ist. »Alles Erworbene bedroht die Maschine, solange sie sich erdreistet, im Geist, statt im Gehorchen, zu sein«, so Rilke in den Sonetten an Orpheus (1923/1966, S. 513) vor knapp hundert Jahren. Was also meinen wir, wenn wir heute unentwegt von »Bildung« sprechen? Anhäufung von Kenntnissen in einzelnen Köpfen ohne Einbindung in erlebende, Ambivalenzen austarierende, Verantwortung für eigenes Handeln, eigene Entscheidungen tragende Personen? Verantwortung hier auch in Bezug auf aufrichtiges Bemühen um Wissensbestände, auch im Sinne der Überprüfung, Weiterentwickung und Auseinandersetzung. Das Wort »aufrichtig« verliert sofort seinen Sinn, wenn der Referenzpunkt eines Menschen als »Person« fehlt. Verantwortungsübernahme setzt Bezogenheit voraus. Wo solche Einbindung fehlt, werden Kenntnisse leicht zur tödlichen Waffe. Menschen mit intellektueller Abwehr von Identitätsdiffusion sind uns als Analytiker wohlbekannt. Wie, wenn das Ideal des eloquent-kenntnisreichen, durch nichts zu begrenzenden, für nichts und niemand verantwortlichen Typus Mensch Eingang findet in kollektiv geteilte Menschenbilder und damit in das kollektiv präferierte Ich-Ideal?
Noch einmal eine kurze Besinnung auf Grundannahmen des »analytischen Standpunkts« Gemeinsam ist das Bemühen, bewusste und unbewusste Lebensphänomene, letztlich Antrieb und Gestaltung der Lebensformen der Person begrifflich fassbar zu machen und dem »Verstehen« näher zu bringen. Die »Psyche« wird sowohl von Freud als auch Adler und Jung, wie dif-
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ferenziert auch immer, unter wie unterschiedlicher sprachlicher Gestalt auch immer, als ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile aufgefasst. Wir sprechen von »Personen« und personaler Bezogenheit. Wir wissen: Entwicklung ohne Bezogenheit ist nicht möglich – von der leiblich-gefühlshaften Versorgung des Säuglings angefangen über die Konstituierung vegetativ-humoraler Stabilität durch eben solche Versorgung hin zu affektiv-kognitivem Erleben vom selbst und den anderen eröffnet sich schließlich die Welt der Sprache. Sie führt in die Welt des Sozialen im engeren Sinn – damit in das, was wir Kultur nennen. Als Grundmelodie durchzieht das Paradigma »Entwicklung ohne Bezogenheit ist nicht möglich« jede Therapie. Wir schauen jetzt in ein Behandlungszimmer: Zwei Personen sitzen einander gegenüber, ein Anliegen hat sie zusammengeführt.3 Eine Person gibt Leiden und Änderungswünsche zu erkennen, die andere Person definiert sich als geeignet und kenntnisreich, um auf das Leiden und die Änderungswünsche im Sinne von »Heilung« einzugehen. Beide Personen führen das gesamte Arsenal ihrer affektiven Modi, ihrer wie immer gearteten Erfahrungswelt, ihrer Vorstellungen und Wünsche mit sich – teils bewusst, explizit, teils/größtenteils, unbewusst, implizit. Wie kann eine Begegnung stattfinden? Wie Bezogenheit sich ereignen? Ohne diese kann eine in die Erlebensstrukturen eingreifende Wechselwirkung der Personen nicht zustande kommen. Das Hier und Jetzt der Persönlichkeitsstrukturen ist – im Einklang mit den Konzepten Freuds, Adlers und Jungs – als das Ergebnis, als die gewissermaßen »gefrorene« Dynamik der frühen Entwicklung zu sehen, mit all ihren umweltlichen und inneren Bedingungen. Wie Eingang finden in diese inneren Welten? Hier ist zunächst eine Asymmetrie wichtig: Ungeachtet der mitmenschlichen Begegnung auf Augenhöhe liegt dem Aufeinandertreffen im Behandlungszimmer eine Rollenverteilung zu Grunde, die nicht naturgegeben, sondern kulturell gewollt ist. Der Leidende hat Raum und Zeit auf seiner Seite, sich und seine innere Welt sprachlich und gestisch-mimisch zu äußern, der Therapeut unterliegt einer Enthaltsamkeitsregel in Bezug auf Selbstöffnungen expliziter Art, ohne seine spontane Gefühlshaftigkeit übermäßig zu kontrollieren. Gesicht und Körper als Ausdrucksorgane sind im Raum, 3 Dies ist eine Vereinfachung, die Gruppensettings hier unberücksichtigt lassen muss.
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je nach Setting, etwa auf der Couch, mehr oder weniger weiter reduziert. Der Therapeut ist gehalten, seine innere Welt, fokussiert auf die Mitteilungen des Patienten, in seinem inneren Raum spielen zu lassen. Diese künstliche, gewollte Anordnung ermöglicht die Eröffnung dessen, was wir den »analytischen Raum« nennen – ein »Dazwischen« (Ogden, 2001, dt. 2004). Der »Rahmen«, die Vereinbarungen über Frequenz, Zahlungsmodus, Ausfallregelungen legt die Verantwortung und die Grenzen für beide Seiten fest, so Weiß (2019, S. 296). Nur so wird die Bearbeitung jener Gefühle und Phantasien in der therapeutischen Beziehung möglich, die andernfalls in Verstrickungsmuster führen würden.
Das Finden eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus Zunächst Abbildung 2 und 3 aus verschiedenen Epochen und Kulturen, die zwei basale, unterschiedliche Formen geteilter Aufmerksamkeit darstellen. Es geht um dyadische intensive Bezogenheit; im Unterschied dazu (Abbildung 4) der gemeinsame Blick auf ein »Außen«. Das Marienbild und die Kampfdarstellung zeigen die im gegenseitigen Kontakt gebundene geteilte Aufmerksamkeit, sei sie liebevoll oder feindlich, die Darstellung Botticellis von Dante und Vergil das Miteinander in der gespannten Sicht auf etwas tief bewegendes Drittes, das beide angeht. Es sind Formen der Bezugnahme, die konstitutionell für menschliche Begegnungen sind, kulturübergreifend. Im Kontext einer analytischen Psychotherapie lässt sich der erste Typ, die dyadische Bezogenheit des Aufmerksamkeitsfokus, mit dem Konzept der Übertragungen in Verbindung bringen, der zweite Typ, der gemeinsame Blick auf ein »Außen«, mit dem Konzept der Triangulierung. Beide Typen des geteilten Aufmerksamkeitsfokus binden affektive und kognitive Kräfte. Beide eröffnen als ursprüngliche Weisen des Bezogenseins Zugang zur inneren Welt des Selbst und des Anderen und bedeuten daher in jeder Psychotherapie, speziell in der analytischen Form den Einstieg in den Aspekt der Beziehungsarbeit, die neben kognitiv-inhaltlichen Klärungen und Sondierungen das Fundament der Behandlungsform sind.
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Abbildung 2: Hans Holbein der Ältere: Marienbild (1499), Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
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Abbildung 3: Japanische Kampfdarstellung (Heian-Zeit: 794–1185/ 1192)4
4 Für den hier als Bildzitat verwendeten Bildausschnitt konnten die Inhaber der Abdruckrechte aktuell nicht ermittelt werden.
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Abbildung 4: Sandro Botticelli: Der VIII. Kreis der Hölle (ca. 1481/1482), Kupferstichkabinett Berlin
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Zurück im Behandlungszimmer Die beiden Personen im Behandlungszimmer sprechen miteinander – in der ersten Begegnung soll das Anliegen des Patienten, seine Situation, sollen seine Krankheitszeichen beschrieben werden. Im szenischen Geschehen fließen gleichzeitig Informationen über die außersprachlichen Kanäle – dies gegenseitig. Der Therapeut setzt seine Kenntnisse ein, blättert sozusagen in seiner inneren Bibliothek, um den reziproken Strom der Informationen zu gliedern, Orientierung zu gewinnen, eine personbezogene Kontaktaufnahme vorzubereiten. Er sucht nach einem der Situation angemessenen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus. Hierzu ein erstes klinisches Beispiel: Eine sehr junge Frau kommt in die Behandlung nach längerem Klinikaufenthalt wegen einer Essstörung. Sie ist gedanklich fixiert auf Kalorienberechnungen und den Kalorienverbrauch bei den sportlichen Trainingseinheiten, die sie absolviert. Sie führt minutiös Listen über kleinste Gewichtsschwankungen, Abweichungen vom Diätplan, wirkt dabei angespannt – in mir bildet sich die Idee, sie müsse wohl tiefe Angst haben, dieses Zwangsraster zu verlassen. Angst wovor? Sie teilt mit, dass sie das strenge Regime brauche, um nicht wahllos in sich hineinzuschlingen, vor allem Süßes. Also Angst vor oralen Impulsdurchbrüchen. Sie bewundere Frauen, die durch Bodybuilding klar ausgeformte, männlich anmutende Muskelkonturen hätten. Sie selbst kommt wohlgestaltet, sportlich trainiert, aber mit deutlich weiblich-weichen Zügen der körperlichen Gestalt und des runden, hübschen Gesichts daher. Sie zeigt sich puppenhaft geschminkt, der Ausdruck ist maskenhaft starr. Exploration über Erfahrungen in der Klinik, die Gründe der Einweisung, bringen einige Bezeichnungen, die sie von Ärzten hörte, etwa »Depression« oder »Essstörung«, von ihrer Seite ins Spiel, ohne das geringste Zeichen eines persönlichen Erlebens. In der Klinik sei es »langweilig« gewesen, andrerseits habe die Tagesstruktur ihr ihre Kontrollen erleichtert. Die junge Frau war vor der Klinikeinweisung nach kürzlich beendeter technischer Ausbildung halbtags in ihrem Ausbildungsbetrieb tätig, bis sie das Gefühl hatte, nicht mehr den Alltag bewältigen zu können, und sich immer mehr zurückzog, kaum noch ihr Zimmer verließ. Engste Verbundenheit mit der geschiedenen Mutter. Eine »Beziehung«, die als »frustrierend« beschrieben wird, taucht auf in der Erzählung. Auch der junge Mann ist intensiv mit Körperskulpturierung befasst. Gegenseitige Kontrollen und daraus entstehender Streit führen eine Art affektiver Reibung herbei, Gefühlshaftes fehlt sonst völlig. Engste Verbindung der Mütter des jungen Paares. Zu den jeweiligen Stiefvätern kein Kontakt, es werden einige subtil sadistisch anmutende Episoden aus Kindertagen ohne affektive Beteiligung, rein faktisch von der jungen Frau berichtet. Aus dem wenigen Material bilden sich bereits hypothetische Vorstellungen zu Entwicklung, Befund und Psychodynamik der Essstörung bei mir heraus. Jeder mag das für sich nach Maßgabe seiner inneren Bibliotheken vollziehen.
Gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus51 Zu was aber führen solche theoriegeleiteten Hypothesen in der Begegnung? Wie kann Begegnung überhaupt eingeleitet werden? Wie kann hier, bei dieser jungen Frau der Einlass in die affektiv verschlossene »Trutzburg« gefunden werden? Im Durchgehen der zwei Gespräche, die stattgefunden hatten, mit ihren monotonen faktischen Rechenberichten, versuchte ich einen Moment affektiver Bedeutsamkeit auszumachen, in der Hoffnung auf einen Zugang zu ihrem Erleben. Die Patientin hatte erzählt, dass sie ihren Hund bei einem Umzug hatte abgeben müssen – ein Hauch von Gefühlsbewegung: Bedauern, Schmerz? – waren spürbar gewesen. Auf diese Situation lenkte ich nun erneut ihre Aufmerksamkeit mit dem Hinweis auf meine Wahrnehmung ihrer vermuteten Gefühlsregung: Ein Lächeln taucht auf dem Gesicht auf, ein längerer Blickkontakt, die Maske schmilzt kurz. Ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus bildet sich: Affektwahrnehmung und Spiegelung, theoretisch ausgedrückt, das scheint ein Kreuzungspunkt werden zu können in der therapeutischen Situation, so denke ich. Das Gitterwerk aus Zählen und Rechnen, das als Abwehr angstbesetzter affektiver Beunruhigung, neben der Angst vor triebhaften Impulsdurchbrüchen von mir interpretiert wird, hat ein kleines Fenster bekommen. Ein erster gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus mag gleichsam als Intitialzündung der Beziehung gedeutet werden. Ganz allgemein in jeder Beziehung – im therapeutischen Kontext als Mutterboden für mögliche Übertragungen und Entfaltung symbolischer Fähigkeiten, die die Triangulierung der inneren Welt fördern im Prozess der Durcharbeitung. Es sei hier an den Begriff des »Epistemischen Vertrauens« aus dem Mentalisierungskonzept (Brockmann, Kirsch u. Taubner, 2016) erinnert. Er beschreibt die Öffnung der Inneren Welt für bedeutsame Mitteilungen des Gegenübers. »Wissen« wird transportiert auf den Gleisen des Epistemischen Vertrauens, einem Moment sicherer Bindung, das sich bilden, erhalten werden oder auch verloren gehen kann (Plassmann, 2017). Hier ist auch die Wurzel von »Bildung« zu suchen, im Gegensatz zu bloßer Anhäufung technischer Kenntnisse (Roth, 2011). Im Falle der jungen Frau blieb es inhaltlich in den folgenden Stunden (der Rahmen ist zunächst eine Akutbehandlung) überwiegend bei Mitteilungen über ihre Kontrollen, gelegentlich aber konnte die Angst, dem »Schlingen« anheimzufallen, dadurch unförmig und abstoßend zu werden, sprachlich gefasst werden. Eine Verbindung zu einer Erinnerung an den Stiefvater, der sie als kleines Mädchen wegschickte hin zur getrennt lebenden Mutter, weil er sich vor dem rundlichen Kind ekelte: Die Kleine litt an Ausschlag. Die Mutter, verwöhnend, »fütternd« in jeder Hinsicht, wohl in der Hoffnung, die Schroffheiten und Gemeinheiten des getrennten Stiefvaters kompensieren zu können, fesselte das Mädchen in konkretistischen Vorstellungen von weggestoßen oder vollgefüllt zu werden. Gefangen, passiv, ohne Vertrauen in eigene Wirkmächtigkeit wurde das affektive Leben auf Gier und übellaunige Gereiztheit, kontrolliert durch rechnen und zählen, eingeebnet. Der Verlust des geliebten Hundes, der damit verbundene Schmerz, die geteilte Aufmerksamkeit auf dieses persönlich authentische Gefühl lösten nun beginnende affektive Differenzierung aus: Der Freund, gemeinsam mit ihr in der überhitzen Mütterfürsorge gefangen, wurde plötzlich nicht mehr schlicht
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als »doof« bezeichnet, sondern es stellte sich heraus, dass es sie ärgerte und kränkte, wenn er nicht genau ihren Kontrollschemata folgte. Indem sie es sprachlich fasste, wurde ihr bewusst, dass dies etwas merkwürdig sei. Sie wurde wie gestreift von der Vorstellung ihres Eigensinns und Dominanzverlangens. Ein mentalisierender Moment ereignete sich. In der begonnenen Akutbehandlung stellte sich nun die Indikationsfrage für das weitere Vorgehen. Wir sprachen über mögliche Wege, als sie eines Tages in die Stunde kam und mir mitteilte, dass sie das Angebot eines befristeten Jobs im Ausland bekommen und sich beworben hätte, von ihrem Freund wolle sie sich trennen. Den Proteststurm der Mütter und des Freundes überstand sie, ließ sich auf den Job ein. In unseren verbleibenden Stunden der Akutbehandlung ging es nun eher um Techniken und Bewältigungsmöglichkeiten, wenn sie Fressanfälle bekäme, sie erinnerte jetzt einige Anregungen und Übungen aus der Klinik. Die Unwert- und Verzagtheitsgefühle, die sie schon hatte benennen können, konnte sie mit Kränkungen in Verbindung bringen. Welche Bewältigungsmöglichkeiten könnten ihr sozusagen »in der weiten Welt« zu Verfügung stehen? Sie kam selber u. a. auf die Idee, ihr schon früher geführtes Tagebuch wiederzubeleben, alles hineinzuschreiben, was ihr in den Kopf komme. Auch Gefühle! Sie bringe es dann mit, wenn sie wieder da sei, sagte sie. Diese Phantasie verstand ich als Zeichen für eine Spur von Epistemischem Vertrauen, was wiederum Erhalt der Beziehung auch bei Unterbrechung realer Gegenwart möglich machen kann. Diagnostisch konnte ich meine primär gewonnene Annahme von ausgeprägterer struktureller Störung etwas korrigieren, ließen sich doch Differenzierungen in der Selbstwahrnehmung schnell anregen – durchaus überraschend für mich. So bewährte sich der Versuch, die affektive Abwehr in dem gespiegelten Verlustschmerz zu berühren. Dies setzte innere Ressourcen frei. Der geteilte Aufmerksamkeitsfokus ermöglichte mentalisierende Selbstwahrnehmungen bei der Patientin als Initialzündung für innere Bewegung. Die Reaktion hätte auch ganz anders ausfallen können: So generiert jeder Versuch auf ein Begegnungs moment hin neue Informationen über die innere Welt des Patienten und fordert Anpassungen beim Therapeuten. Der Sprung der jungen Frau auf die Handlungsebene, der durchaus auch Fluchtcharakter hatte, katapultierte sie in neue Realität, in der sie, wenn ihre innere Bewegung genug zugkräftig wäre, »Erfahrungen« machen könnte, die mehr Abgrenzung und damit einhergehend auch mehr Eigenverantwortungsgefühl, Chancen für weitere Selbstdifferenzierung bedeuten würden. Einige Termine würden nach ihrer Rückkunft zu Verfügung stehen und alles Weitere könnte besprochen werden, so verabschiedeten wir uns. Ob sie scheitern würde bei ihrem Abenteuer oder Halt gebende Erfahrungen sich ereignen könnten, blieb als bange Frage offen.
Eine gänzlich andere Art, einen geteilten Aufmerksamkeitsfokus zu finden, wird im zweiten klinischen Beispiel dargestellt. Es ist mir ein Anliegen, das Finden des geteilten Aufmerksamkeitsfokus im Sinne eines hypothesengeleiteten und intuitiven Prozesses von Versuch und
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Irrtum darzustellen, mit spontanen »Treffern« oder auch tastendem Suchen. Zweites klinisches Beispiel: Das zweite klinische Beispiel wird aus der Außen-Perspektive beschrieben. Es ist die Perspektive des Hörens einer Audiodokumentation der einleitenden Stunden einer Therapie. Als Hörerin konzentriere ich mich besonders auf den Aspekt der Suchbewegung des therapeutischen Paares auf einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus hin. Der Therapeut ringt um Orientierung im Bemühen, Verständnis für das Anliegen des Patienten zu gewinnen. Für den Zuhörer klingt Angst aufseiten des Patienten an. Er reflektiert kurz, um rasch in weitschweifige Wiederholungen abzugleiten. Der Therapeut vermittelt ruhige Suchbewegung, einhergehend im Verlauf der Stunden immer wieder mit Zurückhaltung, die dem Zuhörer wie eine fragende Irritation erscheint. Die Dramatik der zwischenmenschlichen Situation, ein Auf und Ab zwischen Verständigungsmomenten und Vernebelung von Inhalt und sprachlicher Form als Ausdruck von Angst aufseiten des Patienten teilt sich dem Zuhörer mit. In dieser Eingangsepisode einer analytischen Therapie zeigt sich als Fokus in meiner Interpretation das Entstehen von Bezogenheit als solcher – jedoch nicht in triangulierter Weise als wie auch immer zu fassendes Thema mit gefühlshaften Bedeutungen, sondern als dyadisch –, dramatisches Geschehen an und für sich, in sehr ursprünglicher Form. Jede Art von Reflexion bedeutet dann ein Trennungsmoment und löst Existenzangst beim Patienten aus. Der Prozess der erträglichen Dosierung von symbiotischem Beisammensein und Triangulierungsmomenten wird der Fokus der geteilten Aufmerksamkeit bei diesem therapeutischen Paar. Dieser Aufmerksamkeitsfokus bildet den impliziten roten Faden, nur bedingt, begrenzt wird die Reflexionsebene im Sinn expliziter Triangulierung fruchtbar. Die Wirkfaktoren dieses therapeutischen Prozesses sind Gegenstand der SCPRGF-Studie (Brockmann et al., 2018a, 2018b). Die gesamte Therapie über bleibt die Ausbalancierung des Beziehungsprozesses selbst das Agens, das dem Patienten auf der Handlungsebene in seinem Lebensvollzug günstigere Entscheidungen erlaubt. Auch die Zweijahreskatamnese zeigt einen deutlich ausgeglicheneren Mann, der sich auf seinem Lebensschiff besser zu Hause fühlt und sich mehr Steuerungsmöglichkeiten zutraut.
Im Sinne der Individualisierung von Therapie scheinen mir die beiden skizzierten, sehr verschiedenen Typen der Bildung eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus bedeutsam. Plassmann betont die grundlegende Bedeutung des Beziehungsprozesses neben den inhaltlichen Klärungen, Konfrontationen und der Zusammenhangssuche: Die Transformation, die Verarbeitung von Emotionen ist ein normaler Vorgang, der ständig stattfindet, von der Geburt bis zum Tod (Plassmann, 2017). Wo diese Transformationen blockiert sind, beginnt das Feld der Therapie. Der »Kernprozess« jeglicher The-
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rapie, so Plassmann, »findet statt in der Regulation von Emotionsintensität und -qualität, Mentalisierung und Regulation der Kommunikation, also Aufmerksamkeit und Sprechaktivität (S. 20). Der gemeinsame Aufmerksamkeitsfokus kann hier von Moment zu Moment als eine Art Anzeigeinstrument für die mehr oder weniger gelingende Bezogenheit gesehen werden. Dies sehe ich als basales Element von »Bildung«, aufbauend auf dem Bild des Menschen als Person: Auf der Grundlage von Epistemischem Vertrauen – und nur dort – können sich, je nach Begabung und Neigung, der Antrieb zum Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten, zu intellektueller Entfaltung in personalem Gefüge entwickeln. Dies ist der Wurzelgrund unserer mitmenschlichen Möglichkeiten im kon struktiven Miteinander. Es bleibt dabei: Wir kennen das Ganze des Lebens nicht, können aber als Menschen im Grenzland unserer Fähigkeiten gute Lebens formen finden. Leugnen wir die Begrenztheit, unsere Eingebundenheit in personale Beziehungen, lassen wir Omnipotenzphantasien freien Lauf, drohen chaotisch-destruktive Kräfte entfesselt zu werden.
Zum Abschluss ein Bild sehr grundsätzlicher menschlicher Bezogenheit Abbildung 5 zeigt das Teilwerk »Pfeifer und Trommler« von Albrecht Dürer. Die beiden spätmittelalterlichen Musiker, freie – sie sind weder Fürsten, noch der Kirche untertan –, aber auch wenig geschützte Männer, kommen zu Hiob auf den Misthaufen (der auf der linken Seite des Triptychons dargestellt ist) und bieten ihm Trost mit ihrer Musik im Elend seiner Katastrophe: Schon aller materiellen Güter beraubt, drohen ihm nun der Verlust des Vertrauens in Gott, die Seinsverlassenheit. Sie sind bei ihm und musizieren.
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Abbildung 5: Albrecht Dürer: Pfeifer und Trommler (ca. 1503/1504, rechte Tafel eines Triptychons), Wallraf-Richartz-Museum Köln
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Korinna Bächer
Spiel-Räume für Familien: Selbstwirksam gegen Entmutigung
Zusammenfassung Der »Spiel-Raum« ist ein heilpädagogisch-sozialtherapeutisches Gruppenangebot für Eltern und Kleinstkinder, das auf einem interaktionell-psychoanalytischen Ansatz in der Arbeit mit Familien beruht. Es wurde im Kinderschutz-Zentrum Köln entwickelt und hat zum Ziel, sowohl elterliche Selbstwirksamkeit zu fördern als auch den Entwicklungsspielraum für die Kinder zu erweitern.
Wie früh beginnt Bildung? Vorab ein Blick auf das Spielen und Lernen im 21. Jahrhundert, auf Störungen, die früh kommen, und auf die Schwierigkeiten von Helfern mit Familien und von Familien mit Helfern. Ein Neugeborenes lernt vom ersten Moment seines Lebens an. Es ist darauf aus, die Welt, die es umgibt, mit allen Sinnen zu erfassen. Sehr früh wird der Wachstumstrieb, der jedem Lebewesen innewohnt, von zwei überlebenswichtigen Motiven geleitet: sich anzupassen an die Umgebung, also dazuzugehören, und zugleich als einzigartiges, unteilbares Individuum auf sie einzuwirken und sie mitzugestalten. Mit seinem ganzen Organismus, in dem Körper, Geist und Seele noch engstens verbunden sind, orientiert es sich im Hier und Jetzt, sucht nach Zusammenhängen und Unterschieden, sortiert Eindrücke und bildet Strukturen aus. Einen Geruch ordnet es einer Stimme zu; Erfahrungen, die ihm wohltun, verknüpft es mit positiven Emotionen und speichert sie als solche; negative Gefühle entstehen im Zusammenhang mit Hunger oder Schmerzen oder auch mit fehlender Resonanz und der Angst vor dem Nichts. Und wenn gar keine Zusammenhänge herstellbar sind, wenn sich alles widerspricht, nichts zueinander passt
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und also keine Bewältigungsstrategie ausgebildet werden kann, dann ist das Kind verstört oder stellt das Explorieren ein. Wie kommt es nun, dass nicht alle Kinder sich die Welt gleichermaßen forsch und lustvoll aneignen? Kinder aus verschiedenen Milieus weisen ja nicht erst zum Schulbeginn erhebliche Unterschiede im Entwicklungsstand auf, sondern bereits als Zwei- oder Dreijährige beim Eintritt in den Kindergarten, also am Ende einer Altersspanne, die ganz wesentlich vom selbstverständlichen, affektiv gefärbten Erfahrungs zuwachs bestimmt ist. Diese Unterschiede finden sich nicht zwingend, festzuhalten ist jedoch, dass die soziale Herkunft bei der Bildungsbiografie von Kindern in Deutschland heute eine größere Rolle spielt als in fast allen vergleichbaren Ländern (PISA-Studien 2009 bis 2018; hier zit. nach Süddeutsche Zeitung vom 3.12.2019, www.sueddeutsche.de/bildung/ pisa-studie-2018-ergebnisse-1.4707335). In einer Zeit, in der frühkindliche Bildungsangebote jeder Couleur Hochkonjunktur haben, sind Erklärungen schnell zur Hand: In »solchen« Familien – manche bezeichnen sie als bildungsfern, als Multiproblemfamilien oder gar mit dem unsäglichen Begriff »sozial schwach« – wird ja nichts für die Kinder getan. Die Eltern sprechen nicht mit ihnen, parken sie vorm Fernseher oder der Playstation, anstatt ihnen vorzulesen und geben das Kindergeld für Zigaretten und Alkohol aus anstatt fürs Kinderturnen und die musikalische Früherziehung. Beispiele folgen meist unverzüglich. Schon ist die Schuldfrage geklärt. So lässt sich Komplexität reduzieren. Ist denn ein strukturiertes frühes Bildungsangebot überhaupt nötig und sinnvoll, damit aus neugierigen Babys zufriedene, lebendige und eventuell auch kluge Kinder werden? Darüber kann man sicher streiten. Die Tendenz geht heute freilich dahin, die Begleitung selbst einfachster Lernschritte an Experten abzugeben. Hier hat sich ein riesiger Markt entwickelt, dem es inhärent ist, Eltern zu verunsichern und ihnen Schuldgefühle zu machen, wenn sie nicht das Beste für ihr Kind tun. »Erleben Sie mit, wie ihr Sprössling unter fachkundiger Anleitung erste Bewegungsversuche unternimmt«: So bewirbt ein Fitnessstudio für Kinder seinen Juniorkurs für Babys ab vier Monaten.
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In Sicherheit wiegen? Entwicklung passiert zum Glück ständig, nicht nur zu Kurszeiten. Allerdings bietet das heutige Familienalltagsleben kleinen Kindern nur wenige Möglichkeiten zu bedeutsamen Handlungen und zu Selbstwirksamkeitserfahrungen. Tiefkühlkost und Mikrowelle statt Gemüse schnippeln; Trockner statt Wäscheklammern – für ein kleines Kind, das im Rahmen seiner motorischen und kognitiven Möglichkeiten mithelfen will, gibt es kaum noch was zu tun. Toben in engen Mietwohnungen ruft die Nachbarn auf den Plan; Schrammen und blaue Flecken machen Angst, denn sie könnten leicht als möglicher Hinweis auf Misshandlung gewertet werden. Natürlich muss man auf Kinder gut aufpassen, keine Frage! Was dabei auf der Strecke bleiben kann, sind basale Erfahrungen von Körperwahrnehmung und Eigenmächtigkeit. Beispielhaft hierfür steht etwa die Produktion immer komfortablerer Kinderwagen, die »mit dem Kind wachsen« (als ob das Kind nicht besser dem Kinderwagen »ent-wachsen« sollte): Gesichert mit einem Fünf-Punkt-Gurt kann ein Kind in einem solchen Gefährt sehr bequem auch noch mit drei, vier Jahren ohne Eigenbewegung durch die Gegend transportiert werden; jeder Fluchtversuch ist zwecklos. Das aktuelle Bild vom »guten Kind« ist ein ziemlich statisches: In mancher Hinsicht ähnelt es einer wertvollen chinesischen Vase, die keine Macke kriegen und vor allem nicht kaputt gehen darf. Ansonsten hält sie still, nur hin und wieder muss man sie abstauben. Die nicht regulierte Freizeit, die Kinder unbetreut bzw. unbewacht im öffentlichen Raum verbringen, ist im 21. Jahrhundert auf ein Minimum geschrumpft – genau wie der Raum selbst, der dafür geeignet wäre. Hinterhöfe, Gassen, Brachgelände: Das waren früher Orte der Begegnung und der geteilten Erfahrungen. Heute: zu gefährlich, zu schmutzig … und pädagogisch scheinbar auch noch völlig wertlos! Die Spielorte der Nachkriegszeit, Trümmergrundstücke und Bombenkrater, waren wirklich gefährlich, schmutzig und aus der Not geboren. Aber hier passierte Begegnung. Die Spielplätze des 21. Jahrhunderts sind Kompromisse zwischen Unfallverhütungsvorschriften und Ansprüchen an modernes Design – die Wünsche von Kindern berücksichtigen sie selten. Auch nicht den Wunsch nach unbeobachtetem Austausch mit Gleichaltrigen: die Zahl
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der erwachsenen Begleitpersonen auf Spielplätzen übersteigt heute oft die der Kinder. Eine Kehrseite der zahlreichen Bildungsangebote, die heute bereits für Kinder im Vorschulalter existieren: Sie schaffen kaum Begegnungen zwischen Kindern unterschiedlicher Milieus, und da die meisten Angebote Geld kosten, sortieren sie früh in Arm und Reich: Die einen besuchen Kurse, die anderen sitzen zuhause und sehen fern. Selbst die Kosten für die Übermittagsbetreuung in den Schulen, die von Kommune zu Kommune in unterschiedlicher Höhe von den Eltern eingefordert werden, können manche Familien nicht bezahlen. Mindestens genauso bedeutsam als Hindernis für die kindliche Bildungskarriere wie ein objektiver Mangel an finanziellen Mitteln ist meines Erachtens ein innerfamiliäres Gefühl von Ohnmacht, eine Atmosphäre der Mutlosigkeit, die manche Kinder sehr früh wittern. Wie ein kleines Kind sich die Welt aneignet, ob es damit Freude auslöst und Antworten im Sinne emotionaler Reaktionen erhält oder ob es unterbrochen, gestört, ignoriert und entmutigt wird, das hat erheb liche Auswirkungen auf seine spätere Lernfähigkeit und -motivation. In Familien, in denen Zuversicht und Zukunftsperspektiven fehlen und in denen die Grundgewissheit, Einfluss auf das eigene Schicksal nehmen zu können, früh abhandengekommen ist, begleitet Resignation auch die ersten Erfahrungen von Selbstwirksamkeit wie ein Schatten. »Wir sitzen hier, weil unsere Eltern arm sind. Reiche Kinder gehen aufs Gymnasium«, so die lakonische Äußerung eines elfjährigen Hauptschülers in einem Interview (Kölner Stadtanzeiger vom 26.10.2019). Entscheidend ist nicht, ob das stimmt. Sondern dass er davon überzeugt ist: Auf mich kommt es nicht an. Bildung ist ein Menschenrecht. Sollten wir da nicht alles in unserer Macht Stehende tun, damit alle Kinder sich gut entwickeln und lernen können?
Die Wurzeln früher Störungen In Psychiatrie und Psychotherapie begegnen uns häufig Patienten, die das Etikett einer sogenannten »frühen Störung« tragen oder eine solche vermuten lassen. Über die mögliche, aber schwierige Behandlung
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einer solchen schweren Persönlichkeitsstörung ist viel geforscht und geschrieben worden. Die Wurzeln sehen wir in den ersten Lebens- und Beziehungserfahrungen aus einer Zeit, in der ein Kind noch mental ungeschützt allem ausgeliefert ist, was es umgibt, in der es noch nicht vergleichen und relativieren, sich noch nicht distanzieren kann. Es nimmt »für wahr«, was ihm widerfährt. Sind die dialogischen Angebote der Lebensumwelt nicht hinreichend verfügbar und verlässlich und die damit verknüpften sinnlichen Erfahrungen häufig bis durchgängig verstörend, kann das Kind sie mit niemandem teilen und erhält es auf seine eigenen Lebensäußerungen keine Reaktion, wird also nicht ernst genommen, so kann eine tiefgreifende emotionale und kognitive Störung die Folge sein. Schon vor hundert Jahren entwickelten individualpsychologische Analytiker Ansätze einer psychoanalytischen Sozialarbeit mit schwer gestörten Patienten, mit Jugendlichen und Erwachsenen, die aus dem sozialen Rahmen gefallen waren. Paul Federn (1871 Wien – 1950 New York) beispielsweise »bemühte sich um eine Psychoanalyse, die das aufbaute, was Freud bei seinen Analysanden voraussetzen konnte« (zit. nach Becker, 2003, S. 8). Voraussetzung für die Arbeit mit ich-gestörten Menschen sei der Abschied von der Vorstellung, man könne und solle sie in jedem Fall heilen. »Helfen statt heilen«, so zitiert Stefan Becker auch den Sohn, Ernst Federn, im Titel einer Jubiläumsschrift (Becker, 1995). Helfen nicht im Sinne einer stützenden Sozialtherapie, die einen Menschen von der Verantwortung für sich selbst entlastet, sondern als ein Angebot von Beziehung, über die der bedürftig gewordene Mensch sich selbst näher kommen und eigene Kräfte mobilisieren kann. Eine solche Hilfe bedeutet: Ein Mensch in der Krise begegnet anderen Menschen, die diese Krise teilweise zu ihrer eigenen werden lassen. »Passagere Übernahme parentaler Funktionen«, heißt es bei den Familientherapeuten (Zenz, 2007, S. 142). Winnicott nennt »Holding and Containing« als therapeutische Maxime, mit anderen Worten: Annehmen und Aushalten ist wichtiger als Deuten und Verstehen auf der Basis von Abstinenz (Winnicott, 1979, S. 128–135). Und für den Psychoanalytiker Stefan Becker ist die wichtigste Voraussetzung für die Arbeit mit ich-strukturell gestörten Patienten »das Aushalten von sehr viel Nichtwissen« (Becker, 1995, S. 21).
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Kann man gewaltfrei erziehen lernen? Auch heute noch haben wir es in vielen Handlungsfeldern der Sozialarbeit mit kontakt- und beziehungsgestörten Menschen zu tun, die nie im Leben ein Stück gute innere Umwelt aufbauen konnten oder denen diese – wenn sie sie je besessen haben – verloren gegangen ist, die keinen sozialen Ort mehr besitzen, der sie trägt oder hält. Und auch früh gestörte Menschen bekommen Kinder. Oft stellt dies den Versuch einer Selbstheilung dar: Sie wollen sich einen ebensolchen Ort erschaffen. Wer diesen Versuch als verfehlt bezeichnen würde, gäbe Eltern und Kind von vornherein verloren. Solche Eltern brauchen wohl Unterstützung, um zu einer guten emotionalen und geistigen Gewissheit im Umgang mit ihrem Kind zu finden. Doch herkömmliche Konzepte der Familienbildung stoßen an ihre Grenzen, wenn Menschen tiefgreifende Schwierigkeiten im alltäglichen Umgang mit sich und anderen haben. Ihre intuitiven elterlichen Kompetenzen sind ja keine verlässliche Grundlage. Die Erziehung »aus dem Bauch heraus«, eigentlich kein schlechtes Konzept in einer Zeit der Verunsicherung und Rat geberinflation, empfiehlt sich nicht, wenn der »Bauch« nicht gesund ist. Wer nicht selbst auf gute Bindungserfahrungen aus den ersten Lebensjahren zurückgreifen kann – sei es, weil es diese nicht gab, sei es, weil sie durch spätere Erlebnisse verschüttet wurden –, der hat ein hohes Risiko, stattdessen negative Erfahrungen von Ablehnung, Mangel und Bedrohung weiterzugeben, selbst wenn der dringende Wunsch besteht, die Fehler der eigenen Eltern nicht zu wiederholen. Und so können aus geschlagenen oder vernachlässigten Kindern schlagende oder vernachlässigende Eltern werden. In Helferkreisen werden diese Familien oft als »Fass ohne Boden« wahrgenommen: Die soziale Notlage ist offensichtlich, die emotionalen Ressourcen sind gering, die Beunruhigung der Kinder hoch und ihre Perspektive ist niederschmetternd. Doch den Wunsch, es möge ihrem Kind gut gehen, können die Helfer mit den allermeisten jungen Eltern teilen. Wenn ich-gestörte Eltern kleiner Kinder um Hilfe nachsuchen, so stehen oft nicht eigene Versagensgefühle oder Ambivalenzen im Vordergrund. Eher ist das Kind die Eintrittspforte, das durch sein Verhalten auf seine Not aufmerksam macht. Die Eltern beschreiben und
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interpretieren z. B.: »Er schmeißt alles rum«, »Sie hört nicht auf mich«, »Er hat keinen Respekt und will mich ständig ärgern«; »Sie kann sich überhaupt nicht alleine beschäftigen« (die Rede ist von Ein- bis Dreijährigen). Häufig fallen die Kinder beim Kinderarzt durch deutliche Entwicklungsrückstände auf. Kann man einer frühen Störung vorbeugen? Kann man die frühe Entwicklung eines Kindes, das unter schwierigen Verhältnissen heranwächst, so begleiten, dass seine seelische, geistige und körperliche Gesundheit nicht gefährdet ist und dass sich die belastenden Lebenserfahrungen seiner Eltern nicht in ihm wiederholen? Beispielhaft steht hierfür die Frage einer Mutter, die ihre eigene Kindheit in keiner guten Erinnerung hat und es besser machen möchte: »Kann man gewaltfrei erziehen lernen?«
Spiel-Raum: Die therapeutische Wirksamkeit von Begegnungen Im Kinderschutz-Zentrum Köln suchten meine Kolleginnen und ich vor knapp zwanzig Jahren nach einer Antwort darauf. Wir wollten einen Ort schaffen, an dem belastete Eltern gemeinsam mit ihren Kindern willkommen sind und wo es möglich wird, mit ihnen in eine Verbindung zu treten und Kooperation herzustellen. Denn nur über Verbindung geschieht Veränderung und auch Erwachsene können besser dazulernen, sich selbst infrage stellen und ihr inneres Skript umschreiben, wenn sie sich wohl und sicher fühlen und nicht bedroht oder bedrängt. Wir mussten und müssen uns hierbei mit unseren eigenen Vorstellungen vom guten Aufwachsen auseinandersetzen: Was ist normal, und wodurch bestimmt sich unser eigenes Bild von Normalität? Wie sehen wir uns und wie sehen wir »die anderen«? Welcher diagnostischen Strukturen (oder Schubladen) bedienen wir uns? Wie viel von solchen Strukturen brauchen wir, um uns »sicher« zu fühlen, um nicht weggeschwemmt zu werden in der unendlichen Vielfalt der Lebensentwürfe von Familien, die uns begegnen und die – davon mussten wir ausgehen – nicht immer in allen Facetten dem entsprechen, was hierzulande unter Kindeswohl verstanden wird? Wie vermeiden wir, dass wir von der Resignation und Ohnmacht mancher Familien angesteckt
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werden, die auch uns geradezu anzuspringen scheinen? Wie verhindern wir, dass wir zur Abwehr von Fatalismus und Lethargie in einen wütenden Aktionismus verfallen, der schnelle Lösungen schaffen will?
Und so entstand das Konzept des »Spiel-Raums« Der »Spiel-Raum« ist ein Gruppenangebot für bis zu acht Familien mit Babys und Kleinkindern bis zu drei Jahren. 2003 begann die erste Gruppe in Köln-Kalk, 2008 kam ein weiterer Standort hinzu. Zum Team gehören jeweils eine Sozialpädagogin mit familientherapeutischer Zusatzausbildung, eine Ergotherapeutin/Motopädin und eine Ärztin/Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, zeitweilig ergänzt durch studentische Praktikantinnen. Eine enge Einbindung besteht an das multiprofessionelle Team des Kinderschutz-Zentrums mit seiner Familienberatungsstelle und seinen Angeboten Früher Hilfen, z. B. der Familienhebamme. Eine Besonderheit ist die hohe Frequenz und Verbindlichkeit der Gruppentreffen: An drei Vormittagen in der Woche kommen die Familien für je drei Stunden zusammen, und das über viele Monate, häufig bis zur Aufnahme des Kindes in die Kita. Eine gute Vernetzung in den jeweiligen Stadtteilen und die enge, auch fallbezogene Kooperation mit anderen Stellen (Psychiatrische Klinik; Zentrum für Frühbehandlung; Mutter-Kind-Wohnheim) sorgen für eine kontinuierliche Belegung. Nach einer rein spendenfinanzierten Modellphase gelang die Anerkennung als Maßnahme der Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII, deren Kosten nach Hilfeplanung vom Jugendamt übernommen werden.
Wer nimmt unser Angebot wahr? Die Hintergründe sind auf den ersten Blick recht unterschiedlich: – Frau A. hat mit fünfzehn ihr Elternhaus verlassen und sich in einen Teufelskreis aus Prostitution und Drogenabhängigkeit begeben. – Frau B. war zehn Jahre als Kindersoldatin in Ostafrika unterwegs. – Frau C. hat sich nach Jahren von ihrem gewalttätigen Ehemann getrennt, mit dem sie als Siebzehnjährige verheiratet worden war.
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– Frau D. wurde aus ihrer Familie verstoßen, als sie nach einer einmaligen Begegnung mit einem Mann schwanger wurde. – Frau E. hat nur die »Förderschule Lernen« besucht, weil die Eltern ihr nicht einmal ein Mindestmaß an Bildung zugestanden haben und sie immer wieder wegen angeblicher Krankheit von regelmäßigem Schulbesuch und anderen Außenkontakten fernhielten. – Frau F. ist sechsmal im Frauenhaus gelandet, wo man ihr schließlich ankündigte, das Kind in Obhut zu nehmen, falls sie nicht ihr Milieu und die Stadt verlassen würde. – Frau G. hat mit ihren 26 Jahren drei Kinder von drei Männern; ihre eigene Bedürftigkeit verstellt ihr den Blick auf die Nöte der Kinder, die sie wie Partner behandelt. – Frau H. und ihr Freund sind seit Jahren im Methadonprogramm und klammern so sehr an ihrem kleinen Sohn, dem Garanten für ein normales Leben, dass sie dem Zweieinhalbjährigen im wörtlichen Sinn keinen Schritt allein zutrauen. – Frau I. hatte vor der Geburt ihrer Tochter zwei Totgeburten. Die darauffolgende depressive Erkrankung wurde auch stationär behandelt. Jetzt will sich bei ihr keine Freude über das gesunde Baby einstellen. Nicht alle Lebensgeschichten enthalten so viel Dramatik. Zu den Problemen, die Eltern damit haben, zu einem guten Umgang mit ihrem Kind zu finden, gehören vordergründig (und häufig von ihnen genannt) externe Stressfaktoren: alleinerziehend in schlechter Wohnsituation, soziale Isolation, eine angeschlagene Gesundheit, kein Geld bzw. – häufig – Schulden. Rund drei Viertel der 227 Familien mit 283 Kindern, die bis jetzt regelmäßig an den Gruppen teilnahmen, sind im ALG-II-Bezug oder auf andere öffentliche Leistungen angewiesen; in jeder zweiten Familie lebt ein Elternteil allein mit Kind(ern); mehr als die Hälfte der Eltern hat keinen Hauptschul- oder vergleichbaren Schulabschluss. Schwerer wiegen weitere biografische Belastungen, die wir im Lauf der Zeit erfahren, denn wir haben uns zugunsten des Beziehungsaufbaus bei den oft misstrauischen Frauen gegen eine systematische Datenerhebung zu Beginn der Maßnahme entschieden. Der Empfang in einer versorgenden, quasi mütterlichen Atmosphäre (gedeckter Frühstückstisch mit klein geschnittenem Obst!) bringt mehr und vor allem bedeutsamere anamnestische Mitteilungen zutage: Nur ganz wenige
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der Eltern sind selbst dauerhaft in einer Familie mit zwei Elternteilen aufgewachsen, die ihrerseits frei von Störungen wie Sucht, Alkoholabhängigkeit oder psychischer Erkrankung waren. Die meisten haben in ihrer Herkunftsfamilie oder in einer späteren Partnerschaft Gewalt und plötzliche bzw. mehrfache Trennungen erlebt. Viele teilen Erfahrungen von Flucht und Entwurzelung; allerdings entspricht die Quote der Familien mit Migrationshintergrund – in aller biografischen Vielfalt, die dieser Begriff beinhaltet – dem Durchschnitt im Stadtteil (über 50 %). Bisher nahmen Eltern aus vierzig unterschiedlichen Nationen an den Gruppen teil; fast die Hälfte der Migrantinnen und (wenigen) Migranten sprach nicht gut deutsch. Viele Mütter sind relativ jung (bzw. waren bei der Geburt des ersten Kindes sehr jung), aber zu unseren Teilnehmerinnen zählen auch Vierzigjährige. Eine unbehandelte, manifeste Abhängigkeitserkrankung ist ein Ausschlusskriterium, aber immer wieder nehmen Eltern teil, die im Methadonprogramm sind. Die enge Zusammenarbeit mit einer psychiatrischen Klinik, die Mütter in Krisen gemeinsam mit ihren Säuglingen bzw. Kleinkindern aufnimmt, macht es möglich, dass die Familien unmittelbar im Anschluss an den stationären Aufenthalt zu uns kommen. Zu den Diagnosen zählen Persönlichkeitsstörungen und schwere postpartale Depressionen. Schließlich haben wir immer wieder Mütter aufgenommen, denen man aufgrund einer diagnostizierten Lern- oder gar geistigen Behinderung wenig Kompetenz im Umgang mit ihrem Kind zutraute. Und wir erlebten mit ihnen, wie sie in einer ermutigenden Atmosphäre Fähigkeiten an den Tag legten, an die sie selbst nicht geglaubt hatten, wie sie an Sicherheit und Selbstbewusstsein gewannen und damit auch ihrem Kind ein angemessenes Gegenüber sein konnten. Mit weit über zweihundert Familien, die sich auf eine längere Geschichte mit uns eingelassen haben, konnten wir inzwischen Erfahrungen sammeln. Wir haben enorm viel von diesen Familien gelernt. Wir haben uns getraut, flexibler zu werden, uns von anfänglichen Zielvorstellungen zu lösen und stattdessen zu schauen, wie eine Verbindung zu der jeweiligen Familie möglich ist, und uns von den Enactments leiten zu lassen, die jeden Tag, mit jeder Familie neu entstehen. So werden therapeutische Prozesse ermöglicht und befördert, die uns in früheren Kontakten mit den Familien nicht gelungen sind.
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Was steht dem Kontakt im Wege? Eine Zielvereinbarung zu Beginn, so unsere Erfahrung, ist nicht das A und O. Oft gibt es nur geringe Überschneidungen zwischen den Erwartungen der Eltern (»Das Kind soll gehorchen lernen«) und den Vorstellungen der überweisenden Fachstellen (»Die Mutter soll feinfühliger mit ihrem Kind umgehen lernen«). Unser Vorgehen besteht darin, – die Eltern in ihrer Bedürftigkeit aufzufangen, damit sie Veränderungen beim Kind zulassen und im Weiteren mittragen können; – den Eltern dabei zu helfen, ihre eigenen verschütteten Ressourcen zu entdecken; – den Eltern einen anderen Blick aufs Kind zu ermöglichen und – mit ihrer Hilfe! – Raum für kindliche Entwicklungsprozesse zu schaffen bzw. diese in Gang zu setzen. Wichtig ist es, unsere Aufmerksamkeit zwischen Eltern und Kind auszubalancieren: Werden kindliche Entwicklungsfortschritte nicht angemessen vermittelt, so riskieren wir, das System zu destabilisieren und den Eltern das Kind und damit dem Kind die Eltern zu entfremden oder »wegzunehmen«. Die erwähnte »Sperrigkeit« – eine von Misstrauen und Entmutigung geprägte Haltung vieler Familien gegenüber helfenden Einrichtungen und ihre Art der Beziehungsgestaltung, die oft schroff, meist flüchtig, geradezu beliebig anmutet – macht ein klassisches Unter-vier-AugenSetting zu Beginn nicht ratsam. Zu dicht, zu bedrohlich ist der Kontakt. Zudem wurde die Teilnahme an unserem Angebot in vielen Fällen vom Jugendamt angeregt; in etlichen stellt sie gar eine Auflage dar: Grund genug, misstrauisch zu sein. Wir beginnen also mit quasi passageren, »verdünnten« Beziehungsangeboten, suchen das Gespräch über unverfängliche Themen. »Ich raste aus, wenn man mir zu nah auf die Pelle rückt«, so oder ähnlich haben uns manche Frauen ihre seelische Verfassung vorbeugend mitgeteilt: Vermeidung von Nähe aus Angst vor derselben – aber auch, um das Gegenüber vor ihren potenziellen aggressiven Durchbrüchen zu schützen. In unserem flexiblen Setting ist es eben auch möglich, sich aufs Sofa in der Ecke zu verkriechen und mehrere Stunden lang mit
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niemandem zu sprechen – und dabei doch die anderen zu spüren oder aus den Augenwinkeln zu beobachten und ganz nebenbei eine Verbindung wachsen zu lassen. Bei allem psychoanalytischen Verstehen sind unsere Interventionen nicht frei von pädagogischen Momenten. Auch wir lassen uns vorübergehend ver- und wieder ent-wickeln – schließlich nehmen wir die Eltern in der Funktion wahr und ernst, die sie für ihre Kinder haben. Ein Beispiel: Eine 22-Jährige ist sauer auf mich. »Du bist eine schlechte Mutter!« schimpft sie. (Sie hat uns vom ersten Tag an unbeirrbar geduzt.) Sie braucht eine größere Wohnung, und wir helfen ihr bei der Suche, doch den Anruf bei dem potenziellen Vermieter soll sie selbst tätigen. »Dann musst du mir die Hand halten!« So haben wir es gemacht. Der Anruf hat geklappt, jetzt will sie sich etwas gönnen: Sie will auf die Sonnenbank gehen und währenddessen ihren knapp dreijährigen Sohn bei uns lassen. Normalerweise ginge das in Ordnung, aber heute sind wir nicht einverstanden: Sie weiß, dass sie zusammen mit zwei anderen Müttern gleich an einem Schulvorbereitungskurs teilnehmen soll, den wir im Rahmen unseres Angebots organisiert haben. Sie jammert, schmeichelt und zetert – vergeblich. »Ihr seid gemein! Morgen komme ich nicht!« Wenn sie morgen um zehn Uhr noch nicht da ist, werden wir sie anrufen, vielleicht aus dem Bett klingeln, und sie wird kommen. Einmal haben wir den Anruf versäumt, und sie war enttäuscht: »Ich dachte schon, ihr habt mich vergessen!«
Die Szene habe ich vor etlichen Jahren notiert. Die junge Frau meldet sich immer noch ab und zu. Sie hat inzwischen ihren Schulabschluss nachgeholt. Während der ersten Zeit rief sie uns häufiger an, teilte uns stolz oder enttäuscht gute und schlechte Noten mit, holte sich Lob oder Trost ab. Jetzt macht sie eine Ausbildung im Einzelhandel. Während sie in der ersten Zeit im »Spiel-Raum« fast monatlich einen neuen Partner hatte, zu dem ihr Sohn »Papa« sagen sollte, hat sie nun seit zwei Jahren denselben Freund, mit dem sie aber vorerst noch nicht zusammenziehen will.
Was passiert da eigentlich drei Stunden lang? Am wichtigsten ist die gemeinsam verbrachte Zeit, die Raum für geteilte und verbindende Erfahrungen bietet.
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Eine Szene: Im Spielzimmer gibt es eine Sprossenwand. Der Boden davor ist mit Turnmatten gepolstert. Der zweijährige Ben zeigt einen hohen Bewegungsdrang, aber keine große Geschicklichkeit. Er versucht die Sprossen hochzuklettern. Seine Mutter, die stets aufmerksam in seiner Nähe bleibt, ist offenbar nicht damit einverstanden: Sie hält ihn wortlos von hinten am Pullover fest, sodass er nicht richtig von der Stelle kommt. Der Junge schafft es nur bis zur zweiten Sprosse. Er will sich mit den Armen höher ziehen, er zerrt: Keine Chance, die Mutter lässt nicht locker. Schließlich gibt der Kleine auf. Er steigt ab, greift den erstbesten Gegenstand – einen Kinderstuhl – und wirft ihn mit einem lauten Schrei und mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft auf den Boden.
Die kindliche Motivation ist leicht zu erkennen: Ben möchte ausprobieren, erobern, größer sein, er strebt nach oben. Die angestaute Energie, die nicht zum Ziel führen durfte, entlädt sich in dem Stuhlwurf. Aber was bewegt die Mutter? Sie möchte eine gute Mutter sein. Ihr Kind soll sich nicht wehtun und vor allem keine blauen Flecken davontragen. Stillhalten ist am ungefährlichsten. In ihrem Leben ist Eigenbewegung in der Regel mit Risiko verbunden und führte bisher selten zum Erfolg. Und der »Zug am Pullover« (»Hiergeblieben!«) ist ihr recht vertraut. Die Mutter könnte man mit Worten darüber informieren, wie wichtig es für Kleinkinder ist, sich zu bewegen und etwas Neues auszuprobieren. Damit wollen wir sie in unser Boot holen. Wenn wir uns dabei nicht für sie und ihre Motive interessieren, wird diese »Aufklärung« bestenfalls dazu führen, dass sie sich »den Fachleuten zuliebe« ihrem Kind gegenüber anders verhält (vielleicht auch nur, wenn »Fachleute« anwesend sind), mit der Gefahr, dass sie sich emotional von ihm entfernt. Wenn wir ihr jedoch – nicht nur mit Worten, sondern auch mit nonverbalen Signalen – zeigen können, dass wir uns für ihre Sichtweise interessieren und diese respektieren, dann kann es sein, dass sie uns in ihr Boot einlädt. Und wenn wir eine Verbindung zu ihr herstellen können, lassen sich nachhaltige Veränderungen erreichen. Vielleicht lassen wir uns erst mal von ihr zeigen, wie sie ihr Boot beherrscht und welche Stellen ihr nicht gefallen. Und dann könnten wir ihr vorschlagen, diese Stellen mit unserer Hilfe zu reparieren oder umzubauen. Im Zusammensein in der Gruppe hat alles Bedeutung, und alles ermöglicht Beziehung. Immer wieder bemühen wir uns, eine zuge-
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wandte und akzeptierende Atmosphäre herzustellen und zu halten. Die vergleichsweise reichlich vorhandene Zeit (drei Vormittage in der Woche!) bietet Raum für angeleitete Prozesse, aber genauso für von einzelnen Eltern initiierte Themen und Handlungen. Aktion befördert Interaktion und schafft Anlässe für neue Erfahrungen: mit sich selbst, mit dem eigenen Kind, mit anderen – und auch mit Differenzen. Deshalb machen wir tatsächlich oft etwas miteinander. So ergeben sich immer wieder spontane »Now-Moments« zwischen Mutter und Kind. Wenn wir die gewohnten Räume auch im wörtlichen Sinn verlassen (für kürzere oder längere Ausflüge, auf den Spielplatz bei fast jedem Wetter, aber auch mal ins Museum oder in die Bücherei und einmal im Jahr für ein ganzes Wochenende in eine ländliche Jugendherberge), so entsteht Raum für Begegnungen und Abgrenzung, für körperliche und mentale Bewegung, für neue Erkenntnisse und geänderte Perspektiven. Ein erweiterter Aktionsradius und ein Zuwachs an Ich-Stärke können auch dadurch entstehen, dass Frauen das erste Mal in ihrem Leben Fahrradfahren lernen. Oder dass eine Frau, die sich mit Anträgen und »Papierkram« gut auskennt, dieses Wissen einer anderen zur Verfügung stellt, die kaum des Lesens und Schreibens mächtig ist. Aus Fotos, Bildern und kurzen Beobachtungsnotizen stellen die Mütter selbst Alben zusammen, die die Entwicklungsschritte der Kinder (und ihre eigenen) beschreiben: Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf den Prozess und auf Veränderungen – und nicht nur auf das, was nicht gut läuft. Ein weiterer Blick auf gedeihliche Veränderung: Die Ernte aus dem auf einem schmalen Grünstreifen selbst angelegten Garten hinter unserem Gebäude (öffentlicher Grund und Boden!) deckt zwar nicht annähernd den Gemüsebedarf für unser wöchentliches gemeinsames Kochen, doch das Erstaunen darüber, dass zwischen Ringelblumen und Cosmea auch Zucchini und Kürbisse »einfach so wachsen«, schafft auch Raum für weitere veränderte Wahrnehmungen. Die Duftsträußchen, die aus Rosmarin, Lavendel und Minze gebunden werden, hat eine psychopharmakaerfahrene Teilnehmerin zum »Antidepressivum, das nicht doof macht« erkoren. Angeregt durch eine entsprechend begabte Praktikantin fanden über viele Wochen Nähsessions statt, in denen die Mütter nicht nur Mützen und Schals für ihre Kinder produzierten, sondern sich gegenseitig halfen, Kleidungsstücke zu reparieren
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oder passend umzuändern. Der Spaß dabei, da waren sich alle einig, war weitaus größer als beim Shoppen im Kaufhaus. Das bereits erwähnte gemeinsame Kochen und Essen mit allen hat als Ausdruck des Sich-selbst-und-andere-Versorgens eine besondere Bedeutung für die Gruppe. Auf der einen Seite können wir hierbei praktisch und sinnlich nachvollziehbar über gesunde, kostengünstige und leicht herzustellende Mahlzeiten informieren und anregen, wie man mit geregelten Essensritualen und einer genussbetonten Atmosphäre (vermeintlichen) kindlichen Essstörungen begegnen kann. Auf der anderen Seite wird hier bei den Erwachsenen oft eine tiefe Sehnsucht nach Versorgung spürbar. Um diese auffangen zu können, steht das Team auch am Herd, wenn sich mal keine Eltern finden, die die wöchentliche Kochaktion übernehmen wollen.
Von der Dyade zur Triangulierung Abhängig von Alter und Entwicklungsstand des Kindes, aber vor allem von der Beziehung zwischen Mutter (in der Regel) und Kind bieten wir Entlastung innerhalb unserer Gruppenzeiten an: Zeit für eine Zigaretten pause, für ein Gespräch vor der Tür, aber auch für einen Arztbesuch oder einen Einkauf ohne Kind, das dann in dieser Zeit von uns betreut wird. Für die eine oder andere Mutter ist die Erfahrung wichtig, wie bedeutsam und unaustauschbar sie für ihr Kind ist; andere brauchen Ermutigung, um dem Kind erste Ansätze von eigenen Beziehungs erfahrungen zu gönnen und um sich auch nur wenige Meter von ihm zu entfernen. In jedem Fall ist das Ausprobieren dieser kurzen Trennungen, die stets angekündigt und mit uns nachbesprochen werden, für beide beteiligten Seiten eine gute Vorbereitung auf den Kindergarten.
Wie viel halten wir aus? Frau S.1, die vor einiger Zeit mit ihrer Tochter aus dem Mutter-Kind-Wohnheim des Frauenhauses in eine eigene Wohnung gezogen ist, hat dort, wie die Mitarbeiterinnen des Wohnheims im Gespräch bemerken, »viele Scherben hinter1 Alle Klientennamen in diesem Beitrag sind geändert.
Spiel-Räume für Familien: Selbstwirksam gegen Entmutigung 73 lassen«. »Der hat keine nachgeweint«, hören wir. »Ich lass mir doch nicht von anderen erzählen, wie ich mit meinem Kind umzugehen habe!«, ist einer ihrer Standardsätze. Ihre erste Zeit in der Gruppe ist eine Herausforderung an uns. Sie reagiert schnippisch, schroff oder beleidigend auf Ansprache und Anregungen, sie intrigiert, sie versucht, die Mitarbeiterinnen gegeneinander auszuspielen. Als ein Portemonnaie vermisst wird (später findet es sich wieder), beschuldigt sie eine andere Frau. Es ist schwierig, sich dem Machtkampf zu entziehen, den Frau S. offenbar ständig inszenieren möchte, und ihr trotzdem zur Verfügung zu stehen. Unser Supervisionsbedarf steigt. Frau S. nimmt viel Raum ein, ob sie anwesend ist oder nicht. Aber langsam verändert sich etwas. Nach etlichen Wochen übernimmt Frau S. von sich aus die Aufgabe des täglichen Brötchenholens, wählt also eine positiv bewertete Handlung, um bemerkt zu werden. Häufiger sucht sie jetzt das Gespräch unter vier Augen und lässt dabei Hilf- und Ratlosigkeit erkennen. Und vor zwei Wochen fragte sie: »Mal ganz ehrlich: Glauben Sie, ich könnte es vielleicht mal mit einer Therapie versuchen?« Diesen Vorschlag hatte man ihr schon im Frauenhaus gemacht, und sie hatte ihn immer vehement zurückgewiesen – und es hätte wohl auch (noch) nicht funktioniert.
Frau S. hat zunächst auch mit uns die ihr vertrauten Muster reinszeniert, und wir taten gut daran, die Grenzen nicht zu eng zu setzen und ihr einen Freiraum zu geben, in welchem sie sich selbst für ein anderes Verhaltensmuster entscheiden konnte.
Am besten gegen schlechte Erfahrungen helfen gute Erfahrungen: Die Geschichte von P. P.s Familie wurde uns vom Jugendamt mit folgenden Informationen geschickt: Die Eltern hätten sich als erziehungsunfähig gezeigt; beide seien kognitiv stark eingeschränkt, der Junge sei fremduntergebracht worden, lebe aber jetzt wieder bei den Eltern, begleitet von intensiven ambulanten Hilfen. Seine Entwicklung sei massiv verzögert. Die erste Begegnung: Wir sehen eine junge Frau, unsicher wirkend, mit einer leichten Sprachbehinderung, und einen eineinhalbjährigen Jungen, der für sein Alter sehr klein und zierlich ist und uns freundlich anlächelt. Nach etlichen Minuten steht er noch an genau der Stelle im Flur, an der ihn seine Mutter aus dem Kinderwagen abgestellt hat, das Lächeln wirkt inzwischen starr. Als ich mich zu ihm hinunterbeuge, gibt er ein leises Geräusch wie »heei« von sich. Sonst nichts, keine Bewegung.
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Auf die Aufforderung hin, sich mit dem Kind zu uns zu setzen, redet die Mutter heftig und laut auf ihn ein. Er reagiert nicht, und sie gerät sichtbar in Stress: »Jetzt komm doch endlich hierher! Der hört einfach nicht«, klagt sie. Wir bieten ihr einen Platz an, eine Kollegin schenkt ihr Tee ein, beruhigt sie, zeigt Verständnis für P.: »Das ist völlig in Ordnung. Der kennt uns ja auch noch gar nicht und braucht vielleicht noch ein bisschen Zeit«, nimmt so der Mutter den Druck, uns ein funktionierendes Kind vorführen zu müssen. Eine andere Kollegin setzt sich auf den Boden neben P. und schaut gemeinsam mit ihm in Richtung Küche, wo der Rücken der Mutter zu sehen ist. Dabei versucht sie, mit leiser und ruhiger Stimme das auszusprechen, was gerade in dem kleinen Jungen vorgehen mag. Für ihn war nicht der Inhalt der Worte bedeutsam, sondern dass da jemand bei ihm war, ohne ihn zu etwas zu drängen, ohne eine Reaktion zu erzwingen, die er nicht geben konnte. Nach wenigen Minuten verschwand das starre Lächeln. Er setzte sich in Bewegung und lief mit steifen Schritten und ohne Mimik wie ein kleiner Roboter zu seiner Mutter. Im Laufe der nächsten Zeit erfuhren wir mehr über P.s Vorgeschichte, zunächst im Gespräch mit der Mutter bzw. ihr und dem Vater, dann ergänzt durch die Unterlagen, die uns das Jugendamt zur Verfügung gestellt hatte: P. war kein geplantes Kind; die Eltern lebten nicht zusammen. Die Mutter, 24 Jahre alt, wohnte noch zu Hause bei ihrer Mutter. Sie hat die Lernbehindertenschule besucht und danach als Putzhilfe gearbeitet. Der Kindsvater ist rund 20 Jahre älter als sie und seit Langem arbeitslos. In seiner Freizeit betreibt er Sport in einem Verein auf Landesliganiveau. Die Mutter der jungen Frau erkrankte an Krebs und starb noch vor P.s Geburt. Für die Schwangere war dies ein schwerer Schlag; sie hatte sich von ihrer Mutter Unterstützung im Umgang mit dem Baby erhofft. Da die Wohnung nach dem Tod der Mutter aufgegeben werden musste, zog sie zu ihrem Freund in dessen Ein-Zimmer-Apartment. P.s Geburt erfolgte normal und termingerecht. Wenige Wochen später erging ein Anruf beim Jugendamt. Die Tante des Kindsvaters meldete sich: Die jungen Eltern versorgten das Kind nicht gut; sie reagierten nicht auf sein Weinen, brächten ihn öfter bei ihr vorbei und holten ihn dann erst später ab als vereinbart. Das Jugendamt nahm Kontakt zur Familie auf, überprüfte die Verhältnisse und ging auf den Vorschlag der Tante ein, die P. von nun an ganz betreuen wollte. Auch die Eltern erklärten sich zu dieser Lösung bereit.
Spiel-Räume für Familien: Selbstwirksam gegen Entmutigung 75 Weitere Wochen später – P. war inzwischen dreieinhalb Monate alt – meldete sich die Tante erneut beim Jugendamt: Die Betreuung des kleinen Jungen sei ihr zu viel, sie sei ja auch nicht mehr die Jüngste. Eine schnelle Lösung musste gefunden werden, P. wurde in einer Bereitschaftspflege-Familie untergebracht. Mit dieser Lösung waren die Eltern nicht einverstanden. Das Jugendamt schlug der Familie vor, dass die Mutter zusammen mit P. in ein Mutter-KindHeim ziehe, um dort die Grundlagen für den Umgang mit dem Baby zu lernen. Bis sich ein freier Platz fand, vergingen wiederum viele Wochen. Während dieser Zeit hatten die Eltern einmal in der Woche für eineinhalb Stunden einen sogenannten begleiteten Besuchskontakt mit ihrem Sohn. P. war acht Monate alt, als er mit der Mutter zusammen ins Mutter-KindHeim zog. Der Mutter fiel es nicht leicht, sich an die Regeln im Heim zu halten; womit sie jedoch überhaupt nicht klarkam ist, dass ihr Partner nur zu bestimmten vorgegebenen Zeiten und nie über Nacht im Heim bleiben durfte. Nach einem Streit mit dem Personal, weil die entsprechende Absprache immer wieder von der Mutter infrage gestellt und wiederholt nicht eingehalten wurde, kam es zur Kündigung. P. kam erneut in eine Bereitschaftspflegestelle – diesmal in eine andere Familie. Die Eltern brauchten eine Weile, um sich zu sortieren, doch schließlich gingen sie mithilfe eines Anwalts vor Gericht und klagten gegen das Jugendamt auf Herausgabe ihres Kindes. Im Rahmen der gerichtlichen Begutachtung wurde P. im Frühförderzentrum getestet. Man stellte eine massive Verzögerung in allen Entwicklungsbereichen fest. Und das Familiengericht entschied für die Eltern. Sie suchten sich eine größere Wohnung (eine Bedingung für die Rückführung), und mit eineinhalb Jahren kam der Sohn zurück zu den Eltern und in unser Gruppenangebot. Daneben wurde die Familie durch eine sozialpädagogische Familienhilfe unterstützt.
Von Anfang an war bei der Mutter die Angst vor dem Vorwurf zu spüren, dass das Kind nicht in Ordnung sei bzw. dass sie etwas mit dem Kind nicht richtig mache. Sie wurde ungeduldig, wenn er nicht auf sie reagierte, und auch später, als er schließlich in Bewegung und ans »Handeln« kam, wenn er etwas nicht richtig machte (z. B. das Brot vom Tisch fallen ließ; ein Papier zerknüllte, anstatt es zu bemalen). Hinter ihrem Ärger waren der Druck, unter dem sie stand, und die Ohnmacht spürbar. In den alltäglichen Abläufen zeigte sich ihr geringes Selbstbewusstsein – sie war stets die Letzte, die sich (oft erst nach Aufforderung) einen Platz suchte, sich am Tisch bediente oder einen Wunsch äußerte. Die Arbeit mit dem Jungen bestand zunächst darin, ihn, meist in unmittelbarer Nähe der Mutter, zu aktivieren, ihm eine Reaktion zu entlocken, ihn in einen Dialog zu bringen, den er erst nach vielen
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Wochen auch von sich aus initiierte. Beachtlich war die Hartnäckigkeit, mit der er erste Handlungsansätze immer wieder »übte« (z. B. auf eine niedrige Bank zu steigen und wieder herab). Langsam wurden seine marionettenhaften Bewegungen flüssiger. Die anderen Kinder betrachtete er zunächst furchtsam; wenn es sehr lebhaft zuging, fror er geradezu ein. Die Nähe eines Erwachsenen gab ihm offenbar Sicherheit, sodass wir in solchen Situationen darauf achteten, dass die Mutter neben ihm war und ihn beruhigen konnte – wobei sie ihrerseits Beruhigung brauchte, da sie schnell dazu tendierte, ungeduldig zu werden und ihre eigene Ratlosigkeit auf den Sohn zu projizieren (»Warum bist du denn so ängstlich, hä? Passiert doch nix!«). Allmählich registrierte sie, dass ihr Kind sich bei Not als Erstes an sie wandte, und konnte sich darüber freuen. Erst als P. im Laufe der Zeit zu den Älteren gehörte, begann er, das Spiel anderer Kinder zu imitieren und ging schließlich auch von sich aus in Kontakt mit ihnen. Gleichzeitig fing er an, Gegenstände zu benennen und seine Wünsche gestisch auszudrücken (etwa um den zweiten Geburtstag). Langsam fand er heraus, dass er auch Dinge tun konnte, die niemand angeregt hatte, die aber in seinem Interesse schienen, z. B. sich das Bonbon zurückzuholen, das wir ihm gerade abgenommen hatten. Als die Mutter sich nach einigen Wochen sicher war, dass wir sie nicht überprüfen und beurteilen wollten, wurde sie offener; ihre zeitweilige Ungeduld mit P. und ihre Verzweiflung darüber, dass er sich nicht verhalte »wie ein normales Kind«, ließen sich immer besser auffangen. Sie verstand, dass ihr Sohn in seinen Bestrebungen, sich in der Welt um ihn herum zurechtzufinden, so häufig unterbrochen worden war, dass er erst einmal wieder ziemlich weit von »vorne« anfangen musste. Als sie keine Schuld mehr für sein »Nicht-Normalsein« suchen musste, weder bei sich selbst noch bei dem Kind, kam in ihr eine weiche und liebevolle Seite zum Vorschein. Sich an uns orientierend, begann sie mit ihm zu sprechen und zu spielen, wobei sie bei Letzterem geradezu kindlich »abtauchen« konnte. Im Zusammensein mit den anderen Müttern entwickelte sich P.s Mutter vom schüchternen Mauerblümchen zu einer mitteilsamen und humorvollen Person, die sich mit einigen anderen anfreundete. Bei einer der zahlreichen Küchenunterhaltungen tauschten sich die Frauen aus, auf welche Weise sie sich früher – als Kinder – »danebenbenommen«
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hatten. P.s Mutter konnte lediglich damit aufwarten, dass sie »Wasserbomben« auf Passanten geworfen hatte. Das Lachen der anderen über dieses »Vergehen« steckte sie so an, dass sie fast nicht mehr damit aufhören konnte. Erst am Ende des Vormittags sagte sie ganz nachdenklich zu uns: Ich war ja eigentlich gar nicht so schlimm, wie die früher immer gesagt haben. P. und seine Mutter waren über ein Jahr bei uns. Nach anfäng licher Unsicherheit, die sich auch in häufigen Abwesenheiten wegen Erkrankung des Kindes zeigte, kamen sie ausgesprochen regelmäßig. Der Vater konnte nur wenig einbezogen werden; er fühle sich bei uns nicht so wohl, sagte er. Als der Wechsel in den Kindergarten anstand, erfolgte wiederum eine entwicklungspsychologische Testung im Zentrum für Frühbehandlung. Das Ergebnis entsprach unserem subjektiven Eindruck, hat uns aber trotzdem gefreut – und bestätigt: Bis auf die Sprachverzögerung ist P. inzwischen in allen Bereichen altersgerecht entwickelt. Die Mutter arbeitet wieder in Teilzeit bei einer Reinigungsfirma; in der Zeit wird der Sohn vom Vater betreut. Im Sommer fuhr die Familie für eine Woche ans Meer: der erste Urlaub zu dritt. P. ist immer noch sehr klein und dünn, und seine Sprachfähigkeit ist nicht altersgerecht. Aber er ist erfinderisch, verfolgt Pläne (die wir nicht immer verstehen) und er hat einen eigenen Willen entwickelt. Wenn er sich unwohl fühlt, müde ist oder erschreckt, sucht er die Nähe seiner Mutter. Diese weist ihn in solchen Momenten nicht mehr zurück, sondern kann ihn gut trösten, und zu unserer Freude geht sie auch mit seinen (noch sehr zaghaften) Anfällen von Trotz gelassen und entspannt um. In Momenten, in denen sie verunsichert ist, verliert sie immer noch schnell die Geduld, so an einem der letzten Tage, als der Schmerz über den bevorstehenden Abschied sie offenbar mehr traf als erwartet. Sie herrschte ihren Sohn an, weil er seine Schuhe nicht anziehen wollte. »Der will wohl auch nicht gehen«, sagte sie dann wie zu sich selbst. P. reagiert inzwischen auf ihr Schimpfen, indem er die Schultern hochzieht und sich mit mürrischem Gesicht abwendet. Dass er einfriert oder erstarrt wie früher, haben wir seit Monaten nicht mehr gesehen. Kürzlich hatte P., der inzwischen den Kindergarten besucht, seinen letzten Tag bei uns. Er kam zur Türe herein und lief mir voraus ins Büro, wo er mir bedeutete, ich solle ihm etwas vom Regal herunterholen. Ich verstand nicht sofort: die Holzeisenbahn oder die Tierfiguren? Nein, er
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wollte den großen runden Spiegel haben, der an der Wand hängt. Er hielt ihn mit gestreckten Armen vor sich und betrachtete sich lange und lächelnd, offenbar äußerst zufrieden mit sich selbst.
Wie lassen sich Erfolge messen? Eine veränderte Wahrnehmung von sich selbst und vom eigenen Kind bei der Mehrzahl der Teilnehmenden ist für uns ein wichtiges Merkmal für das Gelingen der Arbeit im »Spiel-Raum«. Wir erheben solche und andere Veränderungen in einem offenen Auswertungsgespräch gegen Ende der Teilnahme. Die fast explosionsartigen Entwicklungsfortschritte, die wir praktisch bei allen kleinen Besuchern beobachten, erklären sich sicherlich auch dadurch, dass diese eine nicht unerhebliche Zeit bei uns in einer kindgerechten, emotional sicheren und förderlichen Atmosphäre verbringen. Erinnerungsspuren an Momente gelingender Verbindung – mit Eltern, aber auch mit anderen Objekten – können sich in diesem frühen Entwicklungsstadium tief einprägen und ein Muster für spätere Beziehungserfahrungen bilden. Doch in der Zusammenwirkung mit seelischer Stabilisierung und verändertem Selbstkonzept bei den Eltern lässt sich davon ausgehen, dass die ursprünglichen Probleme Ausdruck einer wechselseitigen Entwicklungsblockade waren, die es aufzulösen galt. Der Schlüssel zu der Auflösung liegt in der zeitintensiven Beziehungsarbeit – und in der Fähigkeit der Eltern, die Erfahrungen von Halt und Ermutigung direkt an ihre Kinder weiterzugeben. Und so kann Beziehung als zentraler Punkt des Geschehens im therapeutischen Rahmen frühen Beschädigungen der Ich-Entwicklung und Selbstwahrnehmung vorbeugen und Beziehungsstörungen heilen, um Raum für Entwicklung und Individuation zu schaffen.
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Literatur Becker, S. (Hrsg.) (1995). Helfen statt Heilen. Beiträge der 1. Fachtagung des Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit. Gießen: Psychosozial-Verlag. Günter, M. (2019). »Wir sind der Welt doch scheißegal« Warum Hauptschüler nicht mit Zukunftschancen rechnen. Kölner Stadtanzeiger, 26.10.2019, S. 32. Kaufhold, R. (2003). Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psycho analytisch-pädagogische Bewegung. Gießen: Psychosozial-Verlag. Winnicott, D. W. (1979). Vom Spiel zur Kreativität (2. Aufl.). Stuttgart: KlettCotta. Zenz, W. (Hrsg.) (2007). Die vergessenen Kinder. Vernachlässigung, Armut und Unterversorgung in Deutschland. Köln: Papyrossa.
Maria Johne
Dem Vergessen entgegenwirken – Psychoanalytische Behandlung von Stasi-Kindern
Zusammenfassung Die deutsche Vergangenheit des Nationalsozialismus und des Überwachungs staates in der ehemaligen DDR hat gravierende Folgen für die Nachkommen sowohl der Opfer wie der Täter hinterlassen. Die Auseinandersetzung mit den Ursachen und weitreichenden traumatischen Auswirkungen für die Kinder der Opfer und der Täter des Nationalsozialismus hat sich in den letzten Jahren vertieft. Den Kindern der Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes wurde bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Entlang einer klinischen Fallstudie wird versucht, der »unheimlichen Verbindung« von Täterschaft und Opfererfahrung im Rahmen psychoanalytischen Arbeitens nachzugehen. Die transgenerationale Weitergabe von entlehnter Schuld und einer tiefen Scham wird über vier Generationen in einer »Stasi-Familie« aufzuzeigen versucht. Die besondere Aufmerksamkeit gilt den gespaltenen Loyalitäten, welche die Beziehung zwischen Analytiker(in) und Patient(in) in der psychoanalytischen Behandlung tiefgreifend beeinflussen.
»Die Menschheit lebt nie ganz in der Gegenwart, in den Ideologien des Über-Ichs lebt die Vergangenheit, die Tradition […] des Volkes fort, die den Einflüssen der Gegenwart, neuen Veränderungen, nur langsam weicht, und solange sie durch das Über-Ich wirkt, eine mächtige, von ökonomischen Verhältnissen unabhängige Rolle im Menschen spielt.« (Freud, 1932, S. 73)
Auch dreißig Jahre nach der politischen Wende im Osten Deutschlands bin ich in meinem Behandlungszimmer immer wieder mit den Folgen totalitärer Herrschaft in der DDR konfrontiert und muss mich erneut mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen. Infolge der unsagbaren Verbrechen des Nationalsozialismus entstand in der ehemaligen DDR ein Überwachungsstaat mit 800.000 Staatssicherheitsmitarbeitern (bei 17 Mio. Einwohnern), der vierzig Jahre in vielfacher Weise auf unser Leben eingewirkt, in uns eingedrungen ist und seine Spuren hinterlassen
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hat. In den letzten Jahren drohen im gesellschaftlichen Diskurs »die Erinnerungen an den Sozialismus in den Farben der DDR im Grau des Vergessens zu entschwinden« (Raschka, 2001) und eine nostalgische Verklärung des untergegangenen Staates in den Vordergrund zu treten. Schaue ich aber in meinen psychoanalytischen Behandlungen genauer auf die Vergangenheit, dann treffe ich auf Fremdes, Verschwiegenes und manchmal auf Unglaubliches. Die Bürgerrechtlerin und Abgeordnete des Neuen Forums im Berliner Abgeordnetenhaus Irena Kukutz zeichnete 1990 ein Bild ihres bizarren Alltags in der ehemaligen DDR: »Keine Spur von Geheimnis, es war schon lange nicht zu übersehen: Die Staatssicherheit war überall! Wir wurden kontrolliert und belauscht, sie haben gesammelt und registriert: Zu ›operativen Vorgängen‹ gestempelt, liefen wir im DDRPolit-Alltag gelegentlich ein wenig voran. Da kamen uns die bezahlten Aufpasser der ›Firma‹ stets auffällig demonstrativ hinterher – wir wurden eingeladen und vorgeladen in ihre ungastlichen Gemächer. Sie besuchten uns zu Hause, ungeladen und mit Staatsanwalt – und für den Notfall […] war uns ein Plätzchen im Internierungslager reserviert. […] Sie gehörten mittlerweile zu unserem Leben, fast so normal wie Nachbarn und Freunde. Zu jeder, immer unpassenden Gelegenheit dieselben Gesichter, bis zum September 1989« (Kukutz u. Havemann, 1990, S. 5). Dieser Teil der deutschen Geschichte hat traumatische Folgen bei den Opfern, aber auch bei den Kindern der Täter hinterlassen, wenn auch auf verschiedene Weise. Während sich die psychoanalytische Auseinandersetzung mit den traumatischen Folgen des Nationalsozialismus für die Nachfolgegenerationen in den letzten Jahrzehnten zunehmend vertieft hat, steckt die psychoanalytische Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen der totalitären DDR-Strukturen noch in den Anfängen. Das wirft die Frage auf, ob die Auseinandersetzung mit den Folgen der totalitären Strukturen in der DDR noch zu früh ist, um ihre seelische Bedeutung schon tiefgreifend psychoanalytisch verstehen zu können. Da in den letzten Jahren aber immer wieder Patienten in meine Behandlungen kommen, deren Eltern oder Großeltern beim Staatssicherheitsdienst mitgearbeitet haben, möchte ich mich heute dieser Frage nähern und den »Stasi-Kindern« zuwenden. Ich will einen Einblick in die Dynamik zwischen Täterschaft und Opfererfahrungen geben, wie sie sich in psychoanalytischen Behandlungen der Nachfolge
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generation wiederfindet. Es wird aber noch vieler Arbeiten brauchen, um die seelischen Folgen für die Nachfolgegeneration der Täter annähern abschätzen zu können.
Die Bedeutung des Staatssicherheitsdienstes in der DDR Die typische Stasi-Familie gab es nicht, also auch keine typischen Stasi-Kinder. Ebenso wenig gab es den typischen Stasi-Täter. So gab es z. B. Väter, die alle Anweisungen ihrer Vorgesetzten befolgten und sich sogar von ihren eigenen Kindern konsequent lossagten. Es gab Söhne, die unter dem weitergegebenen Druck zerbrachen. Es gab andere, die dienstliche Nachteile in Kauf nahmen, weil sie das Kontaktverbot zu ihren »staatsfeindlichen« Kindern unterliefen. Und es gab Töchter, die weit bis ins Erwachsenenalter hinein und noch lange nach dem Mauerfall im Sinne ihrer Eltern funktionieren (Hoffmann, 2013, S. 33). Eine differenzierte Betrachtung der Schuldfrage ist also notwendig. Für die Inoffiziellen Mitarbeiter, die überwiegend im öffentlichen Interesse stehen, haben Ingrid Kerz-Rühling und Tomas Plänkers (2004) verschiedene Motive für deren Arbeit für den Staatssicherheitsdienst aus psychoanalytischer Sicht herausgearbeitet. Viele haben freiwillig, aus dem Bedürfnis, über andere Macht auszuüben oder aus Eigennutz und Wichtigtuerei, ohne moralische Bedenken dem Ministerium für Staatssicherheit umfassend Bericht erstattet. Die Überzeugungstäter wiederum glaubten, die DDR, welches sie für das bessere Deutschland hielten, vor feindlichen Angriffen schützen zu müssen. Andere waren zuvor selbst Verfolgungen der Stasi ausgesetzt und daran innerlich zugrunde gegangen und zur Mitarbeit erpresst worden. Manche Inoffiziellen Mitarbeiter glaubten, ihnen nahestehende Personen schützen zu können, indem sie ausschließlich Positives über sie berichteten. Sie übersahen, dass die Stasi auch aus scheinbar harmlosen Informationen Nutzen ziehen konnte. Falsch ist die allgemein verbreitete Meinung, dass diejenigen, die ihre Mitarbeit verweigert haben, unbeschadet davongekommen wären. Auch wer dem Staatssicherheitsdienst unmissverständlich erklärt hat, für Spitzeldienste nicht zur Verfügung zu stehen, blieb unter Umständen über Jahre hinweg erpresserischen Anwerbeversuchen ausgesetzt. Die
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Weigerung wurde oft als eine »feindlich-negative Haltung« aufgefasst, die eine Überwachung der Person und der Familie nach sich ziehen konnte (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Staatssicherheitsdienst). Mein Interesse heute gilt jedoch nicht den Inoffiziellen Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes, sondern den Hauptamtlichen, den Befehlshabern und Organisatoren, welche die Gesamtverantwortung für diesen Unterdrückungsapparat trugen. Dieser diente dem Zweck, gegen alle wirklichen oder vermeintlichen Staatsfeinde unerbittlich vorzugehen. Die DDR war einer der meist überwachten Staaten der Welt. Die Überwachung und Kontrolle erstreckte sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche und drang tief ins Leben der Menschen ein. Wie wir bei Hoffmann (2013) und anderen zu finden, standen 1989 noch 91.000 Stasi-Hauptamtliche in Lohn und Brot. Auf einen StasiMitarbeiter entfielen 180 DDR-Bürger, im Vergleich dazu waren es beim russischen KGB »nur« 585 Bürger. Diese Führungselite war weder dem Staat noch dem Volk verpflichtet, sondern ausschließlich der Partei. Sie hatten einen lebenslang gültigen Eid geschworen und standen als »Schild und Schwert der Partei« im direkten Dienst- und Befehlsverhältnis. Hoffmann (S. 35) schreibt: »Sämtliche Maßnahmen der Stasi waren mit behördlicher Exaktheit in festgelegten formalisierten Dienstanweisungen festgeschrieben, die ihnen den Anschein von Objektivität und Rechtmäßigkeit verliehen.« Alle Hauptamtlichen genossen Privilegien und bezogen ein überdurchschnittliches Gehalt. Im Gegenzug waren sie ihrerseits aber auch an einen Katalog von Vorschriften und Regeln gebunden, der noch den privatesten Bereich ihres Lebens mitbestimmte – bis hin zur Wahl des Ehepartners und dem Umgang mit ihren Kindern. Ich zitiere nochmals Hoffmann (S. 9): »Wer hauptamtlich beim MfS arbeitete, war gezwungen die eigene Familie auf Linie zu halten – oder es zumindest so aussehen zu lassen.« Der Druck, der dadurch auf allen Beteiligten lastete, war enorm und wird an die Nachfolgegeneration unmittelbar weitergeben. Blicken wir nun in die Gegenwart, so stellt sich die Frage, ob der gesellschaftliche Diskurs über die Verbrechen der Stasi schon ausreichend geführt wird: Wenn sich so wie heute gesellschaftliche Abwehrtendenzen und ein Schweigegebot über die Verfolgungen der Staats sicherheit bilden, ermöglicht das den ehemaligen Mitarbeitern der Stasi,
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ihre Sicht auf die Vergangenheit öffentlich in Interviews, Dokumentarfilmen, auf Tagungen und Diskussionsveranstaltungen vorzutragen, wie sie das heute tatsächlich schon wieder selbstbewusst tun. Selten begegnet uns dabei ein kritischer Blick auf die eigene Geschichte, die zugleich geleugnet und glorifiziert wird, und für die sie meist jede persönliche Verantwortung bestreiten. Für psychoanalytische Behandlungen der Kinder von Stasi-Tätern wie auch der Kinder von Stasi-Opfern bedarf es eines gesellschaftlichen Diskurses über die historische Wahrheit und eine öffentliche Anerkennung von Schuld und Verursachung.
Transgenerationale Identifizierung Hier greife ich einige theoretische Fragen darüber auf, wie die Täter heute mit der historischen Realität und ihrer Vergangenheit umgehen und wie dies bis in die dritte Generation hinein weiterwirkt. Bohleber (2011) beschreibt für die Nazitäter, dass diese nachträglich die eigene Beteiligung an Gewalt und Vernichtung weitgehend verleugnen. Meines Erachtens stellen Stasi-Täter ihre Täterschaft oft verzerrt dar oder verschweigen diese bewusst. Dies bewahrt sie vor Schuld gefühlen und verbirgt auch jegliche Scham bezüglich ihrer Vergangenheit, was durch die unzureichende juristische Verfolgung der Hauptamtlichen zusätzlich befestigt wurde. Verzerrungen und Verschweigen führen zu einer Ich-Spaltung, die – wie Plänkers (2014, S. 441) für die Stasi-Täter feststellte – zu einem »Tunnelblick« bzw. einer »sektorisierten Wahrnehmung« der äußeren und inneren Realität führt, »die ausblendet, was nicht gefühlt werden darf«. Die Spaltungen gehen mit einem »omnipotenten Erleben der eigenen Phantasie« einher, mit einer »Idealisierung des Guten und einer Verleugnung des Bösen bei sich selbst« (S. 442). Oft verschafft das den Tätern, so Bohleber, ein »apologetisches Opferbewusstsein«, das aus der Schuldabwehr sowie aus eigenen und familiären traumatischen Erfahrungen gespeist wird. Dies verhindert eine reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit (Bohleber, 2011, S. 8). Waren die Eltern an der Verfolgung und Diskriminierung Anders denkender beteiligt, dann wird dies auch vor ihren Kindern verschwiegen bzw. entstellt. Sie benutzen ihre Kinder dazu, ihre Weltsicht zu
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rechtfertigen und zu bestätigen. Deshalb muss jede eigenständige Sichtweise bei ihren Kindern bekämpft werden. Die Nachfolgegeneration wächst unter dem Verschweigen und der Mystifizierung der Eltern als Opfer heran, was bei den Kindern oft ein verzerrtes Realitätsgefühl zur Folge hat, wie Dan Bar-On (1996) und Nadine Hauer (1998) in ihren Untersuchungen von Täterkindern der Nazigeneration aufgezeigt haben. Die Tabuisierung der Mittäterschaft der Eltern beschädigt die Fähigkeit der Kinder, zu fragen und sich Informationen zu beschaffen. Stattdessen finden wir unbewusste Identifizierungen mit den Eltern und deren Eigenschaften (Bohleber, 2011, S. 7). So kommt es, wie Faimberg es nennt, zu einem Ineinanderschieben – einem »Telescoping« – der Generationen, wobei die Nachfolgegeneration partiell die Geschichte der vorangegangenen Generationen in sich trägt, ohne dass den Kindern dies bewusst ist (Faimberg, 2005, S. 26). Eine unbewusste und abgespaltene Aggressivität, zu gefährlich, um sie sich einzugestehen, steht bei den Nachkommen der Täter oft im Gegensatz zu deren eigenen utopischen gesellschaftlichen Vorstellungen (Halberstadt-Freud, 2011).
Konsequenzen für die analytische Behandlung Angesichts der konträren Wertevorstellungen, die zwischen den Generationen stehen, sind die Loyalitäten der Kinder auch in der analytischen Behandlung gespalten. Halberstadt-Freud (S. 221) beschreibt, wie die Übertragung in der Behandlung durch die verborgene Loyalität der Kinder gegenüber den Eltern behindert wird. Auch wenn sich Eltern gegenüber den Gefühlen der eigenen Kinder verschließen, sind Vorwürfe und Fragen nach der Vergangenheit der Eltern während der Analyse selten. Die unbewusste Identifizierung mit den elterlichen Idealen ist häufig stärker als das Arbeitsbündnis mit der Analytikerin bzw. dem Analytiker. Zusätzlich erschwert wird die psychoanalytische Arbeit mit diesen Patienten durch entlehnte Schuldgefühle und eine unbewusste Scham, die einen tief verborgenen Selbsthass intensivieren (Mitscherlich, 1987, S. 482). Oft fühlen sich auch die Kinder von Stasi-Mitarbeitern durch die von ihren Eltern verbogene oder verzerrte Wahrheit und die von ihnen geübte Geheimhaltung seelisch bedrängt, entwertet und demoralisiert. Sie fliehen in unbewusste Täter- und Opferidentifizierungen
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oder in eine Spaltung des Vaterbildes, die den Zugang zu ihrer inneren und äußeren Welt verstellen. Die »gespaltenen Loyalität« der Täterkinder ist im Grunde niemals ganz zu überwinden. Eine der Ursachen dafür liegt meines Erachtens in einer komplexen Vermischung von Täter- und Opferidentifizierungen, die sich im Patienten und innerhalb der betroffenen Familien, aber auch zwischen Analytiker und Patient wiederfinden. Diese Vermischungen sind in der Übertragung nicht immer leicht zu erkennen, und wenn sie in der Behandlung offenkundiger werden, auch nicht leicht auszuhalten. Sie erfordern ein intensives Durcharbeiten der Gegenübertragungen, die mich als Analytikerin auch an meine eigenen Grenzen bringen können. Nun stelle ich anhand einiger Ausschnitte aus einer psychoanalytischen Behandlung einer Patientin der zweiten Generation dar, mit welchen Vermischungen von Täterschaft- und Opfertraumatisierung ich in meinem Behandlungszimmer konfrontiert war:
Warum kam die Patientin? Im Wartebereich meiner Praxis saß eine junge Person, deren Geschlecht ich auf den ersten Blick nicht genau ausmachen konnte. Ich war unsicher, ob sie die junge Frau sei, die ich erwartete und ging etwas zögernd auf sie zu. Ihr musternder, kühler Blick blieb an mir haften und irritierte mich. Als sie zu sprechen begann, legte sich meine erste Verunsicherung, ob sie die Richtige sei, aber ich fragte mich, warum sie so dominant auftreten musste. Was ging in ihr vor, als sie mich das erste Mal sah? Ich fühlte mich begutachtet und geprüft und konnte mich des Gefühls nicht erwehren, ihren Vorstellungen nicht zu genügen. Ihr Auftreten provozierte mich und ihre Skepsis erreichte mich unmittelbar. Heute frage ich mich, ob ich bereits in den ersten Minuten unserer Begegnung eine Abwehr gegen die mir entgegengebrachten Zweifel errichten musste. Diese Zweifel begleiteten den gesamten ersten Behandlungsabschnitt und tauchten auch zu Beginn meiner Arbeit an diesem Beitrag immer wieder auf. Ich war in den ersten Wochen beim Schreiben blockiert und empfand eine innere Leere, so als könne ich mich nicht mit diesem Thema beschäftigen. Unangenehme und bedrückende Erinnerungen aus meiner eigenen Lebensgeschichte ver-
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suchte ich mit fortwährenden Literaturrecherchen zu bannen. Sie verstärkten aber anfangs meine Empörung eher, als sie abzumildern. Zurück zur Patientin: Sie hatte zielsicher meinen Behandlungsraum betreten und begann, mir sofort ihren Wunsch nach einer analytischen Behandlung zu erklären. Sie hätte Probleme mit anderen Menschen. In den linken politischen Gruppen, in denen sie sich engagiere, würde ihr auffallen, dass die anderen mit mehr Herz dabei wären. In diesen Diskussionsgruppen hätten sie sich auch mit Psychoanalyse beschäftigt, was sie mehr und mehr gefesselt habe. Deshalb sei sie jetzt hier. Erschlagen von ihrer Beschreibung und gleichzeitig sehr wenig berührt von ihrer Symptomatik, fühlte ich mich wie betäubt. Die Probleme, die Frau S. vortrug, erreichten mich nicht, stattdessen fühlte ich mich kontrolliert und bedrängt, was mich sehr irritierte. Sie bestimmte bereits in den ersten Minuten, welche Behandlung für sie angemessen sei. Dann berichtete sie knapp, dass ihr Vater durch die Wende seinen Beruf verloren habe und seitdem kaum zu Hause sei. Er habe sich Söhne gewünscht, die in seine Fußstapfen treten könnten. Darum habe sie sich trotz ihres »falschen« Geschlechts bemüht, aber er wäre immer von ihr enttäuscht gewesen. Ihre Schwestern hätten bereits Familien mit Kindern. Dies könne sie sich für sich nicht vorstellen. Sie sei eher der intellektuelle Typ, was in ihrer Familie mehr geschätzt würde. Bei diesen kurzen Mitteilungen über ihre Familie veränderte sich etwas zwischen uns. Ich konnte wieder freier denken als in den ersten Minuten. Nun fiel mir auf, dass sie ein »Wendekind« ist. Warum kam ihre Mutter nicht vor? Was hatten ihre Eltern vor der Wende in der DDR gemacht? Mich beschlich erneut ein Unbehagen: Wiederholte sie durch ihr exzessives Auftreten etwas aus ihrer Familiengeschichte, das im Erstgespräch jeden emotionalen Kontakt zwischen uns verhindern musste? Ich fasse zusammen: Trotz meiner vielen irritierenden Gegenübertragungsgefühle, die zwischen Irritation, Ärger und Verunsicherung schwankten, erreichte mich doch etwas von ihrer inneren Not. Sich besser verstehen zu wollen, wurde hinter ihrer Forderung nach einer psychoanalytischen Behandlung spürbar, auch wenn sie mich dafür nicht oder noch nicht zu brauchen schien. Ich fühlte mich aber auch schon im ersten Kontakt unangenehm berührt, da wir auf unterschiedlichen Seiten zu stehen schienen, sie –
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scheinbar klar wissend, was sie brauchte –, ich – mich vermehrt falsch und klein fühlend. Eine dritte Position einzunehmen, wurde mir erst möglich, als ich mehr Zugang zu den in mir aufkommenden Ahnungen zur Familiengeschichte von Frau S. finden konnte. In den vergangenen Jahren haben einige Patienten den Weg in meine Praxis gefunden, deren Eltern oder Großeltern tief und schuldhaft in den Machtapparat der DDR verstrickt waren. Mit diesem Erbe umzugehen, ist nicht einfach. Für mich stellen psychoanalytische Behandlungen mit Täterkindern jedes Mal aufs Neue eine große Herausforderung dar, weil im analytischen Paar unheimliche Vermischungen von Täter- und Opferidentifizierungen auftauchen. Mich dann meinen eigenen Erinnerungen an die Repressalien der Stasi zu stellen und meine eigene Wut anzuerkennen, ist oft schmerzhaft, aber unabdingbar.
Die Analyse kam nur schwer in Gang Im ersten Jahr schien es nur ein Thema zu geben: ihre Arbeitsstörung. Frau S. beklagte monatelang, dass sie im Studium nicht vorankam. Sie zweifelte am Sinn der Analyse und beschwerte sich bei mir, ihr nicht genug zu helfen. Ganz am Rande ließ sie einmal fallen, dass ihr Vater für den Staatssicherheitsdienst gearbeitet hatte, verließ aber nach dieser kurzen Bemerkung sofort wieder das Thema. Meine Deutungs versuche nahm sie nicht zur Kenntnis. Stattdessen traktierte sie mich mit Freud-Zitaten, von denen sie annahm, dass sie mir nicht bekannt waren. Ohne mich mit Material zu versorgen, wusste sie – mir scheinbar hoch überlegen –, was sie brauchte, und gab mir deutlich zu verstehen, eine schlechte Analytikerin zu sein. Immer wieder standen Abbruchdrohungen im Raum. Ich zweifelte oft am Sinn unserer gemeinsamen Arbeit, weil sie mir nach wie vor den Zugang zu ihrem Inneren zu verwehren schien. Ich fühlte mich überprüft, müde, leer und über die Maßen angestrengt. Denken war nicht möglich. Die Arbeitsstörung, von der sie ständig berichtete, hatte sich zwischen uns ausgebreitet, ohne dass wir sie richtig verstehen konnten. Als diese Störung nach einer Analyseunterbrechung zwischen uns endlich zur Sprache kommen konnte, erfuhr ich Einiges, das sie mir bisher verborgen hatte.
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In meiner Anwesenheit tauchte sie in eine intellektuelle Welt ab, weil sie glaubte, mich emotional nicht erreichen zu können, und sie war davon überzeugt, dass ich sie sicher niemals werde annehmen können, wenn ich mehr von ihrer Familie wüsste. Scham und Schuld waren damit ganz auf meiner Seite. Sie ließ mich auch wissen, dass sie erst in der Analysepause, als sie für sich allein war, ihre wissenschaftliche Arbeit wieder hatte aufnehmen können. Es ärgerte mich, dass sie sich in einen Kokon zurückzog und die Bedeutung der Analyse und ihre Trennungsnot zu annullieren schien. Ich wurde dann aber zunehmend betroffen, weil ich ihre Angst, von mir verurteilt zu werden, jetzt zum ersten Mal real spüren konnte, der ich mich bis dahin, aus damals noch zu wenig verstandenen Gründen verschließen musste. Sie war der Begegnung mit mir und mit ihrer inneren Realität verzweifelt ausgewichen, indem sie mich entweder angriff oder verschwieg, was sie fühlte. Nur so glaubte sie, die täglichen Begegnungen mit mir überstehen zu können. Erst als ich mir eingestehen konnte, dass nicht nur Frau S., sondern auch ich um die Geschichte ihrer Familie einen emotionalen Bogen machte, konnten wir den Stillstand in der Analyse überwinden. Die Arbeit war in der Übertragung und in der Gegenübertragung durch unbewusste Loyalitäten gegenüber unseren Familien behindert. Frau S. schämte sich tief im Verborgenen der Zugehörigkeit zu ihrer Stasi- Familie und konnte deshalb nicht über ihre Familie sprechen, während ich, mehr als mir lieb war, von eigenen Erinnerungen an Erlebnisse mit der Staatssicherheit bedrängt wurde. Nicht nur in Frau S., auch in mir vermischten sich Täter- und Opferidentifizierungen. Meine Vorverurteilungen der Stasi-Führungseliten verhinderten anfangs, ihr genügend zur Seite stehen zu können. Immer wieder ließ ich mich in intellektuelle Betrachtungen ihrer Arbeitsstörung verwickeln und versuchte, sie nichts von meinen negativen Gefühlen wissen zu lassen. Ich konnte mich ihrer Angst, ich wolle ihr Wahrheiten entreißen, um sie moralisch zu verurteilen, noch nicht öffnen. Es war schwer für mich, zu unterscheiden, ob es sich um eine projektive Identifizierung der Patientin oder um eine Projektion meinerseits handelte oder um beides gleichzeitig. Im weiteren Verlauf der Behandlung wurde deutlich, dass aufgrund tiefster Enttäuschungs- und Kränkungserfahrungen sich Frau S. früh
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von ihren Primärobjekten abgewandt und in eine eigene Welt zurückgezogen hatte. Dieses Muster hatte auch die emotionale Beziehungs gestaltung zu mir in der Analyse bestimmt und den emotionalen Kontakt zwischen uns immer wieder behindert. Frau S. konnte nur »arbeiten«, wenn ich abwesend war, während ich in meiner Gegenübertragung immer wieder von Gefühlen der Ablehnung und Verurteilung der Familie geplagt war. Frau S. musste viele Erlebnisse und viele Teile aus ihrer Familiengeschichte gänzlich auslöschen, wie sie auch lange meine Deutungen ins Leere laufen ließ. Ich hatte oft das Gefühl, überflüssig zu sein. Mein Angebot, mit ihr zusammen mehr über die wahren Zusammenhänge in Erfahrung zu bringen und diese zu benennen, empfand sie als intrusiv und gefährlich. Am Ende waren wir in der Analyse ein Stück vorangekommen, aber wir konnten – trotz eines größeren Verstehens – die Tatsache nicht überwinden, dass Frau S. die Anwesenheit eines anderen nicht ausreichend gut für sich nutzen konnte. Ihre Angst, entwertet und ausgestoßen zu werden, wenn sie ihren Wunsch nach einer haltenden Beziehung anerkennen würde, war zu groß. Schließlich hatte sich zwar ihr Verständnis für ihre Eltern und deren Verstrickungen im familiären System erweitert, eine emotionale Annäherung wurde aber nicht möglich. Weitergehen wollte sie nicht. Deshalb mussten wir anerkennen, dass auch in der Analyse vieles offengeblieben ist.
Diskussion In den letzten Jahren haben immer wieder Kinder Offizieller und Inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes den Weg in meine psychoanalytische Behandlung gesucht. Nur selten konnten sie zu Beginn über ihr schwieriges Erbe mit mir sprechen. In einigen Behandlungen war schon die erste Begegnung von den gespaltenen Loyalitäten in der Übertragung und Gegenübertragung geprägt. In anderen Behandlungen kamen die politischen Verwicklungen in der Familie erst später ans Licht, wodurch das Verstehen verwickelter Übertragungskonstellationen oft noch schwieriger war. Dies führt mich zu der Frage, inwieweit die je eigenen Erfahrungen des Analytikers mit seiner politischen Vergangenheit die Übertragungs-
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arbeit negativ beeinflussen und behindern. In der Analyse mit Frau S. musste ich mich immer wieder mit meiner manchmal unzureichenden Aufnahmebereitschaft und Umwandlungsfähigkeit auseinandersetzen, wenn ich mit meinen eigenen beschädigten inneren Objekten in Kontakt kam. Dies war für mich – wie ich es in einer anderen Arbeit ausführlich beschrieben habe (Johne, 2017) – manchmal unerträglich und nur schwer überwindbar. Eine gespaltene Loyalität entsteht meines Erachtens nicht nur im Patienten, sondern auch im Analytiker, wenn dieser während der Behandlung mit seiner eigenen traumatischen Vergangenheit erneut in Kontakt kommt. Es war für mich eine Herausforderung in der analytischen Arbeit mit Frau S., meine Vorverurteilungen als Hindernis anzuerkennen und nicht dem manchmal bedrängenden Wunsch, Fakten aus der Geschichte aufzudecken, nachzugeben. Unser psychoanalytisches Wissen über die transgenerationalen Nachwirkungen von man made disasters, »dass unbewusste Schuldgefühle nur durch ein Eingeständnis der Wahrheit und einer Auflösung der ›Verschwörung des Verschweigens‹ bewältigt werden können« (Halberstadt-Freud, 2011, S. 234), hilft mir auch in diesen Behandlungen weiter. Wie ich anhand meines Falles beschrieben habe, braucht die Aufdeckung der Wahrheit und die Überwindung der Abwehr viel Zeit, ehe die verwirrenden und vermischten Täter- und Opferrepräsentanzen in der Übertragung verstanden und durchgearbeitet werden können. Dies gelingt niemals ganz. Tritt ein Stillstand im psychoanalytischen Prozess ein, muss der Analytiker sich seinen eigenen Erinnerungen erneut stellen, um seine Gegenübertragungsgefühle präziser verstehen zu können. Ich teile die Ansicht von Halberstadt-Freud (S. 233), »dass man Kindern nicht helfen kann, wenn man zugleich die Eltern anklagt. Im Gegenteil, man muss sich unbedingt in sie einfühlen, ungeachtet des Unheils, das sie möglicherweise angerichtet haben.« Mich dieser Aufgabe immer wieder zu stellen, gelang mir nur phasenweise und nur eingeschränkt. Frau S. hatte über lange Zeit gespürt, dass und wie ich mit einer Verurteilung ihrer Familie zu kämpfen hatte. Oft ist es in solchen Behandlungen nicht einfach, klar zwischen den schweren pathologischen Beziehungsstörungen innerhalb der Familie und den Folgen der Vergangenheit zu unterscheiden. Dennoch lassen sich – trotz großer Unterschiede – Gemeinsamkeiten bei Opfer- und
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Täterkindern feststellen. Beide leiden unter der transgenerationalen Weitergabe der Traumen und am Verschwimmen der Grenzen zwischen den Generationen. (z. B. Kogan, 2009). Die Nachfahren müssen sich mit verwirrenden und komplexen Identifizierungsprozessen auseinandersetzen, die Täter- und Opferrepräsentanzen enthalten. Hinsichtlich der Unfähigkeit, sich der Vergangenheit zu nähern, gibt es aber auch entscheidende Unterschiede. Das Schweigen und die Lebenslüge bei den Tätern – so Bohleber (2011) – sind etwas anderes als das Zögern der Opfer, über quälende Erinnerungen zu sprechen. Ich möchte jedoch an dieser Stelle betonen, dass die unfassbare Vernichtung durch die NS-Täter keinesfalls mit der Überwachung und Verfolgung durch Stasi-Täter gleichzusetzen ist. Dennoch leiden auch Stasi-Kinder an der transgenerationalen Weitergabe von entlehnter Schuld und an einer tief empfundenen Scham. Ihre gespaltene Loyalität erschwert eine Anerkennung der Vergangenheit. Die gespaltene Loyalität lässt sich, wie gesagt, nie ganz auflösen und behindert auf vielfältige Weise den analytischen Prozess. Für diesen ist es unerlässlich, dass es einen gesellschaftlichen Diskurs über die historischen Wahrheiten und die gesellschaftlichen Abwehrtendenzen und Schweigegebote gibt, welche die kollektive und individuelle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erschweren oder gänzlich verhindern können. Abschließend komme ich zu meiner Ausgangsfrage zurück, warum ich mich den Stasi-Kindern zugewandt habe. Viele westdeutsche Leser(innen) werden davon ausgehen, dass dies ein »ostdeutsches Problem« ist. Einerseits haben sie Recht und wir Ostdeutschen sind in besonderer Weise mit diesem Problem konfrontiert. Andererseits lebt eine beträchtliche Zahl von ehemaligen Mitarbeitern der Staats sicherheit weiterhin unter uns allen. Viele Inoffizielle Mitarbeiter haben nach der Wende die Flucht in den Westen angetreten, um unerkannt und unbescholten weiterleben zu können. Die Führungselite der Staats sicherheit hat sich dagegen in einer Parallelgesellschaft zusammengetan, um ihre Sicht auf die Vergangenheit nicht infrage stellen zu müssen. In einer dieser Parallelgesellschaften ist Frau S. aufgewachsen. Hier dominieren Abhängigkeitsstrukturen und eine Atmosphäre von Verleugnung und Unterdrückung, die uns Angst machen und es den Kindern erschweren, sich aus ihnen zu lösen. »Die Hölle, das sind die anderen«, sagt Jean-Paul Sartre (1944) in der »Geschlossenen Gesell-
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schaft«. Ihnen fehlt eine Instanz im Sinne einer dritten Position, die in der Lage wäre, »Verwerfungen und Verfehlungen innerhalb dieser Gemeinschaft adäquat wahrzunehmen, zeitnah zu benennen und angemessen aufzuarbeiten« (Walker, 2016, S. 3). Trotzdem können wir am Ende erkennen, dass Entwicklungen innerhalb der Generationen auch in der besprochenen Familie möglich geworden sind. Es bleibt also zu hoffen, dass Frau S. – trotz vieler ungelöster Fragen nach dem Ende der Analyse – ihren eigenen Weg ins Leben finden kann.
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Emre Arslan und Verena Ackermann-Arslan
Die gespaltenen inneren Bilder einer Bildungsaufsteigerin Ist die soziogenetische Betrachtung für die Psychotherapie unabdingbar?
Zusammenfassung Anhand der Fallgeschichte einer jungen Bildungsaufsteigerin (Studentin auf Lehramt; Erste, die in der gesamten Großfamilie studiert) wird beleuchtet, dass intrapsychische Phänomene – wie z. B. Schuld, Loyalitätskonflikte, Entfremdungsgefühle oder Selbstwertunsicherheit – nicht nur über die intrafamiliäre Psychodynamik, sondern darüber hinaus mittels soziologischer Analysemittel erklärbar sind. Es wird die Behauptung aufgestellt, dass vor allem eine Therapie mit Patientinnen und Patienten, bei denen ein »Milieuwechsel« durch Bildung vorliegt oder die sich hinsichtlich ihres Herkunftsmilieus vom Therapeuten unterscheiden, nicht ohne die Einbindung sozioanalytischer Gesichtspunkte auskommt. Mit der dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack und der Habitussoziologie von Pierre Bourdieu wird anhand von Auszügen einer psychoanalytischen Behandlung der Einfluss der Habitustransformation durch den Milieuwechsel auf die psychodynamische Situation der Patientin untersucht.
Vorbemerkung Psychotherapie kann im aktuellen Gesundheitssystem in Deutschland von jeder Person mit behandlungsrelevanter Symptomatik in Anspruch genommen werden. Das Milieu der Ursprungsfamilie sollte daher eigentlich eine geringe bis gar keine Rolle spielen. Dennoch lässt sich beobachten, dass Menschen mit geringerem Bildungsstand seltener Psychotherapie in Anspruch nehmen. So zeigt eine Studie, die vom Verband DPtV (Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung) gemeinsam mit der Universität Essen durchgeführt wurde (Walendzik, Rabe-Menssen, Lux, Wasem und Jahn, 2010), dass der Anteil von Patientinnen und Patienten mit Hauptschulabschluss lediglich 19,8 % ist, während in der Gesamtbevölkerung 40,4 % einen Hauptschulabschluss vorweisen. Im Vergleich dazu liegt der Anteil der Patienten mit Fachhochschul- bzw. Hochschul-
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reife bei 24,5 %, während er in der Gesamtpopulation bei 11,5 % liegt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Levy und O’Hara (2010) für die Patientinnenpopulation im englischsprachigen Raum. Diese Verschiebung wirkt umso drastischer, wenn man die Studie des RobertKoch-Instituts Berlin hinzuzieht (Lampert, Kroll, v. d. Lippe, Müters u. Stolzenberg, 2013). Danach hat der Faktor »sozioökonomische Schichtzugehörigkeit« einen statistisch signifikanten Einfluss auf die Gesundheit von Männern und Frauen u. a. hinsichtlich Depression (je niedriger der sozioökonomische Status, desto höher das Erkrankungsrisiko). In der psychotherapeutischen Behandlung selbst sollte jedoch die unterschiedliche gesellschaftliche Schicht bzw. das unterschiedliche Bildungsniveau keinen starken Einfluss haben. Die psychoanalytische Therapie und insbesondere die individualpsychologische Psychotherapie passt sich per se an die individuelle Lebensgeschichte bzw. an die Lebensumstände der Patientinnen an. So sagt Adler: »Die individualpsychologische Schule ist grundlegend daran gebunden, das System einer seelischen Erkrankung auf jenen Wegen zu erforschen, die der Kranke selbst gegangen ist« (Adler, 1930/2012, S. 121 f.). Zieht man jedoch die oben genannten deskriptiven Ungleichheiten hinsichtlich des Zugangs zur Therapie und den offensichtlich starken Einfluss der sozioökonomischen Umstände auf die psychische Gesundheit von Personen in Betracht, scheint außer Diskussion, dass die soziologische Perspektive, d. h. die ursprüngliche und aktuelle Schichtzugehörigkeit der Patienten (und auch der Therapeutinnen) eine größere Rolle in der psychodynamischen Hypothesenbildung und dementsprechend in der Behandlung einnehmen sollte. Auch die US-amerikanischen Forscher und Forscherinnen Krupnick und Melnikoff (2012) sowie Kim und Cardemil (2012) haben sich mit dieser Thematik auseinandergesetzt und kommen in ihren Studien zu der Schlussfolgerung, dass eine Reflexion der sozialen Schichtzugehörigkeit sowohl der Behandelnden als auch der Patienten für eine erfolgreiche Behandlung erforderlich ist. Im vorliegenden Artikel erörtern wir anhand eines psychoanalytischen Behandlungsfalles die mögliche Erweiterung und Befruchtung durch eine Hinzunahme der soziogenetischen Perspektive. Zunächst skizzieren wir die Ausgangssituation der psychoanalytischen Behandlung und stellen einige relevante soziologische Konzepte vor. Anschließend unternehmen wir den Versuch, die psychoanalytische Sichtweise
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mit der soziogenetischen Perspektive zu verbinden. Abschließend setzen wir uns mit dem möglichen Gewinn dieser Perspektive für Therapeutinnen und Patienten auseinander.
Psychoanalytische Behandlung von Frau W.1 Ausgangssituation Eine 20-jährige Lehramtsstudentin kam in Behandlung2, da sie zunehmend mit dem großen Druck im Studium nicht zurechtkam und depressive und ängstliche Symptome entwickelte. Sie bewunderte ihre Mitstudierenden, die scheinbar ohne jegliche Mühe und Anspannung sich auf die Prüfungen vorbereiteten, während sie »pausenlos« lernte. Während solcher Lernphasen geriet sie in quasi dissoziative Zustände, in denen sie sich die Arme blutig kratzte. Auch erlebte sie immer wieder eine plötzlich über sie einbrechende Lethargie und innere Leere, mit der sie sich ins Bett legte und manches Mal tagelang nichts mehr machen konnte. Im ersten Kontakt wirkte sie kindlich, hilflos und verängstigt. Entweder blickte sie im Gespräch die Therapeutin kaum an oder hielt den Blick fast starr und angstvoll auf sie gerichtet. Ihre Körperhaltung wies auf eine erhöhte Anspannung hin. So saß sie auf der vorderen Stuhlkante und presste die Oberschenkel aneinander. Soziale Kontakte schienen generell eine starke Anspannung hervorzurufen und sie sehr anzustrengen. Dementsprechend hatte sie nur Kontakt mit zwei Kommilitoninnen und ihrem Freund, mit dem sie seit zwei Jahren eine Wochenendfernbeziehung führte. Sie fühlte sich fremd unter ihren Mitstudierenden und hatte Angst vor Dozenten und Professorinnen. Die Exploration der Herkunftsfamilie ergab folgendes Bild (siehe auch Abbildung 1): Frau W. erlebte wenig liebevolle und aufmerksame Bezugspersonen in der Kindheit. Als ungewolltes Kind stand sie die meiste Zeit im Schatten des verhaltensauffälligen Bruders (+ 10 Lebensjahre) und erlebte einen fast sprach- und beziehungslosen Haushalt, in 1 Es ist aus Gründen der Anonymisierung eine willkürlich gewählte Abkürzung. 2 Die Behandlung wurde von Verena Ackermann-Arslan durchgeführt, sie ist im Folgenden die »Therapeutin«.
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Abbildung 1: Genogramm der Patientin W.
dem sie keinerlei Zärtlichkeit bei den Eltern beobachtete oder ihr gegenüber erfuhr. Die Mutter (+ 27, Verkäuferin im Einzelhandel, seit Geburt des ersten Kindes nicht mehr arbeitstätig) schien mit sich, der Alkoholkrankheit des Vaters (+ 42, gelernter Uhrmacher, seit der Grundschulzeit von W. arbeitslos und im ALG-II-Bezug, später Frührentner) und der ADHS-Erkrankung des Sohnes beschäftigt gewesen zu sein und W. wenig adäquat in ihrer Entwicklung begleitet zu haben, sodass das frühkindliche Erleben wahrscheinlich von Deprivation und Vernachlässigung geprägt war. Vermutlich wuchs W. demnach unbeachtet und ohne wohlwollende Spiegelung auf. So konnten sich nur wenig stabile und differenzierte Selbst- und Objektrepräsentanzen entwickeln (Kernberg, 1978, S. 46 f.). Darüber hinaus wurde W. seit Geburt von der Mutter als stützendes Selbstobjekt missbraucht und entwickelte vermutlich ein falsches Selbst (Winnicott, 1976/2008, S. 89) mit einer hohen Anpassung – auf der einen Seite an die mütterlichen Bedürfnisse und das familiäre Milieu und auf der anderen Seite an die gesellschaftlichen Anforderungen in Schule, Schwimmverein etc. Dies ging einher mit hohen Leistungsansprüchen und einer Notautonomie. Dabei lernte sie, Affekte zu kontrollieren und zu vermeiden, erlebte aber immer wieder Durchbrüche in Form einer unintendierten Selbstverletzung oder depressiven Symptomatik. Als die Mutter ab ca. dem 11. Lebensjahr von W. zunehmend in die Alkoholabhängigkeit rutschte, verstärkte sich das Thema der Co-
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Abhängigkeit und generellen Leugnung der Alkoholproblematik in der Familie mit den Hauptaffekten der Scham und Angst. Je älter Frau W. wurde, desto mehr schämte sie sich für ihre Armut und die Alkoholkrankheit der Eltern. Sie wurde immer unbeholfener in sozialen Situationen. Sie bemühte sich sehr, eine normale Kommunikation zu erlernen (»Ich wusste nicht, wie man redet«). Dennoch gab es eine stabile Beziehung zu einem Mädchen mit Migrationshintergrund, mit dem W. von der Grundschule bis zum Abitur befreundet war. Dieses wuchs in ähnlich finanziell beschränkten Verhältnissen auf und teilte als Migrantin mit Frau W. das Gefühl, Außenseiterin zu sein. Die Großmutter mütterlicherseits und ihr Mann (2. Ehemann der Großmutter) waren weitere wichtige und gute Bezugspersonen. Vor allem mit dem Stiefgroßvater hatte W. eine innige Beziehung und nannte ihn zeitweise auch »Papa«. Sie fuhr mit ihnen häufig in Urlaub, und fast jedes Wochenende kamen sie zu Besuch. Als W. 11 Jahre alt war, erlitt der Großvater jedoch einen Schlaganfall und wurde ein starker Pflegefall bis zu seinem Tod zwei Jahre vor Beginn der Therapie von W. Darüber hinaus gab es ab dem 16. Lebensjahr mit einer Cousine (+13, Tochter der ältesten Schwester ihrer Mutter) einen engeren Kontakt, die sie aufgrund eines Streites der Eltern erst spät über die Großmutter kennenlernte und in der sie so etwas wie eine »große Schwester« gefunden hatte. Dies löste bei ihrer Mutter Argwohn aus, was sich darin zeigte, dass sie häufig an der Zimmertür lauschte, wenn Frau W. mit der Cousine telefonierte. Die positive Beziehungserfahrung mit den Großeltern, der gute Kontakt zur Cousine und die dauerhafte Freundschaft von der Grundschulzeit an sowie die Akzeptanz im Schwimmverein unterstützten zumindest zeitweise progressive Impulse und Abgrenzungsversuche. Zu Beginn der Behandlung konnten deutliche Impulse der Neugierde und des Mutes in dem Entschluss gesehen werden, mit 18 Jahren allein in eine fremde Stadt zu ziehen und dort nach zwei Semestern einen Studienfachwechsel durchzuführen. Sie konnte Unverständnis und Unmut äußern, als der Hausarzt der Familie sich weigerte, zu Beginn den Konsiliarbericht zu unterschreiben und organisierte sich einen anderen Hausarzt an ihrem Studienort.
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Die gespaltenen inneren Bilder von Frau W. Um die für die Fallbetrachtung relevante Psychodynamik zu beschreiben, wird der Bezug auf das Tagungsthema der inneren Bilder hergestellt und dies in den theoretischen Rahmen Otto Kernbergs gerückt im Sinne der als gespaltene Selbst- und Objektrepräsentanzen mit den entsprechend erlebten oder inszenierten reaktivierten Beziehungserfahrungen (Clarkin, Yeomans u. Kernberg, 2001, S. 12 ff.). Das Bild des hilflosen Kindes inszenierte sich gleich im ersten Kontakt der Begegnung. Die Therapeutin reagierte darauf mit einer gespaltenen Reaktion. Auf der einen Seite sah sie die Not von W. und erlebte elterliche Impulse des Kümmerns und Versorgens, auf der anderen Seite übertrug sich auch das Gefühl der Überforderung und inneren Leere. Die Beziehungserfahrung mit der hilflosen, apathischen Mutter aktivierte sich nun direkt in der Übertragungsbeziehung. Auch ein weiteres inneres Bild der erfolgreichen Schülerin weist eine Spaltung auf: So bewunderte die Therapeutin den Ehrgeiz und die Intelligenz der jungen Frau, die sich durch ihr Studium »kämpfte«, suchte jedoch immer wieder nach der Lebendigkeit in den Schilderungen ihres universitären Lebens und ihrer Leistungsbiografie. Es schien, als wolle W. möglichst »unter dem Radar« und ihrer unauffällig ihre Leistung erbringen. Im Verlauf der Therapie wurde deutlich, welche inneren abwertenden, neidischen und strafenden Objektrepräsentanzen ihre Freiheit und Flexibilität einschränkten. Es schien eine »Bestrafungserwartung« vorzuliegen, die alle optimistischen oder hoffnungsvollen Impulse eindämmte. Ein inneres Bild der neidischen Mutter, das durch die reale Mutter auch aktuell noch aktiviert wurde, hemmte W.s libidinöse Sublimierungsmöglichkeiten (Freud, 1904–1905/1971, S. 105). Im Studium wurde das Bild der Außenseiterin reaktiviert. Diese Rolle hatte sie bereits in der Schule und in ihrer Familie erlebt. In der Schule wurde sie aufgrund ihrer ökonomischen Armut, der geringen sozialen Vernetzung und des wenig vorhandenen kulturellen Interesses der Eltern nicht beachtet, aktiv abgewertet oder besonders herausgestellt (u. a. wurde vor der gesamten Klasse mitgeteilt, dass der Förderverein bestimmte Geldbeträge für W.s Ausflüge etc. übernahm). In ihrer Familie konnte sie den Erfahrungsrahmen des Gymnasiums nicht teilen und erlebte diesbezüglich Desinteresse und Ablehnung. Progressive Bestrebun-
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gen (Hobbys, Freundschaften, Unternehmungen) wurden gehemmt bzw. behindert oder mit starkem Befremden und Ablehnung angesehen.
Bildungsweg Aus dieser Außenseiterposition erlebte sie ihre bisherige Bildungslaufbahn als beschwerlich und nicht selbstverständlich. Bereits in der Grundschule zweifelten ihre Lehrerinnen und Lehrer trotz ihrer guten Schulnoten eine gymnasiale Empfehlung an, und nur weil sich dieses Mal ihre Eltern engagierten, gelang es der Patientin, dennoch auf das Gymnasium zu gelangen. Die Zweifel der Lehrer gründeten hauptsächlich auf der prekären ökonomischen Lage der Eltern (ALG-II-Bezug). Während der Zeit im Gymnasium erhielt sie lediglich von einer Lehrerin eine Ermutigung, ein Studium aufzunehmen. Der restliche Verbund der Lehrer empfahl eine Banklehre, was auch von den Eltern unterstützt wurde. Frau W. sah sich nicht in der Lage, die elterlichen Wünsche direkt abzuweisen, sodass sie sich in einem Vorstellungsgespräch bei einer Bank so wortkarg, uninteressiert und durcheinander verhielt, dass ihre »Nichtpassung« szenisch deutlich wurde. In der Universität fühlte sie sich als Fremdkörper und isoliert, was im Verlauf der Therapie, insbesondere als sie mit ihrer Bachelorarbeit beschäftigt war, noch deutlicher wurde.
Soziologische Konzepte Habitussoziologie und Familie als Quelle des sozialen Kapitals Für eine soziogenetische oder sozioanalytische Perspektive liefert die Soziologie von Pierre Bourdieu (1930–2002) wichtige Analysewerkzeuge wie die Begriffe »Habitus« und »soziales und kulturelles Kapital«. Habitus ist ein griechischer Begriff, der bereits in den philosophischen Ethikanalysen von Aristoteles eine wichtige Rolle gespielt hat (Aristoteles, ca. 320 v. Chr./1985, 34 ff.). In der soziologischen Anwendung des Begriffs gewinnt er neue Bedeutungsschichten. In Pierre Bourdieus soziologischer Analyse nahm der Habitus eine umfangreiche und inten-
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sive Rolle ein. Für ihn bildet der Habitus eines Menschen oder sozialen Akteurs eine Instanz, die alltägliche Praxen und gesellschaftliche Strukturen verbindet. Habitus kann als eine Genese verschiedener Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen der Menschen im Alltag gesehen werden. Er strukturiert also unsere alltägliche Praxis. Andererseits ist der Habitus selbst kein biologisches oder natürliches Vermögen, sondern ein Produkt der Sozialisation in Kindheit und Jugend durch Familie, Schule und Umwelt. Daher ist der Habitus durch die gesellschaftlichen Strukturen bedingt. In diesem Sinne verfügt der Habitus sowohl über einen strukturierten als auch über einen strukturierenden Charakter. Mit »Habitus« beschreibt Bourdieu »Systeme von Wahrnehmungs-, Bewertungs-, und Handlungsschemata [, die es] ermöglichen […], praktische Erkenntnisakte zu vollziehen […
und] ohne explizite Zwecksetzung noch rationale Mittelberechnung Strategien hervorzubringen, die […] angemessen sind und ständig erneuert werden« (Bourdieu, dt. 1970/2001, 177 f.). Im Alltag agieren und reagieren wir also selten mit einer rationalen Überlegung, sondern eher mit einem intuitiven Bauchgefühl. Solange die Dinge im Alltagserleben nach unserem Sinne geschehen, fühlen wir uns gut und sehen keinen Grund, unsere Handlungen und Haltungen infrage zu stellen oder zu beurteilen. In seinen soziologischen Studien entdeckte Bourdieu einen erstaunlichen Aspekt unserer intuitiven Gefühlsentscheidungen: Sie sind gar nicht so beliebig, willkürlich oder individuell, sondern werden in Abhängigkeit vom jeweiligen »Kapital« beeinflusst. Das Erstaunliche daran ist, dass Menschen instinktiv und ohne irgendwelche Absprachen ähnliche Gefühle, Vorlieben, Geschmack oder Neigungen zeigen, wenn sie sich hinsichtlich ihres Kapitalvolumens bzw. der Kapital strukturen ähneln. Bourdieu definiert »Kapital« als Ergebnis »akkumulierte[r] Arbeit« (Bourdieu, 1979, dt. 1983/2012, S. 229), erweitert jedoch die Bedeutungsbereiche des Kapitals und betont neben seiner ökonomischen Form die sozialen und kulturellen Formen des Kapitals. Auch im sozialen Kapital (soziale Vernetzung, Stellung in der Gemeinschaft) steckt demnach »akkumulierte Arbeit«, die durch Rituale und Verpflichtungen erworben wird. Während man im ökonomischen Kapital meist die akkumulierte Arbeit noch im Blick hat, findet der Erwerb des kulturellen Kapitals ohne explizite Beachtung statt.
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Am Beispiel des Begriffs der Begabung wird dies sehr deutlich (Bourdieu, 1979, dt. 1983/2012, S. 232): Kommt ein Kind in die Schule und kann bereits lesen, wird dies häufig als ein »besonders begabtes« Kind eingestuft. Dabei handelt es sich nicht um eine »naturgegebene Begabung«, sondern um erworbenes, erarbeitetes kulturelles Kapital, das aufgrund der Präsenz von Büchern in der Familie oder einer besonderen Förderung durch die Bezugspersonen akkumuliert wird. Die Familie stellt nach Büchner (2006) und Brake (2006a) demnach einen primären Ort der sozialen Reproduktion und der Weitergabe des kulturellen Kapitals dar und ist als bedeutendste Quelle des sozialen Kapitals zu bewerten. Der Begriff Habitus hilft uns bei der Antwort auf die Frage, wieso wir häufig die Mitglieder einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht intuitiv einordnen können, ohne etwas über ihr ökonomisches, kulturelles oder soziales Kapital zu wissen. Das Individuum verfügt über unbewusste Verhaltensweisen, Vorlieben, Geschmack und Urteile, die sich automatisch und unbeabsichtigt an der Herkunftsfamilie und deren Schichtzugehörigkeit orientieren bzw. daran anpassen. In der oberen Schicht ist die Distinktion die prägende Eigenschaft des Habitus. Es gilt das Motto »Klasse statt Masse«. Freizeitaktivitäten oder Modegeschmack, welche der Allgemeinheit zugänglich sind, werden abgewertet. Wichtig ist dabei der Umstand, dass diese Prozesse nicht kognitive, d. h. bewusst gesteuerte Überlegungen voraussetzen, sondern als intuitives »Gefühl« oder »Geschmack« entstehen. In seinen empirischen Studien fand Bourdieu heraus, dass Menschen mit geringerem Kapital (auf allen Ebenen) einen Habitus der Notwendigkeit besitzen (Bourdieu, 1979, dt. 1982/1987, S. 585 ff.). Geringe Kapitalvolumen bedeuten in der Praxis knappe Ressourcen und Zeit, die darüber hinaus hauptsächlich für den Erhalt der materielle Fortexistenz verwendet werden müssen. Symbolspiele zum Zwecke der Distinktion als eine typische Eigenschaft der Oberschicht sind der unteren Klasse fremd, da ihnen schlichtweg keine Ressourcen und Zeit dafür zur Verfügung stehen. Daher können Menschen mit geringem Kapital keinen Lebensstil oder keinen Geschmack mit Ausrichtung auf einen Distinktions profit entwickeln. Ihr Geschmack richtet sich unbewusst nach dem, was für sie praktikabel und erschwinglich ist. Phantasievolles Design von Innenrichtung z. B. betrachten sie demnach auch nicht als »schön«
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oder »stilvoll«, sondern bezeichnen eher funktionale, praktische und pflegeleichte Richtung als »schön« (S. 830). Im Unterschied zur unteren Schicht orientiert sich die mittlere Schicht in der Regel an der oberen Schicht. Demnach richtet die mittlere Schicht ihren Geschmack und ihre bevorzugten Freizeitaktivitäten mit Blick auf die obere Klasse aus. Es bleibt aber der Habitus des Strebenden, da sie sich dennoch auch im Habitat der oberen Klasse nicht zu Hause fühlen kann. Eine Passung von Habitat und Habitus führt nach Bourdieu augenblicklich zu einem Gefühl der Zugehörigkeit, da »die Strukturen der Welt (oder eines besonderen Spiels) einverleibt sind« und die Person »schafft, was zu schaffen ist, ohne überhaupt nachdenken zu müssen, was und wie« (Bourdieu, 1997, dt. 2001, S. 183).
Wissenssoziologie und Dokumentarische Methode Bourdieu realisierte seine Habitusanalysen vorwiegend durch die Auswertung quantitativer Daten (insbesondere in den Studien von 1979 und 1984). Für eine weitere Differenzierung des Habitus (z. B. Zerrissenheit oder Transformation des Habitus) zeigte er jedoch in seiner späteren Forschungskarriere immer mehr Interesse an qualitativen Daten wie Einzelfallgeschichten und das Interview (Thiersch, 2014, S. 114). In seinem späten Werk »Das Elend der Welt« (Bourdieu et al, 1993, dt. 1997) verwendeten Bourdieu und Kolleg(inn)en für die Analyse ausschließlich Interviews mit Menschen, die in benachteiligten Stadtteilen wohnten. In diesem Werk formulierte Bourdieu auch einige Überlegungen zur Methodik. Vor allem interessierte er sich für die »symbolische Gewalt«3-Beziehung zwischen dem Forschenden und den Beforschten bei der Erhebung und Auswertung der Daten. Da dieses Thema auch in der Beziehung zwischen Therapeutin und Patient auftaucht, scheint 3 Pierre Bourdieu definiert Symbolische Gewalt als »jene sanfte, für ihre Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt, die im wesentlichen über die rein symbolischen Wege der Kommunikation und des Erkennens, oder genauer des Verkennens, des Anerkennens oder, äußerstenfalls, des Gefühls ausgeübt wird« (Bourdieu, 1998, dt. 2005, S. 8). Für eine übersichtliche Darstellung dieses Begriffs in der Soziologie von Bourdieu siehe Schultheis (2008).
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dieser Blickwinkel, d. h. dieser Forschungsansatz, hoch relevant für Psychotherapieforschung zu sein. Für eine qualitative Habitusanalyse bietet sich die auf der Wissenssoziologie von Karl Mannheim (1893–1947) basierende Dokumentarische Methode an. In den bildungssoziologischen Forschungen findet man fruchtbare Verwendungen dieser Methode für die qualitative Habitusanalyse (z. B. Schittenhelm, 2005; El-Mafaalini, 2012; van Essen, 2013, Thiersch, 2014). In der Literatur über die Dokumentarische Methode werden die großen Schnittmengen – trotz einiger Unterschiede – zwischen den Soziologien Mannheims und Bourdieus thematisiert (z. B. Bohnsack, 2014; Meuser, 2013; Thiersch, 2014). Sowohl die Wissenssoziologie Mannheims als auch die Habitussoziologie Bourdieus verwenden den »Habitus«-Begriff von Erwin Panofsky (1892– 1968) und beschäftigen sich mit der Überwindung der objektivistischen und subjektivistischen Positionierungen durch Objekt-Subjekt-, Akteur-Struktur- oder Wissen-Handeln-Beziehungen. Beide Soziologen legen auf den Praxisbegriff (bei Mannheim atheoretisches Wissen, bei Bourdieu »Sozialer Sinn«/»sense pratique«) als Ausgangspunkt einer soziologischen Analyse großen Wert. Eine weitere theoretische Überschneidung zwischen Mannheim und Bourdieu ist der reflexive Umgang mit der Position der Forschenden und deren Forschungspraxis. Für Mannheim ist die Standortgebundenheit oder Seinsverbundenheit der Forscher eine zentrale Annahme (Mannheim, 1929/2015, S. 229). Diese Annahme ist entscheidend für die Entwicklung einer Soziologie des Wissens statt einer bis dahin einflussreichen Philosophie des Wissens. Während Denken in der Philosophiegeschichte tendenziell als eine überzeitliche und universelle Leistung von besonderen Subjekten dargestellt wird, ist Denken in der Wissenssoziologie von der gesellschaftlichen Position der denkenden Personen oder Gruppen nicht trennbar. Wie alle gesellschaftlichen Akteure sind auch Forscher »Sonderfälle des Möglichen« (Bourdieu, 1980, dt. 1987/1993, S. 117). Sie sind nicht frei von habituellen Effekten ihrer sozialer Herkunft und Positionierung in der Gesellschaft, haben aber gleichzeitig – wie jeder andere Akteur – eine Möglichkeit, ihre habituellen Praktiken zu reflektieren und mit diesen auf verschiedene Weisen umzugehen. Während Bourdieu sich mit der »symbolischen Gewalt« durch das hohe kulturelle Kapital von Forschenden auseinan-
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dersetzt, liegt der Schwerpunkt der Dokumentarischen Methode beim Umgang mit der Seinsverbundenheit der Forschenden (hier auch Therapeut, Psychoanalytikerin) in der komparativen Auswertung. Kollektiv geteilte Erfahrungen einer bestimmten Gruppe, was Mannheim »konjunktiven Erfahrungsraum« nennt, basiert auf und produziert eine Form von Wissen, das nicht bewusst und sichtbar ist. Daher nennt Mannheim diese Form atheoretisches Wissen. Inkorporierte Handlungsorientierungen der Erfahrungsräume sind körperlich verinnerlicht (Przyborski u. Wohlrab-Sahr, 2014, S. 280). Wenn bestimmte Gruppen oder Milieus mit anderen über ihre realen Erfahrungsräume reden, können sie diese nicht lückenlos und passgenau ausdrücken. Mit anderen Worten: Es gibt es eine Differenz zwischen dem erlebten und dem berichteten Wissen über eine bestimmte Erfahrung. Gerade diese Differenz ist die theoretisch und methodologisch wegweisende Feststellung der Wissenssoziologie und der Dokumentarischen Methode: Wenn man nur das ausgedrückte bzw. kommunizierte Wissen bestimmter Gruppen sammelt und dies in einer verständlichen Weise darstellt, kann man nicht zu den tieferen Bedeutungsschichten des Gesagten gelangen und dieses reflexiv bearbeiten. Gerade jedoch die nicht kommunizierte Wissensform der Menschen, das »atheoretische« oder »konjunktive« Wissen, liefert besonders wichtige Erkenntnisse, weil diese Wissensformen »unmittelbar an die Alltagspraxis gebunden sind« (Bohnsack, 2014, S. 44). Eine wissenschaftliche Analyse trägt daher vielmehr der Ebene des konjunktiven bzw. habituellen Wissens von Gruppen oder Personen Rechnung. Da das konjunktive Wissen auf der Ebene der bewussten Darstellung nicht unmittelbar zutage tritt, muss in die Auswertung eine Phase der besonderen Reflexion eingebaut werden. In dieser Phase achtet man besonders auf die dokumentierten Spuren, die über die Intention der Person hinausgehen. Eine intensive Beschäftigung mit einer transkribierten Textpassage ermöglicht uns Zugänge zum impliziten Wissen und den konjunktiven Erfahrungsräumen der Personen durch die Analyse ihres Kommunikationsstils bzw. der Art und Weise ihres Ausdrucks.
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Soziogenetische Einordnung des Therapieverlaufs In diesem Abschnitt werden wir wichtige Aspekte des Behandlungsverlaufs herausgreifen und sowohl die psychoanalytische Interpretation als auch die soziologische Sichtweise auf das Gegebene anwenden. Das Material stammt aus der Transkription einer Behandlungsstunde und den Stundennotizen der Therapeutin.
Die Haltung des Umfelds zum Bildungsaufstieg Die Fremdheitsgefühle in der Familie in Bezug auf ihr Studium waren schon früh Thema in der Therapie. Frau W. erlebte ihre Familie als ablehnend, uninteressiert und missgünstig. Daher versuchte sie meist, wenig Kontakt zur Familie zu haben und finanziell unabhängig von ihr zu leben. Als sie dennoch sich durchrang, den Vater um Zuschuss zu einer neuen Winterjacke zu bitten, kam prompt die abwertende Antwort des Vaters: »Haste alles verprasst?« Auch der Bruder zeichnete ein Bild der entspannten, wenig arbeitenden Studentin, indem er ihr z. B. einmal an den Kopf warf »Ich arbeite ja richtig hart, und du studierst nur!« Ebenso zeigte die restliche Verwandtschaft wenig Interesse für das Leben von Frau W. Lediglich, wenn es für die eigenen Themenbereiche relevant wurde, nahmen sie Bezug darauf. So bemühte sich ein Cousin um den Kontakt, wollte jedoch nur, dass Frau W. ihren Studentenrabatt nutzen solle, um ihm günstiger eine Kamera zu beschaffen. Psychoanalytisch betrachtet, sah die Therapeutin darin Beispiele der wenig entwickelten ganzheitlichen und realistischen Objektwahrnehmung (Arbeitskreis OPD, S. 259, 433) innerhalb der Familie. Andere werden als Selbstobjekte (Kohut, 1987, zit. nach Boll-Klatt u. Kohrs, 2015, S. 414) für die eigenen Bedürfnisse und Interessen eingesetzt. Es herrscht eine Atmosphäre von Konkurrenz, Missgunst und Neid innerhalb des Familiensystems über mehrere Generationen hinweg. Die verwandtschaftlichen Beziehungen werden nur aufgrund der Funktionalität für die eigenen Interessen aufrechterhalten. Aus der soziologischen Perspektive lässt sich ein Habituskonflikt zwischen der Patientin und ihrer familiären Umwelt feststellen. Frau W. investiert in Bildung, die ihr in Zukunft neue ökonomische und soziale
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Möglichkeiten bieten kann. Dieses Investment ist jedoch relativ langfristig und kostet zunächst verhältnismäßig viel Zeit und Geld. Für die Familie von W., die im Unterschichthabitus lebt, steht die ökonomische Existenzsicherung im Mittelpunkt. Ein Klassenaufstieg durch Bildung, der einen Glauben an die Zweckfreiheit4 dieser Aktivität voraussetzt, ist ihnen fremd und unverständlich. In ihrer Klassenlage der finanziellen Unsicherheit ist diese Haltung eine wahrscheinliche, aber nicht die einzig mögliche Position: Frau W., die ebenfalls in dieser Lage der Unterschicht sozialisiert wurde, orientiert sich an der höheren Schicht und investiert ins Bildungskapital. Diese Positionierung findet jedoch in ihrer Umwelt keine Unterstützung oder Anerkennung. Ihre Bemühungen werden abgewertet und nicht als »echte Arbeit« gesehen, da sie in dieser Phase kein Geld verdient, sondern eher Geld ausgibt. Auch ihr Cousin sieht ihr Studentendasein funktionalistisch als einen wirtschaftlichen Vorteil im Falle eines Studentenrabatts. W. irritiert dieser Wunsch des Cousins, da es ihre soziale Lage als Studentin auf eine funktionalistische Möglichkeit reduziert und ihrer geistigen Bemühungen nicht anerkennt.
Mütterliche Missgunst/Klassenentfremdung Die Beziehung der Mutter zu W. ist ebenfalls geprägt von der oben beschriebenen Funktionalität. Die Patientin scheint von Geburt an die 4 Der Glaube an die Zweckfreiheit der Bildung ist paradoxerweise ein Teil der zweckgerichteten Investition in die Bildung. Die Logik dieses Paradoxes kann man nur verstehen, wenn man die besondere Logik des Bildungsfeldes im Blick hält. Bourdieu spricht im Zusammenhang der Bildung in Familie und Schule von der zweifachen Bedeutung der »Investition«: »im ökonomischen Sinn von Anlage – was sie objektiv immer ist, wenn auch als solche verkannt – und im psychoanalytischen Sinn von ›Besetzung‹ oder genauer, in dem von illusio, Glauben, Involvement, Einsatz im Spiel, der aus dem Spiel selbst hervorgeht und es wiederum antreibt« (Bourdieu, 1979, dt. 1982/1987, S. 151 f.). Ähnlich wie die Haltung von Kunstliebhabern zur Kunst kennt der Bildungsliebhaber keinen anderen Antrieb als seine Liebe zur Bildung, auch wenn er unbewusst und habituell um den ökonomischen Wert der Bildungsinvestition weiß. Anna Brake (2006b) zeigt in einem Vergleich zwischen zwei Familien mit verschiedenem kulturellem Kapital den größeren Bildungserfolg der »zweckfreien« Übertragung des kulturellen Kapitals innerhalb der Familie im Vergleich zur bewusst geplanten Vermittlung von Bildungszielen ohne den Spielsinn der Bildung (Brake, 2006b).
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Mutter unterstützt und stabilisiert zu haben. Diese schien nicht in der Lage, eigene Bedürfnisse denen ihres Kindes unterzuordnen. So verstand ich auch vor diesem Hintergrund den Umstand, dass die Mutter zunächst den Ballettunterricht unterstützte, dann jedoch plötzlich und willkürlich verhinderte, da sie sich weigerte, W. weiter dorthin zu fahren. Die Mutter schien unfähig, die eigene Belastung in Relation zum Bedürfnis der Tochter zu setzen und in einen gemeinsamen Raum zu transferieren, um eventuell einen Kompromiss auszuhandeln. Auch in Bezug auf ein geplantes Auslandsjahr in Kanada, das sich Frau W. mit 16 Jahren eigenständig über einen Verwandten, der bereits dorthin ausgewandert war, organisierte, stellte die Mutter plötzlich und überraschend ihre Wünsche über die Bedürfnisse von W. An ihrem Geburtstag eröffnete sie ihrer Tochter, dass das Auslandsjahr nicht stattfinden werde, da sie den Reisepass nicht beantragt habe und daher auch aus dem Visum nichts würde. Wieder stand die Entscheidung plötzlich im Raum, ohne dass die Mutter ihre Motive oder Gedanken formulierte. Es ist zu vermuten, dass sie über eine sehr geringe Selbstreflexion verfügt. In der Behandlung wurden diese beiden Szenen psychoanalytisch eingeordnet als weitere Belege für die Funktion von W. als stützendes und Halt gebendes Selbstobjekt für die Mutter: Passiv aggressiv verhindert die Mutter, dass sich W. zu weit von ihr entfernt (Kanada) bzw. aus der Lethargie des Elternhauses ausbricht (Hobby). Die soziologische Perspektive brachte jedoch einen zusätzlichen Blickwinkel. Es zeigte sich nämlich, dass die Mutter nicht alle Hobbys von Frau W. be- oder verhinderte. Der Schwimmunterricht bzw. die Mitgliedschaft im Schwimmverein mit regelmäßigen Wettkämpfen wurde von ihr (im begrenzten Rahmen) unterstützt. Bezieht man nun den Bourdieu’schen Begriff des Habitus mit ein, so kann die Weigerung der Mutter, den Ballettunterricht oder das Auslandsjahr zu unterstützen, auch als ein Ausdruck der Vermeidung von Klassenentfremdung sein. Sowohl Ballett als auch Auslandsaufenthalte sind Elemente der oberen Schichten, da sie als Teile der höheren Kultur und Bildung in der hiesigen Gesellschaft wertgeschätzt werden und nur mit größeren finanziellen Mitteln möglich sind. Das Schwimmen ist jedoch ein klassischer Vereinssport und demnach ein Hobby der Masse. Daher kann das Schwimmen – anders als das Ballett – von den Eltern W.s als weniger fremd
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wahrgenommen werden. Da die Familie keine ausgeprägte Bildungsaspiration und damit auch keine klare Orientierung an einem gesellschaftlichen Aufstieg hat, scheinen diese anderen Hobbys bzw. Pläne eher ein Befremden und eine unbewusste Ablehnung hervorzurufen.
Bild der Mutter Im Laufe der Therapie wurde die Therapeutin schwanger, und sowohl die Schwangerschaft selbst als auch die anstehende viermonatige Pause um die Geburt meines Kindes herum wurde natürlich Thema in der Behandlung. Da eine ausführliche Auseinandersetzung mit den psychodynamischen Prozessen, die dies in W. und der Therapiebeziehung auslöste, den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, beschränken wir uns ausschließlich auf eine psychoanalytische Interpretation und Einordnung der folgenden Textpassagen. Sie sind Transkripte aus einer Behandlungsstunde, die mit Einwilligung der Patientin zu Super visions- und Forschungszwecken auf Tonband aufgezeichnet wurden. Das Thema, mit dem W. die Stunde begann, behandelte die anstehende Pause, vor allem den Aspekt, dass ich bereits so früh wieder zur Arbeit zurückkehren würde. Sie äußerte ihre Erleichterung darüber, dass Mutterschaft auch möglich sei, ohne wie ihre Mutter oder Cousine die Arbeitstätigkeit aufzugeben. Ihr inneres Bild der Mutter, die ihr eigenes Leben für das Kind aufgibt und dennoch nicht glücklich und zufrieden in ihrer Mutterrolle ankommt, hatte bisher zu einer starken Ambivalenz bezüglich eines eigenen Kinderwunsches geführt. Meine Schwangerschaft führte dazu, dass zwischen ihr und ihrem Freund nun alternative Modelle von Elternschaft in den Diskurs kamen und sie sich mehr mit dem Thema ihrer eigenen Mutter in der sehr frühen Kindheit ihrer Tochter auseinandersetzte. »Weil auch in dem Unternehmen hat er [der Freund von W.] selber schon mal Praktikum gemacht und dann weiß er, dass das [Elternzeit des Vaters] geht, und hat auch gesagt, dass man das immer klären kann und auch, dass er das total verstehen kann, und weil ich ihm auch erklärt hab, ich will nicht wie so, ich hätte echt Angst, so zu werden wie meine Mutter, und dann nicht mehr arbeiten zu gehen und so und mich, mich, mir würde das auch schnell zu viel dann so.«
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Sie erlebte selbst, dass es ihr immer wieder schwerfiel, sich besonders auf Säuglinge einzulassen. Zu Beginn der Behandlung war dies schon einmal Thema geworden. Dabei stand jedoch mehr im Vordergrund, dass W. im Kontakt mit einem Baby mit ihren eigenen frühkindlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten zu sehr in Kontakt kam und die aufkommenden Neidgefühle gegenüber dem Baby schwer aushalten konnte. In diesem späteren Therapieabschnitt der Tonbandaufnahme stand jedoch ihre Identifikation mit der Mutter bzw. der elterlichen Rolle im Fokus. »Weil ich mir so denke … weiß ich nicht, ich hab jetzt auch schon auf mehrere, wirklich auch Kleinkinder, also Babys aufgepasst und, das waren ja nie meine eigenen, aber, da bin ich ja auch überfordert dann gewesen. Da wusste ich auch nicht manchmal: Schreit der jetzt? Was hat der jetzt? Ist die Windel voll oder hat der Hunger? Also, das, solche Sachen, die findet man ja dann als Mutter, denke ich mal, irgendwann heraus, aber bei meiner Mutter habe ich irgendwie immer noch so das Bild, dass die das nicht, nie richtig wusste. Was einem fehlt und manchmal weiß man’s auch nicht. Dann schreien die halt einfach.«
Es wird deutlich sichtbar, wie W. sowohl über ein inneres Bild der idealen Mutter (»Solche Sachen, die findet man ja dann als Mutter […] irgendwann heraus«) verfügt, die das Kind versteht und adäquat reagiert, als auch über das Bild der apathischen, hilflosen Mutter, die überfordert noch nicht einmal verstehen kann, ob das Baby überhaupt weint (»Schreit der jetzt?«). Beide stehen einander jedoch gegenüber, als würden sie sich gegenseitig ausschließen. Positive und negative Repräsentanzen des Objektes Mutter sind noch gespalten und wenig integriert (Kernberg, 1993, S. 89 ff.). Ein interessanter soziologischer Aspekt lässt sich hier in der Wortwahl W.s finden: Sie benutzt das Wort »herausfinden« für Entwicklungsmöglichkeiten einer guten Elternschaft. »Herausfinden« inkludiert meist auch das Assoziationsfeld Erlernen, Aneignen, Ausfindigmachen. Bei all diesen Aktivitäten ist ein Bildungsaspekt inbegriffen: Es scheint bei W. bereits ein Merkmal des strebenden Habitus vorzuliegen, in dem Sinne, als dass eine positive Mutterschaft erlernbar bzw. durch Wissen erreichbar sei. Der Habitus der Notwendigkeit, der das Verhalten ihrer Mutter hauptsächlich prägt, bezieht jedoch keine Aneignung von wissenschaftlichen Aspekten zur Kindeserziehung ein. Im Vordergrund steht dabei nur die notwendige Versorgung des Säuglings.
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Therapeutische Übertragungsbeziehung kann Integration gespaltener Objektrepräsentanzen/Habitustransformation erleichtern Auch in der Übertragungsbeziehung zeigten sich zunächst gespaltene Objektrepräsentanzen. So wurde die Therapeutin entweder als sehr mütterlich und versorgend erlebt oder als ablehnend und verurteilend. Mit der Schwangerschaft der Therapeutin und der dadurch in der Patientin aktivierten Beziehungserfahrung des Verlassenwerdens wurden häufig in einer Sitzung beide Objektrepräsentanzen zugleich spürbar. Fühlte sie Ärger über das Voranstellen des privaten Lebens und überhaupt die »Privatwerdung« der Therapeutin, erlebte sie auch gleichzeitig Angst um das mütterliche positive Objekt. In der Pendelbewegung zwischen dem Bild der vernachlässigenden Mutter-Therapeutin, die die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellt, und der überfürsorglichen, nur auf die Bedürfnisse von W. konzentrierten Mutter-Therapeutin, gelang ihr zunehmend eine Integration beider Anteile zu einem Objekt, das sowohl versorgend als auch selbstständig ist. Die Übertragungsbeziehung wandelte sich dementsprechend. Ich wurde nun eher als große Schwester gesehen, die einen anderen Lebensentwurf als die eigene Mutter lebt. »Das musste ich Peter dann auch mal erzählen [dass die Therapeutin drei Monate nach Geburt ihres Kindes wieder arbeiten wird]. Hab gesagt, das finde ich irgendwie klasse, dass man das so, weil ich hab ihm auch immer gesagt, wenn ich mal Kinder habe, dann will ich das nicht so. Ich könnte das auch nicht, ich müsste dann irgendwas dann wieder nach ’ner gewissen Zeit dann wieder machen.«
Eine soziogenetische Betrachtung schließt den Habitus der Therapeutin mit ein. Nicht nur auf der emotionalen Ebene, sondern auch hinsichtlich des kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapitals unterscheidet sich die Therapeutin von W.s Mutter. Sie ist eine Stellvertreterin der angestrebten Schicht. Indem W. sich von ihr aufgenommen fühlt und im therapeutischen Raum eine Anerkennung ihres Seins erlebt, findet ein Durchspielen oder Simulieren ihrer Habitustransformation statt. Der vermutete oder phantasierte Lebensentwurf ihrer Therapeutin wird dadurch ein Symbol des eigenen angestrebten neuen Habitus.
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Individuelle und klassenbezogene Einsamkeit An dem folgenden Auszug aus dem Stundentranskript lässt sich gut die Detailarbeit der dokumentarischen Methode erkennen. »Ich bin ja jetzt erst 22, ich plane das auch nicht und so, aber so, ich find das eigentlich schon wichtig, dass man sich darüber mal unterhalten kann, ja, und das, äh, dann, dann fühle ich mich auch sicherer, dann weiß ich, ich bin damit irgendwie alleine mit und so und ja.«
In der Stunde hörte die Therapeutin den Teilsatz: »Ich bin damit nicht irgendwie alleine mit« und interpretierte es als Feststellung der Identifikationsmöglichkeiten, die sie W. durch die therapeutische Beziehung zur Verfügung stellte. Gleichzeitig schien sich darin aber auch die Entwicklung abzuzeichnen, die W. in ihrer Beziehungsgestaltung in Partnerschaft und Freundschaft durchlaufen hatte: Es gelang ihr nun, mit ihrem innerem Erleben in den Austausch zu treten und dadurch das Gefühl der inhärenten Einsamkeit im äußeren Leben zu reduzieren. In der Nachbetrachtung und Beobachtung der Fehlleistung (Freud, 1941/1974, S. 49 ff.) lässt sich zusätzlich die Perspektive der Individuation einfügen: Im Familiensystem hat sich W. stets eher bedroht, eingeengt und in ihrer Entwicklung gehemmt erlebt, sodass es für sie sicherer scheint, komplett allein zu sein. Im Solitären besteht nicht die Gefahr der Vereinnahmung des Selbst durch wichtige Objekte (Erfahrung mit der Mutter). Der Begriff der klassenbezogenen Einsamkeit ist ein Versuch, die Erfahrung einer Person zu beschreiben, die eine Habitustransformation vornimmt. Sie fühlt sich der eigenen Schicht und der Ursprungsfamilie nicht mehr zugehörig bzw. strebt davon weg, ist jedoch auch nicht in die angestrebte Schicht eingeboren. Das Gefühl der Einsamkeit ist somit ein steter Begleiter im Voranschreiten der Habitustransformation. Der Mensch entfernt sich von dem Gewohnten und nähert sich dem begehrten Neuen an. Sein Habitus als körpergewordene Geschichte passt jedoch mehr zum Gewohnten, von dem sich der Mensch distanzieren möchte und weniger zum aktuell begehrten Habitat. Diese Gespaltenheit des Habitus führt zu Identitätskrisen und emotionalen Belastungen, die jedoch eine soziale Grundlage haben, auch wenn sie nur individuell erlebt werden.
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Depressive Stimmung – Habitustransformation als Selbstverrat »Ich glaub, das hat meine Mutter auch gar nicht so, also die, die (lacht kurz auf), da ertapp ich mich manchmal wieder, wenn sie dann sagt, ja, ihr geht’s nicht gut. Und wenn ich sie dann frage: ›Warum?‹ – also, dass haben Sie mich ja manchmal dann auch gefragt und ich wusste manchmal auch nicht, warum. Oder auch wenn jemand anderes gefragt hat: ›Warum geht’s dir denn nicht gut?«, dann war das dann einfach so’n Gefühl, was mich runtergezogen hat und wo ich mich schlecht gefühlt habe, aber ich konnte nicht sagen, warum, und das, also das kann sie immer noch nicht.«
Im Verlauf der Therapie reduzierten sich die Episoden plötzlich auftauchender depressiver Stimmungslagen von W. deutlich. Eigene Gefühle und Reaktionen auf Situationen nahm sie nun viel differenzierter und deutlicher wahr und konnte gut mit ihnen umgehen. Ihre Fähigkeit zur Affektwahrnehmung, Objekt-Subjekt-Differenzierung und Stabilisierung des eigenen Selbstwertes hatten deutlich zugenommen. Daher erlebte sie auch nicht mehr eine affektive Überflutung bzw. Affektansteckung, wenn sie mit ihrer Mutter telefonierte und ihr diese in einer depressiven Stimmungslage erschien. W. konnte nun gut zwischen den eigenen Gefühlen und denen der Mutter unterscheiden und die an sie herangetragenen Forderungen ohne zu starke Schuldgefühle zurückweisen. Dennoch zeigt der Subjektwechsel im letzten Satz der oben stehenden Passage (»aber ich konnte nicht sagen, warum, und das, also das kann sie immer noch nicht.«) die Brüchigkeit der Subjekt-Objekt-Differenzierung von Frau W. in ihrer Beziehung zur Mutter. Die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen ihr selbst und der Mutter zeigt sich im wörtlichen Sinne, da der Subjektwechsel im Satz ohne semantische Einordnung stattfindet. Klang im vorherigen Abschnitt noch eine absolute Ablösung vom Familiensystem an, lässt sich daran gut die Entwicklung hin zu einer bezogenen Individuation (Reich, Massing u. Cierpka, 2007, S. 23 f.) aufzeigen. Frau W. gelingt es, Delegationen und Verwicklungen des Familiensystems zu entdecken und von sich zu weisen, ohne dass sie aus dem Kontakt gehen muss. Aus der soziologischen Perspektive lässt sich die depressive Stimmungslage nicht nur als strukturelle Ich-Schwäche einordnen. Es zeigt sich darin vielmehr die Last der Habitustransformation, die immer auch mit einem Verlassen des habituellen Rahmens von Familie und Umwelt einhergehen muss. Durch dieses Verlassen des Habitus der ersten Sozia-
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lisationsinstanzen entsteht eine Entfremdung von Familie und Umwelt, die zu einem Gefühl des Verrats führen kann. Der Verrat kann sich dabei jedoch auch zusätzlich auf das Eigene in Form eines Gefühls des Selbstverrats ausweiten. Nicht nur ihre Familie verrät W., sondern auch die eigene Geschichte, die in ihrem Körper eingebettet ist. Dieser doppelte Verrat kann als ein Grund für die emotionale Belastung interpretiert werden. Das Gefühl des Verrats ist mit einer Identitätsbildung auf der tiefsten Ebene verbunden, sodass Phasen der völligen emotionalen Leere und Erschöpfung unvermeidlich scheinen. In der oben zitierten Passage ist es nicht zufällig, dass Frau W. diese Stimmung als »einfach so’n Gefühl« beschreibt: »[D]ann war das dann einfach so’n Gefühl, was mich runtergezogen hat und wo ich mich schlecht gefühlt habe, aber ich konnte nicht sagen, warum, und das, also das kann sie immer noch nicht.« Da dieses Gefühl durch das Auseinanderbrechen tiefster Grundlagen der Identitätsbildung entsteht, macht es die Betroffenen phasenweise ohnmächtig, auch wenn man die Entfremdungsprozesse rational erklären kann. Wenn diese Prozesse der klassenbezogenen Einsamkeit den Menschen nicht bewusst sind, wird die Macht des Gefühls umso stärker.
Fazit In der dargestellten psychoanalytischen Behandlung half die soziogenetische Perspektive deutlich in einer Entpathologisierung der Einsamkeits- und Unterlegenheitsgefühle der Patientin. Als wir die gesellschaftliche Perspektive des Bildungsaufstiegs als zusätzlichen Aspekt ihrer Schreibhemmung im Rahmen der Bachelorarbeit aufnahmen, trat eine spürbare Entlastung und Aufhebung der Lähmung auf, die einige Sitzungen auf mir und Frau W. gelegen hatte. Ihre fast panische Angst vor einem unwissentlichen Plagiat und das stundenlange Brüten über einzelne Sätze konnte nun auf die Angst davor, durch die Sprache als »Milieufremde« enttarnt zu werden, zurückgeführt werden. In der Folge fokussierten wir weniger die Selbstwertthematik, sondern mehr den Habituswechsel, wodurch sowohl in die Therapie als auch die Arbeit an der Bachelorarbeit mehr Bewegung kamen. Erst durch die Hinzunahme der soziologischen Ebene schienen manche
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Themen und unbewusste Motivlagen im Bewusstsein aufzutauchen: Schien W. zu Beginn ihr Studium als eine ausschließlich zweckmäßige, durchzuarbeitende Zeit mit dem Ziel, endlich einen »sicheren« Beruf mit ökonomisch höherem Status anzusehen, konnte sie sich im Verlauf der Behandlung immer mehr Zweifel an der Berufswahl erlauben. Es gelang ihr, sich von einer rigiden, unfrei erlebten, auf den Bildungsaufstieg ausgerichteten Haltung zunehmend zu befreien und stattdessen eine flexiblere, risikobereitere Haltung bezüglich ihrer beruflichen Laufbahn zu entwickeln. Hatte sie mit 16 Jahren bereits ihr »Erwachsenenleben« festgelegt, fing sie nun an, »pubertäre Zweifel« zu entwickeln. Dafür konnte sie jedoch im Tausch ihre depressive Lähmung loslassen, die bisher eine eigenständige und freie Entwicklung der Persönlichkeit gehemmt hatte. Es zeigt sich im dargestellten Beispiel deutlich, dass es in vielen psychotherapeutischen Behandlungen unabdingbar und fruchtbar ist, die soziologische Perspektive in die analytischen Überlegungen und therapeutischen Interventionen einfließen zu lassen.
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Thomas Abel
Von inneren Bildern zu Objektrepräsentanzen – Lebensstilanalyse und »Zentrales Beziehungs konfliktthema«
Zusammenfassung Die frühesten Kindheitserinnerungen, die in der »Lebensstilanalyse« nach Alfred Adler erhoben werden, können als zentrale und bedeutsame innere Bilder des jeweiligen Individuums aufgefasst werden. In ihnen bilden sich neben wichtigen Lebensthemen vor allem auch bedeutsame und typische Beziehungsmuster ab. Diese wiederum geben Aufschluss über die relevanten Objektbeziehungen eines Menschen, was die Auffassung nahelegt, dass Alfred Adler als ein Pionier der Objektbeziehungstheorien angesehen werden kann. Der Autor beschreibt das »Zentrale Beziehungskonfliktthema« Luborskys als ein Modell, das Adlers »Lebensstilanalyse« ergänzt und erweitert, woraus er ableitet, dass sich viele Auffassungen der Individualpsychologie in der modernen Objektbeziehungspsychologie wiederfinden. Veranschaulicht wird das Gemeinte anhand einer Fallvignette, den frühesten Lebenserinnerungen eines Patienten.
Für die Lebensstilanalyse nach Adler (1931/1979) spielen innere Bilder eine herausragende Rolle, nämlich die frühesten Lebenserinnerungen: »Es gibt keine ›zufälligen Erinnerungen‹; aus der unberechenbar großen Anzahl von Eindrücken, die den Menschen treffen, wählt er nur jene als Erinnerungen aus, von denen er – wenn auch nur dunkel – spürt, daß sie für seine Entwicklung wichtig waren. So stellen seine Erinnerungen seine ›Lebensgeschichte‹ dar, eine Geschichte, die er sich selbst erzählt, um sich zu warnen oder zu trösten, sich die Ausrichtung auf sein Ziel zu erhalten und sich darauf vorzubereiten, mit Hilfe verflossener Erfahrungen der Zukunft mit einem bereits erprobten Handlungsstil zu begegnen« (Adler, 1931/1979, S. 65). In einer unveröffentlichten »Handreichung zur individualpsychologischen Diagnostik, Beratung und Therapie« (o. J.) in der Bibliothek des Alfred Adler Institutes Berlin fand ich vor vielen Jahren die Empfehlung, nicht weniger als drei und nicht mehr als sechs der frühesten Kindheitserinnerungen zu erheben. Sechs frühe Szenen bieten ausreichend Material, um erste suchende Schritte,
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Probehandlungen und schließlich die Konstellierung des Lebensstils nachvollziehen zu können, sodass ich mit dieser Anzahl gute Erfahrungen gemacht habe. Die frühesten Lebenserinnerungen bilden ab, welche Art von Beziehungen zur Umwelt, zu seinen Bezugspersonen ein Kind für typisch für die Welt und das Leben hält. »Hieraus leitet sich die individuelle psychosoziale Dialektik des Lebensstils ab, d. h. die Meinung des Individuums über sich selbst und die Umwelt. Damit entspricht der Begriff des Lebensstils der Selbst- und Objektrepräsentanz in der Psychoanalyse« (Lehmkuhl u. Lehmkuhl, 1989, S. 97). Diese Repräsentanzen bilden frühe Dyaden von Selbst und Objekt ab, die ein spezifischer Affekt verbindet (Kernberg, 2002). Die anderen, die Objekte, spielten für Adler immer eine herausragende Rolle, sei es bei den frühesten Bildern unseres Lebens, bei seinem Konzept des Lebensstils als Stellungnahme zur Gemeinschaft oder seiner Befassung mit Geschwisterkonstellationen. Individualpsychologie stellt deshalb eine frühe Form der Objektbeziehungspsychologie dar, vielleicht sogar die erste dieser Art. Hingegen hatte sich Freud, beginnend 1897 in einem Brief an Fließ, spätestens aber mit seiner Arbeit »Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen« (Freud, 1905/1999) von der Verführungstheorie und damit dem Einfluss des realen anderen auf die psychische Entwicklung abgewandt. Vierzig Jahre standen ausschließlich innere Konflikte zwischen den Instanzen sowie die Fantasiewelt im Zentrum der Theoriebildung in der Psychoanalyse. Erst durch die unabhängigen Objektbeziehungstheoretiker kehrte der reale andere Adlers in Gestalt des Objektes in die Psychoanalyse zurück. »Bis Mitte der achtziger Jahre hatte sich die Objektbeziehungstheorie in dieser oder jener ihrer zahlreichen Ausprägungen […] als psychoanalytisches Modell mit der weltweit höchsten Akzeptanz durchgesetzt. In den USA wurde die Ich-Psychologie durch ›einheimische‹ Versionen der Theorie (Kohut, Kernberg) und britische Importe (Klein, Winnicott) an den Rand gedrängt; die britische Version eroberte die Vorherrschaft in weiten Teilen Europas, während sowohl die nordamerikanischen als auch die britischen Schulen in modifizierter Form die überaus lebendige psychoanalytische Bewegung Lateinamerikas infiltrierten. […] Von der Vorherrschaft der Objektbeziehungstheorie ausgenommen sind lediglich die französisch sprechenden Länder, insbesondere Frankreich und der französisch sprechende Teil Kanadas. Hier hat sich auch während der
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letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine spezifische Spielart der freudianischen Theorie behaupten können.« (Fonagy u. Target, 2015, S. 158). Die Objektbeziehungspsychologie entwickelte differenzierte Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung sowie Ätiologie und Behandlung psychischer Krankheiten. Eines dieser Konzepte möchte ich mit den frühesten Lebenserinnerungen verbinden, nämlich die Theorie vom zentralen Beziehungskonfliktthema (ZBKT) von Luborsky (1999). Sie kann das Verständnis der frühesten inneren Bilder verfeinern und erweitern. Das soll anhand einer Fallvignette eines meiner Patienten illustriert werden. Ich möchte ihn Martin nennen, aber keine weiteren Angaben zu seiner Anamnese oder Symptomatik machen. Das innere Bild, das sich von ihm beim Zuhörer formiert, soll lediglich über seine inneren Imagines entstehen.
Die erste Lebenserinnerung: Durchfall In Martins frühester Lebenserinnerung ist er anderthalb Jahre: »Ich habe Durchfall, ein Gefühl von Loslassen, das sich erst angenehm warm, dann feucht und kalt anfühlt. Es gibt dazu kein Bild, sondern nur eine Empfindung, ein Übergang von Erleichterung zu etwas Unangenehmem.« Da wir uns an eine so frühe Zeit in unserem Leben nicht erinnern können, handelt es sich hier, wie bei allen Erinnerungen, um eine gemachte, rückblickend konstruierte Erinnerung (Adler, 1931/1979, S. 65), eine Spiegelung gegenwärtiger Überzeugungen, etwas, das ein Mensch im Nachhinein konstruiert und in diese Zeit zurückverlegt hat. Die Szene entwickelt sich vom Plus zum Minus, von warm zu kalt, von Loslassen und Erleichterung zu Pein und einem Gefühl, im wahrsten Wortsinn in der Scheiße zu sitzen, von Macht und Kontrolle, etwas loslassen zu können, zu Ohnmacht, Hilflosigkeit und Angewiesensein. Das Lebensstiltypische könnte man vielleicht so formulieren: Ich bin klein und bedürftig. Wenn ich denke, Macht zu haben und etwas allein tun zu können, bleibe ich allein auf dem Problem sitzen. Innerhalb der Objektbeziehungspsychologie hat Luborsky (1999) eine Methode entwickelt, um das zentrale Beziehungskonfliktthema aus derartigen Szenen herauszufiltern. Dazu sucht man in einer solchen Beziehungsepisode nach dem Wunsch des Protagonisten (W), der
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Reaktion des Objektes (RO) sowie der Reaktion des Selbst (RS) auf die Reaktion des Objektes. Die früheste Lebenserinnerung enthält etwa den Wunsch, unabhängig zu sein und Selbstkontrolle zu haben, indem Martin selbst bestimmen kann, wann er aus seinem Körper etwas herauslässt. Das Objekt ist dabei abwesend, nicht verfügbar, nicht unterstützend. Das Selbst fühlt sich zwar unabhängig, aber Autonomie wird mit etwas Unangenehmem verbunden, nämlich Alleinsein und Scheitern, mit Hilflosigkeit, Angst und Beschmutztsein. Anamnestisch ist bekannt, dass der Patient vom 9. bis 16. Lebensmonat Durchfall hatte, weshalb seine Eltern in Sorge waren. Versteht man Durchfall als psychosomatisch oft mit unbewältigter Angst verbunden, könnte der Wunsch in dieser Szene ein noch viel basalerer sein: Das, was Martin loswerden möchte, ist nicht nur Kot, sondern es sind auch undifferenzierte und unverdauliche Gefühle. Bion (1992) nannte sie Beta-Elemente, die von der Mutter aufgenommen, contained und in verdaulicher Form zurückgegeben werden sollten: die Alphafunktion. So gesehen wäre der Wunsch in der Szene einer nach Containing primitiver, vom Selbst noch nicht verwertbarer Gefühle. Die Reaktion des Objektes ist negativ, weil es das Ausgestoßene nicht annimmt und nicht bei seiner Verarbeitung hilft. Das Objekt ist abwesend. Das Selbst bleibt auf dem Unverdaulichen sitzen und muss damit irgendwie allein fertig werden. Mit Kohut (2016) könnte man angesichts des in diesem Fall abwesenden Objektes davon sprechen, dass sich die Mutter nicht als Selbstobjekt zur Verfügung stellte. Fonagy, Gergely, Jurist und Target (2018) würden sagen, dass ein feinfühliges und markiert spiegelndes Objekt fehlte, das bei der Differenzierung zwischen Selbst und Objekt und der Repräsentation von Affekten behilflich ist. Insofern verwundert es nicht, dass der Patient in seinem Leben in einigen Affektbereichen immer wieder Schwierigkeiten hatte, sich zu spüren und seine Gefühle wahrzunehmen.
Die zweite Lebenserinnerung mit anderthalb Jahren: Zwieback »Ich liege in meinem Gitterbett, Mutter will duschen, die Schwester schreit. Mutter gibt mir einen Zwieback. Das Krachen in meinem Mund erinnere ich bis heute. Es hat etwas Beruhigendes, zu kauen und macht
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ein warmes Gefühl im Bauch, aber lieber wäre ich berührt und von Mutter in den Arm genommen worden. Bis heute kaue ich gern Zwieback.« Auch hier finden wir eine Bewegung vom Plus zum Minus, vom Wunsch, in den Arm genommen zu werden, hin zum Abgespeistwerden, von der Sehnsucht zur Enttäuschung. Die Haltung von Martin, die er hier einnimmt, könnte man so formulieren: Ich bin klein und machtlos und deshalb werde ich abgespeist. Anschaulich wird in dieser Szene, dass ein Mensch nicht nach Triebbefriedigung sucht, sondern nach dem Objekt, was Fairbairn (1944/2007) formulierte und was einer der zentralen Sätze der Objektbeziehungspsychologie wurde. Wenden wir das ZBKT auf die Erinnerung an, finden wir den Wunsch sehr deutlich formuliert: Es ist ein oraler Wunsch nach Körperkontakt, Umarmtwerden und Geborgenheit angesichts einer stressenden, lauten Umgebung, einer schreienden, ebenfalls bedürftigen Schwester. Das Objekt Mutter reagiert zunächst scheinbar positiv, indem sie an sein Bett kommt, gibt dem Kind dann aber nur einen Zwieback, statt es auf den Arm zu nehmen. Die Reaktion des Selbst ist Enttäuschung. Eine Verschiebung oraler Wünsche nach Berührt- und Gehaltenwerden auf Lebensmittel wird initiiert. Fiktional formuliert, wird sich das Selbst vorgenommen haben, sich mit einer Sache zufrieden zu geben statt mit einem ersehnten Kontakt, mit einer Triebbefriedigung statt mit einem Objekt. Nicht nur Martin selbst verbindet sein Leben lang eine beruhigende Wirkung mit Zwieback. In einem speziellen ZBKT-Interview bittet man den Patienten, sich Szenen einfallen zu lassen, in denen eine andere Person vorkommt. In der ersten Szene, die Martin spontan einfiel, kam seine 7-jährige Tochter am Sonntagmorgen in die Küche und bat um ihr I-Pad, der 11-jährige Sohn folgte ihr und wollte einen Kakao. Beide verschwanden damit in ihr Zimmer: Beide wünschen sich bereits, abgespeist zu werden. Objektdyaden werden hier transgenerational weitergegeben.
Die dritte Lebenserinnerung mit drei Jahren: Im Fluss Im dritten Lebensjahr verortet Martin folgende Erinnerung: »Im Urlaub schwamm ich mit Onkel Karl, dem aufregendsten Mann in meinem Leben, und meiner Mutter auf einem Fluss. Wir saßen auf dem aufgeblasenen Luftschlauch eines Traktors, strampelten, spritzten mit dem
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Wasser und ließen uns die Strömung hinuntertreiben. Vater, die Tante und meine Schwester standen auf dem Steg. Vater schaute besorgt, ob das gut geht. Ich hatte das Gefühl neuer Räume, ein bisschen Angst, ich musste mich verlassen.« In dieser Szene gibt es eine Entwicklung vom Minus zum Plus, von Angst und Sorge zu ausgelassener Lebensfreude, Mut und Expansivität an der Seite des starken Onkels, auf den er sich verlassen kann und muss. In Bezug auf das ZBKT finden wir den Wunsch, wie ein anderer zu sein, frei und stark, sich mit dem Onkel zu identifizieren. Die Reaktion des Objektes Onkel ist positiv: Er nimmt Martin mit und an, bezieht ihn ein, ist stark und verantwortlich. Ein anderes Objekt, der Vater auf dem Steg, reagiert ängstlich und besorgt. Auch mit diesem Objekt ist Martin identifiziert, da er sich auch ängstlich fühlt. Die erste Lebenserinnerung zeigt uns, dass er um die Gefahren von Autonomie und Expansivität wusste. Die hier dominierende Objektbeziehung ist aber die zum Onkel: Sie verhilft ihm dazu, Angst und Sorge zu überwinden. Im späteren Leben von Martin finden wir beide Objektdyaden: Zeiten der Identifizierung mit dem ängstlichen Vater, durch die er viel zu lange in Depressivität und Abhängigkeit verharrte, aber auch Zeiten des Mutes und der Expansivität, in denen er den sicheren Hafen verließ und sich vom wilden und gefährlichen Fluss des Lebens davontragen ließ, etwa als er allein durch Südamerika reiste.
Die vierte Lebenserinnerung mit fünf Jahren: Einschulungsuntersuchung »Meine Sehbehinderung wurde festgestellt. War ich vorher ein kraftvoller, anstrengender Bruder für meine ein Jahr ältere Schwester, war das ein Dämpfer, der mir die Beine weggezogen hat. Ich hatte das Gefühl, irgendwas geht total schief, was auch an Mutters Gesicht lag. Sie weinte, war unsicher, hilflos und ängstlich. Die Ärztin wirkte unangenehm berührt, dass sie das jetzt kommunizieren muss, sodass sie mechanisch und sachlich sprach – wie ein Eisfach.« Diese Szene entwickelt sich vom Plus zum Minus, von kraftvoller Stärke, die es selbst mit der größeren Schwester aufnehmen kann, hin zu Schwäche, Angst und Ohnmacht. Die innere Stellungnahme zu die-
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ser Situation könnte sein: »Ich bin krank und machtlos und muss allein damit fertigwerden, weil sie mit mir überfordert sind.« Als Wunsch vermute ich in dieser Beziehungsepisode, Mitgefühl, Beistand und Ermutigung zu bekommen. Die beiden Objekte in der Szene vermitteln keine Unterstützung, haben kein Mitgefühl, denn sie sind mit sich selbst und ihren Gefühlen beschäftigt, Mutter mit ihrer Angst und die Ärztin mit ihrer medizinischen Ohnmacht. Die Reaktion des Selbst ist verwirrt, ängstlich, traurig und hilflos. Es gibt kein Containing der starken Gefühle des Kindes, keine Ersatzbefriedigung, wie durch den Zwieback, keine Ermutigung, wie durch den Onkel, nicht einmal ein eigenes Dazutun, wie beim Durchfall. Die weggehauenen Beine symbolisieren das Ausweglose der Szenerie. Wir ahnen, dass es lange dauern wird, bis Martin seine Sehbehinderung wird akzeptieren können – mangels unterstützender innerer Objekte. Sicher hat er mich als sehbehinderten Therapeuten nicht umsonst ausgewählt, sondern erhofft sich eine Identifikationsmöglichkeit. Wie Onkel Karl soll ich ihm zeigen, wie man in dem gefährlichen Fluss schwimmt und auch noch Vergnügen daran findet. Übrigens reagieren Eltern, deren Kinder sehbehindert oder blind werden, oft wie die Mutter oder die Ärztin in dieser Erinnerung. Die Kinder haben dann nicht nur keine Unterstützung bei der Bewältigung ihrer starken, beunruhigenden Gefühle, sondern werden überdies konfrontiert mit heftigen Ängsten oder Schuldgefühlen ihrer Eltern oder mit Gefühlskälte, einem »Eisfach«. Das erschwert die Verarbeitung dieses oft traumatischen Einschnittes im Leben zusätzlich. Auch Psychotherapeuten reagieren teilweise ähnlich wie die beiden Objekte in dieser Episode, wenn ein sehbehinderter oder blinder Patient zu ihnen kommt: Hilflos und ängstlich, wie die Mutter, oder kühl und sachlich, wie die Ärztin. Hosemann (1993) beschreibt das in seiner feinsinnigen Arbeit als typische Gegenübertragungsreaktion gegenüber Menschen mit einer Behinderung.
Die fünfte Lebenserinnerung mit sechs Jahren: Die Wunde »Meine Schwester und ich kamen vom Turnverein zurück nach Hause. Auf dem Weg ärgerte und foppte ich sie so lange, bis sie mir kurz vor unse-
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rer Haustür wütend ihren Turnbeutel auf den Kopf schlug. Darin war ihr Schlüssel, sodass ich am Kopf blutete. Ich sehe Mutters liebevolle Hände, wie sie die Wunde versorgt vor mir, spüre das warme Wasser auf meinem Kopf. Vater hörte ich mit meiner Schwester schimpfen. Sonst schimpfte er immer mit mir, weil ich meine Aufgaben nicht richtig erledigte. Jetzt war ich das Opfer und genoss es, die ganze Aufmerksamkeit zu haben. Ich weiß nicht, ob es Liebe war – und Mutter mich toll fand – oder Mitleid.« Diese Szene entwickelt sich vom Minus zum Plus: Am Beginn attackiert der Patient seine Schwester, ein überlegenes, beneidetes, unversehrtes großes Geschwister. Er provoziert sie, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, rächt sich für ihre Bevorzugung durch die Eltern und dafür, dass sie gesund ist. Er erlebt sich als unterlegen, von der Schwester als nervend abgewiesen. Nachdem sie ihm eine Wunde geschlagen hat, fühlt er sich überlegen: Er genießt Mutters Aufmerksamkeit und freut sich an der Bestrafung der Schwester. Ein Minderwertigkeitsgefühl hat er in Überlegenheit verwandelt. Der Preis dafür ist eine kleine Wunde am Kopf und der Verdacht, es könnte keine Liebe sein, was Mutter ihm entgegenbringt, sondern nur Mitleid. Aber mehr kann er offenbar von den Menschen nicht erwarten. Das zentrale Beziehungskonfliktthema besteht aus dem Wunsch nach Interesse und Aufmerksamkeit von der Schwester und der Mutter. Ein Objekt, die Schwester, reagiert ablehnend und wütend, das andere Objekt, die Mutter, mit Mitleid und Fürsorge. Das Selbst fühlt sich angenommen. Es hat einen Weg gefunden, die Aufmerksamkeit eines Objektes auf sich zu ziehen.
Die sechste Lebenserinnerung mit sieben Jahren: Ausrutscher »Auf dem Schulhof war eine Pfütze eingefroren und sah ganz braun aus. Ich stellte meinen Ranzen beiseite und schlitterte, fiel aber schmerzhaft auf den Hinterkopf, sodass ich Sterne sah. Als ich nach Hause kam, erbrach ich mich. Mutter steckte mich ins Bett und umsorgte mich, was sich geborgen anfühlte. Ich war auch stolz, weil ich ein Abenteuer bestanden hatte.« Die Bewegung in dieser Szene einzuschätzen, fällt nicht ganz leicht. Ich denke aber, dass sie letztlich vom Minus zum Plus geht. Am Beginn
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stehen Abenteuerlust und Spielfreude, aber es ist niemand da, der Martin dafür bewundern und seine Überlegenheit und Mächtigkeit anerkennen könnte. So ungewöhnlich, wie es ist: Der Schulhof ist leer. Dort kann er die ersehnte Bewunderung nicht finden. Aber er hat bereits die Erfahrung gemacht, dass er Mutters Aufmerksamkeit finden wird, wenn er verwundet nach Hause kommt. Das Erbrechen unterstreicht die Schwere seiner Verletzung. Vielleicht drückt es aber auch das Gefühl aus, dass es im Wortsinn zum Kotzen ist, nur auf diese Weise Aufmerksamkeit zu bekommen. Mutter ist denn auch nicht stolz auf ihn, bewundert nicht das, was er alles kann, sondern steckt ihn ins Bett, wie ein kleines, krankes Kind. Nur in seinem Inneren, in seiner Fantasie erlebt er den gesuchten Stolz seiner Mutter. Beide Gefühle werden sich für ihn miteinander verbinden und zum Verwechseln ähnlich anfühlen, auch wenn sie eigentlich grundverschieden sind. Im Sinne des ZBKT könnte man als Wünsche formulieren, Bewunderung zu erlangen, Erfolg zu haben, zu gewinnen. Zunächst gibt es keine Objekte, die darauf reagieren könnten. Vielleicht drückt der leere Schulhof aber auch die Erfahrung aus, bei seinen Mitschülern keine Bewunderung hervorrufen zu können, von ihnen ignoriert zu werden. In der Erinnerung sind sie Luft für ihn, wie er für sie Luft war. In der Mutter findet er dann endlich ein Objekt, das mit Mitleid und Fürsorge reagiert. Seine Reaktion darauf ist, das Mitleid als Bewunderung zu nehmen, als würde Mutter die Wunden eines im Kampf verletzten Drachentöters pflegen und ihn für seine Wunden bewundern. Es verwundert nicht, dass Martin später zu Partnerschaften neigte, die wir als oral-kollusiv bezeichnen würden. Darin spielten erotische Bewunderung, Liebe und Sexualität kaum eine Rolle. Es ging vielmehr um gegenseitige Hilfe und Befürsorgung und wechselseitiges Mitleid, das leidenschaftliche Liebe ersetzen musste. Die Partnerschaften muteten an wie Hänsel und Gretel, die Hand in Hand durch einen bedrohlichen Wald gehen und sich beim Bestehen gefährlicher oraler Versuchungen gegenseitig helfen, aber noch weit entfernt sind von Aschenputtels Schwärmereien. Der Wunsch, Erfolg zu haben und berühmt zu werden, ist erhalten geblieben. Martin träumt davon, ein berühmter Schriftsteller zu werden, ohne aber seine Entwürfe abschließen und fertige Geschichten präsentieren zu können. Die Resignation, auf dem Schulhof wird wieder nie-
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mand sein, der seine Taten bewundert, ist sehr spürbar. Auch in seiner Therapiegruppe gelang es ihm bisher noch nicht, die Bewunderung der anderen Gruppenmitglieder zu erregen. Auch hier muss er sich bisher noch mit Mitgefühl zufriedengeben.
Lebensstilformulierung Über die sechs frühesten Lebenserinnerungen scheint eine Suchbewegung abzulaufen: Die erste Erinnerung enthält ein Höchstmaß an Einsamkeit, Ohnmacht und Nichtgehörtwerden. Es scheint, als gäbe es kein Mittel, der inneren Not zu entkommen, weder durch das Herbeirufen eines anderen, noch innerlich durch Fantasie. Auf dem, was Martin körperlich und affektiv loswerden wollte, bleibt er sitzen. In der zweiten Szene bekommt er immerhin einen Zwieback, eine Abspeisung, aber besser als nichts. Die dritte Szene bietet das erste Mal einen Ausweg: Wenn ich so ein Held sein könnte, wie der Onkel, würde ich mich stark und mächtig fühlen. Die gerade gewonnene Idee wird durch die Diagnose der Sehbehinderung zunichte gemacht. War er eben noch der starke und aktive Bruder, verliert er sehr symbolisch in der Erinnerung ausgedrückt den Halt, indem es ihm die Beine weghaut. Ohnmacht, Alleingelassensein und Angst sind so groß, wie am Anfang im ersten Bild. Ein neuer Weg muss gefunden werden. Er tut sich in der Identität des Opfers auf. Die Platzwunde am Kopf in der fünften Szene bringt die ersehnte Zuwendung, gleichgültig, ob diese nun aus Liebe und Bewunderung oder Mitleid motiviert ist. In der letzten Szene scheint sich dieser Ausweg zu verfestigen. Nun ist keine Schwester mehr nötig, sondern der Patient begibt sich selbst auf das Glatteis und bekommt am Ende Mutters Mitleid. Vielleicht könnten wir den Lebensstil, den er hier für sich gefunden hat, so ausdrücken: »Ich bin klein, schwach, ohnmächtig und unterlegen. Ich würde gern ein starker Held sein, stark und überlegen. Das erreiche ich, wenn ich das Mitleid anderer auslöse, weil ich es als stille Bewunderung für die Abenteuer nehme, die ich bestanden habe und von denen meine Blessuren zeugen.« Vieles in Martins Leben lässt sich dem zuordnen, wenngleich nicht alles – auch dies entspricht dem, was Adler allgemein als Lebensstilanalyse (1912/1997, S. 119) konzipierte.
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So ist Martin mit seiner Frau über die Sorge verbunden, während sie kein Verständnis und kein Interesse für seine Träume hat, Schriftsteller zu werden und ganz groß herauszukommen. Seine Großartigkeit und Überlegenheit kann er sich nur in seiner Fantasie ausmalen. Real versagt ihm seine Frau auch dann ihre Anerkennung, wenn er im Alltag etwas gut hinkriegt.
Zentrales Beziehungskonfliktthema Um das Zentrale Beziehungskonfliktthema zu formulieren, schlägt Luborsky (1999) vor, alle geschilderten Beziehungsepisoden nach ihren Wünschen (W), Reaktionen des Objektes (RO) und Reaktionen des Subjektes (RS) zu untersuchen. Das, was am häufigsten vorkommt, bildet das zentrale Beziehungskonfliktthema. Auf diese Weise kann man eine Therapiesitzung untersuchen, indem man alle Situationen heraussucht, die vom Patienten geschildert wurden, in denen mindestens eine andere Person vorkommt. Im ZBKT-Interview fordert man den Patienten auf, sich Situationen in den Sinn kommen zu lassen, in denen mindestens ein anderes Lebewesen vorkommt, ein Mensch, aber auch ein Tier. Dabei kommen meist um die zehn Beziehungsepisoden zusammen. Sind sich alle zehn Szenen sehr ähnlich, würden wir ein nur mäßiges Integrationsniveau des Selbst vermuten, das nur über wenige Interaktionsmuster verfügt, die starr und unflexibel in allen Lebensbereichen eingesetzt werden müssen. Bei gut integrierten Menschen finden wir hingegen eine größere Vielfalt von Mustern und Themen. Empirische Untersuchungen über den Therapieverlauf ergaben, dass die Wünsche (W) relativ gleich bleiben, während die Reaktionen der Objekte sich am stärksten ändern, im Sinne von weniger Zurückweisung, sowie die Reaktionen des Selbst, die positiver ausfallen. Angewendet auf die sechs frühesten Lebenserinnerungen von M artin finden wir drei unterschiedliche Interaktionsmuster: In zwei Episoden (Durchfall und Einschulungsuntersuchung) geht es um eine schizoide Thematik, um Containing. In der Zwiebackszene dominiert ein oraler Konflikt, in den anderen drei sind es phallische Wünsche nach Bewunderung und Stärke. Daraus könnte man auf eine depressiv-hysterische Persönlichkeitsstruktur mit Frühstörungsanteilen bei der Affektver-
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arbeitung schließen, bei insgesamt recht gutem Integrationsniveau. Beruflich wechselte er in seiner Biografie zwischen helfenden Tätigkeiten und Versuchen, als Schauspieler Fuß zu fassen, d. h. Arbeiten, die eher zu den depressiven oder den hysterischen Strukturanteilen passten. Nun komme ich zu den Bestandteilen der sechs Beziehungsepisoden, um eine Formulierung für das ZBKT zu finden. Der am häufigsten auftretende Wunsch (W) ist der nach Anerkennung, Interesse und Bewunderung. Er kommt in den Episoden Fluss, Wunde und Ausrutscher vor. In der Flussszene reagieren die Objekte positiv (RO): Der Onkel hat Mut und Stärke, Mutter bewundert den Onkel und Martin. Der ängstliche Vater, die Konkurrentin Schwester und die Tante sind an Land geblieben und vom gemeinsamen Spaß ausgeschlossen. In den anderen beiden Szenen reagiert das Objekt nicht mit der ersehnten Bewunderung, aber immerhin mit Aufmerksamkeit und Mitleid. Als Opfer und verwundeter Held steht Martin im Mittelpunkt. Als zentrales Beziehungskonfliktthema könnte man daher folgendes vermuten: Ich wünsche mir Anerkennung und Bewunderung (W). Im Schatten eines starken, schillernden Mannes kann ich diese auch bekommen (RO), was mich glücklich macht (RS). Allein auf mich gestellt, bekomme ich zumindest Mitgefühl und Sorge (RO), womit ich mich begnüge und abspeisen lasse (RS). Diese Formulierung ist derjenigen des Lebensstiles sehr nah. Mit beiden Methoden kommt man zu ähnlichen Ergebnissen, was für die Parallelen einer individualpsychologischen und einer objektbeziehungstheoretischen Perspektive spricht. Die einzelnen Dyaden, die sich im ZBKT abbilden, sind jedoch eine wichtige Ausdifferenzierung, denn nicht alle Lebensbewegungen eines Menschen lassen sich unter einem Motto gut vereinen, wenn man sie nicht verkürzen will. Die Dyade mit dem Onkel findet sich im Leben von Martin in verschiedenen Beziehungen zu bewunderten Lehrern und Vorbildern wieder, mit denen er sich identifizieren konnte und die es überhaupt erst ermöglichten, eine Zeit lang auf die Bühne zu gehen und sich dort in den Mittelpunkt zu stellen. Schwierig war die Schauspielerei bisweilen, weil es ihm schwerfiel, Gefühle zu spüren und auszudrücken. Hier dürften die beiden schizoiden Dyaden eine Rolle spielen, in denen Wünsche nach Containing und Alphafunktion nicht erfüllt wurden, sodass die Affektwahrnehmung in einigen Bereichen nicht ausreichend entwickelt ist.
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Schließlich sind die Beziehungsepisoden auch Prädiktoren für die Übertragungen, mit denen wir in der Therapie rechnen können. Alle Wünsche werden irgendwann einmal auf den Therapeuten gerichtet. Nach dem Erstgespräch teilte mir Martin mit, darin habe sich ein warmes Gefühl in seinem ganzen Körper ausgebreitet, was er als Geborgenheit empfand. Der Wunsch aus der Zwiebackepisode wurde hier offenbar erfüllt. Es wird aber auch Situationen in der Therapie geben, in denen er sich mit einem verbalen Zwieback abgespeist fühlen wird. Wenn wir diese Dyade im Hinterkopf haben, können wir sie leichter im therapeutischen Prozess identifizieren und ansprechen. Gleiches gilt für das Containing, das er immer wieder bei mir oder in der Gruppe suchen wird. Manchmal wird dieser Wunsch eine positive Reaktion der Objekte auslösen und dem Patienten bei der Affektverarbeitung helfen, manchmal auch eine negative Reaktion. Eine affektisolierte Mitpatientin in der Gruppe erklärte etwa einmal seine Träumereien von der Schriftstellerei für egoistisch. Damit blockte sie jeden Versuch ab, die dahinterliegenden Affekte und Sehnsüchte näher zu erkunden. Es ist wichtig, an solchen Stellen zu wissen, welche Dyaden hier beim Patienten innerlich aktiviert werden können, hier nämlich die Durchfalldyade. Unbesprochen bliebe er auch hier allein mit dem Externalisierten. Wünsche nach Bewunderung zeigten sich in der Gruppe und mir gegenüber schon öfter. Mit der berührenden und verbal schönen Schilderung seiner frühesten Lebenserinnerungen konnte er meine Aufmerksamkeit und Bewunderung bereits erreichen, weshalb ich diese für meinen Vortrag vermutlich ausgewählt habe. Manchmal reagierten die Gruppe oder ich aber auch mit Sorge oder Mitleid, wo er sich Bewunderung erhofft hätte, wie das Objekt in den Dyaden Wunde und Ausrutschen.
Fazit Lebensstilanalyse und ZBKT kommen – global betrachtet – zu einem ähnlich lautenden Resultat. Die unterschiedlichen Objektdyaden, die sich bei der ZBKT-Ermittlung abbilden, bieten mir eine zusätzliche, differenziertere Einschätzung und eine gute Vorhersage für die zu erwartenden Übertragungen und Gegenübertragungen. Deshalb ist für mich
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die Objektbeziehungspsychologie eine Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung von zentralen Aspekten der Individualpsychologie.
Literatur Adler, A. (1912/1997). Über den nervösen Charakter: Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (1931/1979). Wozu leben wir? (What Life Should Mean to you). Mit einer Einführung von W. Metzger. Frankfurt a. M.: Fischer. Bion, W. R. (1992). Elemente der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fairbairn, W. R. D. (1944/2007). Darstellung der endopsychischen Struktur auf der Grundlage der Objektbeziehungspsychologie. In: Das Selbst und die inneren Objektbeziehungen – eine psychoanalytische Objektbeziehungstheorie. Gießen: Psychosozial-Verlag. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2018). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Fonagy, P., Target, M. (2015). Psychoanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta. Freud, S. (1905/1999). Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen (GW Bd. 5). Frankfurt a. M.: Fischer. Handreichung zur individualpsychologischen Diagnostik, Beratung und Therapie (o. J.). Nur für Lehrzwecke im internen Gebrauch. Bibliothek AAI Berlin (unveröffentlicht). Hosemann, E. (1993). Gegenübertragungsprobleme bei der Psychoanalytischen Behandlung sichtbar körperlich behinderter Patienten. In U. Streeck (Hrsg.), Das Fremde in der Psychoanalyse (S. 265–279). München: Pfeifer. Kernberg, O. F. (2002). Affekt, Objekt und Übertragung. Aktuelle Entwicklungen der psychoanalytischen Theorie und Technik. Gießen: Psychosozial-Verlag. Kohut, H. (2016). Die Heilung des Selbst. Gießen: Psychosozial-Verlag. Lehmkuhl, U., Lehmkuhl, G. (1989). Der Individualpsychologische Beitrag zum Verständnis von Macht und Ohnmacht. Zeitschrift für Individualpsychologie, 14 (2), 95–102. Luborsky, L. (1999). Einführung in die analytische Psychotherapie: ein Lehrbuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Jochen Schmerfeld
Die Arbeit an inneren Bildern vom Kindsein – dargestellt am Beispiel des Films »The Florida Project« (USA 2017)
Zusammenfassung In Pädagogik, Beratung und Psychotherapie geht es immer auch um die Arbeit an inneren Bildern. Es geht darum, sie zu verstehen, die Fixierungen auf diese Bilder zu lösen und sie in Bewegung zu versetzen, um Veränderungen zu ermöglichen. Ein geeignetes Mittel, um innere Bilder aufzurufen, ist das Medium Film. Seine Narrative, mehr noch seine Bilder wecken Erinnerungen, lösen Gefühle aus und sprechen innere Bilder an. Der Film, um den es in meinem Beitrag geht: »The Florida Project« von Sean Baker, ruft beim Zuschauer/bei der Zuschauerin innere Bilder vom Kindsein auf und tut dies in einer Weise, dass deutlich und verstehbar werden kann, wie eine spezifische Dimension von Kindsein in uns Erwachsenen fortwirkt. Der englische Psychoanalytiker Donald W. Winnicott (1958, dt. 1976/2008) hat diese Dimension als Möglichkeitsraum (»potential space«) bezeichnet und in seiner Bedeutung für die Kreativität beschrieben.
Zur Auswahl des Films Wie bin ich dazu gekommen, gerade diesen Film auszuwählen? Es geht dabei neben der bewussten Entscheidung für einen bestimmten Film um die unbewussten Aspekte, die die Auswahl beeinflusst haben. Beim »Florida Project« war es zunächst ein Interesse an der Veranstaltung eines psychoanalytischen Ausbildungsinstituts. Weil ich mich zuvor für eine andere Publikation intensiv mit dem Thema Psychoanalyse und Film beschäftigt hatte, war ich neugierig auf die Veranstaltung: gemeinsam einen Film im Kino anzuschauen und anschließend miteinander darüber zu reden. Über den Film wusste ich zu diesem Zeitpunkt so gut wie nichts, verschiedene Zugänge hatte ich in der Theorie kennengelernt. Im Kino erlebte ich dann relativ schnell das, was Hamburger (2018, S. 78) als Initialzündung bezeichnet: »Das unmittelbare Erleben des Films im Kino ist der Augenblick, in dem das Filmkunstwerk seine Ini-
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tialzündung hat. Nicht die einzige Zündung – aus vielen solchen Zündungen springt der Motor der Rezeption an.« Nach einer kurzen Phase der Irritation und des Genervtseins von Tempo und Lautstärke sowie den grellen Bonbonfarben des Films, fesselte er mich. Ich beobachtete bei mir eine wachsende Faszination, ja ein Ergriffensein von der Energie und Lebensfreude der Kinder. Bilder meiner eigenen Kindheit und vor allem ein Gefühl von Lebenslust und Freude am Spiel, an der Freiheit, die ich in den nicht von Erwachsenen überwachten Räumen im Spiel mit anderen erlebt hatte – auch von Situationen mit durchaus als bedrohlich erlebter Aggression –, wurden aktualisiert. Kurz: Ich identifizierte mich mit den Kindern im Film. Sie erinnerten mich an Erlebnisse aus meiner Kindheit und mehr noch an ein Lebensgefühl dieser Zeit. Das veranlasste mich, mich intensiver mit dem Film zu beschäftigen.
Zum Film »The Florida Project« ist ein US-amerikanischer Film von Sean Baker, der am 22. Mai 2017 im Rahmen der Filmfestspiele von Cannes 2017 seine Weltpremiere feierte und am 6. Oktober 2017 in ausgewählte USKinos kam. Er erzählt die Geschichte der sechsjährigen Moonee, die mit ihrer Mutter Halley in einem der vielen billigen Motels im mittlerweile heruntergekommen Umfeld der »Disney World Florida« lebt. Die Mutter ist arbeitslos und lebt mit ihrer Tochter am Rand des Existenzminimums. Sie versucht, sich und ihre Tochter mit mehr oder weniger legalen Geschäften durchzubringen und die wöchentlich fällige Motelmiete zu bezahlen. Bobby, der Manager des Motels, hegt Sympathien für die kleine Moonee und ihre Mutter und fühlt sich verantwortlich für die beiden, muss sie aber auch immer wieder an die fällige Miete erinnern. Moonees Leben ist trotzdem voller Optimismus. Zusammen mit ihren Freunden, Jancey und dem Jungen Scooty, die ebenfalls mit ihren Familien in heruntergekommenen Motels wohnen, erlebt sie »einen Sommer voller Möglichkeiten und Härten« (Filmdienst o. J.). Als das Geld immer knapper wird, beginnt Halley, sich im Internet als Prostituierte anzubieten. Durch einen Anruf – vermutlich von einer Freundin von Halley – alarmiert, stehen schließlich Mitarbeiterinnen des Jugendamts und die Polizei vor der Tür, um Mooney von ihrer Mut-
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ter zu trennen und vorläufig in einer Pflegefamilie unterzubringen. Als Moonee versteht, was mit ihr geschehen soll, flieht sie zu ihrer besten Freundin Jancey. Bei ihrer gemeinsamen Flucht dringen Moonee und Jancey bis ins Zentrum der bis dahin unerreichbaren »Disney World«, bis zum »Magic Castle« vor. Bakers Film bewegt sich in der Tradition von Francois Truffauts »Les quatre cent coups« (deutsch: »Sie küssten und sie schlugen ihn«) und anderen Filmen, die sich radikal auf die Perspektive der Kinder einlassen. Er setzt sich wie seine Vorbilder kritisch mit der Erwachsenenwelt und ihrer Unfähigkeit, die Kinderwelt zu verstehen und ihr angemessen zu begegnen, auseinander. Der Film erzählt seine Geschichte auch visuell aus der Perspektive der Kinder. Die Kamera befindet sich meistens auf Augenhöhe mit den Kindern. Der Regisseur Sean Baker berichtet in einem Interview mit »Der Standard«: »Ich wollte schon immer einen Kinderfilm drehen, beeinflusst von Filmen wie ›Kes‹, François Truffauts ›Les quatre cents coups‹ oder ›The Little Rascals‹ – das waren komödiantische Shorts, die ab 1924 gedreht wurden, zuerst stumm, später mit Ton. Sie waren auf Kinder ausgerichtet, erzählt wurde jedoch vor dem Hintergrund der Depressionszeit und der Armut. Als ich klein war, lachte ich mit diesen Kindern, bemerkte höchstens unbewusst das Umfeld; es dauerte Jahre, bis ich die Politik hinter diesen Filmen entdeckte. Als Chris mir dann dieses Sujet mit den Motels präsentierte, sah ich eine Möglichkeit, etwas Ähnliches mit diesem komischen Haufen zu machen und so eine sehr ernste Angelegenheit zu behandeln« (Baker, 2017).
Kritiken Der Film hat unterschiedliche Reaktionen bei Zuschauenden hervorgerufen. Zum einen beeindruckt und berührt vor allem die Lebensfreude und Energie der Kinder. So sahen es auch fast alle Kritiken: Der Film vermittelt Lust und ungehemmte Lebensfreude. Sieht man ihn jedoch in der Erwartung einer sozialkritischen Darstellung der Lebenswelt der weißen Armen in den USA, fällt vor allem die Darstellung des sozialen Elends und der überwiegend gleichgültigen bis verantwortungslosen Haltung der Erwachsenen gegenüber den Kindern auf. Aus dieser Perspektive kommen dann auch die notwendig zum Leben gehörenden Ansprüche
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einer Gesellschaft an ihre Mitglieder, die unvermeidlichen Härten von Sozialisation und Erziehung in den Blick, die vom Film über eine weite Strecke eher als eine im Hintergrund lauernde Gefahr angedeutet werden, um dann im Schlussteil mit brutaler Direktheit gezeigt zu werden. Ein Kritiker vermisste einen Protagonisten oder eine Protagonistin, mit der er sich hätte identifizieren können und den in Hollywood filmen üblichen Handlungsaufbau mit drei Akten und Entwicklung des Hauptcharakters über einen »Plotpoint« im dritten Akt. So moniert James R. Hull (o. J.): »The most glaring deficiency in The Florida Project is its lack of a clear and established Main Character Throughline. The perspective of the Main Character is the Audience’s entryway into a narrative. Without it, we feel as if we are watching the events onscreen, rather than becoming a part of them.« Sean Baker hat in einem Interview erklärt, dass er absichtlich auf diesen Handlungsaufbau und die Entwicklung des Protagonisten verzichtet habe, mit der klassischen Dreiaktstruktur des Hollywoodkinos brechen und den Zuschauenden das Erlebnis vermitteln wollte, einen Sommer mit Moonee in einer wunderbaren Umgebung Floridas zu verbringen (The AtZ Show, 2017). Das heißt, der Film verzichtet auf einen Plot mit einem Protagonisten, dessen Handlungen als Problemlösungsversuche zur Bewältigung eines übergeordneten Konflikts oder zum Erreichen eines Ziels die Zuschauenden identifikatorisch mitnehmen will (Lexikon der Filmbegriffe, o. J.; Stichwort: Dreiakter/Dreiakt struktur). Das deckt sich mit meiner Rezeptionserfahrung, auch ich habe mich nicht mit einer Hauptfigur identifizieren können, sondern meine Identifikation galt den Kindern. Um dieser Wirkung des Films – nicht nur auf mich, wie die Kritiken zeigen – nachzugehen und sie genauer zu verstehen, habe ich einen filmpsychoanalytischen Zugang gewählt, den ich im Folgenden erläutern und begründen möchte.
Ein filmpsychoanalytischer Zugang Grundsätzlich finden sich Gemeinsamkeiten zwischen der Analyse eines Analysanden bzw. einer Analysandin und der Analyse eines Films, wie Hamburger (2018, S. 83) feststellt. Denn: »Die Aufgabe des Film-
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psychoanalytikers ist es, innerlich den Raum offen zu halten für die Entwicklung des Films in seiner inneren Nachbetrachtung und noch einmal innezuhalten, wenn der Prozess vorschnell zu Ende gehen will.« In vielen Hinsichten aber unterscheidet sich die Analyse eines Analysanden von der eines Films. Der Film hat kein Unbewusstes; er projiziert nichts, ist vielmehr selbst eine Projektion; er überträgt nicht; er hat keinerlei Bedarf an Empathie, Konfrontation oder sonstigen therapeutischen Interventionen. Dennoch hat sich eine psychoanalytische Herangehensweise an Filme – wie die mittlerweile ansehnliche Literatur zum Thema zeigt – als fruchtbar erwiesen. Etwas vereinfachend lassen sich hier zwei methodische Herangehensweisen (dazu ausführlicher Schmerfeld, im Druck; Wahl, 2015; Schneider, 2008) unterscheiden: Die eine analysiert den Film, die andere analysiert bzw. reflektiert sich selbst, also den Zuschauer: Die erste Methode analysiert den Film, seine Erzählung, seine Bildsprache, seine Themen, seine Konstruktion mit psychoanalytischen Mitteln, wobei die Untersuchung der filmischen Mittel berücksichtigt wird. So werden Filme z. B. daraufhin analysiert, welche »Symptome – gesellschaftlich vor- und unbewußter soziokultureller Befindlichkeiten und Veränderungsprozesse der sich globalisierenden postmodernen spätkapitalistischen Welt« (Laszig u. Schneider, 2008, S. 13) sich in ihnen finden lassen. Die zweite Methode analysiert die Rezeptionserfahrung der Zuschauenden, reflektiert sie kritisch und zieht daraus Rückschlüsse auf den Film. Dabei wird die Rezeptionssituation in ihrer Wirkung berücksichtig und auch die Frage aufgeworfen, ob der Film die Kinosituation braucht, um seine Wirkung zu entfalten und was dabei wichtig ist: die Dunkelheit des Kinoraums, die regressionsfördernd wirkt, und/ oder die Gruppensituation. Der Kinoraum sei ein mächtiger Mitspieler in der Kinoerfahrung, bemerkt Hamburger dazu (2018, S. 236). Er erschwere die Distanzierung vom filmischen Geschehen und sei ähnlich dem Traum (S. 277), von dem der Träumende sich erst im Wachen distanzieren kann. Wir sind »als Zuschauer diejenigen, um deren Analyse es geht – und es ist die Filmkunst, die uns die Szenen bereitstellt, in die wir uns einfühlen« (Zwiebel u. Hamburger, 2016, S. 1162). Die Begegnung mit dem Film ermögliche die Beobachtung und Reflexion der eigenen Reaktionen: Gefühle, Gedanken, Phantasien usw. – als
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Zuschauerin bzw. Zuschauer werde man gleichsam vom Film analysiert. Der Film appelliere an etwas Unausgesprochenes und Ungreifbares in uns, das es bewusst zu machen gelte. Der weit gespannte Möglichkeitsraum des Films, der in unser aller Phantasiewelt angelegt sei, könne dazu genutzt werden, »Zugang zu den eigenen Gefühlen, der eigenen Faszination oder Ablehnung zu finden, also in letzter Konsequenz zu sich selbst« (Piegler, 2010, S. 13). Beide Zugänge – ausgehend von einer Analyse der Rezeptionserfahrung wie von einer Analyse des Films mit seinen spezifischen Mitteln – ergänzen sich gegenseitig und ergeben zusammen eine gut funktionierende Methode psychoanalytischer Filmbetrachtung. Von der Beobachtung und Reflexion der eigenen Reaktionen als Zuschauer(in) ausgehend gelangt man zu einer Analyse des Films, die wiederum sein Potenzial als Kunstwerk wie als Falldarstellung ausschöpfen kann. Das Medium Film bietet nämlich die Möglichkeit, ein Thema, das in der Theorie nur abstrakt abgehandelt werden kann, in einer Konkretion vorzuführen – darin vergleichbar den in der tiefenpsychologischen Literatur häufig verwendeten Fallvignetten (Wahl u. Fuchs-Brünninghoff, 2015) – und in der Darstellung der Singularität das Allgemeine darin sichtbar werden zu lassen. So fungiert der Film »The Florida Project« quasi als Fall, an dem sich das Ineinander von Besonderem und Allgemeinem anschauen lässt. Will man jedoch dem Film als Filmkunstwerk gerecht werden, kann er nicht nur als Veranschaulichung von Theorie betrachtet werden, als Kunstwerk bedient er sich spezifischer Mittel, die seine Wirkung auf die Zuschauenden ausmachen. Der Film als Kunstwerk involviert die Zuschauenden in besonderer Weise, aktiviert etwas in ihnen, eröffnet einen Zugang zu Gefühlen und inneren Bildern und schafft so eine Grundlage zur Arbeit an eigenen inneren Bildern. »Die Dynamik zwischen Film und Betrachter ist – bei jedem Rezeptionsvorgang erneut – ein Ineinanderweben von sinnlichen Eindrücken und abstrakten Gedanken, von Erinnerungen an Erlebtes und Vorstellungen von nie Erlebtem, ein Kontextualisieren verschiedener Geschichten, ein Verknoten offener Enden, Fäden, Fragen« (Kalusche, 2015, S. 326). Dieses Ineinander macht die Rezeptionserfahrung aus. Es zu entwirren, einzelnen Fäden zu folgen, andere fallen zu lassen und schließlich die Ergebnisse einer solchen analytischen Arbeit in möglichst verständlicher Form zu präsentieren, habe ich mir zu Auf-
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gabe gemacht. Mir geht es darum, die theoretische und die subjektive Perspektive so miteinander zu verbinden, dass zum einen deutlich wird, was Arbeit an inneren Bildern unter Einsatz des Mediums Film meint, und zum anderen zu zeigen, wie der Film »The Florida Project« ein besonderes Allgemeines in Bilder setzt: den Übergangsraum als eine spezifische Dimension von Kindsein, die im Erwachsenenleben fortwirkt und bedeutungsvoll bleibt.
Die ausgewählten Szenen In einem Suchprozess habe ich die Szenen des Films ausgesucht, die ich für affektiv bedeutsam halte im Hinblick auf die Botschaft des Films, seine Intention, und die etwas in den Zuschauenden ausgelöst haben. Ein solches Vorgehen kann man kritisch daraufhin befragen, inwiefern die so zustande gekommene Auswahl lediglich Ausdruck meiner subjektiven Befindlichkeit ist oder ob sie tatsächlich das trifft, was den Film in seiner Besonderheit ausmacht. Obwohl ich soweit möglich meine Rezeptionserfahrungen reflektiert und mit der Literatur, in diesem Fall vor allem den Filmkritiken, abgeglichen habe, mögen andere Zuschauer(innen) zu einem anderen Ergebnis kommen. Drei Szenenfolgen habe ich für eine detaillierte Analyse ausgewählt: Zunächst die Szenen, die meines Erachtens den Plotpoint oder Midpoint des Films bilden, also den Moment in der Geschichte, in dem es zu einem »entscheidenden Umschwung der Handlung, einen Wandel der Charaktere, eine[r] Neudefinition sozialer Beziehungen und dergleichen mehr« (Lexikon der Filmbegriffe, o. J., Stichwort »midpoint«) kommt.
»Ein unheimliches Abenteuer« – Aggression und Destruktivität (DVD 43:21–47:08) Die Kinder Moonee, Jancey und Scooty laufen von der Hauptstraße in eine anscheinend verlassene Gegend mit verfallenden Häusern, M oonee verspricht ihren Freunden ein »unheimliches Abenteuer«. Durch eine Lücke im Holzzaun betreten sie ein Grundstück. Hier steht eine Reihe von Häusern, alle verfallend, alle in verschiedenen Bonbontönen gestri-
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chen. Einem dieser Häuser nähern sich die Kinder. In diesen ersten Szenen zeigt die Kamera die Kinder aus großer Distanz, als Zuschauende sind wir in entsprechender Position und können so auch affektiv auf Distanz bleiben. Wir sehen, dass die Kinder auf dem Weg zu einem Abenteuer sind, das Ambiente wirkt trotz des heruntergekommenen Zustands des Hauses harmlos, eher märchenhaft, wie man es im Umfeld einer »Disney World« im sonnigen Florida erwartet. Verstärkt wird diese Wirkung durch die Farbigkeit: Das Haus erstrahlt in einem hellen Rosaton, umrahmt vom Grün der Wiese und den Blauund Weißtönen des Himmels. Das ändert sich, sobald die Kamera die Kinder im Haus zeigt: Jetzt sind wir nah an ihnen dran, wir durchstreifen mit ihnen die Räume, sehen sie tanzen, hören sie singen und wie Moonee sich ausmalt, in dem Haus zu wohnen. Das Licht in diesen Szenen ist eher diffus, bisweilen sieht man die Kinder nur schemenhaft im Gegenlicht. Schon hier zeigt sich eine Veränderung gegenüber dem Anfang des Films. Das dämmrige Licht erzeugt eine Spannung, einen Kontrast zu den Bewegungen der Kinder, die sich unbefangen in dem unheimlich wirkenden Ambiente bewegen. Im Hintergrund, sichtbar durch ein halb geöffnetes Fenster, leuchten ein See und der freund liche Sommerhimmel. Die Kinder, dem Fenster zugewandt, scheinen auf dieses Panorama zu schauen. Das passt zu ihren Phantasien von einem selbstständigen Leben in einem eigenen Haus. Noch spielen die Kinder, aber der Wechsel der Beleuchtung deutet einen Wechsel der Atmosphäre des Films an. Heiterkeit und Leichtigkeit sind nun buchstäblich getrübt, und durch die Nähe der Kamera zu den Akteuren wird man als Zuschauer hineingezogen in das Geschehen. Der Bruch kündigt sich nun auch akustisch an: Man hört Hammerschläge. Moonee und Jancey fragen: »Scooty, was machst du kaputt?« Während die beiden Mädchen sich wieder abwenden und Scooty »Viel Glück!« wünschen, sieht der Zuschauer in kurzen Szenen, wie Scooty einen Spiegel zerstört, ein WC aus dem Fenster wirft und einen Schrank die Treppe hinunterrollen lässt. Das heitere Spiel ist vorbei, nun sieht man Aggression und Lust an der Zerstörung. Anscheinend inspiriert Scootys Zerstörungslust die anderen Mädchen: Moonee stopft ein Kissen in einen Kamin, ruft Scooty herbei und fordert ihn auf, das Kissen mit seinem Feuerzeug anzuzünden. Das brennende Kissen wird – so erfahren wir später – das ganze Haus in Brand setzen.
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Abbildung 1: Die Versammlung um das Kissen
Wie macht der Film das Umschlagen von phantasievollem Spiel in real zerstörerische Aggression plausibel? Der Übergang von der Phantasie in die Realität kommt – das gilt jedenfalls für die beiden Mädchen, weniger für Scooty – einigermaßen überraschend und war doch schon vom Anfang der Episode in dem verfallenen Haus spürbar. Der Zuschauer schaut den Kindern gleichsam über die Schulter und versteht wie sie: Hier in diesem Haus ist alles möglich, das Spiel kennt keine Grenzen und aus der Phantasie kann Realität werden. Die Faszination für das Feuer gehört zum Abenteuer wie das Eindringen in ein unbewohntes Haus, in dem man Geister vermuten kann. Aggression und Lust an der Zerstörung gehören zum kindlichen Spiel, das ja keineswegs so unschuldig ist, wie manche idealisierende Darstellung glauben machen will. Die Kinder wirken dabei sehr konzentriert auf das, was sie tun, sie sind in ihr Spiel vertieft und mit Freude dabei, aber es ist ein zerstörerisches Spiel (siehe Abbildung1 1). Die Kamera zeigt die Kinder in diesen Szenen durchgehend im Kontakt mit der Welt, hier einer abenteuerlich aufregenden Welt, die sie erkunden und erobern, und in Kontakt miteinander. Als Zuschauer
1 Alle Abbildungen sind Bildzitate aus dem Film »The Florida Project«, USA 2017.
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sind wir dabei, werden Teil des Geschehens und empfinden möglicherweise auch die Lust an der Zerstörung und die Freude am Feuer? Nachdem sie das Kissen angezündet haben, laufen die Kinder davon. Die Kamera bleibt nah bei ihnen und wir Zuschauenden laufen also mit ihnen und hören, wie Moonee die anderen auffordert, niemandem zu erzählen, was sie getan haben. Als die Feuerwehr kommt, um das mittlerweile brennende Haus zu löschen, versammeln sich die Bewohner der umliegenden Billigmotels, um das Spektakel zu betrachten: »Besser als Fernsehen«, bemerkt Halley dazu, und die Menge fordert die Feuerwehr auf, das Haus brennen zu lassen. Auch den Erwachsenen ist die Lust an der Zerstörung des Hauses ins Gesicht geschrieben. Moonee und ihre Mutter Halley sind unter den Zuschauenden, Halley macht ein Foto von Moonee vor dem brennenden Haus. Man sieht die innige Verbundenheit von Mutter und Kind und beider Faszination durch das Feuer. Haben die Kinder hier möglicherweise stellvertretend für alle gehandelt? Und was empfinden die Filmzuschauenden an dieser Stelle? Teilen sie die Faszination und die Freude an der Zerstörung? Wieder sind wir durch die Kamera nicht nur Zeugen des Geschehens, sondern mittendrin und erleben die Erregung der anderen Filmzuschauenden mit. Durch den Wechsel von einer Beobachtung aus der Distanz zur Nähe wird der Zuschauer in das Geschehen hineingezogen. Die filmische Affektmodellierung bewirkt so die Identifikation mit den Akteuren, den kindlichen wie den erwachsenen, und vermittelt den Übergang von der Freude am Abenteuer zur Lust an der Zerstörung und gleichzeitig die Angst vor den Konsequenzen.
»Das ist das Leben« – Orale Gier (DVD 1:33:41–1:36:00) Nachdem das Jugendamt bei Halley aufgetaucht ist, Halley und Moonee in Erwartung eines weiteren Besuchs der Jugendamtsmitarbeiterinnen das Motelzimmer aufgeräumt und sauber gemacht haben, gehen sie Hand in Hand zu einem der besseren Hotels und begeben sich dort in das Restaurant, wo ein Frühstücksbuffet aufgebaut ist. Bis dahin hält die Kamera einen gewissen Abstand zu den beiden. Dann aber sehen wir Moonees Gesicht in Großaufnahme, wir sehen sie gierig und mit
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Abbildung 2: Moonee isst voller Inbrunst
großer Lust essen und trinken. Was das für sie bedeutet, formuliert sie so: »Das ist das Leben, Mann. Besser als eine Kreuzfahrt.« Die Kamera zeigt nun Halleys Gesicht in Großaufnahmen, sie isst nicht, betrachtet nur ihre Tochter. Diese Kadrierung – man sieht ausschließlich Gesichter in Großaufnahme – verweist auf das Innenleben der gezeigten Personen, hier auf die Bedeutung der oralen Lust für M oonee. Als Zuschauende können wir mit ihr genießen und die Bedürftigkeit spüren (siehe Abbildung 2). Und auch das Innenleben von Halley wird gezeigt, wir sehen sie als zufriedene Mutter, die ihre Tochter beim Essen beobachtet. Sie hat es geschafft, ihre Tochter einmal – nach ihren eigenen Vorstellungen – richtig gut zu versorgen. Wir Zuschauenden werden durch die Großaufnahmen mit Mooneys Gefühlen genauso wie mit denen ihrer Mutter konfrontiert. Diese Bilder haben eine ambivalente Wirkung: Man kann – sich mit Moonee identifizierend – ihre Lust und Freude am Essen miterleben, aber auch – mit mehr Distanz zum Geschehen – die Gier, mit der Moonee verschiedene Speisen verschlingt, als abstoßend erleben. Gezeigt wird Moonees Bedürftigkeit, auch in ihrer Maßlosigkeit. Halleys Innenwelt wird den Zuschauenden ebenfalls nahegebracht: Sie sorgt für Moonee und zeigt sich als Mutter, die selbst keine Ansprüche hat und zufrieden ist, wenn es ihrem Kind gut geht. Aber auch darauf kann man kritisch schauen: Sie versorgt ihr Kind in einer Weise, die uns
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als unangemessen erscheinen kann. Zum einen begeht sie eine Straftat, weil sie das Frühstück nicht bezahlen kann und auch nicht bezahlt, zum anderen ist diese Art der Versorgung wenig nachhaltig und sehr einseitig: Sie ermöglicht hemmungslosen Konsum, der als Ersatz für die fehlende mütterliche Zuwendung und Sorge fungiert. Auch über diese Szenen hinaus ist das Motiv der oralen Gier im Film sehr präsent. Er zeigt die orale Autoerotik nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Erwachsenen. Oralität wird als ein kulturelles Phänomen präsentiert, das auch über das soziale Milieu von Halley und anderen hinaus als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen erscheint. Man sieht ständig Menschen, die Eis lutschen, trinken, rauchen oder essen. Man sieht die Konsumwelt in der Umgebung der Disney World, die ebenfalls die Oralität anspricht. Diesem oralen »Overkill« gegenüber wirkt die kindliche Gier von Moonee unschuldig. Schließlich sehen wir Halley und Moonee, sie gehen – wieder Hand in Hand – einen endlos wirkenden Balkongang entlang. Am Ende warten die Leute vom Jugendamt und die Polizei. Halley weiß, was sie erwartet, Moonee weiß es nicht. Man sieht erneut die Verbundenheit von Mutter und Tochter, sie halten sich an den Händen. Der Bildausschnitt vermittelt Moonees Perspektive. Sie kann sich an der Hand ihrer Mutter (noch) sicher fühlen. Das Bild ist gleichsam doppelt codiert: Es vermittelt die Perspektive des Kindes, unterlegt es aber mit dem erwachsenen Wissen von dem, was zu erwarten ist.
Freundschaft und Phantasie (DVD 1:41:55–1:43:00) Es dauert einige Zeit, bis Moonee versteht, was die Mitarbeiterin des Jugendamts mit ihr vorhat. Dann beginnt sie sich heftig zu wehren und schließlich gelingt es ihr, wegzulaufen. Die Kamera folgt ihr auf ihrem Weg zu Jancey. Dann sehen wir abwechselnd in Großaufnahme die Gesichter der beiden Mädchen: Während Moonee zu weinen beginnt, immer heftiger weint und schließlich zwei Finger in den Mund steckt, sehen wir in Janceys Gesicht, wie sie versteht, was in Moonee vorgeht, ohne den eigentlichen Sachverhalt zu kennen. Sie greift nach Moonees Hand, die beiden Mädchen laufen Hand in Hand davon. Die Großaufnahmen konfrontieren uns als Zuschauende mit dem dramatischen und
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Abbildung 3: Bei ihrer Freundin bricht Moonees Verzweiflung heraus
berührenden Geschehen zwischen den beiden Mädchen. Wir sehen Moonees kindlich ungeborgenen Schmerz und ihre tiefe Verzweiflung (siehe Abbildung 3). Wir sehen, wie Jancey, ohne dass Moonee ein erklärendes Wort zu ihr sagt, versteht, was in der Freundin vorgeht. Und sie reagiert, indem sie sie bei der Hand nimmt und mit ihr zusammen wegläuft. Die Beziehung der beiden Mädchen wird als die intensivste des ganzen Films inszeniert und den Zuschauenden durch die berührenden Bilder in dieser kurzen Szene vermittelt. Was Halley ihrer Tochter nicht zu geben vermag, das bekommt sie von ihrer Freundin. Das sich daran anschließende eigentliche Ende bricht mit der bis dahin eher realistischen Erzählweise und bekommt sowohl optisch wie inhaltlich einen phantastischen Charakter. Moonee und Jancey kommen schließlich in die bis dahin für sie unerreichbare Disney World und zum Magic Castle, dem Schneewittchenschloss. Die Bilder in der Disney World sind mit einem »IPhone« gedreht und bilden einen optischen Bruch mit dem übrigen auf 35-mm-Material gedrehten Film: Sie erscheinen auch durch die Farbgebung unwirklich, erzeugen so etwas wie einen Verfremdungseffekt (siehe Abbildung 4). Wir werden in eine ganz andere Umgebung, in eine heil erscheinende Welt versetzt. Hier sind »richtige« Familien zu sehen, die sich auf kostspielige Weise in dem dafür konstruierten Ambiente amüsieren.
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Abbildung 4: Die Freundinnen laufen auf das »magische« Schloss zu
Diese Bilder zeigen – so Sean Baker –, wie es in der Phantasie von Mooney weitergeht. »We’ve been watching Moonee use her imagination and wonderment throughout the entire film to make the best of the situation she’s in […]. In the end, with this inevitable drama, this is me saying to the audience, ›If you want a happy ending, you’re gonna have to go to that headspace of a kid because, here, that’s the only way to achieve it‹« (UCL Film & TV Society, 2018). Das Ende des Films versteht Baker demnach als Aufforderung an uns Zuschauende, in uns die Bilder vom Kindsein und die ihnen innewohnenden Möglichkeiten von Einbildungskraft und Staunen aufzusuchen, indem wir uns in »that headspace of a kid« begeben. Diesen von Baker als Perspektive des Films markierten Ort oder besser Raum möchte ich abschließend theoretisch beschreiben.
Ein theoretischer Kontext: Der Übergangsraum Der Film im Allgemeinen (Hamburger, 2018, S. 127) eröffnet einen Raum zwischen innerer und äußerer Realität und – dies gilt im Besonderen für »The Florida Project« – lädt die Zuschauenden ein, diesen Raum in sich zu öffnen. Dieses spezifische Verhältnis von Realität und Phantasie hat Donald Winnicott im Konzept des Übergangs- oder
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intermediären Raums (»potential space«) beschrieben. Es bezeichnet einen Zwischenbereich der Erfahrung und unterhält eine enge Beziehung zum Raum des Spiels, zu kulturellen Erfahrungen und zur Kreativität. »Gerade im Spielen und nur im Spielen kann das Kind und der Erwachsene sich kreativ entfalten und seine ganze Persönlichkeit einsetzen, und nur in der kreativen Entfaltung kann das Individuum sich selbst entdecken« (Winnicott, 1971, dt. 1973, S. 66). Spiel findet dabei »stets an der theoretischen Grenze zwischen Subjektivem und objektiv Wahrgenommenem« statt (S. 62) und es ereignet sich nur unter der Voraussetzung von Spontaneität. Entwicklungslogisch liegt der Übergangsraum »zwischen dem Daumenlutschen und der Liebe zum Teddy bär […], zwischen der oralen Autoerotik und der echten Objektbeziehung« (Winnicott, 1958, dt. 1976/2008, S. 258). Obwohl in der kindlichen Entwicklung sehr früh angesiedelt, verliert der Übergangsraum seine Bedeutung auch im weiteren Leben nicht und bleibt auch für uns Erwachsene bedeutungsvoll. Dieser Raum wird von Winnicott als ein dritter Bereich neben innerer und äußerer Realität bezeichnet, »ein intermediärer Bereich von Erfahrungen, in den in gleicher Weise innere Realität und äußeres Leben einfließen« (S. 259). Darin sei die Illusion angesiedelt, die wir den Kleinkindern zubilligen würden und die »im Leben der Erwachsenen einen bedeutsamen Anteil an Kunst und Religion hat« (S. 259). Den Respekt für die illusionäre Erfahrung könnten wir miteinander teilen »und, wenn wir das wünschen, können wir uns zusammenschließen und eine Gemeinschaft auf der Basis dieser Ähnlichkeit unserer illusionären Erfahrung bilden« (S. 259). Das könnten die gemeinsamen Erfahrungen auf dem Gebiet der Kunst, der Religion oder Philosophie sein (S. 271). Der Übergangsraum lässt die Grenze zwischen Phantasie und Realität durchlässig werden und ermöglicht so Kreativität und Kunst und fördert – um einen Ausdruck von Robert Musil zu verwenden – den Möglichkeitssinn. Den beschreibt Musil so: »Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was
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ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist« (Musil, 1920er1942/1978, S. 11). Ohne den Möglichkeitssinn gäbe es keine Kreativität und keine Phantasie, ihr Verhältnis zum Wirklichkeitssinn, zur äußeren Realität wird von Winnicott als prekär angesehen, wenn er die Wichtigkeit einer Parallelität von innerer und äußerer Realität, von Phantasie und objektiver Realität betont. Die eine sei ohne die andere ungenießbar bzw. gefährlich: »Eine Folge der Anerkennung der äußeren Realität sind die Vorteile, die man aus ihr gewinnen kann. Wir hören oft von den als sehr hart empfundenen Versagungen, die die äußere Realität Menschen auferlegt, aber weniger oft von der Erleichterung und Befriedigung, die sie zu bieten hat. Im Vergleich zur imaginären Milch ist die wirkliche Milch befriedigend, aber darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, dass in der Phantasie die Dinge durch Zauber bewirkt werden: Die Phantasie kennt keine Bremsen, und Liebe und Hass rufen höchst beunruhigende Wirkungen hervor. Die äußere Realität hat eingebaute Bremsen, man kann sie untersuchen und kennenlernen, und die Phantasie ist in ihrer vollen Stärke wirklich nur zu ertragen, wenn die objektive Realität richtig eingeschätzt wird. Das Subjektive ist ungeheuer wertvoll, aber so beunruhigend und magisch, dass man es nur als Parallele zum Objektiven genießen kann« (Winnicott, 1958, dt. 1976/2008, S. 61). Der Film »The Florida Project« zeigt die Verbindung von äußerer und innerer Welt, er projiziert den Übergangsraum und ermöglicht den Zuschauenden ihre eigenen Projektionen innerer Bilder vom Kindsein. Da, wo Phantasie und Wirklichkeit sich differenzieren, entsteht ein Schnitt. So in den Szenen, als – nachdem die Kinder das verlassene Haus mit Phantasie in Besitz genommen haben – das zunächst friedliche Spiel in Aggression und Lust an der Zerstörung übergegangen ist und das Haus brennt. Die Kinder verstehen jetzt, dass sie zu weit gegangen sind, dass ihr Spiel den Raum der Phantasie verlassen hat und in die äußere Realität übergegangen ist. Phantasie und äußere, objektive Realität lassen sich nur in einer Beziehung zueinander genießen, die Winnicott als »Parallele« bezeichnet hat. Das gilt auch für die Zuschauenden. Immer dann, wenn man als erwachsener Zuschauer die eigene Kenntnis der äußeren Wirklichkeit dem filmischen Geschehen entgegensetzt, wird der Zauber des Films gebrochen. Fügt man den Wirklichkeitssinn hingegen der phantasie
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gesteuerten Dynamik der Kinder hinzu, kann man den Zauber des Films genießen. Man bewegt sich dann im Übergangsraum. Dort schafft der Film eine Verbindung zur Zuschauerin und zu ihren inneren Bildern vom Kindsein und stellt implizit die Frage nach ihrer Bedeutung im aktuellen Leben und Erleben – auch die nach möglichen Verlusten auf dem Weg ins Erwachsenenleben. So bemerkt Bettina Henzler in einer Besprechung über die Kinderfiguren dieses Films: »Solche Kinderfiguren werden auch zu Mittlern des Kinos selbst, das die Zuschauer in fremde Welten entführen und sie – wie in der Filmtheorie immer wieder dargelegt – in die Gefühle und Erfahrungen der Kindheit zurückversetzen kann« (Henzler, 2018). So führt der Film die Zuschauenden in den Übergangsraum, der Winnicott zufolge wichtig für unsere seelische und körperliche Gesundheit ist. Der Film zeigt aber auch, dass dieser Raum bedroht ist von einer übermächtig werdenden und dann normativ aufgeladenen äußeren Realität: Einen Sommer lang ist es den Kindern möglich, sich in einer Wildnis, in einem Freiraum zu entfalten, wo keine Erwachsenen präsent sind. Die andere, die erwachsene Welt erscheint als Bedrohung, in einigen Szenen manifest, zumeist aber latent. Der Motelmanager Bobby vermittelt – solange es ihm möglich ist – zwischen beiden Welten und erhält die Stabilität dieses fragilen Verhältnisses. Als dieses Verhältnis schließlich zerbricht und die äußere Realität sich mit Macht durchsetzt, flüchten die Kinder ganz in die Phantasiewelt.
Bildung Inwiefern ist der Übergangsraum relevant für Bildungsprozesse und welche Rolle spielen dabei (innere) Bilder? Mit dem Bildungsbegriff sind Prozesse angesprochen, die sich – im Unterschied vor allem zu Lernen als Wissenserwerb oder Verhaltensänderung – durch grund legende strukturelle Veränderungen von Welt- und Selbstverhältnissen auszeichnen. Diese Veränderungen können nicht intentional herbeigeführt werden und sind insofern emergent. Sie werden nötig, wenn eingelebte Strukturen von Welt- und Selbstverhältnissen angesichts neuer Probleme versagen (Kokemohr, Schmidt u. Wulftange, 2005, S. 63 f.). Bildungsprozesse brauchen Räume, in denen sie ohne äußeren oder
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inneren Druck und Zwang sich entwickeln können. Sie brauchen Übergangsräume, die das Spiel mit der Differenz von äußerer und innerer Realität erlauben. In diesem Spiel werden Aspekte des Selbst- und Weltverhältnisses gelockert und damit veränderbar gemacht. Bislang nicht bewusste Anteile des Welt- und Selbstverhältnisses werden als innere Bilder erlebbar und damit integrierbar und veränderbar. Das gilt auch für Beratungssituationen – darauf weisen auch Wahl und Fuchs- Brünninghoff (2015) hin –, in denen die Rezeption von Filmen einen neuen Zugang zur eigenen Geschichte eröffnen kann. »The Florida Project« evoziert bei den Zuschauenden eigene innere Bilder vom Kindsein und lädt sie ein, sich mit ihren inneren Bildern zu beschäftigen und sie in Bewegung zu bringen. Francois Truffaut, eines der Vorbilder von Baker, hat seine Filme auch als pädagogische oder bildende Institution gesehen (Goldsztaub u. Weber, 2018, S. 106). Sieht man Bakers Film mit einem pädagogischen Blick, so erscheint er auch als Kritik an einer Erwachsenenwelt, die unfähig ist, dauerhaft einen Übergangsraum zur Verfügung zu stellen, in dem Entwicklung und Bildung stattfinden können, und zwar sowohl für die Kinder als auch für die Erwachsenen. Gleichzeitig aber macht der Film ein Bildungs angebot an uns Zuschauende, indem er uns einlädt, mit unseren inneren Bildern in den von ihm projizierten Übergangsraum neue Erfahrungen zu machen oder alte wieder zu beleben. Wenn wir uns auf den Film einlassen, auf den Übergangsraum, den er eröffnet, »so können wir unseren eigenen entsprechenden intermediären Bereich zur Kenntnis nehmen und uns freuen, wenn wir Überschneidungen entdecken« (Winnicott, 1958, dt. 1976/2008, S. 271).
Filmdaten The Florida Project, USA 2017 (111 min); Regie: Sean Baker; Buch: Sean Baker/ Chris Bergoch; Kamera: Alexis Zabe; Musik: Lorne Balfe; Schnitt: Sean Baker/Alejandro Carrillo Penovi; Darsteller: Brooklynn Kimberly Prince (Moonee), Bria Vinaite (Halley), Willem Dafoe (Bobby Hicks), Christopher Rivera (Scooty), Caleb Landry Jones (Jack Hicks). DVD: EuroVideo Medien GmbH 2018.
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Literatur Baker, S. (2017). »Die Kinder sollten sich richtig groß fühlen«. Interview mit Dominik Kamalzadeh. 24.10.2017. www.derstandard.at/story/2000066533440/ sean-baker-die-kinder-sollten-sich-richtig-gross-fuehlen (28.9.2019). Filmdienst (o. J.). The Florida Project. www.filmdienst.de/film/details/550792/ the-florida-project (2.10.2019). Goldsztaub, L., Weber, J.-M. (2018). »Die vierhundert Streiche der Adoleszenz«. An Beispielen des Films Les Quatre Cent Coups von Francois Truffaut. In J.-M. Weber, M. Zahn, K.-J. Pazzini (Hrsg.), Lehre im Kino. Psychoanalytische und pädagogische Lektüren von Lehrerfilmen (S. 97–108). Wiesbaden: Springer VS. Hamburger, A. (2018). Filmpsychoanalyse. Das Unbewusste im Kino – das Kino im Unbewussten. Gießen: Psychosozial-Verlag. Henzler, B. (2018). Kino der Kindheit. In: Bundeszentrale für Politische Bildung. www.kinofenster.de/download/kf1803-the-florida-project.pdf (2.10.2019). Hull, J. R. (o. J.). Narrative First. The Florida Project. https://narrativefirst.com/ analysis/the-florida-project (11.10.2019). Kalusche, V. (2015). »Dracula« (1992) und ich (1970). Eine psychoanalytische Rezeptionsästhetik. Zeitschrift für Individualpsychologie, 40 (4), 325–335. Kokemohr, R., Schmidt, T., Wulftange, G. (2005). Globalisierte Bildung im Dickicht der Kulturen? Vorbereitende Überlegungen zu einem verdeckten Problem. In K.-J. Pazzini, M. Schuller, M. Wimmer (Hrsg.), Lehren bildet? Vom Rätsel unserer Lehranstalten (S. 57–81). Bielefeld: transcript. Laszig, P., Schneider, G. (2008). Filme als kulturelle Symptome – Einleitung und Überblick. In P. Laszik, G. Schneider (Hrsg.), Film und Psychoanalyse. Kinofilme als kulturelle Symptome (S. 11–18). Gießen: Psychosozial-Verlag. Lexikon der Filmbegriffe (o. J.). Stichwort: »Dreiakter/Dreiaktstruktur«. https:// filmlexikon.unikiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=2401 (2.10.2019). Lexikon der Filmbegriffe (o. J.). Stichwort »midpoint«. https://filmlexikon.unikiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=3761 (4.10.2019). Musil, R. (1920er-1942/1978). Der Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. von Adolf Frisé. Bd. 1: Erstes und zweites Buch. Reinbek: Rowohlt. Piegler, T. G. (Hrsg.) (2010). Einleitung. In T. G. Piegler (Hrsg.), »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Psychoanalytische Filminterpretationen (S. 7–15). Gießen: Psychosozial-Verlag. Schmerfeld, J. (im Druck). Fuck ju Göthe: Wie man ein Lehrer wird. In B. Rauh, J.-M. Weber (Hrsg.), Lehrkräftebildung mit Fack ju Göhte. Junge Lehrerinnen und Lehrer zwischen Adoleszenz und Verantwortung. Gießen: Psychosozial-Verlag. Schneider, G. (2008). Filmpsychoanalyse – Zugangswege zur psychoanalytischen Interpretation von Filmen. In P. Laszig, G. Schneider (Hrsg.), Film und Psychoanalyse. Kinofilme als kulturelle Symptome (S. 19–38). Gießen: Psychosozial-Verlag.
Die Arbeit an inneren Bildern vom Kindsein153 The AtZ Show (2017). Understanding The Florida Project. An Explanation. www.youtube.com/watch?v=d8CN42xvKWM (2.10.2019). UCL Film & TV Society (2018). Love it or hate it? The ending of »The Florida Project« –www.uclfilmsociety.co.uk/blog/debating-ending-florida-project/ (2.10.2019). Wahl, P. (2015). Individualpsychologie und Film? Zeitschrift für Individualpsychologie, 40 (4), 302–305. Wahl, P., Fuchs-Brünninghoff, E. (2015). Das filmische Narrativ – Filmgeschichten als Fallgeschichten. Zeitschrift für Individualpsychologie, 40 (4), S. 336–367. Winnicott, D. W. (1971, dt. 1973). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: KlettCotta. Winnicott, D. W. (1958, dt. 1976/2008). Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. In D. W. Winnicott, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse (S. 257–283). Gießen: Psychosozial-Verlag. Zwiebel, R., Hamburger, A. (2016). Michael Hanekes »Das weiße Band«. Ein filmpsychoanalytischer Dialog. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 70 (12), 1159–1184.
Ulla M. Nitsch
Heini und Mia machen sich ein Bild von der Welt Identifikations-, Handlungs- und Bindungsangebote in Fibelbildern aus NS-Zeit und Gegenwart
Zusammenfassung Erstlesebücher dienen einerseits dem Erlernen des Lesens, andererseits transportieren sie Verhaltensmuster, Vorstellungen von Kindheit und Kindsein sowie Ansichten einer darüber hinaus reichenden Welt. Die jungen Schülerinnen und Schüler sollen sich diese zu eigen machen, um daran ihr Selbst- und Weltverständnis und ihr Handeln auszurichten. In diesem Beitrag, der neben Fibeln aus der NS-Zeit auch Erstlesebücher der Gegenwart betrachtet, geht es nicht darum, wie das Lesen erlernt wird, sondern um das, was den Erstklässlern beim Lesenlernen an inhaltlichen Implikationen angeboten wird. Vermittelt werden diese Inhalte, die entsprechend der jeweiligen gesellschaftlich-historischen Verortung variieren, den Erstklässlern weniger durch die Textanteile, sondern vor allem durch die zahlreichen und oft eindrücklichen Illustrationen der Fibeln, mit denen Buchstaben und Wörter eingeführt werden. Aus diesen Ansichten von Kindern, Erwachsenen und sozialräumlichen Umgebungen können die Schulanfänger(innen) entsprechend ihren jeweiligen Entwicklungsbedürfnissen und im Zusammenhang mit ihren eigenen Lebensräumen und Erfahrungen »innere Bilder« generieren, die ihre Weltwahrnehmung oft nachhaltig bestimmen.
Mein Interesse gilt in diesem Beitrag Illustrationen in Schulbüchern, mit denen Kinder in der ersten Klasse der Grundschule Lesen lernen. Dabei werden Erstlesebücher aus zwei sehr unterschiedlichen Epochen betrachtet: Im ersten Teil geht es um Fibelbilder aus der Zeit des Nationalsozialismus. Der zweite Teil widmet sich Fibelillustrationen aus den Jahren 2010 bis 2019.1 1 Ursprünglich wollte ich mich nur mit Fibeln aus der NS-Zeit beschäftigen, wurde dann aber gebeten, auch gegenwärtige Leselernbücher zu betrachten. Auf die Ersteren kann man aus einer gewissen historischen Distanz schauen, nicht zuletzt, weil man das Schicksal jener Generation von Erstklässlern kennt, die in den Jahren 1933 bis 1945 zur Schule gingen. Die Auseinandersetzung mit Fibelbildern der Gegenwart ist ungleich schwieriger, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse und Ereignisse, die in ihren Bildern auf-
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Mich beschäftigt, welche Wirkung diese Illustrationen und auch die zugehörigen kurzen Texte entfalten, welche Orientierungen sie den jungen Schülerinnen und Schülern geben können, welche »inneren Bilder« (Hüther, 2004/2005) sie möglicherweise generieren. Um dem auf die Spur zu kommen, setze ich die Inhalte, die die Fibelillustrationen den Kindern anbieten, zu deren Entwicklungsbedürfnissen in Beziehung. Ich stütze mich dabei auf das von Erik H. Erikson (1902–1994) entfaltete Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung des Individuums (Erikson, 1959/1995), das auch das Kind im Übergang zum Schulkind in den Blick nimmt, und auf eine Arbeit von Anna Ornstein (* 1927) zur »Psychologie des Kindes in der Latenzphase« (Ornstein, 1998).2 Das Erstlesebuch hat immer eine doppelte Funktion, es dient als Medium im Prozess des Lesenlernens und erschließt zugleich »dem Kind den Zugang zu einer neuen Welt, vermittelt soziales Basiswissen, führt das Kind in bestimmte Rollenmuster ein, die seine Einstellung zur Familie, zur Nachbarschaft, zur Umwelt, Gemeinde und Staat nicht unwesentlich mitprägen. Jede Fibel enthält und verbreitet ein bestimmtes Weltbild, mit dem Wertungen verbunden werden« (Pöggeler, 1982, S. 610). Lesenlernen ist demnach kein inhaltsleerer Prozess. Im Gegenteil: Es geht schon in den Bildern und kleinen Texten auf den ersten Fibelseiten um die Selbstwahrnehmung als Schulkind, um Beziehungen zu Mitschülerinnen und -schülern und zu Erwachsenen. Es geht darum, wie die »große Welt« beschaffen ist und um die Perspektiven und Aufgaben, die die (bunten) Fibelhelden den Schulanfängern zuschreiben. Was zunächst nur Bild oder Buchstabe im Außen, kann im Kontext entsprechender Erfahrungen zu »inneren Bildern« gerinnen. In meinem Verständnis von »inneren Bildern« orientiere ich mich an Gerald Hüther (Hüther, 2004/2005). Als »innere Bilder«3 bezeichnet er (S. 9) scheinen, komplexer sind, und es außerdem an jenem historischen Abstand mangelt, der verlässliche Analysen erst zulässt. 2 Die Untersuchung entwicklungspsychologischer Fragestellungen, insbesondere der sogenannten »Latenzzeit«, spielt im psychoanalytischen Diskurs der jüngeren Vergangenheit kaum eine Rolle. 3 Hüther wählt bewusst den nicht ganz präzisen Begriff »innere Bilder«, wenn er über Verschaltungs- und Erregungsmuster auf der Ebene der Gehirnzellen, über Denk-, Fühl- und Handlungsmuster auf der Ebene des menschlichen Erlebens und Verhaltens spricht. Damit will er den interdisziplinären Diskurs, z. B. zwischen Hirnforschern, Psychotherapeuten und Künstlern
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Selbstbilder, Menschen- und Weltbilder, die wir bewusst oder unbewusst in Kopf und Herz versammeln. Sie bestimmen unsere Wahrnehmung, unser Denken, Fühlen und Handeln. »Innere Bilder« sind also wirkmächtig. »Deshalb ist es alles andere als belanglos, wie die inneren Bilder beschaffen sind, die sich ein Mensch von sich selbst macht, von seinen Beziehungen zu anderen und zu der ihn umgebenden Welt, und nicht zuletzt von seiner eigenen Fähigkeit, sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten« (S. 9). Es lohnt sich daher, das Bildmaterial zu untersuchen, das Kindern im biografisch bedeutsamen ersten Jahr ihrer Schulzeit dargeboten wird. In diesen Bildern, die durch die staatlichen Schulbehörden sanktioniert sind, begegnen den Erstklässlern gesellschaftliche Vorstellungen vom Zusammenleben und Anforderungen an ihr Verhalten, denen sie jetzt nachkommen sollen und die weit über das erste Schuljahr hinaus Gültigkeit behalten werden. Gerade am Beginn der Grundschule stürmt viel Bildmaterial auf die Kinder ein. In den Bildern setzen sich die Fibelprotagonistinnen und -protagonisten mit sich und andern – mal neugierig, mal unsicher – im neu eröffneten Raum der Schule auseinander. Viele Illustrationen sind im Sinne eines »heimlichen Lehrplans« eingefärbt und transportieren mehr oder weniger unterschwellige Botschaften. Die Mittler sind dabei die Fibelprotagonisten, Altersgenossen der jungen Schüler und Schülerinnen, die sich als Alter Egos, als Identifikationsobjekte anbieten und signalisieren: So wird es gemacht, das darfst du, jenes sollst du nicht, dafür erhältst du Anerkennung, dafür erfährst du Ablehnung, so sollst du denken, fühlen, handeln. So betrachtet, verstehe ich die Bilder- und Geschichtenwelten der Erstlesebücher als Identifikations-, Handlungs- und Bindungsangebote für die jungen Grundschülerinnen und -schüler. Ob und wie diese Orientierungen von den Kindern angenommen werden, hängt nicht zuletzt damit zusammen, inwieweit sie sich mit ihren Entwicklungsbedürfnissen in den Bildern erkennen.
etc., anregen und erleichtern. Außerdem sei der Begriff der inneren Bilder ein »lebendiger Begriff, der von den meisten Menschen […] mit dem eigenen Erfahrungsschatz verknüpft und daher leicht verstanden werden kann« (Hüther, 2004/2005, S. 18).
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Zur psychischen Entwicklung von Grundschülern Wo sind junge Grundschulkinder unter günstigen Bedingungen in ihrer psychischen Entwicklung angekommen? Um das zu beantworten, habe ich entwicklungspsychologische Befunde von Erikson und Ornstein in einer Grafik zusammengefasst (siehe Abbildung 1), die ich im Folgenden kurz erläutere. Junge Grundschüler(innen) haben sich in der »Vorschulkrise« ein von ihren Erwachsenen deutlich getrenntes Ich erobert und damit auch eine gewisse Mobilität und Autonomie. Vergleichen sie sich allerdings mit den tatsächlich »Großen« – Eltern, älteren Geschwistern usw. –, so erleben sie sich oft als ohnmächtig und tendenziell minderwertig. Dem arbeitet jetzt ihr »Werksinn« (Erikson, 1959/1995, S. 98 f., 102 f.) entgegen. Das verstehe ich als ihr Bedürfnis, ihr »Kompetenz-, Effektanz- und Bemeisterungsgefühl« (Ornstein, 1998, S. 52) zu erproben, und als ihren Willen und ihre Zuversicht, endlich »richtige« Dinge zu lernen. Dabei stoßen sie notwendig immer wieder an Grenzen ihrer kognitiven, emotionalen und sozialen Möglichkeiten, sodass sie Frustrationen erleiden. Lernen sie damit umzugehen, gewinnen sie statt eines tendenziell grandiosen oder minderwertig gefärbten Selbstbilds eine realistischere Selbsteinschätzung. Sie können dann ein »kohärentes Kernselbst« (S. 52) entwickeln und mit ersten Antworten auf die Frage »Wer bin ich jetzt, wer will ich sein und werden?« auch ein wachsendes »Identitätsgefühl« (Erikson, 1959/1995, S. 106). Grundschulkinder wollen die Welt außerhalb der Familie explorieren. Neue Erwachsene werden jetzt interessant und relativieren die Eltern als Idealfiguren. »Die Idealisierung der primären Bezugspersonen wechselt nahtlos über in die Idealisierung von Lehrern, Pfadfinderführern, Sportidolen und anderen nationalen Helden« (Ornstein, 1998, S. 51). Von ihnen – und besonders von den sie fast täglich begleitenden Lehrerinnen und Lehrern – erwarten die ungefähr Sechsjährigen, dass ihnen gezeigt wird, wie man erfolgreich lernt und mit anderen zusammen tätig sein kann (Erikson, 1959/1995, S. 98, 102 f.). Im Blick der neu hinzugewonnenen Bezugspersonen erlebt sich das Kind anders gespiegelt als in den Augen der Eltern. Auch stellen jene an das Kind Anforderungen, die sich von den häuslich erfahrenen unterscheiden. So kann die Begegnung mit ihnen für das junge Schulkind vielfältige Entwicklungsanreize bedeuten.
Abbildung 1: Entwicklungspsychologische Befunde bei 6-Jährigen (nach Erikson, 1959/1995; Ornstein, 1998)
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Beim Explorieren im neuen sozialen Umfeld, bei der Lösung der neuen Aufgaben wollen Grundschulkinder effektiv sein, um gesicherte Fähigkeiten, stabile, wiederholbare Konzepte zu erlangen und Ergebnisse zu erzielen, die sie als gut und befriedigend empfinden. Sie »entwickeln eine Lust an der Vollendung eines Werkes durch Stetigkeit und ausdauernden Fleiß« (S. 103). Ihr Eifer und ihre Neugier richten sich jetzt nicht nur auf den Erwerb von Fähigkeiten und auf interessante Sachzusammenhänge, sondern auch auf Urteile und Wertvorstellungen, die sich eventuell von den zu Hause erworbenen unterscheiden. Sie machen die Erfahrung, dass man manche Dinge auch anders als die Eltern sehen kann, und gewinnen damit mehr Selbstständigkeit, einen auf Lernerfahrungen gestützten Eigensinn. Sie können gegenüber manchen elterlichen Vorstellungen mit Sätzen wie »Meine Lehrerin sagt aber …« eine eigene Position beziehen. Der Eintritt in die Grundschule ist »in sozialer Beziehung höchst entscheidend, da der Tätigkeitsdrang das Tun mit und neben anderen umfaßt, entwickelt sich in dieser Zeit ein Gefühl […] für gerechte Chancen« (S. 106). So beginnen die Erstklässler(innen), in der Gruppe der Gleichaltrigen ihre eigene Moral auszubilden. Sie interessieren sich für Regeln, lernen sie anzuwenden und zu akzeptieren. Dabei bieten »Mannschaftswettbewerbe und Spiele dieser oder jener Art […] dem Kind eine einzigartige Gelegenheit, zu lernen, daß es Regeln respektieren und Rücksicht auf den Standpunkt eines anderen Menschen nehmen muss, wenn er eigenen zuwiderläuft« (Ornstein, 1998, S. 56). In der Gruppe sucht und erfährt jedes einzelne Kind seine Position: Finde ich Freundinnen und Freunde, bin ich anerkannt, kann ich nützlich sein und zur Lernarbeit, zum Spiel, zum Alltag außerhalb der Schule etwas Eigenständiges beitragen? Oder werde ich mit Skepsis betrachtet, in eine unangenehme Rolle gezwängt, grundsätzlich kritisiert oder gar gemobbt? Im guten Fall entwickeln Kinder im Lauf des ersten Schuljahres Initiative und Lust an der eigenen intellektuellen wie körperlichen Aktivität, Arbeitsfreude und Stolz auf sich selbst. Eine Voraussetzung dafür ist die Erfahrung, von der Lehrerin wahrgenommen und geachtet zu werden, und das Gefühl, in der Lerngruppe einen angemessenen und befriedigenden Platz gefunden zu haben.
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Aber trotz des Sprungs in der kognitiven Einwicklung4, trotz ihres neuen Wissens, der verschiedensten neuen Kompetenzen – dazu gehören auch Lesen und Schreiben – und einer größeren Selbstständigkeit wissen Schulkinder, dass sie, obschon nicht mehr ganz klein, doch noch nicht wirklich groß sind. So bedürfen sie in allen Aspekten ihrer Entwicklung der Ausbildung, der Vorsorge und Empathie, der Spiegelung, Korrektur und Unterstützung durch Erwachsene. Erst »die Bestätigung durch wichtige Erwachsene ermöglicht es dem Kind, solche [neu erworbenen] Geschicklichkeiten und Fähigkeiten als real und als konstituierende Elemente seines eigenen (sich erweiternden) Selbst zu erleben« (S. 53). In diesem Hin und Her zwischen klein und groß verwickeln sich Kinder im Grundschulalter leicht in Widersprüche zwischen SchonWollen, aber Noch-nicht-Können oder Noch-nicht-Dürfen. Das macht sie anfällig für manipulative Versprechungen und missbräuchliche Deformation ihrer Motive. Auch können sie Schaden nehmen, wenn Inhaltsbereiche und Ereignisse in Familie, Schule, Gesellschaft, die sie beunruhigen oder ängstigen, ausgeblendet oder sogar tabuisiert werden. Unter günstigen Bedingungen werden sie allerdings motiviert, solche Widersprüche, die ihr Selbstwertgefühl und ihre Handlungskompetenz verunsichern, zu lösen. Unterstützung können sie dabei bei hilfreichen Erwachsenen in Schule und Elternhaus erlangen oder in manchen Fällen auch schon in der Gruppe der Gleichaltrigen.
Teil I: Heini macht sich ein Bild von der Welt: Identifikations-, Handlungs- und Bindungsangebote in Fibeln 1933–1943 Wie kam es, dass gegen Ende des Zweiten Weltkrieges junge Menschen im Alter von 14, 15 oder 16 Jahren immer noch an Hitler und seine Wunderwaffe glaubten, nicht wahrhaben wollten, dass der Krieg für das nationalsozialistische Deutschland verloren war? Wieso haben sie
4 Ornstein (1998, S. 53) betont, dass »die beeindruckendste psychische Entwicklung in der Latenzphase auf dem Gebiet der kognitiven Entwicklung« erfolgt.
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sich noch im Frühjahr 1945 freiwillig zum Kriegsdienst, zum Volkssturm oder als »Blitzmädel«5 gemeldet? Bei diesen Jugendlichen handelte es sich um diejenigen, die ihre ganze Schulzeit lang der NS-Indoktrination ausgesetzt waren. Sie durchzog all ihre Schulbücher und die Lehrpläne, denen der Unterricht folgen sollte, und suchte sich so in ihren Köpfen festzukrallen. Die Schülerinnen und Schüler dieser Generation mussten sich gemeinsam die wiederkehrenden »Führerreden« anhören, später den Siegesmeldungen folgen und – solange Siege zu verzeichnen waren – als »Lehrausgang« mit der Klasse eine »Beuteausstellung« besuchen. Mit zahlreichen Ritualen wie dem täglich geforderten – wenn auch nicht immer streng praktizierten – »Hitlergruß« in strammer Haltung am Morgen und bei Schulschluss oder durch bedeutungsaufgeladene, zackige Flaggenappelle auf dem Schulhof, nur übertroffen vom Drill in den HJ-Organisationen, schrieb sich die NS-Ideologie auch den jungen Körpern ein. Diese Infiltration der Köpfe und Körper begann für die Erstklässler gleich am Beginn ihrer Schulzeit mit der ersten Teilnahme am feierlichen Flaggengruß. Dann folgten die Fibeln, die das Zen trum des Lesenlernens bildeten, mit den Bildern von NS-Flaggen und Wimpeln, den Aufmärschen, den Autos und Fliegern und nicht zuletzt dem »Führer«.6 Zum Bildmaterial gesellten sich bald kurze erzählende Texte, die das inhaltliche Angebot der Illustrationen vertieften oder auf den Punkt brachten. Ich untersuche im Folgenden Bildmaterial aus 22 der etwa 30 damals in Deutschland verwandten Fibelgrundausgaben und berücksichtige dabei, soweit notwendig, auch Textanteile mit der Fragestellung, wie Kinder frühzeitig an das NS-Regime herangeführt und an dessen Ziele gebunden wurden.7 5 »Blitzmädel« war ein Spitzname für junge Frauen, die als Wehrmachtshelferinnen Dienst taten. Sie arbeiteten vor allem im Nachrichtendienst und in Flakstellungen, wo sie häufig für die Scheinwerferbatterien der Flakgeschütze verantwortlich waren. Unterstellt waren sie der Wehrmacht. Etwa die Hälfte der halben Million Wehrmachtshelferinnen hatte sich freiwillig gemeldet. 6 Selbst in den Rechenbüchern für das 1. Schuljahr wurde der Zahlenraum bis zehn mit Hakenkreuzfähnchen, Fanfaren und Mädchen in JM- und Jungen in DJ-Uniform erschlossen. 7 Insgesamt lagen mir für meine Untersuchung 22 Fibeln vor. 1938 soll es im ganzen »Deutschen Reich« etwa 30 verschiedene Grundfibelwerke gegeben
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»Jetzt geh ich in die Schule«8 Der Übergang vom Vorschulkind zum Schulkind ist einer der biografisch bedeutsamen Statuswechsel. Das Kind tritt aus der vertrauten familiären Umgebung in eine stärker gesellschaftlich bestimmte Welt ein, in der es auf bisher fremde Menschen, auf ungewohnte Aufgaben, vielleicht auf Abenteuer und auf erste Pflichten und Verantwortungen treffen wird. Damit verbunden ist für das Kind zwar eine immer noch begrenzte, aber doch größere Selbstständigkeit als bisher. Diesen Statuswechsel akzentuieren alle von mir untersuchten NSFibeln in ähnlicher Weise. Dafür im Folgenden typische Beispiele: In der in Abbildung 2 wiedergegebenen Zeichnung wird inszeniert, wie ein Schulanfänger Abschied von seiner Mutter nimmt. Die Mutter bleibt »im stillen Haus« zurück. Der Junge – auffällig uniformähnlich gekleidet – winkt ihr zwar noch zu, ist aber mit dem größeren Teil seines Körpers schon von ihr weggewandt. Zur Schule gehen bedeutet, so wird signalisiert, eine Trennung von Mutter und Kind, wobei der Abschied dem Kind sichtbar leichter fällt als der Mutter. haben, die allerdings in mehr als 150 verschiedenen Ausgaben existierten. Viele dieser Fibeln basierten auf schon in der Weimarer Republik verlegten Fibeln. Für kleine Eingriffe, z. B. das Einfügen von Hakenkreuzfähnchen etc., wurden vorhandene Druckvorlagen korrigiert. Außerdem wurden neue Seiten mit systemtypischen Bildern und Texten eingefügt. Die unterschiedlichen Ausgaben der Grundwerke variieren im Schriftbild (Schreibschrift/ Druckschrift, Sütterlin/lat. Schrift, Fraktur/Antiqua etc.). Außerdem wurden sie teils mit regionaler Färbung versehen und an Gesetze und Erlasse und, besonders deutlich nach Kriegsbeginn, an veränderte Realitäten angepasst. 14 der untersuchten Fibeln stammen aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg, neun erschienen zwischen 1940 und 1943. Eine reichseinheitliche Fibel war für 1944 geplant, wurde aber nicht fertiggestellt. »Nach überlieferten Inhaltslisten und Stellungnahmen – auch die Parteikanzlei mit Martin Bormann war beteiligt – hätte es sich um ein Gesinnungsleseund Bilderbuch für Schulanfänger ohne schreib- und lesemethodischen Aufbau gehandelt. Ausschlaggebend war die Anzahl von NS-Themen und sie unterstreichende z. T. ganzseitige Illustrationen (ohne Text)« (Kleinschmidt, 1997, S. 330). Die von mir untersuchten Fibeln befinden sich in den Sammlungen des Georg-Eckert-Instituts Braunschweig, des Schulmuseums Bremen und des Ostfriesischen Schulmuseums Folmhusen. 8 So der Titel einer Fibel von ca. 1938.
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Abbildung 2: Ein Schulanfänger nimmt Abschied von der Mutter (Deutsche Jugend, 1936, S. 1)
Die Fibelbilder9, die auf die Sechsjährigen beim Überschreiten dieser Grenze zur Welt außerhalb der mütterlichen Sphäre mit ihren oft starken Farben und interessanten Details einstürmen, übermitteln, zu wem sich die Kinder jetzt zugehörig fühlen sollen und wer sie – anstelle der Mutter – lieben und schützen wird. Häufig sehen sich die Schulneulinge mit ihrem Schulranzen auf den Außentiteln oder den ersten Seiten der Fibeln eingeordnet in eine Gruppe, zu der auch Jungen in der Uniform des »Deutschen Jungvolks« (DJ) gehören (Kinderfibel, Ausgabe 1937).10 9 Beim Nachspüren der Bilder muss man sich bewusst machen, dass den meisten Kindern vor der Schule wenig Bilderbücher und noch weniger mit farbigen Illustrationen zur Verfügung standen. Man muss sich die meisten der hier schwarz-weiß abgedruckten Bilder in kräftigen Farben, oft mit intensiven Rottönen vorstellen. 10 Mädchen in BDM-Uniform tauchen meist erst weiter hinten in den Fibeln auf.
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Auf anderen Fibeln entdecken sie ein Mädchen und einen Jungen, die ihnen den »Hitlergruß« vormachen (Fröhlicher Anfang, Ausgabe 1943), oder Schulanfänger, die grüßend und staunend einen Aufmarsch des DJ beobachten (Deutsche Jugend, 1934). Mal bläht sich über dem Schulhaus eine mächtige Hakenkreuzfahne behütend auf (Fibel für die Volkschulen Württembergs, Ausgabe 1935, Frontispiz), mal steuert auf dem Außentitel eine ganze erste Klasse auf einem Wikingerschiff unter dem Schutz des Hakenkreuzes ins Abenteuer (Jung-Deutschland-Fibel, ca. 1935) und über dem große Berlin wacht schon 1935 eine Bomberstaffel (Berliner Fibel, Ausgabe 1935, Titel). Die Fibeltitel oder deren Untertitel adressieren die neuen Schulkinder nicht in ihrer Eigenschaft als Schüler(innen), sondern als Angehörige ihres jeweiligen Heimatgaus, beispielsweise als »kleine Saarpfälzer« (Der kleine Saarpfälzer, 1937), »Kinder des Hessenlandes« (Ich will dir was erzählen, Ausgabe 1936) oder als »Bremer Jugend« (Roland-Fibel, 1935). Ihr »Gau« ist, wie sie als »deutsche Kinder« (Jungvolk-Fibel, 1933) bald lernen werden, Teil des großen, starken »Dritten Deutschen Reichs«.11 Dessen »Führer«, Adolf Hitler, erscheint in mehr als 30 % der Fibeln selbst auf dem Frontispiz, um sie als Teil der »frohen deutschen Jugend« zu begrüßen (siehe z. B. Abbildung 3). Mit diesen Außen- und Innentiteln erhob das NS-Regime von Beginn an Anspruch auf die Schulanfänger. Die Illustrationen und Zuschreibungen, die ihren Schuleintritt begleiten, benutzen das altersangemessene Bedürfnis nach einem erweiterten Selbstverständnis, ihren Wunsch nach Schutz und Orientierung und ihre Sehnsucht nach einem Platz inmitten der »Großen«. Diese machen gleich klar, wohin der Schulweg führen wird: erst ins Jungvolk, dann in die »große« HJ, bzw. erst zu den Jungmädeln (JM) und danach in den Bund deutscher Mädel (BDM) – ein Entwurf, der schon 1935 mit der Erklärung der HJ zur Staatsjugend nahelag und ab 25. März 1939 mit dem Gesetz zur Jugenddienstpflicht unausweichlich wurde. Dass Schule eigentlich ein Ort des gemeinschaftlichen Lernens ist, wird dagegen – obschon Lesen, Schreiben, Rechnen gelernt werden – auf all den Fibelseiten, die folgen, kaum thematisiert. 11 Das korrespondiert mit den »Richtlinien für den Unterricht in den vier unteren Jahrgängen der Volksschule« (1937), die als Ziel angeben: Die Kinder »sollen die Heimat kennen, erleben und lieben und sich als in ihr verwurzelte Glieder des deutschen Volkes fühlen lernen« (S. 3).
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Abbildung 3: Der »Führer« verspricht den Schulanfängern eine »frohe deutsche Jugend« (Roland-Fibel, 1935, Frontispiz)
»Her mit der Welt!« Die Bilder und Geschichten in den NS-Fibeln spiegeln eine Kinderwelt wider, in der sich die Erstklässler erkennen können, weil sie ihrem Erfahrungshorizont entsprechen: Oma auf dem Sofa, Vater, Mutter, jüngere Geschwister, Straßenspiele, der Kaufladen an der Ecke, Geburtstage oder Weihnachten. Damit halten die Fibelautoren, wie auch die Grundschulrichtlinien von 1937, an dem reformerischen Grundsatz fest, dass Fibelfiguren und Fibelwelt aus der dem Kind bekannten Umgebung hervorzugehen haben.12 Allerdings hat sich die Realität, der die 12 Zu den Autoren der neuen oder überarbeiteten Fibelausgaben gehören auch bekannte Fibelreformer wie Otto Zimmermann, Hans Brückl oder Fritz
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Kinder ausgesetzt waren, nach der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 sehr schnell verändert, und diese Veränderung schlug sich flächendeckend innerhalb von nur zwei Jahren in allen Erstlesebüchern nieder:13 In den Illustrationen hat sich das vorher gelbe Postauto in ein rotes Fahrzeug mit Hakenkreuz verwandelt (Roland-Fibel, 1935, S. 59), die Spielzeugfiguren auf den Gabentischen stellen jetzt SAMänner, Wehrmachtssoldaten oder Flieger dar (z. B. Mein Buch zum Anschauen, Zeichnen, Lesen und Schreiben, 1941, S. 46), und beim Spielen im Freien schwenkt ein kleiner »Bremer Butscher« statt der rot-weiß gestreiften »Speckflagge« ein Hakenkreuzfähnchen (RolandFibel, 1935, S. 15). Neben diesen markierenden »Korrektur«eingriffen gibt es in allen Fibelwerken neu eingefügte Seiten mit Bildern und Texten, die ganz explizit den politischen und erzieherischen Zielen der NSMachthaber folgen. Solche Darstellungen der Wirklichkeit kann man in drei große Bereiche gliedern:
Mobilität oder Mobilmachung? Die Begeisterung für Tempo und Technik, die schon Ende der Weimarer Republik zu beobachten war (Borscheid, 2004, S. 299), findet sich, heruntergebrochen auf das Niveau der Sechsjährigen, immer auf mehreren Seiten der Leselernbücher, jetzt zumeist aktuell politisch konnotiert. Eisenbahnen brausen dort noch 1943 »auf endlosen Schienen in die weite Ferne« davon (Kinderfibel, Ausgabe 1943, S. 83) und die Kinder: »heidi heida! wir dürfen reisen – rasch hinein in den Zug« (Berliner Fibel, Ausgabe 1943, S. 34). Das mutet makaber an, wenn man sich vor Augen führt, dass ab 1943 selbst Grundschulklassen aus den großen Städten komplett in die »Kinderlandverschickung« verlagert wurden. Auf den Flüssen fahren in einigen Fibeln »Kraft durch Freude«-Dampfer oder die Kriegsschiffe »unserer Flotte« (Berliner Fibel, Ausgabe 1935, S. 92). In allen Fibeln bevölkern »Flieger« (z. B. Gansberg. Wie weit sie dem NS-Regime tatsächlich verpflichtet waren oder ob sie sich zur Anpassung gezwungen sahen oder sich dem Regime opportunistisch andienten, ist im Einzelfall aufzuklären. 13 Die erste Neuerscheinung gab es schon 1933. Sie firmierte unter dem Titel »Jungvolk-Fibel. Die braune Fibel für deutsche Kinder«.
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Abbildung 4: Vater und Sohn haben einen Zeppelin beobachtet. Angeregt vom Schattenbild einer Zigarre lassen sie abends dieses Ereignis Revue passieren (Niedersächsische Fibel, Ausgabe 1936, S. 36)
Mühlenfibel, 1936, S. 64) den Himmel. Manchmal schweben dort auch Zeppeline – real gezeichnete, denen die Kinder begeistert zuwinken (Berliner Fibel, Ausgabe ca. 1938, S. 25) oder die sie abends als Schattenfiktion bewundern (siehe Abbildung 4). Sehnsuchtsvoll intonieren sie: »O, Zeppelin, O, Zeppelin, wir möchten gerne mit dir ziehn …« (Der kleine Saarpfälzer, 1937, S. 76). Diese Flugobjekte gehören fast immer zur Deutschen Luftwaffe – »unser ganzer Stolz«. Sie glänzen »in der Sonne wie Silber« (Fröhlicher Anfang, Ausgabe 1940, S. 55) und veranlassen besonders die kleinen Jungen immer wieder zu Seufzern wie: »Wenn ich nur auch einmal fliegen dürfte« (Fibel für die Volksschulen Württembergs, Ausgabe 1940, S. 70). Fast in allen Fibeln werden schnittige Motorräder von SA-Männern gesteuert (z. B. Berliner Fibel, Ausgabe 1943, S. 14). Wer im »Dienst des Führers« unterwegs ist, muss offenbar schnell sein, lässt sich hier lernen, und wie gerne würden die kleinen Kerle aus der ersten Klasse bald auf solchen Maschinen davonbrausen und Wichtiges erledigen! Auch die »Straßen des Führers«, die im Bau befindlichen »Reichsautobahnen«, lassen die Fibeln nicht aus: Muskelbepackte Männer treiben sie mit harter Arbeit ins Land (z. B. Berliner Fibel, Ausgabe 1935, S. 40) und gehen nach des Tages Arbeit müde, aber zufrieden »heim«, will sagen in ihre Arbeitsdienstbaracken. Das ist ein Beispiel dafür, wie den Erstklässlern im Lesebuch eine geschönte Variante der Wirklichkeit vorgeführt wird.
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Auf den Straßen der Fibelwelten tummeln sich all die anderen Fahrzeuge, die die jungen Schülerinnen und Schüler aus ihrem Alltag kennen, besonders wenn sie in der Großstadt leben: Lastwagen, Doppeldeckerbusse, S-Bahnen und Autos, schicke, langschnäuzige Modelle, wie sie die deutschen Autobauer für Begüterte und Mächtige herstellten (Jähner, 2019, S. 263). Adolf Hitler befahl, neben diesen Luxuskarossen ein Automobil zu entwickeln, das für breite Bevölkerungsschichten erschwinglich sein sollte, damit »der Kraftwagen [aufhört], ein klassentrennendes Instrument zu sein«, wie Hitler bei der Rede zur Grundsteinlegung des Volkswagenwerks am 26. Mai 1938 unter viel Jubelgeschrei ankündigte. Obwohl dieses Versprechen nie eingelöst wurde und nach Kriegsbeginn das zivile VW-Modell zum kriegstauglichen »Kübelwagen« mutierte, erfüllt sich in einer drei Jahre später verlegten Fibel für »Emil« ein Traum: Er darf an seinem Geburtstag in einen VW einsteigen und einen Ausflug machen (siehe Abbildung 5). Die Erstklässler, von denen die meisten noch nie in einem Auto fahren konnten, steigen in ihrer Fantasie mit ein, lauschen, wie der Motor »saust und schnurrt« (Mein Buch zum Anschauen, Zeichnen, Lesen und Schreiben, 1941, S. 104). In der Fiktion haben sie teil an der vom »Führer« propagierten allgemeinen Motorisierung (Reichsgaragenordnung, 17.2.1939) und werden verführt, zu glauben, dass bald alle im Volk einen Volkswagen haben werden14, denn der »Führer«, dessen vertrautes Bildnis sich zu Hause an der Wohnzimmerwand zwischen die Familienfotos einfügt, hat es versprochen. Die imponierend und lockend in Szene gesetzte Mobilität und glitzernde Technik hatte vor allem für die Jungen im Grundschulalter – und weit darüber hinaus – enorme Verführungskraft.15 Sie fütterte ihre Omnipotenzphantasien, auch, weil sie – wie ihnen die Fibeln immer wieder bescheinigten – für vieles Aufregende noch zu klein waren.
14 Tatsächlich wurden bis zur Umstellung auf »Kübelwagen« nur 630 »Käfer« ausgeliefert (Jähner, 2019, S. 265). 15 Die von Flug- und Militärtechnik ausgehende Faszination schildert z. B. Wolfgang Klafki (1988, S. 159) in seinen autobiografischen Anmerkungen zu seiner Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus.
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Abbildung 5: Emils Traum vom Autofahren geht in Erfüllung (Mein Buch zum Anschauen, Zeichnen, Lesen und Schreiben, 1941, S. 104)
Feste und Feiermythos Besondere Tage wie Geburtstage, Weihnachten oder andere jahreszeitliche Feste verleihen dem Leben Struktur, sind willkommene Unterbrechungen des Alltags und bilden besonders für Kinder im Grundschulalter wichtige Orientierungspunkte. Auch in den NS-Fibeln feiern Kinder Geburtstag und Weihnachten und sie haben selbstverständlich Wünsche. Manche gehen in Erfüllung, besonders, wenn man – wie die kleine »Lene« – den Wunschzettel für das Christkind gekonnt mit »Heil Hitler« unterzeichnet und beim Wünschen bescheiden bleibt (Ich will dir was erzählen, Ausgabe 1936, S. 70). Neben solchen Festen in der Familie sollen zahlreiche Bilder von öffentlichen Feiern die Sechsjährigen beeindrucken. Immer sind sie
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Abbildung 6: Auch für Kinder: pompöse Erntedankinszenierung (Deutsche Jugend, 1934, S. 37)
dabei zur aktiven Teilhabe eingeladen. Bei den Aufmärschen – gemäß Abbildung 6 anlässlich des jetzt überwertig besetzten Erntedankfests – können sie munter neben den Fibelkindern im Takt der SA-Musik kapelle mitmarschieren. Außerdem versprechen solche fröhlichen Feiern – neben Erntedank auch Kirmes, Kinderfest, oder Jahrmarkt – immer allerlei aufregende Vergnügungen, wie Tombolas und Schießbuden, Wettspiele und gelegentlich Sportwettkämpfe (z. B. Deutsche Jugend, 1934, S. 45). Ganz anders mutet die überwältigende Inszenierung der Feier zur Sommersonnenwende an (siehe Abbildung 7): »Die Flamme wirft einen hellen Schein auf alle Buben und Mädchen. Sie heben die Hand und singen ein Lied« (Fibel für die Volksschulen Württembergs, Ausgabe 1937, S. 89). Auf dem Heimweg spricht die Mutter »sehr, sehr leise: ›Das ist eine feierliche Nacht‹« (Fröhlicher Anfang, Ausgabe 1943, S. 61). Am »Heldengedenktag«16 im Frühjahr, der vor allem der Verherrlichung des Heldentods diente, stehen die kleinen Mädchen und Jungen 16 Der »Heldengedenktag« ersetzte ab 1935 den in der Weimarer Republik zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs eingeführten »Volkstrauertag«. Statt Gedenken und Trauer stand jetzt »Heldenverehrung« im Zentrum. Institutionelle Träger waren die Wehrmacht und die NSDAP.
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Abbildung 7: Feier zur Sommersonnenwende (Fibel für die Volksschulen Württembergs, Ausgabe 1937, S. 89)
in den Fibeln mit ernsten Gesichtern und voller Ehrfurcht vor den in Stein gemeißelten Soldaten (siehe Abbildung 8). Blumen bringen sie ihnen und Dank, denn: »Sie sind für uns im Krieg gefallen« (Mein Buch zum Anschauen, Zeichnen, Lesen und Schreiben, 1941, S. 100). Hinter solchen Illustrationen von ergreifenden Feiern verbirgt sich das nationalsozialistische Konzept von »Erziehung durch Mythos und Feier« (Scholtz, 1994, S. 116 f.). Es zielte darauf, neu geschaffene Traditionen dem kindlichen und jugendlichen Bewusstsein – und immer auch den Körpern – durch feierliche, erhebende Beteiligung einzuprägen. Damit organisierten die Nationalsozialisten nicht nur ein Gefühl der ernsthaft-verpflichtenden Zugehörigkeit, sondern entwarfen auch eine für sie opportune Geschichtsschreibung, einen Gestus der Geschichts-
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Abbildung 8: »Heldengedenktag« (Mein Buch zum Anschauen, Zeichnen, Lesen und Schreiben, 1941, S. 100)
erzählung, in der vergangene Ereignisse notwendig auf das Erscheinen des »Führers« zu laufen (vgl. Wissmann, 1993, S. 44 f.). Die im Buch noch fiktive Beteiligung hatte spätestens, wenn die Zehnjährigen ins Jungvolk oder bei den Jungmädeln aufgenommen waren, eine Entsprechung in der Realität: Sie wurden dann zur Teilnahme an solchen ideologiegetränkten Feiern abkommandiert. Wenn die Erstklässler sich wie die Fibelkinder von den Sonnwendfeuern oder der Verehrung toter Helden ergreifen lassen, fühlen sie sich wichtig, voller Verantwortung, erhoben vom Gefühl, im Sinne der übermächtigen Vaterfigur Hitler richtig zu handeln. In derartiger Identifikation mit ihren Fibelgenossinnen und -genossen, deren Gefühlen und bedeutsamen Handlungen lassen sich die Sechsjährigen bereitwillig an die NS-Ideen binden – nicht zuletzt, weil sie das, was die Fibel vorführt, auch in Wirklichkeit als aktiv Mithandelnde erleben.
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Hitler in den Fibeln Ein immer präsentes Objekt zur Idealisierung, ein Objekt zur Erlangung von Bedeutung und Identität, ein Objekt, das Orientierung, Schutz und Größe verspricht – all diese Funktionen erfüllen die Darstellungen von Adolf Hitler in den Fibeln (siehe Abbildung 9).
Abbildung 9: Schulkinder umringen Hitler bei einem seiner Auftritte (Gute Kameraden von denen leicht und lustig zu lesen ist, 1938, S. 95)
Neben deutlichen bildlichen Hinweisen auf die übergroß vermittelte »Führer«-Figur finden sich bei Durchsicht der Texte viele inhaltliche Bezüge zu Hitler. Um ihn an seinem Geburtstag zu würdigen, wünschen ihm die Kinder in der Fibel, »daß Hitler gesund bleibt und lange lebt«
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(Mein Buch zum Anschauen, Zeichnen, Lesen und Schreiben, 1941, S. 110). In einer Sütterlin-Passage versteckt sich eine seiner Reden, zugeschnitten auf das Niveau von Schulanfänger. Und diese »Rede des Führers war so gewaltig, daß alle riefen ›Wir wollen dem Führer folgen!‹ […] Da gingen die schweren Jahre zu Ende. Die Herzen wurden wieder freudig und stolz« (Kinderfibel, Ausgabe 1937, S. 63). Die »Kinder des Hessenlandes« können sich eine Rede im Originalton des »Führers« zusammenbuchstabieren: »Wir wollen ein Volk sein, und ihr, meine Jungens und Mädchen, sollt dieses Volk nun werden« (Ich will dir was erzählen, Ausgabe 1936, S. 64 f.). Weiter im Text werden die dafür notwendigen Eigenschaften aufgezählt: treu, gehorsam, friedliebend, tapfer, mutig, stolz und »ihr müßt schon in jungen Jahren lernen, hart zu sein« (S. 65).17 Aber viel mehr als diese schwer zu verstehenden Sätze dürften die Kinder vor allem von jenen Szenen berührt worden sein, in denen die Fibelkinder Hitler nahekommen. »Ich war ganz außer mir. Den Führer sehen zu dürfen« (Fibel für die Volksschulen Württembergs, Ausgabe 1937, S. 115 f.) kommentiert ein Fibelmädchen ihre Begegnung mit Hitler auf dem Obersalzberg. Seine Hand auf ihrem Kopf verspricht, wie schon die Hitler-Darstellungen auf den ersten Fibelseiten, Zuneigung und vor allem Sicherheit, denn, so verkündet die Fibel, dank des Führers ist »Deutschland auferstanden aus seiner Not! Unser Führer hat es wieder groß und stark gemacht!« (Fröhliche Fahrt, 1942, S. 110). Darüber hinaus erscheint Hitler öfter in einem zwar nicht persönlichen, aber engen räumlichen Bezug zu den Fibelprotagonistinnen und -protagonisten: Nach einer seitenfüllenden voll beflaggten Straßenansicht folgt das kleine Lesestück »Hitler kommt in die Stadt«. Mit einem Flugzeug mit drei (!) Propellern fliegt er schnell überall hin, also auch dahin, wo Heini oder Suse wohnen. Das trifft sich gut, denn »Alle Menschen, alle Kinder in Deutschland wollen ihn sehen und hören« (Von Drinnen und draußen, 1935, S. 58 u. 59). Wenn eine persönliche Begegnung nicht stattfindet, so können sich »kleine S aarpfälzer« 17 Leider konnte ich nicht ermitteln, aus welcher Hitler-Rede dieser Auszug stammt. Möglich ist ein Zusammenhang mit der Erklärung der HJ zur Staatsjugend oder mit dem 20. April 1936, dem Geburtstag Hitlers, zu dem ihm der gesamte Jahrgang 1926 durch den massenhaften Eintritt in die HJ als »Geschenk« dargebracht werden sollte.
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Abbildung 10: »Flaggenappell« auf dem Schulhof (Fibel für die Volksschulen Württembergs, Ausgabe 1937, S. 4)
damit trösten, dass »unser Gauleiter Josef Bürckel« beim »Führer« im Lehnstuhl sitzt, »in echt« – so würden die Kinder heute sagen –, denn davon gibt es ein Foto auf der letzten Seite ihrer Fibel (Der kleine Saarpfälzer, 1937, S. 111). An solcher Nähe zum »Führer«, an den Schutzversprechen und am inszenierten überirdischen Glanz des »Führers« haben auch die Erstleser(innen) Anteil, wenn sie sich in die Bilder hineinphantasieren. Sie zeigen Hitler inmitten von Fahnen und Hakenkreuzen, wie er jovial Kinder begrüßt, die ganz so aussehen wie sie selbst. Zum Bildeindruck addieren sich die Rituale, von denen auch die jungen Schüler(innen) ein Teil sind: der morgendliche »Deutsche Gruß« im Klassenzimmer, das Hochziehen der Flagge beim Fahnenappell auf dem Schulhof (siehe Abbildung 10), Spielen, Turnen, Singen, Marschieren unter dem Hakenkreuz, das Grüßen vorbeiziehender Flaggen und sogar Gebete für H itlers Unversehrtheit (Mühlenfibel, 1936, S. 65).
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So werden die Verschmelzungsrituale mit »Führer und Fahne«, durch die sich die Mehrheit der erwachsenen Deutschen an den Nationalsozialismus binden ließ, auf die Kleinen zugeschnitten. Sie waren den Inszenierungen ausgeliefert und konnten ihnen noch viel weniger als Erwachsene Widerstand entgegensetzen.
»Ich weiß schon, wie es geht« Kinder im frühen Grundschulalter suchen nach stabilen Konzepten, wollen wissen, welche Regeln gelten. Es macht ihnen Freude, wenn sie diese beherrschen und sie dafür Sicherheit und Anerkennung gewinnen. Welche Verhaltensweisen im Umgang mit anderen Menschen und in bestimmten Situationen gelten, machen die Fibelprotagonistinnen an vielfältigen, auch alltäglichen Beispielen vor. So wissen sie selbstverständlich in allen Fibeln, wie man grüßt. Beispielsweise grüßt Mina den netten Kaufmann Billig mit »Heil Hitler!« (siehe Abbildung 11).
Abbildung 11: Mina begrüßt den Kaufmann »Billig« (Mein Buch zum Anschauen, Zeichnen, Lesen und Schreiben, 1941, S. 53)
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Der kleine Paul steht mit vorgerecktem Arm vorbildlich stramm, um einem vorbeieilenden SA-Mann sein »Heil Hitler« entgegenzuschmettern (Guck emol, 1936, S. 30), und die Erwachsenen grüßen anerkennend zurück. Die Korrespondenz mit der Tante, eine Einladung zum Kinderfest und ein Ferienbrief an die Eltern werden mit »Heil Hitler« unterschrieben (Deutsche Jugend, 1934, S. 40). Auch ein Telefongespräch endet mit dieser Grußformel (Fröhlicher Anfang, Ausgabe 1940, S. 63). Angehörigen des Deutschen Jungvolks entbietet man ein »Heil, ihr deutschen Jungen« (Roland-Fibel, 1935, S. 39), und ein dreimaliges »Heil!« oder »Sieg-Heil« hat dem »Führer« oder »der Fahne« zu gelten (z. B. Deutsche Jugend, 1934, S. 15). In allen Fibeln findet man mehrmals Kinder, die am Rande von Aufmärschen, bei zufälligen Begegnungen mit Marschkolonnen oder in einer Feierstunde die Hand zum »Deutschen Gruß« erhoben haben. Sie tun das mit unterschiedlichem, der jeweiligen Situation angepasstem Gestus: begeistert, wenn fröhliche HJ-Gruppierungen oder die SA-Musikkapelle an ihnen vorbeiziehen, mit großem Ernst, wenn sie am »Ehrenmal« stehen, und ergriffen und überwältigt bei einer Begegnung mit Hitler. Es geht also nie nur um die mechanische Armbewegung, die Kinder sind immer mit »Leib und Seele« dabei. Wie das Grüßen muss auch das Marschieren anhaltend geübt werden. Erklingt im neuen »Volksempfänger« Marschmusik, rufen die Jungen: »Au Mutter, gibt uns bitte Gürtel, Schulterriemen und Hitlermütze. Wir wollen marschieren dazu!« (Guck emol, 1936, S. 34). Das gilt nicht nur für Jungen, sondern auch für Mädchen, nämlich »so, Susi, so« wird’s gemacht (Ich will dir was erzählen, Ausgabe 1941, S. 25; siehe Abbildung 12). Beim Gehorchen jedenfalls herrscht Gleichberechtigung, so suggerieren die Bilder. Unabhängig vom Geschlecht hat jede und jeder den zugewiesenen Platz einzunehmen. Dabei gibt es eine klare Rollenverteilung: Eine oder – häufiger – einer kommandiert, die anderen haben sich zu fügen. Jede und jeder hat seine Rolle auszufüllen, den »Dienst« zu leisten, und zwar ohne zu klagen. Und dies besonders, wenn der Krieg in der Fibel vorbereitet wird: 1937 heißt es im Lesestück »Auf dem Marsch«: »›Flieger‹ ruft auf einmal der Führer. Wir flitzen auseinander. […] Ich liege im Graben. Keiner regt sich« (Fibel für die Volksschulen Württembergs, Ausgabe 1937, S. 48). Das ist eine eindeutige Vorübung
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Abbildung 12: Alle, auch die Mädchen, sollen marschieren (Ich will dir was erzählen, Ausgabe 1941, S. 25)
für das Verhalten bei Bombenangriffen, der Befehl kommt vom »Scharführer«, die einfachen »Pimpfe« haben prompt zu gehorchen. Bei den Mädchen, im BDM, geht es nicht so martialisch zu. Hier wird im Dienst eher gesungen, getanzt und für das Winterhilfswerk (WHW) gebastelt, aber im Zeltlager kann auch ein Kommandoton angeschlagen werden, beispielsweise bei der Getränkeverteilung: »Kakao fassen!« (S. 49 f.). Was zunächst als Spiel oder spielerisch-ernste Übung erscheint, ändert sich in den Kriegsausgaben der Fibeln: Die Fibelkinder beschwören ihre Leser geradezu: »wir rennen wir sausen wir rasen wir fallen nur weinen wir nie« (Fröhlicher Anfang, Ausgabe 1940, S. 31) oder »wir wollen nie heulen nie weinen nie faul sein« (Berliner Fibel, Ausgabe 1943, S. 27). 38 Fibelseiten weiter – viele Erstklässler lernen das Lesen inzwischen in der »Kinderlandverschickung«, oft nicht allzu weit entfernt von der heranrückenden Front: »Alle Pimpfe marschieren tap-
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Abbildung 13: Durchhalten trotz »Regen und Wind« (Berliner Fibel, Ausgabe 1943, S. 65)
fer mit Pfeifen und Trommel durch Regen und Wind.« (S. 65) (siehe Abbildung 13). Das sind Durchhalteparolen für Sechsjährige, die ihre Angst übertönen sollen. Regeln und gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen zu kennen und zu beherrschen, verhalf den Sechsjährigen zu einem Gefühl von Kompetenz, zu altersangemessener Körperbeherrschung, zu einer Art frühen oder eher frühreifen Weltgewandtheit im nationalsozialistischen Sinne. Scheinbar konnten sie auch ohne Erwachsene im außerfamiliären Umfeld zurechtkommen, selbst weit entfernt von den Eltern und in einer von Feinden bedrohten Welt. Jedenfalls suggerieren ihnen das zahlreiche Bilder und Texte, bei deren Betrachten und Studieren sie sich die vorgeführten Verhaltensregeln, die dargestellte Geschicklichkeit und Kraft »einverleiben« sollten.
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»Ich kann schon helfen« Auch in der NS-Zeit gilt für junge Grundschüler(innen), dass sie sich an Tätigkeiten beteiligen wollen, die ihre bewunderten Vorbilder – seien es Jugendliche oder idealisierte Erwachsene – wie selbstverständlich ausüben und die damals als nützlich und notwendig anerkannt waren. Agieren sie dabei erfolgreich, erfahren sie sich als wirkmächtig und effektiv, besonders wenn sie dafür zusätzlich Lob ernten. Das stützt ihre Identität, konsolidiert ihr Selbst- und ihr Selbstwertgefühl. Diesem Entwicklungsbedürfnis nach Nützlichkeit und Bedeutung trugen die NS-Fibeln vielfach Rechnung. NS-Fibelkinder gehen zu Hause »den lieben Eltern in Haus und Hof und Garten« (Fröhliche Fahrt, 1942, S. 39) zur Hand, kümmern sich um die jüngeren Geschwister, holen Wasser von der Pumpe, bringen dem Vater Essen auf die Arbeit oder wienern die SA-Stiefel des Vaters für den bevorstehenden Aufmarsch (Gute Kameraden von denen leicht und lustig zu lesen ist, 1938, S. 29). Dabei erscheinen sie stets willig, freudig und zuverlässig, ja geradezu begeistert, auch wenn die Aufgaben schwer sind und länger dauern als vermutet. Auch außer Haus helfen alle Fibelkinder. Wer schon im Jungvolk ist, klappert für das »Winterhilfswerk« mit Sammelbüchsen durch die Straßen (für ein Beispiel siehe Abbildung 14). Dafür ist das Fibelkind »Uwe« aus der Jung-Deutschland-Fibel noch zu klein. Aber seine Stunde naht, als SA und HJ mit dem Lastauto von Haus zu Haus Kleider sammeln. Er bedrängt die Mutter: »Mutti, hast du unsere Sachen schon gepackt?« (Jung-Deutschland-Fibel, 1935, S. 64). In der Illustration sieht man ihn ein großes und schweres Kleiderbündel zum Auto der SA schleppen. Dafür erntet Uwe von den SA-Männern Lob und er darf ein Stück mit ihnen fahren. Als ein SA-Mann befürchtet, die Mutter könne ihn vermissen, empört Uwe sich: »Ich bin doch kein Bebi mehr! Ich geh schon zur Schule!« (S. 64). Gerade weil er etwas Eigenmächtiges tut und nicht an Mutters mögliche Sorge denkt, erlebt er sich bedeutsam und fühlt sich schon »fast groß«. Er handelt ja sogar entschlossener als die Mutter. Das Lob der »tüchtigen« SAMänner hilft ihm, seine – vielleicht schuldhaft – erfahrenen Autonomiebestrebungen zu legitimieren, die eroberte Freiheit zu genießen. Die Mutter wird ihn nicht ausschimpfen. Er hat sich ihrer Aufsicht ja »um
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Abbildung 14: Sammeln für das »Winterhilfswerk« (Mein Buch zum Anschauen, Zeichnen, Lesen und Schreiben, 1941, S. 32)
der guten Sache willen« entzogen. Es ist doch »so schön in Deutschland, wenn einer dem anderen hilft. Wir sind ja ein Volk!« (Fröhliche Fahrt, 1942, S. 64 f.). Fibelkinder, die damals bei der »Winterhilfe« mitmachten, hörten aus jeweils berufenem Munde, dass sie das moralisch Richtige tun, das, was der »Führer« von ihnen erwartet, wofür sie ihrerseits seine Anerkennung erwarten dürfen. Das konnten auch die damaligen Erstklässler erreichen, sie brauchten es nur den Fibelhelden nachzumachen. Damit gerieten sie in eine folgenschwere seelisch-moralische Verwicklung: »Wer die Sammelbüchse des WHW tragen durfte, [gehörte] zu den guten Menschen. [Aber] wer sich durch die Unterstützung an sich harmloser Aktivitäten in eine Gruppe hat einbinden lassen, kann oder will nicht mehr hinsehen, wenn diese Gruppe auch andere Dinge tut, die weit weniger harmlos und sogar verbrecherisch sind. Mitmachen begründet Loyalität« (Bauriedl, 2002, S. 12 f.).
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»Wenn ich groß bin, werde ich …« Zwar sind die Fibelprotagonist(innen) genau wie ihre realen Entsprechungen in der ersten Klasse keinen »Bebis« mehr, aber sie müssen doch wieder und wieder erfahren, dass sie für vieles, was ihnen in attraktiven Bildern dargeboten wird, noch zu klein sind: für das Jungvolk und die Jungmädel, für Geländespiele und Märsche, für das frohe Singen, die Heimabende und für die gute Kameradschaft. In jeder Fibel seufzen die Protagonisten unabhängig vom jeweiligen Geschlecht irgendwann: »Wie gern wäre ich dabei« (z. B. Jungvolk-Fibel, 1933, S. 28). Das Mitmachen in den Untergliederungen der HJ war allerdings nur der halbe Weg zum »Großsein«. Erwachsenes Leben stellen sich Kinder und auch noch Jugendliche im Vergleich mit ihrem je gegenwärtigen generell als autonom und selbstbestimmt vor; sie fantasieren sich gern stark, besonders und bedeutend. Auf solche altersangemessen-sehnsüchtigen Wünsche antworten die NS-Fibeln erstaunlich monoton. Mädchen werden wohl nach BDM und Arbeitsdienst fleißige, liebe Mütter werden. Sonst dürfen Fibelmädchen nur von fünf anderen Berufen träumen: Köchin, Näherin, Büglerin, Gärtnerin oder – bestimmt weit seltener – Lehrerin (Fibel für die Volksschulen Württembergs, Ausgabe 1937, S. 70). Für Fibeljungen gibt es zwar fünfmal so viele Berufe, aber alle wollen letztendlich doch SA-Mann, Soldat oder am liebsten »Flieger« werden (S. 70). Fibelbuben lieben ihre Elastolin-Soldaten, die Uniformen und Rangabzeichen, die Helme und Gewehre, die Schießübungen für die Leistungsabzeichen des Deutschen Jungvolks. Häufig wollen sie ihren Fibelvätern nacheifern. Heinis Vater z. B. »ist […] Turner gewesen und davon ist er so stark und ein tüchtiger Soldat geworden. Und Heini will ja auch Soldat werden« (Ich will dir was erzählen, Ausgabe 1941, S. 55). Auch schon in der Ausgabe von 1936 steht axiomatisch: »Aus Jungen werden Soldaten« (Ich will dir was erzählen, Ausgabe 1936, S. 65). Das ist eben der Lauf der Welt, von der die Fibeln erzählen, die zwischen 1933 und 1943 erschienen sind. Vor allem aber wollen Uwe, Kurt, Karl-Heinz, verschiedene Heinis, Helmut, Gerhard, Heinrich doch »Flieger« werden, um »mit dem Flugzeug über Länder und Meer zu fliegen« (Mühlenfibel, 1936, S. 64). Wie
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kein anderes Fibelthema ist Fliegen gekoppelt mit dem Wunsch nach Großwerden und wie kein anderes eignet es sich als Projektionsfläche für die Wünsche der kleinen Jungen nach Autonomie und Grandiosität. Seien es BDM und HJ, die die Fibeln ihren kleinen Leserinnen und Lesern als Zukunftsperspektive darbieten, oder die Orientierung vor allem der Jungen auf eine soldatische Zukunft – in beiden Fällen wird den Kindern ihre Gegenwart streitig gemacht. Schnell sollen sie groß werden, damit sie dem »Führer« besser »helfen« können, als sie es als Kleine vermögen. Ihr Bedürfnis, zu wachsen, wird im nationalsozialistischen Sinn pervertiert und deformiert. Das gilt auch für ihre anderen Entwicklungsbedürfnisse, für ihr Streben nach Identität und Zugehörigkeit, nach angemessener Autonomie, Kompetenz und nützlichem Tätigsein. Versprochen wird den Erstklässlern eine Welt voller aufregender Ereignisse. Aber letztendlich geht es bei den angebotenen Zukunftsentwürfen um Beschränkung: für die Jungen auf eine Zukunft als gehorsamer, todesmutiger Soldat, für die Mädchen auf ihre Rolle als opferbereite Frau, die dem »Führer« viele Soldaten gebärt.
Fazit Auf den ersten Blick, bei nur oberflächlichem Durchblättern, erscheinen einem die NS-Fibel zunächst als »gar nicht so schlimm«. Das liegt nicht nur an den, selbst in den Fibeln der Kriegszeit noch kindlich-niedlich gezeichneten Szenen der Fibelkinderwelt, sondern vor allem daran, dass die eindeutig menschenverachtenden Teile der NS-Ideologie fehlen (detailliert herausgearbeitet hat das Jan Thiele, 2005): Es gibt keine rassistischen Darstellungen von Menschen mit jüdischer Religionszugehörigkeit, keine Verunglimpfung behinderter Menschen, keine Ausgrenzung von Sinti und Roma, keine Beschimpfung von Kommunisten und Bolschewisten, keine Hetze gegen Frankreich oder England. Es fehlen Hinweise auf die »arische Herrenrasse« und auf Hitlers Welteroberungspläne, um dem »Volk ohne Raum« einen solchen zu schaffen. All das findet sich erst in den Schulbüchern für die höheren Klassen (Wissmann, 2002). Das erste Schulbuch konzentriert sich ganz auf das Positive: »Ei wie fein« sind die Musik, die Uniformen mit den blitzenden Knöpfen, die großen Feuer, die ernste Feierlichkeit usw. »Schön« sind die Eigen-
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Abbildung 15: Die »Ergriffenen« (Mühlenfibel, 1937, S. 65)
schaften der Fibelkinder: Sie wissen, was sich gehört, sie sind gehorsam und hilfsbereit, sie opfern gerne etwas von ihren Sachen für die, denen es weniger gut geht als ihnen. Sie sind durchdrungen von positiven Gefühlen, von Begeisterung, gutem Willen, der oft weit über ihre kindlichen Grenzen geht, sie sind über jedes erwachsene Maß hinaus »ergriffen« (siehe Abbildung 15). Vor allem aber sind ihre Liebe und ihr Vertrauen zum »Führer« »schön«. Ihn haben sie »lieb wie Vater und Mutter«. Deshalb verspricht ihm das Fibelkind: »Und wenn ich groß bin, helfe ich dir wie Vater und Mutter« (Mühlenfibel, 1936, S. 65). Bei diesem kindlich-vertrauenden Versprechen können die Erstklässler nicht ahnen, wie ihr Wunsch, zu wachsen und das Richtige zu tun, wie ihre positive und eifrige Hinwendung zur Welt sich als »Einfallstor« für ihren Missbrauch im Sinne des NS-Regimes erweisen würde.
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Teil II: Mia macht sich ein Bild von sich, anderen und der Welt: Identifikations-, Handlungs- und Bindungsangebote in Fibeln aus den Jahren 2010–2019 Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der damit verbundenen Entmachtung des NS-Regimes endete die Verwendung der NS-Fibeln im Unterricht.18 Seither sind 75 Jahre vergangen, in denen die Schulbuchverlage zahlreiche verschiedene Fibeln herausbrachten. Bis zur »Wende« 1989 betraf das nur den westlichen Teil der heutigen Bundesrepublik, denn die Kinder in der SBZ/DDR lernten seit 1945 mit verschiedenen an der SED-Ideologie ausgerichteten Einheitsfibeln lesen, zuletzt von 1968 bis 1989 mit »Unsere Fibel« (Stürmer, 2014).19 Heute können die Grundschulen und Lehrkräfte in allen Bundesländern zwischen verschiedenen Fibeln auswählen. Allerdings müssen diese wie alle Schulbücher von den Bildungsbehörden geprüft und zugelassen werden.20 Das berechtigt zu der Annahme, dass die Bilder- und Buchstabenwelten der neueren Fibeln, die im Folgenden betrachtet werden, mit Menschen- und Weltbildern sowie Verhaltensvorstellungen korrelieren, die in der Gegenwart als erwünscht gelten oder zumindest toleriert werden.21 Die Konzepte und Figuren heutiger Fibeln sind das Ergebnis eines komplexen gesellschaftlichen und kulturellen Wandels, der in den späten 1960er Jahren einsetzte.22 Eine wesentliche Voraussetzung für die18 Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die NS-Fibeln wegen des Mangels an neuen Schulbüchern zum Teil noch eingesetzt. Die offensichtlich ideologischen Teile wurden dann von Hand geschwärzt. 19 1990 erschien eine gegenüber früheren Fibeln bezogen auf die SED-Doktrin entideologisierte Fassung unter dem Titel »Meine Fibel«, die bis heute immer wieder in neu bearbeiteten Fassungen vorgelegt wird. Sie wird vor allem in den östlichen Bundesländern benutzt. Zu den Kindheitskonzepten, die den DDR-Fibeln zugrunde lagen, hat Verena Stürmer (2014) eine Analyse vorgelegt. 20 In den meisten Bundesländern wird den Schulen dabei sehr viel Freiheit gelassen. Nur Bayern erlaubt lediglich eine beschränkte Auswahl. 21 Der Prozess der Schulbuchentwicklung inklusive der Prüfung durch die Bildungsbehörden ist anschaulich beschrieben in einer Pressebroschüre des Cornelsen Verlags (o. J.). Ihr kann man auch die Information entnehmen, dass die Realisierung eines neuen Schulbuchs etwa drei Jahre benötigt, bei zusätzlichen Auflagen durch die Kulturministerien auch länger. 22 Einen Umschwung markierte die Wahl Willi Brandts zum Bundeskanzler einer sozial-liberalen Koalition im Herbst 1969. Sein Wahlkampfslogan
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sen Aufbruch war – neben der Besserung der ökonomischen Lage der Bevölkerung – die beginnende intensive Auseinandersetzung mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands und mit der menschenverachtenden Ideologie, mit der diese legitimiert worden waren. Zugleich – und das ist für die heute in Fibeln vermittelten Inhalte bedeutsam – ging es um die Kritik an der autoritären und teilweise postfaschistischen Stereotypisierung und Diskriminierung von Menschen wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Religion, ihrer Herkunft oder ihrer Behinderung. In diese Kritik waren die Schule und die Bildungspolitik einbezogen. Streit- und Kritikpunkte waren die – der dreigliedrigen Schulstruktur eingeschriebenen – sozial ausgrenzenden Auslesekriterien und die teilweise bis in die 1970er Jahre geltenden unflexiblen, kanonischen Lehrpläne, die nicht auf die rasch fortschreitende gesellschaftliche und technologische Entwicklung zugeschnitten waren. Ins Visier gerieten auch die Schulbücher. Sie beinhalteten diskriminierende Vorstellungen von der Rolle der Frauen, stereotype Familienbilder – Vater, Mutter, zwei Kinder unterschiedlichen Geschlechts – und ein tendenziell idyllisches »deutsches« Kinderleben. Damit wurden Rollenklischees als Vorbilder propagiert, die der von den Kindern erlebten Realität und der sich veränderten Rechtsprechung, z. B. zur Gleichstellung von Frau und Mann, immer weniger entsprachen (Geiss, 1972).23 Diese Kritikpunkte treffen im Großen und Ganzen auf die hier untersuchten 13 neueren Fibeln nicht mehr zu.24 Obwohl sie sich untereinan»Mehr Demokratie wagen« zielte auf Reformen, die mehr individuelle Freiheit und mehr Mitwirkung ermöglichen sollten. 23 Bis Schulbücher die verschiedenen Stufen ihrer Entstehung durchlaufen haben, geht Zeit ins Land. Das führt dazu, dass ihre Inhalte nicht selten von der raschen gesellschaftlichen und fachlichen Entwicklung überholt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass Schulbücher dann acht oder zehn Jahre in Gebrauch sind, eine Zeitspanne, in der sich beim gegenwärtigen Veränderungstempo die Welt möglicherweise schon gravierend gewandelt hat. 24 Anders als für die NS-Fibeln gibt es keine Arbeiten, die sich explizit mit den Editionen und Inhalten jüngst erschienener Fibeln beschäftigen. Soweit ich das unübersichtliche Feld der Fibeleditionen überblicke, umfasst meine Auswahl 13 häufig eingesetzte Fibeln, die alle mindestens in einem, meist aber in mehreren Bundesländern zugelassen sind. Insofern beansprucht meine Untersuchung eine gewisse Repräsentanz. Auch heute gibt es von einem Grundwerk teils leselernmethodisch, teils schulartspezifisch, teils regional
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der in Leselernmethode, Aufbau und Auswahl der inhaltlichen Themen unterscheiden, haben sich in ihren Illustrationen und Texten generell Veränderungen des Geschlechterverhältnisses niedergeschlagen. Auf Fibelseiten herrscht heute Gleichberechtigung. Mädchen sind oft klug, sportlich und spielen in mehreren Fibeln couragiert Fußball (z. B. Piri 1, Ausgabe 2013, S. 16 f.)25, sie werden auch laut und aktiv im Unterricht dargestellt (z. B. Tinto, Ausgabe 2018, S. 4 f.). Manche Jungen sind stark und manchmal auch angeberisch (Einsterns Schwester 1, Ausgabe 2015, S. 28), andere sind schüchtern (Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015, S. 9) oder müssen ermutigt werden, vom Dreimeterbrett zu springen (Die Auerfibel, Ausgabe 2014, S. 28). Männer kochen (z. B. Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015, S. 14 f.) und kuscheln mit ihren Kindern (z. B. Fara und Fu 1, Ausgabe 2015, S. 65). Mütter können Computer bedienen (Tinto, Ausgabe 2018, S. 30) und üben in der Regel einen Beruf aus (z. B. Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 101). Die deutsche Musterfamilie ist zwar nicht verschwunden, es gibt aber auch alleinerziehende Elternteile (z. B. Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 61), Eltern mit Migrationsgeschichte (z. B. Zebra 1, Ausgabe 2017, S. 49), Wochenendbesuche beim getrennt lebenden Elternteil (z. B. Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 61) und binationale Ehen tauchen in einigen Fibeln auf (z. B. Bausteine, Ausgabe 2014, S. 133). Gleichgeschlechtliche Paare, die zusammen Kinder großziehen, fehlen allerdings. Sie werden aber auch nicht explizit ausgegrenzt. Verändert hat sich die Darstellung der Großeltern. Sie sind zwar grauhaarig, aber zugleich modern (z. B. Die Auerfibel, Ausgabe 2014, unterschiedene Ausgaben. Darauf kann ich nicht eingehen. Mir war auch wichtig, dass die Auswahl einen gewissen Zeitraum umspannt, um feststellen zu können, ob sich gesellschaftliche Realitäten der jüngsten Vergangenheit, wie etwa Migration oder die Umweltproblematik zunehmend in den Fibelbildern und -texten finden. Von den ursprünglich 13 Fibeln spielte dann eine, die Tobi-Fibel, in der konkreten Untersuchung keine Rolle: Ihr Leselehrgang ist gänzlich in einer fantastischen Welt angesiedelt, deren äußerst vermittelter Realitätsbezug sich mit meinem Analyseansatz nicht erfassen lässt. 25 Anmerkung zur Zitationsweise: Bei allen untersuchten neueren Fibeln gibt es Vorläuferausgaben. Angegeben wird das Jahr, in dem die hier untersuchten Neubearbeitungen der jeweiligen Fibeln erschienen sind. In der Literaturliste wird außerdem die jeweils benutzte – identische – Druckfassung angegeben.
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S. 18, 20), aktiv (z. B. Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 21) und unterstützend (z. B. Karibu, Ausgabe 2015, S. 16). Bezogen auf das Verhältnis von Frauen und Männern, auf die Elternrolle, die Familienbilder und die Generationendarstellung nähern sich die Fibelbilder zumindest teilweise erreichten gesellschaftlichen Realitäten und aktuell geltenden Rechtsvorschriften an. Gleichzeitig kann man das humane Miteinander zwischen den Geschlechtern und in den Eltern-Kind-Beziehungen auch als ein in den Fibeln vertretenes Postulat verstehen, hinter dem die Realität oft noch ein gutes Stück zurückbleibt. Verändert hat sich auch die Sicht auf Kinder. Dafür gab es seit den späten 1960ern verschiedene Impulse, angefangen bei der Kinderladenbewegung (Bell, 2014) über die Diskussion und den schließlichen Beschluss der UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1989, sowie durch die innerpädagogische Wiederentdeckung reformerischer Bildungsansätze aus der Weimarer Republik und deren Weiterentwicklung zu einem tätigen, alle Sinne nutzenden und differenzierten Lernen (Klafki u. a. 1975). Hinzuzudenken sind außerdem der Diskurs und die praktischen Bemühungen um Integration und Inklusion von Kindern mit Migrations- und Fluchtgeschichte und von Kindern mit Einschränkungen, auch jener mit Mehrfachbehinderung, denen erst vor wenigen Jahrzehnten ein Recht auf Bildung zugestanden wurde. Ich konzentriere mich in meiner Untersuchung auf die Gruppe der Protagonistinnen und Protagonisten, die im Mittelpunkt der Fibelwelten stehen. Sie bieten sich den neu eingeschulten Mädchen und Jungen im Prozess des Lesenlernens als Identifikationsfiguren an, denn sie ähneln ihnen im Alter, im Aussehen, in ihrer Kleidung und in ihren unterschiedlichen Verhaltensweisen. Mich interessieren deshalb folgende Fragen: Welche Kinder erscheinen in den Illustrationen und kleinen Texten? Welche Werte und Regeln herrschen in der Fibelwirklichkeit? Gibt es Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Ideale, denen sie nachkommen oder nacheifern sollen? Wie sehen sich die Kinder in den Fibeln selbst und wie gestalten sie ihre Beziehungen zu den Gleichaltrigen und Erwachsenen? Schließlich: Wie wird ihre engere Umgebung dargestellt, und was erfahren sie darüber hinaus von der »großen Welt« und den Problemen, die dort zu lösen sind? Das kann Hinweise ergeben auf die »inneren Bilder«, die Mädchen und Jungen aus der Rezeption der Figuren und Welten ihres ersten Lesebuchs mit auf ihren Schulweg nehmen.
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Fibel-Ichs und ihre Mitschüler(innen) Obwohl heute viele Kinder schon außerfamiliäre Erfahrungen in einer Kindertagesstätte machen, ist der Eintritt in die Schule immer noch ein biografisch bedeutsamer Schritt, der von den Eltern, in der Kita und der aufnehmenden Schule besonders beachtet wird. Aber nur drei von zwölf Fibeln widmen dem ersten Schultag ein Bild (Die Auerfibel, Ausgabe 2014; Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014; Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015). Diese Illustrationen zeigen die Schulanfänger in Begleitung von Mutter und/oder Vater vor der Schule. In »Meine Fibel« wird die neue erste Klasse in ihrer bunten Zusammensetzung als zukünftige Gemeinschaft fotografiert. Auf den Schulhöfen der beiden anderen Erstlesebüchern erkennt man zwischen den älteren Schülerinnen und Schülern die Neuen an ihren Schultüten. Über dieses gemeinsame Statussymbol hinaus erscheinen sie aber noch nicht als Gruppe, sondern als weitgehend vereinzelte Individuen. Sie sehen unterschiedlich aus und zeigen auch unterschiedliche Gefühle: manche sind scheu, manche forsch und neugierig, einige kennen sich schon und ein Mädchen, die kleine Lina, weint und wird von der Mutter getröstet (Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 10). In den Fibeln, die den ersten Schultag nicht thematisieren, gibt es manchmal kleine »Umwege« – erst ins Kinderzimmer oder auf den Pausenhof – bis schließlich alle Fibelkinder auf einer Doppelseite mit ihrem Klassenraum sichtbar werden.26 All diese Illustrationen signalisieren den Schulanfängern: Du bist jetzt ein Schulkind und gehörst zu deiner Klasse, zu einer Gruppe, in der vor allem gelernt wird, in der man – wie es Erikson als Kennzeichen der Entwicklungsstufe beschreibt – den »Werksinn« idealerweise in Kooperation mit anderen zur Geltung kommen lassen kann und dabei die Unterstützung entsprechender Erwachsener erfährt.
26 Eine Ausnahme bildet hier »Einsterns Schwester« (Ausgabe 2015), eine Fibel, die keine Lerngruppe im Ganzen abbildet.
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Fibelkinder beim Lernen Dementsprechend sehen die Erstklässler die Fibelkinder bei der Arbeit. Sie sitzen an frei beweglichen Gruppentischen, nutzen unterschied liche Arbeitsplätze oder bewegen sich im Raum. Dabei verfolgen sie einen Arbeitsauftrag, der aber auf unterschiedliche Weise angegangen wird. In der Jo-Jo Fibel geht es zunächst um das große »A« und um das kleine »a« (siehe Abbildung 16). Im Fokus stehen Wörter, die den Laut »A« enthalten – z. B. Ananas, Wal oder Giraffe. Während Andi auf dem Boden eine echte Ameise beobachtet, malt Toni schon Silbenschwünge für das Wort Ameise an die Tafel. Auf der nächsten Doppelseite, die den Klassenraum aus einer anderen Perspektive zeigt, geht es schon um das Lesen und Schreiben ganzer Wörter. »Alle lernen lesen«, aber – je nach Lust und Fähigkeit – mal mit Bildkarten, mit Stiften, am Computer oder mit Büchern in der Leseecke (siehe Abbildung 17). In anderen Fibeln entdeckt man Bilder, auf denen Buchstaben in den Sand geschrieben, geknetet, mit einem Seil erkundet oder mit verbundenen Augen ertastet werden. Die Vielfalt der Lernformen, das Ansprechen der verschiedenen Sinne oder des ganzen Körpers, die Akzeptanz motorisch vermittelter Lernzugänge und unterschiedlicher Lerntempi, das Zulassen individueller Arbeitsergebnisse etc. kennzeichnet heute gute Grundschulpädagogik. Die Gleichschrittigkeit und Normierung auf ein Durchschnittsmaß, die in der Kaiserzeitschule ihren Ursprung hatten und die, wenn auch in abgemilderter Form, den Alltag in Schulen noch lange bestimmte, scheint weitgehend verschwunden.27 In Erstlesebüchern von heute variieren nicht nur die Lernformen, sondern auch die Lernsituationen: Schüler(innen) erstellen ihre Lösung einer bestimmten Aufgabe und präsentieren sie selbstständig einer Gruppe (Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 38 f.), sie üben in Partnerarbeit und kontrollieren die Arbeitsergebnisse mit dem Partnerkind (z. B. Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 8 f.), sie führen selbstständig 27 Fraglich ist allerdings, wie weit sie noch in den Köpfen der jetzigen Generation von Eltern und Lehrer(innen) nachhallt und ob sie nicht bei strenger Orientierung an den Lernschritten der Fibeln hinterrücks wieder Einzug hält. Kurze kritisch-würdigende Hinweise zum offenen Unterricht z. B. bei Riethmayer (2010).
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Abbildung 16: Der Laut und der Buchstabe »A« (Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 10 f.)
Abbildung 17: »Alle lernen lesen« – eine zweite Ansicht des Jo-Jo-Klassenzimmers (Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 12 f.)
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kleine systematische Experimente durch (u. a. in Tinto, Ausgabe 2018, S. 74 f.), kochen oder basteln nach teils gezeichneten, teils geschriebenen Anleitungen – beispielsweise einen »Traumfänger«, der böse Träume aufhält (Zebra 1, Ausgabe 2019, S. 98 f.). Heute darf auch Wissen eine Rolle spielen, das außerhalb der Schule erworben wird. In den Fibeln geben Bücher, das Internet oder Experten Auskunft – das Monopol der Schule und der Lehrkräfte auf das »richtige« Wissen ist damit relativiert. Die einzelnen Schülerinnen können mit Spezialkenntnissen und mit ihren Vorlieben den Unterricht bereichern, seien es Wörter aus der Herkunftssprache (z. B. Piri 1, Ausgabe 2013, S. 124), seien es Gebräuche und Speisen aus ihren Familien – Kartoffeln, Börek, Kebab, Pizza (Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 62), Informationen über Tiere, »Dinos« oder auch Mitteilungen über sich selbst (z. B. Tinto, Ausgabe 2018, S. 6 f.). Solche Beiträge zum Unterricht erscheinen in den Fibeln als Bilder, auf denen Fibelschüler Vorträge halten, Plakate aufhängen, Themenbücher vorstellen, Szenen vorspielen oder aus gesammelten Dingen eine Ausstellung arrangieren. Arbeitsaufträge, die sich in einem sichtbaren Produkt realisieren, entsprechen ihrer »Lust an der Vollendung eines Werks«, die Erikson ihrer Entwicklungsstufe zuerkennt (Erikson, 1959/1995, S. 103). Diese Darstellungen enthalten für die Erstklässler einerseits die Aufforderung und Ermutigung, für die je eigenen Vorstellungen eine angemessene Form zu finden, andererseits bieten sie Vorbilder und die Chance, eigene Talente zu entdecken und zu entwickeln. Bei den meisten ihrer verschiedenen Lernaktivitäten scheinen die Kinder völlig selbstständig zu arbeiten, wenig unterstützt von einer Lehrerin oder einem Lehrer (dazu mehr im Abschnitt über die Beziehungen zwischen den Fibelkindern und ihren erwachsenen Bezugspersonen).
»Ich bin ich und einzigartig« Die Schülerinnen und Schüler (auf den Bildern) in der Jo-Jo Fibel (siehe S. 191) haben alle einen Namen. Er steht auf den Namenskarten. Man erkennt sie außerdem an ihrer immer gleichen Kleidung und teilweise auch an charakteristischen Verhaltensweisen. Weil sie individualisiert
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sind, kann man ihnen über das ganze Erstlesebuch hinweg folgen.28 Eine solch konsequente Herausarbeitung aller einzelnen Kinder einer Fibelklasse gibt es nur noch in einer anderen Fibel (Karibu, Ausgabe 2015). Meist sind es nur zwei, vier oder fünf klar identifizierbare Fibelkinder, die die Erstleser durch ihr ganzes Lesebuch begleiten, z. B. Leo und Lea (Die Auerfibel, Ausgabe 2014). In anderen Fibeln (z. B. Zebra 1, Ausgabe 2019), gibt es nur andeutungsweise einen Kreis verbindlich in Kontakt stehender Figuren. Den Erstklässlern, die, wie einleitend entwickelt, nicht nur Neues, sondern auch stabile, sichernde Konzepte und Beziehungen suchen, bietet eine solche unzuverlässige Personage wenig Halt und Orientierung, das gilt besonders für diejenigen Kinder, die in unsicheren sozialen oder zwischenmenschlichen Verhältnissen leben. Die Unterschiedlichkeit der Fibelkinder, auch wenn sie weniger ausgearbeitet ist als in der Jo-Jo Fibel oder in Karibu, bietet den Erstklässlern die Möglichkeit, unter ihnen eine Figur zu entdecken, der sie sich ähnlich fühlen, von der sie sich bewusst unterscheiden oder der sie ähnlich werden wollen. Sie können einzelne Fibelkinder als Vorbild verwerfen oder adaptieren. Die Fibelprotagonisten funktionieren dann als Denk- und Gesprächsanlass, als Medium der Selbst- und Fremdbetrachtung: Wer und wie bin ich? Wer und wie bist du? Das Wissen um die eigene Besonderheit und entsprechend formulierte Mitteilungen über sich selbst werden in fast allen Fibeln gefördert. Es gibt Kapitel »Ich bin ich« (z. B. Tinto, Ausgabe 2018, S. 6 f.; Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015, S. 58), »Das kann ich, das mag ich« (Zebra 1, Ausgabe 2019, S. 52 f.), »Das bin ich« (Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 118 ff.) usw. Fibelkinder betrachten sich im Spiegel und sehen dort im Schattenriss, was sie gerade gerne wären – eine Tänzerin, ein Koch (Zebra 1, Ausgabe 2019, S. 51) – oder sie blicken weit voraus in ein mögliches Berufsleben: Faruk, z. B. will Richter werden, denn er »findet es schlecht, wenn Kinder schubsen«, und Lotta will als Astronautin »in das Weltall düsen« (Piri 1, Ausgabe 2013, S. 55). Nur einmal wird die Lebensgeschichte thematisiert, die doch Erstklässler auch schon haben: Romi bekommt einen kleinen Bruder. Das 28 Trotz dieser gut ausgearbeiteten Klasse gibt es auch hier einen engeren Figurenzirkel um Nino und Nina, die befreundet sind und deren familiärer Kontext miterzählt wird.
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Abbildung 18: Ein Plakat für die Selbsteinschätzung (Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 72 u. 73)
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ist ein Anlass, um sich mit den Eltern die eigenen Babybilder anzusehen. »Du warst du so klein und niedlich«, meint die Mutter (Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015, S. 64 f.). Diese Erforschung des eigenen babykleinen Ichs kann Romi helfen, sich der eigenen Entwicklung und ihres jetzigen Status zu vergewissern. Das ist ein gewisser Schutz gegen allzu große Eifersucht auf den kleineren Bruder, der sicher viel Aufmerksamkeit von Mutter und Vater fordern wird, Aufmerksamkeit, die bisher ungeteilt Romi galt. Aber es wäre für alle Kinder gut, nicht nur in der Gegenwart verhaftet zu sein, sondern auch die eigene Geschichte zu erforschen und Zukunftsentwürfe zu versuchen. Wenn sie lernen, im eigenen Leben zurückzureisen, die Gegenwart zu realisieren und sich Vorstellungen von der Zukunft zu machen, können auch schon junge Kinder Zeitund historisches Bewusstsein entwickeln (Ehlers, 1989; Nitsch, 2013a, 2013b). Das folgte dem Motto »Was kümmerte uns Vergangenheit, wäre sie nicht Organ unserer Zukunft« (Bettina von Armin, zit. nach Ehlers 1989, Frontispiz). Es gibt Fibelbilder und Texte zu unterschiedlichsten Gefühlen – Wut, Angst, Traurigkeit, Freude – und Anregungen, darüber nachzudenken, wie man sich selbst beschreiben würde, beispielsweise mithilfe von Karten mit Eigenschaften wie fröhlich, ungeduldig oder hilfsbereit (Einsterns Schwester 1, Ausgabe 2015, S. 33). Fibelkinder unterhalten sich auch über das, was sie schon gut können und was sie noch lernen möchten. Am eindrucksvollsten ist dazu die Darstellung zweier Plakate, auf der die Kinder einer Fibelklasse eintragen: »Das kann ich schon gut« und »Das fällt mir noch schwer« (siehe Abbildung 18). Angegeben werden einerseits Fähigkeiten, um deren Erwerb es im Verlauf der ersten Klasse geht. Dabei sind die Angaben der Fibelschüler(innen) erstaunlich differenziert. Andererseits wird auch die Entwicklung sozialen Verhaltens thematisiert: »nicht immer gleich wütend werden« oder »allen in der Gruppe sagen, dass ich Angst habe«. Auf der Kann-ich-schon-gut-Seite geben fünf Kinder an, dass sie schon genau hinhören, wenn andere etwas sagen, drei können mit einem Partnerkind üben, und vier schreiben sich die Fähigkeit zu, »andere Kinder [zu] trösten«. Dass die Fibelkinder sich selbst mit ihren geschätzten und weniger geschätzten Eigenschaften und Handlungen offenbaren, kann den
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Erstklässlern Mut machen, ihre eigene Individualität und auch die ihrer Mitschüler(innen) wahrzunehmen. Sie lernen, sich zu zeigen und zu sich zu stehen, ohne Entwicklung und Veränderung auszuschließen. Die Kinder vor dem Plakat in der Fibel »Mimi, die Lesemaus« machen das vor, indem sie sowohl Erreichtes als auch Defizite formulieren und daraus als Konsequenz festhalten, was sie in intellektueller und sozialer Hinsicht noch üben möchten.
Fatma, Jonas, Emre, Salome – Kinder mit Migrationsgeschichte in Fibelbildern Wenn sie nach Fibelfiguren suchen, die ihnen ähneln, werden nicht alle Schulkinder gleichermaßen fündig. Das gilt in besonderem Maße für Kinder mit Migrationsgeschichte. So gibt das statistische Bundesamt für 2017/2018 an, dass jedes dritte Kind im allgemeinbildenden Schulwesen migrantische Wurzeln hat.29 Dem entspricht annäherungsweise die Darstellung der Fibelklassen in »Zebra 1« (Ausgabe 2017), in »Karibu« (Ausgabe 2015) und »Mimi, die Lesemaus« (Ausgabe 2014). In den übrigen 75 % der Untersuchungsgruppe sind Kinder mit Migrationsgeschichte in den abgebildeten Fibelklassen im Vergleich mit der Realität deutlich unterrepräsentiert. Dazu Beispiele: In »Piri 1« gibt es in einer Klasse von 19 Kindern nur eine Tülin und einen Faruk (Piri 1, Ausgabe 2013), gemessen am statistischen Durchschnitt fehlen hier vier Kinder aus eingewanderten Familien. Ähnlich ist es in »Bausteine« (Ausgabe 2015), wo von zwanzig Fibelkindern nur Ali und Suna Eltern oder Großeltern haben, die eingewandert sind. Die Protagonisten Fara und Fu kennen lediglich einen Murat und ein hellbraunes Mädchen ohne Namen (Fara und Fu 1, Ausgabe 2015). In »Einsterns Schwester« (Ausgabe 2014) gibt es auf den Seiten 28 und 30 jeweils völlig unvermittelt einen Jungen mit brauner Hautfarbe und auf Seite 54 eine Neue in der Klasse. Die Lehrerin stellt sie als Sita aus Indien vor und sagt über sie, dass sie aber schon länger in Deutschland lebt – und irgendwie klingt das im Text entschuldigend. Außerdem haben 29 www.news4teachers.de/2018/03/statistisches-bundesamt-jeder-dritte- schueler-hat-einen-migrationshintergrund (1.2.2020).
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die Fibelillustratorinnen Sita einen Sari angezogen und betonen damit an ihr das Fremde, Exotische, also das, was sie von den Fibelkindern, die jetzt ihre Mitschüler(innen) werden sollen, zumindest äußerlich trennt. In anderen Fibeln finden Kinder mit Migrationsgeschichte Bilder, in denen sie etwas von sich wiedererkennen könnten: So gibt es in der »Jo-Jo Fibel« (Ausgabe 2016) eine sehr lebendig dargestellte Sulola mit Rasterzöpfchen, einen klugen braunhäutigen Toni und einen schon mit dem Computer vertrauten Ali. In der 2017 erschienenen Neubearbeitung der Fibel »Zebra 1« hat etwa ein Drittel der Kinder (und das entspricht heute der Realität in vielen ersten Klassen) ausländisch klingende Namen – Tami, Liam, Murat, Elif, Amin, Ali, Selina. Außer Simon, einem Jungen mit sichtbar afrikanischen Wurzeln, haben die Illustratorinnen dieser Fibel mögliche äußerliche Besonderheiten in ihren Zeichnungen wenig betont. Dadurch wird eine selbstverständliche Zugehörigkeit aller Kinder zur Lerngruppe nahegelegt.30 Während Bilder in diesen wenigen Fibeln eher ein Miteinander in Vielfalt zeigen, signalisieren Fibeln, die nur vereinzelte Kinder mit mi grantischer Herkunft abbilden, den realen Kindern mit Einwanderungsgeschichte: »Du bist ein Sonderfall.« Dabei sind die meisten Kinder mit migrantischen Wurzeln – wie auch schon ihre Eltern – Deutsche und haben eine hybride Identität ausgebildet, in der sich die ursprüngliche Familienkultur mit der sie umgebenden gesellschaftlichen Kultur zu etwas Neuem verbindet. Die Tonis, Murats, Alis, Saras, Sunas, Saschas, Hasans, Sitas oder Valentinas aus den Fibeln erscheinen auch in anderer Hinsicht als »Sonderfälle« – sie sind nie die Störenfriede in der Klasse, sondern durchweg »brav« und oft besonders hilfsbereit. Das mag von den Fibelautoren und -illustratorinnen vielleicht ermutigend gemeint sein. Aber sie verwehren damit den Fibelkindern mit migrantischen Wurzel die Unterschiedlichkeit im Verhalten, die den anderen Kindern zugestanden ist, denn diese dürfen sich vielseitig – mal klug und verantwortlich, mal begriffsstutzig, eigensinnig oder regelverletzend – zeigen. Die betroffenen migrantischen Kinder könnten sich fragen: »Wieso bin ich, sind wir im Lesebuch nicht angemessen repräsentiert? Gehöre 30 Ähnliche mehr an der Realität orientierte Darstellungen der Erstklässler finden sich in »Karibu« (Ausgabe 2015) oder »Mimi, die Lesemaus« (Ausgabe 2014).
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ich, so wie ich grade bin, dazu?« Solche bangen Gefühle und Unsicher heiten können belastende »innere Bilder« hervorbringen, z. B. das noch unreife Identitätsgefühl verunsichern, ein vielleicht minderwertiges Selbstbild verstärken, zu Lernblockaden oder auch zu Verhaltensauffälligkeiten und Rückzug aus der Lerngruppe führen. Insofern erscheint es für den Lernerfolg, für eine nachhaltige soziale Integration und das Entstehen einer emotionalen und inhaltlichen Bindung an »unsere offene Gesellschaft« hinderlich, wenn Kinder mit Migrationsgeschichte in Fibeln unterrepräsentiert sind und tendenziell in ein Prokrustesbett aus Brav- und/oder Klugsein eingesperrt werden. Die Fibeln zeigen nicht nur Schul-, sondern auch Familien- und Freizeitsituationen. Dort fehlen in mehr als 50 % der Untersuchungsgruppe Kinder aus Einwandererfamilien. Sie erscheinen auch nur selten über die Schulhöfe hinaus als ganz selbstverständliche Freundinnen und Freunde: »Ali« ist das einzige migrantische Kind, das mit Freunden aus der Schule in einem Fibelkinderzimmer spielt oder später mit Schulfreund Ole den Keller nach brauchbaren Sachen durchstöbert (Bausteine, Ausgabe 2014, S. 8, 22, 56). Amon hat Anschluss an die Familie der Klassenkameradinnen Ina und Nina (Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015). Tülin spielt nachmittags mit Mitschülerinnen engagiert Fußball, was im realen Alltag für türkische Mädchen eher ungewöhnlich ist und als Anstoß in Richtung Emanzipation gemeint sein könnte (Piri 1, Ausgabe 2013, S. 16). Murat schließlich tobt unbekümmert mit Freunden im Schwimmbad (Fara und Fu 1, Ausgabe 2015, S. 26 f.). Aber diese Beispiele eines ungezwungenen Umgangs zwischen Kindern mit und ohne Migrationsgeschichte bilden Ausnahmen.31 Junge Grundschüler/innen, so wurde einleitend entwickelt, wollen sich zugehörig fühlen. Daher sollten sich alle Erstklässler in ihrer Verschiedenheit auf Fibelbildern als zugehörig erkennen können. Berechtigt erscheint deshalb die Erwartung, dass Erstlesebücher für die Kinder, die in einer heute durch Migration geprägten Gesellschaft aufwachsen, 31 Fibelkinder mit Wurzeln in anderen Ländern schließen sich manchmal Kindern an, die ebenfalls eine Migrationsgeschichte haben, wie Jonas und Fatma aus »Tinto« (Ausgabe 2018, S. 70), oder sie verbünden sich mit einem behinderten Kind, wie Toni aus der Jo-Jo Fibel (Ausgabe 2016, S. 106), der sich mit seiner Klassenkameradin Ina befreundet, die auf den Rollstuhl angewiesen ist.
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mit ihren Illustrationen und Geschichten ein an der Realität orientiertes Bild der vielfältigen gesellschaftlichen Wirklichkeit zeigen. Das beförderte die Akzeptanz von kultureller Vielfalt und wäre ein Beitrag zur Entwicklung einer toleranten und antirassistischen Haltung von klein auf. Bezogen auf dieses Ziel enttäuscht der überwiegende Teil der untersuchten Fibeln.
Luisa, Ben und »Prinz Seltsam« – Kinder mit Behinderung in Fibelbildern Was die Repräsentanz in den Erstlesebüchern angeht, sind Kinder mit Behinderung noch mehr im Nachteil als Kinder mit Migrationshintergrund. Pro Fibel gibt es in jeder Fibelklasse jeweils ein behindertes Kind im Rollstuhl, entweder einen Jungen oder ein Mädchen. Sehr auffällig ist, dass sie alle freundlich sind, »nett«, manchmal mit umgedrehtem »Basecap« sogar »cool« aussehen (Zebra 1, Ausgabe 2019, S. 58; Bausteine, Ausgabe 2015, S. 63). Außerdem erscheinen sie, was ihre intellektuelle Entwicklung angeht, eher herauszuragen. Wo beispielsweise Nils, der dem Rollstuhlkind Ina gegenüber sitzt, zum Buchstaben »A« noch gar nichts und Ali neben ihr einen Apfel mit Anlaut-A gemalt hat, findet sich auf ihrem Bild schon eine Zeichnung der dreisilbigen Giraffe, die das »a« als Binnenlaut hat – das muss man erst mal heraushören (Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 10 f.).32 Ina kümmert sich außerdem schon auf der nächsten Doppelseite um den verzweifelten Noa, der statt seines Namens nur Kritzeleien hinkriegt und sie ist auch viele Fibelseiten später die Einzige, die dem schüchternen Andi, der seinen »Dino Dodo« vorstellt, zuruft: »Andi, dein Dino ist toll!« (S. 38 f.). Ina ist also auch besonders empathisch und sozial. Diese Tendenz, die Behinderung von Fibelkindern durch Überkompensation ihrer Fähigkeiten oder Besonderheiten »auszugleichen«, kennzeichnet fast alle Erstlesebücher. Das geschieht auf unterschiedli32 Außer Ina haben noch drei weitere Kinder dreisilbige A-Wörter gefunden: Nino, der einen italienischen Vater hat: »Ananas«; Lisa, ein verhaltensauffälliges Kind: »Banane«; Toni, ein Junge mit Migrationshintergrund: »Ameise« (schon mit drei Silbenschwüngen). Es scheint so, als müsse Besonderheit mit intellektueller Leistung ausgeglichen und dadurch annehmbar werden.
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Abbildung 19: Gemeinsame Arbeit (Tinto, Ausgabe 2018, S. 50)
che Weise: Der blinde »Bela kann nicht sehen. Aber im Tor-Ball ist er der Beste« (Bausteine, Ausgabe 2014, S. 62). Das gelingt ihm, weil er »besonders seine Ohren benutzt« und dann den mit Metallstückchen gefüllten Ball gut hört (S. 62). Das macht Bela für sehende Kinder – für die in der Fibel ebenso wie für die wirklichen Erstklässler – interessant.33 Fibel-Emil ist auf einen Rollstuhl angewiesen, allerdings: »Sein Rollstuhl sieht aus wie ein richtiger Sportflitzer« (Zebra 1, Ausgabe 2019, S. 58 f.). Ein Fibelmädchen steigt auf und fährt mit zu ihm nach Hause, denn »Emil und ich können gut zusammen spielen« (S. 59). Das ist eine bemerkenswerte Ausnahme, denn die meisten Rollstuhlkinder in den Fibeln sind zwar im Klassenzimmer aufgenommen, haben aber – mit Ausnahme von Ben aus der »Auerfibel« – weder Eltern, die in Erscheinung treten, noch ein Zuhause. Rollstuhlkinder erscheinen in ihrer Freizeit nur selten auf einem Spielplatz, fehlen im Park, kriegen kaum Besuch und besuchen in der Regel auch niemanden. Auch im 33 Außerdem benutzt Bela eine besondere Schrift.
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Straßenbild sucht man sie meist vergeblich. Das namenlose Mädchen mit dem Rollstuhl, das auf Abbildung 19 schon so gut schreiben kann, ist eins von wenigen: Sie wird auf einem Bild von einer erwachsenen Frau über einen Zebrastreifen geschoben (Tinto, Ausgabe 2018, S. 12 f.). Selbst in der Schule gibt es in den Fibeln Bereiche, die behinderten Kindern verschlossen bleiben. So fehlen sie im Sportunterricht (Karibu, Ausgabe 2015, S. 14) oder beim Lehrausgang an den Teich (Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015, S. 101). Manchmal dürfen sie nicht am Klassenfrühstück teilnehmen (Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 32 f.) und man vermisst sie auch beim Geburtstagsritual (Zebra 1, Ausgabe 2017, S. 18). Selbst die unterrichtliche Einbindung glückt nicht immer. Eine positive Ausnahme bildet »Karibu« (Ausgabe 2015). Sofie mit ihrem Rollstuhl taucht durch das ganze Buch hindurch in ganz unterschiedlichen Fibelsituationen auf, auch wenn ihr die Teilnahme am Turnunterricht und am Ausflug zum Meer versagt bleiben. Abbildung 20 zeigt eine integrierende Lösung: Geübt wird das große O. Die Kinder sollen mit einem Ding, das ein großes oder kleines O enthält, durch einen Reifen springen, der wiederum das O symbolisiert. Ben im Rollstuhl hält diesen Reifen für die anderen Kinder und ruft den Namen des Gegenstandes. Ben ist also aktiv beteiligt und damit auch in die Lerngruppe eingebunden.34 In »Piri 1« (2013, S. 90 f) fallen das behinderte Mädchen Alma und in »Bausteine« (Ausgabe 2015, S. 134 f.) Luisa durch ihre Teilnahme am Spiel- und Sportfest auf. Zwar können sie nicht um die Wette laufen; sie machen aber den Stiefel- bzw. Schwammweitwurf mit. Trotz solcher positiven Beispiele bleibt festzuhalten, dass in den untersuchten Fibeln die Darstellung von behinderten Kindern überwiegend defizitär ist: Nicht nur fehlen sie in zu vielen Lern-, Erkundungsund Spielsituationen, nicht nur bleibt ihnen eine familiäre Umgebung versagt, sondern es werden auch nur behinderte Kinder vorgestellt, die 34 In einer Hinsicht hat Ben gegenüber den meisten anderen Rollstuhlkindern in den Fibeln einen Vorteil: Er hat einen Vater, mit dem er Gemüse schnippelt. Auch wenn Ben sich das nur vorstellt, um in der Schule ein Bild von seinem Papa zu malen, so wissen die aufmerksamen Fibelleser doch, dass er genau wie sie ein Zuhause hat. Auch Sofie scheint eine Familie zu haben, denn Bruder Alfi schlägt vor: »Wir rufen unsere Oma an« (Karibu, 2015, S. 29).
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Abbildung 20: Ben ist beteiligt (Die Auerfibel, Ausgabe 2018, S. 8 f.)
ohne zusätzliche Einschränkungen im Rollstuhl sitzen. Dreimal wird von einem blinden Kind erzählt (Bausteine, Ausgabe 2015; S. 62 f.; Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2015, S. 96 f.; Einsterns Schwester 1, Ausgabe 2018, S. 29) und einmal gibt es einen Hinweis auf gehörlose Menschen (Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 97). Ein Kind mit Trisomie 21 taucht nur als »Prinz Seltsam« in einem Auszug aus einem Kinderbuch auf (Piri 1, 2013, S. 76). Schließlich könnte man noch ein Bild zum Märchen von »Hans, mein Igel« als Anlass zum Sprechen über schwerere Behinderungen verstehen (ABC der Tiere 1, 2010, S. 25), allerdings nur mit viel Fantasie und gutem Willen.35 Für 35 Diese Defizite kann man sicher nur teilweise den Fibelautorinnen und Illustratoren anlasten. Etwa 80 % der betrachteten Fibeln basieren auf früheren Ausgaben und wurden aufgrund bildungspolitischer Entwicklungen – wie die Entwicklung integrativer und inklusiver Unterrichtsstrukturen – »nach-
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die behinderten Kinder unter den Erstklässlern könnte neben der sublimen Ausgrenzung der Ansporn zu besonderen Leistungen in ihre »inneren Bilder« eingehen.
Wir verhalten uns zueinander Frau Meis, die Lehrerin aus der »Zebra-Fibel« (Ausgabe 2019), ist auf Seite 11 sichtbar »genervt« – in der Klasse ist es laut, es gibt Streit und wenig Aufmerksamkeit für Ansagen der Lehrerin, und auch eine Verhaltensregulation der Kinder untereinander gelingt nicht. Sehr berechtigt scheinen daher die Fragen: »Warum brauchen wir Regeln?« (S. 10) oder »Was stört dich im Unterricht?«36 Zwölf Seiten weiter finden sich dann die Regeln für das Verhalten im Erzählkreis in Illustrationen und kurzen Sätzen (S. 22). Soweit Fibeln37 solche illustrierten Regeln für das Arbeiten im Klassenzimmer enthalten, geht es immer darum, leise zu sein, sich zu melden, wenn man etwas sagen möchte, und dem einen, der spricht, zuzuhören (z. B. Tinto, Ausgabe 2018, S. 8; Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014; Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 10; Piri 1, Ausgabe 2013, S. 60). Außerdem sollen die Kinder zueinander »nett sein«, miteinander »teilen« und sich gegenseitig »helfen«, z. B. wenn jemand verzweifelt, weil er nicht weiß, wie eine Aufgabe zu lösen ist (u. a. Einsterns Schwester 1, Ausgabe 2015, S. 55; Fara und Fu 1, Ausgabe 2015, 18 f.; Tinto, Ausgabe 2018, S. 8). Immer wieder machen die Fibelkinder vor, wie zweckmäßig geübt werden kann (z. B. Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 8 f.; Karibu, Ausgabe 2015, S. 7–11; Zebra 1, Ausgabe 2019, S. 44 f.; Piri 1, Ausgabe 2013, S. 42; Bausteine, Ausgabe 2014, S. 14). Es sind diese Hinweise auf funktionale Arbeits-
gerüstet«, ohne das Fibelkonzept insgesamt infrage zu stellen, nicht zuletzt aus Kostengründen. 36 Relatives Chaos in der Lerngruppe ist auch in anderen Fibeln der Auslöser für das Einführen von Regeln, z. B. in »Tinto«, Ausgabe 2018, S. 8. 37 In vier Fibeln (ABC der Tiere 1, Ausgabe 2010; Die Auerfibel, Ausgabe 2014; Bausteine, Ausgabe 2014; Fara und Fu 1, Ausgabe 2015) gibt es keine explizite Darstellung von Regeln, die die gemeinsame Arbeit befördern.
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Abbildung 21: Auf dem Schulhof (Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 14 f.)
abläufe, die den Erstklässlern Unabhängigkeit beim Lernen einräumen, aber auch Selbstverantwortung verlangen.38 Regeln betreffen das Verhältnis von individueller zu gemeinsamer Arbeit, den Austausch mit anderen und das gemeinsame Handeln, also die Entwicklung von Kooperation, z. B. »Ich arbeite alleine. Ich tausche mich mit einem Partner aus. Wir besprechen uns [in der Gruppe] und unsere Ergebnisse. Wir ergänzen uns« (Karibu, Ausgabe 2015, S. 108). Mehrere, gut ausformulierte und einfach gezeichnete Vorschläge, wie individuelle und gemeinschaftliche Arbeitsanteile zusammenpassen, enthält »Zebra 1« (Ausgabe 2019, S. 68 f., 88 f., 110 f. usw.). Diese Fibel besticht – bezogen auf Arbeitsprozesse – durch die gute Balance zwischen dem Ich und dem Wir, ein Verhältnis, das in den meisten anderen Fibeln selten wahrnehmbar ist.39 38 Außerdem – und das ist für den Schulerfolg nicht unwesentlich – werden so auch die Mütter und Väter, die Omas und Opas informiert, wie es heute in der Schule gemacht wird, denn da hat sich – wie gesagt – seit ihrer eigenen Schulzeit vieles verändert. 39 Solche Hilfestellungen für funktionale Arbeitsabläufe sowie Anleitungen für Basteleien und erste naturwissenschaftliche Versuche füllen einen erhebli-
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Neben explizit formulierten Regeln demonstrieren Illustrationen vorbildliches und weniger nachahmenswertes Verhalten. Auf dem Schulhof soll beispielsweise kein Abfall auf den Boden geworfen werden. Darauf weist Emre hin, während das angesprochene Mädchen sich hochnäsig über die Regeln hinwegsetzt. Eine Aufsicht führende Lehrkraft ruft man, wenn zwei sich prügeln (siehe Abbildung 21; ähnlich: Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 8 f.). Im Sportunterricht und beim Spiel- und Sportfest turnen und bewegen sich die Fibelkinder selbstständig, derweil die Lehrerin Hilfestellung gibt, wo sie notwendig ist (Karibu, Ausgabe 2015, S. 14) oder Aufsicht führt (Bausteine, Ausgabe 2014, S. 134; Piri 1, Ausgabe 2013, S. 90 f.). Bei einer Sportverletzung hat ein Fibelkind ein Pflaster zur Hand (Fara und Fu 1, Ausgabe 2015, S. 25). Wird Fußball gespielt, werden ausgeübte Fouls als unfair zurückgewiesen: »Lass los, Lotta!« (z. B. Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 30; Piri 1, Ausgabe 2013, S. 16). Wenn der gefoulte Timo (oder auch ein anderes Fibelkind) das Einhalten der Spielregeln einfordert, realisiert er »ein Gefühl […] für gerechte Chancen« (Erikson, 1959/1995, S. 106). Indem er das Regelwerk praktisch durchsetzt, entwickelt er dieses Gefühl zugleich weiter. Vereinbarungen, die im sportlich-spielerischen Geschehen für »gerechte Chancen« sorgen sollen, können sich so allmählich auf zwischenmenschliches Verhalten insgesamt verallgemeinern. Aufschlussreich sind die Klassenzimmerwände in den Fibeln. In vier der Erstlesebücher sind Plakate mit Einteilungen zum Klassendienst zu entdecken (Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 12; Jo-Jo Fibel, 2016, S. 12; Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015, S. 70; Piri 1, Ausgabe 2013, S. 11). Die Schüler und Schülerinnen sind wochenweise verantwortlich für das Tafelwischen, das Gießen der Blumen, das Leeren der Papierkörbe und wohl auch für die Ordnung in den Materialregalen: »alles aufräumen« (Einsterns Schwester 1, Ausgabe 2015, S. 55). Das sind überschaubare Verantwortungen, die auch schon Kinder in der ersten Klasse übernehmen können und sollten. Sie erledigen sol-
chen Teil der Fibelseiten. Einige dieser Anleitungen finden sich in den meisten Fibeln, z. B. die Tipps zum Abschreiben, zum Herstellen von Ichund Geschichtenbüchern oder zum Erstellen von Plakaten zu einem Thema.
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che Aufgaben meist gerne, weil sie sich dabei als nützliche Mitglieder der Klassen- und Schulgemeinschaft erleben. Neben solchen relativ festen und im besseren Fall gemeinsam entwickelten Regelwerken für das individuelle und gemeinsame Arbeiten im Unterricht, für Verantwortlichkeiten im Klassenraum und auf dem Schulgelände gibt es in den Fibeln zahlreiche Modellgeschichten für einen zugewandten Umgang miteinander, für die Lösung von Konflikten, wie sie unter Erstklässlern vorkommen, und für ein empathisches Verständnis von Kindern, die sich in einer schwierigen Lage befinden. Die Fibelkinder fordern mit diesen Geschichten, die immer aussagekräftig illustriert sind, dazu auf, die Situationen und die darin agierenden Menschen zu verstehen, über angemessenes Verhalten nachzudenken und gegebenenfalls entsprechend zu handeln. Es gibt Fälle, da liegt das, was richtig ist, auf der Hand. Wenn ein Fibelkind krank ist, schickt die Klasse ihm Briefe (z. B. Zebra 1, Ausgabe 2019, S. 124; Fara und Fu 1, Ausgabe 2015, S. 40 f.). Klar scheint auch, dass man Ole oder Amon hilft, wenn sie wegen eines Gipsarms eingeschränkt sind (Tinto, Ausgabe 2018, S. 9; Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015, S. 97). Etwas kniffliger wird es, wenn sich Leo zwischen dem Schwimmbad und einem Besuch bei Emma entscheiden muss, die sich ein Bein gebrochen hat (Die Auerfibel, Ausgabe 2014, S. 87). Bei einem Wandertag überlegt sich Julian, ob er, wie alle andern auf der Wiese herumtobt, oder sich für Ben, der aus dem Rollstuhl nur zusehen kann, ein Spiel ausdenkt, das sie gemeinsam spielen können (Die Auerfibel, Ausgabe 2014, S. 86). Aber wenn es ums Helfen geht, entscheiden sich Fibelkinder immer moralisch einwandfrei: Leo besucht Emma, Julian spielt mit Ben, Jonas hilft Ole, Amon lässt alles Eigene fallen, um Ninas Drachenschnur zu »enttüddeln« usw. Fibelkinder sind auch sofort bereit, die neuen Schüler(innen) Hasan, Samir oder Valentina freundlich aufzunehmen, sie ins Spiel einzubeziehen oder mit ihnen Wörter zu tauschen – Stiefel auf Italienisch gegen Stiefel auf Türkisch, Freund auf Türkisch gegen Freund auf Deutsch. Nur Sita, die in Indien geboren ist, sitzt allein, ohne dass die jungen Leser(innen) dafür einen Grund erfahren (Einsterns Schwester 1, Ausgabe 2015, S. 54). Schwieriger zu lösen sind Konflikte, in denen es um missglückte Triangulierungen oder falsche Beschuldigungen geht:
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– Dario ist z. B. sehr sauer auf Paul, weil der, statt ihn abzuholen, den Schulweg mit Leo zurücklegt. Er ist schwer beleidigt und will Paul nicht mehr zu seinem Geburtstag einladen, obwohl der ihm freundlich zuruft. Da die Fibelkinder hier ratlos sind, sollen die »echten« Erstklässler einen Ausweg finden: »Wie geht es weiter? Bleiben die beiden Freunde?« (Einsterns Schwester 1, Ausgabe 2015, S. 30 f.). – Simon beschuldigt den sowieso schon eingeschüchterten Andi, er habe Tonis Ball. Zum Glück kommt Toni mit seinem Ball vorbei. Simon besitzt Anstand und entschuldigt sich bei Andi. – Tim vermisst sein Jo-Jo. Er sieht, wie Jakob etwas in seine Brotdose tut und verdächtigt ihn ziemlich aggressiv, sein Jo-Jo einzupacken. Jakob läuft mit grimmiger Miene davon. »Da ruft ein Kind: »Ist das dein Jo-Jo, Tim?« Hier schlägt die Fibel den Erstklässlern vor, die Geschichte nachzuspielen und einen eigenen Schluss zu finden (Piri 1, Ausgabe 2013, S. 56). Fibelkinder werden auf vielfältige Weise dazu angehalten, sich über andere Gedanken zu machen: »Was könnte Sita denken, wenn sie so allein in der neuen Klasse sitzt?« (Einsterns Schwester 1, Ausgabe 2015, 30 f.) Warum steht Sara allein neben der Rutsche und weint? »Tauscht euch aus: Warum könnte Sara weinen? Überlegt, wie ihr Sara helfen könnt« (Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 47). Dann wäre auch darüber nachzudenken, warum Andi oft allein bleibt, viel weint und wenig redet (Jo-Jo Fibel, 2016, S. 59). Was ist mit Micha los? Er kommt schlecht gelaunt und voller Wut aus der Schule (Karibu, Ausgabe 2015, S. 66 f.). Lisa und Dominik (Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 59; Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 84) sind damit beschäftigt, dass sich ihre Eltern nicht vertragen, ganz im Unterschied zu den überaus glücklichen Familien, die auf anderen Seiten zu finden sind. Lisa ist dabei voller Schuldgefühle. »Heute konnte ich wieder nicht leise sein. Und ich habe Anitas Lineal vom Tisch geworfen. Ich weiß selbst nicht warum.« Ja, warum? Das sollen die Leser(innen) dieser Geschichte herausfinden und sich einen Hilfeplan ausdenken. Auch wenn sich die angesprochen Regelwerke und Beziehungskonflikte über die verschiedenen Fibeln verteilen, wird den Erstklässlern mittels der Fibelprotagonistinnen und Protagonisten ein hohes Maß an
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Selbstorganisation und Hilfsbereitschaft, an Einfühlungsvermögen und Konfliktlösungskompetenz zugemutet. Diesem, als ideal und besonders wertvoll vorgeführten zwischenmenschlichen Verhalten werden die wirklichen Schulanfänger oftmals nicht gerecht werden können oder wollen. Es ist sogar zu befürchten, dass sie sich angesichts der Idealisierungen offen oder heimlich »Auswege« suchen, die sie scheinbar entlasten, sie allerdings längerfristig in ihrer Persönlichkeitsentwicklung behindern können. Ich, in meiner Funktion als kritische Betrachterin, bin geradezu erleichtert, wenn wenigstens in einer Fibel von dem freundlichen Känguru Karibu darauf hingewiesen wird, dass sich die Fibelkinder und damit auch die realen Erstklässler mit Fragen und Unsicherheiten nicht nur an Mitschüler(innen), sondern auch an ihre Lehrerin wenden können (Karibu, Ausgabe 2015, S. 108).
Kinder und Erwachsene Die Erwachsenen, zu denen Fibelkinder in Beziehung stehen, sind vor allem ihre Lehrer und die Erwachsenen aus ihrem familiären Umfeld – Eltern, Großeltern und Tanten. Gelegentlich tauchen noch andere erwachsene Personen auf, zweimal bereichert ein Hausmeister das schulische Personal (Karibu, Ausgabe 2015, S. 6; Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 15), Bibliothekarinnen helfen beim Bücherfinden und Kinderbuchautoren (Max Kruse, Paul Maar, Sven Nordqvist, Ingo Siegner) sprechen über ihre Arbeit, das Schreiben von Kinderbüchern. Ihr quasi persönliches Erscheinen – sie sind im Unterschied zu allen anderen Personen mit einem Foto vorgestellt – unterstreicht den hohen Stellenwert, den alle Fibelmacher(innen) dem Lesen als zentraler Kulturfähigkeit zuschreiben,40
40 Fibelbilder und -geschichten betonen die Lust, die es Fibelkindern macht, in Geschichten einzutauchen oder in Büchern nach Informationen zu stöbern. Dabei erscheinen Fibelbüchereien als Orte, die für Kinder vieles bereithalten, nicht nur Bücher, sondern auch DVDs und Computerspiele, und außerdem empfehlen sie sich als Zufluchtsorte an ungemütlichen Regentagen.
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Lehrerinnen41 Im pädagogischen Diskurs gibt es nach wie vor kaum Zweifel daran, dass das unterrichtliche Handeln der Lehrer und ihre Beziehungsgestaltung besonders in der Grundschule maßgeblich darüber bestimmen, ob sich im Klassenzimmer eine lernfreudige und entwicklungsfördernde Atmosphäre etabliert, ob die Neugier und Lernfreude, die sechsjährige Kinder meist mitbringen, als Basis für Lernerfolge gepflegt und erhalten wird (z. B. Hattie, 2014).42 Daher kann es erstaunen, dass knapp die Hälfte der untersuchten Fibeln ganz ohne Abbildungen von Lehrenden auskommen. Beziehungen zwischen ihnen und den Fibelkindern sind wenig sichtbar und scheinen nebensächlich zu sein. Nur in einer der betrachteten Fibeln gibt es eine kleine Szene, die andeutet, dass Kinder eine Beziehung zu »ihrer Lehrerin« entwickeln: Am ersten Schultag wollte sich die kleine Lina nicht von der Mutter trennen, sie hat geweint und war kaum zu trösten. Wenige Tage später steht sie zugewandt und erwartungsvoll vor der Lehrerin, die sich mittels der Handpuppe »Mimi Lesemaus« mit ihr unterhält (siehe Abbildung 22).43 Ich sehe in dem Bild, wie Lina neben der Mutter zu einem weiteren Menschen Zutrauen fasst, ein Gefühl, das ihr helfen wird, zu lernen und, wenn nötig, um Hilfe zu bitten. Überwiegend entwerfen Fibelillustratoren und -autorinnen von Lehrkräften ein randständiges und entwertendes Bild. Nur dreien der dargestellten Lehrerinnen wird ein Name zugestanden: Frau Funk (Die Auerfibel, Ausgabe 2014), Frau Löber (Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016) und Frau Mais (Zebra 1, Ausgabe 2019). 41 Fast alle Lehrkräfte in den Fibelklassen sind weiblich, männliche tauchen nur bei der Hofaufsicht und einmal im Musikunterricht auf. 42 Verschiedene Faktoren beeinflussen den Lernerfolg. Nach Hattie entfallen ca. 40 % auf die Haltung der Lehrpersonen und die Art des Unterrichtens. Weitere, im Schulalltag weniger beeinflussbare Faktoren sind die Voraussetzungen der Lernenden, das Elternhaus, die Verfasstheit der Schule und die Curricula. 43 »Mimi, die Lesemaus« ist eine der fiktiven Begleitfiguren, die in allen Fibeln eine Rolle spielen. Sie haben unterschiedliche Funktionen, fungieren meines Erachtens aber vor allem als ein kollektives Übergangsobjekt. Die Begleiter können trösten, loben, kuscheln, kritisieren usw. In manchen Fibeln betonen sie wichtige Merksätze (z. B. Leo und Ele in der Auerfibel, Ausgabe 2014).
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Abbildung 22: Lina, Mimi und die Lehrerin (Ausschnitt aus: Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 13)
Eine andere bleibt zwar namenlos und hat fast immer ein verschlossenes Gesicht; sie wird aber immerhin einmal als »unsere Lehrerin« gewürdigt (Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015, S. 61). Das geschieht in der einzigen Szene, in der sie sichtbar etwas für den Unterrichtsfortgang tut: »Unsere Lehrerin holt eine Weltkarte« und sagt: »Seht her, hier ist Moskau. Dort ist Saschas alte Heimat« (S. 61). Gemessen an den nicht existenten Äußerungen der anderen Fibellehrer(innen) können diese zehn Worte schon als Unterrichtsvortrag gelten. Ansonsten kehrt diese Lehrerin den Schülern gerne den Rücken zu, auch wenn ein Kind sie ansprechen will, und heftet Schülerarbeiten an Wand oder Fenster (S. 9, 29). Nur zwei kleine Szenen zeigen sie im Kontakt mit Kindern: Einmal hilft sie dem behinderten Uli, Eier ins kochende Wasser zu legen (S. 39), und beim Schulhoffest betreut sie den »Schminkstand« und malt ihre Schülerin Ina an (S. 97). Dabei ist sie ihr – und das ist in ihrer körpersprachlichen Darstellung die Ausnahme – freundlich zugeneigt. Immerhin, so ist positiv festzustellen, bleibt diese Lehrerin den Kindern bis Seite 112, der letzten Seite der Lesezusatzangebote, mit sporadischen Auftritten erhalten.
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Die Lehrerin in der Fibel »Piri 1« taucht nur auf dem ersten Klassen bild auf. Sie steht völlig ohne Kontakt zu den Kindern da und blickt erstaunt auf ein Kind, das zu spät kommt (Piri 1, Ausgabe 2013, S. 10). Danach ist sie verschwunden. Die wilde Klasse in »Tinto« wird von zwei Erwachsenen betreut. Eine Lehrerin mit rotem Wuschelhaar arbeitet mit einer Gruppe von fünf Kindern auf dem Boden. Auf Bildkarten suchen sie Gegenstände mit gleichem Anlaut. Auf Seite 95, einer der letzten Seiten dieser Fibel, begleitet sie ein Lied »Hey, hello, bon jour, guten Tag« auf der Gitarre. Die zweite Frau hat einen einmaligen Auftritt. Sie lobt mit Tinto, dem Begleiter in Katergestalt, das gelungene »L« eines Schülers. Allerdings erscheint auch die Klasse nur noch einmal – bei einem Faschingsfest – als ganze Gruppe im Bild. Sonst sieht man nur einzelne Kinder arbeiten oder kleine Gruppen gemeinsam agieren. Frau Funk, eine freundlich und aktiv gezeichnete Lehrerin, hat zwar auch nur fünf Auftritte (Die Auerfibel, Ausgabe 2014, S. 3, 4, 6, 13, 15), die absolviert sie aber so präsent, dass sie nachhaltig im Gedächtnis bleibt. Sie steht vom ersten Schultag an in gutem Kontakt mit ihren Schülerinnen und Schülern. Sie hat sich auf sie vorbereitet, für alle Namensschilder und einen Willkommensgruß an die Tafel geschrieben. Jedes Kind wird begrüßt (S. 3, 4, 6). Sie hat sich Aufgaben überlegt, mit denen die Erstklässler, während sie selbst im Hintergrund bleibt, verschiedene Arbeits- und Sozialformen des Lernens ausprobieren können. Sie kann Gitarre spielen und singt mit einer Teilgruppe, während andere Kinder zum Lied ein großes Bild malen. Bei ihrem letzten Auftritt auf Seite 15 hat sie die Idee, dass die »Spürnasen« aus ihrer Klasse versteckte Buchstaben suchen. Für jedes Fundstück winkt als Belohnung ein roter Punkt auf der Nase. Ein Hinweis, dass die Schüler diese Lehrerin ins Herz geschlossen haben könnten, entdecken die Leser(innen) an späterer Stelle der Fibel: Leo zeigt ein Foto, das er von Frau Funk gemacht hat (S. 62). Andere Fibellehrerinnen wenden sich bevorzugt einzelnen Schülern zu (u. a. Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 11, 13; Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 13, 20). Vielleicht soll den frischen Erstklässlern damit signalisiert werden, dass die Lehrerin sie als Individuum wahrnimmt und Unterstützung anbietet. Dagegen spricht ja nichts, im Gegenteil ist eine verlässliche Beziehung von Lehrkräften zu jedem Kind wünschenswert.
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Abbildung 23: Gemeinsam ein Frühstück planen und vorbereiten (Karibu, 2015, S. 12)
Demgegenüber finden sich aber wenig Abbildungen, auf denen die Lehrerin die Lerngruppen im Kreis versammelt, z. B. um einen Arbeitsauftrag zu besprechen, etwas gemeinsam zu planen, um arbeitsteilig erreichte Ergebnisse zusammenzutragen oder auch, um zu diskutieren, was sie unternehmen oder feiern könnten. Zwischen individueller Arbeit und individuell erhaltener Aufmerksamkeit und dem Erlebnis, mit der Lehrerin und als ganze Gruppe zu agieren und miteinander etwas Gemeinsames zu gestalten, gibt es auf den Fibelbildern keine Ausgewogenheit. Auf einige der wenigen Ausnahmen möchte ich hinweisen: In »Zebra« (Zebra 1, Ausgabe 2019, S. 18) und »Karibu« (siehe Abbildung 23) wird im Stuhlkreis ein Klassenfrühstück geplant. Die Lehrerinnen moderieren und protokollieren, wer was mitbringen oder gerne essen möchte. Vielleicht initiieren sie auch ein Gespräch über gesunde und weniger gesunde Nahrungsmittel. Die Kinder erleben, wie sie als Gruppe ein Ergebnis erzielen und auch, dass sie sich einigen können. Hier geht es zwar nur um Milch und Müsli, aber dabei können die Fibelkinder – und mit ihnen ihre Betrachter(innen) aus der ersten Klasse – erfahren, wie Diskussion und Beratung in Entscheidungen münden. Solche Prozesse sind Anfangs-
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übungen für demokratisches Handeln (Ludwig, 2019; Stengel, 2019).44 Fehlen sie – und sei es nur in den Fibeln –, so wird damit die Chance vergeben, Kinder frühzeitig an Formen der Beratung und Planung unter Berücksichtigung verschiedener Interessen zu beteiligen. Dabei können sie die Schwierigkeit von Abstimmungsprozessen erleben und eventuell erfahren, dass ein Kompromiss oft die einzige Möglichkeit ist, Interessengegensätze zu befrieden. Im wirklichen Alltag gut arbeitender Grundschulen mit einem weitgehend offnen Unterricht sind Besprechungskreise ein wesentliches Element, um die Schultage und Schulwochen zu strukturieren und die Zeitvorstellung der Erstklässler zu entwickeln, damit sie mehr als den Augenblick überschauen lernen (Nitsch, 2013a, 2013b). So gibt es Morgenkreise zur Begrüßung und Tagesbesprechung, Erzählkreise nach besonderen Erlebnissen, Reflexionskreise nach erledigten Arbeitsabschnitten, Tages- und Wochenabschlusskreise zur Sicherung des Erreichten und Erlebten usw. Außer Regeln, wie man sich in Stuhlkreisen zu verhalten hat, sieht man davon in den meisten Fibeln kaum etwas. Auch Rituale werden den Fibelklassen weitgehend vorenthalten. Nur in einer einzigen Fibel gibt es in der Schule ein Geburtstagsritual. Eine Schülerin wird sieben Jahre alt. Aus diesem Anlass wird das Geburtstagskind auf seinem Stuhl hochgehoben und die Mitschüler(innen) rufen: »Dreimal hoch!« (siehe Abbildung 24). Für Kinder in diesem Alter sind Geburtstage als Markierung von Wachsen und Größerwerden bedeutend. Dass die Fibelautorinnen und -autoren ihren Fibelkindern eine Würdigung dieses besonderen Tages im Schulalltag versagen, ist bedauerlich, denn Rituale »verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein [und durch ihre] Wiederholung stabilisieren sie das Leben« (Han, 2019, S. 10 f.). Zusammengefasst: Im Großteil der Fibeln fehlen in den Abbildungen Lehrende, die die Bildungsprozesse der Kinder – ihr Zu-sich-selbstKommen – erzieherisch unterstützen. Die einzelnen Fibelkinder sind selten im Austausch mit ihnen zu sehen. Den Kindern entgeht anscheinend 44 Es gibt inzwischen viele Grundschulen und sogar schon Kita-Gruppen, die mit etwas Unterstützung große Projekte initiieren, planen und die Realisierung mit voranbringen. Anschaulich beschriebene Beispiele für einen Prozess in einer Kita zur Gestaltung des Gruppenraums bei Ludwig (2019), für einen Entscheidungsprozess in einer Grundschule bei Stengel (2019).
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Abbildung 24: Geburtstagsritual in der Klasse (Zebra, Ausgabe 2019, S. 18)
die gerade am Beginn der Schulzeit entwicklungspsychologisch notwendige Spiegelung und Anerkennung durch bedeutsame Erwachsene. In der Schule geht es aber nicht um die Bildung von vereinzelten Einzelnen, sondern darum, dem einzelnen Kind dabei zu helfen, sich immer wieder in seinem Gattungswesen zu erfahren. Deshalb ist zu kritisieren, dass in den meisten Fibeln Lehrer(innen) fehlen, die die Fibelkinder darin unterstützen, sich als Gemeinschaft zu organisieren. Das gänzliche Fehlen von Lehrerfiguren in fünf der untersuchten Erstlesebüchern und deren marginale Darstellung in der Mehrzahl der übrigen sieben Fibeln hinterlässt Skepsis, ob die gezeichnete Konstellation zwischen den Fibelschülern und -schülerinnen und ihren Lehrenden als angemessenes und ermutigendes Modell für die realen Erstklässler und gleichermaßen auch für ihre realen Lehrenden taugt.
Fibelkinder in ihren Familien Schulszenen und Szenen aus dem Familien- und Freizeitleben der Fibelkinder beanspruchen in etwa gleich viele Seiten in den Erstlesebüchern. Anders als früher haben die Eltern heute Mitspracherechte
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in den Schulgremien. Auch der Austausch und das Zusammenwirken von Schule und Elternhaus sind erwünscht. Dieses andere Verhältnis findet in den untersuchten Fibeln seinen Niederschlag. So lernen Fibelkinder bald Wörter wie Oma, Opa, Mama, Papa lesen und schreiben. Auf ihrem »Ich-bin-Plakat« schreibt Fatma: »Ich bin Fatma. Ich mag Mama« oder Jonas: »Ich bin Jonas. Ich mag Kino mit Oma« oder Lena: »Ich bin Lena. Ich mag Bücher. Ich lese oft mit Opa« (Tinto, Ausgabe 2018, S. 7). In der »Auerfibel« erscheint über den Kindern Lea, Leo und Ben, die Bilder zu Mama und Papa malen wollen, jeweils eine Gedankenblase mit »guten inneren Bildern« der Eltern: Ben schnippelt darin glücklich und stolz Gemüse an der Seite von Papa, Leo sieht sich mit seiner Mama an der Indoor-Kletterwand und Lea erinnert, wie sie gegen Mama Fußball spielt, während der Papa den Torwart gibt. Auch wenn die Kinder jetzt einen großen Teil des Tages an einem anderen Ort, in der Schule, zubringen, sind sie in den Fibelbildern von ihrem Zuhause, von ihren Erwachsenen innerlich nicht getrennt. Wenn sie wollen, können sie, wie beispielsweise Lina, ihre Produkte stolz nach Hause tragen (Mimi, die Lesemaus. Ausgabe 2014, S. 16 f.) und dort auch ihre neuen Kompetenzen zeigen. Diese ermöglichen es ihnen, beispielsweise Einkaufszettel zu schreiben – ernst gemeinte (Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015, S. 56) und auch quatschige wie »eine Tube Zahnpizza« (Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 78 f.). Sie können jetzt kleine Briefe an kranke Freundinnen und Freunde verfassen (u. a. Zebra 1, Ausgabe 2019, S. 124; Fara und Fu 1, Ausgabe 2015, S. 41) oder an Mamas Laptop eine Einladung entwerfen und verschicken (Tinto, Ausgabe 2018, S. 30 f.). Fibelfamilien machen bei aller Unterschiedlichkeit der Zusammensetzung einen harmonischen Eindruck. Nur zweimal gibt es Kinder, die unter dem Streit von Eltern leiden – Lisa in der »Jo-Jo Fibel« und Dominik in »Mimi, die Lesemaus«. Ansonsten haben Fibelkinder, sowohl in ihren Ursprungsfamilien als auch mit getrennt lebenden Elternteilen außerordentliches Glück. Es gibt fast immer viel Zeit für die Kinder. Sofern gezeigt wird, dass zusammen gekocht oder gebacken, vorgelesen und gekuschelt wird, erscheint das nicht als Sonder-, sondern als Alltagssituation. Bei nächtlichen Ängsten und Albträumen eilt die Mama herbei (Die Auerfibel, Ausgabe 2014, S. 30 f.) und, wenn man Husten hat, holt Papa »Tee und Hustensaft« (Jo-Jo Fibel, Aus-
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gabe 2016, S. 46). Mit manchen Eltern kann man richtig Spaß haben und Quatsch machen (Die Auerfibel, Ausgabe 2014, S. 32, 90). Fibeleltern unternehmen viel mit ihren Kindern außer Haus: Sie gehen auf den Spielplatz (S. 18), in den Zirkus (Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015, S. 48 f.), den Zoo (Bausteine, Ausgabe 2014, S. 19) und den Märchenpark (ABC der Tiere 1, Ausgabe 2010, S. 24 f.). Mit Opa machen sie eine Nachtwanderung, um Eulen zu beobachten (Bausteine, Ausgabe 2014, S. 78 f.). Sie machen Ausflüge aufs Land und viele Familien fahren in Urlaub auf eine Insel, nach Schweden, Italien, Nigeria oder in die Türkei. Wie wirken solche Bilder und Erzählungen von Exkursionen und Reisen wohl auf Kinder, die in benachteiligten Verhältnissen leben? Nur zur Erinnerung: Der Anteil der von Armut betroffenen Kinder wird gegenwärtig auf etwa 20 bis 30 % geschätzt; das Deutsche Kinderhilfswerk zählt 2,8 Millionen Kinder, die zeitweise oder dauerhaft in Armut leben. Vor diesem Hintergrund müssen sich nicht nur die Autorinnen, sondern auch diejenigen, die für die Redaktion oder die Zulassung von Fibeln zuständig sind, fragen lassen, ob sie nicht allzu sehr – bewusst oder unbewusst – von mittelständischen und idealen Maßstäben ausgehen. Die Leser(innen) erfahren selten, dass und was die Eltern der Fibelkinder arbeiten. Eine Ausnahme findet sich in »Tinto«. Dort gibt es ein ganzes Kapitel über eine Baustelle, auf der der Vater des Fibelkinds Lena arbeitet, anscheinend ein selbstbewusster Handwerker: »Ich bin Maurer und baue Häuser. Auf der Baustelle schützt mich mein Helm« (Tinto, Ausgabe 2018, S. 80). Ansonsten bleibt den Fibelkindern – und damit auch den Lesenden – der Arbeitsanteil des Erwachsenenlebens und auch die damit möglicherweise verbundenen Konflikte vorenthalten. Einen wirklichen und realitätsnahen Konflikt erlebt nur die Erstklässlerin Nina aus der »Jo-Jo Fibel«: »Mama ist in Eile. Zuerst muss sie mit [dem Hund] Jo-Jo zum Arzt. Dann muss sie sofort zur Firma.« Nina ist traurig und auch ein bisschen sauer: »Nie isst du mit uns zusammen!«, ruft sie ihrer Mama nach. Ein paar Seiten später sagt sie: »Leon und ich helfen Mama im Haushalt«, und »wenn Mama arbeiten muss, kommt Oma zu uns und kocht« (Jo-Jo Fibel, Ausgabe 2016, S. 50 f., 61). Diese zwei kleinen Geschichten sind so angelegt, dass die Erstklässler angeregt werden, über den Tagesablauf ihrer Eltern und damit
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zusammenhängend auch über ihren eigenen Tag nachzudenken. Dazu gehört auch die Frage, was sie vielleicht zum gemeinsamen Leben beitragen könnten. Ina und Nina helfen immerhin beim Einkaufen (Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2015, S. 12 f., 56 f.). Ein selbstverständliches und altersangemessenes Helfen im häuslichen Alltag führt eine Illustration in »Karibu« vor (siehe Abbildung 25).
Abbildung 25: »Im Haushalt helfen alle mit. Momo und Ali holen Tassen. Ole und Salome holen Teller« (Karibu, 2015, S. 40)
Sie besticht durch die Parallelität der Aktionen in den verschiedenen Familienkonstellationen und Herkunftskontexten: Alle müssen hin und wieder staubsaugen, alle müssen kochen und den Tisch decken. Alle freuen sich dann auf das gemeinsame Essen. Die Kinder wirken in diesem gemeinsamen Tun eingebunden und aufgehoben. Dagegen scheint in den meisten Fibeln die Beziehung zwischen den Fibelkindern und ihren Erwachsenen eher »asymmetrisch« zu sein. Soweit die Fibeleltern sichtbar sind, sind sie in hohem Maß für die Kinder präsent und zugewandt. Da jedoch so viel vom Leben der Erwachsenen in den Fibeln ausgeblendet bleibt, fehlen dort auch Schwierigkeiten in den alltäglichen Zeitabläufen, in der grundlegenden Lebensgestaltung, in unterschiedlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten im Leben von Familien. Ein Erstlesebuch, das seine Kinderfiguren nicht auch in Konflikten des familiären Zusammenlebens zeigt, ermutigt die Erstklässler kaum, die Probleme, die sie erleben, zu thematisieren. Tendenziell fordern die idealen Eltern-Kind-Darstel-
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lungen sie auf, ihre Schwierigkeiten zu leugnen oder sie scham- und schuldhaft zu erleben.
Fibelkinder und die Welt In einem Erstlesebuch zeigen die Fibelkinder den Erstklässlern mit jedem neuen Buchstaben auch ein Stück Welt. Die Schul- und die Familienkreise, in denen sich heutige Fibelprotagonist(innen) bewegen, sind bis hierher erkundet. Abschließend wird betrachtet, inwieweit die Fibelkinder auch eine größere, über das eigene Ich, die Lerngruppe und den Familien- und Freundeskosmos hinausreichenden Welt durchstreifen.45 Schon auf den ersten zwanzig Seiten finden sich im größeren Teil der untersuchten Fibeln meist doppelseitige Illustrationen, die Stadtteilausschnitte zeigen. Die Abbildung 26 zeigt eine Straßenansicht, wie sie heute in jeder größeren Stadt gefunden werden kann: Menschen unterschiedlicher Herkunft und aus unterschiedlichen sozialen Kontexten, darunter einen Straßenmusikanten (den einzigen in den untersuchten Fibeln). Zu sehen sind ein Kiosk, ein Dönerladen und eine italienische Eisdiele. Verglichen mit den Stadtbildern in etwas älteren Ausgaben aus der Untersuchungsgruppe, auf denen man beispielsweise Frauen mit Kopftuch vergeblich sucht, entspricht diese Ansicht mehr der Entwicklung der städtischen Population in den letzten Jahrzehnten. Veränderungen der ländlichen Regionen sind dagegen in den Fibeln weit weniger sichtbar. Wenn in Fibeln das Leben auf dem Land thematisiert wird, ist es idyllisch, wie in der seit 2010 nicht überarbeite45 Dieser Untersuchungsabschnitt reflektiert nicht alle, manchmal nur mit einem Bild oder einem Text angesprochenen Bezüge zur »großen« Welt. Ausgelassen wird insbesondere das Thema »Kinder in aller Welt«. Deshalb dazu diese knappe Anmerkung: Das Thema taucht zwar in irgendeiner Variation in 90 % der Fibeln auf, wurde aber anscheinend seit Jahrzehnten nicht neu bearbeitet. Die Bilder zeigen beispielsweise Kinder in vorgeblich immer noch landestypischen Kostümen bei kreativem Tun (Spielzeug aus Müll basteln) oder verantwortungsvollen Tätigkeiten (Vieh hüten). Häufig erscheinen die fernen Kindheiten romantisiert und beschönigt. Trotzdem: Die Bilder und kleinen Texte können bei den Grundschülerinnen und -schülern Interesse wecken – Zusammenhänge einer vernetzten Welt erschließen sie ihnen aber nicht.
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Abbildung 26: Multikulturelle Stadtansicht mit einem Straßenmusikanten links in der Hausecke (Tinto, 2018, S. 12 f.)
ten Fibel »ABC der Tiere«. Dieses Erstlesebuch ist das Einzige aus der Untersuchungsgruppe – und meines Wissens auch darüber hinaus –, die seine junge Personage in einer ländlichen Umgebung verortet. Alle übrigen Fibeln zeigen ihre Protagonisten im groß- oder kleinstädtischer Raum, die das Land nur noch auf einer Klassenreise als Bauernhof mit Heuhotel kennenlernen (Karibu, Ausgabe 2015, S. 62 f.), als Hoffest auf dem »Sonnenhof« (Meine Fibel mit Viererfenstern, Ausgabe 2016, S. 50 f.) oder als Reiterhof (ABC der Tiere 1, Ausgabe 2010, S. 76 f.; Piri 1, Ausgabe 2013, S. 86). Solche Fibelbauernhöfe – und das gilt auch für die Darstellung des ländlichen Raums in der Fibel »ABC der Tiere« – kennen keine Massentierhaltung, ihre Umgebungen sind nicht von Abwanderung und Zusammenbruch der Infrastruktur bedroht. Windräder, die heute überall zur Landschaft gehören, fehlen ebenso wie Biobauernhöfe als möglicher Gegenentwurf zu einer klimaschädlich angelegten Landwirtschaft. Fibellesende, die in ländlichen Umgebungen aufwachsen, finden also ihre Lebensverhältnisse nicht auf einem der gegenwärtigen Entwicklung angemessenen Niveau repräsentiert. Denn in elf Fibeln aus der Untersuchungsgruppe werden diese völlig ignoriert und in der einen Fibel, die Kinderleben auf dem Land darzustellen vorgibt, finden sie
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Abbildung 27: Honigproduktion und Honigbrötchen (ABC der Tiere, Ausgabe 2010, S. 21 u. 22)
sich in ein Umfeld gesetzt, das eher einer idealisierten Vergangenheit angehört. Aber immerhin wissen die Fibelkinder, die dort beheimatet sind, dass das Trockenlegen der Wiesen die Nahrungsgrundlage der Störche bedroht (ABC der Tiere 1, Ausgabe 2010, S. 58 f.) und dass Imker und Bienen notwendig sind, wenn man Honigbrot essen möchte (S. 20 f.; siehe Abbildung 27). Für die kleinen Leserinnen und Leser der übrigen elf Erstlesebücher muss rätselhaft bleiben, woher die Lebensmittel kommen – selbst das Einkaufen, also die alltägliche Lebensmittelbeschaffung, kommt nur in drei Fibeln vor. Auch andere als die ländlichen Arbeitswelten spielen nur eine marginale Rolle in den Bildern und Texten der Fibeln. In den längeren Geschichten und auch in den abgedruckten Auszügen aus Kinder büchern, die in fast alle Fibeln als Leseanreiz eingebaut sind, wird Arbeit kaum erwähnt. Mit den Fibelkindern bleiben die Lesenden dadurch völlig im Unklaren darüber, was die materielle Grundlage des individuellen und gesellschaftlichen Lebens ist. Mit jedem neu eingeführten Buchstaben wird in Erstlesebüchern ein neuer Weltausschnitt fokussiert. Beispielsweise stellen sich beim A eine Alma, ein Amon oder ein Ali vor. Ebenso kann eine Ameise den Laut »A« repräsentieren. Aber auch Arbeit käme hier infrage. Mag sein, dass der Zusammenhang, der sich hinter diesem Begriff verbirgt, den
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Fibelautor(innen) für den Schuljahresanfang – der Vokal »A« wird ja bald gebraucht – zu komplex erscheint. Sie ergreifen aber auch nicht die Gelegenheit, die andere, später eingeführte Buchstaben bieten, um eine erste Auseinandersetzung mit Beruf, Arbeit oder auch Arbeitslosigkeit anzuregen. Damit bleibt ein wesentlicher Ausschnitt individuellen und gesellschaftlichen Lebens völlig unbeleuchtet.46 Allerdings werden die Fibelkinder in der Mehrzahl der untersuchten Erstlesebücher mit dem vielschichtigen Gegenwartsproblem konfrontiert, das sich mit dem Begriff Umwelt verbindet. Das passiert einmal auf der Ebene implizit eingeführter Verhaltensregeln. Auf den Fibelschulhöfen und in den Fibelklassenräumen gibt es fast immer drei Tonnen oder drei Eimer, um Papier-, Plastik- und Restmüll zu trennen. Außerdem bemühen sich alle Fibeln, die Erstklässler für das Leben und die Bedürfnisse von Pflanzen, von wildlebenden oder Haustieren zu interessieren. Dafür schlüpfen in fast jedem Erstlesebuch die Fibelkinder in die Rolle von Naturforschern. Beispielsweise finden sie dabei heraus, was alles auf der Gartenerde krabbelt, sie beobachten Vögel, sehen zu, wie Kresse oder Tulpen wachsen. In solchen Zusammenhängen regen »Gebrauchsanweisungen« die kleinen Lesenden zum Nachahmen an und bringen sie beim Pflanzen oder der Pflege von Haus tieren in eine aktiv handelnde, mit Verantwortung verbundene Position. Drei Fibeln klären explizit über die Bedeutung von Wald und Wiese für die Menschen auf (Einsterns Schwester 1, Ausgabe 2015; S. 64 f.; Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, S. 136; Jo-Jo Fibel, 2016, S. 126 f.). Diese Textstücke, bei denen die Illustrationen weniger dominieren, stehen weit hinten in den Fibeln. Daher ist es durchaus fraglich, ob sie zur gemeinschaftlichen Lektüre der Erstklässler gehören. Auch sind diese Passagen meines Erachtens nicht unproblematisch: Eine Aussage wie »Bäume sind durch Abgase gefährdet. Sie können krank werden und sterben. Wenn unsere Bäume und Wälder sterben, wird unsere Luft immer schlechter« (Einsterns Schwester 1, Ausgabe 2015, S. 65) kann Grundschüler(innen) ängstigen.47 Das geschieht besonders schnell,
46 Auf die Ausnahme in »Tinto« (Ausgabe 2018) wurde im Abschnitt über Fibelkinder in ihren Familien hingewiesen. 47 Ähnlich verfährt auch die »Jo-Jo Fibel«: Sie klärt auf und ängstigt zugleich (2016, S. 127).
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wenn sie sich im Zusammenhang mit den gegenwärtig kaum zu überhörenden Diskussionen um die Klimakatastrophe als ohnmächtig erleben. Wenn aber, wie in einer anderen Fibel, fünf Fibelkinder über Bienen und den Schutz von Wiesen diskutieren (Mimi, die Lesemaus, Ausgabe 2014, 136), können die Erstklässler mitüberlegen und Handlungsvorschläge finden, die sie tatsächlich realisieren können. Beispielsweise können sie sich nach dem Vorbild der Fibelkinder an Wald- und Wiesenaufräumaktionen beteiligen, die es in fünf der untersuchten Fibeln gibt (z. B. Karibu, Ausgabe 2015, S. 26). Fatma aus »Tinto« ist eine richtige Spezialistin für das Mülltrennen. Sie erklärt einem erwachsenen Mann, in welche Tonne seine Zeitungen gehören (Tinto, Ausgabe 2018, S. 34 f.). Auch eine reale Fatma kann das aus der Fibel lernen, denn dort gibt es eine genaue Tabelle zur Mülltrennung. In der »Zebra-Fibel« zeigen zwei Fibelkinder anhand ihrer vorbildlichen Brotdosen und Trinkflaschen, wie Plastikmüll eingespart werden kann (Zebra 1, Ausgabe 2019, S. 77). Wenn Fibelprotagonisten den Erstklässlern Handlungen zur Umweltschonung vorleben, die ihrem Alter und ihrem Handlungsspielraum angemessen sind, können diese ihr Umweltverhalten selbst bestimmen. Das kann ihre Ängste und Ohnmachtsgefühle minimieren. Ohne das hier weiter entfalten zu können, ist von den in den Fibeln angesprochenen Sachthemen Umwelt das Einzige, bei dem ein gegenwartsrelevanter gesellschaftlicher Sachverhalt auf einem altersangemessenen Niveau präsentiert wird. Die Kinder können das Problem begreifen, es auf sich selbst, auf andere Menschen und Lebewesen beziehen. Sie erfahren von Handlungen, die sie umsetzen können und mit denen sie einen nützlichen Betrag leisten. In diesem Rahmen erhält auch das Beobachten von Amseln und Eulen, das Pflanzen von Tulpen und Kresse einen Sinn, der über den Augenblick der Aktion hinausreicht. Andere »Schlüsselprobleme« (Kaiser, 2007) der Gegenwart fehlen in den Fibeln: Krieg, Flucht, Migration, Arbeit, Digitalisierung; auch die Gefährdungen, die Handy und Internet für die Kinder beinhalten können, sind nicht berücksichtigt. Diese Probleme und Entwicklungen sind in Gesprächen der Erwachsenen, im Fernsehen, in den Schlagzeilen, die die Erstklässler doch jetzt lesen können, für die Kinder präsent. Wird nicht darüber gesprochen, werden die Kinder der Angst, die das Unbegriffene macht, ausgeliefert. Sie werden dann diese bedrängenden
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Gefühle abkapseln oder in fantastische, nicht selten aggressiv gefärbte Lösungsstrategien fliehen. Einer der bedeutendsten Bildungstheoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts, der Amerikaner Jerome S. Bruner, formuliert in seinem Buch »Der Prozess der Erziehung«, dass es notwendig sei, die grundlegenden Strukturen und fundamentalen Ideen des jeweiligen Gegenstands ins Zentrum des Unterrichts zu stellen. Es sei möglich, jedem Kind auf jeder Entwicklungsstufe jeden Lehrgegenstand, in einer intellektuell ehrlichen Form erfolgreich zu vermitteln (Bruner, 1973). Gemessen daran und gemessen an all dem, was den heutigen Erstklässlern in der Schule an Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und Reflexion über sich selbst abverlangt wird, erscheint die »große Welt«, die ihnen in der Fibel zugemutet wird, recht klein.
Fazit Für eine bündige Beurteilung der im zweiten Teil untersuchten Erstlesebücher fehlt mir der historische Abstand. Deshalb schildere ich abschließend in vier Punkten, welchen Eindruck die Fibelbilder bei mir hinterlassen und welche Fragen mich beschäftigen: 1. Ohne Zweifel bezaubern mich viele der bunten und lebendigen Darstellungen der Kinder in den Fibelklassen. Ich freue mich an ihrer Verschiedenheit, daran, dass nicht alle »artig« sind, lasse mich von ihrer fast frühreifen sozialen Klugheit beeindrucken. Ich schätze an dem Bild, das von der Schule vermittelt wird, die Offenheit gegenüber verschiedenen Entwicklungsniveaus und Lerngeschwindigkeiten, die anregende Vielfalt der Aufgaben, Arbeitsformen und Arbeitsmittel. All das verspricht gute Bedingungen für den erwachenden »Werksinn«, die Neugier, die Lust am Lernen und Gestalten. Ich – als neugieriges Kind aus einem halbwegs liberalen und gebildeten Familienkontext – hätte mich in diesen Bildern vermutlich aufgehoben gefühlt. Wahrscheinlich fühlen sich auch heute Kinder aus »bildungsfreundlichen« Milieus von ihnen angezogen. Wie aber wirken diese Illustrationen auf Kinder aus weniger privilegierten, wenig strukturierten oder autoritären Lebensverhältnissen? Erklären sie ihnen die neue Schulwelt oder empfinden sie
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die Fibelklassenzimmer eher als langweilig bzw. umgekehrt als irritierend? 2. Ähnlich widersprüchlich lassen mich die an Idealisierung grenzenden Darstellungen der familiären Beziehungen empfinden, die sich weitgehend an geglückten, mittelständischen und aufgeklärten Verhältnissen ausrichten. Wie beruhigend einerseits, dass in einigen Fibeln Väter ihren Kindern vorlesen, Mütter Laptops haben, dass verschiedene Familienkonstellationen nebeneinander existieren dürfen. Aber andererseits: Können wirklich alle Erwachsenen immer so entspannt sein, niemals streiten oder genervt sein? Was sehen Kinder, die sich in weniger harmonischen Beziehungen zurechtfinden müssen oder sich alleingelassen und ungeliebt erleben, in diesen Bildern? Sind sie für sie belanglos, machen sie sie neidischaggressiv oder traurig? 3. Bedrückend empfinde ich die Darstellung von Kindern mit Migrationsgeschichte und mehr noch von Kindern mit Behinderungen. Ihre Abbilder in den Fibeln sind in der Mehrzahl Alibifiguren, denen selbst in der Fibelwelt viele Bereiche und soziale Beziehungen verschlossen bleiben. Bei vorgeblicher Integration – die sie sich auch noch durch besondere Leistung »verdienen« müssen – bleiben sie letztendlich doch wieder »außen vor«, also exkludiert. 4. Besonders ärgern mich Illustrationen, die Lehrkräfte zeigen, denen aber ein Name verweigert wird, oder Fibeln, in denen Lehrende kaum anwesend sind oder vollständig fehlen. Nur zu drei der Lehrer(innen)-Figuren möchte ich Kontakt aufnehmen. Die andern erscheinen so unlebendig, dass ich ihnen nicht zutraue, dass sie Kinder verstehen, begeistern, unterstützen und auch mal trösten können. Wo haben sie die »anderen Augen«, in denen sich die Kinder anders als in den elterlichen Zuschreibungen spiegeln können? Und warum gibt es so wenige Bilder, auf denen die Lehrerinnen als Mittler für Struktur und Gemeinschaft wirken? Damit versagen die Fibellehrkräfte gerade auf dem so notwendigen Feld der frühen Demokratiebildung. So wie sie in den Fibelillustrationen erscheinen, tragen sie kaum dazu bei, dass die Grundschüler und -schülerinnen »innere Bilder« von respektvollen Entscheidungsprozessen gewinnen und damit auch eine Bindung an demokratische Werte und Verfahren. Allerdings gilt diese Kritik natürlich nicht den Fibel
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geschöpfen selbst, sondern all jenen, die sie aus Strichen und Farben erschaffen und in die Fibelschulwelt entlassen haben.
Abschließende Bemerkung Ein unmittelbarer Vergleich zwischen den beiden Teilen dieses Beitrags ist wegen des grundlegend unterschiedenen historischen Kontextes, in den die Fibelbilder und -botschaften eingebunden sind, unzulässig. Aber manche Befunde zu den NS-Fibeln schärfen den Blick für Bedeutungen, die Bilder in den Erstlesebüchern von heute transportieren oder vermissen lassen. Die Illustrationen und Texte aus der NS-Zeit, so wurde herausgearbeitet, beförderten die Bindung an die NS-Ideen, die Aneignung der Kinder durch den NS-Staat und schließlich den Missbrauch ihrer positiven Entwicklungsbedürfnisse für dessen menschenverachtende und mörderische Ziele. Demgegenüber scheinen sich Fibelkinder von heute in einem weitgehend freien Raum zu bewegen, in dem sie sich hauptsächlich selbst motivierten und organisierten Lerntätigkeiten im eigenen Tempo hingeben. Im psychoanalytischen Modell der Latenzzeit, so wie es anfänglich dargestellt ist, gehört zu jungen Grundschulkindern das Bedürfnis nach einem effektiven gemeinschaftlichen Tun, bei dem sie sich von »neuen« Bezugspersonen Anleitung und Unterstützung erhoffen. Sie wollen also neue Bindungen eingehen, Bindungen, die über dargebotene sachliche Inhalte und Regeln hinaus ihr Menschsein, ihre Gefühlswelt und ihre Urteilsfähigkeit bereichern und entwickeln. Das können Lehrkräfte oder – in altersgemischten – Lerngruppen auch ältere Kinder sein. Dieses altersangemessene personenbezogene Bindungsbedürfnis reflektieren heutige Fibelbilder kaum. Es gibt aber andere Bindungsangebote, die man als Bindung an bestimmte Ideen und Ideale verstehen kann. Heutige Fibelfiguren sollen im Arbeitszusammenhang aufeinander Rücksicht nehmen, nett sein, helfen und in manchen Fibeln auch teilen. Einzelnen, in (seelische) Not geratenen Individuen sollen Fibelkinder Verständnis und Empathie entgegenbringen. Das kann man als Bindungsangebot an gute Ideale verstehen, als Appell, mitmenschlich zu sein und andere, die gerade durch Not geschwächt sind, nicht zu verachten. Weil aber in den Fibeln
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Beispiele wirklicher Not – wie z. B. Kinderarmut, realistische Darstellung der Lage von Kindern in und aus anderen Ländern/Erdteilen oder auch von Kindern in historisch zurückliegenden Zeiten – fehlen, kann sich möglicherweise Empathie nicht zu einer ersten Idee von Solidarität erweitern. Das interpersonelle Ich und Du mündet dann nicht in ein Wir, in dem sich die Kinder zugleich aufgehoben, zugehörig und verantwortlich fühlen. In den NS-Fibeln wurde missbräuchliche Bindung angeboten, ein Wir, das zur ausgrenzenden, verschworenen Volksgemeinschaft pervertiert worden war. Im Gegensatz dazu scheint gerade in heutigen Fibeln ein über das eigene Ich hinausweisendes Wir, das auf der Idee von Menschenwürde und Solidarität basieren sollte, zu gering ausgebildet.
Originalquellen Teil I: Fibeln der NS-Zeit Berliner Fibel (1935/ca. 1938/1943). Bilder: Rotraut Hinderks-Kutscher. Breslau u. a.: Hirt u. a. Der kleine Saarpfälzer (1937). Mein erstes Lesebuch. Bearbeitet von Emil Eichberg u. Klaus Schmauch. Bilder: Dreher. Saarbrücken: Buchgewerbehaus. Deutsche Jugend (1934). Eine deutsche Heimatfibel für Stadt und Land von J. Dietrich. Bilder: Lia Doering. Gießen: Rott. Fibel für die Volksschulen Württembergs (1935/1937/1940). Bilder: P. J. Schober u. a. Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Fröhliche Fahrt (1942). Nordmark-Fibel von Heinrich Bielfeldt. Bilder: Ruth und Martin Koser. Braunschweig: Westermann. Fröhlicher Anfang (1940/1943). Ein erstes Lesebuch von Karl Eckhardt und Adolf Lüllwitz. Bilder: Else Wenz-Vietor u. a. Ausgabe B (SchreibschriftAusgabe)/Bilder: Herbert Riede. Ausgabe für Thüringen. Frankfurt a. M.: Diesterweg. Guck emol! (1936). Lesebuch für Pfälzer Kinder. Bearbeitet von Heinrich Löckel. Bilder: Eugen Oßwald. Speyer: Zechnersche Buchdruckerei. Gute Kameraden von denen leicht und lustig zu lesen ist (1938). Bilder: Ernst Kutzer. Dortmund: Crüwell. Hirts Berliner Fibel (1935). Schreiblesefibel. Breslau: Hirt. Ich will dir was erzählen (1936/1941). Erstes Lesebuch für die Kinder des Hessenlandes. Aufgrund des Zimmermannschen Fibelwerks bearbeitet vom Beauftragten des NSLB Gau Kurhessen/Neu bearb. von Wilhelm Heide. Bilder: Andreas Maier. Braunschweig u. a.: Westermann. Jetzt geh ich in die Schule (ca. 1938). Erstes Lesebuch für kleine Jungen und Mädchen. Bearb.: Fritz Weitkamp. Bilder: Ernst Kutzer. Halle (Saale): Schroedel.
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Jung-Deutschland-Fibel (ca. 1935). Für den hanseatischen Lebensraum erarbeitet vom nationalsozialistischen Lehrerbund Gau Hamburg. Unter Führung von Walter Schultze. Bilder: Walter Schröder. Hamburg: Hartung. Jungvolk-Fibel (1933). Die braune Fibel für deutsche Kinder. Breslau: Hirt. Kinderfibel (1937/1943). Hrsg. von Emil Gärtner u. Eduard Gerweck. Bilder: K. Geitz-Berno. Bühl-Baden: Konkordia. Mein Buch zum Anschauen, Zeichnen, Lesen und Schreiben (1941). Text: Hans Brückl. Bilder: Ernst Kutzer. München: Oldenbourg. Meine Fibel (1942). Ein Geschichtenbuch zum Lesenlernen von Fritz Gansberg. Bilder: Herbert Wellmann. Bremen: Geist. Mühlenfibel (1936). Erstes Lesebuch für schleswig-holsteinische Kinder. Aufgrund der Hansa-Fibel bearb. und hrsg. von Heinrich Schulz. Bilder: Eugen Oßwald und Ernst Kutzer. Braunschweig: Westermann. Niedersächsische Fibel (1936). Bilder von Ernst Kutzer. Hannover: Carl Meyer/ Gustav Prior. Ostpreußen-Fibel. Hirts Schreiblesefibel. Bilder: Georg Stapel. Königsberg (Pr.): Pädagogische Verlagsgemeinschaft Ostpreußen. Roland-Fibel (1935). Erstes Lesebuch für die Bremer Jugend. Bilder: Ernst Kutzer. Bremen: Verlag der Bücher-Kommission 1935. Von Drinnen und Draußen (1935). Ein Lesebuch für die Kleinen. Bilder: A. Weber-Brauns. Frankfurt a. M.: Diesterweg.
Originalquellen Teil I: Dokumente der NS-Zeit Richtlinien für den Unterricht in den vier unteren Jahrgängen der Volksschule. Berlin 1937. Präambel der Verordnung über Garagen und Einstellplätze. Reichsgaragenordnung – RGaO – vom 17.2.1939.
Originalquellen Teil II: Fibeln der Gegenwart ABC der Tiere 1 (2010/2017). Lesen in Silben. Die Silbenfibel. Erarbeitet von Rosmarie Handt, Klaus Kuhn und Kerstin Mrowka-Nienstedt. Illustriert von Ingrid Hecht. Offenburg: Mildenberger. Bausteine (2014/2015). Fibel Silbenausgabe 1. Erarbeitet von Kirsten Bruhn, Sabine Gudat-Vasak, Gabriele Hinze, Siegfried Müller, Bernadette Nabers, Daniela Reinker auf der Grundlage der Bausteine Fibel 2008 erarbeitet von Kirsten Bruhn, Regina Eimermacher-Raczek, Sabine Gudat-Vasak, Gabriele Hinze, Siegfried Müller, Bernadette Nabers, Daniela Reinker unter Beratung von Katharina Drewes, Tina Hebenstreit. Illustriert von Antje Bohnstedt, Antje David, Pia Eisenbarth, Marion Goedelt, Yvonne HoppeEngbring, Katja Jäger, Irmela Schautz, Franziska Kalch, Evelyn Scherber. Braunschweig: Bildungshaus.
Heini und Mia machen sich ein Bild von der Welt229 Die Auerfibel (2014/2018). Mein Leselernbuch. Autorinnen und Autoren: Kerstin Berktold, Sabine Hoyer, Birgit Illmann, Edeltraud Röbe, Heinrich Röbe. Illustrationen: Martina Gollnick. Stuttgart: Klett. Einsterns Schwester 1 (2015/2018). Erstlesebuch von Martina Schramm. Unter Beratung von Mariona Hoffmann, Chantal Leppin, Petra Pieper. Illustriert von Vera Schmidt, Isabelle Göntgen. Berlin: Cornelsen. Fara und Fu 1 (2015/2019). Silbenausgabe. Herausgegeben und erarbeitet von Jens Hinnrichs unter Mitarbeit von Barbara List, Christiane Müller, Anneliese Pollak, Ursula Schwarz und Brigitte Stöcker. Mit Illustrationen von Elke Broska, Renate Emme, Ursula Haseloff, Karoline Kehr, Stefanie Klaßen, Charlotte Panowsky und Martina Vollhardt. Braunschweig: Bildungshaus Schulbuchverlage. Jo-Jo Fibel (2016/2016). Von Nicole Namour unter Beratung von Alexandra Mangold, Sandra Meeh, Anja Tiedje. Illustrationen: Imke Sönnichsen, Barbara Jung. Berlin: Cornelsen. Karibu (2015/2018). Die Fibel mit der Silbe. Erarbeitet von Katharina Berg, Astrid Eichmeyer, Heidrun Kunze, Katrin Merk, Claudia Stiebritz, Kerstin von Werder. Auf der Grundlage der Karibu Fibel von 2009, erarbeitet von Katharina Berg, Astrid Eichmeyer, Heidrun Kunze, Esther Mager, Claudia Stiebritz, Andrea Warnecke, Kerstin von Werder. Wissenschaftliche Beratung: Carola Reuter-Liehr. Illustriert von Svenja Doering, Susanne Schulte, Gisela Fuhrmann (Lautgebärden). Braunschweig: Bildungshaus. Meine Fibel mit Viererfenstern (2015/2018). Autorinnen: Katharina Förster, Mariona Hoffmann, Sybille Jaszovics, Katrin Junghänel, Marlene Kuglan, Sabine Pfitzner, Andrea Knöpfler, Liane Lemke, Ines Materka. Illustriert von Tanja Székessy, Katharina Bußhoff, Leo Székessy (S. 80 f.). Berlin: Cornelsen. Mimi, die Lesemaus (2014/2015). Ausgabe F. Ein Leselehrgang von Barbara Kiesinger-Jehle, Sabine Münstermann, Annette Webersberger. Neu bearbeitet auf der Grundlage der Ausgabe von Waltraud Borries und Edith Tauscheck. Illustriert von Janina Görrisien, Sandra Reckers, Vera Schmidt. München: Oldenbourg. Piri 1 (2013/2017). Erarbeitet von Cornelia Donath-Schäffer, Gisela Hundertmark, Andreas Landwehr unter Beratung von Bettina Ackermann, Brigitta Doering, Mona Hobelmann, Melanie Rabe, Katja Wolkenhorst, Juliane Wilke. Illustrationen: Anke Fröhlich. Stuttgart: Klett. Tinto (2016/2018). Erstlesebuch von Dr. Rüdiger Urbanek, Linda Anders, Vanessa Bollenberg, Ursula Brinkmann, Nele Granseyer, Gabriele Müller. Illustriert von Eva Czerwenka. Berlin: Cornelsen. Tobi (2016/2018). Erstlesebuch von Wilfried Metze. Illustriert von Petra Probst und Sabine Metz. Berlin: Cornelsen. Zebra 1 (2017/2019). Lesebuch. Erarbeitet von Carolin Gerdom-Meiering, Bärbel Hilgenkamp, Andreas Körnich, Sonja Senst, Theresa Weber. Auf der Basis der Ausgabe von Stephanie Brettschneider, Silke Clasing, Saskia Diederichs. Unter Beratung von Dr. Christina Köppe, Sabine Trautmann. Illustrationen: Friederike Ablang, Anke Fröhlich, Marion Goedelt, Carmen Hochmann, Svetlana Kilian, Liliane Oser. Stuttgart: Klett.
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Literatur Bauriedl, T. (2002). Wenn wir bereit sind zu verstehen, was damals geschah. Zur psychologischen Situation von Kindern im Nationalsozialismus. In Schulgeschichtliche Sammlung Bremen, Am Roland hing ein Hakenkreuz. Bremer Kindheit und Jugend in der Nazizeit. Ausstellungskatalog (S. 8–17). Bremen: Hauschild. Bell, K. (2014). Alltagsschwierigkeiten der antiautoritären Erziehung. Kinderläden und Elterninitiativen. In R. Schmidt, A. Schulz, P. von Schwind (Hrsg.), Die Stadt, das Land, die Welt verändern! Die 70er/80er Jahre in Köln – alternativ, links, radikal, autonom (S. 285–288). Köln: Kiepenheuer & Witsch. Borscheid, P. (2004). Das Tempovirus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt a. M.: Campus. Bruner, J. S. (1973). Relevanz der Erziehung. Ravensburg: Otto Maier. Cornelsen Verlag (o. J.). Rund ums Schulbuch (Pressebroschüre). Berlin: Cornelsen. www.cornelsen.de/fm/1272/presse_schulbuch_neu.pdf (30.1.2020). Ehlers, C. (1989). Durch die Vergangenheit in die Zukunft. Eine Untersuchung zur Förderung von Zeitbewusstsein bei Grundschulkindern. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. Erikson, E. H. (1959/1995). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Geiss, M. (1972). Die Konservierung sozialer Rollen. Eine Analyse der Verhaltensmuster in Schulfibeln. In K. Dodderer (Hrsg.), Bilderbuch und Fibel (S. 7–95). Weinheim u. a.: Beltz. Han, B.-C. (2019). Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart. Berlin: Ullstein. Hattie, J. (2014). Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von Visible Learning (Deutsch) besorgt von W. Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler. Schneider-Verlag Hohengehren. Hüther, G. (2004/2005). Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Jähner, H. (2019). Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955. Berlin: Rowohlt. Kaiser, A. (2007). Kerncurriculum für den Sachunterricht aus bildungstheoretischer Perspektive. In B. Koch-Priewe, F. Stübig, K.-H. Arnold (Hrsg.), Das Potenzial der Allgemeinen Didaktik. Stellungnahmen aus der Perspektive der Bildungstheorie von Wolfgang Klafki (S. 191–203). Weinheim u. Basel: Beltz. Klafki, W. (1975). Das pädagogische Verhältnis und die Gruppenbeziehungen im Erziehungsprozess. In W. Klafki, G. M. Rückriem, W. Wolf, R. F reudenstein, H.-K. Beckmann, K.-C. Lingelbach, G. Iben, J. Dietrich (Hrsg.), Funk- Kolleg. Erziehungswissenschaft 1 (S. 53–91). Frankfurt a. M.: Fischer. Klafki, W., Rückriem, G. M., Wolf, W., Freudenstein, R., Beckmann, H.-K., Lingelbach, K-C., Iben, G., Dieterich, J. (Hrsg.) (1975). Funk-Kolleg. Erziehungswissenschaft 1. Frankfurt a. M.: Fischer Klafki, W. (1988). Politische Identitätsbildung und frühe pädagogische Berufsorientierung in Kindheit und Jugend unter dem Nationalsozialismus – Auto-
Heini und Mia machen sich ein Bild von der Welt231 biographische Rekonstruktionen. In W. Klafki (Hrsg.), Verführung. Distanzierung. Ernüchterung. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Autobiographisches aus erziehungswissenschaftlicher Sicht (S. 131–184). Weinheim: Beltz. Kleinschmidt, V. (1997). Ein Fibelwerk unterm Hakenkreuz. Die Bearbeitungsphasen Otto Zimmermanns 1933–1944. Internationale Schulbuchforschung, 19 (3), 319–330. Ludwig, M. (2019). Wer die meisten Muggelsteine hat, gewinnt. Erziehung & Wissenschaft, 71 (7/8), 4–7. Nitsch, U. M. (2013a). Wenn wir in unserer Lebensgeschichte spazieren gehen. Zur Entstehung des autobiografischen Gedächtnisses. SpielRäume, 20 (52/53), 2–7. Nitsch, U. M. (2013b). Spielerisch-forschend die Zeit entdecken. Entwicklung von Zeitverständnis: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. SpielRäume, 20 (52/53), 8–9. Ornstein, A. (1998). Die Psychologie des Kindes in der Latenzphase. In H.-P. Hartmann (Hrsg.), Das Selbst im Lebenszyklus (S. 49–58). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Pöggler, F. (1982). Die Fibel: Ein politisches Buch. In Katholische Bildung, 83, 610–616. Riethmayer, E. (2010). Offener Unterricht in der Primar- und Sekundarstufe I. www.pedocs.de/volltexte/2010/3321/pdf/Offener_Unterricht_in_der_ Primar_und_der_Sekundarstufe_I_D_A.pdf (11.3.2010). Scholtz, H. (1985). Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Scholtz, H. (1993). Von der Feiermanie zum Verpflichtungsritual. Zur totalitären Dynamik bei der Gestaltung von Feiern für Vierzehnjährige. In U. Herrmann und U. Nassen (Hrsg.), Formative Ästhetik im Nationalsozialismus. Intentionen, Medien und Praxisformen totalitärer ästhetischer Herrschaft und Beherrschung (S. 113–122). Weinheim u. a.: Beltz. Stengel, E. (2019). Inhalierte Demokratie. In Erziehung & Wissenschaft, 71 (7/8), 14–17. Stürmer, V. (2014). Kindheitskonzepte in Fibeln der SBZ/DDR 1945–1990. Heilbrunn: Klinkhardt. Thiele, J. (2005). Der Beitrag der Fibeln des Dritten Reiches zur Vermittlung der nationalsozialistischen Ideologie – eine kritische Analyse ihrer Inhalte“. Diss. Universität Oldenburg. http://oops.uni-oldenburg.de/153/2/thibei05. pdf (27.1.2020). Wissmann, S. (1993). Es war eben unsere Schulzeit. Das Bremer Volksschulwesen unter dem Nationalsozialismus. Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv Bremen 58. Bremen: Selbstverlag des Staatsarchivs. Wissmann, S. (2002). Auf den Weg in den Krieg. Schule unter dem Diktat nationalsozialistischer Ideologie. In Schulgeschichtliche Sammlung Bremen (Hrsg.), Am Roland hing ein Hakenkreuz. Bremer Kinder und Jugendliche in der Nazizeit (S. 31–39). Bremen: Hauschild.
Karl Heinz Witte
Einbilden, Einbildung – zur Wort- und Begriffsgeschichte »Eingebildetes« bei Alfred Adler
Zusammenfassung Die Wörter »einbilden« und »überbilden« wurden von Meister Eckhart als Übersetzung von »informare« und »transformare« in die deutsche Sprache eingeführt. Dieser Ursprung weist darauf hin, dass unter »Einbildung« zunächst Prägung, Persönlichkeitsbildung verstanden wurde. In diesem Sinne wurde das Wort noch in der Medizin des 18. Jahrhunderts benutzt. Eine konkurrierende Bedeutung erhielt die »Einbildung« als Phantasma im Gebrauch der kritischen Philosophie. Auch bei Alfred Adler finden sich Spuren der ursprünglichen Bedeutung. Maßgeblich für die Psychotherapie ist, dass für Adler jedes Symptom von einem inneren Bild mitgeprägt wird.
Alfred Adler kennt die Kraft der Einbildung. Er weiß, dass mit inneren Bildern Zauberei und magische Praktiken ausgeführt werden: »Die Einbildungskraft führt uns den fast vergessenen Bildzauber vor Augen, indem sie früher einmal wörtlich die Kraft bedeutete, etwas einzubilden, das heißt durch Willenskonzentration und magische Beihilfen ein, sei es heilsames, sei es schädliches Bild (zum Beispiel die Vorstellung einer Krankheit) auf eine andere Person zu übertragen« (Adler, 1912/2007b, S. 258). Was hier maßgeblich ist und in der Individualpsychologie Beachtung verdient, ist, dass Adler hinter den Symptomen eine innere Gestalt findet, die die Symptome hervorbringt. Dieses innere Bild kann die Person selbst beeinflussen. Sagen wir: Der Patient bzw. die Patientin bildet sich selbst nach dem inneren Bild. Aber das innere Bild des einen beeinflusst auch den anderen. Sagen wir: Das innere Bild des Therapeuten prägt auch den Patienten. Das muss nicht ein optisches Bild sein, sondern kann möglicherweise auch eine Bewegung, ein Gefühl, ein Klang sein. Darin liegt zugleich eine Handlungsanweisung für den Psychotherapeuten, diese innere Gestalt zu erkennen, welche die
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Psychodynamik des Patienten sowie die Beziehungsdynamik in der Therapie antreibt. Adler nennt dieses innere Bild auch den »Prototyp«: »Wir sehen, dass sich nach dem vierten oder fünften Lebensjahr ein Prototyp gestaltet, eine ursprüngliche Lebensform, eine psychische Konstitution, die selbstständig wirksam wird, selbstständige Schlüsse zieht, in tausend Varianten sich seiner ursprünglichen Eigenart nach entwickelt« (Adler 1931/2010, S. 491). Mit dem Begriff Prototyp fängt Adler die Einheit oder Ganzheit der inneren Gestalt ein. Kindheitserinnerungen z. B. kann man nach verschiedenen Strukturmomenten analysieren. Wenn der »Prototyp« »selbstständig wirksam wird, selbstständige Schlüsse zieht«, ist damit gesagt, dass wir nach unserer inneren Identität, die eine lebendige Gestalt ist, denken, fühlen und handeln. Ein Junge, der sich als Rumpelstilzchen sieht, denkt und fühlt anders als ein Mädchen, das sich mit Schneewittchen identifiziert. Es empfiehlt sich also, hinter dem Symptom eine zugrunde liegende innere Realität zu erschließen. Diese besteht in einer »Einbildung«, im wörtlichen Sinn: Es ist eine Gestalt, ein Drehbuch oder eine Choreografie. »Wir wissen bereits, dass die Einfühlung in eine Situation eine Wirkung haben kann, die dem wirklichen Vorhandensein dieser Situation entspricht. Diese Menschen können zum Beispiel wirklich erbrechen, wirklich Angst haben, so, als ob eine Übelkeit bzw. eine Gefahr bestünde. […] Es gibt Menschen, die sich das so genau vorstellen können, dass sie wirklich das Gleichgewicht verlieren und man nicht von Einbildung oder Simulation sprechen kann« (Adler, 1928/2007a, S. 162). Hier verwendet Adler das Wort »Einbildung« in dem alltagssprachlichen Sinn einer bloß phantasierten Vorstellung. Das ist nicht der ursprüngliche Sinn des Wortes, wie ich noch ausführen werde. Wesentlich für Psychotherapeuten und Beraterinnen wäre es, zu erkennen, dass die Einbildungen in Wirklichkeit innere Gestalten sind und dass der Sinn von Symptomen dann erschlossen werden kann, wenn man die Prägung versteht. Die Ausgestaltung solcher Einbildungen zeigt sich auch in Fiktionen, Kindheitserinnerungen, Träumen, Lieblingsmärchen und neuerdings in Film- und Comic-Figuren. Unter diesen Namen hat die Einbildung in den Psychotherapien noch einen Platz als Imagination, katathymes Bilderleben, Suggestion und Hypnose. Aber wie es mit diesen Therapieformen in der Gegenwart steht, ist nicht mein Thema.
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Das Wort »einbilden« gab es im Alt- und Mittelhochdeutschen vor dem 14. Jahrhundert nicht, obwohl »bilden« im Sinne von »abbilden«, »gestalten« bereits bestand. Ab dem 16. Jahrhundert wird es durchwegs in der Bedeutung von »sich vorstellen« gebraucht (Grimm u. Grimm, 1854/1961, Sp. 149–153). In der Alltagssprache und in der Philosophie übernimmt es den Wortsinn von »Phantasie, phantasieren«, das schon seit der Antike als Vorstellungsbild bedacht wurde. Für Kant ist die »Einbildungskraft« »die Fähigkeit, Vorstellungen auch ohne Gegenwart des Objekts zu haben« (Eisler, 1930, o. S.), also Einbildungen, die keine Realität repräsentieren. Als unrealistische Vorstellung macht das Wort »Einbildung« bis heute Karriere, was auch der dumme Satz: »Einbildung ist auch eine Bildung« widerspiegelt. Diese Bedeutung des Wortes interessiert mich heute nicht. Ich will aber darauf hinweisen, dass in den Vorläufern der Psychotherapie – nämlich im Hexenwesen und in der Medizin des 18. Jahrhunderts – die Kraft der »Einbildung« noch bekannt war. Zufällig habe ich eine medizinische Dissertation von 1728 (siehe Abbildung 1) gefunden, die heißt: »De therapia imaginaria – Von Menschen die aus Einbildung gesund werden« (Sussenbach, 1728). Darin werden viele Beispiele von Imaginations- und Suggestionstherapien aufgezählt – mit tausend Gefahren und Vorteilen. Als Philologe gehe ich auf den Ursprung des Wortes »Einbildung« zurück. Das Wort wurde von Meister Eckhart in die deutsche Sprache eingeführt. Er benützt înbilden als Übersetzung von informare und überbilden als Übersetzung für transformare. înbildunge. »Einbildung« ist demgemäß »Information«. Bei Eckhart ist damit Prägung der Menschen oder Charakterbildung gemeint. Er meint, was wir wahrnehmen, das prägt uns. Wie ein Vorbild ein gleiches Bild in tausend Spiegeln erzeugen kann oder ein Siegel viele Abdrucke, Prägungen, »so sind auch alle Gerechten und jeder einzelne durchaus und schlechthin durch dieselbe Gerechtigkeit gerecht; sie werden von ihr gebildet, überbildet und in dieselbe verwandelt«.1
1 »sic etiam omnes iusti et singuli ab eadem iustitia prorsus et simpliciter iusti sunt, formantur, informantur et transformantur in eandem« (Eckhart, ca. 1318/1994, S. 104).
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Abbildung 1: Titelblatt der Dissertation »De therapia imaginaria – Von Menschen die aus Einbildung gesund werden« (Sussenbach, 1728) , Katalog der Bayerischen Staatsbibliothek2
Darin ist eine gewaltige Linie der Menschenbildung vorgezeichnet. Wie wir heute aus der Informationstechnologie wissen, ist Information nicht nur, dass Bits and Bites irgendwie durchs Ethernetkabel oder das WLAN sausen, sondern dass sie Menschen und ganze Gesellschaften prägen. Auch Fake News sind Information. Darum sollten wir in Meister Eckhart Sinne wählerisch sein, was wir uns »einbilden« lassen (vgl. auch Witte, 2013). Was uns lebhaft vor Augen steht, sei es in Person, im Bild oder in Gedanken, das prägt uns: »So, wie das, was du wirklich denkst und meditierst, erkennst und einsiehst, geschaffen ist, so bist du eins mit dem, du wirst in ein ihm gleiches Bild umgebildet, […] und du wirst von seiner Liebe durchweht.«3 2 Zugriff am 04.12.2019 unter https://reader.digitalesammlungen.de/de/fs1/ object/display/bsb10953616_00003.html 3 »Ex praemissis nota duo. Primum est quod quale est illud quod actu cogitas et meditaris, cognoscis et intelligis, cum ipso unum es, in ipsius imaginem eandem transformaris, ›facie ad faciem‹ eius amore inspiraris« (Eckhart, ca. 1318/1994, S. 438).
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Das ist eine präpsychologische Gebrauchsanweisung, wie Identitäten geschaffen werden. Wenn wir das ernst nehmen würden, wären wir sicher vorsichtiger mit unseren Einbildungen und den Einbildungen unserer Kinder. Um ein erstaunliches Stück mittelalterlicher Selbstbeobachtung vorzustellen, zitiere ich, wie Meister Eckhart eine solche innere Umformung erlebt. Der Anlass ist das Ergriffensein von einer Situation, in der Gerechtigkeit aufscheint: »Was ist das Süße, das mich zuweilen zu berühren und so heftig und lieblich zu ergreifen weiß, dass ich mir bald geradezu ganz entfremdet und, ich weiß nicht wohin, entrückt werde? Denn plötzlich fühle ich mich erneuert und ganz verwandelt, und es beginnt ein Glücksgefühl, größer, als ich zu sagen vermag. Das Bewusstsein heitert sich auf, in Vergessenheit gerät das ganze Elend vergangener Schmerzen, es jauchzt die Seele, es erstarkt der Geist, das Herz wird erleuchtet, das Sehnen gestillt. Schon seh ich mich anderswo und weiß nicht wo, und halte gleichsam etwas innen in den Armen der Liebe und weiß nicht, was es ist.«4 Die Paradoxie der Bild-Sprache formuliert der Mystiker und Schüler Meister Eckharts Heinrich Seuse (1295–1366): »Wie kann man Bild loses im Bilde darstellen […], das über alle Sinne und über mensch liche Vernunft ist? Denn was man dem auch für Gleichnis gibt, so ist es noch tausendfältig ungleicher, als es gleich ist. Aber dennoch, damit man Bilder mit Bildern austreibe, so will ich dir hier bildlich mit gleichnisgebender Rede, sofern es denn möglich ist, von denselben bildlosen Gedanken zeigen, wie es in Wahrheit zu nehmen ist« (zit. nach der Ausgabe Seuse, 1907, S. 191).5 4 »Et Hugo de Sancto Victore in persona animae quaerit dicens: ›quid est dulce quod aliquando me tangere solet, et tam vehementer atque suaviter afficere, ut iam tota quodammodo a memet ipsa alienari et, nescio quo, abstrahi incipiam? Subito enim innovor et tota immutor, et bene mihi esse incipit, ultra quam dicere sufficiam. Exhilaratur conscientia, in oblivionem venit omnis praeteritorum dolorum miseria, exsultat animus, virescit intellectus, cor illuminatur, desideria iucundantur, iamque alibi, nescio ubi, me esse video et quasi quiddam amoris amplexibus intus teneo, et nescio quid illud sit‹« (Eckhart, ca. 1318/1994, S. 50). 5 »Wie kan man bildlos gebilden unde wiselos be-wisen, daz über alle sinne und übet menschlich vernunft ist? Wau waz man glichnust dem git, so ist es noh tusentvalt ungelicher, denn es glich sie. Aber doch, daz man bild mit
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Diese Paradoxie beherrscht auch die Psychotherapie. Deren Gegenstände, die Affekte, Gemütszustände, Einstellungen und Motivationen sind insgesamt unsichtbar. Trotzdem glauben wir, Vorstellungen davon zu haben, und wir glauben, dass das, was wir in die Fallberichte schreiben, real ist. Aber Bilder helfen, wie Seuse sagt, »Bilder mit Bildern auszutreiben«, und ein solcher Beitrag kann helfen, mit Worten die Worte auszutreiben.
Literatur Adler, A. (1928/2007a). Menschenkenntnis. Hrsg. v. J. Rüedi (Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 5). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (1912/2007b). Organdialekt. In A. Adler, Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Frühe Schriften (1904−1912). Hrsg. v. A. Bruder-Bezzel (Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 1, S. 250–259). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (1931/2010). Individualpsychologie und Psychoanalyse. In: Alfred Adler: Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie (1913– 1937). Hrsg. v. G. Eife (Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 3, S. 483–496). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Eckhart, Meister (ca. 1318/1994). Expositio sancti Evangelii secundum Iohannem (Die lateinischen Werke, Bd. III). Hrsg. u. übers. v. K. Christ, B. Decker, H. Fischer, J. Koch, A. Zimmernann, L. Sturlese. Stuttgart: Kohlhammer. Eisler, R. (1930). Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlass. Berlin: Mittler u. a. https:// opacplus.bsb-muenchen.de/search?id=752149&db=100 (30.10.2019). Grimm, J., Grimm, W. (1854/1961). Deutsches Wörterbuch. Bd. 3 (von 16). Leipzig: Hirzel. http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle= DWB&sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GE01399#XGE01399 (30.10.2019). Seuse, H. (1907). Deutsche Schriften. Hrsg. v. K. Bihlmeyer. Stuttgart: Kohlhammer. Sussenbach, C. (1728). Therapia imaginaria. Von Menschen die aus Einbildung gesund werden. Diss. Universität Halle. Halle a. d. S.: Johann Christian Hendel. Witte, K. H. (2013). Meister Eckhart. Leben aus dem Grunde des Lebens. Eine Einführung. Freiburg: Alber.
bilden ne tribe, so wil ich dir hie biltlich zögen mit glichnusgebender rede, als verr […] es denn möglich ist, von den selben bildlosen sinnen, wie es in der warheit ze nemen ist, und lang red mit kurzen worten beschliessen.«
Gertraud Butzke-Bogner
Unerkannt hochbegabt – über die Annäherung von Denken und Fühlen im und durch den analytischen Prozess
Zusammenfassung Es gibt unter unseren erwachsenen Patientinnen und Patienten immer wieder Menschen, deren psychische Problematik mit einer Hochbegabung, die über Jahrzehnte nicht als solche erkannt wurde, in Zusammenhang stehen kann. Oft ist es ein Dilemma für Hochbegabte, dass sie durch ihre überragenden intellektuellen Fähigkeiten bereits in der Kindheit die Erfahrung von Anderssein, Unverstandensein oder Ausgrenzung machen und ihre emotionalen Belange übersehen oder nicht gefördert werden. Dies führt bei vielen von ihnen zu einem Mangel an Gemeinschaftserleben und beeinträchtigt ihre Entwicklung und Integration. Durch verschiedene Fallskizzen wird versucht, ein verstärktes Augenmerk auf die Besonderheiten in der Arbeit mit Hochbegabten zu legen.
Und sie wissen nicht, wie gut sie sind … Auch wenn ich mit diesem Beitrag vielleicht etlichen Kolleginnen und Kollegen nichts grundlegend Neues vermittle, da das Thema der Hochbegabung in den letzten Jahren – vor allem was hochbegabte Kinder betrifft – mehr Aufmerksamkeit bekam, möchte ich hier das Augenmerk auf erwachsene Patientinnen und Patienten legen, die in einer Zeit aufgewachsen sind, wo noch nicht – wie es heute öfter geschieht – auf Intelligenz hin getestet wurde. Es gibt »unerkannt Hochbegabte«, die tatsächlich oft nichts von ihrer Hochbegabung wissen oder diese sogar leugnen – und erst darauf aufmerksam gemacht werden, wenn z. B. eines ihrer Kinder auf Anraten eines Lehrers getestet wird. Die meisten von ihnen sind psychologisch gesehen unauffällig, und es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass Hochbegabung zwangsläufig eine psychische Problematik nach sich zieht, aber bei einigen gibt es spezifische Auswirkungen im emotionalen, sozialen und beruflichen Bereich, und es kann hilfreich für die therapeutische Arbeit sein, die
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Besonderheiten der Hochbegabten rechtzeitig zu erkennen und im Blick zu behalten. »Fachleute sollten sich darüber im Klaren sein, dass diese hochintelligenten Personen – unabhängig von ihrem Alter – möglicherweise keine klaren Vorstellungen davon haben, was Hochbegabung für sie selbst und für ihre Beziehungen zu anderen bedeutet. Schließlich sind sie mit ihrer Art, die Welt zu sehen, aufgewachsen und sie gehen davon aus, dass alle anderen die Welt mit ähnlichen Augen betrachten wie sie selbst« (Webb, 2015, S. 270).
Definition Hochbegabung Hochbegabung beginnt – wissenschaftlich definiert – bei einem IQ von 130, lediglich 3–5 % der Bevölkerung zählen darunter. Der IQ ist ein Vergleichsmaß im Hinblick auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit einer Person relativ zu einer bestimmten Vergleichsgruppe (Ziegler, 2018, S. 24). Studien der Scottish Mental Surveys (nach Ziegler, 2018) zeigten jedoch, dass der IQ weder mit dem Berufserfolg noch mit Leistungsexzellenz in einem eindeutigen Zusammenhang stand, sondern deren zuverlässigste Prädikatoren »Selbstwert« und »Motivation« sind (Ziegler, 2018, S. 28). Im Jahr 2000 bestimmte der Begabungs- und Bildungsforscher Kurt A. Heller in seinem Münchner Hochbegabungsmodell sieben mögliche Begabungsfaktoren, die Prädikatoren für Hochbegabung sein können: intellektuelle und kreative Fähigkeiten, soziale Kompetenz, Musika lität, Psychomotorik, künstlerische und praktische Fähigkeiten. Daneben definierte er fünf nicht-kognitive Persönlichkeitsmerkmale wie Stressbewältigung, Leistungsmotivation, Arbeits- und Lernstrategien, (Prüfungs-)Angst und Kontrollüberzeugungen, die moderierend einwirken. Für die Manifestation oder Nichtmanifestation von Hochbegabung sind aber folgende fünf Umweltmerkmale entscheidend: familiäre Lernumwelt, Familienklima, Instruktionsqualität, Klassenklima und kritische Lebensereignisse (Heller, nach Niklas u. Niklas, 2017, S. 73 ff.). Das bedeutet, dass sich Hochbegabung oft nicht ausprägen kann, wenn die Umwelt nicht entsprechende Anreize bietet. Adler sagt: »Nicht die hereditäre Begabung wirkt sich im weiteren Leben aus, son-
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dern deren Verwendung innerhalb des in den ersten drei Jahren gewonnenen Lebensstils.« Dazuzählt das Ringen mit Schwierigkeiten, die vorhergegangene Schulung und der frühe Beginn des entsprechenden Trainings (Adler, 1926/2010, S. 274 f.). Die »Süddeutsche Zeitung« veröffentlichte im August 2019 im Ressort »Gesellschaft« einen Artikel unter dem Titel: »Erster!«. Darin zitiert Werner Bartens den Sozialpsychologen Dieter Frey von der LMU München. Dieser erläutert, dass deutsche Kinder wohl schon von klein auf lernen, kein Angeber zu sein und nicht mit den Erfolgen zu prahlen, obwohl das Leistungsprinzip in Deutschland eine große Rolle spielt. Da Erfolg immer eine Bedrohung für die weniger Erfolgreichen ist, versuchen diese, ihre Gruppenidentität zu wahren, indem sie den Erfolgreichen das Leben schwer machen, sie sogar ausgrenzen. Es zeige sich folglich eine Ambivalenz gegenüber Spitzenleistungen. Bartens betont das Klischee des Strebers als Negativfigur, Storys vom Scheitern und das Selbstbild einer verwegenen Existenz seien meist unterhaltsamer. Zudem zeigt er Spuren in der Mentalitäts- und Geistesgeschichte auf, wo es zur faschistischen Ideologie gehörte, dass keiner aus dem Kollektiv der Volksgemeinschaft herausragen, sondern in der Masse untergehen sollte. Das Thema bietet also weitreichenden Stoff. Christina Heil betont, dass Hochbegabung beim Beziehungsaufbau, in der Diagnostik und auch im Therapieprozess berücksichtigt werden sollte (Heil, 2018, S. 218), sie beschreibt auch Besonderheiten von Hochbegabten, die Sie ebenfalls in guten Standardwerken (z. B. Brackmann, 2017; Niklas u. Niklas, 2017; Schwiebert, 2015) finden können. Ich möchte darauf nicht näher eingehen, sondern Sie mitnehmen in Fallskizzen, um Sie damit zu sensibilisieren, auf etwaige Anzeichen von Hochbegabung zu achten.
Mein erster Kontakt mit Hochbegabung Es ist schon lange her: Als ich Kandidatin im Praktikantenstatus am Alfred Adler Institut München war, bekam ich Herrn B., meinen zweiten Patienten, zugewiesen, bei dem ich – und auch meine Supervisorin – zunächst eine narzisstische Störung auf dem Boden einer spröden, kühlen Mutterbeziehung, fehlender emotionaler Spiegelung und Empa-
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thie und daraus erwachsenen Mängeln in Bezug der Annahme seiner Selbst und sozialer Kompetenzen diagnostizierte. Die überwiegenden Kompensationen waren Intellektualisierungen, Abwertungen anderer Menschen, um die Sicherung eines Überlegenheitsgefühls zu erhalten, überkritische Stellungnahmen, fehlende Berufs- und Lebensplanung und Reduzierung sozialer Kontakte. Anfangs fühlte ich mich in meiner Gegenübertragung häufig als »klein und nichtig« und ich entwickelte immer mehr das Gefühl, dem Patienten nicht gewachsen zu sein, da er in den Sitzungen oft ein profundes Wissen vor allem aus naturwissenschaftlichen und philosophischen Bereichen einfließen ließ, das zu seiner gescheiterten Schulkarriere und seinem damaligen Beruf als Taxifahrer im Widerspruch stand. Ich neigte dazu, ihn als überheblich, manchmal auch als provokativ zu erleben, aber spürte gleichzeitig sehr deutlich seine emotionale Bedürftigkeit und auch die Schwierigkeiten, sich dem sozialen Leben zu stellen. Nach einem von ihm geschilderten Erlebnis, bei dem er auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt mit einem Professor lange, intensiv und kritisch über Wissenschaft diskutiert hatte und dabei richtiggehend aufblühte, wurde mir deutlich, dass er ein großes Defizit darin hatte, sich auch mit all seinem Wissen anerkannt zu fühlen. Dies war ein Wendepunkt der Therapie. Wir bekamen Zugang dazu, dass er Zeit seines Lebens wegen seiner unersättlichen Neugier auf Abwehr gestoßen war, dass sich schon die Mutter – eine einfache Frau – von seinen Fragen in die Enge getrieben fühlte, was deren Zuwendung und den Kontakt mit ihr erschwerte. Er fühlte sich den Eltern fremd, fand kaum Unterstützung auf intellektuellem Gebiet und in Lebens fragen, oft auch später bei den Lehrern nicht. Er zog sich ins Lesen zurück und schrieb sehr differenziert und ausführlich Tagebuch mit vielen weitreichenden Gedanken über Kunst, Philosophie und Gesellschaft. Von meinem heutigen Wissen her würde ich sagen, dass er ziemlich sicher hochbegabt war und dies leider nicht erkannt und gefördert wurde, die Menschen in seiner Umgebung seiner Gesamtpersönlichkeit nicht gerecht wurden. Herr B. zeigte meines Erachtens einige typische Merkmale hochbegabter Personen: Er sah sich selbst als introvertiert, gehemmt, hatte wenige Kontakte – und wenn, dann solche mit Personen mit gleichen Interessen; er brauchte viel Zeit für sich und »seine Studien«; er sah
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sich gesellschaftlich als Versager; legte großen Wert auf Unabhängigkeit – auch von Lob und Anerkennung – und zeigte innere Rebellion. Die Erkenntnis darüber, dass seine Probleme zu einem großen Teil auch durch seine hohe Begabung mitbedingt waren, gab ihm einen neuen, versöhnlicheren Blick auf seine Person und erleichterte auch seinen Zugang zu anderen Menschen und der Gesellschaft. Andrea Schwiebert (2015, S. 13 ff.) beschreibt, dass sich eine Hochbegabung fast immer an der Lebensgeschichte und in der Persönlichkeit eines Menschen erkennen lasse, da sie einen Menschen weit mehr beeinflusse, als nur in Bezug auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit. Man findet – knapp zusammengefasst: Einen wachen Geist – d. h. einen immerwährenden Prozess der intensiven Verarbeitung; die subjektive Erfahrung der »Nichtpassung« – sie fühlen sich oft unverstanden, verstehen sich manchmal selbst nicht, scheinen »falsch« zu sein; und auch eine Tendenz zur Unangepasstheit – sie haben ihren eigenen Kopf, sind Querdenker, manchmal unbequem und widersprüchlich und mögen keine Oberflächlichkeiten.
Hochbegabung und Scheitern Diese Kombination scheint zunächst sehr widersprüchlich zu sein, jedoch beginnen die Probleme oft schon im Kindesalter, wenn Kinder im Denken weiter sind als im emotionalen Bereich und dadurch auf Unverständnis und auch Überforderung stoßen. Ebenso wird im Schulsystem auf die andere Art dieser Schüler, zu denken und zu lernen, meist keine Rücksicht genommen. Da ihre Aufnahmefähigkeit schnell und hoch ist und sie einen Großteil der Unterrichtszeit damit verbringen, auf die anderen zu warten, tritt Langeweile auf, die oft in störendes Verhalten umschlägt oder die Kinder und Jugendlichen dazu bringt, »abzuschalten«. Manche rutschen durch Trotz und Verweigerung in das sogenannte Underachievement und bleiben dadurch weit hinter ihren Möglichkeiten. Das Scheitern zeigt sich häufig auch im sozialen Bereich, da die Peergruppen z. B. den komplexen Spielangeboten der Hochbegabten nicht folgen können oder Letztere sich mit ihren vielfältigen Hobbys nirgends wirklich zugehörig fühlen.
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Alfred Adler unterscheidet zwischen Intelligenz und Vernunft: Nur wenn Intelligenz mit dem Gemeinschaftsgefühl verknüpft ist, ist sie Vernunft und damit eine soziale Fähigkeit, die Verstehen und Identifizieren impliziert. Sie kann nur trainiert werden, wenn jemand im Zusammenhang mit anderen aufwächst und sich als Teil des Ganzen fühlt. Das ist die Voraussetzung dafür, Widrigkeiten des Lebens angemessen zu begegnen (Adler, 1928/2010, S. 314 f.). Daraus ergibt sich die Wichtigkeit der Förderung emotionaler und sozialer Erfahrungen und Kompetenzen in besonderem Maße. Ein Beispiel: Ein Patient mit – später bestätigter – hoher Intelligenz wurde nach »völlig unbefriedigender Schulzeit«, wo er nicht wusste, was er da sollte und Eltern und Lehrer mit ihm verzweifelten, in seiner Pubertät endgültig zum Schulverweigerer und Versager und in einem Internat untergebracht. Er fühlte sich dort zunächst viel besser als zu Hause, aber griff nach einiger Zeit verstärkt zu Cannabis, um gegen seine immensen Frustrationen und innere Einsamkeit vorzugehen. Er stand vor dem Rauswurf. Erst als ein aufmerksamer Lehrer einfühlsame Gespräche mit ihm führte, seine Kompetenzen erkannte und förderte, konnte er »durchziehen« und sich Jahre später für ein Philosophiestudium einschreiben, das seinem Geist genug Nahrung bot und in dem er erstmals Gleichgesinnte traf. Er kam wegen wiederkehrender suizidaler Tendenzen, Neigung zu Drogenkonsum, Beziehungskonflikten und depressiven Symptomen in meine Praxis. Wir beschäftigten uns über viele Sitzungen mit existenziellen Fragestellungen, die sich in allgemeiner Desorientierung und Unsicherheit, Gefühlen von Sinn losigkeit und Hoffnungslosigkeit zeigten. Diese scheinen bei Hochbegabten häufiger aufzutreten und werden wohl durch ihre Fähigkeiten zur Metakognition, als auch durch mangelndes Verständnis und fehlende Unterstützung der Eltern begünstigt, wodurch das Gefühl entsteht, allein in der Welt zu stehen und von ihr entfremdet zu sein. Im Fall des Patienten führten die Eltern eine sehr konflikthafte Ehe, was ihm wenig Geborgenheit, Aufmerksamkeit und Halt in der Welt bot. Oft findet man auch schon früh einen ausgeprägten Idealismus, der sich als quälend erweist, da die Widersprüchlichkeit in der Gesellschaft durchschaut und die Ohnmacht als unerträglich empfunden wird. Viele sind auf der Suche nach spiritueller Führung – daher auch oft mit philosophischen Fragen befasst. In der Behandlung des jungen Mannes war es anfangs sehr schwer, von den verworrenen Gedankengängen auf die Gefühlsebene zu gelangen. Es schien mir, als wollte er mir beweisen, dass auch ich ihn und seine idealtypischen Ideen nicht verstehen kann – wie wenn das Verbarrikadieren in seinem »Elfenbeinturm« seinen Schutz gewährleistete. Durch beharrliches Interesse und »laienhaftes« Mitschwingen in philosophischen Diskursen meinerseits baute sich allmählich seine Abwehr ab. Er fand Gefallen daran, seine Erinnerungen, Projektionen und Bedenken mit realen Erlebnissen zu verknüpfen und begann, seine inneren Dramen und sein Suchen nach dem Sinn mehr zu verstehen. Er konnte seine Interessen langsam wieder mehr nach außen richten, suchte letztlich wieder Kontakte zu Menschen, mit denen er gemeinsame Projekte verwirklichen konnte.
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Differenzialdiagnostik bei Hochbegabung In diesem Kontext möchte ich auf mögliche Fehldiagnosen eingehen und mich an dem Standardwerk von James T. Webb orientieren. Auch wenn wir Erwachsene in Therapie nehmen, ist es wichtig, zu eruieren, ob bereits in Kindheit und Jugend schon einige der unten aufgeführten Diagnosen gegeben wurden und diese nochmals kritisch zu betrachten. Webb (2015, S. 83 ff.) nennt häufige Überweisungsgründe, mit denen hochbegabte Kinder an einen Psychologen oder Psychiater überwiesen werden. Diese zeigen von Natur aus viele Verhaltensweisen, die Kindern mit ADHS ähneln – soziale Probleme (hyperaktiv, impulsiv) und Schwierigkeiten in der Schule (unaufmerksam aus Langeweile). Durch diese Symptome entstehen Depressionen, Ängste, Lernstörungen, unrealistisch hohe Erwartungen, auditive Verarbeitungsdefizite, Müdigkeit durch Schlafmangel etc. Jedoch – zur Unterscheidung: Kinder mit ADHS haben ein hohes Energieniveau, das fast immer vorhanden ist und sie können ihr Aktivitätsniveau kaum regulieren. Hochbegabte Kinder sind auch sehr aktiv, manche brauchen nur 4–5 Std. Schlaf pro Nacht, aber sie können bei ihren Aktivitäten sehr fokussiert sein und ihre Aufmerksamkeit lange Zeit aufrechterhalten. Wenn die Unterrichtssituation aber keine Herausforderungen bietet, beschäftigt sich das Kind »irgendwie kreativ« mit Stören oder Tagträumen. Beide neigen zu Machtkämpfen mit Autoritätspersonen, aber Kinder mit ADHS haben Schwierigkeiten, sich überhaupt an Regeln und Konventionen zu halten, während hochbegabte Kinder Regeln meist erst dann infrage stellen, wenn sie ihnen unlogisch erscheinen. Nach Webb (2015, S. 113 ff.) werden oft auch Störungen des Sozialverhaltens oder Störungen mit oppositionellem Trotzverhalten diagnostiziert. Die meisten hochbegabten Kinder haben ein starkes Selbstgefühl, und das kann in Verbindung mit ihrem starken Willen und ihrer Intensität problematisch werden – sie schalten auf stur, streiten mit den Erwachsenen, verlieren die Beherrschung, werden aufsässig. Gleichzeitig sind sie sehr sensibel, wenn jemand ihre Gefühle verletzt – und sie fühlen sich oft nicht verstanden oder unter Druck gesetzt, sich zu ändern. Dies führt zu starken Gefühlen von Verletztsein, Frustration und Wut. Das Scheitern setzt sich für manche hochbegabte Erwachsene auch im Beruf fort, da sie in Bezug auf Aufgabenstellungen schnell klare Vor-
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stellungen entwickeln und mehrere Lösungsmöglichkeiten parat haben, leicht mit Kollegen und Vorgesetzten in Konflikte kommen und permanent neue Herausforderungen brauchen. Häufige berufliche Wechsel aus Unzufriedenheit sind die Folge. Im Privaten wird die Schwierigkeit Hochbegabter, sich im Familienkreis integriert zu fühlen und »nicht Teil in deren Welt zu sein«, einen adäquaten Partner zu finden oder das häufige Wechseln ihrer Hobbys als persönliches Scheitern verarbeitet. Auch im Bereich der Erwachsenen gibt es einige schwer davon abzugrenzende Diagnosen, wie z. B. die einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, bei denen Personen ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit und eine abweisende, überhebliche Haltung gegenüber anderen zeigen. Gesunder Narzissmus ist ein fundamentaler Aspekt im Leben – denn wer etwas bewirken will, muss an sich glauben. Bei pathologischen Narzissten findet sich eine kompensatorische Überheblichkeit, hinter der sich eine innere Leere verbirgt. Es ist jedoch nicht mit der Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung vereinbar, wenn wirkliche Kompetenz mit Empathie, Sympathie und Bescheidenheit, mit realistischem Selbstwertgefühl und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten da ist, auch wenn durch eine Fokussierung auf Aufgaben soziale Kontakte leiden (S. 133 ff.). Bei der zwanghaften Persönlichkeitsstörung behindert der Perfektionismus die Erfüllung von Aufgaben, man findet Rigidität in Fragen von Moral und Ethik. Sowohl hochbegabte als auch zwanghafte Personen versuchen, ihre Angst und Schuldgefühle durch Intellektualisieren in den Griff zu bekommen und denken sich Möglichkeiten aus, Anspannungen abzubauen und Kontrolle über die Umgebung auszuüben. Hochbegabte können jedoch oft detailliert erläutern, warum ihre Handlungen durchdacht und angemessen sind, während Personen mit Zwangsstörungen in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt sind (S. 140 ff.). Auch bei den Aspergerstörungen finden sich Ähnlichkeiten zu Hochbegabten im hervorragenden Gedächtnis, im häufigen Fragestellen, in der Redegewandtheit. Beide Gruppen verfolgen oft intensive Interessen, Fairness und Gerechtigkeit sind ihnen ein hohes Anliegen. Beide Gruppen haben oft Aufmerksamkeitsprobleme, sind überempfindlich gegenüber Sinneseindrücken und haben einen eher skurrilen Humor. Faktoren, die für eine korrekte Diagnose wichtig sind: Hochbegabte
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sind im sozialen Bereich umgänglich, wenn ihre Peers ähnliche Interessen haben, sie nehmen wahr, wie sie auf andere wirken, sie können anschaulich und begeistert über ihre Interessen erzählen. Bei den Personen mit Asperger findet man bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen oder/und beruflichen Funktionsbereichen (S. 148 ff.).
Was hat Hochbegabung mit Hochsensibilität zu tun? Bei Frau J. wurde die Hochbegabung vor allem in der Zeit ihres Studiums als Problematik akut. Sie wuchs mit zwei jüngeren Geschwistern in einer rumänischen Gastarbeiterfamilie auf, der Vater arbeitete am Bau, die Mutter hatte mehrere Putzstellen, die Kinder waren viel sich selbst überlassen. Die Patientin fühlte sich schon früh »anders«, brachte sich mit vier Jahren allein das Lesen bei, war immer unglücklich, gewissenhaft und mit hohem Gerechtigkeitssinn, übernahm in der Familie schon als Kind viel Verantwortung und achtete als Einzige überaus empfindsam auf die Befindlichkeit der Mutter. Ihre Anpassungsbereitschaft, aber auch Kränkbarkeit im sozialen Kontext war sehr hoch. Adler (1930/2010, S. 47) beschreibt die erhöhte Sensibilität des nervösen Charakters als Teil des Strebens, sich vor einer Wiederholung der Notsituation zu sichern, sich unempfindlich zu machen, sich schon bei den geringsten Anzeichen schützen zu können. Die Patientin machte als Einzige der Familie relativ mühelos Abitur, dann studierte sie an der technischen Universität. Im Studium hatte sie oft das Gefühl, dass die Aufgabenstellungen so banal waren, dass diese doch nicht ernst gemeint sein konnten, sie blockierte im Verständnis, konnte die Dozenten nicht einschätzen. »Ich hatte das Gefühl, dass sie uns einfach verarschen!« Sie beobachtete fortwährend ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen, um festzustellen, dass diese »ganz anders waren«, sich nicht so viele Gedanken machten, mit den Anforderungen locker umgingen, und sie entwickelte enorme Selbstzweifel, was sich bald in gravierenden Arbeitsstörungen bemerkbar machte. Sie fiel in depressive Löcher und Selbstabwertungen, entwickelte eine Hashimoto-Erkrankung. In der Therapie war es zunächst lange Thema, dass sie vernachlässigt und früh parentifiziert wurde und einen hohen Nachholbedarf an Fürsorge hatte, aber sich schon als 4-Jährige in der progressiven Bewältigung ihrer emotionalen Mängel bewegt hatte. Frau J. entwickelte anfangs in der Übertragung teilweise eine regressive, fast klammernde Beziehung zu mir und war in der
Unerkannt hochbegabt247 vielfältigen und hochsensiblen Wahrnehmung ihrer Gefühle sehr verunsichert. Ihre soziale Kränkbarkeit anzusprechen, war sehr heikel, da sie sich oft unverstanden fühlte, sie war verzweifelt und wütend und bezog alles darauf, dass sie wohl »nicht normal« sei. So verarbeitete sie meine geäußerte Vermutung einer Hochbegabung – die sich später bestätigte – zunächst auch sehr zwiespältig, denn sie konnte ihre hohe Begabung kaum als Bereicherung, sondern eher nur als Fluch erleben, weil sie sich in permanenten Denkprozessen befand, überempfindlich war und innerlich kaum zur Ruhe kam. Außerdem stellte ich ihr Selbstbild infrage, denn sie fühlte sich eigentlich »dumm« und minderwertig, ihr Selbstgefühl war geschädigt und entstellt, sie wertete ihre normalen, zielgerichteten Handlungen als angeberisch ab.
Wolfgang Schmidbauer (2018, S. 94) spricht hier von der »Inversion des Exhibitionismus«, der verlorenen Bereitschaft, seine Fähigkeiten zu zeigen. In der Bearbeitung ihrer Lebensgeschichte konnte die Patientin erkennen, dass sie ihre Begabung immer verstecken musste, um ihre Verlassenheitsängste zu bannen, und dass erfolgreich zu werden, in der Vorstellung mit einem weiteren Herausfallen aus der Ursprungsfamilie verknüpft war. Die Tatsache, damit den Vater zu überrunden, der einen branchenähnlichen, aber »minderen« Job innehatte, und seine Position zu untergraben, war mit Schuldgefühlen verbunden. Es entstand eine unerträgliche Spannung zwischen »nichts können dürfen« und dem Erbringen guter Leistungen. Sie erlebte sich als »geltungssüchtig«, verlegte ihre Ängste vor dem Ärger des Vaters in die Prüfer, und jeder Entwurf war ein Ringen zwischen dem Wunsch nach Anerkennung und der Angst, dass sich ihre befürchtete Durchschnittlichkeit bestätigen würde. Sie beendete während der Zeit des Studienabschlusses, der sie wegen der hohen Ambivalenzen viel Kraft kostete, die Therapie. Jahre später kam sie noch einmal in meine Praxis. Sie war inzwischen als Bauleitung tätig und hatte ein Kind bekommen, das ebenfalls bereits als Kleinkind alle Anzeichen von Hochbegabung zeigte (wie extrem wenig Schlaf, hohes Bedürfnis nach Anregung und schnelle Unzufriedenheit) und sie als Mutter sehr forderte. Im Vergleich zum erstgenannten Fall finden sich hier zusätzlich ausgeprägte Tendenzen von Hochsensibilität, die oft Teil einer Hochbegabung sind, da das Gehirn Hochbegabter Informationen schneller und komplexer verarbeitet – dies betrifft nicht nur den Intellekt, sondern auch Sinnes- und emotionale Reize (Brackmann, 2012, S. 38).
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Webb (2015, S. 54 ff.) beschreibt folgende universelle Merkmale von hochbegabten Kindern und Erwachsenen: Zur Intensität zählen Ausdauer, Konzentration und nahezu Exzessives in der Ausführung und erhöhte Sensitivität im Sinne der gesteigerten Reaktion auf Reize in fünf Bereichen: Erhöhte intellektuelle Sensitivität – mit geistiger Regsamkeit, dem Streben nach Wissen, Verständnis, Wahrheit und Problemlösung. Sie sind Vielleser, introspektiv, stellen viele Fragen, sind scharfe Beobachter, befassen sich häufig mit moralischen Fragen. Erhöhte imaginäre Sensitivität – z. B. mit imaginärem Spielkameraden, reicher Vorstellungskraft, Fantasie, Tagträumen, dramatischer Wahrnehmung. Erhöhte emotionale Sensitivität – Kinder machen sich viele Gedanken über das Wohlergehen anderer, zeigen starke Verbundenheit mit Menschen, Orten, Dingen; oft wird ihnen vorgeworfen, sie würden überreagieren. Die Intensität ihrer Gefühle äußert sich in Mitgefühl, Empathie, Tränenausbrüchen, aber auch in Wut (Spiel verloren!). Erwachsene sind oft sozial engagiert und wenn sie merken, dass andere ihren Idealismus nicht teilen, können sie sehr traurig, zynisch oder wütend werden. Erhöhte psychomotorische Sensitivität – Sie sind aktiv und energiegeladen, sprechen schnell, neigen unter emotionaler Anspannung zu impulsivem Handeln, Rededrang, nervösen Angewohnheiten, z. B. vor sich hin kritzeln, mit dem Fuß wippen. Erhöhte sensorische Sensitivität – Die Sinneswahrnehmungen im Alltag sind stärker ausgeprägt als bei anderen, Abneigung gegen Kratziges, Nebengeräusche, Konsistenz bestimmter Nahrung, starke Gerüche. Orten mit Reizüberflutung werden gemieden. Aber auch großer Genuss von Musik, Sprache, Essen – dann ganz in der Konzentration versunken. Bei Frau J. war es vor allem eine ausgeprägt differenzierte Wahrnehmung ihrer Außenwelt in Verbindung mit vielschichtigen gedanklichen Konstruktionen, für die sie – aufgrund ihrer familiären Situation – weder Austausch noch Korrektiv erfuhr. Sie spürte wegen ihrer hohen emotionalen Sensitivität überall quälende Ungerechtigkeiten auf, auf die sie oft mit Hilfsangeboten reagierte, damit aber in dem neurotischen
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Zirkel ihrer Ursprungsfamilie blieb. Wenn ihre Hilfe abgelehnt wurde, zeigte sich ihre Dünnhäutigkeit und Kränkbarkeit, was ihre Beziehungen belastete. Oft blieb sie in Gedankenschleifen hängen, fühlte sich manchmal »wie eine Außerirdische«. Es ging in der Therapie über viele Sitzungen darum, ihre unverständlichen Gefühle in aller Vielfalt nicht nur mit den familiären Strukturen, sondern auch mit den spezifischen Merkmalen von Hochbegabung in Verbindung zu bringen, ihr dadurch ein erweitertes Identitätskonzept zu ermöglichen und ihre immensen Schuldgefühle zu mindern.
Hochbegabte im Beruf Bei Frau S. zeigte sich die Problematik der Hochbegabung vor allem im beruflichen Bereich: Die Patientin bearbeitete mit mir in ihrer ersten Psychoanalyse ihre schwierige Kindheit mit mehreren Geschwistern, massiv streitenden Eltern (Mutter deutsch, Vater spanisch), traumatischen Erfahrungen und erschwerten Integrationsbedingungen in Schule und Gesellschaft. Die daraus erwachsenen Probleme beeinträchtigten sie vor allem im Selbstwertgefühl, in der Selbstwahrnehmung, in Bezug zum eigenen Körper und im sozialen Bereich. Die therapeutische Be- und Verarbeitung führte zu mehr Selbstbewusstsein, besseren Möglichkeiten der Abgrenzung im familiären Kontext, verstärkten freundschaftlichen Beziehungen, einer langjährigen Partnerschaft und vorerst einem beruflichen Aufstieg im IT- Bereich. Nach einigen Jahren kam sie wieder für eine zweite Therapie – was war geschehen? Sie hatte mehrfach die Arbeitgeber gewechselt, was ihr von diesen jeweils nahegelegt wurde: »Wir schätzen ihre Arbeit sehr, aber sie können hier nicht bleiben!« Ihre innovativen Ideen waren entweder für das Firmenkonzept zu weitgehend oder wurden von ihren Chefs verwertet, sie selbst wurde klein gehalten, Kollegen begannen sie zu meiden, Kolleginnen mobbten sie. Oft brachte sie Projekte in die Anlaufphase, den Erfolg nahmen andere für sich in Anspruch. Sie fühlte sich übersehen, ausgebremst und unverstanden, überarbeitete sich, entwickelte psychosomatische Symptome, wurde wechselweise depressiv oder agitierend aggressiv.
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Diese Entwicklung ist manchmal typisch für hochbegabte Menschen, die am Arbeitsplatz bei Kollegen oft auf Neid und Konkurrenzdenken stoßen. Beide Seiten können sich dabei blockiert oder eingeschüchtert fühlen. Ebenso kann die Energie und Kreativität des Hochbegabten die anderen Mitarbeiter zur Weißglut treiben, denn er erwartet häufig von anderen, dass diese genauso schnell und effizient arbeiten wie er. Oft wird Kreativität am Arbeitsplatz auch »bestraft«, da Abweichungen und Neuerungen selten toleriert werden. (Webb, 2015, S. 264). Bei einer hochbegabten Frau findet man häufig den sogenannten Burn-out, da sie nicht weiß oder fühlt, ob sie genug geleistet hat. Sie meint, sie könne sich nicht an der Durchschnittsnorm orientieren, und orientiert sich stattdessen an der Erschöpfung: Sie darf erst aufhören, wenn sie wirklich nicht mehr kann (Schmidbauer, 2018, S. 77). Meine Andeutung einer Hochbegabung wurde von Frau S. zunächst als nebensächlich abgetan. Es ist nach meiner Erfahrung oft so, dass es den Betroffenen peinlich ist, da sie sich nicht damit hervortun wollen, eher sach- und lösungsorientiert sind und weniger den persön lichen narzisstischen Gewinn im Blick haben. Eigentlich wollen sie ihre Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft stellen, aber finden dazu nicht den richtigen Weg. In den meisten Fällen besteht kein Streben nach Überlegenheit oder Überheblichkeit, oft wird sogar versucht, das »Mehr« an Wissen und Können verdeckt zu halten, aber es teilt sich in der Regel dennoch mit. Als die Patientin Wochen später von einem Seminarleiter, an dessen Fortbildungsveranstaltung sie teilnahm, ebenfalls auf ihr ausgeprägtes divergentes Denken, ihre empathischen und engagierten Reaktionen und verdeckten Führungsqualitäten hingewiesen wurde, ging sie in eine Testung und meine Vermutung verifizierte sich, was unserer Arbeit sehr zugute kam. In den Sitzungen zeigte sich eine überaus große Reflexionsfähigkeit mit der Tendenz, assoziative Querverbindungen in alle Bereiche hineinzuknüpfen. Sie war eine wirkliche Herausforderung für mich, da sie dazu neigte, mit permanentem Abschweifen, Ausweichen und differenzierten Erklärungen die aufflammenden Gefühle immer wieder in den Griff zu bekommen, und fehlende Kontrolle für sie schwer zu ertragen war. Ein Teil meiner Arbeit mit ihr bestand in »Abbremsen«, Hin-
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spüren und Zulassen. Frau S. konnte erkennen, dass sie ständig nach neuen »Challenges« suche und in ihrer überaus kreativen Art zu denken, nahezu jedem Chef »gefährlich« werden könne; dass sie aber auch ein unterschwelliges Hinterfragen von Autoritäten praktiziere, auf das diese intuitiv mit Angst und Kündigung reagieren würden. Sie macht gerade ein Sabbatjahr und nutzt es auch für intensive Selbsterfahrung. Es scheint für sie sinnvoll, eine selbstständige Tätigkeit anzuvisieren, in der sie ihren Ideen freien Lauf lassen und eigene Entscheidungen treffen kann.
Hochbegabt unter Hochbegabten Frau N. kam in die Therapie mit dem Wunsch, ihr seelisches Leid zu verringern. Sie beschrieb Gefühle von innerer Verlassenheit trotz guter Partnerschaft, war in Kontakten oft unglücklich, erlebte sich selbst als scheiternd. Manchmal habe sie sich in unerträglichen Situationen wie ein Automat benommen, »als wäre nichts gewesen«. Sie fragte sich: »Stelle ich mich nur so an oder bin ich komisch?« Frau N. wuchs in einer Familie auf, wo Hochbegabung von der Seite des Vaters und entsprechende berufliche Positionen »normal« waren. Ähnliches beschreibt auch Agnes Imhof, die sich durch die Lexika der Eltern las und mit zwölf Jahren heraus fand, dass der Großvater – er war Professor für Turkologie – über vierzig Sprachen beherrschte, worüber aber nicht geredet wurde (Imhof, 2018, S. 30). Bei Frau N. war eine intellektuelle, rationale Ausrichtung innerhalb der Familie selbstverständlich, durch das Pragmatische war alles unangreifbar, Wünsche und Gefühle hatten keinen Platz, der Umgang war wenig empathisch, es gab viele Wertungen und Abwertungen. Die Kernbotschaft ihrer Kindheit lautete: »Du bist zu empfindlich.« Als Kleinkind habe sie viel geschrieen, mit ihrem späteren Jähzorn kamen alle schlecht zurecht, sie habe vor Wut in Polster und Lehnen gebissen. Auch die meisten anderen Gefühle der Patientin wurden nicht verstanden, daher begann sie sich bereits ab dem vierten Lebensjahr »selbst zu managen«: Sie versteckte sich und las Bücher, in denen
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andere auch allein waren. »Ich musste und wollte mit meiner Situation zurechtkommen wie der Indianerjunge aus dem Buch. Ihm fühlte ich mich nahe!« In der Schule litt sie unter dem Gefühl von Ausgrenzung, sie war schüchtern, alles fiel ihr leicht, vieles wurde ihr schnell eintönig, sie belegte nebenbei etliche Kurse wie diverse Sportarten sowie Malen, Basteln, Klavier und Sprachen. Die Mädchen waren ihr vor allem in der Pubertät zu blöd, sie habe sich nicht zurechtgemacht, sich nicht für Jungs interessiert, nie einen Star angeschwärmt. Auch die Ungerechtigkeit der Lehrer konnte sie nicht ertragen, den Jähzorn habe sie mit der Zeit jedoch zu unterdrücken gelernt. Aber als sie später ein Jurastudium absolvierte, bemerkte sie ein »schreckliches Überheblichkeitsgefühl«. In der Zwischenprüfung dachte sie: »Du Idiot willst mir so eine blöde Frage stellen?« Sie habe sich nie wirklich angestrengt, da sie ein phänomenales Gedächtnis hatte und es genügte, kurz vor den Prüfungen zu lernen. Sie machte kurz danach noch einen zweiten Studienabschluss und hat öfter die Arbeitgeber gewechselt, wenn die Arbeit zu einfach wurde oder sie ihre Ideen nicht umsetzen konnte. Sie habe sich unterfordert und gelangweilt gefühlt, die Zusammenarbeit mit anderen funktionierte oft nicht gut, es gab »zu wenig Experten«, sie war immer auf der Suche nach Lösungen und wurde gebremst oder musste sich bremsen. Sie sagte: »Ich sehe oft zwei Jahre weiter als die anderen und kann es schwer aushalten, dass nicht rechtzeitig gehandelt wird.« Mit knapp Vierzig habe sie dann über einen Test erfahren, dass sie tatsächlich hochbegabt ist, sie war darüber sehr aufgeregt, denn es erklärte für sie manche schwierigen Gefühlslagen. Sie las Biografien hochbegabter Menschen und war froh, nicht vollständig gescheitert zu sein wie einige von ihnen. Dennoch fehlte ihr die wirkliche Integration der Erkenntnis der Hochbegabung in ihrem Lebenslauf und ihrer Gegenwart. Der therapeutische Prozess war für die Patientin anstrengend und berührend. Es ging für sie darum, das »richtige« Maß für die eigene Bewertung ihrer Fähigkeiten und Gefühle zu finden, da sie lebenslang in ihrer intellektuellen Familie ihre Emotionalität nicht als Stärke, sondern als Hindernis und Zumutung erlebte. Zudem war ihre Hochbegabung im Rahmen der erwachsenen Hochbegabten »selbstverständlich«, »gar
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nichts wert«, ihre geäußerten Gedanken und Ideen wurden belächelt, oft sogar verbessert statt bewundert, waren nicht gut genug. Eigentlich fehlte ihr schon früh die normale narzisstische Bestätigung, die Eltern der Entwicklung eines Kindes zollen: »Ich dachte immer, ich mache alles falsch, mein Wesen sei falsch!« Diese innere Gewissheit untermauerte sie unter anderem mit Erinnerungen aus der Kindergartenzeit, wo sie viel allein spielte, da ihr die vorgeschlagenen Spiele zu langweilig waren und sie Ablehnung erfuhr, wenn sie andere bat, ihre Freundin zu werden. Sie fühlte sich sehr oft nicht zugehörig. In der Übertragung tauchten bei mir Gefühle von Düsternis und tiefer Traurigkeit auf, oft fühlte ich mich nach den Sitzungen ausgelaugt und erschöpft. Manchmal kämpfte ich gegen Windmühlen, wenn ihre Überzeugungen – »Ich bin an meinem Zustand selbst schuld«- hart näckig nach Beweisen suchten. Immer wieder befürchtete sie mein Desinteresse, meinte: »Ich versuche, durch Verhaltenssteuerung und innere Vorbereitung zu vermeiden, bedürftig zu erscheinen.« Bedürftigkeit hätte Ablehnung und Unwert heraufbeschworen. Oft war Frau N. nach den Sitzungen sehr traurig: »Ich hätte weinen und nicht wieder aufhören können, wie wenn man den Stecker gezogen hätte, ich fühlte mich schwach und energielos.« Sie konnte nur schlechte Seiten an sich sehen, beklagte ihre extreme Anpassung – die ihr viel Freiheiten nehme –, aber auch ihre eigene frühere Abwertung von Schule, Lehrer und Unterricht – »Blöde Fragen, fehlende Anregungen« – und dass sie sozial erfolgreicher gewesen wäre, wenn sie ihre Wünsche zurückgesteckt hätte. Sie schilderte auch Schuldgefühle, eventuell früher im Vater Schlimmes angerichtet zu haben, da sie ihm wohl seine Unfähigkeit bewusst machte, ein akzeptabler Vater zu sein. Aber langsam reifte in ihr die Gewissheit, dass es die Aufgabe der Eltern gewesen wäre, ihr bei den tückischen Seiten der Hochbegabung behilflich zu sein und sie nicht auch noch damit zu überfordern, dass sie z. B. im Alter von sechs Jahren mit ihrer nur wenig älteren Schwester allein mehrere hundert Kilometer Bahnfahrt machen musste. Die Eltern meinten nur: »Wenn man so klug ist, kann man auch das!« Ihre aufsteigende Wut versuchte sie lange als »in jeglicher Hinsicht unberechtigt« darzustellen, sie zu ignorieren, denn damit könnte man doch nichts erreichen. Erst als sie Verlassenheit, Desinteresse und Unverständ-
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nis als Quelle ihrer ohnmächtigen Wut identifizierte, konnte sie den Eltern deren Teil der Verantwortung für die Versäumnisse ihrer Kindheit zurückgeben. Frau N. brachte eine Liste in eine Sitzung mit, auf der stand, worin sie überall Mangel hatte: An Zeit – keiner verbrachte Zeit mit ihr –, an Interesse – die Eltern gingen zu keinem Sportevent, an dem sie aktiv teilnahm, fragten nicht nach den Hausaufgaben und der Schule –, an Verständnis und Empathie – das war am Schlimmsten, an Rücksicht – darauf, dass sie ein kleines Kind war –, an Hilfe – wenn sie Angst hatte, z. B. vor einer Geburtstagsfeier bei anderen –, an Gemeinschaft, Liebe, Wärme – es gab trotz gemeinsamer Abendessen und Urlaube kein Hand in Hand gehen, auf dem Schoß sitzen –, an Freude, Führung, Förderung, Fröhlichkeit, Nachfragen – »Wie geht es dir, was möchtest du?«. Das Aufschreiben und Aussprechen halfen ihr: »Meine Gefühle sind richtig! Sie beweisen sich dadurch!« Sie begann, ihr ganzes Spektrum an Gefühlen als wahren Anteil ihrer Persönlichkeit anzunehmen und nicht aus Angst vor Streitigkeiten, Unverständnis, Ausgeschlossensein zu verstecken. Sie fand nach und nach immer mehr positive Eigenschaften, die sie selbst mit gutem Narzissmus besetzen konnte: dass sie den Weg bis zum Abitur durchgehalten hatte, dass sie in der Arbeit freiwilligen Einsatz für komplizierte »Sonderfälle« machte, dass sie ein Schulprojekt in Indien mitgründete, dass sie in dieser Vision, Weltbürger zu sein, ihre Außenseitergefühle auffangen und umlenken kann, dass sie Zufriedenheit erleben kann, wenn sie etwas produziert oder bewirkt hat, dass sie Freundschaften austarieren kann, auch wenn sie für jeden Zweck jemand anderen brauche. Außerdem habe sie klare ethische und moralische Vorgaben: Frei nach Kant: Verhalte dich so, dass es niemanden stört! Und aus den Indianerbüchern: Sei tapfer, ehrlich, halte Einsamkeit und die Widrigkeiten des Lebens aus, sei gut zu Menschen, Tieren und Pflanzen! Sehr stützend sei für sie ihr Mann. Dieser habe eine hochsensible Wahrnehmungsfähigkeit, sei lebensklug, extrem unkompliziert, nicht an Geld und Karriere interessiert, gebe ihr einen Boden und schenke ihr vorbehaltlose Liebe und Verbindlichkeit. Frau N. hat noch einiges vor: Sie möchte Kränkungen als solche anerkennen und sich schneller wehren können, sie hätte gerne mehr stoische Eigenschaften, um den permanenten Frust besser zu jong-
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lieren. Sie bräuchte ein Betätigungsfeld, wo ihre Kompetenzen mehr zur Geltung kommen könnten und möchte »normal« sein, obwohl es untendrunter wühlt. Eine ernüchternde Erkenntnis für sie ist, dass sie zwar die Gefühle wahrnehmen und aushalten und sie manchmal regulieren kann, indem sie sich andere Ressourcen holt, aber dass sie sich nicht dagegen wehren kann, dass sie gelegentlich immer noch in dieser Stärke auftauchen können.
Zur Annäherung zwischen Denken und Fühlen Es sollte dabei natürlich mehr um die Annäherung zwischen Fühlen und Denken gehen, denn es besteht ja eine wichtige Wechselwirkung zwischen den beiden Aspekten, und das Fühlen, die Emotionen sind die Ausgangsbasis, die bei den Hochbegabten oft verdeckt oder vernachlässigt wurde. Im therapeutischen Prozess geht auch hier der Weg meistens von dem Versuch der intellektuellen Verarbeitung zu den gemiedenen Gefühlen. Daniel Goleman (1997, S. 56) betont, dass man mit akademischer Intelligenz allein auf das Durcheinander des Lebens nicht vorbereitet ist und dass die emotionale Intelligenz eine Metafähigkeit ist, von der es abhängt, wie gut wir unsere sonstigen Fähigkeiten, darunter auch den reinen Intellekt, zu nutzen verstehen. Ich möchte nicht behaupten, dass die Symptomatik und Problematik, die Hochbegabte mitbringen, lediglich auf ihrer überragenden intellektuellen Ausstattung beruht, denn wir finden ja parallel in den Lebensläufen auch häufig kritische Familienkonstellationen und Entwicklungsstörungen, jedoch ist zu vermuten, dass eine Hochbegabung diese Störungen oft mitbedingen oder eine zusätzliche Belastung darstellen kann. Vielleicht könnte man sagen, dass das Minderwertigkeitsgefühl der Hochbegabten auch durch die »Andersartigkeit der hohen Begabung« begründet ist und sich aus dem inneren Erleben und den äußeren Folgen des Unverstandenseins in der Umwelt das fehlende Gemeinschaftsgefühl ergibt. Agnes Imhof – eine »Betroffene«, Islamwissenschaftlerin – beschreibt (2018, S. 10), dass Hochbegabung jede Menge Chaos bedeute,
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eine lebenslange Herausforderung, an der man oft zu zerbrechen drohe. Man sei zerrissen zwischen den unterschiedlichsten Interessen, zwischen Verstand und Gefühl. »Oft ist die Entwicklung dieser Kinder anders: Sie sprechen und laufen früh und entwickeln schnell eine Vorstellung vom eigenen Ich. Diese schnelle Entwicklung ist eine Herausforderung. Oft sind die Kinder kognitiv fast schon Erwachsene, während sie emotional Wärme brauchen« (S. 38 f.). Diese Gegebenheit wird oft auch in den Therapien deutlich: Viele Patientinnen und Patienten sind emotional sehr verunsichert, auch bedürftig, die innere Begleitung ist oft ein sehr trauriger Prozess, wenn die erlebten Mängel bewusst werden. Gleichzeitig befähigt sie die Hochbegabung aber auch, tiefe Einblicke in und Weitblick auf ihre Problematik zu bekommen. Ich habe im Titel dieses Beitrags absichtlich das Denken vor das Fühlen gestellt, da bei den meisten Patienten und Patientinnen der Intellekt als »Abdeckung« über die Gefühle gelegt wurde und das »Aufdecken« – wie in vielen anderen Therapien auch – oft durch die spezifischen intellektuellen Eigenschaften der jeweils Betroffenen, hier eben der Hochbegabten, geleitet wird. Imhof betont, dass die Diskrepanz zwischen Gefühl und Intellekt oft beträchtlich ist, da Hochbegabte ein Multiversum im Kopf haben, d. h., permanent viele verschiedene Assoziationen auf verschiedenen Sinnesebenen haben. Zum Beispiel tauchen beim Gebäude der Oper lebhafte Musik und Erinnerungen auf, die durchlaufen oder weggeschoben werden müssen, um die Konzentration zu halten. Die Wahrnehmung ist multidimensional, die Dinge laufen simultan ab – Hochbegabte können auch mehrere Dinge gleichzeitig tun (z. B. Artikel schreiben und sich nebenbei unterhalten). Sie denken oft sehr kompliziert, aus vielen Perspektiven, können z. B. die Frage, ob der Vater oder der Sohn mehr Lebenserfahrung hat, nicht eindeutig entscheiden (122 ff.). Diese Multidimensionalität macht sich in den Sitzungen z. B. als Tendenz bemerkbar, sich als Therapeutin von »spannenden Themen« ablenken zu lassen, da der Abwehrmechanismus der Intellektualisierung sehr ausgefeilt eingesetzt werden kann. Oft wurde ich auch überflutet von den vielfältigen Gedankengängen der Patienten und Patientinnen, die ich zu ordnen und mit einem roten Faden zu verbinden versuchte. Dies erfordert aufseiten des Therapeuten immer wieder bewusste eigene »Erdung«. Die bisherige Arbeit mit Hochbegabten zeigte sich für mich
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als herausfordernd und oft auch verunsichernd. Ich fühlte mich intellektuell getestet, wurde manchmal sozusagen »links überholt«, mit Spitzfindigkeiten auf die Probe gestellt, hinterfragt in meinem therapeutischen Können, fühlte mich folglich unfähig und ungenügend. Manchmal tauchten in der Übertragung auch Neidgefühle auf – ganz banal: Das wäre doch wunderbar, auch in sechs Wochen eine neue Fremdsprache zu beherrschen oder die Kernphysik zu verstehen. Diese Gefühle erzeugten eine leise Gegenaggression und brachten mich in die gefährliche Nähe, dem Patienten mit dem ihm vertrauten Unverständnis zu begegnen. Immer wieder versuchte ich, unter den Erklärungen und aktuellen Befindlichkeiten bei den Patientinnen und Patienten die Gefühle hervorzuholen, die das frühe Kind betrafen, das lästig war (»Du frägst mir ein Loch in den Bauch!«), oft gelangweilt, ungeduldig, schnell frustriert und jähzornig, zurückgezogen und verschlossen, überempfindlich und auch zu ernst war, wo die Intelligenz nicht erwünscht war und sie abgespalten oder unterdrückt wurde. Oft werden die frühen Befindlichkeiten dann aktualisiert, wenn es um Partnerschaft geht und vor allem Frauen sich innerlich gezwungen fühlen, einen Teil ihrer Leidenschaften – z. B. Diskussionen über Politik und Philosophie – aufzugeben, oder wenn sie kein »Flirtverhalten« parat haben, da sie andere Ideale als erotische Attraktivität haben. Manchmal wird ihnen auch signalisiert: »Zu dir passt einer von Zehntausend!« Webb (2015, S. 264 f.) sagt, den Betroffenen fällt es z. B. schwer, einen Partner zu finden, da etwa 80 % der Menschen ihnen nicht genügend intellektuelle Anreize bieten, außerdem seien die typischen Merkmale der Hochbegabten – wie ausgefallene Interessen, ungewöhnlicher Sinn für Humor, hohe moralische Ansprüche, die Gabe, außergewöhnliche Zusammenhänge zu erkennen und unkonventionelle Ideen und Lösungen zu finden – für manche Partner nicht leicht zu ertragen.
Was Hochbegabte aus der Therapie und von anderen lernen können Viele Hochbegabte, die in der therapeutischen Situation Verständnis erlebt haben und verstanden haben, dass ein hoher Anteil ihrer Problematik durch die nicht erkannte Hochbegabung mitbedingt ist,
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können sich mit ihrem Sosein versöhnen und mit neuen Erfahrungen versorgen, indem sie damit beginnen, alternative Handlungsmuster aufzubauen. Diese bestehen oft darin, ihre präzise Wahrnehmung dazu zu nutzen, überschießende Gefühle schneller zu erkennen und einzuordnen und auch Kontrolle darüber zu erlangen. Es bedeutet aber auch, mehr Geduld zu entwickeln, Wartezeiten mit Schönem zu füllen, sich in der Schnelligkeit etwas anzupassen oder die Verletzlichkeit nicht destruktiv zu verarbeiten. Für einige ist es wichtig, ihre Gabe der Beobachtungs- und Analysefähigkeit nicht nur kritisch auszuüben, indem man den anderen mit Fragen oder kontraproduktiver Ehrlichkeit in die Ecke drängt, sondern mit Empathie zu verbinden und sich dadurch unvoreingenommener und positiver in die Gemeinschaft zu begeben. Dabei kann Psychotherapie sehr behilflich sein, da über die vermehrte Selbstwahrnehmung die Einsicht in intra- und interpsychische Zusammenhänge auch zu einem Perspektivenwechsel führen kann und die Tendenz schwindet, sich in Zielen oder Konflikten zu verbeißen. Für viele Hochbegabte ist es schwer, sich an gesellschaftliche oder im Beruf geforderte Spielregeln zu halten, aber wenn man im System bleiben will, ist z. B. eine Beachtung von Hierarchien am Arbeitsplatz sinnvoll. Auch bei Freizeitaktivitäten ist es besser, die eigene Anspruchshaltung nicht auf den anderen zu übertragen. Es kann durchaus ein Gefühl von Gleichheit und Gemeinschaft entstehen, wenn man Unspektakuläres, wie Wandern, Sport etc., miteinander macht. Daneben sollten Hochbegabte aber darauf achten, Angebote anzunehmen und zu pflegen, die ihren intellektuellen Hunger stillen, also das Zusammensein mit Gleichen auszubauen (z. B. von »Mensa«, dem Verein und Netzwerk für Hochbegabte). Imhof, Niklas und Schwiebert machen hierzu in ihren Büchern hilfreiche praktische Ausführungen, die zu mehr Zufriedenheit führen können.
Zum Schluss etwas über Bananenkoordinaten Der Zufall ließ mich während der Vorbereitung dieses Beitrags zu einem Buch greifen, das ich vor Jahren zum Geburtstag geschenkt bekam und das noch ungelesen im Regal stand: »Der Susan-Effekt« von Peter Høeg.
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Es geht darin u. a. um eine Familie von Hochbegabten und deren Verwicklungen in kriminelle gesellschaftliche Machenschaften. Peter Høeg beschreibt, wie Susan, die hochbegabte Experimentalphysikerin, auf Wunsch ihrer 16-jährigen Zwillinge und ihres Mannes Laban ein paar Worte zum Menü sagen soll – was bei ihnen wohl öfter geschieht. Susan: »›Jeder Fruchtsalat liegt in einem Koordinatensystem‹, sage ich. ›Die Bananen bilden die horizontale Ebene, die x-Achse, den Basston. Bananen haben mit der Erde zu tun, sie etablieren die breite, cremige Grundlage für die Sonnenfrüchte, die Apfelsine und die Ananas. Die auf der y-Achse liegen. Citrus gibt die Bewegung nach oben, die durchdringende, fast schmerzhafte Säuerlichkeit. Die Erdbeeren gehören zur z-Achse. Sie fügen die Räumlichkeit hinzu. Sogar jetzt im Dezember schmecken sie dänisch. Sie erweitern die Tatsache, eine tropische Begegnung von Gegensätzen zu sein, zu dem Phänomen, ein globales Projekt zu sein. Der Akazienhonig und die Schlagsahne bilden die vierte Dimension. Sahne und Honig haben beide eine animalische Note. Sie heben diesen kleinen Nachtisch aus der newtonschen dreidimensionalen Fadheit heraus und in die Komplexität der einsteinschen Raumzeit.‹ ›Und die Rosinen?‹, fragt Harald. ›In den Rosinen ist Biss. Widerstand. Sie erinnern uns daran, dass uns die dritten Zähne erwarten. Das Altersheim. Der Brei‹« (Høeg, 2015, S. 72).
Literatur Adler, A. (1913/2010). Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie (1913–1937). Studienausgabe Bd. 3. Hrsg. von G. Eife. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bartens, W. (2019). Erster! In Süddeutschen Zeitung vom 17./18.8.2019, S. 49. Brackmann, A. (2012). Ganz normal hochbegabt: Leben als hochbegabter Erwachsener. Stuttgart: Klett Cotta. Brackmann, A. (2017). Jenseits der Norm – hochbegabt und hochsensibel? Die seelischen und sozialen Aspekte der Hochbegabung bei Kindern und Erwachsenen. Stuttgart: Klett Cotta. Goleman, D. (1997). Emotionale Intelligenz. München: dtv. Heil, C. (2018). Psychotherapie mit hochbegabten Erwachsenen. Psychotherapeutenjournal, 3, 218–224. Høeg, P. (2015). Der Susan-Effekt. Roman. München: Hanser. Imhof, A. (2018). Dummerweise hochbegabt. Wie ich aufhörte, mich zu verstellen, und meinen Weg zum Glück fand. Weinheim: Beltz.
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Niklas, C., Niklas, A. (2017). Die Rätselhaften. Wie Hochbegabte besser mit sich und anderen leben. München: Kösel. Schmidbauer, W. (2018). Kassandras Schleier. Das Drama der begabten Frau. München: Goldmann. Schwiebert, A. (2015). Kluge Köpfe, krumme Wege? Wie Hochbegabte den passenden Berufsweg finden. Paderborn: Junfermann. Webb, J. T. (2015). Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung. Ein Ratgeber für Fachpersonen und Betroffene. Bern: Huber. Ziegler, A. (2018). Hochbegabung. München: Ernst Reinhardt.
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Wirbelsturm in einem vernichtenden Chaos: Janoschs1 Bilder von sich selbst und der Welt Von der Zersplitterung zur Selbstfindung in der Kinderanalyse
Zusammenfassung2 Dargestellt wird die psychotherapeutische Behandlung eines zu Beginn der Behandlung knapp 7-jährigen Jungen, die im Rahmen der Ausbildung zur analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin durchgeführt wurde. Der Patient, der große Angst vor Dunkelheit hatte, auch für kurze Zeit nicht allein bleiben konnte – etwa sich nicht traute, allein auf die Toilette zu gehen –, war in seinen Lebensvollzügen stark eingeschränkt. Lange Zeit konnte er nur im unmittelbaren Körperkontakt mit der Großmutter einschlafen. Nach seiner Einschulung kam es immer wieder zu emotionalen Einbrüchen mit Ängsten und Verweigerungsreaktionen. Zu Hause verhielt er sich oft aggressiv, dann wieder weinerlich, anhänglich und in sich zurückgezogen. Von Mitschülern ausgegrenzt und auch körperlich angegangen, entwickelte er eine suchthaft anmutende Abhängigkeit von Computerspielen.
Erste Begegnungen Der damals 6 Jahre und 11 Monate alte Patient wird zum Ersttermin von seiner Großmutter väterlicherseits und seinem Vater begleitet. Er sucht anfangs keinen Blickkontakt zu mir, ist von seiner Körpersprache her abweisend und kühl und schaut mich teilweise trotzig an. Während des ersten Gesprächs rutscht er ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her. Die Großmutter weist ihn an, still zu sitzen und Ruhe zu geben. Dem Vater fällt es schwer, in Worte zu fassen, was er sich von einer Thera1 Aus Gründen der Anonymisierung wurde der Name willkürlich gewählt. 2 Die dem Beitrag zugrunde liegende Arbeit, vorgelegt zur Erlangung des Ausbildungsabschlusses und der Approbation zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, wurde von Frau M. A. Susanne Freund – Psychoanalytikerin für Kinder und Jugendliche (DGIP, VAKJP) – supervidiert und 2019 von der DGIP mit dem Annemarie-Wolff-Preis ausgezeichnet.
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pie erwartet. Die Initiative übernimmt seine Mutter, indem sie berichtet, dass Janosch abends nicht allein zur Ruhe komme, meist müsse sie sich zu ihm legen, damit er überhaupt einschlafen könne. Sein Schlaf sei sehr unruhig, er schreie öfter, wache nachts mehrmals auf und ließe sich nur schwer beruhigen. Er sei außerdem motorisch sehr unruhig, in keiner Weise fähig, seine Schulsachen in Ordnung zu halten und könne sich in der Schule und bei den Hausaufgaben nur schwer konzentrieren. Er verweigere die Mitarbeit phasenweise völlig und flüstere anderen Kindern blutrünstige Drohungen zu. Auch zu Hause sei er oft widerständig und impulsiv. Er wolle nur »Minecraft«3 am Computer mit seinem Vater spielen. Die Großmutter berichtet weiter, dass der Patient im Umgang mit Gleichaltrigen sehr unbeholfen sei, er benehme sich »kindisch und nicht immer situationsadäquat« und gerate häufig in Konflikte mit Klassenkameraden, weil sie sein Verhalten nicht immer deuten könnten. Gegenüber Erwachsenen könne er die angemessene Distanz nicht einschätzen. Mit fremden Leuten ginge er oft distanzlos um, während er vertraute Personen nicht an sich heranlasse – insbesondere auch den Vater nicht. Der Vater des Patienten bleibt im Schatten seiner Mutter, er schaltet sich selten von sich aus in die Unterhaltung ein. Von der äußeren Erscheinung her wirkt er jugendlich und sportlich, unterstreicht dies durch legere Kleidung. Von den Gesichtszügen, der Mimik und der Stimme her wirkt er depressiv. Während die Großmutter erzählt, ist Janosch motorisch unruhig, sein Blickkontakt ist flüchtig. Wenn ich versuche, ihn ins Gespräch mit einzubeziehen, verhält er sich abwehrend, unbeteiligt und versteckt sich hinter der Großmutter. Zur zweiten Sitzung kommt er erneut in ihrer Begleitung. Kaum hat er den Raum betreten, da überrascht er mich mit einem intensiven hellen Blick und den Worten: »Ich möchte mit Ihnen Minecraft spielen!« Bereits mit diesem einen Blick gewinnt er mich für sich. Er trennt sich von der Großmutter und nimmt Kontakt mit mir auf. Aber: Die Begegnung ist ohne Tiefgang, kaum spürbar. Die Zimmertür – so for3 Minecraft ist ein seit 2009 existierendes, vom schwedischen Programmierer Markus Notch erfundenes Computerspiel, in dem die Spieler aus zumeist würfelförmigen Blöcken Konstruktionen bauen sowie Figuren und eine Welt erschaffen, in der Ressourcen gesammelt werden können und gegen Monster gekämpft wird.
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dert er – soll offen bleiben. Immer wieder wirft er versichernde Blicke zur Großmutter, die im Vorzimmer wartet. Janosch zeigt Interesse an verschiedenen Spielsachen, wechselt diese jedoch sehr schnell. Die Spielinhalte sind verwirrend. Es entstehen Konfusionen. Mir wird deutlich, dass die Als-ob-Spielebene bei ihm nicht etabliert ist. Janosch spielt nur kurze, in sich unstimmige Sequenzen (baut eine Burg, erzählt unvermittelt über Minecraft-Figuren, fragt nach den anderen Kindern, die zu mir kommen, kriecht unter einen Tisch usw.). Für mich entsteht ein anstrengendes Durcheinander. Ich fühle mich hilflos und verloren, als ob ich im Weltall schwebte. Ich kann meinen Körper kaum steuern und versinke in einem dunklen, unbekannten und beängstigenden Chaos. Der Patient ist in immerwährender Unruhe, fängt vieles beinahe gleichzeitig an, hört dann gleich wieder damit auf. Es fällt auf, wie achtlos er mit Spielobjekten umgeht, sie unvermittelt wegwirft oder vergräbt, als ob er sie nicht richtig wahrnehmen könne oder wolle, hinterher auch nicht vermissen würde. Diese von mir als agitierte verleugnende Abwehr aufgefassten Verhaltensweisen lösen in mir Angst, Unsicherheit, Unruhe und Ärger aus, aber auch das Bedürfnis, den Jungen zu halten und ihm zu helfen. Im Sandkasten inszeniert Janosch Schlachtszenen mit selbst mitgebrachten Minecraft-Figuren, mit Sauriern, Krokodilen und Schlangen, die er immer wieder ein- und ausgräbt. Dann sucht er plötzlich während des Spiels ängstlich meinen körperlichen Schutz – ich soll giftige Schlangen verjagen. Sein plötzlicher emotionaler Wechsel löst in mir den Impuls aus, ihn zu beschützen, aber auch das Bedürfnis, meine eigenen körperlichen Grenzen zu wahren.
Anamnestische Daten Janoschs Vater, geb. 1991, ist mit seinem älteren Bruder und beiden Elternteilen aufgewachsen. Er habe »eine schöne Kindheit« gehabt, obwohl ihn seine Mutter lebenslang »in Watte gepackt habe«. Bis jetzt kämpft er gegen seine überfürsorgliche Mutter um Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Aktuell wohnt er noch immer zusammen mit seinem Sohn im Haushalt der Eltern. Er hat keine abgeschlossene Ausbildung und arbeitet als Aushilfskraft.
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Die Mutter des Vaters ist in einer großen Familie im Ausland aufgewachsen. Ihre Mutter verstarb sehr früh, sie musste ihrem verwitweten Vater helfen und sich um die jüngeren Geschwister kümmern. Sie habe »keine Kindheit« erlebt und ihre Lebensaufgabe darin gesehen, später »ein glückliches Leben und ein Zuhause für eigene Kinder zu schaffen«. Im Alter von 16 Jahren übersiedelte sie zu ihrem Ehemann, der in Deutschland aufgewachsen ist. Die Familie wohnt nun in einem eigenen Haus am Stadtrand. Stundenweise arbeitet sie als Haushaltshilfe, die meiste Zeit aber kümmere sie sich um »ihre Männer zu Hause«. Über die Persönlichkeit von Janoschs Mutter und über ihre Beziehung zum Patienten war nur wenig zu erfahren, wohl aber über ihre Lebensgeschichte und ihre frühen Lebensumstände. 1993 geboren, wuchs sie bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf, die aufgrund von Alkoholproblemen und erlebter Gewalt (Schlagen, sexuelle Nötigung durch wechselnde Partner) ihr Kind irgendwann nicht mehr angemessen versorgen konnte. Im Alter von 12 Jahren kam sie für etwa drei Jahre in ein Erziehungsheim. Nachdem sie Janoschs Vater kennengelernt hatte und im Alter von knapp 14 Jahren schwanger geworden war, zog sie zu ihm und dessen Eltern. Von ihnen wurde sie »wie eine Tochter« aufgenommen und behandelt. Ein älterer Bruder der Mutter ist drogenabhängig. Zu ihm hat sie aber keinen Kontakt. Der Patient kam nach unauffälliger Schwangerschaft der damals 14-jährigen Mutter (der Vater war 16) in der 39. Schwangerschaftswoche zur Welt. Janosch wurde zwei Monate gestillt. Die Großmutter erzählt, er sei sehr unruhig gewesen, habe eine Nahrungsunverträglichkeit mit häufigem Erbrechen und Bauchschmerzen gehabt. Das Stillen habe sich manchmal über Stunden hingezogen, was für die Mutter sehr anstrengend gewesen sei. Bis zum Alter von sechs Monaten lebte Janosch gemeinsam mit den beiden Eltern im Haus der Großeltern. Anfang 2008 verließ die Mutter nach einem Streit mit ihrem Mann die Familie und zog mit dem Patienten vorübergehend zu ihrer Mutter, kehrte aber nach fünf Monaten wieder zu ihrem Mann ins Haus der Großeltern zurück. Janosch, der zu diesem Zeitpunkt etwa ein Jahr alt war, sei damals unterernährt und schmutzig gewesen, habe Einschlafund Durchschlafschwierigkeiten gehabt und massive Schreiattacken tagsüber und nachts. Er habe sehr gefremdelt und nur bei ihr, der Großmutter, sein wollen, nur ihre körperliche Nähe gesucht. Die Mutter habe
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kein Interesse mehr am Baby gezeigt, sie sei »gleichgültig« gewesen. Zwischen Janoschs Eltern kam es erneut zu Streit und Trennung, wieder zog die Mutter mit ihrem kleinen Sohn zu ihrer Mutter. Im April 2009 wurde der Patient im Alter von zwei Jahren dann aber doch endgültig von der Mutter zu den Großeltern väterlicherseits gebracht. Erst mit 17 Monaten konnte Janosch frei laufen, wollte aber weiterhin lieber getragen werden. Die Sauberkeitsentwicklung sei verzögert gewesen. Seine Mutter hatte inzwischen eine neue Beziehung und 2010 einen weiteren Sohn geboren. Allerdings besuchte sie ihren Erstgeborenen anfangs regelmäßig noch alle zwei bis vier Wochen. Als Janosch fünf Jahre alt war, brach sie den Kontakt zu ihm dann aber ganz ab. Vorher hatte sie in einer Jugendhilfeeinrichtung gelebt, später übersiedelte sie in ein anderes Bundesland. Ihr derzeitiger Aufenthaltsort war den Beteiligten unbekannt. Janosch besuchte einen Regelkindergarten, seit er dreieinhalb Jahre alt war. Die Eingewöhnung dort gestaltete sich schwierig. Jedes Mal bekam er einen Tobsuchtanfall, wenn er in die Gruppe gehen sollte. Die Erzieherinnen sagten, er sei impulsiv und »schwer tragbar«: Er könne nicht still sitzen, fege Regale mit der Hand leer. Manchmal flutete er ein Zimmer mit Wasser, attackierte andere Kinder mit Treten, Kratzen, Schlagen und Beißen. In seinen »ruhigen Phasen« spielte er dann wieder stundenlang mit seinem Teddybären – einem Kuscheltier, das ihn überallhin begleitet. Stundenlang wartete er darauf, dass seine Großmutter ihn wieder aus dem Kindergarten abholte. Den Kindergärtnerinnen fiel auf, dass er sich oft kaum konzentrieren und seine Aufmerksamkeit längere Zeit auf etwas richten konnte – deshalb leiteten sie eine Ergotherapie ein, die etwa zwei Jahre durchgeführt wurde. Obwohl man versuchte, ihn seit seinem fünften Lebensjahr in einer schulvorbereitenden Einrichtung zu fördern, blieb er – zumindest in schulischen Belangen – wenig konzentrationsfähig. Schließlich wurde er in eine Förderschule eingeschult und die Familie wurde von der sozial-pädagogischen Familienhilfe unterstützt. In der Schule konnte Janosch keine Freunde finden, weil er – so wurde es von vielen erlebt – in der Klasse dominieren wollte. Teilweise wurde er von seinen Mitschülern auch geschlagen. Von Beginn an gab
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es auch Probleme bei den Hausaufgaben. Manchmal saß er stundenlang ohne Ergebnis vor seinen Arbeitsblättern, wirkte überfordert und übellaunig. Der Vater beschreibt seinen Sohn als Eigenbrötler, der nicht bereit sei, auf die Bedürfnisse anderer einzugehen. In vielen Bereichen sei er sehr ängstlich und wolle nichts Neues ausprobieren (»Auf mich wirkt er manchmal wie tot, gleichgültig und gefühllos«). So sehr er seinen Sohn auch liebe, er wisse einfach nicht, wie er mit ihm umgehen solle. Ähnlich sieht es die Großmutter: »Janosch ist einfach noch ein ganz kleiner Junge ohne jegliche Vorstellung von Verantwortung. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um das Kind. Er redet nur mit mir über seine Probleme, lässt sich nur von mir trösten. Ich erfülle die Mutterrolle für meinen Enkel, weil seine Eltern für ihn gar nicht existieren.«
Überlegungen zur Psychodynamik und Diagnose Janoschs schwer traumatisierte, völlig unreife und unsicher gebundene Mutter hoffte in ihrem Streben nach einer eigenen »heilen« Familie unbewusst, in der früh eingegangenen Partnerschaft ihre Mangelerfahrungen kompensieren zu können. Ihre jugendlich überhöhten Erwartungen erfüllten sich nicht. So wurde ihr Kind als Hoffnungsträger geboren, als »reales, existierendes Baby« wurde er für sie dagegen zu einer bitteren Enttäuschung. Seine Bedürfnisse nach zärtlicher Zuwendung und narzisstischer Spiegelung konnten von ihr nicht empathisch wahrgenommen und ausreichend befriedigt werden. Als Säugling machte er die »Erfahrung des drohendes Nichts« (Pestalozzi, 2001, S. 78). In seinen verzweifelten Versuchen – z. B. durch Schreiattacken – eine Nähe zum Objekt herzustellen, erfuhr er nicht Erfüllung und Trost, sondern nur Ablehnung. Michael Klöpper (2006, S. 83) beschreibt eine solche Situation so: »Nun wird er [der Säugling] gewahr, dass die Pflegepersonen, auf die er angewiesen ist, vom eigenen Selbst getrennte Personen sind. Das Erleben von oralen und emotionalen Entbehrungen führt zum Bewusstwerden der Getrenntheit. Damit entwickelt sich der depressive Grundkonflikt zwischen Sehnsucht nach einem idealen Objekt und Objektenttäuschung. Der Säugling muss und kann erkennen, dass sie [die Pflegepersonen] nicht selbstverständlich zur Verfü-
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gung stehen und er die eigenen Bedürfnisse regulieren muss.« Michael Ermann (2007, S. 55 f.) sieht in einer solchen Situation das kindliche »Verlangen nach einem überhöht idealisierten Objekt« nicht erfüllt. Für Janosch stand die Mutter als zu idealisierendes gutes Objekt nicht ausreichend zur Verfügung. Er erfuhr keine Liebe durch den »Glanz in ihren Augen« (Kohut, 1979). Der ebenfalls noch unreife Vater vermochte es nicht, ein Halt gebendes, triangulierendes Objekt für Mutter und Kind zu sein. Containing- und Mentalisierungsprozesse fanden dadurch nur ganz unzureichend statt. Der Patient war von Anfang an weitgehend sich selbst überlassen und erlebte zahlreiche frühe emotionale und auch reale Verlassenheitssituationen bei zeitgleichem Wechsel von Umgebung und Bezugspersonen. Individuationsprozesse blieben daher defizitär. Vor diesem Hintergrund entstand ein unbewusster Konflikt zwischen der Angst vor Objektverlust – also der Angst, die relevanten Bezugspersonen zu verlieren – und der Angst vor Selbstverlust: »Ich darf nicht sein«, »Als Selbst habe ich keine Bedeutung«. Durch die Geburt des drei Jahre jüngeren Halbbruders verlor Janosch im Alter von etwa drei Jahren seinen ohnehin unsicheren Platz bei der Mutter weitgehend. Die mangelnde Spiegelung seiner Verlorenheit und Angst beantwortete er mit regressivem Rückzug. Er sicherte sich, indem er die Entwicklung psychischer Funktionen und die Integration neuer Erfahrungen stilllegte. Wenn er seinen Wunsch nach emotionaler Geborgenheit beim Objekt spürte, überkam ihn die »Angst vor dessen überflutender Vereinnahmung und ängstliche Reizüberflutung« (Klöpper, 2006, S. 83). Unerträgliche und überflutende Affekte wurden abgespalten, woraufhin sich eine differenzierte Wahrnehmung der eigenen Affekte nicht entwickeln konnte. Es liegt nahe, zu vermuten, dass, wenn das kleine Kind seine elementaren Nähewünsche spüren würde, es in Kontakt mit früheren »Selbst-Zuständen der Leere, Lähmung oder Erregung« (Ermann, 2007, S. 113) gekommen wäre, was ihn an frühere »existentielle Verlassenheitsängste« (Ermann, 2007, S. 55) hätte »erinnern« können. Aufgrund der mangelnden Objektkonstanz blieb Janosch auf die reale Präsenz der Bezugspersonen angewiesen, um seine Ängste zu regulieren. Die Trennungssituation vom Objekt erlebte er als narzisstische Kränkung. Die schwach integrierten Affekte (Angst vor Objektverlust und Selbstverlust) überschwemmten ihn immer wieder und konnten nicht reguliert werden, sondern nur hypermotorisch
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abgewehrt werden. »Mit der Bewegung kann Trennung verleugnet und/ oder das fehlende Objekt gesucht werden« (Heinemann, 2008, S. 191). Seine gegen sich selbst gerichteten Aggressionen, die Ängste und seine innere Unruhe sind Ausdruck eines bedrohten sowie verlassenen inneren Objekts, das dadurch unbewusst bewältigt und gleichzeitig bestätigt wird. Die äußere Realität wird in projektiver Identifikation als bedrohlich und vernichtend erlebt. Im Zuge des realen mütterlichen Verlusts und der emotionalen Ablehnung, zumindest aber der unzureichenden Präsenz des Vaters (als gutem und fürsorglichem Objekt) verstärkten sich noch einmal die hiermit verbundenen Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle: Im inneren Dialog könnten wir das mittels Erwachsenensprache so beschreiben: »Ich bin es nicht wert, dass meine Eltern bei mir geblieben sind.« In der Folge flüchtete sich Janosch in eine phantastische Welt: die Minecraft-Phantasiewelt. Diese Bewegung kann als unbewusster Konfliktlösungsversuch verstanden werden: Der Patient löst sein tief greifendes Dilemma zwischen den widersprüchlichen Wünschen nach Nähe und Distanz, indem er die Grenzen zwischen Ich und Du aufhebt. So gibt es kein Dilemma mehr zwischen ihm und dem/den anderen. Aber im Phantasieren bedeutsamer innerer Szenen kann er allmählich nicht mehr zwischen Realität und Phantasie unterscheiden, sodass sich seine Ich-Grenzen auflösen. Die aggressiv-destruktiven Schablonen des Minecraft-Computerspiels repräsentieren dabei mächtige böse innere Objekte. Der Patient verwendet das als narzisstische Panzerung – durch eine Art Streben nach Selbsterhöhung –, um sich gegen das Erleben der eigenen Wertlosigkeit abzudichten und vor tiefen Enttäuschungen, Demütigungen und extremer Hilflosigkeit zu schützen. Stundenlange Versenkung in das Spiel führt dann zu autistoidem Rückzug (Mahler, 1978, 1992) aus den Anforderungen der Realität. Schlussfolgernd könnte die Lebensbewegung, die Adler (1926/2010) in seinen theoretischen Entwürfen als bedeutsam hervorgehoben hat, aus individualpsychologischer Sicht wie folgt verstanden werden: Die emotionale Vernachlässigung des Patienten, seine Verlassenheitsgefühle, die Angst vor Objekt- und Selbstverlust wurden als abstraktes »Nichts«, als bodenloser Mangel empfunden, demgegenüber er nach »Allem« verlangt. Aufgrund des Mangels entwickelte er unbewusst einen Lebensstil, der von einer minderwertigen Meinung von sich
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selbst und einer ihn wenig unterstützenden Meinung von der Welt gekennzeichnet ist. Alfred Adler schreibt hierzu (1912/2008, S. 57) in seiner Schrift »Über den nervösen Charakter«: »Sein Minderwertigkeitsgefühl [das des Neurotikers, des leidenden Menschen] den Personen und Dingen gegenüber, seine Unsicherheit in der Welt drängen ihn zur Verstärkung der Leitlinien [Fiktion]. An diese klammert er sich zeitlebens, um Sicherheit zu gewinnen, um sich in der Welt mittelst seines Glaubens und Aberglaubens zu orientieren, um seinem Gefühl der Minderwertigkeit zu entkommen, um sein Persönlichkeitsgefühl zu retten, um einen Vorwand zu haben, einer befürchteten Erniedrigung auszuweichen. Nie ist ihm dies so gelungen wie in der Kindheit.« Im Wege der Kompensation des Minderwertigkeitsgefühls entsteht die leitende Fiktion. Vermeintliche Erlösung findet Janosch in seinem fiktiven abstrakten Persönlichkeitsideal eines großen, starken, mächtigen und unbesiegbaren Herrschers. Diagnose: Emotionale Störung mit Trennungsangst (F 93.0 G) vor dem Hintergrund einer frühen Objektbeziehungsstörung, Konflikt zwischen Objektverlustangst vs. Selbstverlustangst bei niedrigem Strukturniveau.
Indikationsstellung und Behandlungsplan Aufgrund der ausgeprägten strukturellen Schwäche des Patienten wurde eine modifizierte analytische Kinderpsychotherapie als Langzeittherapie beantragt. Der Therapiebeginn sollte durch »eine unaufdringliche Anwesenheit« der Therapeutin (im Sinne der Beschreibungen von Margaret Mahler) gekennzeichnet sein. Als wichtig wurde angesehen, Kontakt zum Kind aufzubauen, da es zunächst offensichtlich unfähig war, irgendeine direkte Beziehung zu einer anderen Person als zur Großmutter zu erleben (Mahler nennt das »sekundären Autismus«), um im weiteren Verlauf für den Patienten im Rahmen einer mütterlichen, Ich-stützenden und regressionsvermeidenden therapeutischen Beziehung (vgl. Winnicotts Konzept des Holding) einen Ort zu schaffen, an dem der Patient Sicherheit und innere Beruhigung erfahren und sich in einer annehmen-
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den Atmosphäre eigenen Bedürfnissen zuwenden konnte. Das innere Gefühlschaos sollte durch die Therapeutin gehalten werden. Im Rahmen einer allmählich aufzubauenden tragfähigen Übertragungsbeziehung sollte dann versucht werden, Gefühle des Patienten wahrzunehmen, zu deuten, zu ordnen und damit »Gesagtem und Agiertem, welche in einer gewöhnlichen Umgebung Abstoßung, Entfremdung oder sogar Ausschluss hervorrufen, den Wert einer wichtigen Aussage und Mitteilung zu geben« (Storck, 2000, S. 218). Ziel eines solchen Vorgehens ist dabei, durch Spiegelung, Containment und Mentalisierung die abgespaltenen Selbstanteile allmählich integrierbar werden zu lassen, damit das Kind ein Gefühl für sich selbst als eigenständige Person entwickeln kann und nicht in die Regression und Aggression abgleiten muss, sondern mit weniger Angst in den Kontakt zu anderen gehen kann. Dies könnte sich dann z. B. darin äußern, dass es das Ende einer Therapiestunde zulassen kann, ohne Angst vor Beziehungsverlust zu haben. Weiterführende Ziele der Therapie waren auf der Grundlage der dann erreichten tragfähigen, Halt gebenden und spiegelnden therapeutischen Beziehung: die Entwicklung von Ambivalenztoleranz bzgl. der Objektbeziehung, die Integration libidinöser und auch aggressiver Wünsche und Impulse sowie die Stärkung des Selbstwertgefühls. Während es in der ersten Phase der Behandlung also um die Wiederherstellung der beginnenden Objektbeziehung gehen sollte, sollte das Augenmerk in der darauffolgenden Phase auf der vorsichtigen Annäherung an die erlebten Verletzungen des Patienten liegen. Allmählich sollten dann die traumatischen Erfahrungen, die seine Entwicklung beeinträchtigt hatten, neu durchlebt und durchgearbeitet werden. In der Übertragungssituation sollte der Patient seine inneren Konflikte zwischen der Angst vor Selbst- und vor Objektverlust ausdrücken können. Im Spüren und Durchleben eigener Gefühle sollte das Selbst des Patienten gestärkt, abgespaltene Selbstanteile sollten integriert und der Selbstwertkonflikt schließlich entschärft werden. An Stelle von Agieren sollte ein Raum für Selbsterleben und Selbstwahrnehmung gegeben werden, in dem der Junge ein Gefühl für sich bekommen und dadurch zu persönlicher Identität gelangen könnte. Dadurch sollte es im Rahmen einer Sicherheit gebenden Beziehung zur Therapeutin möglich werden, die Übertragungssituation in einem weiteren Schritt in eine Autono-
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mie fördernde übergehen zu lassen, die es dem Patienten ermöglichen sollte, altersangemessene Selbstbehauptungstendenzen und -strategien zu entwickeln. Das sollte ihn dazu befähigen, bessere Kontakt- wie auch Abgrenzungsmöglichkeiten zu anderen Menschen zu entwickeln, um schließlich im Sinne des »Gemeinschaftsgefühls« einen eigenen Platz in seiner sozialen Umwelt zu finden und einzunehmen. Hinsichtlich der Gespräche mit dem Vater war geplant, zunächst Ichstützend zu arbeiten. Nach vertrauensvollem Beziehungsaufbau sollte Verständnis für Janoschs innere Situation und seine Mangelerfahrungen erarbeitet werden. Der Vater sollte in seiner Vaterrolle gestärkt werden. Hierzu war es wichtig, ihm seine Bedeutung als männliches Vorbild und seine Funktion in der Familiendynamik bewusst zu machen, um seinen eigenen Minderwertigkeitsgefühlen begegnen zu können und ihn dazu zu befähigen, mehr Einfühlungsvermögen gegenüber Janosch zu entwickeln und eine stärkere emotionale Bindung zu ihm aufzubauen. In der begleitenden Arbeit mit der Großmutter erschien es wichtig, zu erreichen, dass sie die Bedeutung der leiblichen Mutter für den Patienten akzeptierte und eine Bereitschaft entwickelte, ihre Rolle als zentrale Bezugsperson mit Janoschs Eltern zu teilen.
Theoretische Ausrichtung Meine Vorstellungen über die Wirkungen der Therapie haben ihre Grundlagen in der individualpsychologischen Neurosentheorie.
Individualpsychologische Neurosentheorie Aus seinen frühen Beziehungserfahrungen entwickelt das Kind nach Adler (1926/2010) seine Meinungen über sich und die Welt, d. h., seinen »Lebensstil«. Auf das Grundgefühl, minderwertig zu sein, wird kompensatorisch das Ziel der Überwindung des Mangels, nämlich wertvoll und überlegen zu sein, gesetzt. Damit dient der Lebensstil der Selbstwertregulation: »Am Anfang der Neurose steht drohend das Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit und verlangt mit Macht eine leitende, sichernde, beruhigende Zielsetzung, eine Konkretisierung
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des Zieles der Überlegenheit, um das Leben erträglicher zu machen« (Adler, 1912/2008, S. 34). Neurose ist ein Versuch, zu überleben trotz anhaltender Mangelerfahrungen – angefangen bei den entgleisten Eltern-Kind-Dialogen bis hin zu traumatischen Erfahrungen. Für Janosch stand keine »genügend gute« Mutter (Winnicott, 1965/1984) zur Verfügung, die sich den Bedürfnissen des Kindes anpasste. Er erfuhr keine sichere Zuwendung, emotionale Resonanz und anerkennende Spiegelung. »Das Kind bleibt ohne Spiegel und wird in seinem späteren Leben diesen Spiegel suchen. Das gesunde Selbstwertgefühl, daß empfundene Gefühle und Wünsche zum eigenen Selbst gehören, kann das Kind nicht entwickeln.« (Miller, 2012, S. 98). Im Säuglingsalter introjizierte der Patient überwiegend eine »böse Brust« (im Sinne Melanie Kleins) in sein Erleben. Dadurch war er immer wieder stark narzisstisch gekränkt, wenn seine Mitmenschen (Erzieher, die Oma, die Lehrerin) nicht voll und ganz für ihn da waren und sein Bedürfnis nach Nähe, Anerkennung und nach sofortiger Verfügbarkeit befriedigten. Janosch befindet sich hier im Modus der symbolischen Gleichsetzung eines Säuglings, der die Befriedigung durch die »gute Brust« herbeisehnt. Statt sich der Kontinuität des Seins (Winnicott, 1971/1989, S. 113) zu überlassen im Vertrauen darauf, dass die Welt das enthält, was es braucht, muss die innere Welt des Kindes für Ausgleich sorgen. Das Kind nimmt die Sache selbst in die Hand, möchte sich selbst die Sicherheit geben, die in seiner Umgebung nicht enthalten ist. Wesentlich ist dabei, dass diese neurotischen Schutzvorrichtungen zunächst als innerseelisches Geschehen zu verstehen sind. »Es geht dabei um die Herrschaft über sich selbst, um den Versuch, sich selbst im Griff zu haben, um die überwältigenden Gefühle von Wertlosigkeit und Ohnmacht nicht mehr spüren zu müssen« (Bade, 1997, S. 254). Bei Adlers Ziel der Überwindung geht es um die Suche nach einer unbedrohten Existenz. Alle Ausdrucksbewegungen und Handlungen des Menschen werden von dem unbewusst gesetzten neurotischen Ziel geleitet (Eife, 1996, S. 121 f.). Je neurotischer der Lebensstil ist, desto weiter ist die Spanne zwischen dem Gefühl der Minderwertigkeit einerseits und dem illusionären Gegenpol des Persönlichkeitsideals andererseits und desto verborgener
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ist die Dynamik, da das Ziel (in diesem Fall »ein mächtiger, gnadenloser Herrscher«) inkompatibel ist mit den Forderungen der Gemeinschaft. Das Ziel der Überlegenheit führt aus der Gemeinschaft heraus, setzt sich darüber (von der Minderwertigkeit her gesehen, darunter) und kann deshalb weder von uns selbst noch von den anderen vertreten werden (Bade, 1997). Das Nichtannerkanntwordensein (Benjamin, 1990, S. 34) und damit verbundene emotionale Verlassenheit lösen beim Patienten unerträgliche Gefühle von Scham und Angst aus. Das nicht zureichend geliebte Kind interpretiert seine Zurückweisungen als eigene Seinsfehler (Ammon, 1996, S. 161). Deshalb muss der Grundmangel verborgen werden – vor allem vor sich selbst. Die zu diesem Zweck aktivierten Phantasiesysteme können aber nicht die mit dem Mangel verbundenen Gefühle der Seinsohnmächtigkeit beruhigen, sondern dienen nur der Sicherung gegen die Erfahrung der Ohnmacht (Stadler u. Witte, 1995, S. 104) und führen zu dauerndem Scheitern: »Seele entsteht am Ort der stärksten Verletzbarkeit, dort wo unsere Phantasien einspringen, um Kränkungen aushalten zu können« (Adler, zit. nach Bittner, 1974, S. 146). Adlers Ausgangspunkt – das Minderwertigkeitsgefühl – findet seine Relativierung im übergreifenden Konzept des Fiktiven. Von hier aus betrachtet, bedeutet Heilung, »einen selbstschädigenden Lebensentwurf durch einen besser auf sich selbst und die jeweilige Lebenswelt bezogenen Orientierungsversuch zu ersetzen« (Bruder, 1996, S. 316). Wenn man sich auf das Fiktive einlässt, bietet sich an, mit der Metapher des endlos Geschichteten (Witte, 1996, S. 195) zu arbeiten. Geschichten erzählen heißt, sich in dieses Geschichtete zu begeben. In diesen »Geschichten« ist auch das Selbst nicht wahr oder falsch, sondern immer fiktiv, allerdings in unterschiedlichen Entfernungen von dem, was gesellschaftlich jeweils als »normal« gilt. Die Auslese dessen nannte Adler tendenziöse Apperzeption, Wahrnehmung im Dienste des Lebensstils. Ihre Aufgabe ist es, »derartige Verbindungen mit der Außenwelt herzustellen, die der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls dienen« (Adler, 1919/2010, S. 34 f.). Das Abgewehrte ist dynamisch ungeheuer wirksam, die Prozesse des Nichtwahrnehmens absorbieren lebendig-schöpferische Kräfte, das Nichtwahrgenommene sucht nach allerlei Schlupflöchern, um sich zu zeigen, z. B. in Träumen, Erinnerungen und Symptomen.
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Im Symptom sind die nicht wahrgenommenen Bedürfnisse und Gefühle sowohl aufbewahrt als auch eingesperrt. Die Finalität des neurotischen Lebensstils muss unbewusst gehalten werden, vor allem vor sich selbst. Sichtbar davon wird außer dem Symptom das, was Adler »sekundäre Leitlinie« nannte. Janosch hielt alle für ihn bedrohlichen Bedürfnisse und Gefühle – Angst vor Selbst- vs. Objektverlust, Ohnmacht, Unsicherheit, Scham – streng unter Verschluss und zeigte sich im sozialen Umfeld als achtlos, widerständig und impulsiv mit dem Ziel, »stark zu sein«. Er erlebte Enttäuschungen, fühlte sich abgelehnt und war darüber empört: »Form und Inhalt der neurotischen Leitlinie stammen aus den Eindrücken des Kindes, das sich zurückgesetzt fühlt. Diese Eindrücke, die sich aus einem ursprünglichen Gefühl der Minderwertigkeit herausheben, rufen eine Aggressionsstellung ins Leben, deren Zweck die Überwindung der Unsicherheit ist« (Adler, 1919, 2010, S. 55). Seine Gefühle sind aber nicht dadurch erledigt, dass der Patient sie verleugnet, sie gehören zur Ganzheit seiner Person, zeigen sich nachts, wenn sein kontrollierendes Bewusstsein schwächer wird, z. B. in Angsträumen.
Therapeutische Wirksamkeit Im Weiteren möchte ich auf zwei wesentliche Aspekte therapeutischer Wirksamkeit eingehen, nämlich a) auf die therapeutische Beziehung und b) auf die Entwicklung des symbolischen Spiels: a) In der Anfangsphase der Therapie ging es nicht darum, in Janoschs Verhalten, das kein Spielen war, Unbewusstes bewusst zu machen, sondern es waren erst die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass er seine Gefühle wahrnehmen und einer Beziehung zuordnen konnte. Nach Margaret Mahler kann die Therapeutin in diesem Stadium kein getrenntes menschliches Objekt für das Kind darstellen. Sie repräsentiert ein »mütterliches Prinzip« (Mahler, 1992, S. 199). Eine Teilfunktion dieses Prinzips in Bezug auf das Kind – nämlich dass es das Erlebnis von Behagen anstelle heftigen Unbehagens vermittelt – besteht darin, dass es als Puffer zwischen ihm und seiner Umwelt wirkt. Man kann diese Erfahrung mit dem Winnicott’schen »Übergangsphänomen« (Kögler u. Busch, 2014) vergleichen. Für Winnicott ist es der Über-
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gangsbereich, der zwischen der narzisstischen Illusion, dass alles zu einem selbst gehöre, und dem reifen Bewusstsein von Getrenntheit liegt. Margaret Mahler (1992, S. 199 f.) schreibt hierzu: »Langsam beginnt das Kind, die besänftigende Ausstrahlung der Therapeutin für selbstverständlich zu halten. Es hält dann nach diesem Wohlbefinden Ausschau und erkennt allmählich die Person der Therapeutin als dessen Quelle; diese ist jedoch für das Kind noch kein vollständiges, getrenntes menschliches Objekt. Diese Atmosphäre, die von einem menschlichen Objekt ausströmt und von ihm, der Therapeutin, geschaffen wird, wird zur Quelle des Wohlbefindens und wirkt als Schutz vor der Umgebung sowie vor dem inneren Missbehagen des Kindes.« Nach Winnicott ist die Zuverlässigkeit des Analytikers der wichtigste Faktor in der Therapie, weil der Patient eine derartige Zuverlässigkeit in der Versorgung durch die Mutter im Säuglingsalter nicht erlebte. »Soll der Patient sich solche Zuverlässigkeit zunutze machen, muss er sie zum ersten Mal im Verhalten des Analytikers finden« (Winnicott, 1958/2008, S. 48). b) Kinderanalyse vollzieht sich in der Überschneidung zweier Spielbereiche (Winnicott, 1971/1989, S. 49), dem des Patienten und dem der Therapeutin. Das Kind teilt seine Spiele der Therapeutin mit, trägt sie damit nach außen und gibt dem Symbolischen eine konkrete Gestalt. Die Therapeutin stellt dem Kind dazu den therapeutischen Raum zur Verfügung. Sie hütet ihn vor Übergriffen von außen und bietet damit der Darstellung des Kindes einen schützenden Rahmen. Die Therapeutin versucht, einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem, was sie wahrnimmt, und dem, was sie über die intrapsychische Szene des Kindes zu wissen glaubt. Es entsteht ein symbolischer Rahmen. Die symbolische Einstellung führt zu einer »sinnschaffenden Wahrnehmung« (Rosetti-Gsell, 1995, S. 49). Sie kann mit der »Reverie« nach Bion (1992, S. 18–21) verglichen werden. Gemeint ist damit u. a. das »Träumen« der Therapeutin über das Kind: Ich sehe das Kind vor mir nicht nur in seiner gegenwärtigen, eingeschränkten Bewegung, sondern so, wie es »eigentlich« sein könnte (Stadler, 1991, S. 57). Die dargestellte Kinderanalyse fand weitgehend auf der analogen (Spiel-)Ebene statt. Ich bot Verbalisierungen erst gegen Ende der Behandlung an, als ich den Eindruck hatte, dass Janosch damit etwas anfangen konnte. Verbalisierung ist ein zusätzlicher Akt der Klärung und darüber hinaus der Trennung: Ich und Du sind wieder zwei Perso-
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nen, die über das, was sie gemeinsam erlebt haben, sprechen. Deutung ist das, was uns beide umschließt und noch über uns beide hinausgeht als Verständnis der ganzen Szene. Man gewinnt damit einen triangulären Standort (Bade, 1995). Wichtig im therapeutischen Prozess ist die »Mitbewegung« des Therapeuten (nach Heisterkamp). Unter Mitbewegung ist einerseits das einfühlende Mitschwingen mit der Selbstbewegung des Patienten gemeint, zum anderen die sensible Wahrnehmung der eigenen Selbstbewegung. »An den Stellen, wo die Selbstbewegung des Patienten beeinträchtigt ist, spürt der Therapeut in der eigenen Mit- und Selbstbewegung stellvertretend diese Beeinträchtigungen des Patienten und interveniert so, dass die ausgeklammerten Selbstmomente allmählich wahrnehmbar, bearbeitbar und wieder integrierbar werden« (Heisterkamp, 1996, S. 102). Scheinbar »verrückte« Reaktionen können als adäquat verstanden werden, wenn man die für das Bewusstsein fehlenden Teile wiederfindet. Mithilfe der Beachtung des Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens kann man bisher Unverstandenes in seinen Entstehungszusammenhang bringen (Thomä u. Kächele, 2006, S. 54).
Behandlungsverlauf Janoschs Phase »Schockstarre in einem vernichtenden Chaos«: Äquivalenzmodus Die ersten Therapiestunden mit Janosch waren für mich zunächst sehr anstrengend und schwer erträglich. Wenn er kam, läutete er Sturm, rannte gegen alle Türen. Hatte ich die Tür geöffnet, riss er Jacke und Schuhe von sich und stürmte in den Behandlungsraum. Ich bemerkte, dass ich mich sehr bedrängt fühlte, wenn er so in meinen »privaten« Raum eindringen wollte, und gleichzeitig spürte ich seine verzweifelte Wut. Ich musste dafür Sorge tragen, dass alle Türen außer der Praxistür verschlossen waren, um ihn im Therapieraum zu halten. In der Anfangsphase der Behandlung bestand er darauf, dass seine Großmutter bei ihm, bei uns im Zimmer blieb, war durch ihre Anwesenheit aber gleichzeitig auch eindeutig gehemmt. Sein Spiel wirkte befangen und phantasielos. Er malte Minecraft-Figuren, musste ihr jedes Bild zeigen und schloss mich so unübersehbar auf eine defensive Weise aus.
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In meiner Gegenübertragung spürte ich, dass sich so jederzeit Spannungen und damit verbundene Ängste unkontrolliert entladen konnten. Ich begann, Janosch direkt auf seine Angst anzusprechen, fragte ihn, ob er vielleicht glaube, dass seine Großmutter sich ausgeschlossen fühlen könnte, wenn er selbst eine Beziehung zu mir aufnähme; ob er befürchte, dass sie ihn dann womöglich weniger lieben werde. Auf dieses Deutungsangebot reagierte er sichtlich wütend, tobte durchs Zimmer, scheinbar ohne jemanden zu bemerken, gab ununterbrochen Geräusche von sich, sang, schrie, pfiff, stürzte sich auf seine Großmutter oder auf mich. Mein Gefühl, gelähmt zu sein, nahm zu; eine befreiende Intervention fiel mir nicht ein. Parallel dazu kamen in mir Zweifel an meinen therapeutischen Fähigkeiten auf: »Ich mache hier etwas falsch – was mache ich nur falsch?« Schließlich erlaubte Janosch dann aber plötzlich seiner Großmutter, das Zimmer zu verlassen. Allerdings war dadurch nicht viel gelindert. Er stürzte wieder in seine Minecraft-Welt hinein und stellte sich abwechselnd und für mich nicht immer nachvollziehbar als »Endeman, »Spider« und »Pigman« dar. Dann rannte er schreiend durch den Raum, riss dabei etwas um, zerstörte Dinge. Sein Widerstand und auch seine Kampfeslust wurde immer spürbarer, gleichzeitig konnte ich ihn in diesen Momenten nicht erreichen. Kurze sprachliche Sequenzen konnte ich nicht immer verstehen. Ich erlebte mich im Therapieraum selbst völlig verwirrt und verloren. In mir tauchte das Bild eines vernichtenden Wirbelsturmes auf, was mich nahezu in Schockstarre versetzte. Der Junge erlebte mich offensichtlich als gefährliches Objekt, das er mit manischen Mechanismen zu kontrollieren versuchte: mit Entwerten und Verächtlichmachen. Auf alle meine Versuche zu intervenieren, nahm er mich in seinem rauschhaften Tun weder wahr noch hörte er mich. Stattdessen versteckte er sich hinter einem autistischen Panzer, durch den er sich vor mir zu schützen versuchte. Auf diese Weise induzierte er in mir im Rahmen einer projektiven Identifikation ein Gefühl des Ausgeschlossenseins, der Minderwertigkeit und der Ohnmacht, verlagerte also seine Gefühle in mich. Jede Minute drohte der Wirbelsturm mich zu vernichten, wenn ich eine falsche Bewegung machte. Wichtig erschien mir, dennoch irgendwie einen zumindest indirekten spielerischen Kontakt zu Janosch herzustellen, z. B. mittels Wasser, Sand oder Seifenblasen. Tatsächlich wollte er die Seifenblasen fangen,
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dann nahm er abwechselnd den feuchten und den trockenen Sand in die Hände und ließ ihn langsam durch die Finger rinnen. An dieser Berührungssensation schien er viel Spaß zu haben. Dann begann ich, Janoschs Handlungen durch Singen einfacher Melodien zu begleiten mit dem Ziel, Lied und Handlung zueinander in Beziehung zu setzen. Nach meiner Vorstellung sollte diese Assoziation den Beginn der Herausbildung innerer Strukturen – und zwar durch Sprache – ermöglichen. Zum anderen schien ein Kommentar in Form eines beruhigenden Singsangs seine Selbstdestruktivität zu mildern. Ich gebrauchte absichtlich einen neutralen Singsang ohne jeden Anklang von Emotionalität, um ihn dadurch nicht zu bedrängen, nicht unter Druck zu setzen, eine bestimmte Reaktion zeigen zu müssen. Für kurze Momente wurde Janosch tatsächlich ruhiger, kam räumlich näher zu mir, um dann aber wieder auf Distanz zu gehen und in seiner chaotischen Welt zu versinken. Anscheinend wurden für ihn die Spielsachen in der Vergangenheit nie durch gemeinsame Erfahrung mit einem begleitenden Elternteil zum »Leuchten« gebracht. Janosch ging von einem Ort aus, an dem symbolische Leere und Trostlosigkeit herrscht. Daher ist seine scheinbare Omnipotenz in Wirklichkeit Ausdruck eines Bedürfnisses, bei anderen Aufmerksamkeit oder Interesse zu wecken. Von den primären Bezugspersonen hatte der Patient keinen Halt und keine Begrenzungen vermittelt bekommen und so kein ihn containendes Objekt internalisieren können, das es ihm ermöglicht hätte, sich und andere zu verstehen. Seine Emotionen überfielen, überschwemmten ihn deshalb. Er konnte sie nicht differenzieren, nicht als seine eigenen und als etwas wahrnehmen, das er mitteilen konnte. Entweder musste er seine Affekte gewaltsam in die anderen hineinzwängen oder er musste sie einkapseln. In der 19. Stunde verschwand Janosch im Behandlungsraum unter der Couch und blieb reglos dort unten liegen. Ich saß schweigend und ruhig auf meinem Stuhl und begann dann, wie mit mir selbst redend, zu sprechen und dabei ihn zu suchen. Er gab keinen Ton von sich. Ich sprach wieder wie mit mir selbst, wie schwer es für mich sei, dass er sich nicht finden lassen wolle. Ich könnte aber auch verstehen, dass er sich unter der Couch sicherer fühle. Nach einer Weile sagte er ganz leise: »Du kannst mir einen Geheimbrief malen.« Ich setzte mich neben die Couch, malte einen gelben lachenden Smiley und schob das Bild unter die Couch. Janosch schien
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zunächst nicht zu erreichen, sagte mir dann aber, er sei zu müde und schlafe jetzt. Es war kurz vor dem Ende der Stunde und ich sagte ihm, wieder wie zu mir selbst redend, dass er wohl hier in meinem Raum bleiben wolle. In wütendem Ton verbot er mir, vom Ende der Stunde zu sprechen, kroch unter der Couch hervor und verließ blitzschnell das Zimmer. Nach der Stunde dachte ich, dass ich mich hier zu schnell ins Spiel gebracht und nicht darauf geachtet hätte, dass sein Bedürfnis, »gefunden zu werden«, noch unausgesprochen bleiben sollte, da es für ihn noch zu bedrohlich war. Er hatte noch nicht genügend Vertrauen in einen stabilen, zuverlässigen Container. In diesem Stadium wurde mein Zimmer aber nach und nach ein konstruktives Element in der Entwicklung hin zu einem eigenen psychischen Raum. Ich war für ihn eine »Möbelmutter«. Zu mir als separatem menschlichem Objekt war die Beziehung noch nicht möglich. Ich beschloss, Janosch mein Verständnis dieser Vorgänge zu diesem Zeitpunkt nicht mitzuteilen, da es sein momentanes Verarbeitungsvermögen überfordern würde. Ich sah mich vor der Aufgabe, diese Sichtweisen und Erkenntnisse in mir zu halten und zu verarbeiten. Der Patient schien mir in einem nahezu durchgehend verzweifelten Zustand zu sein und keine Vorstellungen und kein Vertrauen zu haben, dass es einen anderen geben könnte, der seine Gefühle und Ängste versteht und aufnimmt. Daher habe ich ihn auch nicht direkt auf seine Angst oder andere Affekte angesprochen, sondern den Vorgängen, wie zu mir selbst sprechend, eine beschreibende Bedeutung gegeben. Dadurch hatte der Junge die Möglichkeit, immer nur so viel auf sich zu beziehen, wie er im Augenblick ertragen konnte. Es musste erst ein Vertrauen in ein genügend präsentes Gegenüber entwickelt werden, bevor wir uns den Inhalten seiner Ängste widmen konnten und die Voraussetzungen dafür geschaffen waren, dass er seine Gefühle wahrnehmen und einer Beziehung zuordnen konnte. Es ging darum, langsame Schritte hin zur Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit zu fördern. Als eine Standfigur im Spiel des Patienten beobachtete ich in dieser Phase über mehrere Stunden, wie Bomben (Bauklötze) und Planeten (Softbälle) explodieren, böse Hunde »friedliche Siedlungsbewohner« angreifen, wie alle lebenden Wesen der Minecraft-Welt getötet wurden. Mit flackernden Augen suchte Janosch nach Gelegenheiten, so
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zerstörerisch wie möglich zu sein, um sein Gegenüber zu vernichten. In solch schrecklichen Momenten sehnte er sich nach »Grausamkeit und roher Macht«, wie das Alvarez (2006) benannt hat. Es entstand ein mühsames Chaos, das mich lähmte und extrem müde machte. Ich musste das Unaushaltbare mit dem Patienten aushalten. Im Spiel – immer wieder Kämpfe, teilweise provokantes und riskant anmutendes Verhalten (z. B. Springen von einem aus Stühlen gebauten Hochturm) – reinszenierte Janosch in dieser Phase die intrapsychische Bedrohung seines Selbstwerts und die damit verbundene chronische Überforderung. Einen Wendepunkt in der ersten Therapiephase stellte ein BeinaheUnfall am Ende der 47. Therapiestunde dar. Der Patient war von der Großmutter (zunächst) nicht abgeholt worden und wollte in einem panischen Zustand schreiend über die Straße rennen. Ich griff schnell nach seiner Hand und zog ihn an meine Seite. In diesem Moment sahen wir beide ein mit großer Geschwindigkeit vorbeigefahrenes Auto. Wir standen nebeneinander: Janosch klammerte sich fest an meine Hände, und ich mich an seine. Wir zitterten zusammen und atmeten in einem Takt. Nach einer kurzen Schockstarre schrie ich zitternd, dass ich mir Sorgen um ihn mache, für mich sei es nicht egal, was mit ihm passiere: »Du darfst von mir nicht wegrennen und dein Leben riskieren!« Janosch trennte sich langsam von mir und blieb neben mir stehen. Als er wenig später von seiner Großmutter abgeholt wurde, nahm er kurz meine Hand und sagte: »Bis nächste Stunde, Frau Stüttgen.« Ich war für den Patienten keine »Möbelmutter« mehr. Das Auftauchen dieses »Now-Moments« (Stern, 2005) war weder geplant noch vorhersehbar. Er ereignete sich spontan. Ich hatte in diesem Moment mitagiert. Sandler und Joffe (1980, S. 415) bezeichnen das als »Rollen-Antwortbereitschaft«, Klüwer prägte den Begriff des »Handlungsdialoges« (2000, S. 42 ff.). Stern (2005) geht davon aus, dass in diesen Gegenwartsmomenten die Interaktionspartner intuitiv spüren, was im anderen vorgeht, und wechselseitig Anteil nehmen. Es findet eine Interaktion und Interpretation beider Psychen statt, und so wird zwischen ihnen ein neuer Zustand der Intersubjektivität erzeugt. Der »Jetztmoment«, in dem die emotionale Nähe zwischen mir und dem Patienten und unsere Präsenz füreinander spürbar wurde, war eine kurze und stark verdichtete Geschichte unserer Beziehung. Diese
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Geschichte wurde unmittelbar erlebt. Solche Momente präg(t)en sich dem Gedächtnis beider Beteiligter ein. Auch ohne verbalisiert zu werden, wird der Moment gespeichert, sodass man sich an ihn erinnert und er ins Bewusstsein gelangen kann (Stern, 2005). Im Nachhinein träumte ich von Janosch: mit Gefühlen der Angst, Wut und Ohnmacht.
Begleitende Arbeit mit Bezugspersonen Zu Beginn der Behandlung waren der Vater und die Großmutter beinahe ebenso unzugänglich wie der Patient selbst. Schnell war mir deutlich geworden, wie sehr Vater und Großmutter Konkurrenz, Einmischung und Kritik von außen (vorher vom Jugendamt, jetzt von mir als Therapeutin) befürchteten und sich davor zu schützen suchten. In den Einzelgesprächen mit dem auf mich infantil wirkenden Vater zeigte er sich zunächst mir und der Therapie gegenüber einerseits abwertend, andererseits äußerte er auch seine Angst, nicht »ernsthaft wahrgenommen zu werden«. Bei der Großmutter wurde die ambivalente Einstellung ihrem Enkel gegenüber im Laufe der Zeit immer deutlicher: Einerseits empfand sie seine Anhänglichkeit ihr gegenüber als sehr belastend, andererseits fühlte sie sich wertlos, wenn »ihr Kind« sie »nicht mehr brauchte«. Ihre Lebensaufgabe sah sie in der Erfüllung ihrer »Mutterrolle«, was wohl – neben berechtigten Sorgen hinsichtlich der Erziehungsfähigkeit der leiblichen Mutter – zu der vernachlässigten Zusammenarbeit mit dieser geführt hatte.
Janoschs Phase »Mein Vater ist auf einem anderen Planeten«: Als-ob-Modus Janosch baute mit Stühlen und Decken eine Burg, um sich vor bösen Monstern zu schützen. Ich sollte die Rolle des Monsters übernehmen, des »böses Objekts«. Seine Spielwünsche waren ganz und gar darauf ausgerichtet, mich zu besiegen. Er wollte mit mir mit den Batakas4 4 Im therapeutischen Raum gebräuchliche Aggressionsübungsschläger.
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kämpfen und schlug dabei wild auf mich ein. Nach einiger Zeit bot ich ihm einen spielerischen Rahmen an, indem ich ihn mehrfach fragte: »Wer bist du, dass du mich so angreifst?« Schließlich nahm er meine Frage auf: Er sei ein »Creeper«, ein böser, mächtiger und gnadenloser Herrscher, der von bösen Monstern verstoßen worden sei. Nun wolle er alle bösen Monster töten, um über alle Herrscher zu sein. Nach meiner Vorstellung war die Phantasie seiner Potenz für Janosch eine symbolische Möglichkeit, weniger Angst spüren zu müssen, indem er sich dadurch vor seinen unbewussten Phantasien und Ängsten schützte, sie abwehrte. Der von mir entwickelnde Mitspielversuch enthielt eine mir in diesem Augenblick nicht bewusste, deutende Aussage über unsere Beziehung: die Objektrepräsentanz, die ich verkörpere, ist »gut«, und du, Janosch, bist »böse«. Aus der Distanz betrachtet, vermute ich, dass ich in meiner Gegenübertragung die innere Situation des Patienten nachvollzog. Aber es schwingt auch eine mögliche Selbstzuschreibung von Janosch mit: »Ich könnte selbst Schuld an meiner Verstoßung sein, weil ich ›böse‹ bin.« Aber es gibt auch noch einen anderen Aspekt: »Ich bin ein Herrscher, es gibt etwas Wertvolles und Mächtiges in mir.« Die von meinem eigenen Unbewussten kontaminierte Botschaft konnte Janosch für eine erste Übertragung seiner inneren Bewegungen auf eine ausdrückbare Phantasie nutzen: Er sprach vom »Verstoßenwordensein« und leitete daraus die Notwendigkeit ab (als Abwehr gesehen), sein Heil nun in der Fremde mit Gewalt suchen zu müssen. Die Beschäftigung mit seinem Wert, seinen traumatisierten Erfahrungen des Ausgesetzt- und Entwertetseins, seiner Einschätzung der Hilfe, die er erfährt, der Ambivalenz zwischen Dankbarkeit und Hass den Helfern gegenüber beschreibt das Spannungsfeld der gesamten Behandlung und des Übertragungsgeschehens. In weiteren Stunden saß Janosch in seiner Burg. Mir wurde nicht erlaubt, mit ihm Kontakt aufzunehmen. In mir tauchte ein Bild von einem Baby auf, das zurück in den Bauch der Mutter und noch einmal geboren werden möchte. Während ich dieses Bild vor mir sah, hörte ich ihn plötzlich sagen, dass seine Burg von Lava umgeben sei und in der Lava unsichtbar gefährliche Schlangen lägen. Ich solle mit ihm aufpassen. Ich sagte ihm, dass er nun Zutrauen habe, dass ich mit ihm zusammen aufpasse. Er hörte mir für einen kurzen Moment zu.
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Ich denke, dass Janosch mich fühlen ließ, wie es ist, wenn man den anderen nicht erreichen kann, wenn man mit einem physisch anwesenden, aber emotional unerreichbaren Objekt konfrontiert ist. In ihm sind gefährliche Emotionen (Schlangen), mit denen er nur fertigwerden kann, wenn er sie einschließt oder wenn sie von mir eingeschlossen werden (unter der Couch). Doch diese in ein Claustrum (Meltzer, 1992/2005) gezwungenen Inhalte führen periodisch zu Ausbrüchen von Wut und Verzweiflung. Ich durfte mit dem Patienten zusammen in seiner Burg gegen böse Monster kämpfen. Ich spielte die Rolle einer »schwachen Kämpferin« oder einer »gefangenen Königin«, die immer beschützt werden soll. Janoschs enorme Impulsivität, verbunden mit einer sehr stark körperlich agierten Form der Darstellung, war für mich schwer zu ertragen. Bei den Gefangennahmen von bösen Monstern erlebte ich ihn manchmal so, als wollte er nicht nur ganz nah an mich heran, sondern in mich hinein. Der von mir in unser Spiel eingeführte Wachturm – ein Bild, das ich als Co-Narration im Sinne Thomas Stadlers verstehe (Stadler, 2013, S. 103–122) – ist dem Umstand geschuldet, dass ich mehr Distanz zum Patienten schaffen, dem massiven Druck seiner nach Ausdruck und Verstehen drängenden Not und der damit verbundenen verwirrenden und bedrohlichen Gefühle entgehen möchte. Aus gleichen Gründen wollte ich als Königin immer wieder schlafen: Ich brauchte Erholungspausen, die ich aber zu diesem Zeitpunkt der Behandlung von Janosch nicht bekam. Ich verstand erst später, dass er mich in seinem Spiel immer in einer nahen Beziehung zu sich halten wollte. Wenn ich mich in »unserer« Burg abzugrenzen versuchte, fühlte er sich tief verlassen, ohne dass er diesen Schmerz fassen konnte. Der von mir eingeführte Wachturm könnte auch als eine Form des Gegenübertragungsenactments gesehen werden, da ich in der Situation den in mir entstehenden Druck nicht mehr aushalten konnte und vieles, was zwischen mir und dem Patienten geschah, noch nicht verstehen konnte. Wulf Hübner (2012) spricht in einem ähnlichen Kontext von einem unvermeidlichen und notwendigen Gegenübertragungsagieren, das dazu angetan sei, die Not beider Beteiligten auszuhalten und zu wenden. Im therapeutischen Prozess gelang es Janosch in der Folge zunehmend, sich auch auf das regressive Übertragungsgeschehen einzulas-
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sen: in der Hängematte (»meine Wolke«) kindliche Schutzbedürfnisse zuzulassen und innerlich zur Ruhe zu kommen. In einer solchen Situation konnte er mich etwa fragen: »Bist du böse?«, »Magst du mich wirklich oder tust du nur so?«, »Bin ich ein guter Junge?«. Auch in seinem Minecraft-Spiel begann Janosch nach und nach, Emotionen zuzulassen, das Spiel wurde emotionaler und lustvoller. Er sprach jetzt auch über seine Ängste (vor dem »schwarzen Monster«; »dass etwas Schlechtes mit der Oma passieren könnte«), seine Alpträume (in einem wurde er von einem schwarzen Hund gebissen) und seiner Angst vor Entwertung (»Bin ich zu klein?«). Die entstandene Nähe zwischen uns schien für ihn weiterhin schwer aushaltbar und musste immer wieder von ihm abgewehrt werden, sodass er häufig abrupt einen neuen Kampf inszenierte und so Distanz zu mir als seiner Gegnerin herstellte. Nach und nach begann Janosch damit, seine Unzulänglichkeitsgefühle, seine Ängste, seine Verzweiflung und auch seine Wut verbal zu äußern: »Ich bin nicht gut genug für meinen Vater«, »Ich fühle mich nicht geliebt«, »Mein Vater ist auf einem anderen Planeten«. Gefühlsambivalenz wurde spürbar: »Ich weiß nicht mehr, ob ich meinen Vater liebe oder hasse.« Auf dem Boden der gefestigten therapeutischen Beziehung konnte der Patient jetzt seinen Objektbeziehungskonflikt zunehmend symbolisch in die Übertragungsbeziehung bringen und ihn somit einer Bearbeitung und Integration zugänglich machen. Dennoch zeigte Janosch auch weiterhin immer wieder ein chaotisches Verhalten, um jegliche Nähe und Beziehung abzuwehren. Er rannte im Raum und aus dem Raum, versuchte aus dem Fenster zu klettern und warf Spielfiguren durch das Zimmer. In dieser Phase lag der Schwerpunkt der Therapie darin, den Therapieraum als Schutzraum zu erhalten und zudem für die Einhaltung von Regeln zu sorgen – wie das Achten auf die Unversehrtheit von Personen und kein absichtliches Zerstören von Gegenständen. Oft reagierte Janosch auf meine diesbezüglichen Interventionen mit aggressiver Abgrenzung: Er redete nicht mit mir oder wollte die Therapiestunden vorzeitig beenden. Ich wurde für ihn zu einem Übergangsobjekt, das er ablehnen und bestrafen, dem er sich aber mitteilen konnte: »Ich mag dich nicht mehr«, »Ich bin dir ja auch egal«, »Du wirst dich sicher freuen, wenn ich nicht mehr komme«. In diesen Situationen erlebte ich ihn wie einen Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
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Gleichzeitig wehrte er in dieser Phase destruktive Affekte gegen seinen Vater vehement durch Idealisierung ab. Dann schwelgte er in Allmachtphantasien über seinen Vater: »Papa zeigt mir alles«, »Papa weiß alles«, »Papa erklärt mir alles«. In der realen Vater-Sohn-Beziehung schwankte er zwischen Idealisierung und Wut. Genauso schwankte die Übertragungsbeziehung zur Therapeutin zwischen Idealisierung und Abbruchsphantasien. Der Patient teilte die Welt in schwarz und weiß, in böse und gut, was er auch bildnerisch und spielerisch darstellte. Lange Zeit ging es im Minecraft-Rollenspiel darum, dass die Guten (verkörpert von der Therapeutin) von den Bösen hinterhältig vergiftet und ihrer Zauberkräfte beraubt wurden. Es war Janosch noch nicht möglich, widerstreitende Gefühle, vor allem Liebe und Hass, gleichzeitig zu halten oder gar zu integrieren. In diesem Sinne bewegte er sich auf der von Melanie Klein als paranoid-schizoide Position bezeichneten Entwicklungsstufe. Das Minecraft-Szenario ermöglichte es ihm, diese Spaltung auszudrücken und auszuleben. Dabei fand er immer wieder Wege, die Bösen wieder gut zu machen: Hierzu mussten sie ins Höllenfeuer fallen, um wieder gut zu werden. So inszenierte er einen Kreis aus Sterben und Wiederauferstehung bzw. Geheiltwerden. Die eigentlich Guten, denen die Kräfte immer wieder entzogen wurden, fielen dann in ein loderndes Feuer, wurden verbrannt, hierdurch geheilt und konnten schließlich wegfliegen. Von einer im Spiel bzw. in der Phantasie ungefährlichen Position aus konnte der Patient so symbolisch probehandeln und im Spiel einen Mittelweg zwischen Minderwertigkeits- (fallen) und Überlegenheitsgefühlen (fliegen) suchen. Schließlich entwickelte er für die Gute (mich) eine »goldene Ausrüstung«, die mir meine Zauberkräfte (symbolisiert in Lavabällen, Laserwaffen und der Fähigkeit, zu fliegen) zurückgaben und die gegen eine erneute Vergiftung schützten. In der Folge war Janosch weniger desorganisiert, er sprach deutlicher und war nicht mehr so verwirrt wie zu Beginn der Therapie. Diese Veränderungen fielen zeitlich mit einer Spielepisode (117. Std.) zusammen, in der er offenbar die Bedeutung von markierten Als-obAusdrücken und das affektregulierende Potenzial des Funktionierens im Als-ob-Modus (Fonagy u. Target, 2002) »entdeckte«. Wir spielten das Brettspiel, in dem man kleine bunte »Diamanten« gewinnen kann. Ohne sich um mich und die Spielregeln zu kümmern, würfelte Janosch
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immer wieder und sammelte auf diese Weise so viele Diamanten wie möglich ein, während ich leer ausging. Mit deutlich markierter, übertriebener Als-ob-Intonation tat ich so, als ob ich weinte. Daraufhin bekam er große Angst und befahl mir, aufzuhören. Ich hielt sofort inne und versuchte, ihn zu beruhigen, indem ich ihm erklärte, dass ich ja nicht wirklich traurig sei und nicht wirklich weine – ich hätte nur so getan, als ob. Janosch sah mich lange an, so als würde er langsam begreifen, was diese Worte bedeuteten. Als er zu seiner nächsten Sitzung kam, erklärte er sofort, dass er wieder dieses Brettspiel spielen wolle. Lächelnd sah er mich an und sagte, er wisse noch, dass ich beim letzten Mal traurig gewesen sei. Aber dieses Mal würde er mir helfen, alle Diamanten zu sammeln. Im weiteren Verlauf entwickelten wir verschiedene Variationen ein und desselben Themas: Einer von uns geriet in Schwierigkeiten (wurde von Monstern gefangen, von Lavamenschen entführt usw.) und tat so, als müsse er weinen oder sterben. Dann kam der andere, um ihn zu trösten und zu retten. Es ging symbolisch darum, zu sterben und wieder lebendig zu werden, verwundet und geheilt zu werden, traurig zu sein und wieder aufgeheitert zu werden. So machte Janosch die Erfahrung, dass markierte Externalisierungen negativer Affektzustände nicht zwangsläufig traumatisierende Intensität annehmen mussten, sondern zu positiven Gefühlen der Gemeinsamkeit, der Empathie und des Trostes führen können. Er entdeckte, dass er »sterben« wollte, solange dies im Als-ob-Modus und im Beisein eines ihn regulierenden anderen möglich war.
Begleitende Arbeit mit Bezugspersonen Janoschs Vater fühlte sich in seiner Vaterrolle sehr unsicher, zeigte aber im Laufe der Zeit eine zunehmende Reflexionsbereitschaft und -fähigkeit: Viele Anforderungen und Erwartungen von außen (Schule, Familie, Jugendamt), vor die er sich gestellt sah, hatten sein Gefühl, dieser Rolle nicht gewachsen zu sein, verstärkt. Aus seiner Sicht liebte er seinen Sohn und versuchte, »alles Mögliche für ihn zu tun«. Manchmal hatte er aber das Gefühl, »wie gefangen zu sein«. Das löste in ihm Angstund Ohnmachtsgefühle und massive Selbstzweifel aus. Er werde »nur
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kritisiert«, niemand in seiner Umgebung habe Verständnis dafür, wie schwer es ihm falle, ein guter Vater zu sein. Gleichzeitig projizierte er viele negative Anteile des hoch ambivalenten Bildes, das er von seiner früheren Partnerin hatte – ihre Labilität, ihre Reizbarkeit –, auf seinen Sohn. Es wurde deutlich, wie sehr er ihn hierfür ablehnte. Wenn Janosch sich negativ auf ihn bezog, reagierte er häufig ebenfalls mit negativen Affekten. Ein Kreislauf, der sich z. B. in Hausaufgabensituationen häufiger ereignete. Ich versuchte, mit dem Vater Situationen beispielhaft durchzusprechen und zu reflektieren, um so einen adäquateren Umgang mit seinem Sohn zu erreichen. Indem er auch eigene negative Kindheitserfahrungen mit mir besprach (Situationen, in denen sich von den eigenen Eltern alleingelassen fühlte, als Loser bezeichnet worden war, sich nicht geliebt fühlte oder zu der Überzeugung gelangt war, nicht gut genug für sie zu sein), wurde es ihm möglich, mehr Verständnis für Janoschs emotionale Not aufzubringen. Darüber hinaus wurde es zunehmend möglich, auch Janoschs weitgehenden (realen, faktischen) Verlust der leiblichen Mutter und die Bedeutung der (zerbrochenen) Mutter-Sohn-Beziehung zu thematisieren. Allmählich konnte der Vater auch mehr Verständnis für die Situation der eigenen Mutter und ihre schwierige Rolle als Großmutter entwickeln. Die Großmutter wiederum konnte sich dann damit einverstanden erklären, dass Janosch die Briefe seiner Mutter, die sie an ihn geschrieben hatte, vorzulesen.
Janoschs Phase »Darf ich meine Mutter lieben, obwohl ich sie hasse?«: Reflexionsmodus Die sich im weiteren Therapieverlauf vom Patienten entwickelten Spiele kreisten um Fragen der Stabilität, des Schutzes, um die Themen Hilfe und Rettung. Janosch baute immer reicher ausgestattete Festungen aus Bauklötzen und Lego, entwarf ein Geschäft zur Entwicklung und dem Verkauf von Waffen und Alarmanlagen. Ich fasste das so auf, dass er auf diese Weise an seiner Struktur arbeitete und reifere Abwehrmechanismen entwickelte. Gemeinsam flogen wir in dieser Zeit als Weltall-
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sanitäter zu dramatischen Einsätzen. Als ein Babybär im Weltall seine Mama verloren hatte, fanden wir sie wieder. Auf der Suche hatten wir aber erst böse Monster zu bekämpfen, die uns vergiften wollten. Der »mächtige Herrscher« (das war natürlich Janosch, der Spielleiter selbst) tötete dabei aber keine einzige der bösen Gestalten: Sie durften vielmehr nach Hause zu ihren Monsterbabys fliegen. Im Sinne von Klein (1932/1997) konnte der Patient so nach und nach die depressive Position einnehmen, d. h., Objekte als ganze Wesen mit guten und bösen Seiten wahrnehmen. Eine allmähliche Integration von Kränkung und Mitgefühl und eine Anerkennung des Bemühens anderer waren nun immer mehr möglich. Außerdem gestaltete Janosch diese Spiele nun zunehmend selbstständiger, entwickelte immer differenziertere Charaktere und wies mir neue, vielfältigere Rollen zu (als Mitarbeiterin, Kundin, Co-Pilotin). Als ich einmal äußerte, dass er in unseren Spielen doch meist der Klügere, Erfolgsreichere und Mächtigere und mein Erfolg eher bescheiden sei, meinte er trocken: »So ist es in meiner Welt. So wie du jetzt, fühle ich mich meistens.« Tatsächlich konnte er nun explizit über die eigenen inneren Zustände sprechen. Ein weiterer wichtiger Themenbereich zieht sich fast durch die gesamte Zeit der Behandlung: die Toilettenszenen: Während jeder Stunde verschwand Janosch auf der Toilette. Die Kommunikation zwischen ihm und mir fand dann bei geschlossener Tür statt. Der Patient blieb in dem engen, sicheren Raum (in meiner Phantasie: im Mutterleib) und hörte dann »nur« meine Stimme (also: die des Mutterobjekts). Trennung und Beziehung konnten so in einem erlebt werden. In diesem besonderen und geschützten Arrangement konnte der Junge existentiell wichtige Themen ansprechen: »Darf ich meinen Vater lieben oder hassen?«, später: »Darf ich meinen Vater lieben und hassen?«, »Bin ich ein guter oder böser Junge?«, »Bin ich liebenswert?«. Während dieser Szenen saß ich auf dem Fußboden neben der geschlossenen Tür und versuchte, mit Janosch verbal im Kontakt zu bleiben: »Jeder Mensch hat gute und schlechte Seiten«, »Jeder macht Fehler«, »Es ist unmöglich, immer brav zu sein«, »Man kann wütend auf jemanden sein und ihn trotzdem lieben«. Allmählich konnte er dann auch Zwischentöne zulassen: »Ich glaube, ich kann gleichzeitig gut und böse sein«, »Manchmal hasse und liebe ich sie gleichzeitig«. Allmählich öffnete sich der Raum
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zwischen uns: In einem Flüsterton brachte Janosch existenziell wichtige Themen zur Sprache: »Bin ich böse, wenn ich meine Mama liebe?«, »Darf ich meine Mama lieben?«. Wieder gelang es mir, ihm auch mit Worten nah zu bleiben: »Erwachsene können nicht immer machen, wie sie wollen. Sie machen auch Fehler«, »Wir sind nicht immer schuld, wenn etwas schiefgeht«, »Ein Mensch kann nicht grundlegend böse sein, wenn er Liebe in seinem Herzen hat«. So arbeiteten wir an der Integration seiner positiven und negativen Selbst- und Objektrepräsentanzen. Nach und nach ließ Janosch also immer mehr Nähe zu mir zu. Schließlich suchte er diese auch aktiv: Wir schauten gemeinsam ein Buch über Minecraft-Legos an. Er erzählte mir detailliert, wie eine sichere Minecraft-Festung gebaut werden muss. Die negative Mutterübertragung wandelte sich also allmählich in eine positive Beziehung, in der ich zu einem wichtigen Selbstobjekt wurde. In seinem Bedürfnis, positive Bestätigung zu bekommen – man könnte auch sagen: den »Glanz im Auge der Mutter« zu sehen –, zeigte er mir mit Stolz selbst gebastelte Minecraft-Figuren und berichtete über das neue Computerspiel, das er mit seinem Papa zusammen »geknackt« hatte. Als eine »gute Mutter« sollte (und wollte) ich ihn bewundern. Das genoss er, aber gleichzeitig wurde auch die Enttäuschung über seine wirkliche Mutter berührt: »Wenn meine Mama nur gewusst hätte, wie gut ich bin, wäre sie sicher für immer bei mir geblieben.« Sein Gefühl von tiefster Trauer, Ohnmacht und Wut war dabei deutlich spürbar. In der Gegenübertragung geriet ich hier in eine Art Loyalitätskonflikt zwischen seiner Mutter und seiner Großmutter: »Darf ich Janosch erlauben, seine Mutter zu lieben, bei allem, was sie ihm angetan hat?« Über mehrere Sitzungen beschäftigten wir uns in dieser Phase, in der er innerlich sehr zerrissen war, mit dem »Tip-Tower-Spiel«5, das er nach seinen eigenen Regeln (allein) spielte: Erst baute er einen großen Turm. Drohte dieser dann zu kippen, schmiss er die ganze Konstruk5 Das Tip-Tower-Spiel – auch bekannt unter dem Namen Jenga – ist ein Geschicklichkeitsspiel, bei dem die Mitspieler aus gleich großen hölzernen Bauteilen, die zu Beginn des Spiels zu einem Turm gestapelt werden, abwechselnd einen Stein aus dem Turm herauslösen und ihn auf dessen Spitze setzen. Das Spiel endet, wenn der Turm einstürzt. Sieger des Spiels ist, wer den letzten Stein auf den Turm setzen konnte, ohne dass dieser danach zusammenfiel.
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tion um und fegte die Bauklötze vom Tisch. Dieser sich wiederholende Vorgang – die Erschaffung eines hohen Turms, der dann aber immer wieder einstürzt – kann sowohl als Symbolisierung von phantasierter Grandiosität gesehen werden wie auch als Ausdruck der Gefühle, die mit dem Scheitern dieses Wunsches verbunden sind – also als Ausdruck erlebter Minderwertigkeit. Um sich vor diesen Gefühlen zu schützen, projizierte Janosch die mit dem Scheitern verbundenen Gefühle von Wut und Enttäuschung auf mich oder auf das »ungenügende« Spielmaterial. Er suchte also externe Gründe für seinen Misserfolg: Nicht er, die Bauklötze waren nicht gut genug. Ich versuchte jetzt, ihm die Hoffnung zu geben, sich trotz seines subjektiv wahrgenommenen Scheiterns angenommen zu fühlen. »Du hast recht, aber macht es nicht trotzdem Spaß, mit den Klötzen zu spielen? Schau, wir können doch zusammen den Turm bauen!« Aber Janosch war dennoch weiterhin sehr unruhig, wischte die Konstruktion vom Tisch. Ich begann daraufhin, ihn auf seine Angst anzusprechen und ihm ein Deutungsangebot zu machen. »Kann es sein, dass der Turm, egal wie fest und hoch du ihn baust, nie gut genug ist? Geht es dir vielleicht ähnlich wie dem Turm?« Nach meiner Einschätzung symbolisierten sich im Spielgeschehen neben seinen konstruktiven Bewältigungsversuchen sowohl Ohnmacht als auch narzisstische (Enttäuschungs-)Wut. Dies fand auch Ausdruck in seinen das Geschehen begleitenden Worten: »Ich hasse die Welt! Egal wie gut ich bin, wie sehr ich mich auch anstrenge, am Ende bin ich immer nur schlecht! Kein Wunder, dass meine Mama mich nicht wollte!« Aber er fand auch einen Weg, sich selbst zu trösteten: »Vielleicht kann ich an meinem Scheitern gar nicht so viel ändern, denn Gott bestimmt ja darüber.« In der letzten Phase der Therapie entwickelten Janosch und ich schließlich ein Abschiedsritual: Er gab mir lange die Hand, wobei er wollte, dass wir eine bestimmte Intensität des Druckes erreichten: nicht zu stark und nicht zu schwach. Diese Berührung nahm viel Zeit in Anspruch. Es dauerte oft mehrere Minuten, in denen wir voreinander standen und unseren Händedruck austarierten. Wenn wir dann die von ihm gewünschte Intensität erreicht hatten, gab er mir die Anweisung, ich solle mir diese Stärke merken und bis zum nächsten Treffen nicht vergessen. Dieser (auch im wörtlichen Sinne zu verstehende) »Handlungsdialog« war für ihn vermutlich der Gradmesser dafür, welchen
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Eindruck er in mir – und eben auch in anderen – hinterlässt und wer sich wie genau und wie lange an ihn erinnern kann (Objektkonstanz).
Begleitende Arbeit mit Bezugspersonen Wie bereits oben angedeutet, war eine intensive begleitende und aufdeckende Arbeit mit Janoschs Vater nur bedingt möglich. Dieser konnte aber allmählich mehr Verständnis für die emotionale Not seines Sohnes entwickeln. Nach eigenem Wunsch (und nicht, wie früher, aus einem Pflichtgefühl heraus) gestaltete er inzwischen gemeinsame Freizeitaktivitäten mit ihm. Er fühlte sich verantwortlicher für seine Entwicklung. Dies kam z. B. in folgenden Sätzen zum Ausdruck: »Ich möchte alles tun, dass er glücklich ist!«, »Ich muss mich gar nicht mehr zwingen, etwas mit ihm zu machen, wir beide haben einfach viel Spaß zusammen«. Trotz der eigenen Kränkungen, die er erlebt hatte, als seine Partnerin sich von ihm getrennt hatte, konnte der Vater nach und nach einsehen, dass und warum der Kontakt zur leiblichen Mutter für Janosch wichtig war. Er konnte erlauben, dass seinem Sohn die Briefe der Mutter, die sie Janosch gelegentlich schrieb, vorgelesen wurden. In Belastungssituationen fiel er allerdings oft in die alte Erlebnismuster zurück: Er versank dann phasenweise wieder in Selbstmitleid und ging emotional auf Distanz. In den Gesprächen mit Janoschs Großmutter wurde nach und nach deutlich, wie sehr ihre entschiedene Ablehnung von Janoschs Mutter geprägt waren durch eigene frühere Kindheitserfahrungen: den Tod der Mutter in früher Kindheit, die Notwendigkeit, »für sich selbst und die Geschwister Verantwortung zu übernehmen«. Eigene unverarbeitete Verlassenheitserlebnisse wurden daher oft in der Konfrontation mit Janoschs Situation wiederbelebt und auch in ihn projiziert. So bekam der Junge schon als ganz kleines Kind den unbewussten (Delegations-) Auftrag, sich stellvertretend an der »bösen Mutter« zu rächen. Im Laufe von Janoschs Therapie erkannte und akzeptierte die Großmutter allmählich sein Recht, die leibliche Mutter (so gut es unter den gegebenen Bedingungen eben ging) kennenzulernen (»Ja, es ist für ihn schon wichtig, zu wissen, dass er eine Mutter hat«), andererseits glaubte sie aber auch, sie müsse ihn »in Schutz nehmen« und ihm die Gefühle
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von Verlassenwerden ersparen. Auch von ihren entwertenden Urteilen (»Sie ist doch eine durch und durch schlechte Mutter, wenn sie ihren Sohn so verraten hat!«) konnte sie sich nie ganz lösen und begünstigte damit die Spaltung bei Janosch.
Zusammenfassende Rückschau Bei Therapiebeginn lebte der Patient in einem »vernichtenden Chaos« auf der Ebene der »psychischen Äquivalenz«. Seine Emotionen überfielen ihn, er konnte sie nicht als seine eigenen wahrnehmen. Entweder musste er seine Affekte gewaltsam per projektiver Identifikation in andere »hineinzwängen« oder er musste sie »einkapseln« (symbolisch ausgedrückt beispielsweise in der Couchszene). In der Anfangsphase ging es darum, vom Kind, das sich hinter seinem »autistischen Panzer« versteckte, erst einmal wahrgenommen zu werden. Ich wollte dem Patienten ermöglichen, »den Weg zum Leben und zu sich selbst wiederzufinden« und ihn in den menschlichen Kontakt »rückzugewinnen« (Alvarez, 2006, S. 22). Die analytische Situation wurde von mir als »ein Ort der Ortlosigkeit« (Zwiebel, 2007, S. 24) erlebt, für mich verbunden mit massiven Zweifeln an den eigenen therapeutischen Fähigkeiten. Einen Zugang zum szenischen Verständnis und zur inneren Befindlichkeit des Patienten gewann ich über eine Wahrnehmung des Geschehens, die sich weniger kognitiv, sondern mehr über sinnliche Eindrücke vollzog. Geleitet wurde ich dabei wohl auch von Alfred Adlers (1928/1982, S. 224) Aufforderung: »mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen.« In der Anfangsphase der Therapie mit Janosch waren Interventionen erforderlich, die beinhalteten, dass ich zunächst die Projektionen des Jungen aufnahm, ohne sie deutend zurückzugeben. Erst allmählich konnte ich dann seine Gefühle ansprechen, explorieren und containen, bis er allmählich fähig war, nicht nur das Verhalten der anderen und deren Macht, sondern auch die eigenen Anteile am jeweiligen Geschehen zu erkennen und die Reaktionen der Umwelt auf das eigene Verhalten zu beziehen und sich so die eigenen Anteile anzueignen (Joseph, 1988; Steiner, 1993). Diese Haltung ist verwandt mit Winnicotts Idee,
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dass ein Übergangsobjekt auf paradoxe Weise eine ganz eigene Bedeutung haben darf, ohne dass es verfrüht »wegerklärt« wird. Mit wachsender Symbolisierungsfähigkeit gelang es schließlich – auch durch das affektregulierende Potenzial von markierenden Spiegelungen und die Erschließung der Fähigkeit zum Als-ob-Spiel –, die Affekte im gemeinsamen symbolischen Spiel zum Ausdruck zu bringen, ihnen Namen zu geben und Verbindungen zu eigenen Bedürfnissen und später zu Wünschen herzustellen. Mit zunehmender Angst- und Schmerztoleranz entstand allmählich ein Dialog zwischen uns, innerhalb dessen sich Janosch als selbstwirksam wahrnehmen konnte. Im Rahmen dieses Dialoges konnte er seiner narzisstischen Kränkung und seinen intrapsychischen Konflikten Ausdruck verleihen. Allmählich konnte er auch mithilfe von Deutungen einen tieferen Zugang zu seinen Selbstwertkonflikten finden, so deren neurotische Wirkung abschwächen und damit eine Integration der abgespaltenen Selbstanteile anbahnen. Im Laufe der Therapie wandelte sich sein fiktives (Selbst-)Ideal von einem »gnadenlosen Herrscher« zu einem »gnädigen Herrscher«. Die begleitenden Gespräche mit den Bezugspersonen fanden während der gesamten Behandlung regelmäßig und zuverlässig statt. Dabei zeigten sowohl der Vater als auch die Großmutter eine ausreichend gute Motivation, sich am therapeutischen Prozess zu beteiligen, und eine Änderungsbereitschaft, die es ihnen ermöglichte, eigene Kränkungen teilweise zu überwinden, mehr Verständnis zur emotionalen Not des jungen Patienten zu entwickeln und ihm auch den Kontakt zu seiner leiblichen Mutter zu ermöglichen. Der Vater, der mir während unserer Gespräche oft seine Minderwertigkeitsgefühle zeigte, es dabei aber sichtlich zu schätzen wusste, dass ich ihm und seinen Gefühlen gegenüber nicht bewertend, sondern akzeptierend begegnete, konnte im Laufe der Zeit als wertvoller triangulierender Dritter im Familiensystem gewonnen werden. Rückblickend gelang es mir jedoch nie, die emotionale Distanz zu ihm ganz zu überbrücken. Im Laufe der Therapie verbesserte sich die eingangs beschriebene Symptomatik bei Janosch deutlich. Innerhalb der Schulklasse war es zu keinen Zusammenbrüchen mehr gekommen, und er fiel nicht mehr
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durch sein Verhalten aus dem Klassenrahmen heraus. Alle Beteiligten empfanden den Jungen als entspannter und glücklicher. Janosch war es schließlich gelungen, sich in den Klassenverband und in den Kreis der Gleichaltrigen zu integrieren.
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Menschen in der DGIP Interview1 mit Almuth Bruder-Bezzel
Unter der Überschrift »Menschen in der DGIP« werden auf den jähr lichen Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie Personen gewürdigt, die in unterschiedlichen Kontexten mit der Individualpsychologie verbunden sind. Dabei geht es bei den Vorgestellten nicht nur um deren sachliche Verdienste für die psychoanalytische Fachgesellschaft – es geht auch darum, sie als Menschen in ihren persönlichen Eigenarten, Entwicklungen und Handlungsmotiven sicht- und spürbar werden zu lassen. In der Vergangenheit wurden interviewt: Rainer Schmidt (2006), Karl Heinz Witte (2013), Ulrike Lehmkuhl, Gerd Lehmkuhl und Ronald Wiegand (2014), Ulrich Seidel und Günter Vogel (2015), Anna ZellerBreitling, Jennifer Lamberty und Stefan Nauenheim (2016), Günter Heisterkamp (2017) und Gisela Eife (2018). In diesem Jahr nun spricht Barbara Bremer mit Almuth Bruder- Bezzel, die sich neben ihrer praktischen psychotherapeutischen Tätigkeit seit den frühen 1980er Jahren in zahlreichen Veröffentlichungen mit den Originaltexten von Adler und der Geschichte der Individualpsychologie – sowohl in Österreich, besonders in Wien, als auch in Deutschland, etwa in Berlin – beschäftigt hat. Zu diesen Themen hielt sie zahlreiche Vorträge, publizierte Aufsätze und Bücher. Sie ist zudem (Mit-)Herausgeberin von 3 Bänden der Alfred Adler Studienausgabe (Bd. 1, 2, 7), (Mit-)Herausgeberin der Adler-Briefe (Bruder-Bezzel u. Lehmkuhl, 2014) und Autorin zahlreicher Zeitschriftenartikel und mehrerer Bücher. Ihre letzte Buchveröffentlichung (2019) beschäftigt sich mit Alfred Adlers Wiener Kreisen in Politik, Literatur und Psychoanalyse. 1 Leicht überarbeitete Fassung des 60-minütigen Gesprächs vom 3.11.2019.
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Seit einigen Jahren hat sich ihr Schwerpunkt verlagert auf die Analyse der Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen und psychischen Strukturen. Zu diesem Thema organisiert sie in Berlin seit einigen Jahren eine Vortragsreihe mit verschiedenen Referenten über Psychotherapie und Gesellschaft. Sie ist Mitbegründerin des Alfred Adler Institut Berlin, war dort über Jahre im Vorstand tätig und ist bis heute dort als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin aktiv. Außerdem war sie mehr als ein Jahrzehnt im Vorstand des Landesverbands Berlin-Brandenburg der DGIP und hat dort u. a. zahlreiche öffentliche Vorträge von Psychoanalytikern aller Richtungen organisiert. Sie war Vorsitzende der Arbeitsgruppe Geschichte, Mitglied der Fachgruppe Wissenschaft und Mitglied der Arbeitsgruppe Jahrestagungen (AGJ).
Die Interviewerin Barbara Bremer studierte Psychologie und war anschließend Leiterin einer Suchtklinik. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über die Bedeutung der Selbstachtung im Genesungsprozess von Alkoholikerinnen. Hier stieß sie bei theoretischen Recherchen zum ersten Mal auf Alfred Adler, dessen Theorie die Basis für ihre Überlegungen wurde. Als tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin erwarb sie die Approbation, seitdem ist sie in eigener Praxis niedergelassen. 2012 begann sie ihre Weiterbildung am Alfred Adler Institut Aachen/Köln zur analytischen Psychotherapeutin. Inzwischen ist sie dort auch als Dozentin tätig. Beim Literaturstudium begegneten ihr immer wieder Arbeiten von Almuth Bruder-Bezzel, die sie dann auch persönlich bei einem Workshop in Köln kennenlernte. Barbara Bremer: Liebe Frau Bruder-Bezzel, ich freue mich sehr, dass ich die Gelegenheit bekommen habe, Sie heute und gerade zum diesjährigen Tagungsthema – Bildung und innere Bilder – zu interviewen. In meinen Augen sind Sie nämlich so etwas wie der Prototyp einer gebildeten Frau. Dabei erlebe ich Sie gleichzeitig als leise, beharrlich und immer detailgenau. Sie sind eine klassische Humanistin, die versucht, das eigene Leben und das von Ihnen geschaffene Werk in Übereinstimmung zu bringen.
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Auch wenn ich davon ausgehe, dass die meisten Zuhörerinnen und Zuhörer hier im Raum Sie kennen, will ich doch kurz etwas Charakteristisches über Sie zitieren, einen Satz, der auf der Rückseite ihres letzten Buches (Bruder-Bezzel, 2019) abgedruckt ist: »Dr. phil. Almuth Bruder-Bezzel, Diplompsychologin und Psychoanalytikerin, arbeitet in eigener Praxis. Sie ist Mitbegründerin des Alfred-AdlerInstituts Berlin sowie Lehranalytikerin und Supervisorin. Ihre Forschung zur Geschichte der Individualpsychologie über Jahrzehnte haben das Wissen und Bild über Adler maßgeblich geprägt.« Das ist erst mal so der ganz grobe Rahmen. In einer kleinen Skizze möchte ich im Gespräch nun versuchen, Sie persönlich etwas besser kennenzulernen. Ich beginne mit der Herkunft. Wo stand ihr Elternhaus? Almuth Bruder-Bezzel: Meinen sie das eher geografisch? (Gelächter) Barbara Bremer: Sie können das ja mit einer Metapher beantworten. Aber am liebsten konkret. Almuth Bruder-Bezzel: Ich stamme aus dem schwarz-braunen Land, Bayern – aus Franken, genauer gesagt. Barbara Bremer: Was dürfen wir noch ganz skizzenhaft über ihre Eltern wissen? Es waren zwei; ein Vater und eine Mutter? Ganz skizzenhaft. Almuth Bruder-Bezzel: Ganz skizzenhaft, na ja. Jedenfalls bin ich so geboren, dass mein Vater im Krieg bzw. in Kriegsgefangenschaft war und ich zunächst ohne ihn aufgewachsen bin. Er kam erst sehr spät wieder, als ich fünf Jahre alt war. Was mir nicht besonders gut gefallen hat. Weil ich doch bis dahin seinen Platz bei meiner Mutter eingenommen hatte – den musste ich jetzt abgeben. Ansonsten stamme ich aus einer gutbürgerlichen, konservativen Familie – einer Familie und Großfamilie mit vielen Kindern. Barbara Bremer: Sie hatten also viele Geschwister. Wo stehen Sie in der Geschwisterfolge? Almuth Bruder-Bezzel: Ich bin die Vorletzte. Nachdem mein Vater aus dem Krieg zurückgekommen war, kam noch mal ein Kind. Also, in den Lehranalysen haben meine beiden Lehranalytikerinnen es schon bald aufgegeben, die Geschwisterkonstellation umfassend zu betrachten – sie haben zwar zunächst angefangen zu schreiben, aber dann haben sie das aufgegeben: Es war ihnen zu aufwändig. (Gelächter) Barbara Bremer: Könnte man sagen, Sie sind in einer Gruppe aufgewachsen?
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Almuth Bruder-Bezzel: In einer Gruppe? Na ja, die Erziehung ging tatsächlich oft mehr über die Geschwister als über die Eltern bzw. die Mutter. Und die Geschwister hatten tatsächlich einen ganz starken Einfluss, positiv wie auch negativ, auf die Normsetzungen, Haltungen, Meinungen. Meine Mutter war mit so vielen Kindern natürlich oft überfordert, und da waren die Geschwister tatsächlich diejenigen, die miterzogen. Meine älteste Schwester war die erste Stellvertreterin der Mutter, eine direkte Erzieherin oder Pflegerin, und so hat sich das weiter fortgesetzt. Barbara Bremer: Und außerhalb der Familie, wie kann ich Sie mir auf dem Schulhof vorstellen? Waren Sie da eher eine von den Lauten, waren Sie vielleicht Klassensprecherin, oder eher eine am Rande? Almuth Bruder-Bezzel: Ich habe die Schule mehrmals gewechselt, bedingt durch berufliche Ortswechsel des Vaters. Ich kam eigentlich immer sehr gut rein in die Klassengemeinschaften. Im Gymnasium war ich dann Teil einer Sechserclique – mit diesen Freundinnen treffe ich mich noch heute. Dazu muss man wissen, dass ich immer nur Mädchenschulen besucht habe. Das war damals ganz üblich, und ich fand das auch nicht ungewöhnlich. Barbara Bremer: Was waren ihre Lieblingsfächer? Almuth Bruder-Bezzel: Deutsch und Geschichte. Ich hatte damals keine guten Noten im Fach Geschichte, aber dieses Fach hat mich sehr interessiert und ich habe manchmal bedauert, dass ich es nicht studiert habe. Und auch Deutsch habe ich sehr gemocht. Aber im Übrigen war ich keine besonders gute Schülerin. Ich habe mich dann immer damit getröstet, dass auch Theodor Heuss, der erste deutsche Bundespräsident, angeblich ein miserabler Schüler war und dass trotzdem etwas aus ihm geworden ist. (Gelächter) Etwa in dem Sinne: Der Schlechteste oder die Schlechteste wird eines Tages der Beste oder die Beste werden – vielleicht damals bereits adlerianisch gedacht oder aber biblisch. Barbara Bremer: Offensichtlich hätte es also auch anders kommen können, Sie hätten auch Geschichte studieren können – wie kam es dann, dass Sie Psychologie als Studienfach gewählt haben? Almuth Bruder-Bezzel: Ich habe mich schon als Schülerin für Psychologie interessiert. Ich war ja zunächst diesbezüglich ganz ungebildet, also habe ich mir in der Bibliothek Psychologiebücher besorgt. Das
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mag auch damit zusammengehangen haben, dass ich mir im Verlauf der Pubertät viele Gedanken über mich selbst gemacht habe. In diesem Zusammenhang kann ich auch erzählen, wie ich zu Adler kam. Das hatte nämlich mit einem Konflikt zu tun, den ich mit meinem Vater hatte. In der Spätpubertät hatte auch ich, wie viele meiner Gleichaltrigen, häufiger Reibereien mit den Eltern. Während eines besonders heftigen Konflikts ging mein Vater an seinen Bücherschrank, legte mir ein Buch hin und sagte: »Lies das!« Das Buch war von Fritz Künkel2 (1932): »Die Arbeit am Charakter«. (Gelächter) Ich hab es dann tatsächlich gelesen – und sicher auch exzerpiert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damals realisierte, dass K ünkel etwas mit Adler zu tun hat, dass er sich auf ihn bezieht. Ich fand es damals sicher beeindruckend, aber ich habe es nicht geliebt und nicht befolgt – später konnte ich es kaum mehr lesen. Jedenfalls: Es könnte sein, dass ich damals, ohne es zu wissen, adlersche Gedanken aufgenommen habe. Barbara Bremer: Und später, an der Universität, haben Sie da etwas über Adler erfahren? Almuth Bruder-Bezzel: Nein, an der Uni ist er mir zunächst auch nicht begegnet. Ich habe insgesamt an drei Universitäten studiert. In der Zeit in Heidelberg hatten wir sehr gute psychoanalytische Seminare, u. a. lehrte dort Frau Lore Schacht, damals aus Frankfurt3, die uns 2 Fritz Künkel (* 6.9.1889 in Westpreußen, † 2.5.1956 in Los Angeles) war Psychiater und einer der führenden Vertreter der Individualpsychologie in Deutschland. 1924 war er an der Gründung der individualpsychologischen Ortsgruppe in Berlin beteiligt, seit 1925 Mitherausgeber der »Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie«. Bis zum Kriegsbeginn 1939 arbeitete er am Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie, das von den Nationalsozialisten übernommen wurde. Nach einer Reise in die USA 1939 kehrte er nicht mehr nach Deutschland zurück. Er begründete eine eigene Richtung der Tiefenpsychologie, die »Charakterologie«. Da sie religionsphilosophisch ausgerichtet war, kam es Anfang der dreißiger Jahre zum Bruch mit Adler. 3 Prof. Dr. Lore Schacht arbeitete als niedergelassene Psychoanalytikerin in der Umgebung von Freiburg im Breisgau. Nach einer kinderanalytischen Zusatzausbildung in London von 1970 bis 1972 war sie Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Publikationen von ihr gibt es in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache. Sie war als Mitorganisatorin zweier internationaler psychoanalytischer Kongresse tätig,
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Studierenden in ihren Seminaren vieles über die Psychoanalyse beibrachte. Ich hatte über viele Semester hinweg einen Kurs belegt – das war keine Pflichtveranstaltung – in dem ich viel über Freud und seine Theorien erfahren habe. Ebenso viele Semester lang habe ich mich auch mit dem Rohrschach-Test beschäftigt, einem projektiven Verfahren, das auf psychoanalytischen Grundannahmen basiert. Ich selbst schrieb dann meine Diplomarbeit über das Thema »Sozialistische Erziehung in Deutschland und Österreich«. Erziehung in Österreich und Wien – bei diesem Thema kam ich natürlich nicht an Adler vorbei. Aber zu diesem Zeitpunkt hat er mich noch nicht so sehr angezogen, das kam erst später, als ich in einem Kinderheim arbeitete. Hier erschien mir Adler realitätsangemessener als Freud. Da habe ich mich dann näher und genauer mit Adler beschäftigt und angefangen, seine Texte zu lesen. Ich interessierte mich ohnehin für Wien und für die Ereignisse dort um die Jahrhundertwende. Mir wurde klar, dass es nahelag, Adler in diesen historischen Zusammenhängen zu sehen, ihn und sein Leben auch aus der Geschichte Wiens heraus zu verstehen. Ich beschloss, darüber zu promovieren. Im Zuge meiner Recherchen fuhr ich dann einmal nach Delmenhorst, um im dortigen Adler Institut noch weitere Schriften von Adler zu finden. Ich begegnete hier Thea Ahrens4 – die Älteren unter ihnen werden sie vielleicht noch kennen – und erzählte ihr, dass ich in der Bibliothek die Schriften, die ich suchte, nicht gefunden hätte. Zu meinem Erstaunen kannte sie die Publikationen, die ich suchte, gar nicht. Aber, statt das groß zu bedauern, sagte sie zu mir: »Hm, so …, dann wollen sie also der Wissenschaft dienen und nicht den Menschen.« (Gelächter) Das gab mir zu denken. Barbara Bremer: Und dann haben Sie schließlich eine adlerianische Ausbildung gemacht? lange Jahre Präsidentin der Sigmund Freud-Stiftung, Mitherausgeberin des Jahrbuchs für Psychoanalyse und von 1990 bis 1992 Vorsitzende der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. 4 Thea Ahrens, langjährige Vorsitzende des Alfred Adler Institus Nord und Leiterin der Delmenhorster Fortbildungstage, die später »Jahrestage der DGIP« genannt wurden. Sie war Mitbegründerin der Alfred Adler Gesellschaft (seit 1970 DGIP).
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Almuth Bruder-Bezzel: Ja, und tatsächlich in Delmenhorst. Damals gab es in Berlin noch kein Institut, sodass wir Berliner für den theoretischen Teil der Ausbildung an Wochenenden nach Delmenhorst fahren mussten. Barbara Bremer: Dann machen wir jetzt mal einen Sprung. Was mich auch sehr interessiert, wie war das mit der Institutsgründung in Berlin? Was dürfen wir darüber wissen? Almuth Bruder-Bezzel: Die Gründung hing eng mit der »Wende« 1989 zusammen. Ich selbst erlebte den »Mauerfall« in der Nacht vom 9. November auf der Autobahn, auf der Heimfahrt vom Examen in Delmenhorst. Wir, einige Dozenten und (frisch) Approbierte hatten nun die Idee, ein Adler Institut in Berlin zu gründen, eventuell unter Einbezug von Ost-Kolleginnen und -Kollegen. Frau Dr. med. Karin Kutscher, Dozentin und Lehranalytikerin, war dabei die treibende und organisierende Kraft – für eine sehr lange Zeit. Barbara Bremer: Wie viele Adler Institute gab es seinerzeit denn schon in Deutschland? Almuth Bruder-Bezzel: Zu diesem Zeitpunkt: Delmenhorst, Düsseldorf, Aachen-Köln und München, danach Berlin und Mainz. Barbara Bremer: Wie waren Sie denn überhaupt nach Berlin gekommen? Almuth Bruder-Bezzel: Tatsächlich war Berlin schon immer mein Ziel gewesen, ich konnte das aber erst längere Zeit nach Abschluss meines Studiums realisieren. Ich fand da dann tatsächlich eine Stelle an der Universität: eine befristete Fünfjahresstelle. Also sind wir, mein Mann – Klaus-Jürgen Bruder5 – und ich, dorthin umgezogen. Von Hannover nach Berlin. Barbara Bremer: Was ist Ihr Lieblingsort: das Behandlungszimmer, der Schreibtisch, die Institutskonferenz? Almuth Bruder-Bezzel: Nun ja, an Institutskonferenzen habe ich tatsächlich früher oft teilgenommen – ich war ja auch lange im Institutsvorstand – aber ein Lieblingsort war das nie. Am Schreibtisch 5 Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder ist Psychologe und Psychoanalytiker (DGIP), arbeitet in freier Praxis. Seit 1971 ist er Hochschullehrer, zunächst in Frankfurt am Main, dann in Hannover und seit 1992 an der Freien Universität Berlin. Er ist Vorsitzender der »Neuen Gesellschaft für Psychologie. Gesellschaft für Theorie und Praxis der Sozialwissenschaften«.
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sitze ich tatsächlich gerne, weil ich gern wissenschaftlich arbeite und auch gerne schreibe. Und auch auf die Patientenarbeit möchte ich nicht verzichten, das mache ich sehr gerne, und deshalb halte ich mich auch gern im Behandlungszimmer auf. Barbara Bremer: Könnten Sie sagen, wie viel Raum das Schreiben einnimmt, neben den Behandlungen? Und wann schreiben Sie: an Wochenenden oder …? Almuth Bruder-Bezzel: Mit dem Älterwerden hat sich das verändert. Früher habe ich tatsächlich viel abends und nachts und an Wochenenden geschrieben. Jetzt schreibe und lese ich tagsüber und an Wochenenden. Aber ich schreibe insgesamt inzwischen nicht mehr so viel wie früher. Allerdings suche ich mir auch heute gerne immer wieder neue Themen, die ich bearbeite, zurzeit beschäftigt mich sehr die Rechtsentwicklung und auch die Frauenfrage. Barbara Bremer: Gibt es denn in Ihrem Leben überhaupt noch psychoanalysefreie Räume? Sie sind ja im Gespräch mit Psychoanalytikern, sie schreiben psychoanalytisch, sie behandeln psychoanalytisch. Gibt es da noch eine freie Zone? Almuth Bruder-Bezzel: Na klar! Barbara Bremer: Dürfen wir wissen, was da passiert? Almuth Bruder-Bezzel: Zum Beispiel gibt es die Küche. (Gelächter) Wollen Sie noch mehr wissen? Barbara Bremer: Ja, gerne, wenn ich es wissen darf! Almuth Bruder-Bezzel: Neben der Küche gibt es Theater oder Besuche von Kunstausstellungen, Kunst, Architektur, sehr stark auch Politik und Geschichte und die subjektiven Zusammenhänge mit der Gesellschaft. Und im Urlaub bewege ich mich gerne. Urlaub heißt für mich immer aktiver Urlaub, meistens Wandern oder Fahrrad fahren oder Stadtbesichtigungen. Außerdem gibt es noch die Musik. Mein Mann und ich musizieren zu Hause oft zusammen, am liebsten täglich. Barbara Bremer: Jetzt würde ich natürlich gerne wissen, welches In strument Sie spielen. Almuth Bruder-Bezzel: Ich spiele Flöte und mein Mann begleitet mich auf dem Spinett, Musik aus dem Barock. Das gehört sozusagen zum täglichen Ritual. Barbara Bremer: Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Alfred Adler persönlich zu begegnen, worüber würden Sie mit ihm sprechen wollen?
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Almuth Bruder-Bezzel: Hm, was soll ich denn dazu jetzt sagen? Also, mit Adler ist man ja nie ganz zufrieden oder nie fertig. Ich glaube, ich habe ihn im Laufe meines Lebens besser kennengelernt, aber ich denke oft nicht so wie er. Ich finde bei ihm grundlegende Gedanken und auch Grundbegriffe, die ich im Laufe meines Lebens mehr und mehr verstanden habe und wertvoll finde. Vieles finde ich da grundlegend und auch seine Kritik an der freudschen Psychoanalyse ist aus meiner Sicht sehr wichtig, ebenso wie die Betonung des Sozialen und vor allem die Abkehr von der Triebpsychologie. Dass er anders als Freud den Menschen nicht als determiniertes Wesen ansieht und stattdessen das Intentionale betont hat und vor allem: die schöpferische Kraft, das finde ich bedeutsam. Ich sehe den Menschen nicht als einen, der durch seine Triebe passiv bestimmt wird, nicht als Getriebenen. Bedeutsamer ist, dass er Ziele verfolgt, nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst. Unbewusst Ziele in der Bewältigung der Lebenslage zu verfolgen, ist nämlich ganz wichtig, so dass wir Produkt und Produzent unserer selbst, Künstler und Kunstwerk – wie Adler das ausdrückt – sind. Allerdings: Ich finde Adler zum Lesen mitunter eine ziemliche Zumutung. Oft muss ich mich in seine Texte richtig hineinknien, um sie zu verstehen. Außerdem präferiere ich den frühen Adler, also seine frühen Texte, die ja teilweise noch aus der Zeit stammen, als er eng mit Freud zusammengearbeitet hat. Ich denke, in dieser Phase war er am kreativsten. Später ist er nach meiner Einschätzung mehr und mehr abgeglitten ins Weltanschauliche, benutzte etwa einen eher etwas verschwommenen Begriff von Humanismus oder Sozialismus. Ich gehöre ja zu denen, die gerade diesen Teil seiner Lehre, die soziale und sozialistische Orientierung, hochhält. Adler selbst hat aber diese Bezüge im Laufe seines Lebens immer mehr verwischt, entwickelte in vielen Dingen zunehmend konservative Gedanken. Nehmen wir etwa seine Haltung und Stellung zu Frauen: die war in der Anfangszeit ganz auf der Seite der Frauenbewegung, die ja um 1900 herum, auch in Wien, immer mehr erstarkte. Im Unterschied zu Freud und seinen Anhängern stand er ganz auf der Seite der Frauenbewegung. Damals und in diesem Zusammenhang machte er ja den von ihm entwickelten und verwendeten Begriff
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des »männlichen Protests« zu einem Kernpunkt seiner Erklärungsansätze. Auch wenn der Begriff etwas schwierig ist und leicht missverstanden werden kann, so ist Adlers Position in dieser Frage auf jeden Fall eine progressive Position. Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass er diese Position ganz verlassen hat, aber in späteren Zeiten glitt er dann doch immer mehr ins Konservative ab: Sein Frauenbild wurde eher zum Bild der Frau als Mutter. Insgesamt also finde ich Adlertexte eher schwer zu lesen. Manche Texte, zum Beispiel sein Buch »Menschenkenntnis«, ist mir inzwischen lieber als andere. Aber natürlich ist die Bedeutung des Sozialen, die Betonung, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, von enormer Wichtigkeit. Wie wir das gestern ja auch bei dem Vortrag von Verena Ackermann-Arslan und Emre Arslan6 gehört haben: Die Soziologie, die soziale Einbindung des Menschen und damit auch unserer Patienten: Das zu beachten, ist eigentlich so etwas wie unser tägliches Brot. Barbara Bremer: Sie haben sich ja in diesem und in vielen anderen Punkten einen sehr kritischen Blick erhalten. Wie schützen sie sich davor, die Welt als Feindesland zu erleben? Almuth Bruder-Bezzel: Ich sehe die Welt nicht so sehr als Feindesland, aber es ist natürlich wahr, dass ich einen dezidiert kritischen Blick auf diese Gesellschaft, den Kapitalismus und seine vielen negativen sozialen Auswirkungen habe. Jean Ziegler nennt den Kapitalismus »kannibalische Weltordnung«, der Papst sagt: »Kapitalismus tötet.« Wenn ich meine Ansichten und Meinung offen – und manchmal vielleicht auch radikal oder konsequent – vertrete, kann ich schon in die Gefahr geraten, isoliert zu werden. Ich denke, dieser Gefahr kann ich entgegenwirken, indem ich einerseits den Austausch und das Zusammensein mit ähnlich denkenden Menschen suche und pflege, und mich andererseits mit Andersdenkenden auseinandersetze. Aber ich will auch sagen, dass ich bei aller Kritik am Bestehenden trotzdem das Leben genieße. Barbara Bremer: Das ist ja eine Antwort! Für Alfred Adler waren ja Lebenslinien und Ziele von großer Bedeutung. Wie würden Sie Ihre Ziele beschreiben? 6 Siehe den Beitrag der beiden Autoren auf Seite 96 in diesem Band.
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Almuth Bruder-Bezzel: Meine bewussten Ziele, vielleicht auch so etwas wie ein Ideal von mir könnte man mit Worten beschreiben, die Ernst Bloch7 in den Mittelpunkt seiner philosophischen Betrachtungen gerückt und die er mit dem Begriff des »aufrechten Gangs« benannt hat. Einem solchen Ideal nahe zu kommen, ist immer wieder schwer, für mich jedenfalls. Barbara Bremer: Sagen Sie gerne mehr dazu! Almuth Bruder-Bezzel: Das Bild vom aufrechten Gang ist einfach ein Bild – ein äußeres und inneres! Aber wenn Sie eine Konkretisierung wollen: mutig auftreten, für das einstehen, was man denkt und fühlt, auf der Seite der Unterdrückten, der Menschenwürde. Hanna Marx8 sagte gestern nach einem Vortrag zur Referentin: »Bleiben Sie so, wie Sie sind!« Das war ein Ausdruck von Wertschätzung, auch wenn es nicht bedeutet, dass man eigene Irrtümer nicht korrigieren sollte und sich nicht trotzdem verändern und entwickeln darf und soll. Barbara Bremer: Was mich jetzt und darüber hinaus aber auch noch interessiert, ist die Frage: Wie halten Sie es mit dem Unbewussten, welche Vorstellung haben Sie davon, welche Bedeutung messen Sie ihm bei? Adler hatte diesbezüglich ja recht andere Auffassungen und Vorstellungen als Freud. Wie wichtig ist Ihnen das Unbewusste, in Ihren theoretischen Auffassungen und in der praktischen psychotherapeutischen Behandlung? Almuth Bruder-Bezzel: Ich hab darüber geschrieben (Bruder-Bezzel, 2005) und habe auch Vorträge darüber gehalten. Es hält sich aber als Vorurteil hartnäckig, bei Adler gäbe es kein Unbewusstes. Das gibt es sehr wohl, aber das ist natürlich nicht das Gleiche wie bei Freud.
7 Ernst Bloch (* 8.7.1885 in Ludwigshafen, † 4.8.1977 in Tübingen) war ein deutscher Philosoph, der sich in die Tradition der Schriften von Karl Marx stellte und heute dem Neomarxismus zugeordnet wird. Von ihm wird häufig der Satz zitiert: »Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen; so schwer ist der aufrechte Gang.« 8 Dr. med. Hanna Marx ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytikerin; in privater Praxis und als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin (DGIP) am Alfred Adler Institut AachenKöln tätig. Sie leitete dieses Institut lange Jahre. Seit 2016 ist sie die 1. Vorsitzende der DGIP.
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Ein großer Teil dieses Lebens geschieht also im Unbewussten, und das sah Adler genauso. Nur ist es anders konzipiert. Barbara Bremer: Das hab ich auch soweit verstanden. Spielt das eine große Rolle in Ihrem Denken? Oder sind Ihnen andere Grundideen von Adler wichtiger, das haben Sie ja eben angedeutet. Wohin rutscht dann das Unbewusste, wenn das Soziale besonders bedeutungsvoll ist? Almuth Bruder-Bezzel: Ich verstehe alle Begriffe Adlers als unbewusst wirkende Phänomene. Schöpferische Kraft oder die Dialektik der Minderwertigkeitskompensation, das Wirken des Lebensstils – diese Prozesse laufen unbewusst ab. Natürlich gibt es davon auch einen bewussten Anteil, kann ich auch bewusst von einem Minderwertigkeitsgefühl wissen. Aber wie heißt es bei Adler? »Ich weiß mehr, als mir bewusst ist.«. Also das Unbewusste ist noch eine andere Ebene. Und von daher ist es die Begleitung aller Begriffe. Barbara Bremer: Es ist halt da. Almuth Bruder-Bezzel: Ja, es wirkt. Es wirkt, auch wenn wir es nicht sehen und wenn wir es nicht wirklich begreifen würden. Barbara Bremer: Was glauben Sie, ist die Quelle Ihrer Beharrlichkeit? Sie verfolgen ja bestimmte Gedanken schon sehr lange. Sie bleiben interessiert. Das ist ja zu spüren. Wie kommt das, dass Sie sich nicht – keinesfalls – zu langweilen scheinen mit kontinuierlichen Themen? Almuth Bruder-Bezzel: Eine Antwort wäre: Weil ich es immer wieder infrage stelle oder denke: »Ich hab es noch nicht wirklich und vollständig begriffen.« Was ja auch stimmt irgendwo. Es haben sich aber auch immer wieder neue Fragestellungen, neue Zusammenhänge ergeben. Barbara Bremer: Ein lustvolles: »Ich hab’s noch nicht begriffen«, nicht ein Sich-Kleinmachen. Almuth Bruder-Bezzel: Ja, das ist eine Mischung. Und man entdeckt ja dabei immer wieder Neues. Ich meine, natürlich ist es ein bisschen absurd, mein halbes Leben habe ich mit Adler verbracht – könnte man auch karikieren. (Gelächter) Barbara Bremer: Das kann man auch sein lassen. Almuth Bruder-Bezzel: Man entdeckt ja immer wieder Neues bei Adler oder in seinem Umfeld. Ich beschäftige mich derzeit intensiver mit dem Umfeld, wovon ja auch mein letztes Buch über Adlers Wiener
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Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse (Bruder-Bezzel, 2019) handelt. Die Beziehungen zu Otto Gross oder zu anderen z. B., die man meines Erachtens nie genügend beachtet und gewürdigt hat. Otto Gross etwa war ja einer der kritischen Psychoanalytiker, der – wenn er überhaupt beachtet wird – viel zu einseitig von freudianisch orientierten Kollegen vereinnahmt wird. In einschlägigen Fachkreisen zu sagen: »Gross hatte doch auch einen Bezug zu Adler, er hat sich auch mit ihm auseinandergesetzt«, das ist schon ziemlich riskant (Bruder-Bezzel, 2019). Man stößt ja mit Adler ständig an. Das ging mir von Anfang an so, auch bei meiner Dissertation (BruderBezzel, 1983). Schon damals hatte ich mit Freudianern zu kämpfen. Für viele war Adler so etwas wie ein Schmuddelkind, in dieser Community stößt man immer wieder auf Widerstand. Das begleitet mich von Anfang an – vielleicht ist das auch ein Teil der Antwort darauf: Warum diese Beharrlichkeit, sich um Adler zu kümmern? Barbara Bremer: Was war das Thema Ihrer Dissertation? Almuth Bruder-Bezzel: Ja, das Thema lautete: »Alfred Adler. Die Entstehungsgeschichte einer Theorie im historischen Milieu Wiens« (Bruder-Bezzel, 1983). Es war der Versuch, Adler auf dem Hintergrund der Zeitumstände und des Ortes, an dem er damals gelebt hat, zu begreifen. Mit meinem heutigen Wissen würde ich sagen, dieses Begreifen war sehr vorläufig. Aber die Arbeit an diesem Thema war damals für mich neu und spannend, und sie war für die AdlerLiteratur ebenso neu und sorgte deshalb bei Adlerianern für ein gewisses Aufsehen – aber auch, weil ich von außen kam. Ich habe versucht, die verschiedenen Wurzeln und Zweige, aus denen sich Adlers Wissen speiste, vor allem die Sozialmedizin und die Triebpsychologie, zu verbinden mit den politischen Umständen damals in Wien. Aber, damals an der Universität in Hannover, wo ich die Arbeit einreichte, waren die Lehrenden sehr am Denken der Frankfurter Schule und Freud orientiert, und ich bekam dort dementsprechend wenig positive Resonanz. Barbara Bremer: Welche Autoren oder Autorinnen hätten sie verführen können, Adler mal beiseitezulegen? Und wer fasziniert Sie außer ihm noch? Almuth Bruder-Bezzel: Heinz Kohut, dann die Intersubjektiven. Kohut interessiert mich sehr, vor allem in seiner therapeutischen Praxis,
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denn er hat eine andere psychoanalytische Haltung als viele freudianisch orientierte Kolleginnen und Kollegen. Die Selbstpsychologie als Metatheorie interessiert mich weniger, aber doch Konzepte wie die des Selbstobjekts, des Narzissmus, der Übertragung. Seine Haltung, die finde ich ganz großartig, das Konzept der stellvertretenden Introspektion und die Betonung der Bedeutung der Empathie. Es ist weniger die Gesamtheit der verwendeten Begriffe, vielmehr ist es eben die Grundeinstellung, dass nicht ich als Therapeutin das Wissen habe, sondern letztlich die Patientin oder der Patient. Schon die Idee oder die Überzeugung, dass das, was wir Widerstand nennen, zum Teil durch den Therapeuten produziert wird – nicht vollständig, aber doch zum Teil – das finde ich überzeugend. Die Patienten sind ernst zu nehmen mit dem, was sie einbringen, in den ihnen eigenen Vorstellungen – hiermit muss und will ich als Therapeutin arbeiten. Nicht Hypothesen oder Deutungen überstülpen, nicht belehren, besser wissen wollen. Nein: Die gewährende, empathische Haltung, auf die kommt es an. Und diese Grundhaltung passt natürlich gut zu Adlers Haltung. Zugegebenermaßen ist Adlers Haltung zum Teil manchmal fürchterlich pädagogisch, erzieherisch, sogar belehrend. Es gibt aber auch den »anderen Adler«, der uns auffordert, sich dem Fluss des Patienten zu überlassen. Wenn wir an den von ihm häufig zitierten Satz denken: »Mit den Augen des Anderen sehen, mit den Ohren des Anderen sehen, mit dem Herzen des Anderen fühlen« (zit. nach DGIP-Website), dann ist das mit Kohut außerordentlich kompatibel. Und auch die Hervorhebung der grundlegenden Bedeutung des Minderwertigkeitsgefühls, die damit in Verbindung stehenden Kompensationsbemühungen, darin steckt ein Narzissmus-Konzept, das eben nicht nur pathologisch ist – und mit Kohut kompatibel ist. Barbara Bremer: Lässt sich das nicht auch auf das Thema Geschwister beziehen? Dass eine oder einer nicht unendlich klüger ist als der andere, sondern dass man besser gemeinsam im Schulterschluss sucht? Wie geht das mit dem Verstehen, welche Rolle spielen dabei die Peers? Almuth Bruder-Bezzel: Ja, das kann man vielleicht durchaus auch so sehen, diese Analogie kann man ziehen. Ich habe ja in meiner Entwicklung tatsächlich erfahren, dass die Eltern allein nicht das Entscheidende sind. Man muss ja die Rolle der Eltern nicht kleinre-
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den – natürlich sind sie sehr wichtig –, aber außer ihnen gibt es noch andere und durchaus wichtige Menschen. Das gesamte soziale Umfeld und die Lebensbedingungen sind von großer Bedeutung. Barbara Bremer: In den vergangenen Jahren wurden in die Interviews mit den Menschen, die eine besondere Bedeutung für die DGIP haben, von einem bestimmten Punkt an auch für Fragen und Kommentare des Publikums einbezogen. Also frage ich nun: Was wollten Sie Frau Dr. Almuth Bruder-Bezzel schon immer fragen? Jetzt haben Sie vielleicht die Chance, Antwort zu bekommen. Hanna Marx (Köln): Ich wollte Sie nicht etwas fragen, sondern Ihnen etwas sagen, wenn ich es darf. Also, ich weiß, dass ich am Ende meiner Ausbildung am Alfred Adler Institut Aachen-Köln das Institut sehr mochte und mich sehr verbunden fühlte. Aber dann passierte noch etwas. Ich habe nämlich Ihren Artikel in der Zeitschrift gelesen über Ihre Arbeit mit Patienten aus prekären Verhältnissen (Bruder-Bezzel, 2008) oder mit Menschen, die in prekäre Verhältnisse gekommen sind. Ich las die Fallvignetten und lernte Ihre Sicht auf das Thema kennen und da hat es bei mir »Bäm!« gemacht – und ich hab dann die Individualpsychologie noch mehr geliebt. Und das haben Sie bewirkt. Almuth Bruder-Bezzel: Also – vielen Dank! Aber ich wundere mich. Sie kannten doch die Individualpsychologie, wieso war es dann für Sie so außergewöhnlich? Hanna Marx: Na – wegen Ihnen. Almuth Bruder-Bezzel: Ja, aber … Hanna Marx: Weil Sie das so beeindruckend beschrieben haben. Und weil Ihre Haltung für mich so beeindruckend war, dieses sich Hingeben an die Behandlung von Menschen, die am Rande stehen, das Verständnis für genau diese Gruppe zu haben und zugleich Psychoanalytikerin zu sein. Das war für mich der »Now-Moment«. Almuth Bruder-Bezzel: Ja, so etwas kann man manchmal vielleicht auch gar nicht so genau erklären. Michael Brand (Frankfurt): Ja, liebe Almuth, als du eben von dem Buch erzählt hast, das dein Vater dir zum Lesen empfohlen hatte, war das für mich frappierend. Auch mein allererstes Buch, das mich zu Adler geführt hat, war Künkels »Die Arbeit am Charakter« (1932). Ich habe es, als ich etwa 18 Jahre alt war, zufällig in der Stadtbibliothek ent-
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deckt. Damals war ich wohl sehr mit mir selbst beschäftigt, mit der Frage, was wohl so aus mir werden soll und würde. Dieses Buch wurde dann für mich zu so einer Art Bibel. […] Ich habe dann alles von Künkel gekauft, ausgeliehen oder kopiert, was ich bekommen konnte. In dieser Zeit war ich von seiner Art, zu denken, richtiggehend affiziert. Von dieser Begeisterung bin ich erst viel später wieder losgekommen, nämlich durch Auseinandersetzungen in den politischen Gruppen in den siebziger Jahren, Auseinandersetzungen, die für mich damals durchaus auch kränkend und schmerzhaft waren, weil ich dort erfuhr, wie nahe Künkel der Naziideologie stand. Du hast eben gesagt: »Ich konnte ihn dann einfach irgendwann nicht mehr lesen.« Bei mir war das ähnlich, aber nicht ganz so: Wenn ich nämlich hin und wieder doch noch einmal in seine Texte hineingeschaut habe, merkte ich, dass da doch immer noch etwas war oder ist, das mich berührt. Wie hast du das hingekriegt? Almuth Bruder-Bezzel: Gut – ich habe Künkel damals und auch später schon sehr gründlich gelesen, obwohl ich zunächst nicht viel von ihm und seiner Beziehung zu den damals herrschenden Ideologien wusste. Aus meiner heutigen Sicht muss man schon sagen, dass er politisch im schwarz-braunen Lager stand – obwohl er sich da auch versteckt. Was für manche vielleicht faszinierend ist, mich persönlich aber ziemlich abstößt, ist aber sein ausgeprägter Hang zu einer bestimmten Form von Systematik, die man auch Schubladendenken nennen kann. Ich finde, er hat durchaus oft gute Gedanken und auch ein Gespür für die Einheit der Person, aber dieses sture Denken, diese Systematik, das überzeugt mich überhaupt nicht. Seine Sprache ist hölzern, er ist moralisierend, belehrend. Er ist zudem evangelischtheologisch orientiert und war bei Pfarrern deshalb beliebt. Künkel als Person hat eine große Rolle gespielt damals in Berlin, auch in der Auseinandersetzung mit Manès Sperber9, mit dem er sich trotz der 9 Manès Sperber (1905–1984), ein früher Schüler und Mitarbeiter Alfred Adlers, zog 1927 auf dessen Anregung nach Berlin. Er trat der KPD bei. In der »Berliner Gesellschaft für Individualpsychologie« hielt er Vorträge und Ausbildungslehrgänge. Daneben war er für die Berliner »Zentrale für Wohlfahrtspflege« tätig und lehrte an mehreren Fachschulen, die Fürsorger und Sozialpädagogen ausbildeten. 1932 kam es zum Bruch zwischen ihm und Adler wegen Meinungsverschiedenheiten über die Verbindung von Individualpsychologie und Marxismus.
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grundlegenden politischen Differenzen persönlich offenbar ganz gut verstanden hat. Künkel scheint auch relativ tolerant gewesen zu sein. Interessanterweise hat er sich ja 1939 abgesetzt und ist einfach von einer Amerikareise nicht wieder zurückgekommen. Das finde ich schon interessant, weiß aber über die tieferen Gründe nichts. Einige haben wohl vermutet, dass er sich absetzen wollte von den Nazis. Manfred Gehringer (München): Ich habe noch eine Frage, die mit Berlin zu tun hat, wo du ja schon recht lange lebst. Ich bin durch Josef Rattner10, der ja ab 1968 in Berlin tätig war, zur Individualpsychologie gekommen. Ich fand als Jugendlicher Rattners Bücher ganz toll und deshalb möchte ich dich fragen, ob du weißt, wie es zu dem Bruch zwischen Rattner und anderen Adlerianern bzw. der DGIP kam. Almuth Bruder-Bezzel: In dieser Zeit war ich noch nicht in Berlin, aber ich kannte Rattner ein bisschen, habe mich aber zu ihm letztlich nicht hinbewegen wollen. Einmal wollte ich an seinem Institut ein Seminar besuchen, um ein bisschen in diese Gruppe hineinzuschnuppern. Als ich hinging, sah ich als Erstes, dass im Treppenhaus ganz groß stand: »Kaugummi kauen verboten«. Da habe ich auf dem Absatz kehrtgemacht. (Gelächter) Rauchen – damals haben ja eigentlich noch fast alle geraucht – war sowieso untersagt, das war mir schon klar, aber Kaugummi kauen verboten?! Da dachte ich: Nee, das ist für mich nicht die richtige Firma. (Gelächter) Rattner war damals auch mit Delmenhorst verbunden und einige Berliner IP-Mitglieder kommen auch aus dieser Richtung. Es gab Kontakte auch von Sigrun Koch11 zu Rattner – zumindest wurde mir 10 Josef Rattner (* 4.4.1928 in Wien) ist ein österreichischer Psychotherapeut, promovierter Philosoph und Mediziner sowie Autor. 1968 ging Rattner nach Westberlin. Dort gründete er den »Arbeitskreis für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie« und Anfang der 1970er Jahre das gleichnamige Institut, wo er seine Vorstellungen von einer »Verstehenden Tiefenpsychologie« sowie der Therapie von Großgruppen umsetzte. In den mehrmals wöchentlich stattfindenden, öffentlich zugänglichen Therapien und Schulungen wurden in der Gruppe über die Probleme jeweils einer Person diskutiert. Ziel der von ihm konzipierten Therapie ist neben der Vergrößerung von Selbst- und Menschenkenntnis auch der Erwerb kulturgeschichtlicher Kenntnisse. 11 Dr. med. Sigrun Koch, Psychiaterin, Mitbegründerin der Alfred Adler Gesellschaft (seit 1970 DGIP), Dozentin, Lehranalytikerin in Delmenhorst und Berlin.
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das seinerzeit erzählt. Soweit ich weiß, lehrte er auch in Delmenhorst, ich weiß hier aber nichts Genaues. Thea Ahrens und Sigrun Koch haben wohl sinngemäß geäußert, Rattner wolle sich in der individualpsychologischen Bewegung »zum Herren machen«. Das konnten und wollten die beiden nicht akzeptieren oder gar unterstützen. Es könnte aber auch sein, dass es dabei – wie so oft in der Geschichte der Individualpsychologie – auch um weltanschauliche und politische Fragen ging. Vielleicht war Rattner ihnen zu links, immerhin – und das ist wahrscheinlich kein Geheimnis – waren die führenden Personen in Delmenhorst eher konservativ. Aber für viele andere hatten Rattner und seine Anhänger, die ganze Gemeinschaft, die sich um ihn herum gebildet hatte, etwas Faszinierendes und auch Emanzipatorisches – wenn das am Ende für viele auch zu sehr ins Guruhafte abdriftete. Gerhard Baumer (Berlin): Hierzu kann ich vielleicht etwas sagen. Ich war lange bei Rattner. Aus meiner Sicht war das in den siebziger Jahren eine sehr lebendige Bewegung. Ja, sie war linksorientiert und in ihr gab es sehr viele auch praktische soziale Elemente: Aktivitäten in der Erwachsenenbildung – z. B. wurden Einzelne auf das Begabtenabitur vorbereitet –, es gab viel Unterstützung untereinander, ein reiches Gemeinschaftsleben. Aber als wir älter, erfahrener und erwachsener wurden – einige studierten z. B. Psychologie –, da wurde es schwierig mit Rattner. Es gelang ihm kaum, andere als gleichwertige Kollegen zu begreifen. Und so kam es, dass einige von ihm weggegangen sind. Rattner selbst war aber immer wieder in Delmenhorst gewesen und war dort als jemand aufgetreten, der überzeugt davon war, dass er derjenige sei, der Adler wirklich versteht und der den Eindruck erweckte, dass man den Delmenhorstern noch Einiges über ihn beibringen müsste. Solch eine Haltung hatte er nicht nur gegenüber Delmenhorst, sondern auch gegenüber anderen. Er fühlte sich immer als etwas Besseres. Damit hat er sich auch isoliert und die von ihm initiierte Bewegung trug immer mehr guruhafte Züge. Aber das war eine lange Entwicklung, und irgendwann war dann der Bruch da. Almuth Bruder-Bezzel: Tatsächlich hatten wir es auf diesem Hintergrund bei der Institutsgründung in Berlin nicht leicht, Rattner hatte bei Analytikern ja kein gutes Ansehen. Berliner Individualpsychologen kamen
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damals schnell in den Verdacht, aus der Rattnergruppe zu kommen und wurden dementsprechend kritisch beäugt, und die Rattner-Orientierten wiederum waren uns und mir gegenüber alles andere als aufgeschlossen, weil ich – wir haben ja gerade gehört, welche Überzeugungen da vorherrschten – »natürlich« den Adler nicht begriffen hatte. (Lachen) Hanna Marx (Köln): Ich habe noch eine Frage: Man nennt Sie oft das politische Gewissen der Individualpsychologie, zumindest hier in Deutschland. Wie fühlen Sie sich in dieser Rolle? Almuth Bruder-Bezzel: Das ist schon etwas zwiespältig. Es wäre mir lieber, ich wäre da mehr mit anderen verbunden, ich wäre nicht das einzige politische Gewissen – und ich bin es natürlich auch nicht. Aber andererseits ehrt es mich auch, diesen Ruf zu haben. Barbara Bremer: Liebe Frau Bruder-Bezzel, ich danke Ihnen sehr für diese Worte und für das ganze Gespräch!
Literatur Adler, A. (1904–1912/2007). Persönlichkeit und neurotische Entwicklung. Hrsg. von A. Bruder-Bezzel (Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 1). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (1912/2008). Über den nervösen Charakter. Hrsg. von K.-H. Witte, A. Bruder-Bezzel, R. Kühn (Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 2). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (1897–1937/2009). Gesellschaft und Kultur (1897–1937). Hrsg. von A. Bruder-Bezzel (Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 7). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bruder-Bezzel, A. (1983). Alfred Adler. Die Entstehungsgeschichte einer Theorie im historischen Milieu Wiens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bruder-Bezzel, A. (1991/1999). Geschichte der Individualpsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bruder-Bezzel, A. (2005). Die Einheit von bewusst und unbewusst in der Theorie von Alfred Adler. In M. Buchholz, G. Gödde (Hrsg.), Macht und Dynamik des Unbewussten. Bd. I (S. 361–382). Gießen: Psychosozial-Verlag. Bruder-Bezzel, A. (2008). Prekarisierung unserer Lebensverhältnisse. Die veränderten Bedingungen von Identität und Psychotherapie. Zeitschrift für Individualpsychologie, 32 (3), 316–331. Bruder-Bezzel, A. (Hrsg.) (2014). Individualpsychologie in Berlin. Eine historische Spurensuche. Gießen: Psychosozial-Verlag. Bruder-Bezzel, A. (2019a). Die Macht der Ohnmächtigen. Der Aufstieg des Rechtspopulismus aus der Politik der Mitte. Zeitschrift für Individualpsychologie, 44 (2), 110–123.
Menschen in der DGIP317 Bruder-Bezzel, A. (2019b). Alfred Adlers Wiener Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse. Beiträge zur Geschichte der Individualpsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bruder-Bezzel, A., Bruder, K.-J. (2004). Kreativität und Determination. Studien zu Nietzsche, Freud und Adler. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bruder-Bezzel, A., Lehmkuhl, G. (2014). Alfred Adler: Briefe 1896–1937. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Künkel, F. (1932). Die Arbeit am Charakter. Schwerin: Friedrich Bahn.
Die Autorinnen und Autoren
Thomas Abel, Dipl.-Psych., ist als Psychoanalytiker in eigener Praxis und als Dozent, Supervisor und Lehranalytiker (DGIP, DGPT) am Alfred Adler Institut in Berlin tätig. Er ist außerdem Therapist in Transference-Focused Psychotherapy (TFP) of The International Society of Transference-Focused Psychotherapy (ISTFP) am Institut für Psychotherapie in Berlin. Verena Ackermann-Arslan, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT), ist in eigener Praxis in Köln niedergelassen. Sie ist Vorstandsvorsitzende des Landesverbandes NRW der DGIP und als Dozentin am Alfred Adler Institut Aachen/Köln tätig. Emre Arslan, Dr. phil, Studium der Politikwissenschaft (BA/MA) an den Universitäten ODTÜ und Bilkent (Ankara), Promotion im Fachbereich Soziologie, aktuell Professor für Sozialwissenschaften an der Internationalen Universität Düsseldorf (IUBH). Forschungsthemenschwerpunkte sind: Soziale Ungleichheit, Bildung, Migration und Nationalismus. Korinna Bächer, Ärztin/Psychotherapie und analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin (DGIP, VAKJP), arbeitet seit über zwanzig Jahren als Therapeutin im Kinderschutz-Zentrum Köln. Sie hat dort die „Hilfen in der Frühen Kindheit“ aufgebaut. Ihr Arbeitsschwerpunkt gilt der therapeutischen Unterstützung junger Familien mit biografischen Belastungen. Im Alfred Adler Institut Aachen/Köln ist sie als Dozentin und Supervisorin tätig. Barbara Bremer, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin und Traumatherapeutin (DGIP, EMDRIA), in eigener Praxis für Erwachsene in
Die Autorinnen und Autoren319
Köln niedergelassen mit den Schwerpunkten Alkoholismus, Traumafolgestörungen und Behandlungen im interkulturellen und lesbischen Bereich, ist als Dozentin im Alfred Adler Institut Aachen/Köln tätig sowie im Vorstand des Landesverbandes NRW der DGIP. Gertraud Butzke-Bogner, Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT), Kunsttherapeutin (DFKGT), ist in eigener Praxis in München und als Dozentin am Alfred Adler Institut München tätig. Anna Katharina Dembler, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytikerin in eigener Praxis, ist am Alfred Adler Institut Berlin als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT) und in der Wissenschaftsgruppe der DGIP (SCPRGF) tätig. Maria Johne, Dipl.-Psych., ist Psychoanalytikerin für Erwachsene, Kinder und Jugendliche sowie Gruppenanalytikerin in eigener Praxis in Leipzig, Lehr- und Kontrollanalytikerin (DPV, DGPT, IPA), 2017–2019 Vorsitzende der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV). Regine Kroschel, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytikerin in privater Praxis, ist Vorsitzende des Alfred Adler Instituts Berlin und dort als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT) tätig. Ulla M. Nitsch, Dr. phil., Studium der Politik, Geschichte und Germanistik, ist Lehrerin und Leiterin der Schulgeschichtlichen Sammlung Bremen 1990–2007. Arbeitsschwerpunkte: Bildungsgeschichte, Museologie und Museumspädagogik. Gary S. Schaal, Univ.-Prof. Dr. phil., ist Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie, an der HelmutSchmidt-Universität Hamburg. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Emotionsforschung, Digitalitätsforschung und hybride Bedrohungen. Jochen Schmerfeld, Dr. phil., Prof. im Ruhestand, ist als Berater und Supervisor (auf individualpsychologischer Grundlage) tätig. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalyse und Film, Bildung in der Postmoderne.
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Die Autorinnen und Autoren
Elena Stüttgen, Dr., Studium der Pädagogik und Psychologie an der Universität der Arktis in Russland, schloss 2018 am Alfred Adler Institut München ihre Ausbildung zur Analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin ab und ist seit 2020 in eigener Praxis in Augsburg tätig. Karl-Heinz Witte, Dr. phil., war viele Jahre als Psychoanalytiker DGIP in eigener Praxis und zugleich als Dozent und Lehranalytiker am Alfred Adler Institut München tätig. Mit Reduzierung seiner Praxistätigkeit ist er seit etwa 15 Jahren entsprechend seinem Grundstudium in der Forschung über Meister Eckhart aktiv.
Personenregister
A Abel, T. 12 Ablang, F. 229 Ackermann-Arslan, V. 12, 98, 307 Ackermann, B. 229 Adler, A. 12, 14, 16, 35, 37, 44 f., 56, 97, 117, 120, 122, 129, 133, 232 f., 237, 240, 243, 246, 259, 269, 272–274, 292, 294, 299, 302 f., 305, 307, 309 f., 312, 316 Ahrens, T. 303, 315 Albrecht der Bär 19 Alvarez, A. 292, 294 Ammon, C. 273, 294 Anders, L. 229 Ansbacher, H. L. 294 Anthopoulos, L. G. 32 Antoch, R. F. 294 Arendt, H. 27, 32, 93 Aristoteles 102, 117 Arnold, K.-H. 230 Arslan, E. 12, 307 B Bächer, K. 11 Bade, H. 272 f., 276, 294 Bahrke, U. 93 f. Baker, S. 134–137, 147, 151 f. Balfe, L. 151 Baltzer, M. 94 Bar-On, D. 85, 93 Bartens, W. 240, 259 Bauer, U. 118 Bauriedl, T. 181, 230 Beckermann, A. 36, 56
Becker, S. 62, 79 Beckmann, H.-K. 230 Bedford-Strohm, J. 33 Bell, K. 188, 230 Benjamin, J. 273, 294 Berf, P. 17 Berg, K. 229 Bergmann, M. S. 93 Bergoch, C. 151 Berktold, K. 229 Bettelheim, B. 79 Beywl, W. 230 Bielfeldt, H. 227 Bihlmeyer, K. 237 Bion, W. R. 36, 41, 56, 123, 133, 275, 294, 296 Bittingmeyer, U. H. 118 Bittner, G. 273, 294 Bloch, E. 308 Böszörményi-Nagy, I. 37, 56 Bohleber, W. 84 f., 92 f. Bohnsack, R. 96, 106 f., 117 f. Bohnstedt, A. 228 Bollenberg, V. 229 Boll-Klatt, A. 108, 117 Bormann, M. 162 Borries, W. 229 Borscheid, P. 166, 230 Botticelli, S. 46, 49 Bott-Spillius, E. B. 295 Bourdieu, P. 96, 102–106, 109 f., 117 f. Brackmann, A. 240, 247, 259 Brake, A. 104, 109, 118 Brandt, W. 185
322Personenregister Bremer, B. 16, 298 f. Brenman Pick, I. 93 Brettschneider, S. 229 Brinkmann, U. 229 Brockmann, J. 42, 51, 53, 56 Broska, E. 229 Brückl, H. 165, 228 Bruder-Bezzel, A. 16 f., 237, 294 f., 298–300, 308, 310, 312, 316 f. Bruder, K.-J. 273, 294 f., 304, 317 Bruhn, K. 228 Bruner, J. S. 224, 230 Brunner, R. 294 Buchholz, M. 42, 56, 316 Büchner, P. 104, 118 Bürckel, J. 175 Busch, E. 274, 296 Bußhoff, K. 229 Butzke-Bogner, G. 15 C Cardemil, E. 118 Cavell, M. 36, 40, 56 Christ, K. 237 Cierpka, M. 115, 119 Ciompi, L. 40, 56 Clarkin, J. F. 101, 118 Clasing, S. 229 Cycon, R. 295 Czerwenka, E. 229 D Dafoe, W. 151 Dahl, R. A. 30, 32 Dante 46 David, A. 228 Davidson, D. 36 Decker, B. 237 Dembler, A. K. 56 Dembler, K. 10 de Vries, I. 56 Diederichs, S. 229 Dietrich, J. 227, 230 Dodderer, K. 230 Doering, B. 229 Doering, L. 227 Doering, S. 229
Donath-Schäffer, C. 229 Dornes, M. 294 Drees, L. 94 Dreher 227 Drewes, K. 228 Dürer, A. 54 f. E Eckhardt, K. 227 Ehlers, C. 196, 230 Eichberg, E. 227 Eichmeyer, A. 229 Eife, G. 237, 259, 272, 294 f., 298 Eimermacher-Raczek, R. 228 Eisenbarth, P. 228 Eisler, R. 234, 237 Ekstein, R. 79 El-Mafaalini, A. 118 Emme, R. 229 Erdle, B. 93 Erikson, E. H. 155, 157, 192, 230 Ermann, M. 267, 295 Ernst, M. 38 f. F Faimberg, H. 85, 93 Fairbairn, W. R. D. 124, 133 Federn, E. 79 Federn, P. 62 Ferro, A. 295 Fleuß, D. 31 f. Fließ, W. 121 Fonagy, P. 40, 56, 122 f., 133, 285, 295 Förster, K. 229 Frank, C. 93 Freudenstein, R. 230 Freud, S. 34, 36, 38, 40, 44 f., 62, 80, 93, 101, 114, 118, 121, 133, 303, 306, 310 Freund, S. 261 Frey, D. 240 Friedrich II., der 19 Friedrich I., König in Preußen 19 Frisé, A. 152 Froese, M. 21 Fröhlich, A. 229
Personenregister323 Fuchs-Brünninghoff, E. 139, 151, 153 Fuhrmann, G. 229 Funder, A. 93 G Gansberg, F. 166, 228 Gärtner, E. 228 Geiss, M. 186, 230 Geitz-Berno, K. 228 Gerdom-Meiering, C. 229 Gergely, G. 123, 133, 295 Gerweck, E. 228 Giesen, B. 93 Gödde, G. 316 Goedelt, M. 228 f. Goldsztaub, L. 151 f. Goleman, D. 255, 259 Gollnick, M. 229 Göntgen, I. 229 Görrisien, J. 229 Granseyer, N. 229 Grieser, J. 295 Grimm, J. 234, 237 Grimm, W. 234, 237 Gross, O. 310 Grubrich-Simitis, I. 93 Gudat-Vasak, S. 228 Günter, M. 79 H Habermas, J. 28, 32 Halberstadt-Freud, H. 85, 91, 93 Hamburger, A. 134, 137 f., 147, 152 f. Han, B.-C. 43, 56, 214, 230 Handt, R. 228 Haneke, M. 153 Harari, Y. N. 26, 32 Hartmann, H.-P. 231 Haseloff, U. 229 Hattie, J. 210, 230 Hauer, N. 85, 94 Havemann, K. 81, 94 Hebenstreit, T. 228 Hecht, I. 228 Heide, W. 227
Heil, C. 240, 259 Heimann, P. 295 Heinemann, E. 268, 295 Heisterkamp, G. 276, 295, 298 Helbig, K. 32 Helbing, D. 23 f., 33 Helbing, K. 31 Heller, A. 239 Henzler, B. 150, 152 Herrmann, U. 231 Heuss, T. 301 Hiebsch, G. 94 Hilgenkamp, B. 229 Hinderks-Kutscher, R. 227 Hinnrichs, J. 229 Hinze, G. 228 Hiob 54 Hitler, A. 160, 164, 166, 168, 172–175 Hobelmann, M. 229 Hochmann, C. 229 Høeg, P. 258 f. Hoffmann, M. 229 Hoffmann, R. 82 f., 94 Höhne, F. 33 Holbein, H. (d. Ä.) 47 Hopf, H. H. 295 Hoppe-Engbring, Y. 228 Hosemann, E. 126, 133 Hoyer, S. 229 Hübner, W. 283, 295 Hull, J. R. 137, 152 Hundertmark, G. 229 Hüther, G. 155 f., 230 I Iben, G. 230 Illmann, B. 229 Imhof, A. 251, 255 f., 258 f. Inhelder, B. 40, 56 J Jäger, K. 228 Jähner, H. 168, 230 Jahn, R. 96, 119 Jaszovics, S. 229 Joffe, W. G. 280, 296
324Personenregister Johne, M. 11, 91, 94 Jones, C. L. 151 Joseph, B. 292, 295 Jucovy, M. E. 93 Jung, B. 229 Jung, C. G. 36, 41, 44 f., 56 Junghänel, K. 229 Jurist, E. L. 123, 133, 295 K Kächele, H. 276, 297 Kahler, M. 33 Kaiser, A. 223, 230 Kalch, F. 228 Kalusche, V. 139, 152 Kamalzadeh, D. 152 Kandel, E. 39, 56 Kant, E. 234 Kattermann, V. 94 Kaufhold, R. 79 Kehr, K. 229 Kernberg, O. F. 99, 101, 118, 121, 133 Kerz-Rühling, I. 82, 94 Kestenberg, J. 93 Kiesinger-Jehle, B. 229 Kilian, S. 229 Kim, S. 118 Kirsch, H. 37, 51, 56 Klafki, W. 168, 188, 230 Klaßen, S. 229 Klein, M. 41, 56, 121, 272, 285, 288, 295 Kleinschmidt, V. 162, 231 Klöpper, M. 266 f., 295 Klüwer, R. 280, 295 Knabe, H. 94 Knausgård, K. O. 7, 9, 17 Knöpfler, A. 229 Koch, J. 237 Koch-Priewe, B. 230 Koch, S. 314 Kogan, I. 92, 94 Kögler, M. 274, 296 Kohrs, M. 108 Kohut, H. 108, 121, 123, 133, 267, 296, 310 f.
Kokemohr, R. 150, 152 König, D. 56 Köppe, C. 229 Körnich, A. 229 Koser, M. 227 Koser, R. 227 Krätzner, A. 94 Kroll, L. E. 97, 118 Kroschel, R. 10 Krüger, J. 31, 33 Krupnick, J. L. 97, 118 Kuglan, M. 229 Kuhn, K. 228 Kühn, R. 294, 316 Kukutz, I. 81, 94 Künkel, F. 302, 312–314, 317 Kunze, H. 229 Kutscher, K. 304 Kutter, P. 296 Kutzer, E. 227 f. L Lamberty, J. 298 Lampert, T. 97, 118 Landwehr, A. 229 Laszig, G. 152 Laszig, P. 138, 152 Lehmkuhl, G. 121, 133, 298, 317 Lehmkuhl, U. 121, 133, 294 f., 297 f. Lemke, L. 229 Leppin, C. 229 Leuzinger-Bohleber, M. 94 Levy, L. B. 97, 118 Lingelbach, K.-C. 230 Lischka, K. 31, 33 List, B. 229 Löckel, H. 227 Luborsky, L. 13, 122, 130, 133 Lüders, K. 296 Ludwig, M. 214, 231 Lu, J. 25, 33 Lüllwitz, A. 227 Lux, G. 96, 119
Personenregister325 M Maes, J. 94 Mager, E. 229 Mahler, M. 268 f., 274 f., 296 Maier, A. 227 Mangold, A. 229 Mannheim, K. 106 f., 118 Manstein, P. 7 Marx, H. 308 Marx, K. 308 Massing, A. 115, 119 Materka, I. 229 Maturana, H. 36, 56 Meeh, S. 229 Meister Eckhart 14, 230, 232 f., 235 Melnikoff, S. E. 97, 118 Meltzer, D. 283, 296 Merk, K. 229 Mertens, W. 295 f. Metze, W. 229 Metzger, W. 133, 294 Metz, S. 229 Meuser, M. 106, 118 Miller, A. 272, 296 Mitscherlich, A. 295 Mitscherlich, M. 85, 94 Mrowka-Nienstedt, K. 228 Müller, C. 229 Müller, G. 229 Müller, S. 228 Münstermann, S. 229 Murphy, M. 25, 33 Musil, R. 148, 152 Müters, S. 97, 118 N Nabers, B. 228 Namour, N. 229 Nassen, U. 231 Nauenheim, S. 298 Nentwig-Gesemann, I. 118 Niklas, A. 239 f., 260 Niklas, C. 239 f., 258, 260 Nitsch, U. M. 13, 196, 214, 231 Nohl, A.-M. 118 Northoff, G. 57 Notch, M. 262
O Ogden, T. 46, 56 O’Hara, M. W. 97, 118 Ornstein, A. 155, 157, 159 f., 231 Oser, L. 229 Oßwald, E. 227 P Panofsky, E. 106 Panowsky, C. 229 Pariser, E. 43, 56 Pazzini, K.-J. 152 Penovi, A. C. 151 Peric, D. 296 Pestalozzi, J. 266, 296 Petzold, H. R. 296 Pfitzner, S. 229 Piaget, J. 40, 56 Piegler, T. G. 139, 152 Pieper, P. 229 Plänkers, T. 82, 84, 94 Plassmann, R. 51, 53, 56 Pöggeler, F. 155 Pöggler, F. 231 Pollak, A. 229 Prince, B. K. 151 Probst, P. 229 Przyborski, A. 107, 119 R Rabe, M. 229 Rabe-Menssen, C. 96, 119 Ramin, G. 296 Raschka, J. 81, 94 Rattner, J. 314 f. Rauh, B. 152 Reckers, S. 229 Reckwitz, A. 26, 33 Reich, G. 115, 119 Reinker, D. 228 Reuleaux, N. 94 Reuter-Liehr, C. 229 Riede, H. 227 Riethmayer, E. 190, 231 Rilke, R. M. 44, 56 Rivera, C. 151 Röbe, E. 229
326Personenregister Röbe, H. 229 Rosetti-Gsell, V. 275, 296 Roth, G. 39, 51, 57 Rückriem, G. M. 230 Rudolf, G. 296 Rüedi, J. 237 S Safranski, R. 37, 57 Sandler, J. 280, 296 Sartre, J.-P. 92, 94 Schaal, G. S. 10, 29, 31–33 Schacht, L. 302 Schautz, I. 228 Scherber, E. 228 Scherr, A. 118 Schittenhelm, K. 106, 119 Schmauch, K. 227 Schmerfeld, J. 13, 138, 152 Schmidbauer, W. 247, 250, 260 Schmid, J. 25, 33 Schmidt, M. 94 Schmidt, R. 119, 230, 298 Schmidt, T. 150, 152 Schmidt, V. 229 Schmitt, M. 94 Schnädelbach, H. 41, 57 Schneider, C. 93 Schneider, G. 138, 152 Schober, P. J. 227 Scholtz, H. 171, 231 Schramm, M. 229 Schröder, W. 228 Schuller, M. 152 Schulte, S. 229 Schultheis, F. 105, 119 Schultze, W. 228 Schulz, A. 230 Schulz, H. 228 Schwaber, E. 296 Schwarz, U. 229 Schwiebert, A. 240, 242, 258, 260 Segal, H. 44, 57 Seidel, U. 298 Senst, S. 229 Seuse, H. 236 f. Shi, T. 25, 33
Silberschatz, G. 56 Simon, F. B. 37, 40, 57 Sönnichsen, I. 229 Spark, G. M. 56 Sperber, M. 313 Stadler, A.-E. 273, 275, 296 Stadler, T. 283, 297 Stapel, G. 228 Steiner, J. 292, 297 Stengel, E. 214, 231 Stern, D. N. 281 Stern, D. W. 280, 297 Stiebritz, C. 229 Stöcker, B. 229 Stolzenberg, H. 97, 118 Storck, J. 270, 297 Streeck, U. 133 Stübig, F. 230 Sturlese, L. 237 Stürmer, V. 185, 231 Stüttgen, E. 15 Sunstein, C. 28, 33 Sussenbach, C. 234, 237 Székessy, L. 229 Székessy, T. 229 T Target, M. 40, 56, 122 f., 133, 285, 295 Taubner, S. 51, 56 Tauscheck, E. 229 Tautz, D. 94 Tenbrink, D. 44, 57 Thiele, J. 183, 231 Thiersch, S. 105 f., 119 Thomä, H. K. 276, 297 Tiedje, A. 229 Titze, M. 294 Tomasello, M. 37, 57 Trautmann, S. 229 Truffaut, F. 136, 151 f. U Urbanek, R. 229
Personenregister327 V Van Essen, F. 119 Varela, F. 36, 56 Vergil 46 Vinaite, B. 151 Vogel, G. 298 Vollhardt, M. 229 von der Lippe, E. 97, 118 von Schwind, P. 230 von Werder, K. 229 Vorländer, H. 23, 26, 33 W Wahl, P. 138 f., 151, 153 Walendzik, A. 96, 119 Walker, C. 93 f. Walter, H. 36, 57 Warnecke, A. 229 Wasem, J. 96, 119 Webb, J. T. 239, 244, 248, 250, 257, 260 Weber-Brauns, A. 228 Weber, J.-M. 151 f. Webersberger, A. 229 Weber. T. 229 Weigel, S. 93 Weiss, H. 57 Weiß, H. 46, 93 f. Weitkamp, F. 227 Wellmann, H. 228 Welter-Enderlin, R. 37, 57 Wenz-Vietor, E. 227 Wiegand, R. 298
Wilke, G. 95 Wilke, J. 229 Willke, H. 31, 33 Wimmer, M. 152 Winnicott, D. W. 62, 79, 99, 121, 134, 147–151, 153, 272, 274 f., 292, 295–297 Wissmann, S. 172, 183, 231 Witte, K.-H. 14, 235, 237, 273, 294–298, 316 Witt, K. 21 Wohlrab-Sahr, M. 107, 119 Wolf, A. 16 Wolf, W. 230 Wolkenhorst, K. 229 Wulftange, G. 150, 152 Wurmser, L. 43, 57 Y Yeomans, F. E. 101, 118 Z Zabe, A. 151 Zabolitzki, M. 56 Zahn, M. 152 Zeller-Breitling, A. 298 Zenz, W. 62, 79 Zeyher-Quattlender, J. 33 Ziegler, A. 239, 260 Zierer, K. 230 Zimmermann, O. 165, 231 Zimmermann, R. 27, 33 Zwiebel, R. 94, 138, 153, 292, 297
Sachregister
A Abenteuerlust 128 Abstinenz 62 Abwehr 40, 86, 241, 282 Überwindung der 91 Abwehrmechanismen reifere 287 Abwehrmechanismus der Intellektualisierung 256 Abwehrtendenz gesellschaftliche 92 Abwertung 253 ADHS 244 Affektlogik 40 Affektmodellierung 143 Affektmüllstrom 43 Affektverarbeitung 131 f. Affektwahrnehmung 51, 115, 131 Aggression 270 Aggressionsstellung 274 Akkomodation 40 Aktionismus 65 Aktivitätsniveau 244 Allmachtphantasie 285 Alphafunktion 123, 131 Als-ob-Modus 285 f. Als-ob-Spiel 293 Als-ob-Spielebene 263 Ambivalenz 63, 247 Ambivalenztoleranz 270 Angst 123, 125, 129, 196, 267, 273, 281, 284 Angsttoleranz 293 Anpassungsbereitschaft 246 Apperzeption tendenziöse 273
Äquivalenz psychische 292 Arbeitsbündnis 85 Arbeitsfreude 159 Armageddon 25 Aspergerstörung 245 Assimilation 40 Assoziation 8 Atmosphäre entwicklungsfördernde 210 Aufklärung 26 Aufmerksamkeit geteilte 51 Aufmerksamkeitsfokus 46, 53 emotional basierter 10 gemeinsamer 34, 51, 53 geteilter 52 Ausgeschlossensein 254 Ausgrenzung 238 Autismus sekundärer 269 Autoerotik 145 orale 148 Autokratie als Herrschaftsform der Ungleichheit 27 Autonomie 123, 125, 157, 183 als Ideal der Aufklärung 30 Autonomiebestrebung 180 B Bedürftigkeit 68, 144, 253 emotionale 241 Begabung 104 Bemeisterungsgefühl 157 Berufserfolg 239
Sachregister329 Beruhigung 269 Beta-Elemente 123 Bewältigungsstrategie 59 Bewegungsdrang 70 Beziehung verlässliche 212 Beziehungsarbeit 78 Beziehungsaufbau 66 Beziehungsdynamik 233 Beziehungsepisode 122, 126, 130 f. Beziehungserfahrung 62, 72, 78 Beziehungserfahrungen frühe 271 Beziehungskonflikt 208 Beziehungskonfliktthema zentrales 12 Beziehungsmuster 120 Beziehungsstörung 78 Beziehungsverlust Angst vor 270 Bezogenheit dyadische intensive 46 Big Data 26 f., 31 Bildphantasie 38 Bildsprache 138 Bild-Sprache 236 Bildung 54 als Menschenrecht 61 Bildungsangebot 59 Bildungsaufstieg 108, 116 f. Bildungsbiografie 12, 59 Bildungskapital 109 Bildungskarriere kindliche 61 Bildungslaufbahn 102 Bildungsniveau 97 Bildzauber 14, 232 Bindung 226 missbräuchliche 227 sichere 51 Bindungsangebot 156, 226 Bindungsbedürfnis 226 Bindungserfahrung 63 Brexit 25 Burn-out 250
C Charakter Arbeit am 302, 312 Charakterbildung 234 Charakterologie 302 Co-Abhängigkeit 100 Containing 62, 123, 126, 130–132, 267 Containment 270 D Demokratie als Herrschaftsform der Gleichen 27 digitalisierungskompatible 23 f. direkte 23 Einheit der 32 etablierte 25 herausgeforderte 25 Ideale der 26 liberale 29 liberal-repräsentative 23, 32 normative Basis von 26 Wettbewerbsfähigkeit der 25 Zukunftsfähigkeit der 23 Zukunftsfähigkeit von 32 Demütigung 268 Depression 244 Depressivität 125 Deutungsangebot 277, 290 Digitalisierung 23–26, 31 fortschreitende 10 Politik- 28 Digitalität 30 digital literacy 31 Durcharbeiten 86 E Effektanzgefühl 157 Eifersucht 196 Eigenbewegung 60, 70 Eigenmächtigkeit 60 Eigenverantwortung 224 Einbildung 232–235 Kraft der 234 Einbildungskraft 232 Einfühlungsvermögen 209, 271
330Sachregister Elfenbeinturm 243 Emotionalität 252 Empathie 16, 160, 226, 241, 245, 248, 254, 258, 286, 311 Enactment 67 Energie 250 kindliche 136 Energieniveau 244 Enthaltsamkeitsregel 45 Entmutigung 68 Entscheidungsmacht 31 Entwicklungsanreiz 157 Entwicklungsbedürfnis 154–156, 180, 183, 226 Entwicklungsblockade 78 Entwicklungsförderung kognitive und emotionale 11 Entwicklungsspielraum 58 Entwicklungstheorien psychoanalytische 34 Erinnerung konstruierte 122 Ermutigung 78, 126, 192 Essstörung kindliche 72 Evidenzbasierung von Politik 31 Existenzangst 53 Expansivität 125 F Fake News 25, 235 Familienbilder 188 Familienbildung 63 Familiendynamik 271 Familienklima 239 Familienkonstellation 218, 255 Familienkultur 198 Familiensystem 293 Fantasie 128–130, 248 Fatalismus 65 Fehlleistung 114 Feindesland Welt als 307 Fiktion 233 leitende 269 Film
als Falldarstellung 139 als Kunstwerk 139 als Projektion 138 Filmbetrachtung psychoanalytische 139 Filmpsychoanalytiker 138 Finalität 274 Formensprache 38 Fragmentierung der Öffentlichkeiten 29 Frauenbewegung 306 Frauenbild 307 Frauenfrage 305 Fremdbetrachtung 193 Freude 144, 196 am Spiel 135 Frustration 244 Führerkult 14 Fürsorge 128 G Gattungsbruch 27 digitaler 27 Gedankenschleifen 249 Gefühlsambivalenz 284 Gefühlschaos 270 Gegenaggression 257 Gegenübertragung 86, 89 f., 132, 241, 277, 282, 289 Gegenübertragungsagieren 283 Gegenübertragungsenactment 283 Gegenübertragungsgefühl 87, 91 Gegenübertragungsgeschehen 276 Gegenübertragungsreaktion 126 Gegenwartsmoment 280 Gemeinschaft 215, 315 Gemeinschaftsbild 14 Gemeinschaftserleben Mangel an 238 Gemeinschaftsgefühl 11, 243, 255, 271 Gemeinschaftsleben 8, 315 Gerechtigkeitssinn 246 Geschlechterverhältnis 187 Geschwister Bedeutung von 301 Geschwisterkonstellation 121
Sachregister331 Gesellschaftsbild 42 Gewissen politisches 316 Gier kindliche 145 orale 145 Grandiosität 183 phantasierte 290 Grundhaltung 311 Grundmangel 273 Grundrechte 26 Gruppenidentität 240 H Habitat 105 Habitus 102–105, 110, 112–114 Habitusanalyse 105 f. Habituskonflikt 108 Habitussoziologie 96, 106 Habitustransformation 96, 113–115 Habituswechsel 116 Halt 78, 243 Haltung 312 Handlungsdialog 280 im wörtlichen Sinn 290 Handlungskompetenz 160 Handlungsstil 120 Hass 282, 285 Heldentod Verherrlichung des 170 Herkunftskontext 218 Herrschaft gleichberechtigte demokratische 28 totalitäre 80 Herzensbildung 9, 11 Hexenwesen 234 Hilflosigkeit 122 f., 268 Hilfsbereitschaft 209 Hochbegabung 238–240, 242, 246 f., 249–253, 256 f. Hochbegabungsmodell 239 Hochsensibilität 247 Hoffnungslosigkeit 243 Hoffnungsträger Kind als 266 Holding 62
Humanismus 306 Humor 245, 257 I Ich getrenntes 157 Ich-Entwicklung 78 Ich-Grenze 268 Ich-Ideal 44 Ich-Psychologie 121 Ich-Schwäche strukturelle 115 Ich-Spaltung 84 Ich-Stärke 71 Idealfigur 157 Idealisierung 84, 157, 173, 225, 285 Idealisierungen 209 Idealismus 248 Identifikation 16, 143, 172 mit der kindlichen Perspektive 137 projektive 268, 277, 292 Identifikationsangebot 156 Identifikationsfigur 188 Identifikationsobjekt 156 Identifizierung 125 projektive 89 transgenerationale 84 unbewusste 85 Identität 21, 36, 173, 233, 236, 270 hybride 198 Streben nach 183 Identitätsbildung 116 Identitätsdiffusion 44 Identitätsgefühl 157 unreifes 199 Identitätskonzept erweitertes 249 Identitätskrise 114 Ideologie menschenverachtende 186 Illusion narzisstische 275 Imagination 233 Imaginationstherapie 234 Impulsdurchbruch
332Sachregister oraler 50 triebhafter 51 Individualisierung 26 Individualismus normativer 26 Individualität 197 Individualpsychologie 13, 16, 121, 133, 298, 302, 312, 314, 316 Geschichte der 16, 315 Individuation 78, 114 f., 267 Initiative 159 Inklusion 188 Instanz 121 Integration 188, 267, 284, 289, 293 Integrationsarbeit 41 Integrationsniveau 131 Intellektualisierung 241 Intelligenz emotionale 255 Interaktionsmuster 130 Intersubjektivität 280 Introspektion stellvertretende 311 J Jähzorn 251 f. Jetztmoment 280 K Kaiserzeitschule 190 Kampfeslust 277 Kapital 103 kulturelles 102, 104, 106, 109, 113 ökonomisches 103, 113 soziales 102–104, 113 Kapitalismus als kannibalische Weltordnung 307 Kausalität zirkuläre 36 Kernselbst kohärentes 157 Kinderanalyse 275 Kinderladenbewegung 188 Kinderlandverschickung 166, 178 Kindeswohl 64
Kindheitserinnerungen 120, 233 frühe 12 früheste 120 Kindheitskonzept 185 Klassenaufstieg 109 Klassenentfremdung 109 f. Klassengemeinschaft 207 Klassenklima 239 Kommunikationsstil 107 Kompensation 241 des Minderwertigkeitsgefühls 269 Kompensationsbemühung 311 Kompetenz 183, 239, 243, 255 soziale 241 Kompetenzgefühl 157 Konfliktlösungskompetenz 209 Konstitution psychische 233 Kontrolle 122, 258 Kontrollüberzeugung 239 Kooperation 205 Körperbeherrschung 179 Körperskulpturierung 50 Körpersprache 261 Körperwahrnehmung 60 Kränkbarkeit 246 f. Kränkung narzisstische 267, 293 Kreativität 134, 148, 250 Kulturpsychologie 13 L Latenzphase 155, 160 Lebensaufgabe 264, 281 Lebensbewegung 131, 268 Lebensentwurf selbstschädigender 273 Lebensereignisse kritische 239 Lebenserinnerung erste 125 Lebenserinnerungen früheste 120–122, 130, 132 Lebensfreude 136 kindliche 135 f.
Sachregister333 Lebensgefühl kindliches 135 Lebensgeschichte 120, 193, 242, 264 Lebenslinien 307 Lebenslüge 92 Lebenslust 135 Lebensplanung 241 Lebensstil 35, 40, 43, 104, 121, 129, 131, 240, 268, 271–273, 309 neurotischer 274 Lebensstilanalyse 12 f., 120, 129, 132 Lebensstils 12 Lebensthemen 12, 120 Lebenswissenschaften 27 Leistungsbiografie 101 Leistungsexzellenz 239 Leistungsfähigkeit 242 Leistungsideologie 15 Leistungsmotivation 239 Leistungsprinzip 240 Leitlinie neurotische 274 sekundäre 274 Lernfähigkeit 61 Lernformen Vielfalt der 190 Lernmotivation 61 Lernstörung 244 Lernstrategie 239 Lernumwelt 239 Lernzugang 190 Lethargie 65 Liebe 254, 285 zum 184 Loyalität gespaltene 86, 92 Loyalitäten gespaltene 12 Loyalitätskonflikt 96, 289 Lust 136, 144, 159 am Lernen 224 M Macht 44, 61, 82, 122, 271 der Vorstellung 14 Machtapparat 88
Machtergreifung 166 Mächtigkeit 128 Machtkampf 244 Machtkontrolle 32 Magic Castle 146 Mangel 254, 268 Mangelerfahrung 266, 271 f. männlicher Protest 307 Maßlosigkeit 144 Mauerfall 82 Meinungsmanipulation 29 Menschenbild 10, 14, 34 f., 42–44, 156, 185 Menschenbildung 235 Menschenkenntnis 307 Menschenrechte 26 Menschenwürde 227, 308 Mentalisierung 54, 267, 270 Mentalisierungsfähigkeit 40, 279 Mentalisierungskonzept 51 Metakognition Fähigkeit zur 243 Migration 187, 199 Migrationsgeschichte 187, 197–199, 225 Migrationshintergrund 200 Mikrotargeting 29 Minderwertigkeit 271, 274 erlebte 290 Minderwertigkeitsgefühl 127, 255, 268 f., 271–273, 277, 285, 293, 309, 311 Minderwertigkeitskompensation 309 Misstrauen 68 Mitbewegung 276 Mitgefühl 126, 129, 248 Mitleid 127–129, 132 Mitmenschlichkeit 11 Mitschwingen 276 Mittäterschaft 85 Möbelmutter 279 f. Möglichkeitsraum 13, 134, 139 Möglichkeitssinn 148 f. Monismus anomaler 36 Musikalität 239 Mutlosigkeit 61
334Sachregister Mutter genügend gute 272 Mutterbeziehung kühle 240 Mutterobjekt 288 Mutterübertragung negative 289 Mythos 171 N Nähewunsch 267 Narrativ filmisches 134 Narzissmus 311 gesunder 245 pathologischer 245 Narzissmus-Konzept 311 Nationalsozialismus Opfer und Täter 80 Naziideologie 313 Nazitäter 84 Neid 250, 257 Neuro-Enhancement 27 f. Neurose 271 Notautonomie 99 Notsituation 246 Now-Moment 71, 280, 312 O Objekt abwesendes 123 böses 281 böses inneres 268 containendes 278 fehlendes 268 feinfühliges 123 gefährliches 277 getrenntes menschliches 274 gutes fürsorgliches 268 ideales 266 inneres 126 markiert spiegelndes 123 präsentes 173 separates menschliches 279 triangulierendes 267 überhöht idealisiertes 267 unerreichbares 283
Objektbeziehung 13, 120, 148, 270 dominierende 125 Objektbeziehungskonflikt 284 Objektbeziehungspsychologie 13, 120–122, 124, 133 Objektbeziehungsstörung 269 Objektbeziehungstheorie 120 f. Objektdyade 124 f., 132 Objektenttäuschung 266 Objektkonstanz 267, 291 Objektrepräsentanz 99, 101, 121, 282, 289 gespaltene 113 neidische 101 strafende 101 Objekt-Subjekt-Differenzierung 115 Objektverlust 267 f., 274 Angst vor 267, 269 f. Objektverlustangst Objektwahrnehmung 108 Öffentlichkeiten digital fragmentierte 29 Ohnmacht 61, 64, 75, 122, 125 f., 129, 243, 272–274, 277, 281, 289 f. Ohnmachtsgefühl 223, 286 Omnipotenz scheinbare 278 Omnipotenzphantasien 34, 54, 168 Opfer 131 Opferbewusstsein apologetisches 84 Opfererfahrung 80 f. Opferidentifizierung 85 f., 88 f. Opfer-Identität 129 Opferkind 91 Opferrepräsentanz 91 f. Opfertraumatisierung 86 Overkill oraler 145 P Panzer autistischer 292 Panzerung narzisstische 268
Sachregister335 Perfektionismus 245 Persönlichkeitsbildung 232 Persönlichkeitsentwicklung 209 konstruktive 34 Persönlichkeitsgefühl 269, 273 Persönlichkeitsideal 272 fiktives abstraktes 269 Persönlichkeitsstörung 62 narzisstische 245 zwanghafte 245 Persönlichkeitsstruktur 35 Perspektivenwechsel 258 Plotpoint 137, 140 Prägung 232 Predictive Policing 31 Primärobjekt 90 Primärprozess 38 Projektion 89, 243, 292 Projektionsfläche 183 Psychodynamik 96, 233 der Essstörung 50 Psychosomatik 15 Psychotherapieforschung 106 R Realitätsbezug 187 Realitätsgefühl verzerrtes 85 Reflexionsfähigkeit 250 Regression 270 kollektive 44 Reizüberflutung 248, 267 Repräsentanz innere 11, 13 Resonanz 16 emotionale 272 fehlende 58 spiegelnde 11 Ressource 68, 255 emotionale 63 Reverie 275 Rezeptionserfahrung 138 f. Rigidität 245 Rohrschach-Test 303 Rollenklischee 186 Rollenmuster 155 Rollstuhlkind 201 f.
Rückzug autistoider 268 S Sauberkeitsentwicklung 265 Scham 12, 85, 89, 92, 100, 273 f. Schamanismus 42 Scheitern 123 Schichtzugehörigkeit 97, 104 Schmerztoleranz 293 Schockstarre 277, 280 schöpferische Kraft 35, 306, 309 Schreiattacke 264, 266 Schubladendenken 313 Schuld 12, 84, 89, 92, 96 Schuldabwehr 84 Schuldgefühl 85, 91, 115, 126, 208, 245, 247, 249, 253, 268 Schulgemeinschaft 207 Schulkarriere gescheiterte 241 Schulverweigerer 243 Schutzbedürfnis 284 Schwäche 125 strukturelle 269 Schweigegebot 92 Seinsohnmächtigkeit 273 Seinsverbundenheit 106 f. Seinsverlassenheit 54 Sekundärprozess 38 Selbst 123 f., 126 f., 180, 241, 267, 270, 272 f. eigenes 160 Selbstabwertung 246 Selbstachtung 299 Selbstanteile abgespaltene 270, 293 Selbstbehauptungstendenz 271 Selbstbeobachtung 236 Selbstbetrachtung 193 Selbstbewegung 276 Selbstbewusstsein 75, 249 Selbstbild 156, 240, 247 minderwertiges 199 minderwertig gefärbtes 157 Selbstdestruktivität 278 Selbstdifferenzierung 52
336Sachregister Selbsteinschätzung 157, 194 Selbstentmachtung von Politik 30 f. Selbsterfahrung 251 Selbsterhöhung Streben nach 268 Selbsterleben 270 Selbstgefühl 244 Selbsthass 85 Selbstheilungsversuch 63 Selbstideal fiktives 293 Selbstkenntnis 42 Selbstkontrolle 123 Selbstkonzept 78 Selbstmitleid 291 Selbstobjekt 99, 110, 123, 289, 311 Selbstoptimierung 28 Selbstorganisation 209 Selbstpsychologie 311 Selbstregierung politische 23 Selbstrepräsentanz 99, 101, 121, 289 Selbstständigkeit 159 f., 162, 224, 263 Selbsttransformation 28 Selbstverantwortung 205 Selbstverhältnis 150 Selbstverletzung 99 Selbstverlust 267 f., 274 Angst vor 267, 270 Selbstverlustangst 269 Selbstverrat 115 f. Selbstverständnis 154 Selbstwahrnehmung 52, 78, 155, 249, 258, 270 Selbstwert 34, 115, 239, 280 Selbstwertgefühl 160, 180, 249, 270, 272 Selbstwertkonflikt 270, 293 Selbstwertregulation 271 Selbstwertunsicherheit 96 Selbstwirksamkeit 58, 61 Selbstwirksamkeitserfahrung 60 Selbstzuschreibung 282 Selbstzweifel 246 Sensibilität 246
Sensitivität 248 emotionale 248 erhöhte 248 erhöhte sensorische 248 imaginäre 248 intellektuelle 248 psychomotorische 248 Shitstorm 43 Simulation 233 Sinnlosigkeit 243 Smart City 32 Social-Media-Daten 29 Solidarität 227 Sozialarbeit psychoanalytische 62 Sozialismus 306 Sozialmedizin 310 Sozialtherapie stützende 62 Spaltung 84, 101, 285 des Vaterbildes 86 Spiegelung 51, 160, 270 anerkennende 272 emotionale 240 mangelnde 267 markierende 293 narzisstische 266 Spielfreude 128 Spielobjekt 263 Spiel-Raum 65 Spitzeldienst 82 Stasi-Familie 80, 82, 89 Stasi-Kind 81 f., 92 Stasi-Opfer 84 Stasi-Täter 82, 84, 92 Statussymbol Schultüte als 189 Statuswechsel 162 Stolz 159 Stressbewältigung 239 Struktur der Person 40 tötalitäre 81 Strukturniveau 269 Subjekt-Objekt-Differenzierung 115 Subjektwechsel 115
Sachregister337 Suchbewegung 53 Suggestionstherapie 234 Supervenienz 36 Symbolisierungsfähigkeit 293 Symbolspiel 104 Systemkonkurrenz 24 T Täteridentifizierung 85 f., 88 f. Täterkind 88, 92 Täterrepräsentanz 91 f. Täterschaft 80 f. Täterschafttraumatisierung 86 Telescoping 85 Theory of Mind 40 Tobsuchtanfall 265 Toilettenszene 288 Token 36 Transhumanz 28 Trauer 289 Traum und Film 138 Traurigkeit 196 Trennungsangst 269 Trennungsnot 89 Triangulierung 51, 53 missglückte 207 Trieb 34 Triebäußerungen chaotische 34 Triebbefriedigung 124 Triebpsychologie Abkehr von der 306 Trotz 77 Trotzverhalten 244 U Überforderung 242 Übergangsbereich 275 Übergangsobjekt 284, 293 kollektives 210 Übergangsphänomen 274 Übergangsraum 140, 147–151 Über-Ich 80 Überkompensation 200 Überlegenheit Streben nach 250
Überlegenheitsgefühl 127, 285 Sicherung des 241 Übertragung 40, 51, 85 f., 89–91, 132, 246, 253, 257, 282, 311 Übertragungsarbeit 91 Übertragungsbeziehung 101, 113, 270, 284 f. Übertragungsgeschehen 276, 282 f. Übertragungskonstellation 90 Übertragungssituation 270 Überwachung 83 Überwachungsstaat 11, 80 Überzeugungstäter 82 Unabhängigkeit 263 Unbewusstes bei Adler 308 bei Freud 308 Underachievement 242 UN-Kinderrechtskonvention 188 Unterdrückungsapparat 83 Unterschichthabitus 109 Unzulänglichkeitsgefühl 284 Ursprungsfamilie 114, 216, 247, 249 V Verführungstheorie 121 Verletzbarkeit 273 Verletzlichkeit 258 Verlorenheit 267 Vernetzung digitale 24 Verschmelzungsrituale 176 Verständnis szenisches 292 Verweigerungsreaktion 261 Verzweiflung 284 vidualpsychologie Geschichte der 298 Vorschulkrise 157 Vorstellungsbild 234 W Wachstumstrieb 58 Wahrnehmungsfähigkeit 254 Weitergabe transgenerationale 80, 92, 124
338Sachregister Weltbild 10, 155 f., 185 Weltverhältnis 150 Weltverständnis 154 Weltwahrnehmung 154 Wendekind 87 Werksinn 189, 224 Wertlosigkeit 268, 272 Widerstand 277, 311 Winterhilfswerk 180 Wirklichkeitssinn 149 Wirkmächtigkeit 51 Wirksamkeit therapeutische 274 Wissen historisches 10 ikonografisches 8 implizites 10
intellektuelles 12 kulturelles 12 symbolisches 8 vorbewusstes 10 Wissenssoziologie 106 f. Wut 196, 244, 248, 281, 284 f., 289 narzisstische Enttäuschungs- 290 Z zentrales Beziehungskonfliktthema 120, 122, 130 f. Zerstörungslust 141 Zielgerichtetheit therapeutischer Anliegen 38 Zugehörigkeit Streben nach 183 Zwangsstörung 245