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German Pages 606 [620] Year 1971
L E ONA R D N E L S ON
GE SA M M E LT E S C H R I F T E N
Sittlichkeit und Bildung
Meiner
L E ONA R D N E L S ON
Gesammelte Schriften in neun Bänden Herausgegeben von Paul Bernays, Willi Eichler, Arnold Gysin, Gustav Heckmann, Grete Henry-Hermann, Fritz von Hippel, Stephan Körner, Werner Kroebel, Gerhard Weisser
achter Band
F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG
L E ONA R D N E L S ON
Sittlichkeit und Bildung Mit einem Vorwort von Gustav Heckmann
F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG
Redaktion: Grete Henry-Hermann
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3838-2 ISBN eBook 978-3-7873-3847-4 Nachdruck 2020 © Felix Meiner Verlag Hamburg 1971. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in www.meiner.de Germany.
Inhaltsverzeichnis Vorwort (Gustav Heckmann)
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Abschnitt I. Ethik
Die Theorie des wahren Interesses und ihre rechtliche und politische Bedeutung (1913) Die kritische Ethik bei Kant, Schiller und Fries Eine Revision ihrer Prinzipien (1914) Vom Beruf der Philosophie für die Erneuerung des öffentlichen Lebens (1915) Eigene Verantwortung und innere Wahrhaftigkeit (Vier Briefe an die freideutsche Jugend) (1916) Vorworte und Einführung zum Sammelband: Die Reformation der Gesinnung durch Erziehung zum Selbstvertrauen (1917) öffentliches Leben (1918) Ethischer Realismus (1921) Sittliche und religiöse Weltansicht (1922)
3 27 193 213 241 247 277 303
Abschnitt II. Pädagogik
An die freie deutsche Jugend und ihre Freunde Aufruf zum Fest auf dem Hohen Meissner (1913) Religion und Schule (1914) Erziehung zur Tapferkeit Zur Frage des Jugendwehrgesetzes (1916) Von der Zukunft der inneren Freiheit - Ein Gespräch (1916) Führer und Verführer - Rede und Gegenrede aus einem pädagogischen Seminar (1916) Wilhelm Ohr als politischer Erzieher (1917)
331 337 353 363 387 417
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Inhalt
Erziehung zum Knechtsgeist (1917) Erziehung zum Führer (1920) Führererziehung als Weg zur Vernunflpolitik (1921) Vom Bildungswahn Ein Wort an die proletarische Jugend (1922) Das deutsche Kulturgut als Grundlage unserer Schule Ein Diskussionsbeitrag (1925) über das Landerziehungsheim Walkemühle (1926)
449 497 523 551 571 575
Vorwort Im Vorwort zu der Abhandlung »Die kritische Ethik bei KANT, SCHILLER und FRIES« sagt NELSON über diese Arbeit: »Sie geht von der Überzeugung aus, daß es eine unumstößliche, auf wissenschaftliche Form zu bringende und daher auch planmäßig zu erforschende ethische Wahrheit gibt; sie sucht den Weg zu verfolgen, auf dem an der Auffindung dieser Wahrheit bisher gearbeitet worden ist, und die Stelle zu bestimmen, bis zu der man sich dabei diesem Ziele angenähert hat.« 1 Diese Stelle ist für NELSON vor allem FRIES' Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis, die NELSON so versteht: Die Begründung einer Erkenntnis ist das Aufzeigen einer anderen Erkenntnis, die der Grund für die erste ist. So werden Urteile durch Beweis auf andere und diese schließlich auf nicht mehr beweisbare Grundurteile zurückgeführt. Aber auch die Grundurteile können und müssen also noch begründet werden. Der Grund für ein mathematisches Axiom z. B. liegt in einer schlechthin gegebenen, schlechthin gewissen Anschauung; der Grund für die einfachsten Aussagen über physikalische Beobachtungen liegt in einer schlechthin gegebenen, schlechthin gewissen Wahrnehmung. Dieses schlechthin Gegebene ist die unmittelbare Erkenntnis, eine einer Begründung weder fähige noch bedürftige Erkenntnis; eine Erkenntnis, die gegen Irrtum gesichert und der gegenüber echter Zweifel psychologisch nicht mehr möglich ist. Es liegt im Begriff der Begründung, nämlich der Zurückführung der Erkenntnis auf ihren Grund, daß es unmittelbare Erkenntnisse geben muß, da man sonst auf einen unendlichen Regreß kommen und Begründung von Erkenntnissen überhaupt nicht möglich sein würde. Im Bereich der Vernunfterkenntnis, insbesondere der Ethik, ist 1
Ausg. 1914, S. III; ds. Bd. S. 36
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Gustav Heckmann
uns nicht, wie in der anschaulichen Erkenntnis, etwas schlechthin Gegebenes, nicht mehr Anzweifelbares bewußt. Und doch muß es auch hier unmittelbare Erkenntnis geben, wenn es begründete Aussage geben soll. Nur ist diese unmittelbare Vernunfterkenntnis nicht, wie die Anschauung, auch eine unmittelbar bewußte Erkenntnis. Es bedarf eines künstlichen Verfahrens, um sie zur Klarheit des Bewußtseins zu bringen und sie im Urteil wiederzugeben. Dieses Verfahren ist die in den Abhandlungen des ersten Bandes dieser Ausgabe dargestellte kritische Methode. Von der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft unterscheiden FRIES und NELSON den Verstand oder die Reflexion, nämlich das Vermögen, Begriffe zu bilden und Urteile zu formulieren. Dies sind mittelbare Geistestätigkeiten: Im Begriff werden anderweitig gegebene Merkmale festgehalten, und im Urteil wird entweder anderweitig Erkanntes wiedergegeben, oder es wird versuchsweise ein Sachverhalt formuliert, der anderweitig nachgeprüft werden muß. Die Reflexion kann nur reproduzieren, unterscheiden, analysieren, versuchsweise kombinieren. Die Entscheidungsgründe über Wahrheit oder Irrtum liegen jedoch nur in der unmittelbaren Erkenntnis, für die Ethik in der unmittelbaren Erkenntnis der praktischen Vernunft. Soviel in Kürze zu NELSONS Auffassung der Friesschen Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis. Diese Lehre war für NELSON ein so bedeutender Fortschritt über KANT hinaus, daß er eine neue Epoche eröffnet. KANT trennt noch nicht scharf zwischen der leeren Reflexion und dem schöpferischen Wahrheitsvermögen Vernunft. Solange aber diese Trennung nicht vollzogen wird, kann eine Begründung ethischer Wahrheiten nicht gelingen. NELSON: »Solange die Menschheit die Vernunft mit dem bloßen Verstande verwechselt, solange sie nur die Wahl zu haben glaubt, ob sie dem Gebot eines höheren Willens ihre Freiheit zum Opfer bringen oder sich in ihrem Wahrheitsbedürfnis durch die leere Logik abspeisen lassen soll, solange sie in Gewissensnot zwischen Autorität und Skepsis hin und her getrieben und zerrüttet wird, ebenso lange wird auch eine wahrhafte und befreiende Lösung ihrer Probleme eine Utopie bleiben .... Ein Ausweg ist hier nur möglich ... dadurch, daß man
Vorwort
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den Grundfehler beseitigt, der in der Nichtunterscheidung der Vernunft von der Reflexion liegt. Die Aufklärung dieses Unterschiedes ist der Ausgangspunkt der großen Reform der Philosophie, die FRIES begründet hat ... «2 Wird diese Reform aufgefaßt, so wird endlich die Voraussetzung für eine »wahrhafte und befreiende Lösung« der Menschheitsprobleme gegeben sein. Man kann schwer den Eindruck überschätzen, den die Aussicht auf einen solchen Königsweg vernünftigen Denkens und Handelns auf NELSON gemacht haben muß. Und in einer Zeit, in der überlieferte sittliche Maßstäbe fraglich geworden waren, in der Skepsis gegenüber sittlicher Wahrheit das Feld beherrschte, hat NELSON durch seinen Wahrheitsglauben stark, oft ihr Leben bestimmend, auf Menschen gewirkt. Er gab ihnen nicht nur den Glauben an sittliche Wahrheit, sondern zeigte ihnen eine große, in der sittlichen Wahrheit begründete Aufgabe, für die sich einzusetzen lohnt. Denn an sittliche Wahrheit glauben und ihre Verwirklichung in Angriff nehmen war für NELSON dasselbe. Das Vorwort zur »kritischen Ethik« ist 1913 geschrieben; die Hälfte der in diesem Band vereinigten Schriften, ebenso wie das für die Begründung der Ethik wichtigste Werk, die »Kritik der praktischen Vernunft«, kam während des ersten Weltkrieges heraus. Die philosophische Grundlage für eine Vernunftpolitik glaubte NELSON damit gelegt zu haben. Unter dem Eindruck des Krieges, »angesichts der Zertrümmerung einer ganzen Gesellschaftsordnung« 3, begann er, Menschen zu sammeln, die sich mit ganzer Kraft der Aufgabe widmeten, den Weg zur Vernunftpolitik miteinander zu suchen und zu gehen. 1917 gründete er den Internationalen Jugendbund und, nachdem dessen Mitglieder aus der Sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen worden waren, 1926 den als Partei konzipierten Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK). 1924 konnte das Landerziehungsheim Walkemühle, von MINNA SPECHT geleitet, seine Arbeit aufnehmen: die Erziehung von Politikern im Hinblick auf eine philosophisch-wissenschaftlich fun»Die Reformation der Philosophie durch die Kritik der Vernunft«, 1918, S. 254 f.; ds. Bd. S. 210 f. 3 „Kritik der praktischen Vernunft«, 1917, S. XIII. 2
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dierte Politik. Diese Arbeit, zu der junge Menschen, meist bereits im Internationalen Jugendbund, später im ISK tätige, in Kursen von in der Regel dreijähriger Dauer zusammengefaßt wurden, ging nach dem in der Rede »Erziehung zum Führer« vorgelegten Plan vor sich. Neben dieser Arbeit mit erwachsenen Schülern, die dem speziellen Ziel der politischen Erziehung diente, fand in der Kinderabteilung der Walkemühle eine am allgemeinen Ziel der Erziehung orientierte Erziehungsarbeit statt. Bei ihr ging es darum, Kindern bei der Entwicklung zu vernünftiger Selbstbestimmung zu helfen. Die Theorie dieser Arbeit ist in der Abhandlung »Erziehung zum Knechtsgeist« gegeben. In dieser Abhandlung verfolgt Nelson, wie er es, durch die axiomatische Methode der Mathematik angeregt, oft getan hat, einen einzigen Satz in seine Konsequenzen, hier in seine pädagogischen Konsequenzen, den Satz: Es gibt eine Pflicht. NELSON zeigt, daß eine Erziehung zum Gehorsam und eine mit Lohn und Strafe arbeitende Erziehung die Entwicklung des Pflichtbewußtseins verhindern muß. Und da er die öffentliche Erziehung von diesen Methoden beherrscht findet, kommt er zu der Feststellung, daß die bisherige Erziehung keinen Aufschluß darüber gibt, was eine an die sittliche Empfänglichkeit und nur an diese appellierende Erziehungsmethode leisten kann. In der Walkemühle sollte dies erprobt werden, mit der Strenge eines wissenschaftlichen Experiments, d. h. unter Ausschließung aller autoritätspädagogischen und opportunitätspädagogischen Methoden: »Sonst würde nämlich der Mißerfolg keinen eindeutigen Rückschluß auf die moralische Unempfänglichkeit des Zöglings gestatten ... «4 Von diesem Experiment erhoffte er sich, man würde »vielleicht zu seiner Überraschung finden, daß die Empfänglichkeit der Menschen für moralische Beweggründe alles übertrifft, was man vor diesem Versuch von ihr erwartet hatte ... «5 ; daß »Menschen ... sich bewahren, was sie als unverdorbene Kinder mitbringen: Glauben an die Wahrheit, Selbstvertrauen und Rechtsgefühl, wie diese sich äußern 4
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»Die Reformation der Gesinnung durch Erziehung zum Selbstvertrauen«, 1922, S. 119; ds. Bd. S. 482 Ebenda S. 120; ds. Bd. S. 483
Vorwort
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in Mut und Beharrlichkeit beim Vertreten der eigenen Oberzeugung«. 6 Die Arbeit in der Walkemühle kam infolge der Machtergreifung HITLERS 1933 gewaltsam zu Ende. Die Kinderschule wurde dann in Dänemark und später in England, unter MINNA SPECHTS Leitung, weitergeführt, bis sie auch dort geschlossen wurde, als, nach dem Fall Frankreichs angesichts einer drohenden deutschen Invasion, viele deutsche Emigranten interniert wurden, unter ihnen MINNA SPECHT und die meisten Lehrer der Schule. Die politische Arbeit im ISK hatte sich im Jahre 1932 ganz auf den Versuch konzentriert, durch Sammlung einer von den Kommunisten bis zu den Liberalen reichenden Einheitsfront der Linken die Machtergreifung HITLERS noch zu verhindern. Auch diese Arbeit kam 1933 zu Ende. Die, die sie getragen hatten, gingen, sofern sie nicht Deutschland verlassen mußten, in die Untergrundarbeit gegen HITLER. »Kein deutscher Philosoph unseres Jahrhunderts«, so stellt GERHARD WEISSER fest, »hinterließ so viele Schüler wie LEONARD NELSON, die im Kampfe gegen den Nationalsozialismus schwere und schwerste Opfer brachten.« 7 Die von NELSON gegründeten Organisationen und Institutionen waren, seiner politischen Theorie gemäß, führerschaftlich organisiert. Die beiden Prämissen und der Schlußsatz dieses Stücks der Theorie, zunächst auf den Staat bezogen, sind in folgenden Sätzen enthalten: »... daß es ein hinsichtlich seines Inhalts objektiv bestimmtes und also von aller Willkür unabhängiges Rechtsgesetz gibt und daß folglich niemand von Rechts wegen Gesetzgeber sein kann, als wer willens und vermögend ist, dieses Gesetz öffentlich geltend zu machen. . .. daß in einer Gesellschaft vernünftiger W esen in der Natur zwar jedes Mitglied, als vernünftiges Wesen, den rechtlichen Gesetzgeber der Möglichkeit nach in sich trägt, in Wirklichkeit aber, der ursprünglichen Dunkelheit der rechtlichen Erkenntnis zufolge, doch nur im hinreichend Gebildeten dieser rechtliche Gesetzgeber in Erscheinung tritt .... tritt also die Vernunft nur im 6
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»über das Landerziehungsheim Walkemühle«; ds. Bd. S. 577 In einer für den Verlagsprospekt dieser Ausgabe geschriebenen wissenschaftlichen Würdigung NELSONS,
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Gustav Heckmann
Urteil des hinreichend Gebildeten in Erscheinung, so folgt, daß dieser allein, kraft der Souveränität der Vernunft, Gesetzgeber von Rechts wegen in der Gesellschaft sein kann.« 8 Was hier vom Gesetzgeber gesagt ist, gilt für den Inhaber der nach NELSONS Theorie nicht in verschiedene Gewalten geteilten Staatsgewalt, den Regenten: »Auf die Frage also, wer der Regent im Staate sein soll, ist die einzig bündige Antwort die alte Platonische: der Weiseste.« 9 Und dieselbe Antwort gilt nach NELSON für die Willensbildung in der »Partei des Rechts« oder »Partei der Vernunft«. Ich halte den zitierten Schluß nicht für zwingend. Selbst wenn es möglich wäre, die Menschen nach den vielfältigen Kräften, die im Zusammenwirken einen Menschen befähigen, dem Recht und der Vernunft gemäß zu entscheiden und bei dieser Entscheidung unbeirrt zu verharren, in eine eindimensionale Rangordnung zu bringen, so daß man sagen könnte: dieser ist weiser als jener, so wäre auch dann noch nicht erwiesen, daß die »Machtvollkommenheit des Führers« 10 in der Hand des Weisesten die bestmögliche Gewähr dafür ist, daß Entscheidungen nach Recht und Vernunft maximal angenähert werden. Logisch zwingend ergibt sich nur folgendes: Die individuellen Manifestationen der Vernunft, wie sie in Einsicht und Willen der einzelnen hervortreten, sollen in eine solche Wechselwirkung miteinander gebracht und in ein solches Verfahren der Willensbildung der Gemeinschaft eingebracht werden, daß dadurch das ihr erreichbare Höchstmaß an vernünftiger Willensbildung gewährleistet wird. Damit ist eine nur durch Versuch und Irrtum lösbare Aufgabe gestellt, und es ist nicht a priori entschieden, daß Führerschaft ihre Lösung ist. Einleuchtend ist freilich, daß der bloße Formalismus der Mehrheitsentscheidung nicht die Lösung ist. Daß NELSON die Führerschaft als die logisch zwingende Lösung des Problems der Methode der Verwirklichung von Recht und Vernunft in der Gesellschaft erschien, wird verständlich aus dem gewal8
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»System der philosophischen Rechtslehre und Politik«, 1924, S. 273; ds. Ausg. Bd. VI, S. 245 f. Ebenda S. 274 bzw. VI 246. Ebenda S. 582 bzw. VI 496.
Vorwort
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tigen Eindruck, den die bei FRIES gefundene philosophische Grundlage auf ihn gemacht hat: Hier sah er eine bisher noch nie gegebene Voraussetzung für die theoretische und praktische Lösung der Probleme der praktischen Vernunft. Und denen, die sich diese Voraussetzung zu eigen machten, gebührte die Führung. Ich glaube, daß NELSON die Bedeutung einer bestimmten Theorie der Vernunft für das Praktischwerden der praktischen Vernunft, mag der Wahrheitsgehalt dieser Theorie noch so bedeutend sein, überschätzt hat. Und diese Überschätzung ging bei ihm und im ISK so weit, daß sie einem Ausschließlichkeitsanspruch auf den hier beschrittenen Weg zur Lösung der Menschheitsprobleme gleichkam. So spricht NELSON von der Partei des Rechts und der Partei der Vernunft. 11 Sie existierte noch nicht; sie ins Leben zu rufen, hatte NELSON sich zur Aufgabe gesetzt; der ISK sollte diese Partei sein. »Es steht keineswegs im Belieben des Gebildeten, ob er sich dieser Gemeinschaft anschließen will, sondern ihr Gefolgschaft zu leisten, ist für ihn unmittelbar Pflicht.« 12 Ich spreche hierüber nicht als ein von außen Urteilender, sondern als einer, der diesen Ausschließlichkeitsanspruch selber mit vertreten und erst später als Irrtum erkannt hat. Die Überbewertung einer bestimmten Theorie der Vernunft für das Praktischwerden der praktischen Vernunft ist bei NELSON eingebettet in eine Überschätzung der Möglichkeiten der Vernunft im inneren Leben des Menschen. Formulierungen wie »vollständiges Daniederhalten aller Regungen seiner (des Menschen, G. H.} persönlichen Eitelkeit und seines Ehrgeizes« 13 , »absolute Reinheit der Motive, insbesondere eine gänzliche Hintansetzung der eigenen Person« 14 greifen, wie später der Hauptsatz der formalen Pflichtenlehre, das Gebot des Charakters 15 , über die Möglichkeiten des Menschen hinaus. Die Lehre von den unbewußten Motivationen, 11
Ebenda S. 557 bzw. VI 475. »öffentliches Leben« 1921, S. 34; ds. Bd. S. 274 13 »Die Reformation der Gesinnung durch Erziehung zum Selbstvertrauen« S. 30; ds. Bd. S. 229 14 Ebenda S. 31 bzw. VIII 230 15 »System der philosophischen Ethik und Pädagogik«, 1932; ds. Ausg. Bd. V,§§ 30-32.
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XIV
Gustav Heckmann
und zwar von solchen, die nicht der Vernunft entspringen, ist in NELSONS Theorie der praktischen Vernunft nicht verarbeitet worden. Was ich kritisch gesagt habe, beeinträchtigt nicht NELSONS Bedeutung für die Weiterbildung der kritischen Philosophie, der er eine Ausprägung gegeben hat, die den in seiner Zeit entwickelten Maßstäben wissenschaftlicher Strenge standhält. Es beeinträchtigt nicht seine Leistung für eine rationale Begründung der beiden Grundpfeiler der Ethik: des Sitten- bzw. Rechtsgesetzes und des wahren Interesses des Menschen an vernünftiger Selbstbestimmung, und, auf dieser Grundlage, für die philosophische Grundlegung von Pädagogik, Sozialpolitik und Kulturpolitik. Es beeinträchtigt nicht seine Bedeutung für die Wiedererweckung des Glaubens an sittliche Wahrheit und Vernunft in einer Zeit der Orientierungslosigkeit und des Unglaubens. Es beeinträchtigt nicht seine Bedeutung für den Aufbau des Vertrauens, daß es uns möglich ist, im vernünftigen Austausch untereinander dem Weg von Wahrheit und Vernunft näherzukommen. All dies wird, von einem irrigen Ausschließlichkeitsanspruch befreit, um so stärker und reiner hervortreten. Hannover, März 1971 Gustav Heckmann
Abschnitt I Ethik
Die Theorie des wahren Interesses und ihre rechtliche und politische Bedeutung
Vortrag, gehalten am 6. März 1913 in Göttingen auf einer Tagung der Fries-Gesellschaft. Ergänzt durch das knappe philosophie-geschichtliche Vorwort erschien dieser Vortrag in: Abhandlungen der Friesschen Schule, neue Folge, herausgegeben von GERHARD HESSENBERG und LEONARD NELSON, vierter Band, zweites Heft, Vandenhoec:k & Ruprecht, Göttingen 1913, S. 395-425. Ohne das Vorwort übernahm NELSON ihn in den Sammelband: LEONARD NELSON, Die Reformation der Philosophie durch die Kritik der Vernunft, Der Neue Geist-Verlag, Leipzig 1918, S. 205-231 (die Abschnitte der Arbeit beginnen in diesen früheren Ausgaben auf den folgenden Seiten: Vorwort auf S. 397 bzw. -; I auf S. 399 bzw. 207; n auf S. 406 bzw. 213; III auf S. 410 bzw. 217; IV auf S. 415 bzw. 222; v auf S. 419 bzw. 226).
Vorwort Die vorliegende Abhandlung ist die Wiedergabe eines Vortrags, der im Kreise der Friesschen Schule am 6. März 1913 in Göttingen gehalten worden ist. Für diejenigen, die sich für die historischen Zusammenhänge der vorgetragenen Theorie interessieren, sei hier noch folgendes bemerkt. Eine Hindeutung auf den Begriff des wahren Interesses findet sich schon in dem Sokratisch-Platonischen Satze, daß die Tugend auf einem Wissen beruhe. Die tiefe psychologische Wahrheit dieses Satzes, die bestehen bleibt, wenn man ihn von aller intellektualistischen Mißdeutung befreit, kann sich erst zeigen, wenn man die Lehre von der ursprünglichen Dunkelheit der rein-vernünftigen Erkenntnis, wie sie von FRIES für die Theorie der spekulativen Vernunft entwickelt worden ist, auf die Theorie der praktischen Vernunft ausdehnt. Von seiten der Rechtslehre hat sich, soviel ich sehe, zuerst und allein KANT der Idee des hier abgeleiteten »Naturrechts« angenähert. In seiner Schrift »Was ist Aufklärung?« spricht er schon von der Unveräußerlichkeit des Rechts auf persönliche Selbstbestimmung, wenn auch, ohne eine Begründung für seine Behauptung zu geben. In KANTS systematischen Darstellungen der praktischen Philosophie findet dagegen dieses Recht keine Stelle. Und es kann in seinem System auch konsequenterweise keine Stelle finden, da nach ihm jedes Interesse und folglich auch aller Inhalt von Rechten nur empirischen Ursprungs ist. Er lehrt zwar ein Aufsichtsrecht des Staates über die Kirche, leitet dies aber nur aus der Aufgabe des Staates, die Sicherheit der bürgerlichen Ordnung betreffend, ab und gelangt so nicht zu einem Verbot der künstlichen Bevormundung. Eine Pflicht aus der Rück-
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Die Theorie des wahren Interesses
sieht auf die Vervollkommnung anderer gibt es in seinem System nicht. Eine solche Pflicht würde nach seiner Meinung sogar einen Widerspruch einschließen, da die Selbstbestimmung des einzelnen nur von ihm selber abhänge. Es bleibt nach ihm keine weitere Pflicht gegen andere übrig als die der Förderung ihrer Glückseligkeit. FRIES ist KANT gegenüber dadurch im Vorteil, daß er neben dem sinnlichen Triebe einen »reflektierten Trieb« als Vollkommenheitstrieb annimmt. Der Ursprung dieses Triebes wird bei ihm aber nicht recht klar. Da er die Ansicht von dem reinen Ursprung dieses Triebes nicht durchführt, so kann er auf ihn auch nicht die Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum anwenden. Damit verfehlt er die Lehre vom wahren Interesse, und es gibt auch bei ihm kein Verbot künstlicher Bevormundung; wie er denn auch das Recht nur einseitig der Gewalt entgegensetzt. FRIES tritt zwar in seinen politischen Lehren mit Entschiedenheit den Toleranz-Prinzipien des älteren Liberalismus entgegen; aber man sieht bei ihm nicht, inwiefern der Staat aus rechtlichen Gründen zu Eingriffen in die Freiheit der einzelnen ermächtigt ist, nicht aber um unmittelbar gegen Irrtum und Aberglauben zu schützen.
I Das Problem, um das es sich in den folgenden Betrachtungen handeln soll, tritt am deutlichsten zutage, wenn man von der gewöhnlichen Formulierung des Sittengesetzes ausgeht. Danach kommt es für die Entscheidung über die Rechtlichkeit einer Handlung nur auf die Abwägung der miteinander kollidierenden Interessen der von der Handlung betroffenen Personen an. Wonach soll aber entschieden werden, welches Interesse vorzuziehen ist? Was ist das Kriterium der Vorzugswürdigkeit eines Interesses? Meistens wird man das stärkste Interesse vorziehen. Aber doch kann die Stärke nicht das Ausschlaggebende sein, denn es erscheint uns oft als erlaubt oder sogar geboten, ein stärkeres Interesse zugunsten eines schwächeren zu verletzen.
I. Problemstellung
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Man kann hier drei Fälle unterscheiden. Der deutlichste ist der, daß wir verbrecherische Absichten nicht achten, sondern den Verbrecher ohne Rücksicht auf die Stärke seines Interesses in seiner Freiheit beschränken. Wie verträgt sich das mit dem Sittengesetz? Der Verbrecher ist doch auch eine Person, deren Interessen zu berücksichtigen sind. Auf diese Frage haben manche Philosophen keine Antwort gewußt und sind dadurch auf eine anarchistische Rechtslehre geführt worden. Der zweite Fall wird schon weniger leicht beachtet. Er tritt dann ein, wenn das Interesse der Person, mit der wir es zu tun haben, durch einen Irrtum veranlaßt wird. Jemand hat z.B. ein Interesse daran, eine Speise zu genießen, weil er nicht weiß, daß sie vergiftet ist. Wäre er nicht in diesem Irrtum befangen, so würde er ein solches Interesse nicht haben. Teilen wir diesen Irrtum nicht, so halten wir es für unsere Pflicht, das sogenannte »wohlverstandene« Interesse des anderen zu berücksichtigen. Gelingt es uns nicht, ihn über seinen Irrtum aufzuklären, so fühlen wir uns sogar berechtigt oder selbst verpflichtet, ihn mit Gewalt an der Befriedigung seines Interesses zu hindern. Der dritte Fall führt uns schon auf das eigentliche Thema. Es gibt gewisse »minderwertige« Interessen, z. B. Geiz, Habgier, Eitelkeit, Neid, Eifersucht, auf die Rücksicht zu nehmen wir uns nicht für verpflichtet halten. Wir fragen in diesem Falle gar nicht erst, ob ein solches Interesse stark oder schwach ist. Es erscheint uns z. B. einem eitlen Menschen gegenüber nicht als Unrecht, wenn wir seinen Prahlereien nicht zuhören, ihm mag noch so sehr daran gelegen sein, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln. Andererseits gibt es auch sogenannte »höhere« Interessen, die wir anderen, an sich nicht minderwertigen Interessen vorziehen. Die Höhe wird hier durchaus nicht nach der Stärke bemessen. Es erscheint uns z. B. unter Umständen als die unrechtmäßige Verletzung eines höheren Interesses, wenn wir einen anderen in seiner künstlerischen Produktion stören durch die Befriedigung eines, wenn auch stärkeren eigenen Interesses. Wie sind nun diese drei Fälle zu beurteilen und mit dem Sittengesetz in Einklang zu bringen?
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Die Theorie des wahren Interesses
Der erste Fall läßt sich ohne weiteres nach dem Sittengesetz erledigen. Das verbrecherische Interesse ist ja ein widerrechtliches, d. h. ein solches, in dessen Befriedigung wir nach dem Sittengesetz selber nicht einwilligen dürften, auch wenn es das unsere wäre. Wir sind also nicht verpflichtet, ein solches Interesse zu achten. Die zweite Schwierigkeit läßt sich ebenso leicht auflösen. Wenn ich mich in die Lage des anderen hineinversetze, dessen Interesse nur auf einem Irrtum beruht, so kann ich, der ich die Sachlage besser kenne, in die Verletzung dieses Interesses einwilligen; ja in Fällen wie dem vorhin als Beispiel herangezogenen könnte ich nicht einwilligen, daß diese Verletzung nicht geschähe. Die Verletzung des fraglichen Interesses ist dann also nicht nur erlaubt, sondern sogar Pflicht. Das Interesse, das durch diese Handlung wirklich verletzt wird, nämlich das augenblickliche Interesse am Genuß der Speise, ist ja schwächer als das Interesse an der Erhaltung des Lebens. Es bleibt also allein der dritte Fall übrig. Um nun hier die Untersuchung an bestimmtere Vorstellungen anzuknüpfen, wollen wir die typischen Formen, in denen er möglich ist, einzeln betrachten. Es handelt sich hier allemal darum, daß durch die Rücksicht auf den Wert oder Unwert eines Interesses die Entscheidung nach der bloßen Stärke der Interessen modifiziert wird. Diese Modifikation ist in vier typischen Formen möglich. Der erste Typus ist dadurch charakterisiert, daß die Minderwertigkeit des stärkeren Interesses die Pflicht aufhebt, es dem kollidierenden schwächeren Interesse vorzuziehen. Unter diesen Fall gehört das vorhin angeführte Beispiel. Was nun minderwertige Interessen sind, ist nachher zu untersuchen. Im zweiten Fall steht auf der einen Seite ein höheres Interesse, während auf der anderen Seite ein stärkeres und (für sich betrachtet) nicht notwendig minderwertiges steht. Hier kann die Befugnis oder auch die Pflicht entstehen, das schwächere Interesse dem stärkeren vorzuziehen. Nehmen wir z.B. zwei Zimmernachbarn, von denen der eine mit einem Freunde ohne höheren Zweck eine laute Unterhaltung führt, während der andere musiziert. Bei der hier entstehenden Interessenkollision ziehen wir das wertvollere Inter-
I. Problemstellung
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esse an der Musik dem anderen an der bloßen Unterhaltung vor. Ein anderes Beispiel liefert der folgende Fall. Es war ein Gesetz beantragt worden, das die Aufstellung von Plakaten an beliebigen Orten verbietet, da sie die Schönheit der Landschaft verderben und dadurch den Naturgenuß der Reisenden beeinträchtigen. Dagegen erhob sich ein Protest der Geschäftsleute, die erklärten, ein berechtigtes Interesse an einer möglichst umfangreichen Reklame für ihre Waren zu haben. Auf einer Versammlung wurde dann folgender Beschluß gefaßt: Es sei bei der Aufstellung von Plakaten allerdings darauf Rücksicht zu nehmen, daß man nicht hervorragend schöne Landschaften verderbe. Der Reisende habe ein Recht darauf, daß man ihm seine Freude an der Natur nicht störe. Andererseits dürfe man mit dieser Rücksicht aber auch nicht zu weit gehen; das Interesse am Naturgenuß beim Eisenbahnfahren z. B. sei nicht wichtig genug, um dem stärkeren Interesse der Geschäftsleute an der Bekanntmachung ihrer Waren vorgezogen zu werden. Hierin spricht sich deutlich das Gefühl für den Unterschied von Stärke und Wert der Interessen aus. Hierher gehört auch das berühmte Beispiel der Planke des KARNEADES. Zwei Schiffbrüchige klammern sich an eine Planke, die nur einen tragen kann. Um zu entscheiden, wer diese Planke allein besitzen soll, kommt es nicht nur darauf an, wer das stärkere Interesse am Leben hat, sondern auch, wer das wertvollere hat. Wäre etwa der eine von beiden ein Taugenichts, der andere eine hochstehende Persönlichkeit, so würden wir diesem das Recht zubilligen, den anderen ins Wasser zu stoßen, auch wenn er selbst sich weniger vor dem Tode fürchtete. Man warf früher diesem Beispiel vor, daß es zu wenig dem Leben entspreche. Mit Unrecht, denn wenigstens seit der berühmten Titanic-Katastrophe ist das Problem der Rangordnung bei der Rettung Schiffbrüchiger geradezu populär geworden. Wenn bei einem solchen Unglück der Kapitän bestimmt, daß zuerst die Reisenden und von diesen zuerst die Frauen gerettet werden sollen, so billigen wir diese Entscheidung nur darum, weil die Anwendung eines anderen Auswahlprinzips im allgemeinen unmöglich ist. Die Mannschaft begeht ja sicher kein Unrecht, wenn sie auf die eigene Rettung verzichtet und den Reisenden den Vorzug gibt, denn gegen sich selbst
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Die Theorie des wahren Interesses
kann man kein Unrecht tun. Aber dieses Verfahren ist doch nur ein Notbehelf angesichts der Unmöglichkeit, den persönlichen Wert der einzelnen Personen objektiv abzuschätzen. Wenn wir die Mannschaft und die Reisenden hinreichend genau kennten, so würden wir nicht so entscheiden, sondern jene mit den wertvollsten Interessen am Leben vorziehen. Im dritten Fall stehen auf beiden Seiten mehr oder weniger wertvolle Interessen. Hier kann es Pflicht sein, das wertvollere Interesse dem weniger wertvollen, aber stärkeren vorzuziehen. Modifizieren wir eins der vorigen Beispiele so, daß beide Teile wertvolle Interessen haben. Nehmen wir an, daß von den beiden Zimmernachbarn der eine, statt eine zwecklose Unterhaltung zu führen, sich im Pistolenschießen übt, wodurch der andere gewiß nicht weniger im Musizieren gestört wird. Wir geben der Ausbildung jeder Geschicklichkeit einen Wert und ziehen unter sonst gleichen Umständen den Geschickteren dem weniger Geschickten vor. Aber wir werden das Interesse an der Ausbildung einer musikalischen Fertigkeit dem an der Geschicklichkeit im Schießen vorziehen, auch wenn dieses vielleicht einen Grad der Leidenschaft erreicht hat, dem jenes weit nachsteht. Der vierte Fall ist der für uns beachtenswerteste. Es kann Pflicht sein, daß wir ein Interesse zurücksetzen, ohne daß ihm auf der anderen Seite überhaupt ein wirkliches Interesse gegenübersteht. Dies tritt ein, wenn ein nur mögliches Interesse auf der anderen Seite einen hinreichend hohen Wert hat. Angenommen etwa, Eltern oder Erzieher haben ein Interesse daran, ein Kind in der wohlwollendsten Weise zu bevormunden, und das mache ihnen so viel Freude, daß sie das Kind nicht selbständig werden lassen, damit es sich nicht ihrer Obhut entziehe. Dies erscheint uns als eine Pflichtverletzung der Eltern. Aber welches Interesse verletzen sie denn? Das Kind hat ja kein Interesse an seiner Selbständigkeit, es fühlt sich im Gegenteil unter der Obhut seiner Erzieher um so wohler, je mehr es durch sie jeder Anstrengung, für sich selbst zu sorgen, enthoben ist. Auch die Rücksicht auf das spätere Interesse des Kindes kann nicht ausschlaggebend sein; denn die Eltern können es durch eine geschickte Bevormundung dahin bringen, daß das Kind zeit sei-
II. Wert eines Interesses - Abstraktion
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nes Lebens so unselbständig bleibt, daß nicht einmal der Wunsch nach Selbständigkeit in ihm rege wird. Aber in diesem Falle würden wir gerade eine Schuld der Eltern darin sehen, daß sie das Erwachen des Dranges nach Selbständigkeit bei dem Kinde verhindern. Dies sind die möglichen Typen von Fällen, in denen die Materie der Pflicht durch die Berücksichtigung des Wertes der Interessen modifiziert wird. Es drängt sich hier die Frage auf, ob man vielleicht bei der Abwägung der Interessen ihre Stärke ganz vernachlässigen und sich auf die Betrachtung ihres Wertes beschränken kann. Daß dies nicht möglich ist, zeigt eine genauere Betrachtung der zum zweiten und dritten Typus gehörigen Fälle. Nehmen wir nur z.B. an, daß von den beiden Zimmernachbarn, deren einer musiziert, der andere krank und ruhebedürftig ist und unter dem Anhören der Musik leidet, so werden wir es im allgemeinen als Pflicht des ersten ansehen, das Musizieren zu unterbrechen. Hieraus sieht man, daß die Vernachlässigung der Stärke nur bis zu einer gewissen Grenze gehen darf. Wir kommen also zu dem Schluß, daß sich die Vorzugswürdigkeit weder allein nach der relativen Stärke noch allein nach dem relativen Wert der Interessen richtet. Hier entstehen daher die Fragen: 1. Welches ist das Kriterium des Wertes eines Interesses? 2. Wie ist es möglich, etwas so Ungleichartiges wie Wert und Stärke der Interessen zu vergleichen? 3. Wie läßt sich die Rücksicht auf den Wert der Interessen mit dem Sittengesetz in Einklang bringen? Nach dem Sittengesetz kommt es darauf an, ob wir in unsere Handlung einwilligen könnten, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch die unsrigen wären. Die Möglichkeit unserer Einwilligung hängt doch aber nur von der Stärke unserer Interessen ab.
II Um zunächst zu untersuchen, was wir eigentlich unter dem Wert eines Interesses verstehen und nach welchem Prinzip wir diesen
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Die Theorie des wahren Interesses
Wert beurteilen, wenden wir das Verfahren der Abstraktion an, indem wir von unseren faktischen Urteilen ausgehen und deren Voraussetzungen zergliedern. Wenn wir über den Wert eines Interesses urteilen, so tun wir dies auf Grund eines anderen Interesses, das wir selber an dem beurteilten Interesse haben. Dieses andere Interesse zeichnet sich nun dadurch aus, daß es die Behauptung eines Wertes einschließt; diese Behauptung ist es eigentlich, die wir im Urteil wiedergeben. Dieses Urteil ist objektiv insofern, als wir seinem Gegenstande einen Wert zuschreiben, der ihm unabhängig davon zukommt, daß wir gerade ein Interesse an dem Gegenstande haben. Nicht alle Interessen sind von dieser Art. Wenn uns der Geschmack einer Speise angenehm ist, so ist das Interesse daran nicht objektiv, sondern bezieht sich nur auf unseren Empfindungszustand. Dem Gegenstand wird dadurch nur insofern ein Wert zugeschrieben, als er uns Genuß verschafft und also Gegenstand unseres Interesses ist. Wenn wir dagegen der Ehrlichkeit einen Wert zuschreiben, so meinen wir damit nicht, daß wir gerade ein Interesse an der Ehrlichkeit haben, sondern daß der Ehrlichkeit an sich ein Wert zukommt. Das Interesse, das wir an der Ehrlichkeit haben, schließt schon diese Behauptung ihres Wertes ein. Wir müssen also zwei Klassen von Interessen unterscheiden, die wir als subjektive und objektive bezeichnen können. Diese schließen eine Behauptung ein, die wahr oder falsch sein kann, während jene sich in ihrem bloßen Dasein erschöpfen. Die einen hängen von der Einsicht des Menschen ab, die anderen dagegen nur von der Art, wie er empfindet. Die einen können gebildet, die anderen höchstens modifiziert werden. Wenn jemand Geschmack am Rauchen findet, nachdem er zuerst dabei Übelkeit empfand, so sehen wir darin keine Berichtigung eines Irrtums. Gewinnt dagegen jemand Interesse am Lesen guter Bücher, der sich vorher seine freie Zeit nur durch Kartenspielen zu vertreiben wußte, so beurteilen wir dies als einen Fortschritt seines Verständnisses. Hieraus folgt ein für die Anwendung wichtiger Satz. Wenn sich der Wert des Gegenstandes des subjektiven Interesses nur durch die Stärke dieses Interesses bestimmt, so muß auch die Stärke des In-
II. Wert eines Interesses - Abstraktion
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teresses dem Wert des Gegenstandes notwendig entsprechen. Im anderen Falle behaupten wir dagegen, daß der Gegenstand einen Wert hat, der ihm unabhängig von unserem Interesse zukommt. Hier braucht also das stärkere Interesse sich nicht notwendig auf den wertvolleren Gegenstand zu beziehen. Wenn wir nun nach dem Kriterium für die Beurteilung des Wertes der Interessen fragen, so finden wir, daß diese Beurteilung, wenn sie in besonnener Weise erfolgt, sich auf einzelne Lebensäußerungen nur insofern bezieht, als diese im Zusammenhang mit dem Ganzen unseres Lebens stehen und zum Wert dieses Ganzen beitragen. Dem Studium guter Bücher z. B. geben wir nicht an und für sich einen festen Wert, sondern schätzen es nur insofern, als es den einzelnen belehrt, und auch dies nur, insofern es dadurch seine Gesamtpersönlichkeit bereichert. Daher richtet sich auch unsere Schätzung nicht unmittelbar nach dem Grade der Belehrung, sondern sie hängt davon ab, wieweit wissenschaftliche Arbeit überhaupt zum Ganzen gerade seines Lebens paßt. Insofern nun die Befriedigung (oder Verletzung) jedes Interesses ein Element im Ganzen unseres Lebens ist, kann sie objektiv gewertet werden. So gehört es z. B. zum Wert des Lebens, daß der Mensch nicht mit seinen sinnlichen Interessen im Kampfe liegt, sondern daß er sie hinreichend befriedigt, um die Möglichkeit zu haben, sich auch höheren Interessen zuzuwenden. Hier zeigt sich nun der Grund der Möglichkeit einer Vergleichung der Stärke mit dem Wert der Interessen. Wir führen die Vergleichung von Interessen überhaupt auf die Vergleichung von objektiven Interessen zurück, indem wir folgendes Kriterium aufstellen: Die Vorzugswürdigkeit eines Interesses gegenüber kollidierenden bestimmt sich durch die relative Stärke des Interesses, das eine vollkommen gebildete Person an seiner Befriedigung haben würde, wenn unter einer vollkommen gebildeten Person eine solche verstanden wird, die einerseits über vollkommene Einsicht verfügt und andererseits stets das als wertvoller Erkannte dem als weniger wertvoll Erkannten vorzieht. (Die vollkommene Einsicht ist nötig, um das angemessene Interesse an dem Gegenstand zu haben, denn das objektive Interesse hängt von der Einsicht ab. Ferner ist aber
Die Theorie des wahren Interesses
auch notwendig, daß dies Interesse für den Willen bestimmend ist.) Die Richtigkeit einer rechtlichen Entscheidung hängt hiernach von der Bildung des Urteilenden ab. Zur Bestimmung der Materie der Pflicht (oder des Inhalts des Rechts) genügt es nicht, nur den Tatbestand genau zu kennen, sondern um auch die Werte abwägen zu können, bedarf es der Ausbildung des Urteils über den Wert des Lebens überhaupt oder kurz der »praktischen Lebensansicht«. - Die Moralität ist natürlich von dieser praktischen Lebensansicht unabhängig. Damit eine Handlung moralisch ist, ist ja nur notwendig, daß sie der subjektiven Überzeugung entspricht; eine ganz andere Frage ist es, ob diese Überzeugung richtig ist. Hiermit sind die Fragen nach der Regel des Wertes eines Interesses und nach der Vergleichbarkeit von Stärke und Wert der Interessen beantwortet. Es bleibt noch die Frage übrig, wie sich die Rücksicht auf den Wert der Interessen mit dem Sittengesetz in Einklang bringen läßt. Wir können sie jetzt nach demselben Prinzip entscheiden wie jene Frage, die sich bei Betrachtung des wohlverstandenen Eigen-Interesses ergab. So wie dort das Interesse mit der Stärke ins Gewicht fällt, die es durch die Berichtigung des theoretischen Irrtums erhalten würde, so kommt hier noch die Korrektur des praktischen Irrtums hinzu.
III Die Frage nach der Berechtigung der durch die ausgeführte Abstraktion aufgewiesenen Voraussetzungen läßt sich nur entscheiden durch den Beweis der Existenz einer ihnen zugrunde liegenden unmittelbaren Erkenntnis, also durch eine Deduktion. Das Wort »Erkenntnis« wird hierbei in dem weiteren Sinne verstanden, in dem man auch von einer praktischen Erkenntnis sprechen und also auch ein Interesse, insofern es auf Objektivität Anspruch macht, eine Erkenntnis (von Werten nämlich) nennen kann. In der Tat kann die fragliche Erkenntnis nur eine Werterkenntnis und also ein Interesse sein. Zum Bewußtsein kommt uns dies Interesse nur im
III. Wert eines Interesses - Deduktion
Urteil und also nur durch Reflexion, wenn auch nicht in der Form eines abstrakten Urteils, so doch in der Form eines Wertgefühls. Das subjektive Interesse kommt uns dagegen unabhängig von der Reflexion zum Bewußtsein, wenn wir es auch mittelbar im Urteil wiedergeben können. Nun sieht man aber, daß, wie hier dem Urteil ein subjektives Interesse zugrunde liegt, so auch im anderen Falle dem Urteil, das einen objektiven Wert behauptet, ein Interesse zugrunde liegen muß. Denn die Reflexion ist für sich nur ein logisches Vermögen, und das Moment der Schätzung, das hier im Urteil zutage tritt, ist an sich der Reflexion völlig fremd. Aus der Reflexion stammt nur die Form des Urteils; der Gehalt muß schon für das theoretische Urteil aus einer anderen Quelle entlehnt werden, und also erst recht auch für das praktische Urteil. Wenn daher auch das objektive Interesse nur durch Reflexion zum Bewußtsein kommen kann, so entspringt es doch darum ebensowenig aus der Reflexion wie das subjektive Interesse. Wie wir unter den Erkenntnissen anschauliche und nicht-anschauliche unterscheiden, so müssen wir eine entsprechende Einteilung der Interessen vornehmen. Interessen, die unmittelbar bewußt sind, wollen wir »intuitive« Interessen, solche, die nur mittelbar (durch die Reflexion) bewußt werden, »nicht-intuitive« Interessen nennen. Das fragliche Interesse kommt uns nur durch Reflexion zum Bewußtsein: es ist ein nicht-intuitives Interesse. Wir müssen also von der reflektierten Form des objektiven Interesses noch das unmittelbare objektive Interesse selbst unterscheiden, und dieses ist, obgleich ein nicht-reflektiertes, so doch kein intuitives, sondern ein ursprünglich dunkles Interesse. Wir setzen hier natürlich das Selbstvertrauen der Vernunft voraus, wenn wir den Existenzbeweis eines unmittelbaren Interesses für ausreichend zur Begründung seines Rechtsanspruches halten. Welcher Art ist nun dieses objektive Interesse? Wir kennen drei Arten von Schätzungen: sinnliche, sittliche, ästhetische. Sollte hier eine vierte Art vorliegen? Das untersuchte objektive Interesse kann nicht zu der ersten Gruppe gehören, wie aus dem sowohl intuitiven als auch subjektiven Charakter der sinnlichen Interessen hervor-
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Die Theorie des wahren Interesses
geht. Es ist vielmehr ein reines oder intellektuelles Interesse. - Zur zweiten Gruppe kann es nicht gehören, da wir es hier mit einer positiven Wertung zu tun haben, während die sittliche Schätzung nur negativen Charakter hat, wie dies bei der imperativischen Form, die das Wesen des sittlichen Urteils ausmacht, auch nicht anders sein kann. - Gegen die dritte Möglichkeit, daß das fragliche Interesse ästhetisch ist, scheint vielerlei zu sprechen. Zunächst gilt die ästhetische Schätzung als interesselos, und dies in doppeltem Sinne. Erstens insofern sie von der Existenz des Gegenstandes unabhängig ist, nach der Lehre vom ästhetischen Schein, und zweitens insofern sie die Möglichkeit eines ästhetischen Begehrens ausschließt, nach dem Wort: »Die Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht.« Ferner spricht dagegen die Unauflösbarkeit des ästhetischen Gefühls; das Interesse, mit dem wir es hier zu tun haben, läßt sich in Urteilen wiedergeben, die eine weitgehende logische Reduktion gestatten. So läßt sich z. B. die Schätzung der Geduld auf die der Selbstbeherrschung, die Schätzung der Ehrlichkeit auf die der Wahrheitsliebe zurückführen. Diese Einwände gegen den ästhetischen Charakter des fraglichen Interesses sind indessen nicht stichhaltig. Was zunächst die behauptete Unabhängigkeit der ästhetischen Schätzung von der Existenz betrifft, so werden hier zwei Bedeutungen des Wortes »Existenz« verwechselt. Existenz im physikalischen Sinne kann allerdings für den ästhetischen Gegenstand nicht gefordert werden, da ihre Bestimmung begriffliche Kriterien, nämlich Naturgesetze, voraussetzt, während es für den ästhetischen Gegenstand genügt, daß er anschaulich gegeben ist. Daß z. B. die Erscheinung des Regenbogens im physikalischen Sinne nichts Wirkliches ist, ist für ihre ästhetische Schätzung gleichgültig. Existenz in dem Sinne dagegen, daß der Gegenstand nicht nur vorgestellt, sondern auch sinnesanschaulich gegeben ist, ist eine notwendige Bedingung der ästhetischen Schätzung. (Daß der ästhetische Gegenstand anschaulich gegeben sein muß, steht natürlich nicht im Widerspruch mit dem nicht-intuitiven Charakter der ästhetischen Schätzung.) Die Behauptung ferner, daß es kein ästhetisches Begehren gebe, wird stets nur durch eine petitio principii begründet. Man begnügt
III. Wert eines Interesses - Deduktion
sich nämlich mit dem Hinweis, daß die ästhetische Schätzung von sinnlichen und sittlichen Begehrungen unabhängig ist, während ja gerade die Frage ist, ob es nicht eigene ästhetische Begehrungen gibt. Und solche gibt es in der Tat; es gehört zu ihnen der Wunsch, sein Leben schön zu gestalten. Die Behauptung der Uninteressiertheit der ästhetischen Schätzung trifft also nicht zu, und wir dürfen daher ohne Bedenken von einem ästhetischen Interesse sprechen. Der Einwand endlich, daß die ästhetische Schätzung sich nicht auf allgemeine Regeln des Wertes zurückführen läßt, während man doch gewisse allgemeine Regeln darüber auf stellen kann, was zum Wert einer Persönlichkeit gehört, ist nur insofern richtig, als der ästhetische Gegenstand auf der Einheit einer anschaulichen Form beruht, so daß infolge der Zufälligkeit der mathematischen Zusammensetzung die Einheit und Abgeschlossenheit des ästhetischen Gegenstandes (eines Sternbildes z.B.) im allgemeinen nicht mit der Einheit und Abgeschlossenheit eines physikalischen Systems zusammenfällt. Wie aber schon der Organismus nicht nur eine ästhetische, sondern auch (als ein sich selbst erhaltendes System von Wechselwirkungen) eine wenigstens relative physikalische Einheit darstellt, so fällt auch bei der Persönlichkeit ästhetischer Gegenstand und Naturgegenstand zusammen, und die Bedingungen ihrer Selbsttätigkeit lassen sich daher theoretisch bestimmen. Die Möglichkeit einer logischen Reduktion der ästhetischen Urteile erklärt sich also hier durch das Zusammenfallen von ästhetischem Gegenstand und Naturgegenstand. Wir werden nach alledem kein Bedenken tragen, das untersuchte Interesse als ein ästhetisches anzusehen. Dieses Ergebnis gestattet uns zugleich, den Inhalt der besonderen uns beschäftigenden Art der Schätzung zu bestimmen. Schönheit ist, nach SCHILLERS Ausdruck, überall Freiheit in der Erscheinung, Schönheit der Persönlichkeit also Unabhängigkeit der Lebenstätigkeit von zufälligen, d. h. dem Wesen des vernünftigen Geistes fremden Antrieben oder, positiv ausgedrückt, vernünftige Selbstbestimmung. Die ästhetische Schätzung gibt uns daher, auf die Persönlichkeit angewandt, das Ideal der Bildung, d. h. der ver-
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Die Theorie des wahren Interesses
nünftigen Selbstbestimmung. Für die Gesellschaft folgt daraus von selbst das Ideal der persönlichen Freiheit, d. h. eines Zustandes, in dem niemand von seiten anderer in der Möglichkeit der Bildung beschränkt wird. Durch diese Deduktion finden auch die Fragen eine Lösung, die die Abstraktion noch zurückließ. Der Unterschied von wirklichem und wahrem Interesse erklärt sich durch die ursprüngliche Dunkelheit des reinen Interesses. Sie bedingt das Auseinandertreten von reflektiertem und unmittelbarem Interesse. Der Irrtum beruht auf der Abweichung des reflektierten Interesses von dem unmittelbaren. Das unmittelbare Interesse selbst ist als solches irrtumsfrei, kraft des Prinzips des Selbstvertrauens der Vernunft. Zugleich klärt sich hier vollends die Frage auf, wie die Abweichung des Kriteriums der Vorzugswürdigkeit von der relativen Stärke der Interessen in dem Sittengesetz begründet ist. Wir brauchen tatsächlich bloß wirkliche Interessen zu vergleichen, wenn wir nur die unmittelbaren Interessen berücksichtigen und nicht nur ihre reflektierte Form. Daß also die Vorzugswürdigkeit sich nicht ohne weiteres nach der relativen Stärke der Interessen bestimmt, beruht nur auf der Unvollkommenheit des Bewußtseins um das unmittelbare und als solches auch wirkliche Interesse. Das vorhin als Kriterium eingeführte und insofern bloß fingierte Interesse einer vollkommen gebildeten Person findet hier sein wirkliches Korrelat. Auch der zunächst schwierige Fall, wo anscheinend überhaupt kein Interesse auf der anderen Seite steht, zugunsten dessen wir unser Interesse zurücksetzen, wird jetzt verständlich. Es steht tatsächlich doch ein Interesse auf der anderen Seite, das unser Interesse einschränkt. Es ist nur nicht bewußt, aber doch wirklich und hat als solches Anspruch auf unsere Achtung.
IV Was leistet nun diese Theorie des wahren Interesses für den Aufbau des Systems der Ethik, für Rechtslehre und Politik?
IV. Anwendung auf Ethik und Rechtslehre
Es gibt keinen Rechtskodex aus reiner Vernunft. Wir erhalten bestimmte Rechtssätze nur durch die Anwendung des Sittengesetzes auf die wirklichen Interessen, die in der Gesellschaft bestehen und die wir als solche nur empirisch kennenlernen können. Die entwickelte Theorie lehrt uns aber, daß es ein Interesse gibt, das seinem Gegenstand nach a priori bestimmt werden kann. Dies ist das wahre Interesse jedes vernünftigen Wesens an dem Wert seines Lebens. Insofern konstituiert das wahre Interesse das einzige Naturrecht, wenn darunter ein seinem Inhalte nach a priori bestimmtes Recht verstanden wird. Das wahre Interesse hat nun das Eigentümliche, daß seine Befriedigung nur durch Selbsttätigkeit möglich ist. Es kann also nie die Pflicht entstehen, dies Interesse bei einem anderen Menschen zu befriedigen, sondern es kann nur Pflicht sein, ihm die Möglichkeit zu gewähren, es selbst zu befriedigen. Hierzu gehört auch die Pflicht, Hindernisse der Selbsttätigkeit, die den Menschen von anderer Seite in den Weg gelegt werden, hinwegzuräumen. Das folgt daraus, daß ich an Stelle solcher Menschen nicht einwilligen könnte, daß andere Menschen, die die Möglichkeit dazu hätten, mich von diesen Hindernissen nicht befreien. Jeder weitergehende Versuch aber (das wahre Interesse eines anderen zu befriedigen) würde sein wahres Interesse, insofern es auf Selbsttätigkeit gerichtet ist, vielmehr verletzen und ist daher nicht einmal als ein erlaubter Dienst der Freundschaft möglich. Die Pflicht dem sinnlichen Interesse anderer gegenüber geht darin weiter, daß sie seine unmittelbare Befriedigung verlangen kann. In anderer Beziehung geht aber die Pflicht dem wahren Interesse gegenüber weiter. Das sinnliche Interesse ist dem wahren gegenüber darin gleichsam im Vorteil, daß es sich immer selbst geltend macht. Daher kann es sich nie auf sich selbst richten: Es kann nie im sinnlichen Interesse eines Menschen liegen, ein sinnliches Interesse in sich zu entwickeln. Dagegen bezieht sich das wahre Interesse auch auf sich selber, darauf, daß es zum Bewußtsein geweckt wird. Denn es liegt im wahren Interesse eines Menschen an der Selbstbestimmung, daß er sich seines Interesses an der Selbstbestimmung bewußt wird. Daher die Pflicht, das wahre Interesse auch in-
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Die Theorie des wahren Interesses
sofern zu berücksichtigen, als das Bedürfnis nach seiner Befriedigung (nach Selbsttätigkeit also) erst geweckt werden muß. Indem wir das wahre Interesse an der Selbstbestimmung unter das Rechtsgesetz subsumieren, erhalten wir den Naturrechtssatz: Alle ihrer Natur nach bildungsfähigen Wesen haben das gleiche Recht auf die äußere Möglichkeit, zur Bildung zu gelangen. Der Objektivität des reinen Interesses zufolge ist dieser Rechtsanspruch unabhängig davon, ob er durch ein wirkliches Bedürfnis vertreten wird. Eine Beschränkung der persönlichen Freiheit muß daher als Rechtsverletzung gelten ohne alle Rücksicht darauf, ob dem berechtigten wahren Interesse an der Freiheit ein wirkliches Bedürfnis entspricht, und es hebt also auch die tatsächliche Einwilligung eines Menschen in eine solche Beschränkung nicht deren Widerrechtlichkeit auf. Der Satz: »volenti non fit iniuria« gilt daher für das wahre Interesse nicht. Hiermit ist die Unveräußerlichkeit des Rechts auf Selbstbestimmung begründet. Seine Geltung kann durch keinen Vertrag und durch kein positives Gesetz eingeschränkt oder aufgehoben werden. Wenn sich also jemand als Sklave verkauft, so hat dieser Vertrag keine Rechtskraft. Und wenn auch ein ganzes Volk durch Parlamentsbeschluß darin einwilligt, von Priestern bevormundet zu werden, so ist dieser Beschluß null und nichtig. Bevormundung, d. h. Entziehung der Möglichkeit der Selbstbestimmung, ist gegenüber Wesen, die verständiger Selbstbestimmung überhaupt fähig sind, als eine Beschränkung ihres wahren Interesses anzusehen. (Vom Strafrecht können wir hier, nach dem bereits früher Gesagten, absehen.) Die Erlaubnis zur Bevormundung besteht daher nur gegenüber Wesen, die verständiger Selbstbestimmung nicht fähig sind, sei es, daß ihnen diese Fähigkeit ihrer Natur nach fehlt, wie den Tieren, sei es, daß sie diese Fähigkeit nicht mehr besitzen, wie die Geisteskranken, sei es, daß sie ihnen noch nicht zukommt, wie den Kindern. Man sieht leicht, daß diese Erlaubnis insofern sogar zur Pflicht werden kann, als die Unfähigkeit eines Wesens zu verständiger Selbstbestimmung es ihm unmöglich macht, sein sinnliches Interesse zu befriedigen. Die Rücksicht auf das wahre Interesse schränkt diese Erlaubnis aber auf die Bedin-
V. Anwendung auf die Politik
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gung ein, daß die Bevormundung so ausgeübt wird, daß sie das bevormundete Wesen so bald, als es die Umstände gestatten, zur Fähigkeit verständiger Selbstbestimmung gelangen (oder wieder gelangen) läßt. Einen Menschen zu bevormunden, kann also nur aus demselben Grunde erlaubt sein, aus dem es zugleich Pflicht ist, nämlich aus Rücksicht darauf, daß er verständiger Selbstbestimmung unfähig ist. Nennen wir daher eine rechtlich nicht notwendige Bevormundung »künstlich«, so können wir zusammenfassend sagen, daß jede künstliche Bevormundung widerrechtlich ist. Diesen Satz müssen wir anwenden, wenn die Frage entsteht, wieweit es erlaubt sei, einen Menschen zu bevormunden. Man könnte hier sagen, verständige Selbstbestimmung sei ein bloßes Ideal, und also bedürften eigentlich alle Menschen der Bevormundung; da dies aber eine Unmöglichkeit einschließt, so sollte wenigstens die große Menge der Menschen von denen, die dem Ideal am nächsten kommen, bevormundet werden. Es hat aber jeder Mensch, der nicht verständiger Selbstbestimmung überhaupt unfähig ist, ein wahres Interesse an der Selbsttätigkeit, das durch Bevormundung verletzt würde. Da nun jede über das Maß des rechtlich Notwendigen hinausgehende Beschränkung der Freiheit widerrechtlich ist, so folgt, daß es eines nachweislichen Grundes der Notwendigkeit bedarf, um einen Menschen unter Vormundschaft zu stellen und zu halten, nicht aber eines solchen, um ihm die Freiheit der Selbstbestimmung zu geben. Es hat daher jeder als mündig zu gelten, der nicht nachweislich verständiger Selbstbestimmung überhaupt unfähig ist, nicht aber umgekehrt.
V Wenden wir die Theorie des wahren Interesses auf die Politik an, so erhalten wir eine ganz neue Ansicht von ihren Aufgaben, und zwar gilt dies nicht nur von der Kulturpolitik, sondern auch von der Wirtschaftspolitik. Bisher entlehnte die Politik ihre philosophischen Kriterien einzig dem Gesetz der Gleichheit der Perso-
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Die Theorie des wahren Interesses
nen. Wir haben aber neben dem Ideal der Gleichheit auch noch das der Freiheit eingeführt. Es kommt daher hier alles auf die richtige Bestimmung des Verhältnisses dieser Ideale der Gleichheit und der Freiheit an. Man kann nicht von der dogmatischen Annahme ausgehen, daß eine prästabilierte Harmonie in der Durchführbarkeit dieser beiden Ideale bestehe. Da wir vor der Möglichkeit einer Kollision beider keineswegs sicher sind, so haben wir grundsätzlich zu entscheiden, welches Ideal im Falle einer solchen Kollision den Vorrang hat. Diese Entscheidung ist darum schwierig, weil hier nicht ein Ideal mit einer Pflicht, sondern zwei Ideale miteinander kollidieren. Es besteht zwar die Pflicht für den einzelnen, seinerseits keine widerrechtliche Handlung zu begehen, aber es ist nur ein / deal, einen gesellschaftlichen Zustand zu verwirklichen, in dem keine widerrechtlichen Handlungen geschehen. Es läßt sich aber dennoch zwischen beiden Idealen eine Entscheidung treffen. Der Wert des Rechtszustandes und der Wert der Freiheit sind von ganz verschiedenem Ursprung. Nach dem Sittengesetz kann ein Zustand der Gesellschafl, der nicht der Bedingung der Gleichheit genügt, keinen Wert haben, auch wenn er dem Ideal der Freiheit noch so nahe kommt. Denn die Notwendigkeit, die nach dem Sittengesetz dem Rechtszustand zukommt, erteilt jedem ihm widersprechenden Zustande einen unendlichen Unwert, also einen solchen, der durch keinen noch so großen positiven Wert wieder aufgehoben werden kann. Die Rechtlichkeit ist folglich die einschränkende Bedingung des Wertes eines gesellschaftlichen Zustandes überhaupt. Das Ideal der Gleichheit hat daher im Kollisionsfall den Vorrang. Hieraus ergibt sich z. B. eine wichtige Konsequenz für die Wirtschaftspolitik. Verstehen wir unter einer kommunistischen Wirtschaflsordnung eine solche, in der die Verteilung der Güter durch den Staat erfolgt, so läßt sich die Behauptung, der Kommunismus sei als eine Bedingung der Durchführung der Gleichheit notwendig, nicht durch den Hinweis auf die mit ihm verbundene Beschränkung der Freiheit widerlegen, sondern, wenn überhaupt, so durch die Nachweisung, daß dieses Wirtschaflssystem vielmehr nicht einmal die Gleichheit zu sichern vermöge.
V. Anwendung auf die Politik
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Wenn man überhaupt mit der Anwendung des Prinzips der Gleichheit auf die Wirtschaftspolitik Ernst macht, so stellt man gewöhnlich die Forderung, daß der Staat jedem die gleiche Möglichkeit sichere, zum Wohlstand zu gelangen. (Daß man nicht für jeden Wohlstand, sondern nur die gleiche Möglichkeit fordern darf, folgt daraus, daß es von der zufälligen Größe des insgesamt verfügbaren Gütervorrats abhängt, ob bei seiner Verteilung jeder zum Wohlstand gelangen kann.) Nach der Theorie des wahren Interesses ist diese Forderung jedoch falsch, wenn man wie üblich unter »Wohlstand« die Möglichkeit der Befriedigung der wirklichen Bedürfnisse versteht. Vielmehr sind auch die kulturellen Bedürfnisse zu berücksichtigen, die sich unter günstigen äußeren Bedingungen entwickeln würden: Es sind dies die auf die Befriedigung des wahren Interesses gerichteten. Zum Wohlstand müssen folglich die wirtschaftlichen Bedingungen der Entwicklung und Befriedigung dieser Bedürfnisse (als Bedingungen eines »menschenwürdigen« Lebens) hinzugerechnet werden. Hiermit ist ohne weiteres zugleich auch die obere Grenze bestimmt, bis zu der die Bedürfnisse Anspruch auf Berücksichtigung haben. Denn die wirklichen Bedürfnisse haben auf der anderen Seite auch nur in dem Maße Anspruch auf Berücksichtigung, als ihre Befriedigung im wahren Interesse des einzelnen liegt. Der Wohlstand muß daher als dasjenige Maß von Besitz definiert werden, das notwendig und hinreichend ist, um dem einzelnen zu ermöglichen, zu der mit Rücksicht auf seine Anlagen überhaupt erreichbaren Bildung zu gelangen. Geht man nicht von der Theorie des wahren Interesses aus, so muß man konsequenterweise zu ganz anderen, augenscheinlich falschen Resultaten kommen. Einerseits würde es, um jedem die gleiche Möglichkeit der Befriedigung seiner wirklichen Bedürfnisse zu sichern, genügen, durch geeignete Maßnahmen darauf hinzuwirken, daß die wirtschaftlichen Ansprüche der einzelnen unter eine hinreichend niedrige Grenze herabsinken, um durch ein beliebig geringes Maß von Besitz befriedigt zu werden. So könnte man es z.B. durch künstliche Bevormundung stets erreichen, daß die Armen, in Erwartung eines um so reicheren Entgelts im Jenseits, desto zufriede-
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Die Theorie des wahren Interesses
ner sind, in je drückenderer Not sie ihr Leben im Diesseits fristen. Ein Verfahren, für dessen Widerrechtlichkeit ohne die Theorie des wahren Interesses ein Beweis unmöglich ist. Andererseits gäbe es ohne die Theorie des wahren Interesses auch keine Möglichkeit, zwischen Bedürfnissen wie solchen, deren Befriedigung zur Erhaltung des Lebens notwendig ist, und bloßen Luxusbedürfnissen einen Unterschied im Anspruch auf Berücksichtigung zu machen, da es ja nur auf die Stärke ankommen könnte, die das einzelne Bedürfnis wirklich hat. Es könnte daher auch das minderwertigste Interesse von der Berücksichtigung nicht ausgeschlossen werden, wenn es nur mit hinreichender Stärke auftritt. Als Aufgabe der Kulturpolitik sehen wir es an, einem jeden sein Recht auf geistige Freiheit zu sichern. (Daß hier nicht Freiheit schlechthin, sondern nur das Recht auf Freiheit und also auch hier nur Gleichheit gefordert werden kann, versteht sich nach dem Früheren von selbst.) Hier müssen wir nun den Satz von der Widerrechtlichkeit rechtlich nicht notwendiger Bevormundung anwenden. Inwiefern kann aber Bevormundung überhaupt rechtlich notwendig sein? Einern Wesen gegenüber, das verständiger Selbstbestimmung noch nicht fähig ist, ist Bevormundung erlaubt und mit Rücksicht nicht nur auf sein sinnliches, sondern auch auf sein wahres Interesse Pflicht. Es kann natürlich hier so wenig wie sonst Pflicht sein, sein wahres Interesse unmittelbar zu befriedigen, sondern nur, das Bedürfnis nach Befriedigung seines wahren Interesses in ihm zu wecken und es in den Stand zu setzen, durch Selbsttätigkeit zu dieser Befriedigung zu gelangen. (Jede weitergehende Bevormundung müßte schon als künstlich und damit als widerrechtlich gelten.) Dieses Recht auf Bevormundung begründet die Notwendigkeit des Schulzwanges einerseits und die Notwendigkeit der staatlichen Aufsicht über jeden Unterricht andererseits. Dieses zu dem negativen Zweck, jede künstliche Bevormundung von den Kindern fernzuhalten, jenes zu dem positiven, sie durch Ausbildung ihres Verstandes in den Stand zu setzen, sich später selbst gegen solche Versuche zu schützen. Jeder dogmatische Unterricht, als ein solcher, der keine Einsicht
V. Anwendung auf die Politik
in die Gründe der vorgetragenen Lehren verstattet, und jeder Gebrauch des pädagogischen Autoritätsprinzips, d. h. der Vorstellung der unmittelbaren Verbindlichkeit von Befehlen, enthält daher als eine Verletzung des wahren Interesses eine widerrechtliche Bevormundung. Es versteht sich von selbst, daß künstliche Bevormundung, wenn sie von den Eltern ausgeübt wird, nicht weniger widerrechtlich ist. Ein Recht der Eltern z. B., die Konfession ihrer Kinder festzusetzen, ist unmöglich. Denn einem anderen vorzuschreiben, was er glauben soll, ist unter allen Umständen eine künstliche Bevormundung. Geht man nicht von der Theorie des wahren Interesses aus, so muß man schließen, daß der Staat die Kultur nicht fördern darf. Denn dies könnte ja nur so geschehen, daß einige Personen, die daran nicht wirklich interessiert sind, zu bloßen Mitteln für die Zwecke anderer gemacht werden. Beachtet man hingegen, daß der Fortschritt der Kultur im wahren Interesse eines jeden liegt, so folgt, daß ihre Förderung die grundsätzliche Kompetenz des Staates nicht überschreitet. Man sieht ohne weiteres, daß von dieser Kompetenz die Begünstigung dogmatischer Lehren, dem Begriff der Kultur zufolge, ausgeschlossen ist. Hieraus folgt z. B., daß konfessionelle Fakultäten an staatlichen Hochschulen widerrechtliche Einrichtungen sind und daß diese Widerrechtlichkeit selbst dann bestehen bliebe, wenn wir eine uneingeschränkte konfessionelle Einheit des ganzen Volkes voraussetzen dürften. Staatliche Förderung der Kultur kann nur in Begünstigung freier Selbsttätigkeit bestehen, nie in Parteinahme bei einem Widerstreit kultureller Bestrebungen. Dies schließt jedoch einen Eingriff des Staates in das freie Spiel der Kräfte insofern nicht aus, als er zur Durchführung des Rechts notwendig sein kann. Wie gegen wirtschaftliche Ausbeutung, so soll der Staat die einzelnen auch gegen künstliche Bevormundung schützen. Die Berufung auf das Prinzip der Toleranz wäre hier so falsch angebracht wie auch sonst Verbrechern gegenüber. Das kulturelle Manchestertum ist daher eine nicht weniger verwerfliche politische Doktrin als das wirtschaftliche Manchestertum, da uns ja
Die Theorie des wahren Interesses
vielmehr im Gegenteil die Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse als eine zwar notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung eines menschenwürdigen Lebens gilt. Dies gilt denn insbesondere für das Verhältnis von Staat und Kirche. Eine Hierarchie, als Glaubensgemeinschaft auf der Grundlage ethischer Heteronomie und also künstlicher Bevormundung, ist mit den Prinzipien eines Rechtsstaates unmittelbar im Widerspruch, mag im übrigen ihre höchste Autorität durch eine Person oder durch ein Dokument vertreten sein.
Die kritische Ethik bei Kant, Schiller und Fries Eine Revision ihrer Prinzipien
»Wenn einer Wissenscha:A: geholfen werden soll, so müssen alle Schwierigkeiten aufgedeclet und sogar diejenigen aufgesucht werden, die ihr noch so geheim im Wege liegen; denn jede derselben ru:A: ein Hilfsmittel auf, welches, ohne der Wissenscha:A: einen Zuwachs, es sei an Umfang oder an Bestimmtheit, zu verschaffen, nicht gefunden werden kann, wodurch also selbst die Hindernisse Beförderungsmittel der Gründlichkeit der Wissenscha:A: werden. Dagegen, werden die Schwierigkeiten absichtlich verdeckt oder bloß durch Palliativmittel gehoben, so brechen sie, über kurz oder lang, in unheilbare übel aus, welche die Wissenscha:A: in einem gänzlichen Skeptizismus zugrunde richten.« Kant, Kritik der praktischen Vernunft, I. Teil, I. Buch, III. Hauptstück
Erschienen in: Abhandlungen der Friesschen Schule, neue Folge, herausgegeben von GERHARD HESSENBERG und LEONARD NELSON, vierter Band, drittes Heft, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1914, S. 483-691 (für die Seitenzahlen der Abschnittsanfänge in diesem Abhandlungsheft siehe das Inhaltsverzeichnis der Arbeit)
Inhalt Vorwort Erster Teil. Kant
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1. Abschnitt. Fortschritte der Ethik bei Kant
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1. Entdeckung des Problems einer Metaphysik der Sitten und einer Kritik der praktischen Vernunft 2. Unterscheidung kategorischer und hypothetischer Imperative 3. Naturgesetz und Sittengesetz 4. Ethik und Nützlichkeitslehre 5. Autonomie und Heteronomie 6. Unmöglichkeit der Güterethik 7. Das Prinzip der Gesinnungsethik 8. Der moralische Rigorismus
2. Abschnitt. Mängel der Kantischen Kritik der praktischen Vernunft (505) 1. Kapitel. Abstraktion
(505)
A. Der Übergang vom Begriff zum Kriterium der Pflicht (505) 9. Verwechslung von Kriterium der Pflicht und Bestimmungsgrund der Pflichterfüllung 10. Der logizistische Trugschluß aus der Allgemeingültigkeit der Pflicht
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* Die in Klammern gesetzten Seitenzahlen entsprechen der Paginierung in den Abhandlungen der Friesschen Schule.
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Die kritische Ethik
11. Der erste Trugschluß aus dem Prinzip der Autonomie 12. Der zweite Trugschluß aus dem Prinzip der Autonomie 13. Der Trugschluß auf den absoluten Wert des guten Willens 14. Der Trugschluß auf den absoluten Wert der Person B. Das Sittengesetz. (519) 15. Fehlerhafte Erweiterung des Objektbereichs der Pflicht durch das Kriterium der Verallgemeinerung der Maxime zum Naturgesetz 16. Fehler der Koordination von Pflichten gegen sich selbst und solchen gegen andere 17. Unzulänglichkeit des Kriteriums der Einstimmung der behandelten Person 18. Fehlen der Unterscheidung von Gesetzlichkeit und Uniformität 19. Unklarheit über die Bedeutung der Wahrscheinlichkeit für die Anwendung des Kriteriums des Naturgesetzes
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C. Die praktischen Postulate. (525) 20. Fehler der Ausführung der Lehre von den Postulaten 21. Der tiefere Grundgedanke dieser Lehre 22. Die Freiheit als Postulat der Anwendbarkeit des Sittengesetzes seiner Form nach 23. Das Postulat der Anwendbarkeit des Sittengesetzes seinem Inhalt nach 24. Spekulativer Charakter der Aufgabe der Auflösung der aus den Postulaten entspringenden Antinomien
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2. Kapitel. Theorie der praktischen Vernunft
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A. Die Theorie des reinen Willens (531) 25. Erkenntnistheoretischer Grundfehler der dogmatischen Disjunktion der Antriebe 26. Fehlschluß auf den sinnlichen Charakter aller Lust aus der Verwechslung von Inhalt und Gegenstand der Erkenntnis der Lust 27. Verwechslung der Formen des Entschlusses mit den Arten der Antriebe
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Inhalt
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28. Logizistische Konsequenz dieses psychologischen Fehlers 29. Weitere Konsequenz: Die Unlösbarkeit des Problems, wie reine Vernunft praktisch sein könne. Verwechslung sittlicher und metaphysischer Freiheit 30. Das Problem der Deduktion des Sittengesetzes B. Zur Kantischen Ästhetik (543) 31. Der Fehler des ästhetischen Subjektivismus 32. Die Lehre von der Unmöglichkeit eines objektiven Prinzips des Geschmacks 33. Die Lehre vom ästhetischen Idealismus 34. Die Verwechslung der ästhetischen Schätzung mit der Lust an der Beschauung des Schönen 35. Die Verwechslung anschaulicher und physikalischer Existenz als Grund der Lehre von der Interesselosigkeit der ästhetischen Schätzung 36. Die petitio principii, daß alles Begehren sinnlichen oder moralischen Ursprungs sei 3. Abschnitt. Konsequenzen der Mängel der Kantischen Kritik für Kants System der Ethik (552) 1. Kapitel. Tugendlehre
(552)
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37. Der Moralismus der Kantischen Tugendlehre 38. Der Trugschluß auf die Unmöglichkeit einer Pflicht der Vervollkommnung anderer Personen 39. Die Unmöglichkeit von Pflichten gegen uns selbst 40. Der Trugschluß der Beschränkung aller Pflichten auf solche gegen Menschen 2. Kapitel. Rechtslehre
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41. Unvereinbarkeit der Rechtslehre mit dem Logizismus der Kantischen Ethik 42. Verwechslung der religionsphilosophischen Aufgabe mit der politischen 43. Unbestimmtheit des Kantischen Prinzips der Freiheit
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Die kritische Ethik
44. Trugschluß aus dem Prinzip der Autonomie auf das Prinzip der Volkssouveränität 45. Inkonsequenz des Versuchs, die Anwendung dieses Prinzips auf die Bedingung der Gerechtigkeit einzuschränken 46. Das Problem der Möglichkeit unveräußerlicher Rechte Zweiter Teil. Schiller
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1. Abschnitt. Fortschritte der Ethik bei Schiller
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4 7. Überwindung des Moralismus 48. Moralität als Bereitschaft zur Pflichterfüllung 49. Die Schönheit der Seele 50. Das objektive Prinzip des Geschmacks 2. Abschnitt. Mängel der Schillerschen Ethik
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51. Verwechslung der moralischen Bereitschaft: init der Schönheit der Seele (der »Neigung zur Pflicht«) 52. Verwechslung des Ideals der Harmonie von Pflicht und Neigung mit dem Ideal der Humanität 53. Unvereinbarkeit der Lehre vom ästhetischen Trieb mit der Lehre von der Interesselosigkeit der ästhetischen Schätzung Dritter Teil. Fries
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1. Abschnitt. Fortschritte der Ethik bei Fries
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54. Theorie des Gefühls 55. Der reflektierte Trieb 56. Unterscheidung zwischen verständigem und vernünftigem Entschluß 57. Das Rechtsgesetz als Inhalt des Sittengesetzes 58. Folgen für die Tugendlehre 59. Trennung der geschichtsphilosophischen Aufgabe von der religionsphilosophischen 60. Bestimmung des Prinzips der Rechtslehre 61. Die regulative Bedeutung des Prinzips der Rechtslehre
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Inhalt
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62. Die Subsumtionsformeln der Rechtslehre 63. Folgen für die Theorie des Staatsrechts und des Eigentumsrechts 64. Anwendung des Rechtsgesetzes auf die Wirtschaftspolitik (Begründung der Sozialpolitik) 65. Anwendung des Rechtsgesetzes auf die Kulturpolitik 66. Das internationale Recht 67. Erweiterung der Politik zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 68. Staat und Kirche 2. Abschnitt. Mängel der Friesschen Kritik der praktischen Vernunft (618) 1. Kapitel. Abstraktion
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(618)
69. Verkennung des negativen Charakters der sittlichen Wertung 70. Das Prinzip des absoluten Wertes der Person 71. Unbestimmtheit dieses Prinzips 72. Das Kriterium der Vorzugswürdigkeit für die Abwägung der Interessen nach dem Sittengesetz 73. Imperativ der Tugend und Imperativ des Rechts 74. Pflichtgebot und Wertgesetz 75. Moralische und rechtliche Wertung 2. Kapitel. Theorie der praktischen Vernunft
(633)
76. Die Theorie der Lustgefühle 77. Die Theorie des reflektierten Triebes 78. Deduktion des Ideals der Vollkommenheit 79. Vollkommenheit, Sittlichkeit und Schönheit der Seele 80. Die Reduktion der drei Triebe auf einen Grundtrieb 81. Unzulänglichkeit der Friesschen Deduktion des Sittengesetzes 82. Notwendigkeit der Trennung der Einteilungen der Interessen nach ihrem Verhältnis zum Gegenstand, ihrem Verhältnis zum Bewußtsein und ihrem Ursprung
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Die kritische Ethik
83. Deduktion des Begriffs der Pflicht 84. Deduktion des wahren Interesses 85. Deduktion des Inhalts des Sittengesetzes 3. Abschnitt. Konsequenzen der Mängel der Friesschen Kritik für Fries' System der Ethik (664) 1. Kapitel. Tugendlehre
(664)
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86. Ungenügende Durchführung der Trennung von Pflichten und Idealen 87. Die Pflicht der Ehre 88. Die Pflicht der Frömmigkeit 89. Fehlen der Rücksicht auf das wahre Interesse 90. Fehlen der Bestimmung des Verhältnisses der Ideale der Gemeinschaft zu den Idealen der Persönlichkeit 2. Kapitel. Rechtslehre
(674)
91. Mängel in der Bestimmung des systematischen Verhältnisses von Tugendlehre und Rechtslehre 92. Die Modalität der Aufgaben der Rechtslehre 93. Fehlen einer Bestimmung der Grenze der rechtlichen Beschränkung der Freiheit 94. Notwendigkeit, die Berechtigung der Durchführung der aus den Subsumtionsformeln entspringenden Postulate zu untersuchen 95. Notwendigkeit der Ausschließung aller Freiheit äußeren Handelns überhaupt als Konsequenz einer Pflicht der Herbeiführung des Rechtszustandes 96. Das Prinzip der Spezifikation als Bedingung der Anwendbarkeit von Rechtsbegriffen überhaupt 97. Verhältnis des Ideals des Rechts zum Ideal der Kultur 98. Das Problem der Vereinbarkeit der Ideale der Freiheit und der Gleichheit 99. Konsequenzen der Theorie des wahren Interesses für die Wirtschaftspolitik 100. Konsequenzen der Theorie des wahren Interesses für die Kulturpolitik
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Verzeichnis der Abkürzungen KANT = Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. G. = Kritik der praktischen Vernunft. K. = Kritik der Urteilskraft. u. = Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Re!. = über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt Gern. aber nicht für die Praxis. M.R. = Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. = Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. M.T. = Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. A. G., K., U. und Re!. sind nach der Reclamschen Ausgabe zitiert, alle anderen Werke nach den von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen »Gesammelten Schriften«. M. R. und M. T. finden sich dort in Bd. 6, A. in Bd. 7, Aufkl. und Gern. in Bd. 8. Aufkl.
SCHILLER A. W. = Anmut und Würde. = über die ästhetische Erziehung des Menschen. A. E. Die philosophischen Schriften SCHILLERS sind nach der Großherzog-WilhelmErnst-Ausgabe zitiert. (ScHILLREs Werke, Bd. 4.) FRIES = Philosophische Rechtslehre. (Neu herausgegeben von der FRIES-Gesellschaft. Leipzig 1913.) S. Ph. = System der Philosophie. W. G. A = Wissen, Glaube und Ahndung. (Neu herausgegeben von L. NELSON. Göttingen 1905.) N.K. = Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft. (Wo nichts anderes bemerkt ist, ist die zweite Auflage gemeint.) = Julius u. Evagoras. (Neu herausgegeben v. W. BoussET, Göttingen J. E. 1910.) = Von deutschem Bund und deutscher Staatsverfassung. D. B. = Handbuch der praktischen Philosophie. 1. Teil. Ethik. E. = Handbuch der psychischen Anthropologie. 2. Auflage. P. A. M. = System der Metaphysik. R.A. = Handbuch der praktischen Philosophie. 2. Teil. Handbuch der Religionsphilosophie und philosophischen Asthetik. G. Ph. = Die Geschichte der Philosophie. = Politik oder philosophische Staatslehre. P. Die Seitenangaben zu J. E. beziehen sich auf die Neuausgabe. Die Neuausgaben von R. und W. G. A. stimmen in der Paginierung mit den ursprünglichen Ausgaben überein.
R.
Vorwort
Die vorliegende Schrift dient einer vorläufigen Veröffentlichung des kritischen Teils meiner ethischen Untersuchungen. Sie schließt sich in ihrer Form an eine Reihe von Vorträgen an, die ich über »die Fortschritte der Ethik seit KANT« vom 4. bis 9. August dieses Jahres im Kreise meiner Schüler in Göttingen gehalten habe. Die in ihr niedergelegten systematischen Grundgedanken - insbesondere auch die für die Deduktion des Sittengesetzes wesentlichen - habe ich zuerst im Winter 1909 bis 1910 in meinen Vorlesungen über die »Grundlagen der Ethik« ausgesprochen. Diejenigen, die an der Philosophie nur ein historisches Interesse nehmen, werden freilich an dieser Schrift ebenso wenig Freude haben wie an meinen früheren Arbeiten. Denn sie steht ganz im Dienst des systematischen Interesses; sie geht von der Überzeugung aus, daß es eine unumstößliche, auf wissenschaftliche Form zu bringende und daher auch planmäßig zu erforschende ethische Wahrheit gibt; sie sucht den Weg zu verfolgen, auf dem an der Auffindung dieser Wahrheit bisher gearbeitet worden ist, und die Stelle zu bestimmen, bis zu der man sich dabei diesem Ziele angenähert hat. Das Studium der auf dem Titel genannten Forscher und die Auseinandersetzung mit ihnen ist der Weg gewesen, auf dem ich selbst mir meine systematischen Gedanken auf ethischem Gebiet gebildet habe. In der Absicht, die Ergebnisse, zu denen ich dabei gelangt bin, zu einer zusammenhängenden Darstellung zu vereinigen, finde ich es, um den heuristischen Weg meiner eigenen Arbeit kenntlich und der Prüfung zugänglich zu machen, zweckmäßig, die vorliegende, diesen Weg gehende Darstellung voranzuschicken. Je enger bei dem systematischen Aufbau einer Lehre die einzelnen Gedanken miteinander verflochten sind, desto schwerer wird es, die
Vorwort
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brauchbaren und die unbrauchbaren Bestandteile in ihrer wechselseitigen Unabhängigkeit zu erkennen und voneinander zu scheiden. Wie groß die aus diesem Umstand für den Fortschritt der Wissenschaft entstehende Gefahr ist, dafür gibt uns die Geschichte der Philosophie die mannigfachsten und lehrreichsten Belege: Auf ihm beruht es, daß so oft mit echten Entdeckungen auch die in ihrem Gefolge auftretenden Irrtümer von den Schülern übernommen und als unverdächtige Ware in Umlauf gebracht werden, sowie daß mit den einmal aufgedeckten Irrtümern dann auch wieder die wirklichen Entdeckungen preisgegeben werden. Ein Schriftsteller, dem mehr daran gelegen ist, dem wissenschaftlichen Fortschritt zu dienen, als sich selbst einen möglichst großen Erfolg zu sichern, muß daher bestrebt sein, soviel an ihm ist, diesen Gefahren vorzubeugen, durch die sein Werk zu einem um so größeren Hemmnis des wissenschaftlichen Fortschritts werden kann, je günstiger es aufgenommen wird und je verdienstvoller es vielleicht auch durch seine wirklichen Entdeckungen ist. Er wird also, da der Weg der ersten Auffindung der Gedanken niemals mit der systematischen Darstellungsform zusammenfällt, jenen getrennt von dieser, die ihn vielmehr leicht bis zur Unkenntlichkeit wieder verdeckt und durch die Strenge der logischen Form eine an und für sich gar nicht vorhandene Sicherheit des Gedankengehalts vortäuscht, der öffentlichen Prüfung vorlegen müssen. Diese historisch-kritische Darstellung voranzuschicken, finde ich noch einen weiteren Grund. Während in anderen Wissenschaften jemand, der eigene Ergebnisse mitteilen will, im allgemeinen doch wenigstens den Vorteil hat, die Leistungen seiner Vorgänger, auf denen er fortbaut, als bekannt und anerkannt voraussetzen zu dürfen, bin ich genötigt, die Arbeiten meiner Lehrer größtenteils erst bekannt zu machen, da der Faden der ethischen Spekulation, den ich wieder aufzunehmen suche, dort wo er vor einem Jahrhundert abriß, bisher unbeachtet liegen geblieben ist. Daß mich auch hinsichtlich KANTS und SCHILLERS die außerordentlich umfangreiche Literatur, die über beide vorliegt, dieser Aufgabe nicht überhebt, wird dem mit jener Literatur bekannten Leser leicht begreiflich sein. Um daher fremde Gedanken, die ich in die eigene systema-
Die kritische Ethik
tische Darstellung mit aufnehmen muß, nicht als mein Eigentum erscheinen zu lassen und um andererseits zugleich zu verhüten, daß die Verantwortung für die von mir eingeführten Änderungen und Hinzufügungen jenen zur Last gelegt wird, schicke ich die vorliegende Abhandlung voraus. Ihre Hauptschwierigkeit lag für mich in der Vereinigung der beiden Zwecke: einmal die von den Begründern der kritischen Ethik gemachten Entdeckungen dem allgemeinen Verständnis näherzubringen und ihre Unentbehrlichkeit für eine gedeihliche Lösung gerade der uns gegenwärtig am schwersten bedrückenden sozialen und kulturellen Probleme ins Licht zu setzen, daneben aber doch auch, um mir selbst freie Bahn zu schaffen, die in ihren Arbeiten stehengebliebenen Lücken und Fehler aufzuzeigen. Wie weit es mir gelungen ist, diese Aufgabe gerecht zu lösen, mag der Leser auf Grund eigenen Studiums der behandelten Autoren entscheiden. Was ich selbst zu tun vermochte, um eine solche Nachprüfung zu erleichtern, habe ich durch eine die Kritik fortlaufend begleitende Angabe von Belegstellen getan. Diese Kritik selbst ist eine durchaus immanente: sie bedient sich keines anderen Maßstabes als des von den beurteilten Autoren selbst eingeführten und ihren Forschungen zugrunde gelegten methodischen Prinzips. Wer sich über dieses methodische Prinzip, auf das hier nicht näher eingegangen werden konnte, genauer unterrichten will, sei auf meine Schrift »über das sogenannte Erkenntnisproblem«, sowie auf meine kleineren der kritischen Methode gewidmeten Abhandlungen verwiesen. Die Befolgung dieser Methode bedingte zugleich eine Beschränkung des Stoffes: es mußte die Kritik der praktischen Vernunft in den Mittelpunkt gestellt werden, und ich durfte auf das System der Ethik selbst nur so weit eingehen, als ich dabei mit unmittelbaren Folgen von Entdeckungen oder Fehlern aus jener zu tun hatte. Auch versteht es sich für den der kritischen Methode Kundigen von selbst, daß der Aufbau des Systems so lange aufgeschoben werden muß, bis die Kritik vollendet ist. übrigens werden sich die Streitfragen, die hinsichtlich dieser Methode noch bestehen, leichter klären lassen, wenn man sich
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mehr, als bisher geschehen ist, die Mühe nimmt, sie erst aus ihrem wirklichen Gebrauche kennen zu lernen, ehe man sich in abstrakten Erörterungen über sie ergeht; denn, wie KANT sagt, »man muß die Gegenstände schon in ziemlich hohem Grade kennen, wenn man die Regeln angeben will, wie sich eine Wissenschaft von ihnen zustande bringen lasse«.1 Die vorliegende Schrift bietet dafür eine Handhabe, indem sie es ermöglicht, einen vollständigen überblick über einen Kreis streng durchgeführter Anwendungen der kritischen Methode zu gewinnen. So hoffe ich denn durch die Mitteilung dieser Untersuchungen mittelbar auch zur besseren Verständigung über die Probleme der philosophischen Methodenlehre und damit der Logik beizutragen. Wie überall, so wird nämlich auch in der Philosophie über den Wert einer Methode letzten Endes nach dem entschieden werden, was sie zur Lösung der Probleme leistet. Freilich ein sehr unbequemer Umstand für alle diejenigen, die sich zur Philosophie nur darum hingezogen fühlen, weil sie - wie die Dinge noch immer liegen, nicht ohne Grund - hoffen, hier leichter als anderwärts unter dem Scheine des Tiefsinns allen wirklichen Problemen aus dem Wege gehen zu können. Denn leider muß es gesagt werden: Niemals gab es eine Zeit, in der das Leben selber der Philosophie eine so überreiche Fülle an bedeutenden und fruchtbaren Problemen darbot wie die unsrige, und doch auch, niemals stand die Philosophie - ich meine die in der öffentlichen Meinung geltende Fachphilosophie den wirklichen Problemen ihrer Zeit nicht nur so ohnmächtig und hilflos, sondern so stumpf, so gleichgültig und teilnahmlos gegenüber wie in der Gegenwart. Uns aber, die wir den Wert fremder wie eigener Arbeit nur an ihren Früchten erkennen wollen, uns darf der Umstand, daß eine rein immanente Kritik für die Wissenschaft selbst von so großer Fruchtbarkeit sein kann, wie dies hier der Fall ist, wohl, wenn es auch sonst keine Beweise dafür gäbe, als eine Gewähr dafür gelten, daß mit dem methodischen Prinzip der kritischen Ethik in der Tat das Mittel entdeckt ist, die Ethik zu einer strengen, stetiger 1
Kritik der reinen Vernunft. Transzendentale Logik, Einleitung r.
Die kritische Ethik
Weiterbildung fähigen Wissenschaft zu machen, und daß somit, allem Skeptizismus und aller Originalitätssucht zum Trotz, für die Ethik auch die Zeit gekommen ist, von der FRrns' ebenso bescheidenes wie stolzes Wort gilt: »Erst dann läßt sich irgend etwas von Bedeutung für eine Wissenschaft tun, wenn wir sicher sind, bis an eine Stelle so gebaut zu haben, daß kein Nachkommender den Grund wieder einreißen darf. Denn Wissenschaft ist kein genialisches Produkt der Phantasie, welches sich etwa die Laune eines Genius für den Augenblick angebildet hätte, um durch die luftige Verkörperung den Sterblichen jetzt darin seine Gegenwart zu zeigen, sondern sie will der Ausspruch des Universums sein, von gleicher Ewigkeit mit ihm.« 2 Rom, im September 1913.
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System der Philosophie als evidente Wissenschaft. Vorrede.
Erster Teil: Kant 1. Abschnitt
Fortschritte der Ethik bei Kant 1. Die Geschichte einer Wissenschaft, in dem bestimmten Sinne verstanden, in dem man sie von ihrer bloßen Vorgeschichte unterscheidet, beginnt mit der für eine methodische Bearbeitung hinreichend deutlichen Vorstellung ihrer Probleme. Für die Ethik läßt sich dieser Zeitpunkt genau fixieren; er wird bestimmt durch das Erscheinen von KANTS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Wie KANT überhaupt der erste war, der sich einen bestimmten Begriff von der Philosophie als Wissenschaft machte, so war er auch der erste, der die Aufgabe der Ethik wissenschafl:lich erfaßte. Philosophie in materialer Bedeutung, d. h. im Unterschiede von der formalen Logik, also als Metaphysik verstanden, ist nach KANTS Bestimmung des Begriffs das System der synthetischen Urteile a priori aus reinen Begriffen. Als philosophische Wissenschaft muß hiernach auch die Ethik aus synthetischen Urteilen a priori bestehen. Gibt es aber in diesem Sinne des Worts eine philosophische Ethik? Und wenn es sie gibt, wie sollen wir uns in ihren Besitz setzen? Da ihre Urteile sich nicht aus der Anschauung schöpfen lassen, so fehlt ihren Prinzipien die Evidenz. Das System der Ethik läßt sich daher nicht dogmatisch aufbauen, so wenig wie Metaphysik überhaupt. Die Methode ihrer Begründung ist vielmehr die kritische, d. h. es bedarf einer Voruntersuchung zum System der Ethik, in der die Prinzipien des Systems und die Bedingungen ihrer Gültigkeit aufgewiesen werden. Diese Voruntersuchung, von deren Gelingen das Schicksal der Ethik als Wissenschaft abhängt, ist die Angelegenheit der »Kritik der praktischen Vernunft«.
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Die kritische Ethik
So wurde die bloße Entdeckung der Aufgabe der wissenschaftlichen Ethik durch KANT der entscheidende Schritt, durch den die Ethik wirklich in das Stadium einer Wissenschaft trat. Denn KANT fand sich durch sie unmittelbar auf den Begriff einer anderen, ganz neuen Wissenschaft gewiesen, die sich nach bestimmten Regeln in Angriff nehmen ließ und von deren Bearbeitung eine sichere Entscheidung der uralten, bis dahin aber ungelöst stehengebliebenen ethischen Probleme zu erwarten war. Wir wollen den Weg betrachten, den KANT auf der hiermit vorgezeichneten Bahn einschlug. Ich werde zuerst über die grundlegenden Entdeckungen, die er dabei machte, einen überblick geben und dann die Irrtümer beleuchten, in die er sich verwickelte und durch die nicht so sehr er selbst als vielmehr die große Mehrzahl seiner Nachfolger veranlaßt wurde, sich wieder weit von dem schon erkannten Ziele zu entfernen. 2. Durch Zergliederung unserer faktischen ethischen Urteile gelangt KANT zu seiner Lehre von dem guten Willen als dem einzigen uneingeschränkt Guten. Das Prädikat des Sittlich-Guten läßt sich nur auf den Willen anwenden. Wir beurteilen aber den Willen sittlich nicht danach, was durch ihn bewirkt wird, sondern danach, wodurch er selbst zum Handeln bestimmt wird. Als sittlich-gut gilt uns allein ein Wollen, das sich unter Hintansetzung aller subjektiven Zwecke durch das Bewußtsein der Pflicht bestimmen läßt. Man muß also auf den Begriff der Pflicht zurückgehen, wenn man den eines guten Willens erklären will. Bei der Erörterung dieses Begriffs der Pflicht nun ergab sich für KANT die folgenreiche Unterscheidung zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen. Ein hypothetischer Imperativ ist ein Gebot, das eine Handlung nur unter der Bedingung eines durch sie zu erreichenden Zweckes gebietet; ein kategorischer Imperativ ein solches, das eine Handlung schlechthin gebietet, ohne Rücksicht auf einen durch sie zu erreichenden Zweck. »Pflicht« ist ein kategorischer Imperativ. Alle ethischen Entdeckungen KANTS lassen sich als bloße Folgerungen aus diesem einen Satze entwickeln. 3. Er führt zunächst auf eine strenge Scheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Alle hypothetischen Impera-
Erster Teil. Kant
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tive sind nämlich nur Umschreibungen von Naturgesetzen, d. h. von Gesetzen des Seins und nicht des Sollens. Sie sagen aus, welches die Mittel sind, die zur Hervorbringung eines Zweckes dienen. Ein Mittel zu einem Zweck ist aber nichts anderes als die Ursache einer von uns begehrten Wirkung. Hypothetische Imperative drücken also nur eine kausale Notwendigkeit aus; sie sind folglich theoretische und nicht praktische Gesetze. - Der alten Trennung von Physik und Ethik war hiermit eine feste wissenschafl:liche Unterlage gegeben. 4. Die nächste Folge dieser Unterscheidung war die Befreiung der Ethik von aller Nützlichkeitslehre. Die Ethik auf hypothetische Imperative gründen, hieße sie zur bloßen Nützlichkeitslehre machen. Nach einer solchen müßten die Zwecke, mit Rücksicht auf die sie gebietet, dem Belieben des einzelnen anheimgestellt bleiben. Ihre Gebote könnten also niemals Verbindlichkeit erlangen, sondern könnten nur als ein Rat der Klugheit dienen, für den Fall, daß jemand sich die fraglichen Zwecke vorsetzte. 5. Aus der angegebenen Unterscheidung folgt ferner die Unmöglichkeit aller heteronomen Moral oder das Prinzip der Autonomie, d. h. die Unmöglichkeit, durch das Gebot eines fremden Willens ursprünglich verpflichtet zu werden. Die Pflicht kann, als ein praktisches Gesetz, nur durch eigene Einsicht als verbindlich erkannt werden. Das Gebot eines fremden Willens könnte uns nur dadurch zur Unterwerfung nötigen, daß mit seiner Befolgung oder Übertretung gewisse Wirkungen verbunden sind, an deren Eintreten oder Nicht-Eintreten wir ein Interesse haben. Eine solche Nötigung enthält aber nur einen hypothetischen Imperativ. 6. Eine weitere Konsequenz desselben Prinzips ist die Unmöglichkeit jeder Güterethik. Man war in der Ethik früher allgemein von der Frage nach dem »höchsten Gute« ausgegangen, in der Hoffnung, aus seiner Festsetzung die Lehre von den Pflichten entwickeln zu können. Die Einsicht in den kategorischen Charakter des Pflichtgebotes mußte diese Hoffnung vernichten. Das durch eine Handlung hervorzubringende Gut mag sein, welches es will, so kann es doch nie einen Grund der sittlichen Notwendigkeit der Handlung enthalten. Damit, daß eine Handlung ein Mittel - sei es auch das einzige Mittel - zur Hervorbringung eines Gutes ist, ist
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Die kritische Ethik
lediglich gesagt, daß die Handlung eine Bedingung der Existenz des Gutes ist, und hieraus folgt nur die hypothetische Notwendigkeit, die Handlung zu tun, wenn uns an der Existenz des Gutes gelegen ist. Andernfalls müßte schon ein Gesetz vorliegen, wodurch uns die Hervorbringung des Gutes zur Pflicht gemacht würde. Dann aber leitete sich der sittliche Wert der Handlung von diesem Gesetz ab und nicht von dem durch sie hervorgebrachten Gute. Es wäre für das Gesetz und insofern auch für die Handlung, die es gebietet, an und für sich nur zufällig, wenn diese die Hervorbringung eines Gutes bewirkt. Die sittliche Handlung ist also nur darum als gut zu schätzen, weil sie geboten ist; nicht aber ist sie darum geboten, weil sie schätzenswert ist oder ein Gut hervorbringt. 7. Hieraus folgt nun zugleich der Satz von dem alleinigen sittlichen Wert des guten Willens. Denn, wenn aller sittliche Wert erst aus dem Gesetz abgeleitet ist, dieses aber, als ein kategorischer Imperativ, sich unmittelbar nur auf den Willen bezieht, so kann eine Handlung auch nur insofern, als sie Gegenstand des Willens ist, nicht aber nach ihren, rücksichtlich des Wollens zufälligen Wirkungen sittlich geschätzt werden. Durch diese Nachweisung rechtfertigt sich das Prinzip der Gesinnungsethik im Gegensatz zu aller Erfolgsethik. 8. Durch die Aufzeigung des kategorischen Charakters des Sittengesetzes findet endlich auch der recht verstandene moralische Rigorismus seine Begründung. Die früheren Ethiker hatten sich meist entweder in einen falschen Rigorismus verwickelt, indem sie die Anforderungen der Sittlichkeit in einen grundsätzlichen Gegensatz gegen alle Ansprüche der Neigungen brachten, oder sie hatten, um auch den Neigungen ihr Recht einzuräumen, alle Strenge der sittlichen Anforderungen preisgeben müssen. Findet sich nun, daß das Sittengesetz nur ein kategorischer Imperativ sein kann, so folgt ohne weiteres, daß die Notwendigkeit seiner Befolgung auf keinerlei Zweck eingeschränkt ist und daß vielmehr umgekehrt jeder Zweck nur insofern erlaubt sein kann, als er auf die Bedingung der Zusammenstimmung mit den Anforderungen des Sittengesetzes eingeschränkt ist. Wenn aber hiernach bei der Bestimmung der Pflicht die Neigungen von aller Kompetenz ausgeschlossen sind, so
Erster Teil. Kant
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folgt daraus doch nicht die Pflichtwidrigkeit der Ansprüche der Neigung. Denn eine Handlung, die nicht Pflicht ist, ist darum noch nicht eine Verletzung der Pflicht. Keine noch so starke Neigung kann eine Übertretung der Pflicht rechtfertigen; aber eine Befriedigung der Neigungen ist darum an und für sich keineswegs pflichtwidrig. Dieses sind die Nachweisungen, in denen ich den bleibenden Gewinn finde, den die Ethik KANT verdankt. Wenn sie heute noch so wenig als solcher anerkannt sind, so beruht dies auf einer gröblichen Mißachtung der Kantischen Gedankenarbeit und läßt sich durch die Mängel der Kantischen Darstellungsweise nur sehr teilweise entschuldigen. Wer nur einmal den methodischen Ausgangspunkt des Gedankenganges aufgefaßt hat, durch den KANT zu seinen Resultaten gelangte, der hat damit den unfehlbaren Schlüssel in der Hand, um sich in der Auffindung dieser Resultate von aller Willkür der Darstellung zu befreien und sich durch eigene Nachprüfung von ihrer Richtigkeit zu überzeugen.
2. Abschnitt Mängel der Kantischen Kritik der praktischen Vernunft 1. Kapitel. Abstraktion A. Der Übergang vom Begriff zum Kriterium der Pfiicht
KANT gelangte zu seinen Entdeckungen, indem er nicht wie seine Vorgänger von einem dogmatisch aufgestellten Prinzip, noch von der willkürlichen Stellung eines Problems, sondern von dem Faktum unserer ethischen Urteile ausging und diese hinsichtlich ihrer logischen Voraussetzungen zergliederte. Die Mängel seiner Untersuchung beginnen denn auch erst an der Stelle, wo er diesen regressiven Gedankengang verläßt und also seiner eigenen Methode untreu wird. Diese Stelle läßt sich genau angeben. Sie betrifft den Übergang vom Begriff der Pflicht zum Gesetz der Pflicht selber.
Die kritische Ethik
KANT glaubte dieses Gesetz durch einen Schluß aus dem bloßen Begriff der Pflicht ableiten zu können, statt es durch eine Fortsetzung seiner Zergliederung unserer ethischen Urteile aufzuweisen. 1,:- Bei diesem Übergang vom Begriff zum Gesetz der Pflicht laufen in der Kantischen Darstellung eine ganze Reihe von Trugschlüssen zusammen, die wir, um die Quelle des Irrtums zu beseitigen, gesondert betrachten müssen. 9. KANT geht, um den gesuchten Übergang zu bewerkstelligen, von dem ganz richtigen Satze aus, daß das Bewußtsein der Pflicht und also eines praktischen Gesetzes der alleinige Bestimmungsgrund einer moralischen Handlung sein könne und daß folglich für die Beurteilung der Moralität von allem Inhalt des Gesetzes abstrahiert werden müsse. Hieraus meint er schließen zu dürfen, daß die Form der Gesetzmäßigkeit des Handelns schon ein hinreichendes Kriterium der Pflichtmäßigkeit sei und daß also das Gesetz der Pflicht selbst keinen Inhalt haben dürfe. 2 Die bloße logische Form des Gesetzes sollte genügen, um die Pflicht völlig bestimmt zu ma1
»Bei dieser Aufgabe wollen wir zuerst versuchen, ob nicht vielleicht der bloße Begriff eines kategorischen Imperativs auch die Formel desselben an die Hand gebe, die den Satz enthält, der allein ein kategorischer Imperativ sein kann.« (G. 54.) »Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte.« (G. 55.) »Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei ... « (M. R. Einleitung in die Metaphysik der Sitten. 1v.) * Um die Numerierung der Fußnoten gegenüber dem Originaltext nicht zu ändern, beginnt deren Zählung trotz der beiden Fußnoten des Vorworts hier noch einmal mit 1. 2 »Was kann das aber wohl für ein Gesetz sein, dessen Vorstellung, auch ohne auf die daraus erwartete Wirkung Rücksicht zu nehmen, den Willen bestimmen muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschränkung gut heißen könne? Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgendeines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen soll .... Hier ist nun die bloße Gesetzmäßigkeit überhaupt (ohne irgendein auf gewisse Handlungen bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen) das, was dem Willen zum Prinzip dient.« (G. 31 f.) »Denn da der Imperativ außer dem Gesetz nur die Notwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetz gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll.« (G. 55.) Vgl. K. Lehrsatz Ibis m.
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chen. Dies ist ein Irrtum. Es liegt erstens kein Widerspruch in der Voraussetzung, daß das Gesetz einen bestimmten Inhalt hat, ohne daß doch etwas anderes als die bloße Form des Gesetzes mich zu seiner Befolgung bestimmt. Dies ist aber zweitens nicht allein logisch möglich, sondern auch notwendig; denn ein praktisches Gesetz, das inhaltlich ganz unbestimmt wäre, ist selber unmöglich. Ein Gebot, durch das nichts Bestimmtes geboten wird, ist ein widersprechender Begriff. KANT ist zu diesem Fehler verleitet worden, indem er das Kriterium der Pflicht mit dem Bestimmungsgrund des moralischen Handelns verwechselte. 10. Hiermit hängt ein anderer Fehler nahe zusammen, der uns zugleich begreiflich macht, wie KANT die Leerheit seines logizistischen Kriteriums übersehen konnte. »Pflicht« ist ein praktisches Gesetz; es liegt also im Begriff der Pflicht der Begriff der Allgemeingültigkeit.3 Es kann nicht für den einen etwas Pflicht sein, was nicht (unter gleichen Umständen) für jeden anderen auch Pflicht wäre. Dieser Satz umschreibt nur die Allgemeingültigkeit, die schon im Begriff der Pflicht liegt, liefert aber kein Kriterium dafür, was in bestimmter Lage für mich Pflicht ist. Denn wenn ich nur weiß, daß es dasselbe ist, was für andere in gleicher Lage Pflicht wäre, so kann ich, ohne einen Zirkel zu begehen, nie zu einer Entscheidung darüber gelangen, was für irgend jemand in irgendeiner Lage Pflicht ist. Es ist nur ein anderer Ausdruck desselben analytischen Satzes, wenn wir sagen: Es kann für den einen nichts recht sein, was nicht für jeden anderen (in gleicher Lage) auch recht wäre. Denn »recht« oder »erlaubt« ist das, was der Pflicht nicht widerstreitet. Der Satz besagt also nicht mehr, als daß eine Handlung, die, wenn sie von A ausgeführt wird, dem Gesetz gemäß ist, auch dem Gesetz gemäß sein muß, wenn sie von B ausgeführt wird. Das Gesetz selbst aber, dem die Handlung gemäß sein soll, bleibt hiernach noch völlig unbestimmt. Ohne dies Gesetz schon anderweit als bestimmt vorauszusetzen, müßte jede Handlung als erlaubt gelten; 3
»Aus dem Angeführten erhellt, daß es ... von der größten praktischen Wichtigkeit sei, ... darum, weil moralische Gesetze für jedes vernünftige Wesen überhaupt gelten sollen, sie schon aus dem allgemeinen Begriff eines vernünftigen Wesens überhaupt abzuleiten.« (G. 44.)
Die kritische Ethik
denn es wäre ja gar kein Gebot vorhanden, dem sie widerstreiten könnte. Der Schein, daß die bloße Form der Gesetzmäßigkeit als Kriterium der Pflicht dienen könne, entsteht nur durch eine Unbestimmtheit des Ausdrucks. Der populäre Grundsatz z. B., daß, was dem einen recht ist, dem anderen billig sei, oder die Forderung, sich kein Vorrecht vor anderen anzumaßen, bezeichnet nicht nur den trivialen Gedanken, daß, was dem einen zu tun erlaubt oder verboten sei, auch jedem anderen in gleicher Lage zu tun erlaubt oder verboten sei, sondern er bedeutet die Forderung, daß bei der Behandlung von Personen keine der anderen vorgezogen werden dürfe, und in dieser Bedeutung dient uns der Satz wirklich als Kriterium der Pflicht. Als solches enthält er aber auch ein synthetisches Urteil und läßt sich aus dem bloßen Gedanken der Allgemeingültigkeit der Pflicht nicht ableiten. Ein »Vorrecht«, wie es durch jenen analytischen Satz ausgeschlossen wird, wäre die Erlaubnis, etwas zu tun, das anderen (unter gleichen Umständen) zu tun nicht erlaubt wäre. Um in diesem Sinne von einem Vorrecht zu sprechen, müssen wir schon ein anderes Kriterium haben, durch das wir entscheiden, was anderen erlaubt ist. Verstehen wir dagegen unter einem »Vorrecht« die Erlaubnis, eine Handlung zu tun, in die wir, wenn andere sie täten, nicht einwilligen würden, so ist der Satz von der Unmöglichkeit solcher Vorrechte ein brauchbares Kriterium der Pflicht. Denn seine Anwendung setzt nicht schon eine Entscheidung darüber voraus, was für andere Pflicht oder recht ist, sondern nur darüber, was wir von anderen wünschen würden oder nicht wünschen könnten; und diese Frage läßt sich ohne Zuhilfenahme moralischer Prinzipien durch bloße Befragung unserer Neigungen entscheiden. Diesen Unterschied zwischen der Möglichkeit, eine Handlungsweise als allgemein geboten (oder erlaubt) anzunehmen, und der anderen, in ihre allgemeine Befolgung einzuwilligen, hat KANT nicht beachtet. Daher seine immer wiederkehrende unrechtmäßige Vertauschung des analytischen Satzes, die Maxime einer moralischen Handlung müsse die Form eines praktischen Gesetzes haben, mit dem synthetischen, man müsse wollen können, daß sie als Na-
Erster Teil. Kant
turgesetz gelte. 4 Die Unbestimmtheit des von
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mit Vorliebe gebrauchten Ausdrucks der »Tauglichkeit einer Maxime zur allgemeinen Gesetzgebung« begünstigt diese Vertauschung. 5 11. Ein ähnlicher Fehlschluß, der zu demselben Resultat führt, geht von einem nicht genügend bestimmten Begriff der »Autonomie des Willens« aus. 6 Autonomie, als die Eigenschaft, keinem anderen Gesetz unterworfen zu sein, als das man sich durch seine Vernunft selbst auferlegt, muß allerdings als Eigenschaft jedes vernünftigen Wesens angesehen werden. In diesem Sinne kann man sagen, daß der vernünftige Wille sich selbst sein Gesetz gibt. Es ist auch richtig, 4
5
6
KANT
»Die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt, d. i. ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.« (G. 31 f.) »So bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll. Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: Handle nur nach derjenigen Maxime, nach der du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde ... Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wonach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge heißt, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.« (G. 55 f.) »Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt.« (G. 59.) Vgl. in der Kritik der praktischen Vernunft die Lehre »von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft«. »Ein praktisches Gesetz, was ich dafür erkenne, muß sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren, dies ist ein identischer Satz.« (K. 32.) Vielmehr nicht einmal dies, sondern nur ein analytischer und läßt sich daher nicht umkehren. »Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist. Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.« (G. 78.) »Autonomie, d. i. die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten Willens, sich selbst zum allgemeinen Gesetz zu machen, ist selbst das alleinige Gesetz, das sich der Wille eines jeden vernünftigen Wesens selbst auferlegt.« (G. 84.) »Wenn es einen kategorischen Imperativ gibt (d. i. ein Gesetz für jeden Willen eines vernünftigen Wesens), so kann er nur gebieten, alles aus der Maxime seines Willens als eines solchen zu tun, der zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebend zum Gegenstand haben könnte.« (G. 69.)
Die kritische Ethik
daß dieses Gesetz für jedes vernünftige Wesen verbindlich ist, daß also der Wille zugleich jedes andere vernünftige Wesen seiner eigenen Gesetzgebung unterwirft. Alles dies sind aber bloß analytische Bestimmungen aus dem Begriff eines praktischen Gesetzes, durch die über den Inhalt dieses Gesetzes noch gar nichts entschieden ist. KANT täuschte sich hierüber, indem er die Autonomie im definierten Sinne des Worts mit der Eigenschaft eines Willens verwechselte, durch seine Maximen unmittelbar gesetzgebend im Sinne einer Naturgesetzgebung zu sein, d. h. mit der Eigenschaft, nicht anders wollen zu können als so, daß von jedermann nach derselben Maxime gehandelt wird. Autonomie in diesem zweiten Sinne kann einem vernünftigen Wesen als solchem keineswegs zugeschrieben noch von ihm gefordert werden; vielmehr kann nur gefordert werden, daß es, wie auch KANT sagt, so handeln solle, »als ob« es durch seine Maximen allgemein gesetzgebend wäre. 7 In diesem Sinne gibt uns das »Prinzip eines durch alle seine Maximen allgemein gesetzgebenden Willens« 8 allerdings ein Kriterium der Pflicht, aber dieses läßt sich aus dem Prinzip der Autonomie im ersten Sinne des Wortes nicht ableiten. 12. Derselbe Fehler kehrt bei KANT in noch etwas anderer Form wieder bei der Ableitung seines Satzes von der Würde der Person. Daß ein vernünftiges Wesen Würde hat, d. h. nicht als bloßes Mittel für unsere Zwecke gebraucht, sondern nur so behandelt werden darf, daß es selbst in die Behandlung einwilligen könnte, folgt nach KANTS Meinung unmittelbar aus dem analytisch verstandenen 7
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»Die Formel des sittlichen Imperativs: daß die Maximen so müssen gewählt werden, als ob sie wie allgemeine Naturgesetze gelten sollten.« (G. 73.) »Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre. Das formale Prinzip dieser Maximen ist: Handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetz (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte.« »Allein, obgleich das vernünftige Wesen darauf nicht rechnen kann, daß, wenn es auch gleich diese Maxime selbst pünktlich befolgte, darum jedes andere eben derselben treu sein würde, . . . so bleibt doch jenes Gesetz: handle nach Maximen eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reiche der Zwecke, in seiner vollen Kraft, weil es kategorisch gebietend ist.« (G. 76 f.) G. 68.
Erster Teil.
Kant
Prinzip der Autonomie, wonach ein vernünftiges Wesen keinem Gesetz unterworfen werden kann, das es sich nicht selbst gibt. 9 Wenn aber, diesem Prinzip der Autonomie zufolge, allerdings ein vernünftiges Wesen hinsichtlich der Bestimmung seiner Pfiicht von keinem fremden Willen abhängig sein kann, so ist doch hierdurch über den Inhalt dieser Pflicht wieder noch gar nichts entschieden, und es kann daher ohne Widerspruch mit jener Autonomie als erlaubt gedacht werden, daß ein vernünftiges Wesen dem rücksichtslosen Belieben eines anderen unterworfen und also von diesem als bloßes Mittel gebraucht wird. KANT verwechselt hier die Autonomie des vernünftigen Wesens als Subjekts von Pflichten mit seiner Autonomie als Objekts von Pflichten; d. h. er verwechselt die Eigenschaft des vernünftigen Wesens, als allgemein gesetzgebend den 9
»Die Vernunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen ... aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt.« (G. 71.) »Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.« (G. 73.) »Das Prinzip: handle in Beziehung auf ein jedes vernünftige Wesen (auf dich selbst und andere) so, daß es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst gelte, ist demnach mit dem Grundsatze: handle nach einer Maxime, die ihre eigene allgemeine Gültigkeit für jedes vernünftige Wesen zugleich in sich enthält, im Grunde einerlei. Denn, daß ich meine Maxime im Gebrauche der Mittel zu jedem Zwecke auf die Bedingung ihrer Allgemeingültigkeit als eines Gesetzes für jedes Subjekt einschränken soll, sagt ebenso viel, als: das Subjekt der Zwecke, d. i. das vernünftige Wesen selbst, muß niemals bloß als Mittel, sondern als oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jeder Zeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Handlungen zum Grunde gelegt werden.« (G. 75f.) »Seine Maximen jederzeit aus dem Gesichtspunkte seiner selbst, zugleich aber auch jedes andern vernünftigen als gesetzgebenden Wesens (die darum auch Personen heißen) nehmen zu müssen.« (G. 76.) »In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit. Eben um dieser willen, ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille, auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen.« (K. 106.)
Die kritische Ethik
Willen jedes anderen vernünftigen Wesens einzuschränken, mit seinem Anspruch auf Achtung seiner Zwecke oder Interessen. Genau gesprochen kann nur von dem Gesetz selbst gesagt werden, daß es den Willen einschränkt. Insofern sich aber jedes vernünftige Wesen als solches, d. h. durch seine Vernunft, dieses Gesetz selbst auferlegt, kann man auch sagen, daß es als vernünftiges Wesen den Willen jedes anderen vernünftigen Wesens einschränkt, indem nämlich dieses, als vernünftiges Wesen, demselben Gesetz unterworfen ist. Insofern es andererseits der Inhalt des Gesetzes ist, den Willen jedes vernünftigen Wesens auf die Bedingung der Achtung der Interessen der von ihm behandelten Wesen einzuschränken, kann man auch kurz sagen, daß der Wille jedes vernünftigen Wesens durch die Interessen der von ihm behandelten Wesen eingeschränkt wird. Autonomie als Eigenschaft, selbst gesetzgebend zu sein und dadurch den Willen jedes vernünftigen Wesens einzuschränken, kommt einem Wesen nur zu, insofern es Vernunft hat und also selbst Subjekt von Pfiichten ist; Autonomie dagegen als Würde oder als Eigenschaft, durch seine Interessen den Willen jedes vernünftigen Wesens einzuschränken, kommt einem Wesen zu, nicht insofern es Vernunft, sondern Interessen hat und als solches Subjekt von Rechten ist. Der synthetische Satz von der Würde der Person, d. h. von der Eigenschaft eines Wesens, durch seine Interessen den Willen jedes vernünftigen Wesens einzuschränken, läßt sich daher nicht aus dem analytischen Satz von der Autonomie des vernünftigen Wesens ableiten. - Der Fehler, den KANT hier begeht, hängt mit einem tiefliegenden psychologischen Irrtum zusammen, auf den wir später noch eingehen müssen. Seine Folgen erstrecken sich weit sowohl in die Tugendlehre wie in die Rechtslehre hinein. 13. Neben dieser Ableitung des Satzes von der Würde der Person laufen bei KANT noch einige andere Gedanken einher, durch die er auf denselben Satz zu kommen sucht. Dies ist zunächst seine Auffassung von dem absoluten Wert des guten Willens. Von dem Gedanken ausgehend, daß der gute Wille das einzige keiner einschränkenden Bedingung unterworfene Gute sei, schließt er, daß das vernünftige Wesen, als das Subjekt eines möglicherweise guten Willens, das allein absolut Wertvolle und als solches ein Gegenstand
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der Achtung sei 10. Hier verwickeln wir uns aber wieder in einen logischen Zirkel. Denn abgesehen davon, daß nach dieser Argumentation bei der Behandlung einer Person nur auf ihre moralischen, nicht aber auch auf ihre moralisch indifferenten Zwecke Rücksicht zu nehmen Pflicht sein könnte, sowie daß die Behauptung des absoluten Wertes der Person dem Satz von dem guten Willen als dem einzigen unbedingten Gut gerade widerspricht, abgesehen davon war ja der gute Wille als ein solcher definiert, der das Gesetz achtet; es kann also ohne einen logischen Zirkel dies Gesetz nicht als ein solches erklärt werden, das gebietet, den guten Willen zu achten. Der Fehler liegt hier schon in dem Schluß auf den absoluten Wert des guten Willens. Der Wille ist gut dadurch, daß er sich dem Gebot der Pflicht unterwirft. Pflicht ist aber praktische Notwendigkeit, ihre Erfüllung ist Schuldigkeit und nicht Verdienst; es kann durch sie also kein positiver Wert geschaffen werden. 11 Allerdings 10
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»Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Aquivalent gesetzt werden, was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Aquivalent verstattet, das hat eine Würde.« »Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.« (G. 72.) »Selbständiger Zweck ... kann nun nichts anderes als das Subjekt aller möglichen Zwecke selbst sein, weil dieses zugleich das Subjekt eines möglichen schlechterdings guten Willens ist.« (G. 75.) »Dieser uns mögliche Wille in der Idee ist der eigentliche Gegenstand der Achtung.« (G. 78.) »Der Wert einer dem moralischen Gesetze völlig angemessenen Gesinnung ist unendlich.« (K. 154.) Vgl. K. 99 ff., sowie auch K. 75 (»die oberste Bedingung alles Guten«), K. 89 (»die erste Bedingung alles Wertes der Person«), K. 95 (»daß sie die Schätzung der Person selbst auf die Bedingung der Befolgung ihres reinen Gesetzes einschränkt«), K. 107 (»womit in Vergleichung und Entgegensetzung das Leben vielmehr mit aller seiner Annehmlichkeit gar keinen Wert hat«), G. 33 (»eine Schätzung des Wertes, welcher allen Wert dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt«), G. 73 (»diese Schätzung gibt also den Wert einer solchen Denkungsart als Würde zu erkennen und setzt sie über allen Preis unendlich weg, mit dem sie gar nicht in Anschlag und Vergleichung gebracht werden kann, ohne sich gleichsam an der Heiligkeit derselben zu vergreifen«), G. 89 (»Wert, gegen den der eines angenehmen oder unangenehmen Zustandes für nichts zu halten sei«, »einen Wert, der uns allen Verlust dessen, was unserem Zustand einen Wert verschafft, vergüten können«).
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Die kritische Ethik
ist die Handlung, die Pflicht ist, jeder anderen an ihrer Stelle möglichen vorzuziehen; sie hat daher einen vergleichsweise unendlichen Wert. Dies liegt schon im Begriff der Pflicht. Aber hieraus läßt sich nicht auf den absoluten Wert der Pflichterfüllung, sondern nur auf den absoluten Unwert der Pflichtverletzung schließen. Der gute Wille ist also zwar die notwendige Bedingung alles persönlichen Wertes, aber darum noch nicht selbst ein positives Gut, geschweige denn das höchste. 14. Während aber KANT in der bisher betrachteten Gedankenreihe das Bemühen zeigt, sich von dem Fehler der Güterethik fernzuhalten, und, statt das moralische Gesetz auf einen absoluten Wert zu gründen, vielmehr überall dem Satze treu bleibt, daß »nichts einen Wert hat, als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt« 12, und nur darin zu weit geht, daß er, statt von dem Gesetz, von dem Begriff des Gesetzes ausgeht, kehrt er in einem anderen Ableitungsversuch das Verhältnis wieder um. Er versucht hier, den absoluten Wert der Person für sich festzustellen und das Gesetz erst auf ihn zu gründen. 13 Dieser Versuch vermeidet den logizistischen Fehler des ersten, bedeutet aber dafür einen Rückfall in die Güterethik. Die Begründung des absoluten Wertes der Person, die KANT hier vorgeschwebt hat, beruht auf dem Satze, daß der Wert aller Sachen 12
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G. 73. Vgl. K. 76 (»daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze, [dem er dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müßte] sondern nur [wie hier auch geschieht] nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse«), K. 77 (»daß nicht der Begriff des Guten, als eines Gegenstandes, das moralische Gesetz, sondern umgekehrt das moralische Gesetz allererst den Begriff des Guten bestimmen und möglich mache«). »Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes liegen.« (G. 63.) »Wenn aber aller Wert bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden. Wenn es denn also ein oberstes praktisches Prinzip und in Ansehung des menschlichen Willens einen kategorischen Imperativ geben soll, so muß es ein solches sein, das aus der Vorstellung dessen, was notwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein objektives Prinzip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen kann. Der Grund dieses Prinzips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst.« (G. 64.)
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nur bedingt ist, nämlich durch die Neigungen einer Person, zu deren Befriedigung sie als Mittel dienen. Da nun jedem bedingten Wert ein unbedingter als Bedingung seiner Möglichkeit zugrunde liegen muß, die Neigungen selbst aber, als Grund von Bedürfnissen, diesen Wert offenbar nicht haben können, so scheint hieraus allerdings ein Schluß auf den absoluten Wert der Person möglich zu sein. 14 Dieser Schein entsteht aber nur durch die Verschiedenheit der Bedeutungen, in denen von der Bedingtheit eines Wertes die Rede sein kann. Die Bedingtheit eines Wertes bedeutet einmal seine Abhängigkeit von einem anderen Wert, zu dem er im Verhältnis des Mittels zum Zweck steht. In diesem Sinne läßt sich allerdings behaupten, daß der Wert aller Sachen nur bedingt ist, wie auch, daß jeder bedingte Wert einen unbedingten zu seiner Möglichkeit voraussetzt. Wenn wir aber in diesem Sinne den unbedingten Wert suchen, der allen Sachenwert erst möglich macht, so kommen wir nicht auf den Wert der Person, sondern auf den Wert der Befriedigung der Bedürfnisse, also des Wohlbefindens als eines Zustands der Person. Man kann andererseits unter der Bedingtheit eines Wertes seine Abhängigkeit von einem wertenden Subjekt verstehen, d. h. seine Eigenschaft, einem Gegenstande nur insofern zuzukommen, als dieser die Neigung eines bedürftigen Wesens befriedigt. 15 In diesem Sinne läßt sich mit Recht behaupten, daß die Person die Bedingung des Wertes aller Gegenstände der Neigung ist, keineswegs aber, daß jeder bedingte Wert einen unbedingten Wert zu seiner Möglichkeit voraussetzt. Es läßt sich also auch in diesem Sinne nicht auf den absoluten Wert der Person schließen. KANT hat hier das Verhältnis von mittelbaren und unmittelbaren Werten mit demjenigen von subjektiven und objektiven Werten verwechselt. 16 14
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G. 64. »Alle Gegenstände der Neigungen haben nur einen bedingten Wert; denn, wenn die Neigungen und darauf gegründete Bedürfnisse nicht wären, so würde ihr Gegenstand ohne Wert sein.« (G. 64.) »Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserm Willen, sondern der Natur beruht, haben, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen
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Sehen wir aber auch von diesem Fehler ab, so fehlt uns doch noch der Übergang von dem absoluten Wert der Person zu dem Gebot, die Person als Selbstzweck zu achten. Hier steht es nun so. Entweder der Satz, daß die Person absoluten Wert habe oder Zweck an sich sei, soll selbst nichts anderes bedeuten, als daß die Person nicht zum bloßen Mittel gemacht werden darf1 7 : dann ist er nur ein anderer Ausdruck für den kategorischen Imperativ, nicht aber ein höheres Prinzip, auf das dieser sich zurückführen ließe. Oder aber er drückt ein bloßes, den kategorischen Imperativ noch nicht voraussetzendes Wertgesetz aus: dann läßt dieser sich auch nicht aus ihm ableiten, denn von dem absoluten Wert der Person ist kein Schluß auf die Person als Gegenstand der Pflicht möglich. Man müßte denn schon voraussetzen, daß die Hervorbringung oder, wenn diese nicht durch unseren Willen möglich ist, Erhaltung des absolut Wertvollen Pflicht sei. Dann aber würde vielmehr dieser schon vorausgesetzte Satz, und nicht das erst abzuleitende Gebot der Achtung der Würde der Person, das oberste Gesetz der Pflicht sein. Dieses läßt sich also in keinem Fall aus dem Satz vom absoluten Wert der Person ableiten. Der Schein, daß diese Ableitung dennoch möglich sei, wird bei KANT dadurch verstärkt, daß er, durch eine weitere Verwechslung, den Gegensatz von bedingten und unbedingten Werten in den erörterten Bedeutungen noch mit dem Gegensatz von ersetzbaren (endlichen) und unersetzbaren (unendlichen) Werten gleichsetzt. 18 Aber
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Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst auszeichnet.... Dies sind also nicht bloß subjektive Zwecke, deren Existenz als Wirkung unserer Handlung für uns einen Wert hat; sondern objektive Zwecke, d. i. Dinge, deren Dasein an sich selbst Zweck ist.« (G. 64.) »Zweck an sich selbst, d. i. etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf.« (G. 64.) » ••• als Zwecke, d. i. nur als solche, die von eben derselben Handlung auch in sich den Zweck müssen enthalten können.« (G. 66.) » Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Kquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Kquivalent verstattet, das hat eine Würde ... Das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde.« (G. 72.)
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so wenig wie in jenem würde in diesem Sinn der absolute Wert der Person genügen, um sie zum Gegenstand der Pflicht zu machen. Denn von dem unendlichen Wert des Gegenstandes einer Handlung wäre noch ein weiter Schritt zur Übertragung dieses Wertes auf die Handlung selber. Und doch würde selbst der unendliche Wert der Handlung noch nicht hinreichen, um sie als Pflicht erkennen zu lassen. Denn wenn wir auch von dem negativen Charakter der moralischen Wertung absehen wollten, so könnten wir zwar einen unendlichen Wert der Pflichthandlung behaupten, nicht aber darum auch umgekehrt aus dem unendlichen Wert einer Handlung darauf schließen, daß sie Pflicht sei.
B. Das Sittengesetz
15. Die aufgewiesenen Trugschlüsse erklären uns nun zugleich die Mängel, die wir an den Kantischen Formulierungen des Sittengesetzes finden, wenn wir sie als bloße Resultate der Abstraktion prüfen. Hier muß zunächst auf einen wichtigen Unterschied hingewiesen werden, der zwischen dem Kriterium der Würde der Person und dem der Verallgemeinerung der Maxime zum Naturgesetz besteht. Die Beziehung unserer Handlungen zu den behandelten Personen, die für das erste Kriterium wesentlich ist, fehlt nämlich vollständig in dem zweiten. Während aber das Kriterium der Verallgemeinerung der Maxime zum Naturgesetz durch das Fehlen dieser Beziehung zu weit wird, indem es sich auch auf Handlungen der toten Natur gegenüber erstrecken würde, wird das Kriterium der Würde der Person dadurch zu eng, daß es, dem Sinne der Kantischen Ableitung zufolge, nur auf Handlungen gegenüber »vernünftigen Wesen« Anwendung findet. 19 Eine einfache Abstraktion zeigt, daß es keine Pflichten gibt, die unser Handeln der toten Natur gegenüber einschränken, daß aber andererseits der Kreis von 19
»In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes.« (K. 106.)
Die kritische Ethik
Wesen, in deren Behandlung wir Verpflichtungen unterliegen, nicht bloß solche Wesen umfaßt, die selbst Subjekte von Pflichten und also vernünftige Wesen sind, sondern darüber hinaus alle solche, die Träger von Interessen sind. 16. Enthält insofern die Beziehung auf die »Menschheit« eine fehlerhafte Beschränkung des Objektbereichs der Pflicht, so zeigt doch die Abstraktion zugleich, daß dieser durch die Einbeziehung der eigenen Person des Handelnden wieder zu weit ausgedehnt wird. 20 Der Fehler, der dadurch entsteht, läßt sich schon rein logisch an Hand der Kantischen Formulierung nachweisen. Daß ich mich nämlich selbst zum bloßen Mittel mache, d. h. mich zu einem Zwecke gebrauche, der nicht mein eigener Zweck wäre, ist unmöglich, da ja der Zweck einer jeden Handlung, die ich begehe, mein Zweck ist. Es kann also auch keine Pflicht geben, sich nicht selbst zum bloßen Mittel zu machen. Was diese Behauptung anstößig erscheinen läßt, ist nur eine gewisse Unklarheit über die Art der Beziehung des Handelnden zu den behandelten Personen, die in der Formulierung des Sittengesetzes zum Ausdruck gelangen muß. Diese Beziehung ist allerdings keine solche einer einseitigen Bevorzugung der Interessen anderer, so daß ich unter Hintansetzung meiner eigenen Zwecke die der anderen zu achten verpflichtet wäre, sondern die Verpflichtung ist eine wechselseitige: sie beruht auf einer Gleichsetzung der Personen hinsichtlich des Anspruchs auf Achtung ihrer Interessen. Meine Verpflichtung gegen andere geht daher nicht weiter, als es diese Koordination der Interessen mit sich bringt, und in diesem Sinne wird allerdings zur Bestimmung des Inhalts der Pflicht eine Rücksicht auf die eigene Person des Handelnden erfordert. Die Wechselseitigkeit im Verhältnis der Personen besagt also nur, daß meinen Pflichten anderen gegenüber gleiche Pflichten der anderen gegen mich 20
»Der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen ... muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.« (G. 63 f.) »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person jedes anderen jederzeit zugleich als Zwecx, niemals bloß als Mittel brauchst.« (G. 65.) »... selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille ... « (K. 106.)
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entsprechen; es folgt aus ihr nur ein Rechtsanspruch, den ich den anderen gegenüber habe, nicht aber eine Pflicht, die ich gegen mich selbst hätte. 17. Diese persönliche Gleichheit kommt bei KANT gar nicht zur Geltung, und die Folge ist, daß die Anwendung des Sittengesetzes bei ihm äußerst unbestimmt und willkürlich erscheint. Statt durch die bloße Relation der Gleichheit der in Wechselwirkung befindlichen Personen den Inhalt der Pflicht zu bestimmen, setzt er ihn aus einer Pflicht gegen andere Personen und einer solchen gegen uns selbst zusammen, ohne daß wir zur Abgrenzung des Inhalts dieser Teilpflichten ein Kriterium erhielten. Denn daß die Bedingung der »Einstimmung« der behandelten Person 21 nicht als ein solches dienen kann, läßt sich leicht einsehen. Für die Pflichten gegen uns selbst würde sie zu wenig fordern, insofern, nach dem eben Erörterten, die Einstimmung hier aus rein logischen Gründen gar nicht fehlen kann. Für die Pflichten gegen andere würde sie dagegen zu viel fordern, insofern die Einstimmung des anderen bei allen Handlungen, die hier überhaupt in Frage kommen, der Natur der Sache nach fehlen muß. Denn jeder Fall, der hierher gehört, ist ein solcher einer Interessenkollision, so daß die Einstimmung des anderen in die von uns beabsichtigte Handlung - selbst wenn wir diese Einstimmung, wie es auch im Sinne KANTS ist, nur negativ als ein Nicht-Widerstreben verstehen - niemals vorausgesetzt werden kann. Jede Handlung, durch die das Interesse eines anderen verletzt würde, wäre hiernach sittlich verboten, so wie wir fanden, daß die Verletzung eines eigenen Interesses immer sittlich erlaubt sein müßte. Lassen wir aber die Bedingung der faktischen Einstimmung fallen, um sie durch die Forderung zu ersetzen, daß der andere in unsere Art gegen ihn zu verfahren einstimmen könnte 22 , so wäre
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»Denn der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen, und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten.« (G. 66.) »Würdest du darin wohl mit Einstimmung deines Willens sein?« (K. 84 f.) » .•• daß sie als vernünftige Wesen jederzeit zugleich als Zwecke, d. i. nur als solche, die von ebenderselben Handlung auch in sich den Zweck müssen enthalten können, geschätzt werden sollen.« (G. 66.) »... es nämlich keiner
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auch hiermit nichts gewonnen, da uns noch das Prinzip fehlt, nach dem sich die bloße Möglichkeit der Einstimmung beurteilen ließe. 18. Das Kriterium der Verallgemeinerung der Maxime zum Naturgesetz ist diesem Einwand nicht ausgesetzt. Denn die Bedingung der Einstimmung nicht sowohl in die Handlung selbst als vielmehr in die Geltung ihrer Maxime als Naturgesetz erfordert weder, daß wir selbst, als Handelnde, noch daß die anderen, von uns Behandelten, in unsere Handlung einstimmen, sondern daß wir einwilligen würden, wenn nach derselben Maxime von jedermann und also auch uns gegenüber verfahren würde. Es wird hier also von dem Unterschied der Personen insofern abstrahiert, als die Handlung nicht nur vom Standpunkt des Handelnden, sondern in gleicher Weise aus dem aller von ihr betroffenen Personen beurteilt werden muß. Es sind, wie man es auch ausdrücken kann, die durch die Handlung berührten Interessen so abzuwägen, als ob sie alle in einer Person vereinigt wären. Daß aber dieses die eigentliche Bedeutung des ihm vorschwebenden Kriteriums ist, ist KANT nicht klar geworden. Insbesondere bleibt bei ihm im dunklen, ob und wieweit es möglich ist, bei der verlangten Abstraktion von der Besonderheit des Falles die Rücksicht auf die für ihn charakteristischen Umstände beizubehalten. Daß es möglich und sogar notwendig ist, in die Formulierung der zum Naturgesetz verallgemeinerten Maxime die Eigentümlichkeiten einer vielleicht niemals wiederkehrenden Situation aufzunehmen, erscheint zwar auf den ersten Blick paradox. Die Gesetzlichkeit in der Verknüpfung einer bestimmten Handlungsweise mit einer bestimmten Situation hängt indessen gar nicht von der größeren oder geringeren Häufigkeit des Vorkommens dieser Situation ab. Demgemäß bedeutet das Prinzip der persönlichen Gleichheit auch nur, daß vom Unterschied der Personen als solcher, nicht aber auch von dem ihrer Eigenschaften oder Situationen abstrahiert werden soll. Die auszuführende Abstraktion betrifft, mit anderen Worten, nur den numerischen und nicht den qualitativen UnterAbsicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte, möglich ist.« (K. 106.)
Erster Teil. Kant schied der Personen. Berücksichtigt man dies, so entfällt zugleich der gewöhnlich gegen das Kantische Moralprinzip erhobene Vorwurf, daß es eine Uniformität des Handelns verlange und der Mannigfaltigkeit der Individualitäten und Situationen nicht Rechnung trage. 19. Ebenso unklar bleibt bei KANT, inwiefern andererseits die Auszeichnung, die der Handelnde bei allgemeiner Befolgung seiner Maxime möglicherweise durch die Chance hätte, weniger leicht als andere in die Lage des Behandelten zu geraten, bei der Anwendung des Kriteriums von der Rücksicht auszuschließen ist. In das Naturgesetz z.B., daß Notleidenden der Beistand verweigert wird, könnten diejenigen, die nur selbst nicht zu fürchten brauchen, in Not zu geraten, wohl einwilligen. Wenn KANT anders entscheidet23 , so setzt er voraus, daß wir bei der Wahl zwischen den durch die Verallgemeinerung entstehenden Naturgesetzen von der vielleicht vorhandenen geringeren Wahrscheinlichkeit, in die Lage des Behandelten zu geraten, ganz abstrahieren oder daß wir, was auf dasselbe hinausläuft, die Fälle, daß das eine und andere Naturgesetz auf uns selbst Anwendung findet, als gleich wahrscheinlich annehmen. Das heißt, er setzt voraus, daß nur die Naturgesetze als solche gegeneinander abzuwägen sind, ohne Rücksicht auf unsere wirkliche und als solche hinsichtlich der Naturgesetze zufällige Lage. Eine Voraussetzung, die, gerade weil es für sie nur auf die Abstraktion von der Wirklichkeit unserer Lage ankommt, mit der uneingeschränkten Rücksicht auf die qualitative Besonderheit unseres Falles ganz im Einklang ist, da ja die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Falles gar nicht zu seiner qualitativen Bestimmtheit gehört. KANT bedarf des Umweges über den Begriff des Naturgesetzes nur, um die Abstraktion von der Wirklichkeit des Falles zu vollziehen. Da aber andererseits die qualitative Besonderheit des Falles bei diesem Gedankenexperiment völlig beibehalten wird, und dabei also nur von 23
»Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche ereignen können, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf, und wo er durch ein solches, aus seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz sich selbst alle Hoffnungen des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde.« (G. 58.)
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seiner numerischen Bestimmtheit abstrahiert wird, so sieht man, daß das Kantische Kriterium dem Sinne nach in der Tat ganz auf den Grundsatz der persönlichen Gleichheit hinausläuft, wenn dies auch in der Kantischen Formulierung nicht klar zum Ausdruck kommt.
C. Die praktischen Postulate 20. Ein praktisches Postulat ist nach KANT ein spekulativer, als solcher jedoch unerweislicher Satz, der aber in praktischer Hinsicht, d. h. als Voraussetzung der Gültigkeit des Sittengesetzes, notwendig ist. 24 Solcher Postulate stellt KANT zwei auf: das Postulat der Unsterblichkeit der Seele und das des Daseins Gottes. Diese sind an und für sich nur Ideen, d. h. Vorstellungen von Gegenständen, die in keiner möglichen Erfahrung gegeben werden können; sie können folglich, da unsere spekulative Erkenntnis auf das Gebiet möglicher Erfahrung eingeschränkt ist, im Bereiche der spekulativen Erkenntnis nicht begründet werden. Auf die Unsterblichkeit der Seele kommt KANT durch die folgende überlegung. 25 Das Sittengesetz schreibt uns vor, nach der Verwirklichung des höchsten Gutes in der Welt zu streben. 26 Dieses besteht in der völligen Angemessenheit der Gesinnung zu den Anforderungen des Sittengesetzes. Völlige Angemessenheit der Gesmnung zu den Anforderungen des Sittengesetzes wäre sittliche 24 25
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K. 147. K. 146 ff. »Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchste Gut ... hervorzubringen.« »Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.« (K. 136, 137.) »In dieser Unterordnung allein ist das höchste Gut das ganze Objekt der reinen praktischen Vernunft, die es sich notwendig als möglich vorstellen muß, weil es ein Gebot derselben ist, zu dessen Hervorbringung alles mögliche beizutragen.« (K. 143.) »Die Bewirkung des höchsten Gutes in der Welt ist das notwendige Objekt eines durch das moralische Gesetz bestimmbaren Willens.« (K. 146.) » Wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen.« (K. 150.)
Erster Teil. Kant
Vollkommenheit oder Heiligkeit. Diese ist aber in der Natur, wo wir sinnlichen Antrieben unterworfen sind, in keiner endlichen Zeit erreichbar. Es muß daher die unendliche Fortdauer unseres Daseins vorausgesetzt werden, damit das höchste Gut als möglich gedacht werden kann. Was das Dasein Gottes betrifft27 , so ist die sittliche Vollkommenheit als solche noch nicht das vollendete höchste Gut, sondern nur seine oberste Bedingung. Zur Vollendung des höchsten Gutes würde vielmehr eine der sittlichen Vollkommenheit entsprechende Verteilung der Glückseligkeit gehören. Denn wir sind als sinnliche Wesen der Glückseligkeit bedürftig, und es kann die Würdigkeit, der Glückseligkeit teilhaft zu werden, nur eingeschränkt sein auf die Bedingung der Sittlichkeit. 28 Eine dem Grade der Sittlichkeit entsprechende Verteilung der Glückseligkeit wäre aber nach Naturgesetzen nur zufällig. Wir müssen daher, um sie als notwendig zu denken, ein Wesen annehmen, das unabhängig von aller Natur die Glückseligkeit nach dem Grade der Würdigkeit verteilt. Diese Ausführung der Postulatenlehre läßt sich leicht als verfehlt nachweisen. Zum ersten Postulat ist zu sagen, daß das Sittengesetz als solches nur einzelne Handlungen gebietet, nicht aber eine dem Sittengesetz entsprechende Gesinnung. Es ist nicht Pflicht, aus Pflicht zu handeln. 29 Wenn dieses aber auch der Fall sein sollte, so würde doch durch die unendliche Fortdauer unseres Daseins und den dadurch möglich werdenden unendlichen Progreß der sittlichen Vervollkommnung das Ziel, um dessentwillen sie angenommen werden, nicht erreicht werden. Denn insofern dieser Progreß unendlich sein müßte, würde sein Ziel zu keiner bestimmten Zeit erreicht werden können, wäre also überhaupt unerreichbar, und es würde keinen wesentlichen Unterschied dabei machen, ob wir unser Dasein als begrenzt oder unendlich fortdauernd annehmen. 27 28
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K. 149 ff. K. 133 ff. Wie denn KANT gelegentlich selbst bemerkt: »Nach Gewissen zu handeln kann selbst nicht Pflicht sein, weil es sonst noch ein zweites Gewissen geben müßte, um sich des Aktes des ersteren bewußt zu werden.« (M. T. Einleitung zur Tugendlehre, XII b 401.)
Die kritische Ethik
Zum anderen Postulat ist zu sagen, daß die Leugnung einer der Sittlichkeit entsprechenden Verteilung der Glückseligkeit keinen logischen Widerspruch und auch keinen Widerspruch gegen das Sittengesetz enthält. Die Forderung des Sittengesetzes nimmt auf den Trieb nach Glückseligkeit keine Rücksicht; diese Rücksicht entspringt vielmehr nur aus einem subjektiven Bedürfnis. Eine der Sittlichkeit nicht entsprechende Verteilung der Glückseligkeit würde also nicht einem Anspruch widersprechen, der uns auf Grund des Sittengesetzes zukäme, sondern nur unserm subjektiven Bedürfnis. Die Glückseligkeit wird nur »erfordert« 30 in dem Sinne, daß sie von uns begehrt wird, nicht aber in dem Sinne, daß sie praktisch notwendig wäre. So sieht sich denn auch KANT genötigt, zu gestehen, daß die praktische Notwendigkeit des höchsten Gutes in dem Sittengesetz nicht logisch enthalten ist. 31 Es müßte dann ein anderes vom Sittengesetz unabhängiges Prinzip praktischer synthetischer Urteile a priori geben, und das Sittengesetz könnte also nicht, wie KANT will 3 2, das alleinige Prinzip praktischer Gesetze sein. Der Fehler dieser Lehre vom höchsten Gut erklärt sich durch KANTS Ausschließung alles Inhalts aus dem Sittengesetz. Da nämlich alles Wollen, sein Bestimmungsgrund mag sein, welcher er will, einen Zweck zum Gegenstande haben muß, so bleibt für KANT nur 30 31
32
K. 133 ff. »Daß aber jedermann sich das höchste in der Welt mögliche Gut zum Endzweck machen soll, ist ein synthetischer praktischer Satz a priori, ... der in den moralischen Gesetzen nicht enthalten ist und daraus also analytisch nicht entwickelt werden kann. Diese nämlich gebieten schlechthin, es mag auch der Erfolg derselben sein, welcher er wolle, ja sie nötigen sogar, davon gänzlich zu abstrahieren, wenn es auf eine besondere Handlung ankommt, und machen dadurch die Pflicht zum Gegenstande der größten Achtung, ohne uns einen Zweck (und Endzweck) vorzulegen und aufzugeben, der etwa die Empfehlung derselben und die Triebfeder zur Erfüllung unserer Pflicht ausmachen müßte. Alle Menschen könnten hieran auch genug haben, wenn sie (wie sie sollten) sich bloß an die Vorschrift der reinen Vernunft im Gesetz hielten. Was brauchen sie den Ausgang ihres moralischen Tuns und Lassens zu wissen, den der Weltlauf herbeiführen wird? Für sie ist's genug, daß sie ihre Pflicht tun; es mag nun auch mit dem irdischen Leben alles aus sein und wohl gar selbst in diesem Glückseligkeit und Würdigkeit vielleicht niemals zusammentreffen.« (Re!. Vorrede.) »... weil das moralische Gesetz der Befolgung der Pflicht überhaupt nur ein einziges und allgemein ist.« (Re!. 23.)
Erster Teil. Kant
übrig, diesen Zweck durch ein außersittliches Interesse zu bestimmen. 21. So leicht es ist, diese Fehler der Ausführung der Postulatenlehre bei KANT aufzuzeigen, so leicht wird andererseits der ihr zugrunde liegende tiefe Gedanke übersehen. Es liegt nämlich nahe, die Möglichkeit einer Postulatenlehre von vornherein zu bestreiten, denn wie sollte man von einem praktischen Satz auf einen spekulativen schließen können, von einem Satz über das Sollen auf einen Satz über das Dasein? Nun ist zwar klar, daß das Umgekehrte unmöglich ist, denn im Begriff des Seins ist der des Sollens nicht enthalten. Im Begriff des Sollens ist aber allerdings der des Seins enthalten, insofern als das, was sein soll, etwas ist, was sein soll. Wir können daher die Frage stellen, welche Bedingungen hinsichtlich des Seins schon analytisch in dem Sittengesetz eingeschlossen sind, und zwar können wir einerseits fragen nach den spekulativen Bedingungen der Anwendbarkeit des Sittengesetzes seiner Form nach und andererseits nach den spekulativen Bedingungen der Anwendbarkeit des Sittengesetzes seinem Inhalt nach. Wir können, mit anderen Worten, die Bedingungen der Anwendbarkeit des Begriffs der Pflicht und dann auch die Bedingungen der Anwendbarkeit des Kriteriums der Pflicht untersuchen. 22. Die Beantwortung der ersten Frage führt uns auf das Postulat der Freiheit, und zwar der Freiheit im strengen metaphysischen Sinne, d. h. der Unabhängigkeit des Willens von der Notwendigkeit eines Müssens. Denn in der Aussage, daß ich etwas tun soll, liegt analytisch die Voraussetzung eingeschlossen, daß ich dies auch tun kann, d. h. daß es keine Notwendigkeit eines Müssens gibt, die das, was ich tun soll, unmöglich macht. 23. Eine analoge Bedingung besteht für die Anwendbarkeit des Sittengesetzes seinem Inhalt nach. Der Inhalt der Pflicht wird bestimmt durch das Rechtsgesetz, d. h. durch das Prinzip der persönlichen Gleichheit. Das Rechtsgesetz ist nun eine Regel für die Abwägung der von einer Handlung betroffenen Interessen. Was das Sittengesetz fordert, läßt sich daher nur bestimmen unter Voraussetzung eines bestimmten Wirkungsbereichs der Handlung. Es ist also unanwendbar, wenn dieser Wirkungsbereich sich ins Unendli-
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Die kritische Ethik
ehe erstreckt. Denn es ist unmöglich, eine unendliche Reihe von Interessen gegeneinander abzuwägen. Wie weit wir auch in dieser Reihe fortschreiten mögen, so könnte doch das Resultat durch jeden weiteren Schritt wieder umgestoßen werden. Es würde sich hier um die Aufgabe der Summation einer unendlichen Reihe handeln, deren Konvergenz nicht vorausgesetzt werden kann. Das zweite Postulat der Anwendbarkeit des Sittengesetzes ist daher die Endlichkeit des Wirkungsbereichs von Handlungen. 24. Diese Postulate führen, wie dies KANT von den seinigen zeigt, auf eine Antinomie, nämlich auf einen Widerstreit mit Sätzen, die aus spekulativen Gründen festzustehen scheinen. Das erste Postulat führt auf einen Widerstreit mit der für die Physik unentbehrlichen Voraussetzung der Bestimmtheit alles Geschehens durch Naturgesetze. Das zweite auf einen Widerstreit mit dem für die Physik ebenso wesentlichen Satz von der Unendlichkeit der Ausdehnung der Natur dem Raume und der Zeit nach. Es kann nämlich aus physikalischen Gründen eine Endlichkeit des Wirkungsbereichs von Handlungen weder dem Raume noch der Zeit nach vorausgesetzt werden. Sie müßte aber vorausgesetzt werden, damit das Sittengesetz anwendbar ist. Nun kann es nicht die Aufgabe der praktischen Philosophie sein, diese Antinomien aufzulösen. Wir können dieses Problem nicht durch die dogmatische Behauptung eines »Primats der praktischen Vernunft« 33 vor der spekulativen zugunsten der praktischen Postulate entscheiden, vielmehr müssen wir dieses Problem der spekulativen Philosophie zur Auflösung überlassen. 34 Denn die einander gegenüberstehenden Sätze sind beiderseits spekulative Behauptungen, es kann also über ihre Richtigkeit nur die spekulative Philosophie entscheiden. Hier können wir uns nur darauf berufen, 33
34
»In der Verbindung der reinen spekulativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das Primat . .. Denn es würde ohne diese Unterordnung ein Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst entstehen.« (K. 146.) Vgl. G. 97f. (»Diese Pflicht liegt aber bloß der spekulativen Philosophie ob, damit sie der praktischen freie Bahn schaffe ... Denn jene Beilegung der Streitigkeit gehört gar nicht ihr zu, sondern sie fordert nur von der spekulativen Vernunft, daß diese die Uneinigkeit ... zu Ende bringe.«)
Erster Teil. Kant
daß ein Satz, der sich in einem Gebiete als richtig erweist, unmöglich in einem anderen Gebiete falsch sein kann. Wenn wir also nur unserer Aufgabe genügen, das Sittengesetz innerhalb der praktischen Philosophie sicherzustellen, so können wir hinsichtlich der Antinomien unbesorgt sein. Gelingt es nämlich, das Sittengesetz zu begründen, so werden damit zugleich die spekulativen Voraussetzungen seiner Gültigkeit mit begründet. Wir haben hier also den eigentümlichen Fall, daß die bloße regressive Aufweisung eines Satzes schon zu seiner Begründung hinreicht.
2. Kapitel. Theorie der praktischen Vernunft A. Theorie des reinen Willens 25. Die bisher besprochenen Fehler, die das Abirren KANTS von dem richtigen Wege der Abstraktion verschulden, hängen aufs engste zusammen mit der mangelhaften psychologischen Durchbildung seiner Theorie der praktischen Vernunft. Bei dieser finden wir KANT von Anfang an in Widerspruch zu den Anforderungen der kritischen Methode, indem er, statt von einer unbefangenen Betrachtung des Tatbestandes auszugehen, sich die Grundsätze seiner Theorie von gewissen allgemeinen erkenntnistheoretischen Vorurteilen diktieren läßt. Wie er in der Kritik der spekulativen Vernunft die Ansprüche der einzelnen Erkenntnisarten auf Grund einer dogmatischen Theorie über das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande beurteilt, so verfährt er auch hier, in der Kritik der praktischen Vernunft. Es steht ihm im voraus fest, daß wie beim theoretischen so auch beim praktisd1en Verhalten die Beziehung zum Gegenstande von der Art eines Kausalverhältnisses sein müsse. Wie es nach dieser Lehre nur zwei Erkenntnisquellen geben kann, Sinnlichkeit und Verstand, jene als die Empfänglichkeit für äußere Eindrücke, diese als die Spontaneität des Subjekts, so auch nur zwei Arten der Willensbestimmung. Der Bestimmungsgrund des Willens gehört entweder dem Sinne oder dem Verstande an, je nachdem er sich auf die Empfänglichkeit des Subjekts gründet und
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Die kritische Ethik
insofern von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt oder unabhängig von einem solchen aus der Spontaneität des Subjekts entspringt.35 Die Konsequenz dieser Lehre ist auch auf praktischem Gebiet ein »formaler Idealismus«. Denn da der Verstand für sich nur die bloße Form der Gesetzmäßigkeit zu der anderweit gegebenen Materie, sei es des Erkennens oder des Wollens, hinzugibt, so folgt, daß alle »materialen« Prinzipien, d. h. alle solchen, die die Beziehung auf ein Objekt enthalten, empirisch sind. Die weitere Folge, daß alle materialen Prinzipien insgesamt aus dem Prinzip der eigenen Glückseligkeit entspringen, daß dagegen das moralische Gesetz die bloße Form der Gesetzmäßigkeit der Maximen zum Inhalt haben kann, ergibt sich dann von selbst. 26. Hierzu kommen andere Fehler, die dieselbe Konsequenz nach sich ziehen. Setzt man auch mit KANT voraus, daß die Vorstellung eines Objekts den Willen nur vermittelst einer Lust an der Wirklichkeit des Objekts bestimmen kann, so kann doch auf den empirischen Charakter dieses Bestimmungsgrundes nicht daraus geschlossen werden, daß » von keiner Vorstellung irgendeines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden kann, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden oder indifferent sein werde«. 36 Wir müssen die Erkenntnis der Lust noch von der Lust selber unter3j
36
»Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, so fern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts, weil sie von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt; mithin gehört sie dem Sinne und nicht dem Verstande an.« (K. 24.) »Eben darum, weil hier ein Objekt der Willkür der Regel derselben zum Grunde gelegt und also vor dieser vorhergehen muß, so kann diese nicht worauf anders, als auf das, was man empfindet, und also aus Erfahrung bezogen und darauf gegründet werden.« (K. 43f.) »Daß bei jener die Objekte Ursachen der Vorstellungen sein müssen, die den Willen bestimmen, bei dieser aber der Wille Ursache von den Objekten sein soll ... « (K 54.) K. 24. Vgl. U. 66: »Die Verknüpfung des Gefühls einer Lust oder Unlust, als einer Wirkung, mit irgendeiner Vorstellung als ihrer Ursache, a priori auszumachen, ist schlechterdings unmöglich.« Sowie U. 151 f.: »Daß die Vorstellung von einem Gegenstand unmittelbar mit einer Lust verbunden sei, kann nur innerlich wahrgenommen werden ... Denn a priori kann ich mit keiner Vorstellung ein bestimmtes Gefühl (der Lust oder Unlust) verbinden ... Es ist ein empirisches Urteil, daß ich einen Gegenstand mit Lust wahrnehme und beurteile.«
Erster Teil. Kant
scheiden und dürfen auch die Modalität der ersten niu.¾t ohne weiteres als gleichartig mit der der zweiten voraussetzen. KANT hat hier den Inhalt der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand verwechselt. 27. So wie das Wort »Lust« im gewöhnliu.¾en Sprachgebrauch vorkommt, werden wir KANT freilich darin recht geben, daß alle Lust, eben weil sie sich stets nur auf einzelne Gegenstände bezieht, sinnlichen Charakters ist, und wir werden es ihm als ein großes Verdienst anrechnen müssen, daß er als erster die Frage nach der Modalität der Lust reinlich von der anderen geschieden hat, »ob die Vorstellungen, die mit dem Gefühl der Lust verbunden sind, in den Sinnen oder dem Verstande ihren Ursprung haben«. 37 Die Frage verschiebt sich aber alsdann dahin, ob die Vorstellung eines Objekts wirklich auf keine andere Weise als unter der Bedingung einer Lust den Willen bestimmen kann. Ein Interesse, das sich unmittelbar nur auf Einzelgegenstände bezieht, kann freilich nur ein sinnliches sein; allein die Frage ist, ob es nicht vielleicht auch Interessen gibt, die sich unmittelbar auf eine Klasse von Gegenständen beziehen. Daß KANT diese Möglichkeit ganz übergeht, hat seinen Grund darin, daß er die Interessen von vornherein nur als Bestimmungsgründe des Willens vergleicht und sich dadurch verleiten läßt, die verschiedenen Formen der Willensbestimmung mit den möglichen Arten des Interesses selbst zu verwechseln. Ein Interesse bestimmt den Willen entweder unmittelbar als solches oder nur vermittelst eines Reflexionsaktes. Im ersten Falle sprechen wir von einem triebhaften, im zweiten von einem besonnenen oder verständigen Entschluß. Wir können freilich, mit einem zweideutigen Ausdruck, auch von »sinnlichem Entschluß« sprechen und ihn dem verständigen gegenüberstellen. Diese Einteilung ist aber nur dann eine ausschließende und vollständige, wenn wir sie nicht auf den Ursprung des Bestimmungsgrundes, sondern nur auf die Form der Willensbestimmung beziehen. Es ist zwar richtig, aber für diesen Begriff des »sinnlichen« Entschlusses ganz zufällig, daß er nur durch einen sinnlichen Antrieb als Bestimmungsgrund möglich ist. Begrifflich ist hier nur notwendig, daß der Antrieb den Wil37
K. 25 ff.
Die kritische Ethik
len unabhängig von der Reflexion bestimmt, und also allerdings auch, daß er eine Lust ist. Daß aber jede Lust sinnlichen Ursprungs ist, läßt sich nicht a priori als notwendig einsehen, sondern nur als ein Faktum der inneren Erfahrung konstatieren. Dieses Faktum allein bedingt es denn auch, daß ein »reiner«, d. h. von sinnlichen Antrieben freier Wille nur in der Form des verständigen Entschlusses möglich ist. Nennen wir also (nach besserem Sprachgebrauch) »sinnlich« einen Entschluß aus sinnlichen Antrieben und »rein-vernünftig« einen solchen unabhängig von sinnlichen Antrieben, so können wir den psychologischen Satz aufstellen, daß jeder rein-vernünftige Entschluß ein verständiger, und jeder triebhafte Entschluß ein sinnlicher ist. Die Umkehrung dieses Satzes gilt aber nicht: nicht jeder verständige Entschluß ist darum schon ein rein-vernünftiger, und nicht jeder sinnliche Entschluß darum schon ein triebhafter. Vielmehr ist ein der Form nach verständiger Entschluß auch aus sinnlichen Antrieben möglich. Denn die Form der Verständigkeit des Entschlusses läßt für sich den Ursprung des den Entschluß bestimmenden Antriebs ganz unbestimmt, so wie die Form der Verständigkeit der Erkenntnis, nämlich die Form des Urteils (im Gegensatz zur Anschauung), für sich ganz unbestimmt läßt, ob der in diese Form eingehende Gehalt eine Erkenntnis empirischen oder rein-vernünftigen Ursprungs ist. Verständigkeit bezeichnet eine bloße Form des Entschlusses (wie des Urteils) und enthält für sich so wenig einen eigenen Bestimmungsgrund des Entschlusses wie die bloße Form des Urteils eine eigene Materie der Erkenntnis. Es muß daher über die bloße Form der Verständigkeit des Entschlusses erst noch ein eigener, vom sinnlichen verschiedener Antrieb hinzukommen, wenn überhaupt ein rein-vernünftiger Entschluß möglich sein soll. Denn andernfalls wäre jeder Entschluß ein sinnlicher, mag er seiner Form nach triebhaft oder auch verständig sein. 28. KANT dagegen unterscheidet nicht zwischen den Formen des Entschlusses einerseits und den Arten der Antriebe andererseits. 38 38 » •••
so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft.« (G. 45.) ,._ .. so wird man jederzeit finden, daß ... ihre Vernunft dennoch ... die Maxime des Willens jederzeit an den reinen Willen halte, d. i. an sich selbst, in-
Erster Teil. Kant
Sein Fehler ist hier im Grunde derselbe, den er auch auf theoretischem Gebiet begeht. Wie er dort die Unmittelbarkeit des Bewußtseins um eine Erkenntnis ohne weiteres mit der Unmittelbarkeit der Erkenntnis selber identifiziert und daher die Vollständigkeit der Disjunktion zwischen Anschauung und Reflexion als Erkenntnisarten für logisch gesichert hält, so identifiziert er hier die Unmittelbarkeit der Willensbestimmung durch ein Interesse ohne weiteres mit der Unmittelbarkeit des Interesses selber und hält daher auch die Vollständigkeit der Disjunktion zwischen Lust und Reflexion als Bestimmungsgründen für logisch gesichert. Und wie er dort durch die ganz richtige Feststellung, daß wir keine intellektuelle Anschauung besitzen, folgerichtig zu der weiteren Disjunktion zwischen Sinnlichkeit und Verstand als einzigen Erkenntnisquellen gelangt, so hier durch die analoge Feststellung, daß wir keine intellektuelle Lust besitzen, zu der Disjunktion zwischen Sinnlichkeit und Verstand als einzigen Quellen der Willensbestimmung. An Stelle des Gehalts des unmittelbaren rein-vernünftigen Interesses, wie der unmittelbaren rein-vernünftigen Erkenntnis, bleibt ihm daher nur die leere Form der Verständigkeit übrig. Die bloße »formale Bedingung der Möglichkeit eines Gesetzes überhaupt« wird damit zum Inhalt des höchsten Gesetzes der praktischen wie auch der spekulativen Philosophie gemacht. 39 Der Logizismus der Kantischen Ethik erweist sich so als eine strenge Konsequenz der allgemeinsten psychologischen Voraussetzungen der Kantischen Kritik.
39
dem sie sich als a priori praktisch betrachtet.« (K. 38.) »... eines reinen Willens, oder welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft ... « (K. 67.) »... praktische Vernunft oder eines reinen Willens ... « (K. 79.) »... einer reinen praktischen Vernunft, d. i. eines reinen Willens ... « (K. 132.) »Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund ... in der Vernunft des Subjekts angetroffen wird, heißt der Wille. Der Wille ... hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist ... die praktische Vernunft selbst.« (M. R. Einleitung in die Metaphysik der Sitten I. 213.) K. 40. Vgl. G. 84: »Der schlechterdings gute Wille wird also, in Ansehung aller Objekte unbestimmt, bloß die Form des Wollens überhaupt enthalten, ... die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten Willens, sich selbst zum allgemeinen Gesetze zu machen, ist selbst das alleinige Gesetz, das sich der Wille eines jeden vernünftigen Wesens selbst auferlegt, ohne eine Triebfeder oder Interesse derselben als Grund unterzulegen.«
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29. Das Problem, wie ein »reiner Wille« möglich sei oder, wie KANT es auch ausdrückt, »wie reine Vernunft praktisch sein könne«, ist die Kardinalfrage der Kritik der praktischen Vernunft. KANT erklärt diese Frage für unlösbar, da sie auf die andere hinauslaufe, wie ein freier Wille möglich sei. 40 Die Notwendigkeit dieser Entscheidung ist die unmittelbare Folge aus seinen psychologischen Voraussetzungen. Die Antwort nämlich, daß ein reiner Wille nur in der Form des verständigen Entschlusses möglich sei, bezeichnet zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Denn allerdings enthält der Verstand für sich keinen Antrieb. Da aber außer dem Verstande nach KANTS Voraussetzungen nur die Sinnlichkeit eine Quelle von Antrieben bietet, so würde folgen, daß ein reiner Wille überhaupt keinen Antrieb als Bestimmungsgrund haben dürfe und also Freiheit im metaphysischen Sinne voraussetze. 41 40
41
»Aber alsdann würde die Vernunft alle ihre Grenzen überschreiten, wenn sie es sich zu erklären unterfinge, wie reine Vernunft praktisch sein könne, welches völlig einerlei mit der Aufgabe sein würde, zu erklären, wie Freiheit möglich sei.« (G. 100.) »... als vernünftige und durch Vernunft tätige, d. i. frei wirkende Ursache ... « (G. 100.) »Die subjektive Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einerlei.« (G. 101 f.) »Da ... reine Vernunft durch bloße Ideen (die gar keinen Gegenstand für Erfahrung abgeben) die Ursache von einer Wirkung, die freilich in der Erfahrung liegt, sein soll, so ist die Erklärung, wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit interessiere, uns Menschen gänzlich unmöglich.« (G. 102.) »Wie nun aber reine Vernunft ohne andere Triebfedern ... für sich selbst praktisch sein ... könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend und alle Mühe und Arbeit, hievon Erklärung zu suchen, ist verloren.« (G. 103.) » Wie nun dieses Bewußtsein der moralischen Gesetze, oder, welches einerlei ist, das der Freiheit möglich sei, läßt sich nicht weiter erklären.« (K. 56.) »Denn wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne (welches doch das Wesentliche aller Moralität ist), das ist ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem und mit dem einerlei: wie ein freier Wille möglich sei.« (K. 88.) »Allenthalben, wo ein Objekt des Willens zum Grund gelegt werden muß, um diesem die Regel vorzuschreiben, die ihn bestimme, da ist die Regel nichts als Heteronomie ... so bestimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst, ... sondern nur durch die Triebfeder ... Denn weil der Antrieb ... zur Natur des Subjekts gehört, ... so gäbe eigentlich die Natur das Gesetz, ... der Wille gibt sich nicht selbst, sondern ein fremder Antrieb gibt ihm
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Mit der Aufhebung der Disjunktion zwischen Sinnlichkeit und Verstand entfällt jedoch diese Konsequenz, und es eröffnet sich ein Weg zur Auflösung der Frage, wie ein reiner Wille möglich sei, durch die Nachweisung der Möglichkeit eines rein-vernünftigen Antriebs. 30. Das Problem der Deduktion des Sittengesetzes, d. h. die Frage, wie praktische synthetische Urteile a priori möglich sind, mußte für KANT, da er einen rein-vernünftigen Antrieb für unmöglich hielt, eine objektive Wendung nehmen und sich ihm als die Aufgabe eines Beweises darstellen, der dann freilich, wie KANT dies von seiner Deduktion fordert, nur aus Prinzipien a priori geführt werden könnte. 42 Das Problem verwandelt sich daher für ihn in die Frage nach dem Grunde der Verbindlichkeit des Sittengesetzes.43 Die einzig richtige Antwort auf diese Frage liegt in KANTS eigener Behauptung von der »Unbegreiflichkeit« des kategorischen Imperativs. 44 Denn als höchstes Prinzip praktischer Gesetze kann das Sittengesetz keinen höheren Grund seiner Verbindlichkeit haben. Der Grund der Verbindlichkeit eines Gebotes kann nämlich immer nur in einem anderen Gebote liegen, das uns die Befolgung des ersten zur Pflicht macht. Für das praktische Grundgesetz selbst einen Grund der Verbindlichkeit anzugeben, ist daher unmöglich.
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vermittelst einer auf die Empfänglichkeit desselben gestimmten Natur des Subjekts das Gesetz.« (G. 82 f.) »Die Triebfeder muß hier gänzlich fehlen.« (G. 104.) »Also ist ein Wille, dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann, ein freier Wille.« (K. 34.) »Wie wir also die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs gänzlich a priori zu untersuchen haben.« (G. 53f.) »Noch sind wir aber nicht so weit, a priori zu beweisen, daß dergleichen Imperativ wirklich stattfinde, daß es ein praktisches Gesetz gebe ... und daß die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei.« (G. 60.) Vgl. auch K. 57. » Warum aber soll ich mich denn diesem Prinzip unterwerfen ... ?« (G. 88.) »... woher das moralische Gesetz verbinde ... « (G. 89.) »Nun ist der Verdacht ... gehoben, ... daß wir nämlich vielleicht die Idee der Freiheit nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde legten, um dieses nachher aus der Freiheit wiederum zu schließen, mithin von jenem gar keinen Grund angeben könnten, sondern es nur als Erbittung eines Prinzips, das uns gutgesinnte Seelen wohl gerne einräumen werden, weldi.es wir aber niemals als einen erweislidi.en Satz aufstellen könnten.« (G. 93.) G. 106.
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Wenn man dennoch eine Auflösung dieses Problems versucht, so wissen wir im voraus, daß sie auf einen logischen Zirkel hinauslaufen muß. So auch bei KANT. Auf die Frage nach dem Grunde der Verbindlichkeit sittlicher Pflicht antwortet er mit der Behauptung, das Sollen sei eigentlich unser eigenes intelligibles Wollen, sofern wir uns als vernünftige Wesen betrachten. Dieses Wollen werde für uns insofern zum Sollen, als unsere sinnlichen Antriebe nur zufällig mit dem intelligiblen Wollen übereinstimmen. 45 Wenn wir aber fragen, warum denn unser empirisches Wollen mit dem intelligiblen übereinstimmen solle, so fehlt hierauf die Antwort. Man könnte zwar im Sinne KANTS die Antwort versuchen, diese Übereinstimmung sei notwendig, weil unser Wille sich sonst selbst widersprechen würde. Fragt man aber weiter, warum unser Wille sich denn nicht selbst widersprechen soll, so bliebe darauf nur die Antwort übrig: weil der kategorische Imperativ es verbietet. Woraus denn klar wird, daß die versuchte Auflösung des Problems die Gültigkeit des kategorischen Imperativs schon voraussetzt und sich also in einem Zirkel bewegt. Die Lehre vom Sollen als dem eigenen intelligiblen Wollen ist eigentlich nur eine Konsequenz aus KANTS Verwechslung des den reinen Willen bestimmenden Antriebs mit dem reinen Willen einerseits und der Verwechslung der diesen Antrieb bildenden Vorstellung des Gesetzes mit dem Gesetze selbst andererseits. 46 Denn da 45
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»Dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre.« (G. 88.) »Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt und wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet.« (G. 95.) »Da die bloße Form des Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden kann und mithin kein Gegenstand der Sinne ist, folglich auch nicht unter die Erscheinungen gehört, so ist die Vorstellung derselben als Bestimmungsgrund des Willens von allen Bestimmungsgründen der Begebenheiten in der Natur nach dem Gesetze der Kausalität unterschieden, weil bei diesem die bestimmenden Gründe selbst Erscheinungen sein müssen.« (K. 33 f.) »Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht.« (K. 36 f.)
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er statt der Vorstellung des Sollens das Sollen selbst zum Bestimmungsgrund des reinen Willens macht, zugleich aber den reinen Willen sich selbst bestimmen läßt, so muß ihm folgerichtig auch das reine Wollen mit dem Sollen selbst zusammenfallen. Wenn nun KANT an anderer Stelle selbst einen Beweis des Sittengesetzes für unmöglich erklärt47 , so geht es doch nicht an, den synthetischen Grundsatz a priori, der dieses Gesetz zum Ausdruck bringt, als einen für sich selbst gewissen Satz hinzustellen 48 • Jedes Urteil bedarf, wenn auch nicht eines Beweises, so doch einer Begründung, und wenn KANT dies hier verkennt, so nur, weil er das »Bewußtsein dieses Grundgesetzes« mit dem Gesetz selbst, also den Inhalt der sittlichen Erkenntnis mit ihrem Gegenstande verwechselt. Das Bewußtsein des Sittengesetzes ist freilich ein »Faktum«, das, ohne einer Deduktion zu bedürfen, »für sich selbst feststeht«. Die Konstatierung dieses Faktums genügt aber keineswegs, um auch das moralische Gesetz als für sich feststehend zu erkennen. Denn dieses Faktum besteht nur in dem Anspruch auf Gültigkeit, dem man so wenig wie sonst einem Urteil seine Gültigkeit ohne weiteres ansehen kann. So gewiß das Faktum feststeht, daß wir das Bewußtsein eines kategorischen Sollens haben, so wenig ist damit doch schon der Verdacht ausgeschlossen, daß dies Bewußtsein auf einer bloßen Illusion beruhe und daß also, wie KANT selbst gelegentlich bemerkt, alle Imperative, »die kategorisch scheinen, doch ver-
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K. 57. »Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft ... heraus vernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori.« (K. 37.) »Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben ... Also kann die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion ... bewiesen ... werden und steht dennoch für sich selbst fest.« (K. 57.) »Diese Rechtfertigung der moralischen Prinzipien, als Grundsätze einer reinen Vernunft, konnte aber auch darum gar wohl, und mit genugsamer Sicherheit, durch bloße Berufung auf das Urteil des gemeinen Menschenverstandes geführt werden.« (K. 111.) »Statt der Deduktion des obersten Prinzips der reinen praktischen Vernunft, d. i. der Erklärung der Möglichkeit einer dergleichen Erkenntnis a priori ... « (K. 113.)
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steckter Weise hypothetisch sein mögen« 49 • Nur weil KANT die Verwechslung der Vorstellung des Gesetzes mit dem Gesetze selbst beging, konnte und mußte er auch die empirische Erkenntnis des Faktums jener Vorstellung mit der Erkenntnis a priori des Gesetzes, also mit jener Vorstellung selbst verwechseln und so auf den ihm selbst »befremdlichen« Gedanken kommen, daß das Sittengesetz » gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft« ohne alle Begründung für sich selbst als apodiktisch gewiß feststehe.
B. Zur Kantischen Ästhetik 31. Da, wie wir gesehen haben, nach KANT der Wille nur entweder durch sinnliche Antriebe bestimmt werden kann oder ohne allen Antrieb überhaupt, als freier Wille, sich selbst bestimmen muß, so versteht es sich, daß seine Theorie der praktischen Vernunft keine spezifisch ästhetischen Antriebe zulassen kann. Die Gründe hierfür liegen aber auch in seiner fehlerhaften Ansicht von der Natur der ästhetischen Schätzung. Daß nach seiner Auffassung aus der Rücksicht auf den ästhetischen Wert einer Handlung kein eigener, von dem sinnlichen verschiedener Antrieb entspringen kann, erklärt sich aus seiner Lehre von der Subjektivität der ästhetischen Schätzung einerseits und ihrer Interesselosigkeit andererseits. Nach KANT bezieht sich das ästhetische Wohlgefallen nicht auf den schönen Gegenstand, sondern nur auf unsere Vorstellung des schönen Gegenstandes. Es gibt nach ihm zwar eine »subjektive Allgemeingültigkeit« des ästhetischen Urteils, d. h. wir muten unsere ästhetischen Urteile zugleich jedem anderen Menschen zu, »als ob« wir über den schönen Gegenstand selber urteilten. 50 Statt sich an 49
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»Denn es ist immer möglidi, daß insgeheim Furdit vor Beschämung, vielleidit audi dunkle Besorgnis anderer Gefahren Einfluß auf den Willen haben möge ... Auf soldien Fall aber würde der sogenannte moralisdie Imperativ, der als ein soldier kategorisdi und unbedingt ersdieint, in der Tat nur eine pragmatisdie Vorsdirift sein, die uns auf unsern Vorteil aufmerksam madit und uns bloß lehrt, diesen in adit zu nehmen.« (G. 53.) »Er wird daher vom Sdiönen so spredien, als ob die Sdiönheit eine Besdiaffenheit des Gegenstandes ... wäre; ob es gleidi nur ästhetisdi ist und
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den Tatbestand zu halten, wie er sich der unbefangenen Beobachtung darbietet, daß wir uns nämlich im ästhetischen Urteil auf den schönen Gegenstand selber beziehen, geht KANT auch hier von einer ihm im voraus feststehenden Theorie aus und wird dadurch zu einer gewaltsamen Umdeutung des Sachverhalts gezwungen. Diese Theorie läßt sich auf mehrere Fehlerquellen zurückführen. 32. Der erste Fehler, den KANT hier begeht, liegt in einem falschen Schluß aus der an sich richtigen Feststellung, daß das ästhetische Urteil sich nicht auf Begriffe bringen läßt. 51 Daraus nämlich,
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bloß eine Beziehung der Vorstellung des Gegenstandes auf das Subjekt enthält; darum, weil es doch mit dem logischen die .i\hnlichkeit hat, daß man die Gültigkeit desselben für jedermann daran voraussetzen kann.« (U. 53 f.) »Er urteilt nicht bloß für sich, sondern für jedermann, und spricht alsdann von der Schönheit, als wäre sie eine Eigenschaft der Dinge. Er sagt daher, die Sache ist schön und rechnet nicht etwa darum auf anderer Einstimmung in sein Urteil des Wohlgefallens, weil er sie mehrmalen mit dem seinigen einstimmig befunden hat, sondern fordert es von ihnen.« (U. 55.) »Gleich als ob es für eine Beschaffenheit des Gegenstandes ... anzusehen wäre, wenn wir etwas schön nennen, da doch Schönheit ohne Beziehung auf das Gefühl des Subjekts für sich nichts ist.« (U. 62.) » ••• als ob es objektiv wäre ... Was sollte man nun anders daraus vermuten, als daß die Schönheit für eine Eigenschaft der Blume selbst gehalten werden müsse, ... und doch verhält es sich nicht so.« (U. 142.) »Wenn man Objekte bloß nach Begriffen beurteilt, so geht alle Vorstellung der Schönheit verloren.« (U. 59.) »Nun bestimmt aber das Geschmacksurteil unabhängig von Begriffen das Objekt in Ansehung des Wohlgefallens und des Prädikats der Schönheit. Also kann jene subjektive Einheit des Verhältnisses sich nur durch Empfindung kenntlich machen. . .. Ein objektives Verhältnis kann zwar nur gedacht, aber sofern es seinen Bedingungen nach subjektiv ist, doch in der Wirkung auf das Gemüt empfunden werden, und bei einem Verhältnisse, welches keinen Begriff zum Grunde legt, ist auch kein anderes Bewußtsein desselben als durch Empfindung der Wirkung ... möglich.« (U. 63.) »Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe bestimmte, was schön sei, geben. Denn alles Urteil aus dieser Quelle ist ästhetisch; d. i. das Gefühl des Subjekts, und kein Begriff eines Objekts, ist sein Bestimmungsgrund. Ein Prinzip des Geschmacks, welches das allgemeine Kriterium des Schönen durch bestimmte Begriffe angäbe, zu suchen, ist eine fruchtlose Bemühung, weil, was gesucht wird, unmöglich und an sich selbst widersprechend ist.« (U. 79.) »Das Geschmacksurteil unterscheidet sich darin von dem logischen: daß das letztere eine Vorstellung unter Begriffe vom Objekt, das erstere aber gar nicht unter einen Begriff subsumiert. . . . Gleichwohl ist es aber darin dem letztem ähnlich, daß es eine Allgemeinheit und Notwendigkeit, aber nicht nach Begriffen vom Objekt, folglich eine bloß subjektive vorgibt.« (U. 148.)
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daß das ästhetische Urteil sich nicht durch Begriffe auf den Gegenstand bezieht, schließt er fälschlich, daß es sich überhaupt nicht auf den Gegenstand beziehen könne, ein Schluß, der bei ihm freilich nur folgerichtig ist, da er von der Voraussetzung ausgeht, daß Empirie und Logik die einzigen Kriterien der Objektivität sind. Denn als apodiktisch kann das ästhetische Urteil auch nicht sinnlichen Ursprungs sein, woraus denn unmittelbar die Unmöglichkeit eines »objektiven Prinzips des Geschmacks« folgt. 33. Ein zweiter Grund des Subjektivismus der Kantischen Ästhetik liegt in dem allgemeinen Vorurteil des formalen Idealismus, d. h. in der Lehre, wonach synthetische Prinzipien a priori sich nicht auf Gegenstände an sich beziehen können, einer Lehre, die ihrerseits letzten Endes wieder eine bloße Folge aus der Disjunktion von Empirie und Logik als Wahrheitskriterien ist. So erscheint denn der »Idealismus der ästhetischen Zweckmäßigkeit« bei KANT als ein einfacher Folgesatz des »ästhetischen Rationalismus«. 52 34. Hierzu kommt bei KANT ein unmittelbar psychologischer Fehler. Er behauptet nämlich, daß das ästhetische Urteil die Vorstellung des schönen Gegenstandes auf das Gefühl der Lust und Unlust beziehe. 53 Die Lust, die nach seiner Ansicht für die ästhetische 52 »
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Was aber das Prinzip der Idealität der Zweckmäßigkeit im Schönen der Natur ... geradezu beweiset, ist, daß wir in der Beurteilung der Schönheit überhaupt das Richtmaß derselben a priori in uns selbst suchen, ... welches bei Annehmung des Realismus der Zweckmäßigkeit der Natur nicht stattfinden kann; weil wir da von der Natur lernen müßten, was wir schön zu finden hätten und das Geschmacksurteil empirischen Prinzipien unterworfen sein würde.« (U. 226 f.) »So wie die Idealität der Gegenstände der Sinne als Erscheinungen die einzige Art ist, die Möglichkeit zu erklären, daß ihre Formen a priori bestimmt werden können, so ist auch der Idealismus der Zweckmäßigkeit, in Beurteilung des Schönen der Natur und der Kunst, die einzige Voraussetzung, unter der allein die Kritik die Möglichkeit eines Geschmacksurteils, welches a priori Gültigkeit für jedermann fordert (ohne doch die Zweckmäßigkeit, die am Objekte vorgestellt wird, auf Begriffe zu gründen), erklären kann.« (U. 228.) » Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben. Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann. Alle
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Schätzung charakteristisch ist, entspringt aus der Übereinstimmung des freien Spiels der Einbildungskraft mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes. Daraus, daß zur Möglichkeit dieser Lust nur Einbildungskraft und Verstand überhaupt erforderlich sind, erklärt KANT zugleich, warum wir diese Lust jedermann ansinnen. Die Tatsache, die KANT hierbei im Auge hat, besteht allerdings, es gibt eine solche Lust an der Beschauung des Schönen, aber wir müssen diese Lust vom Gefallen am Schönen selber unterscheiden. Die ästhetische Schätzung bezieht sich wirklich auf den schönen Gegenstand und gar nicht auf unsere Vorstellung bei der Beschauung des Schönen. Wir schätzen den schönen Gegenstand auch nicht etwa insofern, als er die Ursache des für uns lustvollen Zustandes ist, sondern die ästhetische Schätzung nimmt auf unseren Zustand gar keine Rücksicht. Wie diese Objektivität möglich ist, ist eine andere Frage. Eine Theorie muß aber falsch sein, wenn nach ihr dies Faktum ausgeschlossen wäre. Man mag die Objektivität der ästhetischen Schätzung für eine Illusion erklären, aber man muß das Faktum ihres Anspruchs auf Objektivität als solches anerkennen. KANT hat hier also die ästhetische Schätzung mit der Lust an der Beschauung des Schönen verwechselt. Diese »Behaglichkeit« 54 bei der Beschauung des Schönen ist wie jede Lust eine bloß sinnliche, und von ihr müssen wir die Schätzung des schönen Gegenstandes selber ganz unterscheiden. Wenn wirklich das ästhetische Wohlgefallen mit dieser Lust zusammenfiele, könnte nicht von Gründen a priori bei der ästhetischen Schätzung die Rede sein, und es könn-
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Beziehung der Vorstellungen, selbst die der Empfindungen, aber kann objektiv sein; nur nicht die auf das Gefühl der Lust oder Unlust, wodurch gar nichts im Objekt bezeichnet wird, sondern in der das Subjekt, wie es durch die Vorstellung affiziert wird, sich selbst fühlt.« (U. 43 f.) » •.. daß ein ästhetisches Urteil ... die Vorstellung, wodurch ein Objekt gegeben wird, lediglich auf das Subjekt bezieht und keine Beschaffenheit des Gegenstandes, sondern nur die zweckmäßige Form der Vorstellungskräfte, die sich mit jenem beschäftigen, zu bemerken gibt. Das Urteil heißt auch eben darum ästhetisch, weil der Bestimmungsgrund desselben kein Begriff, sondern das Gefühl (des inneren Sinnes) jener Einhelligkeit im Spiele der Gemütskräfte ist, sofern sie nur empfunden werden kann.« (U. 75.) Vgl. auch A. 240. u. 74.
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te dann also allerdings auch keine von den sinnlichen ursprünglich verschiedene ästhetischen Antriebe geben. 35. Der andere Grund für die Ausschließung spezifisch ästhetischer Antriebe liegt in KANTS Lehre von der Interesselosigkeit der ästhetischen Schätzung. Hierbei müssen wir zwei Bedeutungen unterscheiden, in denen von der Interesselosigkeit gesprochen werden kann. Sie bedeutet nach KANT einmal, daß das Wohlgefallen von der Rücksicht auf die Existenz des Gegenstandes unabhängig ist, dann aber auch, daß es mit keinem Begehren verbunden ist. Doch behandelt KANT die Frage in diesen beiden Bedeutungen nicht gesondert, vielmehr setzt er ohne weiteres voraus, daß Interessiertheit im ersten Sinne mit der im zweiten Sinne notwendig verbunden sei. 55 Was die erste Bedeutung des Satzes von der Interesselosigkeit der ästhetischen Schätzung betrifft, so ist er eine einfache Folge aus der Verwechslung der ästhetischen Schätzung mit der Lust an der Beschauung des Schönen. Für diese Lust kommt es allerdings nicht auf die Existenz des schönen Gegenstandes an. Denn wenn wir uns nur in dem Gemütszustande befinden, in dem das freie Spiel der Einbildungskraft mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes harmoniert, so genügt dies, um uns die fragliche Lust zu bereiten, mag der schöne Gegenstand nun existieren oder bloß in der Phantasie vorgestellt sein. 56 Die Lust an der Beschauung des Schönen ist freilich ihrerseits darum nicht interesselos, denn wenn sie auch auf die Existenz des schönen Gegenstandes keine Rücksicht nimmt, so doch auf 55
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»Interesse wird das Wohlgefallen genannt, was wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden. Ein solches hat daher immer zugleich Beziehung auf das Begehrungsvermögen.« (U. 44.) »Etwas aber wollen und an dem Dasein desselben ein Wohlgefallen haben, d. i. daran ein Interesse nehmen, ist identisch.« (U. 50.) »... Lust an der Existenz, als worin alles Interesse besteht.« (U. 161.) »Man will nur wissen, ob die bloße Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag.« (U. 45.) »... die Lust, die mit dem Begehren des Gegenstandes nicht notwendig verbunden ist, die also im Grunde nicht eine Lust an der Existenz des Objekts der Vorstellung ist, sondern bloß an der Vorstellung allein haftet .... Das Gefühl der letzteren Art von Lust nennen wir Geschmack.« (M. R. Einleitung in die Metaphysik der Sitten, I. 212.)
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die ihres eigenen Gegenstandes, nämlich des Gemütszustandes bei der Beschauung des Schönen. Wie aber die Lust an der Beschauung des Schönen in diesem Sinne interessiert ist, so auch das Wohlgefallen am Schönen selbst. Uns ist in der Tat an der Existenz des Schönen gelegen, wie man daraus ersehen kann, daß wir die Zerstörung des Schönen bedauern und daß uns andererseits die Zerstörung des Häßlichen Genugtuung bereitet. Die Meinung, daß es sich anders verhalte, liegt nur darum so nahe, weil man leicht zwei verschiedene Bedeutungen des Wortes »Existenz« verwechselt. Auf die Existenz im physikalischen Sinne des Wortes kommt es für die ästhetische Schätzung allerdings nicht an. Ein Gegenstand existiert physikalisch nur insofern, als er sich in den Mechanismus der Natur einordnen läßt. Die physikalische Existenz kann daher nur durch Subsumtion des Gegenstandes unter Naturgesetze und also nur nach Begriffen erkannt werden. Die ästhetische Schätzung ist aber von Begriffen unabhängig. Das Richtige der Behauptung, daß die ästhetische Schätzung von der Rücksicht auf die Existenz des Gegenstandes unabhängig sei, reduziert sich daher auf eine Umschreibung des Satzes, daß sie von Begriffen unabhängig ist. Es gibt aber ein Bewußtsein der Wirklichkeit, das von Begriffen unabhängig ist. Dieses Bewußtsein der Wirklichkeit ist in jeder Sinnesanschauung enthalten. Die Wirklichkeit des sinnesanschaulich Gegebenen schließt noch nicht die physikalische Wirklichkeit ein, wie sich denn das Bewußtsein jener Wirklichkeit auch in einer Halluzination ebenso findet wie bei einer physikalischen Beobachtung. Dieses Bewußtsein der Wirklichkeit ist für die ästhetische Schätzung wesentlich. Es gibt zwar auch ästhetische Urteile über nur eingebildete und also auch in diesem Sinne nicht wirkliche Gegenstände, z. B. über Gegenstände künstlerischer Darstellungen. Betrachten wir aber ein solches Urteil näher, so zeigt sich, daß es ein bloßes Geschmacksurteil ist und keine wirkliche Schätzung des Gegenstandes enthält. Wir geben hier vielmehr nur darüber ein Urteil ab, ob ein wirklicher Gegenstand, wenn er die Form des vorgestellten hätte, ästhetisch wertvoll wäre. Die in einem solchen Urteil vollzogene Schät-
Die kritische Ethik
zung ist also nur hypothetischer Art, sofern die Form nur als die Bedingung des Wertes beurteilt wird. Das Urteil, um das es sich hier handelt, ist nur das Urteil des Kunstkritikers, der die Form beurteilt, ohne irgendein Interesse an dem Gegenstand zu nehmen, und das eben darum keine wirkliche ästhetische Schätzung enthält. So erklärt sich leicht KANTS Irrtum, daß die ästhetische Schätzung von der Rücksicht auf die Existenz des Schönen unabhängig sei. 36. Auf der anderen Seite bedeutet die Behauptung der Uninteressiertheit der ästhetischen Schätzung, daß es keine ästhetischen Antriebe oder Begehrungen gibt. Sieht man näher zu, so zeigt sich, daß alle Begründungen dieser Behauptung auf eine bloße petitio principii hinauslaufen. Es wird dabei nämlich allemal stillschweigend vorausgesetzt, daß jedes Begehren entweder sinnlichen oder moralischen Ursprungs sei, und es wird dann aus dem trivialen Satze, daß das Schöne als solches weder um des Genusses willen, noch auf Grund eines moralischen Gebotes begehrt wird, darauf geschlossen, daß das Schöne als solches überhaupt nicht Gegenstand eines Begehrens sein könne, während doch gerade die Frage ist, ob es nicht ein spezifisch ästhetisches Begehren gibt. Und ein solches gibt es in der Tat: Wir wünschen das Schöne zu erhalten und es vor der Vernichtung zu schützen. Das Vorkommen eines solchen Interesses am Schönen ist denn auch KANT nicht entgangen, nur daß er daraus sogleich den Schluß zieht, dies Interesse könne eben darum nicht spezifisch ästhetisch sein. 57 Das Interesse am Schönen ist nach ihm teils sinnlichen, teils moralischen Ursprungs. Das sinnliche Interesse, das hier in der Tat im Spiele ist, ist aber unmittelbar nur das Interesse an der Beschauung des Schönen und kann sich auf den schönen Gegenstand nur insofern beziehen, als seine Existenz die Bedingung der Möglichkeit seiner Beschauung ist. 58 Hierauf beruht es denn auch, daß das 57
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»Die Richtigkeit eines solchen Ideals der Schönheit beweiset sich daran: daß es keinem Sinnenreiz sich in das Wohlgefallen an seinem Objekte zu mischen erlaubt und dennoch ein großes Interesse daran nehmen läßt; welches dann beweiset, daß die Beurteilung nach einem solchen Maßstabe niemals rein ästhetisch sein könne und die Beurteilung nach einem Ideale der Schönheit kein bloßes Urteil des Geschmacks sei.« (U. 85.) »Diese Lust hat aber doch Kausalität in sich, nämlich den Zustand der Vor-
Erster Teil. Kant
»empirische Interesse am Schönen« keineswegs, wie KANT sonderbarerweise behauptet, nur »in der Gesellschafl« 59 auftritt. Jedes »intellektuelle Interesse am Schönen« kann dagegen nach KANTS Voraussetzungen nur moralischen Ursprungs sein. 60 Haben wir somit gefunden, daß die ästhetische Schätzung in beiden Bedeutungen nicht interesselos ist, so brauchen wir keinen Anstoß daran zu nehmen, von einem ästhetischen Interesse zu sprechen und es als solches dem sinnlichen und sittlichen Interesse zu koordinieren.
3. Abschnitt
Konsequenzen der Mängel der Kantischen Kritik für Kants System der Ethik 1. Kapitel. Tugendlehre
37. Wir wollen nun die Konsequenzen betrachten, die die erörterten Fehler von KANTS Kritik der praktischen Vernunft für sein System der Ethik nach sich ziehen. Sprechen wir zunächst von der Tugendlehre, indem wir die Berechtigung der Kantischen Einteilung der Ethik in Tugendlehre und Rechtslehre vorläufig dahingestellt sein lassen. Die Kantische Ethik erhält ihr eigentümliches Gepräge durch das, was man den Moralismus dieser Ethik nennen kann. Ich verstehe darunter die Lehre, daß sich Handlungen überhaupt nur nach ihrem Verhältnis zum moralischen Gesetz objektiv werten lassen. Wir müssen diesen Moralismus noch unterscheiden von dem mo-
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stellungen selbst und die Beschäftigung der Erkenntniskräfte ohne weitere Absicht zu erhalten. Wir weilen bei der Betrachtung des Schönen, weil diese Betrachtung sich selbst stärkt und reproduziert.« (U. 68.) U. 161. A. 240 f. U. 163 ff. § 42. » Vom intellektuellen Interesse am Schönen.«
Die kritische Ethik
ralischen Rigorismus, der, wie KANT treffend bemerkt61 , so wenig der Ausdruck eines Tadels für eine Moralphilosophie ist, daß er vielmehr ein Lob für sie bedeutet. Denn der moralische Rigorismus ist mit dem Begriff der Pflicht unzertrennlich verbunden und bedeutet nichts anderes, als daß, was praktisch notwendig ist, keine Einschränkung zugunsten irgendeines Zweckes zuläßt. Daß aber die Ethik keine Anforderungen außer den rigoristischen der Pflicht an das Handeln stellen dürfe, ist damit keineswegs gesagt. So liegt denn auch der Mangel der Ethik KANTS nicht sowohl in dem Rigorismus seiner Moralphilosophie, als vielmehr in der Beschränkung der Ethik auf eine bloße Moralphilosophie. Dieser Moralismus ist die unmittelbare Folge des Übersehens der ästhetischen Interessen. Bei KANT stehen Neigung und Pflicht einander schroff gegenüber, und die Ethik wird daher bei ihm zu einer bloßen Pflichtenlehre. Diese Auffassung entspricht aber nicht unserem wirklichen Urteil. Es gibt außer dem Gebiet der Pflicht noch ein weites Gebiet positiv wertvoller Handlungen. Wir ziehen solche Handlungen als edler anderen vor, weder um des Genusses willen, noch weil wir sie als Pflicht ansehen. KANT beurteilt die hierher gehörigen Werte nur als solche eines feineren Vergnügens. Er spricht zwar auch von der Vollkommenheit, die der Mensch durch Ausbildung seiner Talente erwirbt, aber er bestimmt ihren Wert nur nach ihrer » Tauglichkeit zu allerlei Zwecken« 62 und gibt ihr in der Ethik also nur insofern eine Stelle, als sie mittelbar Pflicht sein kann. Die Einschränkung des Moralismus, zu der sich schließlich KANT selbst, im Widerspruch zur Konsequenz aus seinen Prinzipien, genötigt sieht, ist daher bei ihm nur durch eine fälschliche Einschränkung des moralischen Rigorismus möglich. Sie zeigt sich in seiner 61
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Rel. 21. »Der Begriff der Vollkommenheit in praktischer Bedeutung aber ist die Tauglichkeit oder Zulänglichkeit eines Dinges zu allerlei Zwecken ... Wie denn Talente und ihre Beförderung nur, weil sie zu Vorteilen des Lebens beitragen, Bewegursachen des Willens werden können.« (K. SO.) Vgl. auch G. 58: »Denn als ein vernünftiges Wesen will er notwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich sind.«
Erster Teil. Kant
Beibehaltung der überlieferten Einteilung in vollkommene und unvollkommene Pflichten. Eine unklare und sogar widerspruchsvolle Unterscheidung, denn entweder ist eine Handlung Pflicht oder sie ist nicht Pflicht, sie kann aber nicht mehr oder weniger Pflicht sein. Allerdings gibt es außer den strengen Anforderungen der Pflicht noch andere Anforderungen, nach denen eine Handlung als mehr oder weniger wertvoll beurteilt werden kann. Diese Anforderungen sind aber überhaupt nicht von der Modalität einer Pflicht, sondern entspringen aus dem Ideal der geistigen Schönheit, wie es durch das ästhetische Interesse bestimmt wird. 38. Die Pflichten zerfallen nach KANT in zwei Hauptklassen: nämlich in die der Förderung fremder Glückseligkeit und die der Förderung der eigenen Vollkommenheit. Die eigene Glückseligkeit zu fördern kann nicht Pflicht sein, da das Streben danach ein natürlicher Trieb eines jeden ist. Es kann aber nach KANT auch das Streben nach der Vervollkommnung anderer nicht Pflicht sein; denn da die Vollkommenheit eines Menschen gerade darin besteht, daß er sich selbst bestimmt, so wäre die Vervollkommnung eines anderen nur dadurch möglich, daß man ihn dazu bestimmte, das zu tun, wozu er sich nur selbst bestimmen kann, was einen Widerspruch enthielte. 63 Diese Argumentation würde aber, wenn sie richtig wäre, zu viel beweisen. Sie würde nämlich nicht nur beweisen, daß die Vervollkommnung anderer Personen nicht Pflicht sein könnte, sondern auch, daß sie unmöglich wäre, ja auch, daß es keine Vervollkommnung unserer selbst geben könnte, ganz davon abgesehen, ob sie Pflicht sein kann. Denn wenn zur Möglichkeit der Vollkommenheit die Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen gehörte, so wäre Vervollkommnung überhaupt unmöglich. Jeder Mensch steht ja faktisch unter äußeren Einflüssen, und ohne solche würde sich das geistige Leben überhaupt nicht entwickeln können. 63
»Denn darin besteht eben die Vollkommenheit eines andern Menschen, als einer Person, daß er selbst vermögend ist, sich seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht zu setzen, und es widerspricht sich, zu fordern (mir zur Pflicht zu machen), daß ich etwas tun soll, was kein anderer als er selbst tun kann.« (M. T. Einleitung zur Tugendlehre, IV. 386.)
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Um diese Paradoxie zu heben, genügt es, den Begriff des Einflusses von dem des Bestimmungsgrundes zu unterscheiden. Es widerspricht sich nicht, daß der Bestimmungsgrund zu einer Handlung in der eigenen Vernunfl: des Menschen liegt, und daß doch dieser Bestimmungsgrund durch äußeren Einfluß, ja nur dadurch, zu der Klarheit entwickelt wird, die er braucht, um auf den Willen wirken zu können. Eben darin besteht aber die Vervollkommnung anderer, den in ihrer eigenen Vernunfl: liegenden Bestimmungsgrund durch äußeren Einfluß wirksam zu machen, und diese Aufgabe enthält keinen Widerspruch. Es wäre daher durch KANTS Argumentation, wenn sie zu Recht bestünde, die Aufgabe der Pädagogik nicht nur gänzlich aus der Ethik ausgeschlossen, sondern überhaupt als illusorisch erwiesen. Daß es in KANTS System keine eigene Pflicht der Vervollkommnung anderer neben der Förderung ihrer Glückseligkeit geben kann, folgt freilich schon daraus, daß er kein von dem sinnlichen ursprünglich verschiedenes Interesse kennt, aus dessen Berücksichtigung eine solche Pflicht entspringen könnte. 39. Die der Tugendlehre bei KANT zugrunde liegende Koordination von Pflichten gegen uns selbst und gegen andere Personen ist eine Folge der schon erörterten falschen Abstraktion. Wenn er die Annahme von Pflichten gegen uns selbst damit begründet, daß es ohne sie auch keine Verbindlichkeit gegen andere, und also überhaupt keine Pflichten gäbe, weil für uns alle Pflichten nur aus unserer eigenen praktischen Vernunfl: entspringen64, so beweist dies wieder insofern zu viel, als dadurch alle Pflichten überhaupt zu solchen gegen uns selbst gemacht würden. Wenn wir von einer Handlung sagen, daß wir sie uns selbst schuldig sind, so bedeutet dies nur, daß wir sie als eine Bedingung unserer Selbstachtung ansehen. Die Bedingung der Selbstachtung ist aber die Pflichterfüllung überhaupt, es resultieren aus ihr also keine eigenen Pflichten gegen uns selbst, die sich denen gegen andere koordinieren ließen. 40. Der andere Fehler in der Bestimmung des Objektbereichs der Pflicht, den KANT in der Abstraktion begeht, indem er vom Sub64
M. T. 417 f.
Erster Teil. Kant
jekt der Pflicht auf das Objekt der Pflicht schließt, zieht in seiner Ethik die Behauptung der Unmöglichkeit von Pflichten gegen Tiere nach sich. Zwar erkennt er auch Pflichten in der Behandlung der Tiere an, aber nur insofern, als sie mittelbar durch Pflichten gegen Menschen bedingt sind. Das Verbot der Tierquälerei beruht nach ihm nur darauf, daß Grausamkeit gegen Tiere das Mitgefühl abstumpft und dadurch eine der Erfüllung unserer Pflichten gegen andere Menschen günstige Anlage schwächt. 65 Diese Begründung ist sehr künstlich. Für den, der nur zugibt, daß Tierquälerei überhaupt möglich ist, folgt das Verbot der Tierquälerei unmittelbar aus dem Sittengesetz. Wer nämlich das Quälen eines Tieres für möglich hält, setzt voraus, daß die Tiere Interessen haben. Er braucht sich daher nach dem Sittengesetz nur die Frage vorzulegen, wie er selbst in einer der Lage des Tieres analogen Situation behandelt zu werden wünschen würde. Offenbar wird er nicht einwilligen, von einem anderen Wesen, dessen Willkür er wehrlos ausgesetzt ist, gequält zu werden. Daraus folgt, daß es unrecht ist, wenn er in umgekehrter Lage von seiner Überlegenheit Gebrauch macht und die Tiere wie bloße Sachen als Mittel zu seinen Zwecken behandelt.
2. Kapitel. Rechtslehre 41. KANTS Einteilung der praktischen Metaphysik in Tugendlehre und Rechtslehre beruht auf seiner Unterscheidung von Moralität und Legalität des Handelns. 66 Moralisch ist eine Handlung, wenn sie aus Achtung vor dem Gesetz geschieht, legal ist eine Handlung, wenn sie, welches auch ihr Bestimmungsgrund sein mag, mit dem Inhalt des Gesetzes übereinstimmt. Eine legale Handlung kann daher auch erzwungen werden. Die Erzwingung einer moralischen Handlung dagegen ist unmöglich, denn was sich erzwingen läßt, ist nur die äußere Tat als solche, während die moralische Hand85 66
M. T. 443. M. R. Einleitung in die Metaphysik der Sitten. m. 219.
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lung gerade dadurch definiert ist, daß sie aus bloßer Einsicht in die Pflicht und also ohne allen Zwang geschieht. Dieser Unterscheidung entspricht bei KANT die von Tugendpfiichten und Rechtspfiichten. 67 Der Begriff einer Rechtspflicht ist hiernach zwar logisch widerspruchsfrei definiert, um aber die Existenz einer solchen behaupten zu können, müßte man schon ein im Kantischen Sinne materiales Prinzip voraussetzen, da ohne ein solches der Begriff der Legalität keine Anwendung finden kann. Die Möglichkeit einer Rechtslehre ist daher mit dem Logizismus der Kantischen Ethik grundsätzlich unvereinbar. Dies zeigt sich am deutlichsten, wenn man den Begriff der Rechtspflicht mit KANTS Lehre von dem alleinigen sittlichen Wert des guten Willens vergleicht. Denn welchen Wert kann angesichts dieser Lehre eine äußerlich erzwungene Tat haben? Auf diese Frage ist auf Grund der allgemeinen Prinzipien der Kantischen Ethik keine Antwort möglich. 42. In der Tat gelangt KANT zu seiner Rechtslehre nur durch mannigfache Inkonsequenzen. Wir haben schon gesehen, daß KANTS Bestimmung des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft in Anbetracht des Logizismus seiner Ethik nicht anders ausfallen konnte, als er sie in seiner Lehre vom höchsten Gut ausführt. Die Entwicklung dieser Lehre vom höchsten Gut führt uns aber, statt auf die Rechtslehre, vielmehr auf die Religionsphilosophie. Das höchste Gut besteht in der moralischen Vollkommenheit einerseits und in einer der Sittlichkeit entsprechenden Verteilung der Glückseligkeit andererseits. Nun habe ich schon gezeigt, daß die Glückseligkeit gar kein objektiver und praktisch notwendiger Zweck sein kann; sie ist nicht ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, sondern nur ein solcher eines subjektiven Interesses. Was aber das oberste Gut, nämlich die moralische Vollkommenheit, betrifft, so haben wir gesehen, daß, da das Sittengesetz nur Handlungen und nicht Gesinnungen gebietet, schon die eigene Moralität nicht Pflicht ist. Es kann also noch viel weniger geboten sein, uns der moralischen Vervollkommnung der Welt anzunehmen. Schon 67
M. R. Einleitung in die Rechtslehre. Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt. I. 239. vgl. auch M.T. Einleitung zur Tugendlehre. 1, 11.
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die Rechtlichkeit des äußeren Handelns anderer Personen kann nicht der Gegenstand einer Pflicht für uns sein. Rechtlichkeit des Handelns ist nach dem Sittengesetz nur Pflicht des einzelnen selbst, und es widerspricht sich, anzunehmen, daß es die Pflicht des einen sei, daß ein anderer seine Pflicht erfüllt. Wir können zwar aus dem Sittengesetz ein Ideal des Rechts ableiten, d. h. eines Zustandes der vollkommenen Rechtlichkeit des äußeren Handelns aller Personen überhaupt. Aber dies ist ein bloßes Ideal und seine Verwirklichung nicht Pflicht. Täte nämlich jeder einzelne von sich aus seine Pflicht, so würde dies Ideal schon von selbst verwirklicht sein. Als eine besondere Aufgabe entspringt dies Ideal vielmehr gerade aus dem Umstand, daß die anderen nicht von sich aus ihre Pflicht erfüllen. Nur mit Rücksicht auf diesen Umstand kann für mich die Aufgabe entstehen, über meine Pflicht hinaus danach zu streben, daß auch andere ihre Pflicht erfüllen. Mit diesem politischen Ideal des Rechtszustandes verwechselt KANT das pädagogische Ideal der Vervollkommnung der Menschen der Gesinnung nach, und dieses Ideal verwechselt er wiederum mit einer Pfiicht. Weil nun die moralische Vervollkommnung im »ethischen Naturzustande« dem Zufall überlassen bleibt, so entsteht nach KANT die Pflicht, sich zur wechselseitigen Vervollkommnung zu einem »ethischen Staat«, d. h. zu einer Gesellschaft unter Tugendgesetzen zu vereinigen. Weil aber durch das Gesetz, unter dem sich eine solche Gesellschaft vereinigt, nur die innere moralische Gesetzgebung öffentlich werden soll, so kann es nicht von Menschen gegeben sein, sondern nur von einem Gesetzgeber, dessen Gebote mit dem moralischen Gesetz identisch sind. Der ethische Staat ist also nur unter göttlicher Gesetzgebung, d. h. in der Form einer Kirche möglich. 68 Nun bemerkt bereits KANT selbst, daß die behauptete Pflicht der Gründung eines solchen »Reichs der Tugend« in Wahrheit »eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt stehe) ganz verschiedene Idee ist«, weshalb er auch zur Ausführung dieser Idee
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Re!. 3. Stü