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German Pages 348 [358] Year 1977
WISSENSCHAFT UND SITTLICHKEIT
Akademie-Verlag Berlin 1976
Verlag „PROGRESS" Moskau 1976
Russischer Originaltitel: HAyKA H HPABCTBEHHOCTL H3flaTejibCTBO nouHTHHecicoH j i m e p a T y p H , M o c K B a 1 9 7 1
Ins Deutsche übersetzt durch L. STEINMETZ
© der deutschen Übersetzung by Progress, Moskau, 1976 Der Vertrieb dieses Exemplares ist nur in der DDR gestattet. Erschienen im Akademie-Verlag, D D R , 108 Berlin, Leipziger Str. 3-4 Lizenznummer: 202 . 100/327/76 Bestellnummer: 753 085 0 (6361) LSV. 0305 Printed in USSR Preis: 18, M
EINLEITUNG
Die Aktualität dieses klassischen Problems ist offensichtlich. Selbst Menschen, die der Wissenschaft fernstehen, sind heute über die Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft und Sittlichkeit besorgt. Die Situation, die ihre Wechselwirkung unter den Verhältnissen der wissenschaftlich-technischen Revolution bestimmt, ist einzigartig, „präzedenzlos", - und das ist Anlaß genug, dieses traditionelle philosophische Problem von neuem zu betrachten. Die Wissenschaft ist heute nicht mehr eine „persönliche Angelegenheit" des Wissenschaftlers, sondern gewissermaßen ein „Soll" und „Haben" der gesamten Gesellschaft. Sie geht unhörbar und unsichtbar in die Technik über und unmittelbar in die Produktion, sie wandelt den Alltag der Menschen, nimmt eine bedeutende Stellung in der Hierarchie des gesellschaftlichen Bewußtseins ein. Je weiter vom Ausgangspunkt, desto rascher - diese Worte Friedrich Engels' sind heute nicht nur auf die Entwicklung der Produktion, sondern auch auf die moderne Wissenschaft anwendbar. Von den Erfolgen der Wissenschaft und Technik hängen maßgeblich der Fortschritt der Zivilisation, die Verwirklichung der grandiosen Pläne der kommunistischen Umgestaltung der Gesellschaft ab. Unstrittig ist aber auch folgendes: Die zunehmende Einmischung der Wissenschaft in alle Sphären des menschlichen Daseins und die wissenschaftlich-technische Revolution, die in den letzten Jahrzehnten die wichtigsten Seiten der Produktion erfaßt hat, machen heute viele moralische Probleme akuter als je zuvor. i
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Die moderne Wissenschaft entwickelt sich unter dem Einfluß sowohl innerer als auch äußerer Faktoren, sie kommt immer wieder mit der Politik und folglich mit den grundlegenden Interessen von Millionen Menschen in Berührung. In der bürgerlichen Gesellschaft trägt der Prozeß der „Technisierung" des Wissens, der Industrialisierung der Wissenschaft die Gefahr einer Entmenschlichung der Wissenschaft in sich. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse werden von vielen als größtes Wohl und größtes Übel zugleich angesehen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sich heute immer mehr Menschen Gedanken über Fragen machen, mit denen sich früher nur ein enger Kreis zünftiger Philosophen beschäftigte: Was ist die humanistische Mission der Wissenschaft? Wie steht sie zum Wohl und zum Glück des Menschen? Ist die Gesellschaft imstande, mit -den von ihr hervorgebrachten materiellen und geistigen Kräften fertigzuwerden? Ist die Wissenschaft „lenkbar"? Kann die Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse unter Kontrolle gestellt werden? Diese Fragen erheben, häufig in dramatischer Form, Menschen verschiedener Überzeugungen. Hier ein Beispiel aus dem Buch „Bevor die Natur stirbt" von Jean D'orst, einem prominenten Wissenschaftler und einem der Leiter der Internationalen Union für Naturschutz: „Wir sind berechtigt, uns zu fragen, welchen Allgemeinwert denn die technische Zivilisation hat... Jeder vcn uns hat mitunter den Eindruck, in einem rasenden Zug zu sitzen, aus dem er nicht aussteigen kann. Wir wissen nicht, wohin er uns trägt. Vielleicht zu großem Wohlergehen, vielleicht aber in eine Sackgasse, in eine Katastrophe... Der Mensch hat, einem Zauberlehrling gleich, Gewalten geweckt, über die er keine Macht mehr hat... der Grad der Zivilisation wird nicht nur an den Kilowatt gemessen, die die Energieanlagen erzeugen. Er wird vielmehr an einer Vielzahl moralischer und geistiger Kriterien, an der Weisheit der Menschen gemessen, die die Zivilisation vorantreiben ... in voller Harmonie mit den Gesetzen der Natur, von denen der Mensch sich nie befreien wird."1 Nicht weniger eindringlich wird diese Frage, u. zw. in ihrem moralisch-ethischen Aspekt, vom hervorragenden ' Jean Dorst: Avant que la nature meure. Neuchätel (Suisse 1965, S. 11,17/18). 4
Physiker Max Born gestellt. In unserem technischen Zeitalter, sagt er, hat die Wissenschaft soziale, ökonomische und politische Funktionen übernommen. Die moderne Wissenschaft und Technik entwickeln sich immer schneller, sie haben das Antlitz der menschlichen Zivilisation völlig verändert. Born streitet den sozialen, den menschlichen Nutzen der wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse nicht ab, weist aber zugleich auf den mit der wissenschaftlich-technischen Revolution einhergehenden Prozeß der Zerstörung aller ethischen Prinzipien hin, die in Jahrhunderten geschaffen wurden und es ermöglichten, selbst während der erbittertsten Kriege und größten Verheerungen eine menschenwürdige Lebensweise zu bewahren. Diesen Prozeß der Entwertung des ethischen Fundaments der Zivilisation hält Born für die gefahrlichste, schrecklichste und vielleicht „nicht wiedergutzumachende" Folge des aktiven Eindringens der Wissenschaft und Technik in das Leben der Menschen. Man könnte Born und Dorst entgegnen, sie hätten den sozialen und Klassenaspekt des Problems unterschätzt, das heute jedermann beschäftigt und dessen Lösung letztlich nicht von der Wissenschaft, genauer, nicht nur von der Wissenschaft abhängt. Doch die Besorgnis, die diese Wissenschaftler geäußert haben, ist vielen verständlich. Der Widerspruch zwischen der technischen Zivilisation und der geistigen Kultur der Gesellschaft, zwischen dem Niveau des „Wissens" und dem moralischen „Bewußtsein" der Menschen ist durchaus nicht von Pessimisten erfunden. Selbstverständlich können die Schlußfolgerungen Jean Dorsts und Max Borns als unzureichend optimistisch aufgefaßt werden, besonders von Menschen, die Reichtum und Wohlstand für das Endziel, für ein Allheilmittel gegen soziale Krankheiten halten, von Menschen, die zu einer Fetischisierung des Faktors „Wissen" neigen, den Fortschritt am Grad ihres Komforts und an der Menge ihrer zivilisierten „Spielsachen" messen. Beruht aber der Optimismus nicht auf „Erwartungen", die in unserem aufgeklärten Zeitalter so weit verbreitet sind, sondern auf einer Analyse der realen Fakten, ist der Glaube an den Fortschritt frei von der modischen Illusion, Wissenschaft und Technik könnten alle grundlegenden Widersprüche des sozialen Daseins lösen, so muß diese Besorgnis als gerechtfertigt und begründet angesehen werden. Auf dem 5
Hintergrund der in der bürgerlichen Welt so zahlreichen „apokalyptischen" Stimmungen und Anschauungen hat das Streben, die in den Jahrtausenden so schwer erworbenen moralischen und geistigen Kriterien des Fortschritts zu verteidigen, einen besonderen Wert. Vor allem, wenn der Aufruf zur Verantwortung vor der Menschheit von den Wissenschaftlern selbst ausgeht. Viele Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts - darunter Koryphäen wie Timirjasew, Joliot-Curie, Einstein und Wiener haben sich für eine sittliche Gewährleistung des weiteren Fortschritts von Wissenschaft und Technik ausgesprochen. Am Aufbau der modernen Wissenschaft arbeitend, dachten sie viel über die Geschicke der menschlichen Zivilisation nath. Weit davon entfernt, die entstandene Lage in der Wissenschaft für natürlich und normal zu halten, unterstrichen sie, jeder auf seine Weise, die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Kenntnisse und der wissenschaftlichen Tätigkeit von den sozialen Bedingungen und dem moralischen Zustand der Gesellschaft. Mit schmerzvoller Besorgnis schrieb Frédéric Joliot-Curie: „Die Wissenschaftler wissen, wieviel Nutzen die Wissenschaft der Menschheit gebracht hat; sie wissen auch, was sie ihr fürderhin bringen kann, wenn in der ganzen Welt Frieden herrschte. Sie möchten nicht, daß man jemals sagen könnte: ,Die Wissenschaft führt uns zum Untergang durch Atom- und Wasserstoffbomben.' Sie wissen, daß die Wissenschaft nicht schuld sein kann. Schuld sind nur die Menschen, die ihre Resultate mißbrauchen." 2 Die wissenschaftliche Erkenntnis, die Akkumulation immer tieferen Wissens hat das Ziel, dem Menschen und seinen Interessen zu dienen. Deshalb kann dem echten Wissenschaftler der menschliche, humanistische Sinn dessen nicht gleichgültig sein, was sich hinter der Fassade des „Dramas der Ideen" abspielt. Das Auseinandergehen von Wahr und Gut wird von ihm als ein soziales Problem empfunden, dem man nicht den Rücken kehren darf, weil man „von Berufs wegen" nichts damit zu tun habe. Das verstanden nur zu gut sowohl Norbert Wiener, den gewisse Tendenzen in der Evolution der von ihm geschaffenen 2
Frédéric Joliot-Curie: 1954. S. 2 5 3 / 5 4 .
Cinq
années
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d e lutte pour la paix.
Paris
Kybernetik beunruhigten, als auch Albert Einstein, der wiederholt für die Priorität des sittlichen Kriteriums bei der Einschätzung des Wirkens und des Antlitzes des Wissenschaftlers eintrat. Wenn prominente Gelehrte auf den sozial-ethischen Aspekt der wissenschaftlichen Tätigkeit hinweisen, so tun sie es nicht nur aus Besorgnis, das eine unmenschliche Anwendung der wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse möglich ist. Die Wissenschaft ist ein mächtiges Instrument zur Befreiung der Menschheit, das von der Gesellschaft verantwortungsbewußt und kompetent angewandt werden will. Doch darf der humanistische Sinn des Problems auf das Gebiet der Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse beschränkt werden, das die Denkweise, die Methode des Wirkens des Wissenschaftlers nicht berührt? Das Streben nach der universalen Wahrheit, nach Erkenntnis des Wesens der Fakten, Gegenstände und Erscheinungen zwingt den Wissenschaftler, sich von der individuellen menschlichen Erfahrung abzuwenden und die Sprache des untersuchten Gegenstands selbst zu „sprechen". Mit anderen Worten: Der Mensch mit seinen konkreten Interessen und Bedürfnissen „fällt" gleichsam aus dem Gesichtskreis des Naturforschers, und in den Vordergrund treten Maschinen, Technologien, Algorithmen, Formeln, allgemeine Gesetzmäßigkeiten usw. Die Verabsolutierung der gnoseologischen Besonderheiten des wissenschaftlichen Herangehens an die Welt führt zu einer Verarmung und Aushöhlung des humanistischen Inhalts der schöpferischen Tätigkeit des Wissenschaftlers und läßt bei ihm falsche Vorstellungen von einer sozialen „Unparteilichkeit", eine Art „Daltonismus" der Wissenschaft, entstehen. Die Geschichte der Wissenschaft, darunter auch der modernen, bietet zahlreiche Beispiele, da Wissenschaftler opfermutig für die humanistische Prädestination, für die Wahrheit und den gesellschaftlichen Fortschritt kämpften. Deshalb müssen mit aller Entschiedenheit die Versuche zurückgewiesen werden, der Wissenschaft und den Wissenschaftlern die Schuld für gewisse soziale Übel zu geben. Es ist neuerdings geradezu „Mode" geworden, die Wissenschaftler sogar für künftige menschliche Leiden verantwortlich zu machen. Dieser Gedanke brilliert nicht durch Neuheit - man erin7
nere sich, daß seinerzeit Rousseau der Wissenschaft und Kunst die Schuld für die Sittenverderbnis gab. Es bedurfte vieler Zeit und vieler theoretischer und praktischer Erfahrungen, um zu erkennen, daß die unmenschliche bürgerliche Ordnung die Ursache aller sozialen Übel ist. Soll man jetzt vielleicht die bereits überwundenen Irrungen wiederholen? Wir wollen die Ehrlichkeit der damaligen Beweggründe Rousseaus nicht in Zweifel stellen, wenn wir sagen, daß heute an einer Übertreibung der „Schuld" der Wissenschaft vor allem die Gegner des menschlichen Fortschritts interessiert sind. Es muß unterstrichen werden, daß eine rein subordinierende Gegenüberstellung von Wissenschaft und Sittlichkeit kaum zur Klärung ihrer realen Wechselbeziehungen in der heutigen sozialen Wirklichkeit beitragen kann. Die marxistische Stellung der Frage setzt die Untersuchung ihrer Wechselwirkungen in Anwendung auf die Geschicke der menschlichen Lebenstätigkeit selbst voraus. Dann wird auch die Einseitigkeit der ziemlich weit verbreiteten Urteilslogik klar, wonach der wissenschaftlich- technische Fortschritt die Sittlichkeit beeinflusse, indem er im moralischen Bewußtsein und Verhalten die einen oder anderen Folgen habe, während die Sittlichkeit nur ein Objekt der Anschläge von Wissenschaft und Technik bilde. Vielleicht hat aber auch die Moral eine Antwort auf diese Frage, da sie doch einen wesentlichen Beitrag zum Fortschritt der Gesellschaft leistet? Der Mythos von der wissenschaftlichen Bedrohung ist nur eine neue Form des alten Unterschiebungsmanövers. In den kapitalistischen Ländern stößt die Verbreitung dieses Mythos auf keinerlei ernsthafte Einwände der Machthaber. Die heutige Bourgeoisie unterstützt bereitwillig die Einstellung des „Szientismus", d. h. das abstrakte, von den Bedürfnissen und Interessen des realen, konkret-historischen Menschen losgelöste Herangehen an die wissenschaftlichen Probleme. Und man muß sagen, daß sie dabei gewisse Resultate erzielt. Die Ideen des ethischen Relativismus haben im Bewußtsein vieler bürgerlicher Wissenschaftler, Philosophen und Naturforscher heute tiefe Wurzeln geschlagen. An den Resultaten der Wissenschaft interessiert, propagiert die 8
heutige Bourgeoisie die Version einer „Immoralität" der wissenschaftlichen Kenntnisse. In einer Situation, da die „traditionelle" Moral beschuldigt wird, die Prüfungen unseres „unstabilen" und „unlogischen" Zeitalters nicht bestanden zu haben (gewöhnlich wird auf Oswieiim und Hiroschima hingewiesen), versuchen die bürgerlichen Theoretiker mit recht simplen Beweisgründen den Gedanken zu suggerieren, die Wissenschaft und die Wissenschaftler könnten sich der sittlichen Sorgen und Verpflichtungen vor der Gesellschaft als entbunden betrachten. So erhält der Streit über die Wissenschaft und Sittlichkeit einen ausgesprochen ideologischen, weltanschaulichen Charakter. Unter den Wissenschaftlern in der bürgerlichen Gesellschaft findet man viele Gesinnungsgenossen Joliot-Curies, Einsteins und Wieners im Kampf um die hohe humanistische Prädestination der wissenschaftlichen Tätigkeit. Man darf jedoch nicht vergessen, daß es auch Naturforscher und besonders Vertreter der Gesellschaftswissenschaften gibt, die sich durchaus bewußt und unverhüllt in den Dienst der herrschenden Klasse gestellt haben. Zum Beispiel den Physiker Edward Teller oder den Neomalthusianer William Vogt, die ihre reaktionären, antihumanistischen Anschauungen nicht verbergen. Sie machen sich keine Gedanken über die sittliche Verantwortung der Wissenschaft. Karl Marx wies seinerzeit auf den prinzipiellen Unterschied zwischen dem Klassiker der englischen politischen Ökonomie David Ricardo und dem reaktionären Ideologen Malthus hin. Er sprach von der „Grundgemeinheit der Gesinnung" Malthus' und dem durchaus gerechtfertigten Haß, den die englische Arbeiterklasse gegen ihn empfand. Das „Volk ahnte hier mit richtigem Instinkt, daß es keinen homme de science, sondern einen gekauften Advokaten seiner Gegner, einen schamlosen Sykophanten der herrschenden Klassen gegenüber habe" 3 , schrieb Marx. Die Gemeinheit des Denkens ist das unausbleibliche Resultat jeder gegen die Interessen des Menschen und der Menschheit gerichteten „wissenschaftlichen" Tätigkeit. Die entscheidende Voraussetzung dafür, daß solche Leute und Erscheinungen aus der Sphäre der Wissenschaft verschwinden, sahen die Klassiker des 3
Marx/Engels:
Werke, Bd. 26. T II, S. 113. 9
Marxismus-Leninismus in einer grundlegenden, kommunistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Der Marxismus-Leninismus betont die umgestaltende Kraft und Rolle der Wissenschaft im Leben der modernen Gesellschaft, doch er ist weit davon entfernt, sie überzubetonen. Die Wissenschaft besitzt zwar eine Autonomie und ist imstande zu „diktieren", aber in das System der realen, historisch konkreten, sozialen Verhältnisse einbezogen, steht sie selbst unter dem „Diktat" der Wirklichkeit. Der Bereich ihrer Kompetenz ist bei weitem nicht unbegrenzt, und ihre eigene Entwicklung steht in sichtlicher Abhängigkeit von der sozialen, klassenmäßigen Struktur der Gesellschaft, von der herrschenden Ideologie. Die tragische Situation, in die ein heutiger humanistischer Wissenschaftler leicht geraten kann und oft auch gerät-, ist vom Gesichtspunkt der immanenten Entwicklungsgesetze der Wissenschaft selbst aus unerklärbar. Diese Situation kann nur vom klassenmäßigen Standpunkt aus erklärt und nur sozialpolitisch gelöst werden. Mit dem Sieg des Sozialismus verändern sich grundlegend die Bedingungen der Entwicklung der Wissenschaft. Das Wohl des Menschen, die Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse der Werktätigen, die Vervollkommnung der schöpferischen Fähigkeiten der Persönlichkeit - das sind die Hauptziele und die gesellschaftliche Prädestination der Wissenschaft. In diesem Sinne bildet der Sozialismus einen Wendepunkt in der Entwicklung der Wissenschaft, leitet er die Umorientierung ihrer sozialen Funktionen ein: von der „Erzeugung von Dingen" zur „Erzeugung von Menschen selbst". Im Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU an den XXIV. Parteitag lesen wir, daß „die maximale Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen das höchste Ziel der gesellschaftlichen Produktion im Sozialismus ist"4. Das trifft uneingeschränkt auch auf die Wissenschaft zu, die immer mehr zu einer unmittelbaren Produktivkraft der Gesellschaft wird. Ihr Platz im gesellschaftlichen Leben und ihre Rolle bei der Lösung der aktuellsten Aufgaben des kommunistischen Aufbaus treten nicht nur in der Erhöhung der Effektivität und im Fortschritt 4
XXIV. Parteitag der K P d S U , Moskau 1971, S. 76. 10
der sozialistischen Produktion zutage, sondern auch in der Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für die maximale Entwicklung der Fähigkeiten und der schöpferischen Aktivität der sowjetischen Menschen. Die Wissenschaft tritt das ist auf dem X X I V . Parteitag unterstrichen worden - als eine mächtige soziale und kulturelle Kraft bei der Verwirklichung einer der wichtigsten Aufgaben des kommunistischen A u f b a u s auf: der Umgestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen, der Formierung des neuen Menschen. Diese kommunistische Orientierung der Wissenschaft, die den sozialen und humanistischen Sinn des wissenschaftlichen Schaffens im Sozialismus bestimmt, verändert einschneidend den Charakter ihrer Wechselbeziehungen zu den anderen Formen der menschlichen Lebenstätigkeit, darunter auch zur Sittlichkeit. Heißt das aber, daß dieses Problem in der sozialistischen Gesellschaft nicht besteht, daß die Frage nach der sittlichen Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers für die sozialen Folgen der eigenen schöpferischen Tätigkeit im Sozialismus von der Tagesordnung abgesetzt wird? Mitnichten. Der Gedanke vom sittlichen Indifferentismus der wissenschaftlichen Arbeit hat in der einen oder anderen Form auch unter sowjetischen Forschern Anhänger. Motive der technokratischen Ideologie, der Fetischisierung der wissenschaftlichen Kenntnisse und eine gewisse Unterschätzung der sittlichen Faktoren werden auch von einem Teil der wissenschaftlich-technischen Intelligenz unterstützt. Das „Wissen" wird manchmal dem „Bewußtsein" gleichgesetzt, wird dem „Glauben" und den „Uberzeugungen" entgegengestellt. Man versucht, von den Positionen eines abstrakten, einseitigen Rationalismus aus die Sphäre des sittlichen Lebens der Gesellschaft und der Persönlichkeit zu interpretieren. Selbst in Fällen, da die Verbindung zwischen der Wissenschaft und der Sittlichkeit nicht geleugnet wird, findet man häufig strittige, geradlinige Urteile, die einer kritischen Untersuchung bedürfen. So berührt z. B. die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Sittlichkeit wesentliche Aspekte des Prozesses des Unterrichts und der Erziehung der jungen Generation. Die Praxis zeigt, daß das Bildungsniveau des Menschen noch kein Unterpfand für hohes sittliches Bewußt11
sein ist, daß eine Gleichsetzung des Bildungs- und sittlicherzieherischen Moments im Prozeß der Formierung der Persönlichkeit genauso irrig ist, wie ihre Gegenüberstellung. Deshalb darf das „Wissen", wie groß seine Bedeutung auch sein mag, nicht verabsolutiert werden. Wichtig ist, wohin und worauf es gerichtet wird, mit anderen Worten, seine weltanschauliche und sittliche Orientierung. Besonders aktuell ist in diesem Zusammenhang die von W. I. Lenin in seiner bekannten Rede „Die Aufgaben der Jugendverbände" aufgestellte These: „Die ganze Erziehung, Bildung und Schulung der heutigen Jugend muß eine Erziehung zur kommunistischen Moral sein." 5 Folgt daraus etwa, daß W. I. Lenin die Bedeutung der eigentlichen beruflichen Ausbildung des künftigen Spezialisten unterschätzte? Natürlich nicht. Damit ist etwas anderes gemeint, nämlich die Notwendigkeit einer organischen Verbindung der Aufklärung und Bildung mit den Aufgaben und Zielen der kommunistischen Umgestaltung der Gesellschaft; die von Einseitigkeit und Beschränktheit freie Entwicklung einer wahrhaft schöpferischen Persönlichkeit, die sich ihres Platzes und ihrer sozialen Rolle in der Lebenstätigkeit der Gesellschaft völlig bewußt ist. Die Frage nach dem sittlichen Fundament und der Gewährleistung der Bildung wird von Lenin in einem denkbar breiten sozialen Zusammenhang aufgeworfen: Das ist die wichtigste Bedingung nicht nur für eine richtige vollständige und allseitige - Formierung und Entwicklung der Persönlichkeit, sondern auch eine notwendige Bedingung für die Verwirklichung des Endziels, des Aufbaus des Kommunismus. Entwickelte sittliche Kultur und hohes moralisches Bewußtsein sind keine Beigabe oder Verschönerung des „Hauptberufs des Individuums, sondern Ausdruck des echt menschlichen Sinnes der schöpferischen Tätigkeit in einer kollektivistischen Gesellschaft. In Anwendung auf das System des „Unterrichts" als solches setzt die Leninsche These eine organische Einheit der beruflich notwendigen und der sozial notwendigen Bildung voraus. Ein anderer Aspekt derselben Frage ist mit dem Zustand und dem Charakter der Entwicklung der wissenschaftlichen Kenntnisse selbst verbunden. Max Born spricht von. einem W. I. Lenin: Werke, Bd. 31, S. 280. 12
ernsthaften Unterschied im Denkstil der Vertreter der Geistes- und Naturwissenschaften, der zu einer Spaltung der zivilisierten Gesellschaft in zwei Gruppen geführt habe: eine läßt sich von den herkömmlichen geisteswissenschaftlichen Prinzipien, die andere von den naturwissenschaftlichen Ideen leiten.. Born verhält sich skeptisch zu den Hoffnungen auf eine Überwindung dieses Unterschieds durch eine „vernünftig ausgewogene Bildung". Da hat er zweifellos recht, denn die letztere ist nicht imstande, den „Denkstil" selbst zu verändern, der die objektive Lage der Wissenschaft in einer Gesellschaft widerspiegelt, in der Entfremdung herrscht. Der hervorragende Physiker kommt damit dem Gedanken sehr nahe, den Karl Marx klar formuliert hat, als er über die Wissenschaft einer künftigen kommunistischen Gesellschaft schrieb: „Die Naturwissenschaft wird später ebensowohl die Wissenschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein."6 Selbstverständlich handelt es sich nicht um eine mechanische Wiedervereinigung der Naturwissenschaft mit der Gesellschaftswissenschaft oder um eine Einverleibung der einen Wissenschaft durch die andere, sondern vielmehr um das Werden einer Wissenschaft neuer Qualität, da die Orientierung auf die humanistischen Werte im gegenständlichen Inhalt der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der wissenschaftlichen Tätigkeit ihren unverkennbaren Ausdruck finden wird. Im Rahmen des erörterten Themas ist der Prozeß der Formierung dieser „einen" Wissenschaft, der sich bereits unter den Verhältnissen der sozialistischen Gesellschaft vollzieht, als Prozeß der Widerspiegelung der Veränderungen in der gegenständlichen Tätigkeit der Persönlichkeit, als Verstärkung des aktiv umgestaltenden Verhaltens des Menschen zur Umwelt und zu sich selbst aufzufassen. Das Gesagte erklärt die Motive, die die Autoren des Buches „Wissenschaft und Sittlichkeit" - Naturforscher, Philosophen, Historiker - bewogen haben, zusammenzutreten, um ihre Anschauungen über eines der aktuellsten Probleme unserer Zeit zu äußern. Das Buch vermittelt eine Vorstellung vom Charakter und 8
K. Marx: Ökonomisch-philosophische 1968, S. 194. 13
Manuskripte.
Leipzig
vom Stand der Ausarbeitung der Frage durch die sowjetischen Wissenschaftler. Die Autoren waren bemüht, gewisse Mängel und Irrungen zu überwinden, die namentlich mit den Begriffen „Wissenschaft" und „Sittlichkeit" verbunden sind. In den Begriff „Wissenschaft" werden nämlich häufig nur die Naturwissenschaften, der Bereich der sogenannten „exakten" Wissenschaften einbezogen, während die Gesellschafts- oder Geisteswissenschaften nicht berücksichtigt werden. Eine solche Einengung des Bereichs der Wissenschaften, eine solche Ausklammerung deijenigen ihrer Teile, die sich direkt mit dem Studium des Menschen und der sozialen Beziehungen befassen, ist durch nichts gerechtfertigt. Das gleiche gilt auch für die Begriffe „Sittlichkeit" und „Moral", die durchaus nicht als gleichbedeutend aufgefaßt werden. Die Autoren dieses Buches berücksichtigen die Kompliziertheit und die vorläufige Unentschiedenheit der Problematik des behandelten Themas und sind bestrebt, soweit es von ihnen abhängt, zu dessen weiteren Ausarbeitung beizutragen. Im Buch werden die Hauptmomente des Problems der Wissenschaft und Sittlichkeit analysiert: Wie stehen die Wahrheit und das Gute zueinander? Was ist die sittliche Bedeutung der Wissenschaft, ihre Rolle bei der Formierung und Vervollkommnung der gesellschaftlichen Moral? Welchen Platz nimmt der moralische Faktor in der wissenschaftlichen Erkenntnis und im wissenschaftlichen Schaffen ein, wo liegen die Grenzen des Einflusses der Sittlichkeit auf die Entwicklung der Wissenschaft? Worin besteht die sittliche Verantwortung des Wissenschaftlers für die sozialen Folgen der Nutzung seiner Entdeckungen und Erkenntnisse? Die Verbindung von Wissenschaft und Sittlichkeit beschränkt sich nicht auf eine einfache Koordination, sie trägt vielmehr einen inneren und beigeordneten Charakter - das ist der Zentralgedanke des Buches, in dem sich die Autoren einig sind. Die Unterschiede der Anschauungen, die oft sehr wesentlich sind, bestehen in der Auslegung der komplizierten Dialektik der Beziehungen zwischen den beiden Sphären der menschlichen Tätigkeit. Das Buch ist so aufgebaut, daß der Leser, wenn er die Entwicklung des Zentralgedankens verfolgt, diese Unterschiede mitbekommt. Das Buch gibt Stoff zur Diskussion, es ist polemisch gehalten. Die Autoren erheben keinen Anspruch auf „Wahrheit 14
in letzter Instanz". Im Gegenteil, sie sind der Auffassung, daß das Problem einer weiteren Erörterung und theoretischen Ausarbeitung bedarf, und hoffen, daß die von ihnen vorgeschlagene Gesprächsebene Anstoß zu neuen Gedanken, zu neuem Suchen geben wird. Die polemische Form der Darlegung ist nicht nur auf den (übrigens nicht unwichtigen) Umstand zurückzuführen, daß das wissenschaftliche Herangehen in Verbindung mit dem publizistischen Prinzip uns vor der Gefahr eines Abfalls in den „Akademismus" schützt, uno auch nicht nur auf den Wunsch, das Buch einem breiten Leserkreis zugänglich zu machen. Neue Anschauungen können, um mit W.I. Lertin zu sprechen, nicht anders als in polemischer Form entwickelt werden. Diese Art und Weise der Darlegung benutzen die Autoren auch, um einzelne Thesen und Leitsätze ihrer Kollegen anzufechten.
I An der Ausarbeitung des Problems des Verhältnisses zwischen Wissenschqft und Sittlichkeit nehmen Mathematiker, Physiker, Chemiker, Geologen und andere Naturwissenschaftler aktiven Anteil. Bei der Prüfung dieses ausgesprochen philosophischen Problems meiden sie in der Regel jede eng lokale und „zünftige" Stellung der Frage nach den sozialen Aspekten des Fortschritts des Wissens; sie betrachten dieses Thema vielmehr in Verbindung mit der humanistischen Bedeutung der Wissenschqft, und wenn sie unterschiedliche Gesichtspunkte äußern, geben die Vertreter der sogenannten exakten Wissenschaften ihre eigenen Erfahrungen aufwissenschaftlichem Gebiet wieder. Die Verfasser dieses Teils des Buches sind Akademiemitglied A. D. Alexandrow, ein Mathematiker, und Professor G. L. Pospelow, Doktor der geologisch-mineralogischen Wissenschaften.
A. D. Alexandrow
DAS WISSENSCHAFTLICHE PRINZIP DER SITTLICHKEIT
Das einfache Wesen der Sache Ein Mensch hat Böses getan, und man sagt ihm: „Wie konntest du das?" Er aber rechtfertigt sich: „Ich wollte doch nur das Beste." Man entgegnet ihm: „Mit dem Wollen ist es nicht getan, man muß auch noch denken!" In dieser Forderung ist das ausgedrückt, was wir das wissenschaftliche* Prinzip der Sittlichkeit nennen. Es bezieht sich auf die Sittlichkeit, da von einer sittlichen Einschätzung („ich wollte doch nur das Beste") die Rede ist, und wird „wissenschaftlich" genannt, weil man nicht einfach denken soll, sondern so, daß das Denken der Wirklichkeit entspricht und zu effektiven Lösungen führt. In moralischen Fragen ist das, woran man „denken soll", nicht nur die äußere Situation, in der der Mensch Entschlüsse faßt und handelt, sondern auch der wahre Sinn seiner „besten" Absicht. Man könnte es für hochtrabend halten, die einfache Forderung zu „denken" als „wissenschaftliches Prinzip" hinzustellen. Doch das wissenschaftliche Herangehen ist nur die entwickelte Form eines solchen Herangehens an den Gegenstand, das zum Verstehen führt, Anleitung zum praktischen Handeln gibt und die Möglichkeit bietet, vorauszusehen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Schattierungen in der Auslegung der Begriffe „Sittlichkeit" und „Moral" ist das Ausschlaggebende doch nur, daß sie das Verhalten des Menschen bestimmen sollen. Schließt sich die Moral in der Sphäre der Betrachtungen, Einschätzungen und Absichten ein, verkörpert sie sich in realen Taten, so ist sie leer und unwirklich. Denn mit dem Wollen allein ist es nicht getan. Die sittliche Absicht wird nur dann wirklich, wenn man das 19
A. D. Alexandrow
DAS WISSENSCHAFTLICHE PRINZIP DER SITTLICHKEIT
Das einfache Wesen der Sache Ein Mensch hat Böses getan, und man sagt ihm: „Wie konntest du das?" Er aber rechtfertigt sich: „Ich wollte doch nur das Beste." Man entgegnet ihm: „Mit dem Wollen ist es nicht getan, man muß auch noch denken!" In dieser Forderung ist das ausgedrückt, was wir das wissenschaftliche* Prinzip der Sittlichkeit nennen. Es bezieht sich auf die Sittlichkeit, da von einer sittlichen Einschätzung („ich wollte doch nur das Beste") die Rede ist, und wird „wissenschaftlich" genannt, weil man nicht einfach denken soll, sondern so, daß das Denken der Wirklichkeit entspricht und zu effektiven Lösungen führt. In moralischen Fragen ist das, woran man „denken soll", nicht nur die äußere Situation, in der der Mensch Entschlüsse faßt und handelt, sondern auch der wahre Sinn seiner „besten" Absicht. Man könnte es für hochtrabend halten, die einfache Forderung zu „denken" als „wissenschaftliches Prinzip" hinzustellen. Doch das wissenschaftliche Herangehen ist nur die entwickelte Form eines solchen Herangehens an den Gegenstand, das zum Verstehen führt, Anleitung zum praktischen Handeln gibt und die Möglichkeit bietet, vorauszusehen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Schattierungen in der Auslegung der Begriffe „Sittlichkeit" und „Moral" ist das Ausschlaggebende doch nur, daß sie das Verhalten des Menschen bestimmen sollen. Schließt sich die Moral in der Sphäre der Betrachtungen, Einschätzungen und Absichten ein, verkörpert sie sich in realen Taten, so ist sie leer und unwirklich. Denn mit dem Wollen allein ist es nicht getan. Die sittliche Absicht wird nur dann wirklich, wenn man das 19
Beste tut. Aus der Anerkennung dieser Tatsache ergibt sich logischerweise die Notwendigkeit eines „wissenschaftlichen Prinzips" der Sittlichkeit. Eine Absicht wird durch Handlungen verwirklicht, die der Mensch vollzieht. Der materielle Prozeß, der sich dabei abspielt, hängt nicht nur vom Wunsch des Menschen ab. Es gibt reale Voraussetzungen für diesen Prozeß, Möglichkeiten der menschlichen Tätigkeit, einen notwendigen gesetzmäßigen Zusammenhang der Erscheinungen, der die Grenzen des Möglichen und dessen unvermeidliche Folgen bedingt. Bleibt das alles unbekannt, so besteht keine Garantie, daß die Absicht, selbst die beste, auch verwirklicht wird. Damit Absicht und Resultat übereinstimmen, bedarf es des Wissens und Verstehens. In Fällen, die nur einigermaßen kompliziert sind, kommen Wissen und Verstehen jedoch nicht von selbst, - sie müssen durch Suchen erworben werden. Gerade die Suche nach dem wahren Wissen ist der Weg der Wissenschaft. Die notwendige Bedingung wirklicher Sittlichkeit ist folglich ein Herangehen im Geiste der Wissenschaft an die Fragen, die von der Sittlichkeit berührt werdeh. Herangehen im Geiste der Wissenschaft bedeutet eigentlich nicht mehr als das Streben, sich zurechtzufinden, zu erkennen, zu verstehen und dem Rechnung zu tragen, was in Wirklichkeit ist. Das bedeutet letztlich nichts anderes als einfache Gewissenhaftigkeit. Zwischen dem, wie der Wissenschaftler handelt, und dem, wie gewissenhafte Menschen handeln, besteht keine Kluft. Der Unterschied liegt nur darin, daß in der Wissenschaft das Rüstzeug spezieller Methoden und theoretischer Konstruktionen genutzt wird, während sich die Menschen in ihrem Alltag von ihren Beobachtungen, dem gesunden Menschenverstand, derLebenserfahrung leiten lassen. Das wissenschaftliche Prinzip setzt folglich ein entwickeltes Gefühl der moralischen Verantwortung voraus, das dem Menschen nicht gestattet, sich auf seine subjektive Meinung zu beschränken. Das Gefühl der moralischen Verantwortung fordert von ihm, den objektiven Tatsachen Rechnung zu tragen, d. h. dem, was nicht von den Meinungen und Wünschen des einzelnen Menschen abhängt. Natürlich kommt es oft vor, daß Menschen Entscheidungen treffen und handeln müssen, ohne viel nachzudenken, 20
weil sie nicht die Zeit oder die Möglichkeit haben, lange zu überlegen. Ein gewissenhafter Mensch bemüht sich aber zumindest, zu verstehen, wozu seine Entscheidung oder Handlung geführt hat, sich über die begangenen Fehler Rechenschaft abzulegen und, wenn möglich, sie wieder gutzumachen. So sammelt er moralische Erfahrungen, die ihm später gestatten, intuitiv richtige Entscheidungen zu treffen, selbst wenn sein Wissen nicht ausreicht und er nicht die Möglichkeit hat, lange nachzudenken. Das kann man moralische Intuition nennen. Doch wie die wissenschaftliche Intuition ohne Überprüfung kein verläßliches Wissen gibt, so bedarf auch die moralische Intuition der Überprüfung und entwickelt sich auf der Grundlage der Erfassung der gesellschaftlichen und Lebenserfahrung. Wenn wir vom wissenschaftlichen Prinzip der Sittlichkeit sprechen, setzen wir zumindest das Vorhandensein einer gewissen Moral voraus. Wenn die Wahl der Entscheidung unmittelbar durch das Gefühl diktiert wird oder wenn dazu nichts anderes notwendig ist als Lebenserfahrung, gesunder Menschenverstand, Tradition, bzw. der Hinweis oder das Beispiel einer anderen Person, kurzum in den einfachsten Fällen, genügt es, den einfachen Weisungen der Moral ohne „Wissenschaftlichkeit" zu folgen. Für einen amoralischen Menschen ist selbst das wissenschaftliche Prinzip nutzlos, genauso wie die Wissenschaft demjenigen nicht nützt, der nicht wissen will oder das Wissen nicht zu nutzen wünscht. Im heutigen Leben ist das wissenschaftliche Prinzip der Sittlichkeit besonders wichtig, da sich der Mensch häufig vor komplizierte moralische Fragen gestellt sieht. Die Forderung „du sollst nicht nur wollen, sondern auch denken" wird immer ernster in dem Maße, in dem der Umfang und die Tiefe der vor dem Menschen stehenden Probleme zunehmen. Wenn ein Mensch über etwas urteilt, ohne zu verstehen, z. B., wenn er aus Unverstehen einen Unschuldigen verurteilt, können seine Ansichten zu seinen eigenen moralischen Prinzipien in Widerspruch treten. Wenn jemand etwas ohne hinreichendes Wissen tut, muß er gewärtigen, daß er das gewünschte Resultat nicht erzielt, daß seine sittlichen Absichten nicht Wirklichkeit werden, ja noch schlimmer: Er kann etwas anrichten, was er dann selbst bereuen wird. Menschen, die ohne Sachkenntnis Weisungen 21
geben oder sich resolut in etwas einmischen, das sie nicht verstehen, richten, selbst wenn sie es aus subjektiv guter Absicht tun, oft viel Böses an. Objektiv erweisen sie sich dann in einer Position moralischer Verantwortungslosigkeit (z. B. ein Leiter, der in das Wesen der Sache nicht eindringt, oder ein Erzieher, der seinen Zögling nicht verstehen will). Was geschieht in der Welt? Was ist der Sinn des Geschehens, der Sinn meiner Tätigkeit im Leben? Diese Fragen stellt sich so oder so ein jeder, der aus dem üblichen Kreis des Alltags hinaustritt und seine sittliche Position bestimmen möchte. Ein Mensch, der nicht alles auf Treu und Glauben hinnimmt, macht sich unweigerlich Gedanken über diese Fragen und sucht das notwendige Wissen. Entspringt das Bedürfnis nach Information nicht einfach der Neugier, so steht dahinter stets eine moralische Anforderung. Mit der Information allein ist es aber noch nicht getan, sie muß auch richtig aufgefaßt werden; das ist ohne eine ernste Konzeption, ohne Nachdenken unmöglich. Deshalb ist für den wirklich denkenden Menschen, der bedeutende moralische Probleme vor sich stellt, das faktische Wissen, das wissenschaftliche Verstehen unentbehrlich wie die Luft, die er atmet. Es wäre naiv, zu fordern, daß die Wissenschaft „alles erkläre" und auf alle Fragen Antwort gebe. Doch sie vermag sehr viel, und, was das Wichtigste ist: Es gibt keinen anderen Weg zu ernsthaftem Verstehen, außer dem wissenschaftlichen; denn wo dieser fehlt, gibt es nichts als subjektive Meinungen und Herumraten. Man könnte entgegnen, die Frage nach dem Sinn des Lebens sei überhaupt keine Frage der Wissenschaft. Doch will man die Antwort nicht im Jenseits suchen, so muß man es eben in der realen Wirklichkeit tun. Nur in der Erkenntnis des Lebens und seines realen Inhalts kann eine sinnvolle Antwort auf diese Frage gefunden werden. Folglich kann man sagen: Selbst wenn die Wissenschaft die sittlichen Probleme nicht löst, gibt sie dem Menschen doch eine Stütze und A nleitung für sein Suchen und seine Entscheidungen. Spricht man von der Wissenschaft, so meint man häufig die Mathematik, die Physik und die Chemie und vergißt gleichsam, daß es auch eine Wissenschaft von der Gesellschaft, von dem Menschen gibt. Dabei ist gerade sie von erstrangiger Bedeutung für die Sittlichkeit, da sie menschliche, 22
gesellschaftliche Probleme untersucht und namentlich die Natur der Moral selbst aufdeckt. Sie wendet sich der Innenwelt des Menschen zu, geht es ihr doch darum, die Devise der alten Moralphilosophie „Erkenne dich selbst!" zu verwirklichen; sie erforscht den Menschen in der Einheit seines Äußeren und Inneren, des Objektiven und Subjektiven, in seinem gesellschaftlichen und individuellen Sein. Die metaphysische Entgegenstellung dieser Aspekte des menschlichen Seins ist mit eine Ursache der Trennung von Wissenschaft und Sittlichkeit (wenn die erstere als auf das Äußere gerichtet, die letztere aber als der Innenwelt des Menschen zugekehrt betrachtet wird). Da aber der Mensch seine Handlungen bewußt lenkt, tritt er vor sich selbst als Objekt auf, ganz zu schweigen davon, daß er für einen anderen Menschen etwas „Äußeres" ist, daß das Subjektive sich im Objektiven gründet. Diejenigen, die eine Verbindung von Wissenschaft.und Sittlichkeit abstreiten, sagen, die Wissenschaft könne Übel und Gefahren heraufbeschwören. Das ist nicht ganz so. Die Wissenschaft deckt nur das auf, was existiert, ob es nun gut oder schlecht ist, oder sie stellt fest, was nach den Gesetzen der Natur möglich oder unmöglich ist. Die von der Wissenschaft aufgedeckten neuen Möglichkeiten schlagen nicht von sich aus in Übel oder Gefahren um, sondern erst als Resultat einer solchen Anwendung, bei der die Menschen die Folgen entweder nicht voraussehen und ihnen nicht genügend Rechnung tragen, oder die Errungenschaften der Technik als Mittel der Bereicherung, der Unterdrückung, der Einschüchterung oder des Tötens nutzen. Ein Mittel gegen die „von der Wissenschaft heraufbeschworenen Gefahren" kann deshalb nur besseres Wissen und auf dieser Grundlage ein Kampf gegen die gesellschaftlichen Kräfte sein, die die Wissenschaft mißbrauchen. Die sittliche Entrüstung muß mit Wissen gewappnet sein, damit sie die richtige Tendenz erlangt und wirksam wird. Hinsichtlich der Bedeutung der Wissenschaft für die Sittlichkeit treten manchmal Mißverständnisse auf, weil die erstere auf ein System von Kenntnissen reduziert wird. Die wissenschaftlichen Kenntnisse sind das Ergebnis des nach Erkenntnis der Wahrheit strebenden Wirkens, das der Erfahrung und Logik folgt. Dieser Erkenntnisdrang ist der 23
Geist der Wissenschaft, ohne ihn würde sie nicht bestehen; gerade dieser Geist mit seiner Forderung nach objektiver Erfassung der Tatsachen, nach der Wahrheit und ihrer Befolgung, ist für die Sittlichkeit wichtig. Bei den Bemühungen, die Bedeutung der Wissenschaft für die Sittlichkeit herauszufinden, wird oft versucht, die letztere auf die Wissenschaft zurückzuführen. Doch der Geist der Wissenschaft mit seinem Streben nach Wahrheit kann die Sittlichkeit schon deshalb nicht ausschöpfen, weil der Mensch bei der Wahl seiner Entscheidungen und Handlungen nicht nur vom Wissen, ja nicht nur von den moralischen Prinzipien abhängt. Es kommt vor, daß ein Mensch sich selbst schadet, obwohl ihm das durchaus bewußt ist, weil er eben seines Charakters wegen nicht anders handeln kann. Der Kampf gegen die Drogensucht z. B. ist unmöglich ohne entsprechende Aufklärung über den Schaden der Narkotika. Dies mit Berufung darauf abzustreiten, daß Aufklärung allein unzureichend sei, ist zumindest albern. Ebenso albern ist es, das wissenschaftliche Prinzip in der Moral mit Berufung darauf abzustreiten, das Prinzip allein verbürge noch keine hohe Sittlichkeit. Um so alberner ist es, diejenigen, die die Wichtigkeit der Wissenschaft für die Lösung sittlicher Probleme unterstreichen, zu beschuldigen, sie wollten die Sittlichkeit auf das Wissen reduzieren. Das Wissen konstatiert nur das, was ist, war und sein wird, und drückt sich entsprechend im Indikativ aus. Die Moral aber gebietet. Aus der Konstatierung allein ergibt sich logisch noch kein Gebot. Aus der Feststellung z. B. „Sie sind krank" folgt noch nicht das Gebot „lassen Sie sich behandeln". Deshalb kann die Moral nicht auf das Wissen reduziert und nicht aus dem Wissen abgeleitet werden. Es handelt sich vielmehr um ihre organische Verbindung. Diese letztere tritt, am Rande bemerkt, auch im Beispiel mit dem Kranken zutage, denn zwischen der Wissenschaft (der Medizin), der Weisung, sich behandeln zu lassen, und der Möglichkeit einer solchen Behandlung besteht ein offensichtlicher Zusammenhang. Die Moral drückt sich ferner in Einschätzungen aus, die die Form von Feststellungen haben (z. B. „Stehlen ist ein Übel"). Darunter wird jedoch immer ein Gebot verstanden («Du sollst nicht stehlen"). Folglich ist auch in diesem Falle 24
eine Reduzierung der Moral auf das Wissen logisch unmöglich. Somit besteht die faktische Abhängigkeit der Moral von der Wissenschaft nicht in einer Reduzierung der ersteren auf das Wissen. Das „wissenschaftliche Prinzip" wäre nicht wissenschaftlich, würde es Anspruch darauf erheben, sich die ganze Sittlichkeit einzuverleiben, sie auf die Wissenschaft zu reduzieren u. ä. m. Das wissenschaftliche Prinzip unterstreicht nur, daß der Drang nach Erkenntnis der Wahrheit fiir die Sittlichkeit notwendig ist, daß ohne dieses Prinzip die Sittlichkeit riskiert, ein frommer Wunsch zu bleiben, nicht aber Wirklichkeit zu sein.
Das wissenschaftliche Prinzip in der Bestimmung des Inhalts der Moral Die Bedeutung des Wissens und des Herangehens im Geiste der Wissenschaft als Bedingung für die Realisierung der sittlichen Absichten wird von vielen Menschen nicht in Zweifel gestellt. Doch wirken das Wissen und der Geist der Wissenschaft auf die eigentlichen moralischen Prinzipien und Ziele des Menschen ein, oder bestimmt die Wissenschaft nur die Mittel, nicht aber die Ziele? Eine Antwort darauf erhalten wir, wenn wir die Frage untersuchen, warum die Atheisten sich nicht das Ziel setzen, das Heil der Seele und ewige Seligkeit im Paradies zu suchen. Sie tun es nicht, weil sie Seelenheil, Paradies und Hölle für Erdichtungen halten, und diese Ansicht beruht, zumindest bei vielen, auf einer wissenschaftlich begründeten Überzeugung. Hier ist die Abhängigkeit der sittlichen Prinzipien und Ziele von der Wissenschaft offensichtlich. Selbstverständlich sind die Begriffe Ziel und Mittel relativ: Das gegebene Ziel kann ein Mittel auf dem Wege zu einem allgemeineren Ziel sein, und das Mittel kann sich als das Ziel erweisen, das man erreichen möchte. Doch bezieht man das gegebene Ziel in ein allgemeines, und dieses wiederum in ein noch allgemeineres ein, so kann man zu dem Schluß kommen, daß das sittliche Ziel das Gute „im Allgemeinen" sei, d. h. etwas Abstraktes. Um das zu vermeiden, muß man bestimmen, was das Böse und was das Gute ist. Doch sobald wir diese Frage stellen. 25
müssen wir uns den Bedürfnissen der Menschen, den Problemen der Entwicklung der Gesellschaft zuwenden, d. h. die Erscheinungen einer wissenschaftlichen Betrachtung unterziehen. So erweist sich das wissenschaftliche Prinzip als Voraussetzung einer vernünftigen Bestimmung nicht nur der Mittel zur Erreichung sittlicher Ziele, sondern auch als Voraussetzung der Bestimmung dieser Ziele, der moralischen Begriffe und Prinzipien selbst. Philosophen und Theologen haben seit jeher sittliche Ideale und hohe moralische Prinzipien verkündet und nach Wegen zur sittlichen Vervollkommnung des Menschen gesucht. Das Christentum predigte Menschenliebe, in den alten Lehren des Hinduismus wird der Verzicht auf Eigentum, auf den Begriff „mein" als Tugend propagiert; die Jakobiner kündeten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Doch alle diese Ideale wurden nicht in die Tat umgesetzt. Folglich gilt es, reale Ideale zu wählen und reale Mittel zu ihrer Umsetzung in die Tat ausfindig zu machen. Die Ermittlung der Realität eines Ideals und der realen Mittel zu dessen Erreichung ist aber Aufgabe der Wissenschaft. Nur von der wissenschaftlichen Position aus, die die gesamte reale Wirklichkeit in die Sphäre der Forschung einbezieht, kann man die wahren Ursachen der sittlichen1 Krankheiten der Menschheit aufdecken und wirksame Mittel zu ihrer Heilung finden. Gerade dieses wissenschaftliche Herangehen an das moralische Problem hat der Marxismus begründet. Der Kommunismus als sittliches, gesellschaftliches Ideal ist lange vor Marx und Engels verkündet worden. Das Verdienst von Marx und Engels bestand nicht so sehr in der Präzisierung dieses Ideals, als vielmehr in der Ermittlung der Wege zur Erreichung dieses Ideals auf der Grundlage der wissenschaftlichen Theorie. W. I. Lenin sagte: „Die Grundlage der kommunistischen Sittlichkeit ist der Kampf für die Festigung und Vollendung des Kommunismus." 1 Der erste Leitsatz des im Programm der KPdSU formulierten Sitten-Kodex lautet: „Treue zur Sache des Kommunismus". Diese Leitsätze erlangen einen hinreichend exakten Sinn nur dann, wenn verstanden wird, 1
W. I. Lenin: Werke, Bd. 31, S. 285. 26
was die „Sache des Kommunismus" ist, wie „der Kampf für die Festigung und Vollendung des Kommunismus" geführt werden kann und muß. Da ist es mit dem einfachen Hinweis auf die kommunistischen Ideale noch nicht getan, denn es handelt sich nicht nur um diese, sondern auch um die Sache des Kommunismus, d. h. um die realen Wege, die zur Verwirklichung dieser Ideale führen. Diese Frage kann nur auf der Grundlage der wissenschaftlichen Theorie beantwortet werden. Deshalb hat der Begriff kommunistische Sittlichkeit ohne die Wissenschaft keinen exakten Sinn und verwandelt sich, wenn man ihn von der wissenschaftlichen Auffassung loslöst, in eine Losung, die man mit unterschiedlichen Inhalten füllen kann. „Für den Kommunismus" sein, ist eine Frage der sittlichen Wahl, doch diese Wahl wird nur dann richtig verstanden, wenn man sich darüber klar ist, was der Mensch wählt, wenn er sich auf den wissenschaftlichen Begriff des Kommunismus stützt. Nicht von ungefähr hat Lenin dazu aufgerufen, den Kommunismus zu studieren, denn ohne ernsthaftes Wissen, ohne Gedankenarbeit kann der Kommunismus „zu einem bloßen Aushängeschild" werden, und „eine solche Oberflächlichkeit wäre entschieden verderblich."2 Folglich handelt es sich darum, worauf der Mensch seine Überzeugungen stützt: auf blindem Glauben an die Dogmata einer Lehre, an eine Autorität, oder an die eigene Unfehlbarkeit (was im gegebenen Fall gleichgültig ist), oder auf Vernunft und erprobtes Wissen. Natürlich kann der Mensch nicht alles wissen und die Zukunft nicht in allen Einzelheiten voraussehen. Daraus folgt jedoch nicht, daß ihm nur der Glaube bleibt, die bedingungslose Akzeptierung unbeweisbarer Thesen. Im Gegensatz zum Glauben akzeptiert die wissenschaftliche Position nichts unbedingt, nichts ohne Beweis oder Begründung. Im Glauben entäußert sich der Mensch seines vernünftigen Wesens und umgekehrt, er behauptet dieses Wesen, wenn er sich der Wirklichkeit, darunter seines eigenen Ichs, kritisch bewußt zu werden strebt. Diese Position nimmt ihm nicht die Festigkeit der Überzeugungen, doch sie gibt ihnen eine andere, stärkere Grundlage, als die des Glaubens, da die Überzeugungen hier 2
W. I. Lenin: Werke, Bd. 31, S. 277. 27
tief durchdacht und begründet sind. Der objektive Sinn der Glaubenspredigt läuft oft darauf hinaus, die Menschen in eine „Herde" zu verwandeln, die der „Seelenhirt" in jede beliebige Richtung treiben kann. Deshalb verhielt sich Lenin auch so unversöhnlich zu jedem religiösen und anderen blinden Glauben. Es ist eine schwere Sünde, etwas auf Treu und Glauben hinzunehmen und die kritische Anwendung und Entwicklung auszuschließen.. ,3 Als die Kommunisten erklärten, ihre Moral sei klassengebunden, drückten sie damit nicht ihren Glauben aus, sondern die wissenschaftliche Auffassung von der Klassennatur der Moral in der Klassengesellschaft. Die Weltanschauung des Menschen schließt nicht nur seine allgemeine Auffassung von der Welt ein, sondern auch seine allgemeine moralische Position. Deshalb verbindet die ungeteilte wissenschaftliche Weltanschauung notwendigerweise diese Position mit der wissenschaftlichen Auffassung von der Welt und wird sich ihrer im Geiste des wissenschaftlichen Herangehens verstandesgemäß bewußt. Ein Verzicht darauf bedeutet, wenn nicht überhaupt Verzicht auf das wissenschaftliche Prinzip in weltanschaulichen Problemen, so zumindest einen Dualismus von Wissenschaft und Moral. Dann wird die Moral unweigerlich dem Gebiet des reinen Subjektivismus oder des religiösen Glaubens überlassen. Nicht von ungefähr greifen die Glaubensverfechter so wütend alle jene an, die sich zur Idee der Verbindung von Wissenschaft und Sittlichkeit bekennen. Die Frage steht so: Entweder eine ungeteilte wissenschaftliche Weltanschauung oder ein Sammelsurium aus Wissenschaft und Dogmatik, Glaube an Gott oder irdische „unfehlbare" Götter. Die wissenschaftliche Weltanschauung setzt ein wissenschaftliches Herangehen an alle Erscheinungen voraus. Dabei ist eine Aufteilung in „Einflußsphären" ausgeschlossen, bei der das äußere Dasein der Wissenschaft, das Gute und Ideale aber dem Glauben zugeordnet werden. Auf diese Weise wird die Frage nach dem Einfluß des Wissens und des Geistes der Wissenschaft auf die Sittlichkeit gelöst. 3
Siehe W. /. Lenin: Werke, Bd. 3, S. 654. 28
Sittliches Bewußtsein und sittliches Gefühl Sittlichkeit setzt sich aus sittlichem Bewußtsein und sittlichem Gefühl zusammen und ist ohne Lenkung durch die emotionale Sphäre unmöglich. Damit der Mensch aber seine Gefühle, Wünsche und Interessen lenken kann, muß er sich ihrer bewußt sein. Das ist nicht so einfach, besonders, wenn man aus dem eng persönlichen Bereich zu den gesellschaftlichen Interessen, den Klasseninteressen und -gefühlen übergeht. Das Klassengefühl muß sich zum Klassenbewußtsein hin entwickeln 4 , sein hohes Niveau wird mit Hilfe einer bestimmten Summe von Kenntnissen durch Bildung erreicht. Das sozialistische Bewußtsein ist durch die Intelligenz in die Arbeiterbewegung getragen worden. Die marxistische politische Aufklärung zeigte dem Proletariat, was seine wahren Klasseninteressen und seine historische Rolle bei der Befreiung der ganzen Gesellschaft von jeder Ausbeutung sind. Der Proletarier, der sich die wissenschaftlichen Schlußfolgerungen über die Entwicklung der Gesellschaft angeeignet hatte, wurde sich dessen bewußt, daß er nicht nur ein Kämpfer für seine eigenen Interessen und die seines Kollektivs ist, sondern auch ein Kämpfer für die Interessen seiner Klasse, für den Sozialismus, für eine bessere Zukunft der ganzen Menschheit. Dieses Bewußtsein erhöhte ihn moralisch und regte ihn zu heroischen Taten an. So wurden die wissenschaftlichen Kenntnisse zu einem moralischen Faktor. Sie wurden es natürlich nicht von selbst, sondern dadurch, daß sie sich mit dem Sittlichkeitsgefühl vereinigten, ihm Form und Richtung gaben. Die Wirksamkeit der Anregungen hängt wesentlich vom Charakter des Menschen ab, davon, was man seine sittlichen Kräfte nennen darf, d. h. dem Gewissen, dem Willen u. a. m. Besitzt der Mensch diese Qualitäten nicht, so kann er, selbst bei hohen Prinzipien und besten Anregungen, unter einigermaßen schwierigen Bedingungen nicht wirklich sittlich sein. 4 Es „ist notwendig, daß aus dem (klassenbezogenen, revolutionären - Der Verf.) Instinkt Bewußtsein wird", schrieb W. I. Lenin (Werke, Bd. 24, S. 260).
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Die sittlichen Kräfte haben jedoch an sich keine bestimmte Richtung; erst die Ausrichtung auf sittliche Ziele verleiht ihnen Bestimmtheit. Ermangelt der Mensch überhaupt des Gewissens (es gibt solche pathologische Fälle), so sind alle Appelle an sein Gewissen wirkungslos. Da aber das Gewissen als solches nur eine moralische Kraft oder eine Form des sittlichen Bewußtseins ist, die Form aber auch noch einen Inhalt hat, gibt die Frage den Ausschlag, was der Inhalt' des Gewissens ist, was der Mensch als mit seinem Gewissen vereinbar betrachtet und was er für gewissenlos hält. „Ein Republikaner hat ein anderes Gewissen als ein Royalist, ein Besitzender ein anderes Gewissen als ein Besitzloser, ein Denkender ein anderes als ein Gedankenloser." 5 Doch sobald wir uns dem Inhalt des Gewissens zuwenden, müssen wir nicht nur den Erwägungen des Gefühls, sondern auch denen der Vernunft Rechnung tragen. Das Gewissen eines Patrioten sollte ihm nicht erlauben, eine Niederlage seines Heimatlandes zu wünschen. Doch während des imperialistischen Krieges traten die Leninisten für eine Niederlage des Heimatlandes ein, denn ihr Patriotismus war sozialistisch. Das wurde nicht allein durch Gefühle bestimmt, sondern in nicht geringerem Maße durch die wissenschaftliche Erkenntnis der Forderungen des Moments: Eine Niederlage Rußlands im imperialistischen Krieg mußte die Positionen der Selbstherrschaft schwächen und mithin den Zeitpunkt ihres Zusammenbruchs und den Sieg der Arbeiterklasse näher rücken. Gerade aus dem wissenschaftlichen Prinzip der Sittlichkeit ergibt sich, daß ein Verzicht auf das Verstehen der objektiven Situation schon an sich als gewissenlos betrachtet werden muß. Nur ein Herangehen im Geiste der Wissenschaft gestattet es, die Wahrheit aufzudecken. Kann aber von Gewissen die Rede sein ohne ein ständiges Streben nach Wahrheit und ihre unbedingte Achtung? Ebendasselbe kann man auch von den anderen sittlichen Kräften sagen: Es kann keine Sittlichkeit geben ohne einfaches Mitgefühl, ohne Ehre, ohne Wille. Doch mitfühlen kann man mit verschiedenen Menschen, Ehre kann man verschieden auffassen, mit dem Willen kann man völlig, unterschiedliche Handlungen lenken. 5
Marx/Engels:
Werke, Bd. 6, S. 130. 30
Zwischen den Gefühlen und der Vernunft besteht folglich eine Wechselwirkung: Das Wissen wirkt auf die Gefühle ein, es beeinflußt die sittlichen Kräfte nicht nur dadurch, daß es verstandesgemäß ihren Inhalt bestimmt. Die Persönlichkeit formiert sich durch Aneignung von Lebenserfahrung und mithin ebendesselben Wissens. Dabei bilden sich auch die sittlichen Kräfte der Persönlichkeit heraus. Festes Wissen bringt Entschlossenheit hervor und stärkt den Willen. Ist sich ein Mensch der schweren Folgen seiner Handlung bewußt geworden, so kann er sich unbarmherzig verurteilen, sein Gewissen schärft sich. Das Anrufen der Gefühle unter Umgehung der Vernunft, die Geringschätzung des Wissens und Verstehens bei Bestärkung des Glaubens - diese charakteristischen Züge jedes Irrationalismus - haben im Faschismus ihren Höhepunkt erreicht. Die faschistische Idee von der „Herrenrasse" hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Bei der Begründung seiner Anschauungen berief sich Hitler nicht auf die Wissenschaft, sondern auf die „Vorsehung", den „Schöpfer" usw. Seine Methode bestand gerade darin, die Gefühle der Menschen zu beeinflussen, die Menschen zu hypnotisieren, ihre Fähigkeit zu kritischem Verhalten gegenüber der Wirklichkeit zu unterdrücken und auf diese Weise „in ihnen den gemeinsamen Willen zu wecken". Manche Gegner der Verbindung von Wissenschaft und Sittlichkeit sagen, auch die Nazis haben die Wissenschaft genutzt, ja sie seien sogar aufgeklärte Menschen gewesen. Die Verbreitung faschistischer Theorien und die hitlerfaschistischen Methoden der „Weckung des gemeinsamen Willens" können doch nicht ernsthaft als Aufklärung betrachtet werden. Das ist nicht Aufklärung, sondern wildester Obskurantismus. Das Beispiel des Faschismus bestätigt gerade die Verbindung von Antiwissenschaftlichkeit und Irrationalismus mit Unsittlichkeit und entsprechend die Verbindung von Wissenschaft und Sittlichkeit. Den Formen des Irrationalismus steht der Ruf zur Vernunft, zum Verstehen, zur Wissenschaft entgegen. Dazu ist ja dem Menschen der Verstand gegeben, ist er ein Mensch, um sich nicht den Emotionen hinzugeben, sondern nach den Geboten des Herzens in Verbindung mit denen des Verstandes zu handeln. Wissenschaft und Verstand dürfen nicht nur 31
als Mittel zur Erreichung von Zielen ausgebeutet werden, die unabhängig von ihnen gestellt worden sind. Aber die allgemeinen Ziele und moralischen Prinzipien selbst müssen einer kritischen Prüfung im Geiste der Wissenschaft unterworfen werden und in der wissenschaftlichen Auffassung des gesellschaftlichen Lebens eine Stütze finden.
Über den Begriff der Sittlichkeit und der Tat Um unsere Urteile fortzusetzen, wollen wir den Begriff Sittlichkeit als solchen analysieren. Wir erheben keinen Anspruch auf eine vollständige Definition, sondern wollen nur die Züge der Sittlichkeit des Individuums aussuchen, die wir für besonders wichtig halten. Erstens setzt die Sittlichkeit nicht nur das Bewußtwerden einer Handlung (darunter die Äußerung einer Überlegung), sondern auch deren Einschätzung oder zumindest die Möglichkeit ihrer Einschätzung voraus, d. h. das Bewußtwerden des Verhältnisses zwischen der vollzogenen oder beabsichtigten Handlung und einem entsprechenden Wertsystem (den Begriffen Gut und Pflicht, Norm und Ziel). Sonst weiß der Mensch nicht, „was er tut", selbst wenn er sich seiner Handlung bewußt ist, ähnlich, wie ein Kind manchmal nicht versteht, daß es schlecht handelt. Ein Tierweibchen verteidigt tapfer seine Jungen; Heldenmut hat es auch bei wilden Urmenschen gegeben. Die volle sittliche Einschätzung einer Handlung erfordert jedoch das Bewußtwerden dessen, wofür sie vollbracht wurde. Zweitens setzt die Sittlichkeit voraus, daß Werte, Urteile und Handlungen mit dem Bewußtsein anderer Menschen in Beziehung gesetzt werden; die Sittlichkeit ist eine gesellschaftliche Erscheinung. Der Begriff Sittlichkeit eines isolierten Menschen ist inhaltslos. Drittens setzt die Sittlichkeit zumindest ihre teilweise Realisierung in entsprechenden Handlungen voraus. Würde sie sich auf die Sphäre des sittlichen Bewußtseins beschränken, bliebe sie ein „Ding an sich", wäre sie nicht wirklich. Auch wenn sie nur in der Rede ausgedrückt wird, ist sie 32
schon eine Handlung, die als moralisches Urteil oder als Heuchelei gewertet wird. Der vierte Wesenszug der Sittlichkeit ist die Möglichkeit der Wahl (zumindest einer gedachten); ist diese Möglichkeit nicht vorhanden, so kann auch von Sittlichkeit nicht die Rede sein. Ein besonderer Zug der Sittlichkeit ist schließlich das, was man axiomatischen Imperativ oder unbedingtes Gebot nennen darf. Solange der Mensch überlegt, Argumente und Möglichkeiten abwägt usw., tritt das sittliche Bewußtsein noch nicht in reiner Form hervor. Doch es kommt der Moment der Entscheidung und des Handelns, da der Mensch, mitunter sogar gegen die Beweisgründe des Verstandes handelt und nur dem sittlichen Gebot folgt, das tiefere Wurzeln hat. Diese innere sittliche Überzeugung beruht auf dem Gefühl und ist vor allem das Resultat der Aneignung gesellschaftlicher Lebenserfahrung. Die „Zelle", in der die Sittlichkeit als Einheit von Bewußtsein und Handlung hervortritt, ist die Tat: die bewußt gelenkte, vollendete Handlung oder Tätigkeit des Menschen. Die Tat setzt sich aus folgenden Momenten zusammen: dem Ziel oder den Absichten; dem Plan ihrer Verwirklichung; der Anregung zur Tätigkeit oder dem Willen, der die Absichten in Handlungen verwandelt; der Wahrnehmung der letzteren und ihre Aneignung durch den Menschen. Ziel, Plan und Wille gehören zum Bewußtsein; die Tätigkeit vollzieht den Übergang vom Bewußtsein zu den Resultaten und Folgen, und diese wiederum widerspiegeln sich im Bewußtsein. Formal gesehen ist das eine gewöhnliche Kette mit Rückverbindung. In diesem Schema ist, abgesehen vom Komplex der äußeren Bedingungen, auch das Subjekt der Sittlichkeit ausgeklammert: der Mensch. Auch er ist eine Bedingung der eigenen Tätigkeit - durch die Gründe, die ihn veranlassen, sich das gegebene Ziel zu stecken, durch seine Wertorientierung, seine unterbewußten Bestrebungen, seine Fähigkeiten, seinen Charakter, seine rein physischen Möglichkeiten. Hinter all dem stehen natürlich die der Persönlichkeit des Menschen vermittelten sozialen Bedingungen, doch „wirken" sie hier durch ihn. Gewöhnlich vergißt man das, und häufig, wenn einer sich über die Bedingungen beklagt, läßt er sich 2-360
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selbst außer acht als die Bedingung, die die Verwirklichung guter Absichten verhinderte: die eigene Faulheit, Feigheit, Unfähigkeit, vielleicht auch Dummheit. In diesem Schema der Handlung ist die Moral direkt in das Ziel einbezogen. Der Plan bestimmt das, was zur Erreichung des Ziels getan werden muß. Entsprechend tritt die Handlung als eine vom Ziel bestimmte Notwendigkeit auf. Die von der Moral geforderte Notwendigkeit wird Pflicht genannt; vom Gesichtspunkt der Moral aus ist die Handlung das, was getan werden muß. Im Anlaß der Handlung tritt das in Erscheinung, was man moralisch-willensmäßige Eigenschaften nennt; sie kennzeichnen die Fähigkeit, die Absichten in die Tat umzusetzen (oder zurückzuhalten). Die Handlung schließt das Subjektive (das lenkende Bewußtsein) und das Objektive (die äußere Handlung selbst) ein, durch das die subjektive Absicht in das.Resultat „übergeht". Deshalb nimmt das Moment des Übergangs zur Handlung (das Willensmoment) einen besonderen Platz ein: es gleicht einem Schalter, der den Strom der sittlichen Absichten in die äußere Materie einläßt. Die Resultate und Folgen selbst liegen objektiv außerhalb des Rahmens der Sittlichkeit. Doch sie kehren zu ihr über die Wahrnehmung zurück. Der Mensch sieht, was er getan hat, und reagiert so oder so auf die Resultate seiner Handlung.
Allgemeine Schlußfolgerungen über den Zusammenhang von Erkenntnis und Sittlichkeit Das oben betrachtete Schema der Handlung braucht nicht unbedingt mit der Sittlichkeit verbunden zu sein: es trifft auf jede zielgerichtete Tätigkeit zu und stellt folglich den eigentlichen Prozeß der Erkenntnis und dessen Überprüfung durch die Praxis dar, was als einfaches Experiment bezeichnet werden darf. Auch das Ziel eines Experiments ist die Erkenntnis, und deshalb ist es wichtig, das Resultat wahrzunehmen und daraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. Im Falle einer sittlichen Handlung tritt dieser Aspekt jedoch als etwas Sekundäres auf. Nichtsdestoweniger werden das Resultat und 34
die Folgen, wenn nicht vom Handelnden selbst, so doch von anderen Menschen wahrgenommen, d. h. das Moment der Erkenntnis ist unweigerlich vorhanden. Die ursprüngliche Einheit des moralischen und Erkenntnisaspektes der Praxis widerspiegelt sich z. B. im Wort „Wahrheit", das den Begriff der objektiven Wahrheit und moralischen Richtigkeit ausdrückt. Dasselbe kann man vom Sinn der Worte »Gesetz" und „Sollen" sagen. In dieser ursprünglichen Einheit liegen die Quelle und das Fundament der Verbindung von Wissenschaft und Sittlichkeit: Beide sind das Resultat der Entwicklung zweier miteinander verbundener Aspekte der menschlichen Praxis. Die gleiche ursprüngliche Wechselverbindung ist auch im Ausgangspunkt der Tätigkeit, im Ziel, beschlossen. Das Ziel ist die Einheit zweier Seiten: einer subjektiven und einer objektiven. Im subjektiven Sinne ist das Ziel das Gewünschte, das, was der Mensch für gut hält und erreichen möchte. Im objektiven Sinne ist das Ziel das Mögliche, das, was verwirklicht werden kann, oder dem Menschen zumindest als möglich erscheint. Die Bewertung der Möglichkeit hängt jedoch vom Wissen ab. Wenn sich der Mensch ein Ziel stellt, denkt er, daß es erreichbar ist. Der Mensch stellt sich nicht ein Ziel, von dem er genau weiß, daß er es nicht erreichen kann. Auch die Vorstellung vom Guten hängt vom Wissen ab. Den Hunger stillen, ist zweifellos etwas Gutes, doch es kann zu einem Übel für den Hungernden werden, wenn er auf einmal zu viel ißt. Und das muß man wissen. Man könnte zahllose Beispiele dieser Art nennen. Folglich liegt schon im zielgerichteten Charakter der praktischen Tätigkeit und in ihrer Rolle für die Erkenntnis die Verbindung zwischen dem Streben nach dem Guten und dem Wissen: die Tätigkeit ist auf das Gute gerichtet, doch die Auffassung von Wohl und Gut, die Auffassung von der Realität des Ziels, von Schaden oder Nutzen hängt vom erworbenen Wissen ab. Die Erkenntnis, die Wissenschaft, wird von dem gleichen Streben nach dem Guten angeregt wie die Sittlichkeit, beide sind auf den gesellschaftlichen Nutzen gerichtet. So liegt schon in den Ursprüngen der Wissenschaft und Sittlichkeit ihre innere Verbindung, deren Kern die dem Begriff Ziel innewohnende Einheit des 35 2'
Subjektiven und Objektiven, des Gewünschten und des Möglichen, bildet. Sittlichkeit setzt Bewußtsein voraus. Sie entstand in dem Maße, wie die Menschen sich der Resultate ihrer Handlungen bewußt wurden und Verbote dessen ausarbeiteten, was Schaden brachte, und das Nützliche förderten. Der Ursprung der Moral liegt folglich in der Wahrnehmung des Resultats, im letzten Ulied unseres Schemas der Handlung, das die Erkenntnis einschließt (natürlich nicht nur des Menschen, der die Handlung ausführte, sondern auch anderer Menschen). Das erste Glied der Handlung, das Ziel, und das Phänomen der bewußten Zielsetzung selbst entwickelten sich aus instinktiven und reflektorischen Bestrebungen, die die Handlung auf die Erreichung eines äußeren Gegenstandes lenken. Aus der Erkenntnis dieser Bestrebungen ergibt sich das einfachste bewußte Ziel. Das „Bewußtsein" ist aber doch nichts anderes, als der Übergang von der Wahrnehmung oder der Emotion zum Wissen. „Die Art, wie das Bewußtsein ist, und wie etwas für es ist, ist das Wissen6 Folglich beginnt, trivial gesehen, das sittliche Bewußtsein mit dem Wissen. Die Moral wurde und wird von den Menschen ausgearbeitet in dem Maße, wie sie sich ihrer Tätigkeit und deren Resultate, ihrer gegenseitigen Beziehungen, ihrer eigenen Bedürfnisse bewußt werden. Sie widerspiegelt ihr Sein. Der Unterschied zwischen Moral und Wissenschaft besteht folglich nicht darin, daß die Wissenschaft die Wirklichkeit widerspiegelt, die Moral aber nicht. Der Unterschied liegt im Charakter dieser Widerspiegelung. Das Produkt der Wissenschaft ist das Wissen, die Feststellung des objektiven Seins, während die Moral durch das Wissen zu Weisungen aufsteigt. Für die Wissenschaft tritt das Sein nur in Form des Objektes auf. Die Sittlichkeit wiederum drückt auch das Subjekt selbst aus, sie widerspiegelt sein Streben, seine Interessen u. a. m. - und wendet entsprechend ihre Weisungen an das Subjekt, an sein Bewußtsein, durch das sie sein Verhalten lenkt. Die Widerspiegelung der Wirklichkeit in der Moral wird häufig durch falsche, phantastische Vorstellungen entstellt. Aber genauso wurde und wird das Wissen durch falsche 6
Marx/Engels: Werke, Ergänzungsband,T. I,S. 580. 36
T.heorien und Anschauungen entstellt. Die Bewegung der Erkenntnis von der mythischen Erklärung der Erscheinungen zur quasiwissenschaftlichen und weiter zur wissenschaftlichen bleibt nicht stehen; die Prinzipien der Wissenschaft entwikkeln sich. Genauso geht der Prozeß der Befreiung der Sittlichkeit vom religiösen, mythologischen Denken u. dgl. m. weiter. Doch die wissenschaftliche Selbsterkenntnis des Menschen bleibt hinter seiner Erkenntnis der äußeren Welt zurück. Als die exakten Gesetze der Mechanik entdeckt wurden, gab es keine eigentliche Wissenschaft von dem Menschen und der Gesellschaft. Doch in den letzten hundert Jahren stellte sich die Selbsterkenntnis des Menschen in seinem individuellen und gesellschaftlichen Sein entschieden auf den Boden der Wissenschaft. Folglich geht auch die Sittlichkeit immer mehr von dieser wissenschaftlichen Selbsterkenntnis des Menschen (des Individuums und der Gesellschaft) aus. Diese Verbindung ist nicht einfach, dieser Prozeß geht nicht glatt vonstatten. Man darf deshalb jedoch nicht leugnen, daß die Entwicklung der Wissenschaft und die mit ihr verbundene Entwicklung der wissenschaftlichen Weltanschauung unweigerlich das wissenschaftliche Herangehen an die Probleme der Moral hervorbringt, um so mehr, wenn die Wissenschaft immer aktiver auf das gesellschaftliche Leben einwirkt. Man erinnere sich ferner, daß eine der Bedingungen, die den Begriff Moral bestimmen, die Möglichkeit der Wahl ist (als Bewußtsein der Möglichkeit der Wahl und als ihre reale Möglichkeit). Damit die Wahl verwirklicht wird, bedarf es einer Übereinstimmung des Bewußtseins mit den realen Möglichkeiten. Widrigenfalls kann geschehen, daß die Wahl nicht realisiert wird oder zu unerwünschten Resultaten führt. Mit anderen Worten: Die reale Freiheit der Wahl wird durch das Wissen gewährleistet. Die Rolle des Wissens als Bedingung der realert Freiheit ist längst bekannt: Die Freiheit ist die Fähigkeit und Möglichkeit, mit Sachkenntnis zu handeln. Tiefe Kenntnis aber wird durch die Wissenschaft gegeben, es ist die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten. Deshalb ist eine entwickelte Sittlichkeit, die die Tätigkeit des Menschen auch in einigermaßen schwierigen Bedingungen plant, ohne Wissenschaft unmöglich. 37
Dadurch, daß das Wissen feststellt, was in Wirklichkeit möglich oder unmöglich ist, bestimmt es, wann das gedachte Gute real, und wann es unreal ist. Also kann man sagen: Obwohl das Wissen Gutes und Böses an sich nicht bestimmt und die Wahl, die der Mensch trifft, nicht determiniert, so bestimmt es doch zumindest den Bereich der möglichen Wahl. Die Erweiterung des Wissens vergrößert den Bereich dessen, wozu sich der Mensch bewußt verhalten und folglich, wo er eine bewußte Wahl treffen kann, d. h. das Wissen erweitert den Bereich der Sittlichkeit. In dem Maße, wie die Erkenntnis die realen Möglichkeiten erweitert, räumt sie die Pseudomöglichkeiten aus und wirkt somit wiederum auf den Bereich und den Inhalt der Sittlichkeit ein. So werden die religiösen und utopischen Wunschträume durch realere, wissenschaftlich erkennbare Perspektiven verdrängt. Der unmittelbare Einfluß des Wissens auf die Sphäre der Moral wird ergänzt durch den Einfluß, den es durch die Verwirklichung der wissenschaftlichen Resultate in der Praxis, die Veränderung des Lebens der Menschen und folgende Widerspiegelung dieser Veränderungen in den neuen sittlichen Problemen und Begriffen ausübt. Der Mensch zieht häufig nur das in Betracht, was an der Oberfläche liegt, und riskiert, die realen Möglichkeiten unbeachtet zu lassen. Solche Extreme lassen sich nur dann vermeiden, wenn man wie der Wissenschaftler yerfahrt, d. h., sich vom vorhandenen Wissen leiten läßt, sich bemüht, es zu erweitern und zu verstehen, daß man es nicht verabsolutieren darf. Indem die Wissenschaft die Gesetze der Wirklichkeit aufdeckt, legt sie das prinzipiell Mögliche fest, d. h. das, was mit diesen Gesetzen übereinstimmt, und das prinzipiell Unmögliche, das ihnen widerspricht. Darauf rechnen, daß man ein Resultat im Widerspruch zu den Gesetzen der Natur und der gesellschaftlichen Entwicklung erzielen kann, bedeutet, mit einem Wunderrechnen. Sich solche Ziele zu stecken, wenn die entsprechenden Gesetze bereits bekannt sind, ist albern und, unserer Ansicht nach, unsittlich. Noch bevor es eine Wissenschaft von der Gesellschaft gab, wurden Gesetzmäßigkeiten in den menschlichen Beziehungen und im menschlichen Verhalten durch moralische Sentenzen ausgedrückt: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten", 38
„Mut verloren, alles verloren" usw. Die Wissenschaft vom Menschen, von der Gesellschaft, gibt und wird noch viele genaue und tiefe Weisungen geben, doch das Wesen der Verbindung von Wissen und Moral in ihnen deckt sich mit dem der althergebrachten Volksweisheit. Folglich wirkt sich das Wissen sehr stark auf die Sphäre der Sittlichkeit aus, denn es erweitert den Bereich dessen, wozu der Mensch sich bewußt verhalten kann, es deckt die realen Möglichkeiten auf und beseitigt die illusorischen, zeigt die möglichen Folgen und entdeckt neue Mittel zur Erreichung der Ziele; die unrealen Ziele werden beseitigt, doch es treten neue Ziele auf, die real sind. Dadurch verändert sich der Umfang und der Inhalt des Begriffs des Guten, es verändert sich das Wertsystem, in Beziehung zu dem die Sittlichkeit bestimmt wird. Es genügt, das Wertsystem des gläubigen Christen und das des Marxisten gegenüberzustellen, um den Umfang der Veränderungen zu erkennen, die die wissenschaftliche Erkenntnis bewirkt hat.
Der Zusammenhang von Erkenntnis und Sittlichkeit in der Tätigkeit Wir sind also zu dem Schluß gekommen, daß die Wahl und die Verwirklichung der Ziele maßgeblich vom Wissen abhängen, da dieses es ermöglicht, die realen Ziele "von den unrealen zu unterscheiden. Außerdem gewährleistet das Wissen die Berücksichtigung der Bedingungen, unter denen die Handlung ausgeführt wird. Der unmittelbare Übergang zur Handlung hängt von dem Willen ab, der durch das entsprechende Wissen gestärkt oder durch die Unsicherheit geschwächt werden kann, die eine Unzulänglichkeit oder Unzuverlässigkeit des Wissens hervorrufen. Es folgt dann die Fähigkeit, zu handeln - hier liegt die Rolle des Wissens auf der Hand. Das Ergebnis schließlich ist das Bewußtwerden des Resultats und der Folgen der Handlung. Dieses Moment kann aus der Sittlichkeit nicht entfernt werden. Die Handlung eines Menschen ist nicht nur das, was er tun wollte oder nicht wollte, sondern das, was in Wirklichkeit geschah und deshalb seinen Inhalt und seine Folgen schon unabhängig von der Absicht des Menschen hat. Gerade in dieser ihrer 39
Objektivität tritt die Handlung vor anderen Menschen auf. Das Moment der Erkenntnis, das die Handlung abschließt, ist für die Sittlichkeit notwendig, und seine Wichtigkeit wird durch die Bedeutung unterstrichen, die dem Gewissen verliehen wird als der Fähigkeit des Menschen, auf die Resultate seiner Handlungen zu reagieren. Obwohl die Absicht des Menschen auf die Erzielung von Resultaten gerichtet ist - sonst hätte sie ja keinen Sinn besteht zwischen den Absichten und den Resultaten bei weitem nicht immer volle Übereinstimmung. Dieser reale Widerspruch wird gelöst, wenn die Menschen, nachdem sie die Nichtübereinstimmung des Resultats mit ihrenAbsichten und Zielen entdecken, sich darüber klar zu werden suchen, welche Bedingungen und Mittel die notwendige Übereinstimmung hätten gewährleisten können, oder sie ändern selbst die Ziele, sobald sie sich von der Unerreichbarkeit ihres ursprünglichen Ziels überzeugen. Ein konkreter Mensch ist nicht immer solchen Handlungen gewachsen, doch ihnen gewachsen sind andere Menschen, die sich auf die Erfahrung ihrer Vorgänger stützen. Gerade so vollzieht sich der Prozeß der Erkenntnis: Der Mensch wird sich des Resultats seiner Handlungen bewußt, er eignet sich dieses Resultat an; notwendigenfalls führt er eine zusätzliche Untersuchung durch, deren Resultate er sich wiederum aneignet und zusammen mit den früheren in seiner Tätigkeit berücksichtigt. Die Erkenntnis, die früher unbekannte Möglichkeiten aufdeckt, bringt zugleich neue Ziele, Wünsche und Absichten hervor und regt mithin zu neuer Tätigkeit an, die wiederum neue Aufgaben stellt usw. usf. Der Widerspruch der Ziele und Resultate verschwindet nicht, sondern tritt jedesmal - auf einer höheren Stufe wieder auf. Man kann sagen, daß dieser Widerspruch die Initialtriebkraft der Erkenntnis ist. Würde etwa das Erkenntnisbedürfnis anhalten, wenn alle Wünsche des Menschen befriedigt, alle seine Absichten erfüllt und alle Ziele erreicht sind? Das gleiche trifft auf die Sphäre der Sittlichkeit zu: Wenn das Resultat den Absichten nicht entspricht, versucht der Mensch, sein Tun zu korrigieren, er zieht Lehren für die Zukunft und ändert sogar seine Ziele und Prinzipien, wenn er ihre Unrealität oder die Unerwünschtheit der Folgen sieht, 40
die sie gehabt haben. Kurzum, der Mensch setzt stetig die Erkenntnis der Welt fort und zieht aus seiner Erkenntnis sittliche Lehren. Somit wird der Widerspruch zwischen der Einschätzung der Handlung nach den Absichten und nach den Resultaten durch die Entwicklung der Sittlichkeit selbst gelöst. Doch führt diese Lösung zur Wiederherstellung desselben Widerspruchs auf einer höheren Stufe. Die neuen sittlichen Absichten werden wie die früheren nicht genau realisiert, die Ziele nicht sofort erreicht, und wiederum wird die Suche nachbesseren Wegen fortgesetzt. Eine stillstehende, erstarrte, dogmatisierte Sittlichkeit berücksichtigt nicht die Resultate ihrer Anwendung, sie trägt dem Leben nicht mehr Rechnung und hört dadurch auf, eine reale Sittlichkeit zu sein; sie bleibt ein Reliktphänomen des Bewußtseins. Zur Frage nach der sittlichen Einschätzung der Handlung zurückkehrend, kann man sagen, daß man sie nicht nur nach den Absichten einschätzen soll, sondern unbedingt auch unter Berücksichtigung dessen, inwieweit der Mensch in seinen Absichten und deren Verwirklichung der objektiven Wirklichkeit Rechnung trägt, inwieweit es ihm um die Realität des Ziels und des Plans, um die Berücksichtigung der Resultate und Folgen geht. Mit der Reue im Falle bedauerlicher Resultate ist es noch nicht getan, es sollen auch Lehren gezogen und bessere Lösungen gesucht werden; Das ist eine Forderung des vernünftigen Gewissens, das nicht nur Selbstvorwürfe, sondern auch Vervollkommnung verlangt. Das ist eine Absage an die sittliche Selbstberuhigung, eine Bekräftigung der stetigen Suche nach dem Besseren. Die echte Sittlichkeit besteht nur in ihrer Entwicklung, die einerseits durch die sich ewig verändernde objektive Wirklichkeit, andererseits durch die stetige Nichtübereinstimmung der Resultate und Ziele stimuliert wird, welche durch die Erkenntnis überwunden wird. Die mit dem Wissen beginnende und gemeinsam mit diesem sich erweiternde Sittlichkeit geht ständig von der Feststellung des Wissens zum Gebot der Moral über, von diesem zur Handlung, von der Handlung wiederum zum Wissen usw. Indem der Mensch durch das Wissen die äußeren Umstände und sein eigenes Sein beleuchtet, bestimmt er seine sittlichen Wege. 41
Der Geist der Wissenschaft Das Wissen und die darauf beruhenden Vorstellungen können als Materie, als Inhalt der Wissenschaft bezeichnet werden, die Form der Bewegung der Wissenschaft aber ist ihre Methode, die Gesamtheit des Herangehens, der Kriterien und Methoden, die die Suche lenken und die Behauptung der Wahrheit bestimmen, kurzum, all das, was man mit einem Wort Wissenschaftlichkeit nennen und, zusammenfassend, als ein solches Herangehen an den Gegenstand bezeichnen kann, das die Möglichkeit seiner Erkenntnis gewährleistet. Ohne entsprechende Methoden kann man begreiflicherweise kein, auch nur einigermaßen tiefes Wissen erlangen, und ohne die entsprechenden Kriterien kann man weder die Richtigkeit der Beobachtung noch die Richtigkeit der Schlußfolgerung einschätzen, kann man die Wissenschaft nicht von einer Summe zufalliger Kenntnisse oder von einer Pseudowissenschaft, z. B. der Aichemie, unterscheiden. Die Kriterien und Methoden der Wissenschaftlichkeit wohnen der Wissenschaft selbst inne. So schließt z. B. die Mathematik die Methoden der Gewinnung ihrer Resultate, die Methoden der mathematischen Beweisführung und Schlußfolgerung in sich ein. Die Kriterien und Methoden der Wissenschaft bestehen natürlich nur insofern, als die Menschen diese Kriterien akzeptieren und mit den entsprechenden Methoden operieren. Der Wissenschaft liegen das Streben nach Erkenntnis der Wahrheit und die Tätigkeit des Menschen zugrunde. Deshalb ist eine Verbindung von Worten wie „falsche Wissenschaft" ebenso absurd wie „schwarzes Weiß". Der Geist der Wissenschaft ist die Suche nach der Wahrheit; das ist die Wissenschaftlichkeit mit ihren Kriterien und Methoden, das in der Suche, Aufdeckung und Behauptung der Wahrheit verkörperte Streben nach Erkenntnis, das im Prinzip auf alles gerichtet ist, was in der Welt existiert (ob nun in der äußeren Natur oder im Menschen selbst). Leider lassen viele, die von der Wissenschaft, namentlich von ihrem Verhältnis zur Sittlichkeit reden, gerade das Wesen der Wissenschaft außer acht, das in der Suche der Wahrheit zum Ausdruck kommt. Sie betrachten die Wissenschaft äußerlich: nach den Anwendungen, dem Wachstum u. a. m. 42
Dadurch wird die Wissenschaft gleichsam in eine dem Menschen äußerliche Kraft verwandelt. Allerdings ist sie das für diejenigen, die das Wesen der Wissenschaft nicht verstehen und nur ihre technische Anwendung sehen. Die besondere Rolle der Wissenschaft in der heutigen Gesellschaft hat auch dazu geführt, daß sich mit ihr häufig Menschen befassen, denen es weniger um die Wahrheit, als um die eigene Karriere geht. Aber nach solchen Erscheinungen über die Wissenschaft zu urteilen, ist ungefähr dasselbe, wenn man nach der Prostitution über die Liebe urteilen wollte. Das verdeckt vor den Menschen den wahren Geist der Wissenschaft mit seiner leidenschaftlichen, kompromißlosen und zugleich streng kontrollierten Suche nach der Wahrheit. Wo dieser Geist fehlt, verschwindet aus dem Gesichtsfeld die wesentliche Verbindung der Wissenschaft mit der Sittlichkeit. Auch wird außer acht gelassen, daß die Wissenschaft die Selbsterkenntnis des Menschen einschließt. Daß aber die Selbsterkenntnis - sowohl des Individuums als auch der Gesellschaft - eine Voraussetzung für die Entwicklung der Sittlichkeit ist, haben bereits die Menschen des Altertums verstanden. Manche Menschen erblicken einen fundamentalen Unterschied zwischen dem sittlichen und dem wissenschaftlichen Bewußtsein in dem axiomatischen Pflichtgebot des letzteren. Das ist jedoch falsch, denn auch dem sittlichen Bewußtsein liegt axiomatisches Pflichtgeböt zugrunde: das Streben nach der Wahrheit und die Achtung der Wahrheit, die Akzeptierung der Normen der Wissenschaftlichkeit, das unbedingte Einverständnis mit dem, was durch Tatsachen und Logik bewiesen wird. Der Mensch, der auf dem Boden der Wissenschaft steht, akzeptiert ihre Argumente und Schlußfolgerungen, doch es gibt andere Menschen, die diesen Argumenten und Schlußfolgerungen nicht Rechnung tragen und sich für die Aufklärung der Wahrheit nicht interessieren. Solche Menschen wenden sich z. B. nicht einer Untersuchung der Tatsachen zu, sondern rufen eine Autorität an. Im allgemeinen, d. h. jenseits der speziellen wissenschaftlichen Probleme betrachtet, steht die Frage so: Ist für den Menschen das Streben nach Wahrheit und deren Achtung ein unbedingtes Gebot, akzeptiert er es als imperativische 43
Norm? Wer das bejaht, anerkennt das wissenschaftliche Prinzip der Sittlichkeit. Da aber das Erlangen objektiven Wissens schwierig und diesem Rechnung zu tragen nicht immer angenehm ist, ruft die Forderung, im Geiste der Wissenschaft zu handeln, häufig Protest hervor, und es wird eine moralische Position ins Treffen gefuhrt, die das Streben nach Erkenntnis der Wahrheit und ihr Rechnung zu tragen aus der Sittlichkeit eliminiert. Die Tatsache, daß Menschen Lügen akzeptieren, spricht um so mehr für die Wichtigkeit des wissenschaftlichen Prinzips der Sittlichkeit mit der ihm immanenten Ablehnung der Leichtgläubigkeit und der Forderung nach Beweisen. Die erste und wichtigste Forderung der Wissenschaftlichkeit ist die Objektivi tat, die sich etwa so formulieren läßt: Bei der Betrachtung des Gegenstandes möglichst alles Persönliche auszuschalten; es darauf anzulegen, zu untersuchen und zu begreifen, „wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhalten", und sie nicht so nehmen, wie sie auf den ersten Blick scheinen oder wie man sie haben möchte; den Tatsachen und der Logik Rechnung zu tragen und sich nicht von eigenen Vorurteilen oder den Ansichten von Autoritäten leiten zu lassen. Wie sehr ein Physiker auch wünschen mag, daß das Experiment seine Hypothese bestätige, er kann die Ergebnisse des Experiments doch um kein Jota revidieren. Wissenschaftliche Objektivität setzt unbedingte Ehrlichkeit voraus, unbedingte Anerkennung der Wahrheit und eine Bescheidenheit, die es nicht gestattet, die eigenen Wünsche und Meinungen über die Argumente der Tatsachen und der Logik zu stellen oder diese Argumente den Ansichten von Autoritäten unterzuordnen. Deshalb schließt der Geist der Wissenschaft jede Anpassungsmentalität aus. Wissenschaftliche Aktivität setzt Empfänglichkeit für Kritik und Selbstkritik voraus. Der Wissenschaftler akzeptiert stets einen begründeten Einwand und gibt einen bewiesenen Fehler zu, wie unangenehm ihm das auch sein mag. Er prüft sich selbst, indem er die möglichen Einwände antizipiert. Wissenschaftliches Schaffen vereinigt immer Ahnungen, Hypothesen und Phantasie mit einer streng kritischen Einstellung. Die Wissenschaft sucht das Gesetzmäßige und. Wesentliche, dies aber liegt nicht an der Oberfläche. Deshalb schließt der Geist der Wissenschaft Oberflächlichkeit aus und 44
fordert ein tiefes Eindringen in den zu untersuchenden Gegenstand, Beharrlichkeit der Suche und Einfühlung. Man könnte einwenden, diese Züge seien der Sittlichkeit entlehnt, sie seien keine eigentlichen Merkmale der Wissenschaft. Das stimmt nicht. Die Wissenschaftlichkeit sagt zwar nicht, daß Tatsachen entstellen, unkritisch seien usw. übel sind, doch sie sagt, daß sich auf diese Weise die Wahrheit nicht finden läßt. Unter bestimmten Umständen kann die Verheimlichung einer Wahrheit als sittlicher Akt qualifiziert werden (z. B., wenn man einem Kranken den unvermeidlich letalen Ausgang der Krankheit verschweigt), aber dadurch wird diese Handlung doch nicht wissenschaftlich. Folglich gehört die Forderung nach Wahrheitstreue, Selbstkritik usw. der Wissenschaft selbst; sie ist eine innere Bedingung ihrer Entwicklung. Auf der Suche nach der Wahrheit befindet sich der Wissenschaftler in einer Lage, in der nicht er entscheidet, sondern die Entscheidung abwarten muß. Anders der Praktiker, der durch Einwirken auf die Natur das notwendige Resultat erzielen will. Das Verwechseln der praktischen Position, der ingenieurtechnischen Position mit der wissenschaftlichen ist eine weitere Ursache der Einbuße des sittlichen Sinnes des Geistes der Wissenschaft. Die wissenschaftliche Wahrheit drückt aus, was stattfindet (ob wir es nun wollen oder nicht); sie hängt nicht von der sittlichen Wahl ab; sie zu leugnen ist albern, obwohl man versuchen kann, sie zu verbergen. Deshalb ist sie das Primäre in Beziehung zu der Sittlichkeit und muß von dieser berücksichtigt werden. Doch die Handlungen des Menschen hängen von seiner Wahl ab, und deshalb geht die Sittlichkeit notwendigerweise der Ingenieurposition voraus. Der Unterschied dieser Positionen verschärft sich ungemein beim Übergang in das Gebiet der gesellschaftlichen Erscheinungen. Die Wissenschaft ist bestrebt, die objektiven Tendenzen und Möglichkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zu erfassen, während das „soziale Ingenieurwesen" sich getraut, die Gesellschaft umzugestalten. Die Tätigkeit des letzteren kann nur dann sittlich und effektiv sein, wenn sie sich auf die Wissenschaft stützt, sie ist aber unsittlich, wenn sie selbstherrlich auf eine Veränderung des Lebens lossteuert, sich dabei aber nur von den eigenen vorgefaßten Anschauungen 45
leiten läßt und die objektiven Tendenzen und Möglichkeiten nicht zu beachten wünscht (was für die Politik des Voluntarismus, die unterschiedlichen „linken" Abweichungen, den Putschismus u. ä. m. charakteristisch ist). Zuverlässiges Wissen ist das stärkste Fundament der Überzeugungen. Der Physiker z. B. zweifelt nicht an der Existenz der Moleküle. Die Achtung des Wissenschaftlers vor der Wahrheit soll sich jedoch nicht in Götzendienst verwandeln. Sie muß einhergehen mit der Bereitschaft, die eigene Vorstellung von der Richtigkeit eines beliebigen wissenschaftlichen Leitsatzes zu revidieren, zu präzisieren und zu entwickeln, falls die Tatsachen und die Gesetze der Logik es erfordern. Deshalb ist die Festigkeit der wissenschaftlichen Überzeugung unvereinbar mit Dogmatismus und Fanatismus, genauso wie die wissenschaftlich-kritische Mentalität, die bereit ist, jeden gegebenen Leitsatz in Zweifel zu ziehen, nichts gemein hat mit Skepsis, weil sie zur Vertiefung, Präzisierung und Entwicklung des Wissens führt. Die Bereitschaft zur Überprüfung der bestehenden Leitsätze und Theorien, die Aufgeschlossenheit für die unerwartetsten Dinge, die in der Natur auftauchen können, machen die wahre Wissenschaftlichkeit revolutionär. Doch bei all ihrem Wagemut ordnet sich die revolutionäre Bereitschaft unwandelbar den Kriterien der Wissenschaftlichkeit unter, trägt sie streng den Fakten, der Logik und den bereits erkannten Wahrheiten Rechnung. So verbindet der Geist der Wissenschaft die Beharrlichkeit der Suche mit der Bescheidenheit des Suchenden, den Wunsch nach Wahrheit mit strengster Kontrolle, die Gewißheit mit kritischer Betrachtung, die Überzeugtheit mit Zweifel, die unbedingte Achtung vor dem bereits erworbenen Wissen mit der Bereitschaft, dieses Wissen zu revidieren und zuversichtlich vorwärts zu schreiten auf der stetigen und endlosen Suche nach der Wahrheit.
Das wissenschaftliche Prinzip der Sittlichkeit Die Wissenschaftlichkeit kann als ein System der Normen des „wissenschaftlichen Verhaltens" definiert 46
werden, d. h. einer sinnlichen und Denktätigkeit, die zur Erkenntnis der Wahrheit führt. Die Moral wiederum ist ein System von Normen, die das Verhalten des Menschen bei der Verwirklichung der Sittlichkeit, der Erzielung des Guten lenken. Da die Verwirklichung und Formierung der Sittlichkeit die Erkenntnis der Wahrheit einschließt, muß die Wissenschaftlichkeit der Moral innewohnen. Das wissenschaftliche Prinzip ist stets so oder so in der Sittlichkeit vorhanden, obwohl es durch dogmatische, religiöse und subjektivistische Anschauungen entstellt und unterdrückt werden kann. Dieser Schluß wird durch die Analyse eines weiteren bestimmenden Merkmals der Sittlichkeit, des Bewußtseins der Korrelation zu den anderen Menschen, bekräftigt. Die Sittlichkeit beginnt damit, daß der Mensch aus dem Rahmen seines Individualismus hinaustritt und sich zu anderen Menschen als zu Subjekten und nicht nur als zu Objekten in Beziehung setzt. Der einfache Ausdruck dieser Beziehung ist die Frage: Was brauchen die Menschen? Ausführlicher lautet die Frage so: Was brauchen nicht nur die einzelnen „nahen", sondern auch die „fernen" Menschen, was braucht die Gesellschaft als Ganzes, und zwar nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft? Daraus ergibt sich erstens, daß die Sittlichkeit es fordert, die Menschen von den objektiven Positionen der Normen der Wissenschaftlichkeit aus zu betrachten (nicht nur das zu sehen, was man sehen „möchte" oder so zu sehen, „wie es scheint", sondern auch zu verstehen, „wie alles in Wirklichkeit ist"); und zweitens, daß eine ernsthafte Antwort auf die Frage nach den menschlichen Bedürfnissen bestimmte Untersuchungen zur Voraussetzung hat. Hat ein Mensch nicht das Bedürfnis, zu verstehen, was die Menschen brauchen, so sind seine Ansprüche auf Sittlichkeit inhaltslos. Andererseits kann man etwas nicht ernsthaft verstehen, wenn man nicht dem Geist der Wissenschaft folgt. Jede Überzeugung, jeder Glaube und jede Intuition, die nicht auf dem Geist der Wissenschaft beruhen, sind nur Spielarten des Subjektivismus, der das Gewand einer „Lehre" anlegt. Auf die Frage „Was brauchen die Menschen?" folgt die 47
Frage: »Was kann man tun?" Auch die Frage nach den realen Möglichkeiten fordert ein wissenschaftliches Herangehen. Ohne dieses Herangehen verwandeln sich alle frommen Wünsche früher oder später in Schall und Rauch, in Heuchelei. Entweder Sittlichkeit, die das wissenschaftliche Herangehen an • die menschlichen Probleme einschließt, oder Unsittlichkeit, die sich nicht um die Menschen kümmert eine andere Alternative ist bei der heutigen Entwicklung der Wissenschaft vom Menschen und von der Gesellschaft nicht gegeben. Eine Grundforderung des wissenschaftlichen Prinzips,mit dem wir unsere Darstellung begonnen haben, ist das Streben, sich über die Umstände Idar zu werden, den Bedingungen Rechnung zu tragen, mit Sachkenntnis und Verständnis zu urteilen und zu handeln und dabei die eigenen Handlungen und ihre möglichen Folgen vorauszuberechnen. Es ist jedoch die Meinung verbreitet, diese Forderung sei nicht genügend erhaben. Als Beweisgrund wird das Dilemma genannt: entweder Edelmut ohne Berechnung, oder Berechnung ohne Edelmut. Das reale Problem besteht jedoch nicht in einer abstrakten Gegenüberstellung von Edelmut und Berechnung schlechthin, sondern in ihrer Wechselverbindung in jeder konkreten Situation. Nichts zu berücksichtigen und sich an nichts zu kehren, wenn dazu selbst nur eine winzige Möglichkeit besteht, ist einfach dumm, unverantwortlich; es ist sogar unsittlich, wenn man nicht in Rücksicht nimmt, was andere Menschen angeht. Alles hängt davon ab, um was es geht, mit welchen Umständen und wieso man rechnen soll. Ein Mensch, der andere Menschen bei einem gefahrlichen Unternehmen anführt (ob es nun ein Raumflug, eine Bergbesteigung, eine Schlacht oder ein Aufstand ist) und dabei nichts berechnet und sich nicht an die Umstände kehrt, ist ein Verbrecher. Das sittliche Herangehen an eine ernsthafte Sache beginnt dort, wo die Forderung eingeschaltet wird, im objektiven Geist der Wissenschaft und in beharrlicher Suche nach den optimalen W ;gen zum sittlichen Ziel überlegend vorzugehen und den Umständen Rechnung zu tragen. Wie viele Opfer hat es schon gekostet, weil Menschen sich nicht die Mühe gaben, dieser Forderung Rechnung zu tragen! Die Berechnung im Geiste der Wissenschaft, die Forderung 48
nach allseitiger Berücksichtigung der Bedingungen und Möglichkeiten für die Durchführung beabsichtigter Umgestaltungen und ihrer Folgen ist mit dem Bewußtsein der persönlichen moralischen Verantwortlichkeit verbunden. Diese Berechnung ist gerade das Gegenteil der rechnerischen Überlegung der Geschäftemacher und Konjunkturritter. Die auf solcher Berechnung fußende Moral hat ihre markante Verkörperung im Wirken Lenins gefunden, das durch die unlösliche Einheit des Strebens nach wissenschaftlicher Erfassung der hohen Ziele des menschlichen Wohls und der strengsten wissenschaftlichen Berechnung der Bewegung zu diesen Zielen hin gekennzeichnet ist. Das wissenschaftliche Prinzip fordert nicht nur eine wissenschaftliche Bestimmung der Mittel und Wege zur Erreichung der sittlichen Ziele, sondern auch die Abstimmung dieser Ziele und moralischen Prinzipiell mit den objektiven Gesetzen. Das wissenschaftliche Prinzip, das Selbstherrlichkeit des Willens, Glauben,und Fanatismus ablehnt, bestimmt ein ebensolches Verhalten des Menschen zu den moralischen Überzeugungen wie das oben betrachtete Yerhalten des Wissenschaftlers zu den wissenschaftlichen Überzeugungen. Im Gegensatz zu Pharisäertum und Heuchelei fordert das wissenschaftliche Prinzip der Sittlichkeit von dem Menschen Objektivität zu sich selbst und Ehrlichkeit zu den eigenen Prinzipien und Zielen; es fordernden Tatsachen und folglich auch den eigenen Prinzipien, Uberzeugungen und Zielen in die Augen zu sehen. Wie der Mathematiker die Axiome, die er annimmt, exakt formuliert und aus ihnen strenge Schlüsse zieht, so bemüht sich jeder gewissenhafte Mensch, sich seiner Prinzipien bewußt zu werden und aus ihnen die entsprechenden Schlüsse zu ziehen, und nicht die moralischen Axiome zu einem Deckmantel für Schlüsse und Handlungen zu machen, die mit diesen Axiomen nichts gemein haben. Die Wissenschaft erlaubt es nicht, etwas auf Treu und Glauben hinzunehmen, sie fordert Argumente, duldet keine unbewiesenen Behauptungen. Wer auf Treu und Glauben ohne Beweise setzt, verletzt nicht nur den Geist der Wissenschaft, sondern auch den Menschen mit seinem unveräußerlichen Recht auf ein bewußtes Urteil. Die Alternativen-entweder Edelmut oder Berechnung, 49
entweder keinerlei Verbindung von Wissenschaft und Moral oder Reduzierung der Moral auf die Wissenschaft - entspringen einem Nichtverstehen der Dialektik. Aber gerade das dialektische Herangehen ist für die Sittlichkeit wichtig. Sein erster Zug, die Objektivität, ist zugleich die Grundforderung der Wissenschaftlichkeit, mit der, wie wir gezeigt haben, auch die echte Sittlichkeit beginnt. Außerdem setzt die Dialektik die Betrachtung des Gegenstandes in allen seinen Verbindungen und Mittelbarkeiten, in seiner Entwicklung voraus. Die sittliche Bedeutung dieser Forderungen ist enorm: Einseitigkeit ist wie die Mißachtung der Entwicklung (und folglich auch der Folgen) eine ständige Quelle moralischer Fehler. Allseitigkeit bedeutet Berücksichtigung nicht nur der materiellen, sondern auch der geistigen, nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren, jedem Menschen immanenten subjektiven Momente und Faktoren. Allseitig verstandener Nutzen ist nicht nur ein materieller, sondern auch ein sittlicher Nutzen, ein sittlicher Effekt der Handlungen des Menschen. Nehmen wir ein anderes Element der Dialektik wie die „Konkretheit der Wahrheit". Es liegt auf der Hand, wie wichtig es in moralischen Fragen ist, nicht allgemein zu urteilen und zu entscheiden, sondern in jeden konkreten Fall einzudringen und sich mit ihm auseinanderzusetzen. Der Grundzug der Dialektik, ihr Wesenskern ist die objektive Elastizität der Begriffe, die bis hin zur Einheit der Gegensätze geht. Nicht die subjektive Elastizität der Sophistik, sondern die Elastizität, die die Vielseitigkeit, die innere Kompliziertheit des . Gegenstandes selbst widerspiegelt. Die Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit des Lebens machen diesen Zug der Dialektik zu einer notwendigen Bedingung der Moralität der Entscheidung. Das metaphysische Herangehen an die sittlichen Probleme führt unvermeidlich zu moralischen Fehlschlüssen, zu antihumanen Entscheidungen, da über die moralische Forderung, die nicht konkret, nicht elastisch, sondern abstrakt und starr angewandt wird, das lebendige Leben und der lebendige Mensch aus dem Gesichtskreis verschwinden. Die Dialektik betrachtet alles in seiner Entwicklung, sie anerkennt kein Absolutes. Selbst der unbedingte Imperativ der Sittlichkeit ist nur ein Moment in ihrer Entwicklung: 50
Auch die moralischen Imperative sind stetig zu überprüfen und zu vertiefen — so z. B., wie man die Axiome der Mathematik vertieft und revidiert. Das Leben ist ein Prozeß, die Menschen selbst sind seine Schöpfer. Deshalb kann das Gute nur im Prozeß seines Werdens, im Prozeß des Aufstiegs zu größerem Guten verstanden werden, ähnlich, wie die Frage nach der Wahrheit mit der Entwicklung der Erkenntnis gelöst wird. Das kleinmütige Bewußtsein gerät in Verwirrung beim Anblick der sich hier eröffnenden Unendlichkeit der Bewegung. Es möchte, daß jemand augenblicklich, auf der Stelle, genau bestimme und beantworte, was richtig und was unrichtig ist, was sein soll, und was nicht. Es gibt jedoch keine letzten endgültigen Antworten; sie formieren sich im Prozeß der menschlichen Tätigkeit, in der Erkenntnis und im Schaffen des Lebens, im endlosen Aufstieg zu immer höherer Sittlichkeit. Die Metaphysik stellt nur die Wahrheit dem Guten, die Wissenschaft der Sittlichkeit gegenüber, doch das Wesen sind ihre Wechselverbindungen, die Verbindung von Erkenntnis und Praxis, der stetige Übergang der Idee des Wahren in die Idee des Guten, der Theorie in die Praxis und umgekehrt, wie Lenin in den „Philosophischen Heften" geschrieben hat. Dort finden wir auch entsprechende Auszüge aus Hegel, u. a.: „... die Idee des Guten kann ... ihre Ergänzung allein in der Idee des Wahren finden". Es sei bemerkt, daß die Praxis auf die Erreichung des Guten gerichtet und mithin mit der „Idee des Guten", die Theorie wiederum, die Erkenntnis, die Wissenschaft mit der „Idee des Wahren" verbunden ist. Man vergleiche in diesem Zusammenhang die Feststellung Lenins von der Notwendigkeit ihrer Verbindung mit der Kantschen Gegenüberstellung der „reinen" und der „praktischen" Vernunft. Das Wohl, das Gute sind für den Menschen das Primäre, er braucht die Wahrheit nicht als solche, sondern als Mittel zur Erzielung des höchsten Wohls. Da aber die Wahrheit in ihrer Objektivität nicht von den Wünschen des Menschen abhängt, ist sie in diesem Sinne das Primäre in Beziehung zur Sittlichkeit und muß als deren Bedingung akzeptiert werden, als unveräußerliches Element zur Bestimmung von Mitteln und sittlichen Zielen. Ohne die Wahrheit verliert die Sittlichkeit ihre Grundlage. 51
Anstelle eines Schlußwortes Die Vollkommenheit des sittlichen Bewußtseins, wie wir sie verstehen, beruht auf drei Säulen: Humanismus, Verantwortlichkeit und Wissenschaftlichkeit. Die Verantwortlichkeit fordert eine wissenschaftliche Position, diese aber, und nur diese, ermöglicht es, zu präzisieren, wie man den Humanismus verstehen soll und worin die Verantwortung des Menschen liegt. Humanismus bedeutet Menschlichkeit, Achtung der menschlichen Persönlichkeit, Anerkennung der prinzipiellen Gleichheit der. Menschen als selbstbewußter Wesen mit ihrer Fähigkeit zum Schaffen und zur Selbstentwicklung und ihrem Streben nach Freiheit. Das wiederum setzt vor allem die Anerkennung der materiellen Bedürfnisse des Menschen voraus, sonst bleiben Selbstentwicklung und Freiheit leer© Worte. Iii dieser allgemeinen Gestalt ist der Humanismus noch „abstrakt", nichtsdestoweniger aber die notwendige Bedingung des sittlichen Verhaltens zum Menschen. Die Wissenschaftlichkeit jedoch gestattet es nicht, bei diesem Standpunkt stehen zu bleiben; sie fordert seine Weiterentwicklung in Übereinstimmung mit dem Verständnis der gesellschaftlichen Natur des Menschen, in Übereinstimmung mit den historischen Bedingungen und sozialen Widersprüchen. So erheben wir uns zum konkret-historischen Verständnis des Humanismus und der Verantwortlichkeit des Menschen. Die letztere beruht darauf, daß der Mensch so oder so an allem mitbeteiligt ist, was in der Gesellschaft geschieht, daß er nicht nur ein Produkt der Umstände ist, sondern am Schaffen dieser Umstände teilnimmt und durch seine schöpferische Fähigkeit sie verändern kann. Das humanistische gesellschaftliche Ideal ist, um mit Marx zu sprechen, eine Assoziation, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Die Verantwortung ruft zum Kampf für ein solches Ideal auf, die Wissenschaftlichkeit bestimmt den Weg zu diesem Ideal und dient als Wegweiser in diesem Kampfe. Unter den heutigen Verhältnissen bedeutet das vor allem Kampf um den Menschen, Kampf gegen eine soziale Ordnung, in der das Leben der einen Menschen vollständig von der Macht- anderer abhängt. In diesem Kampf ist das tiefe 52
Verständnis der menschlichen Bedürfnisse, der objektiven Prozesse und Bedingungen der weiteren Entwicklung, die Fähigkeit, die besten Lösungen zu finden und vorauszusehen, kurzum, die echte Wissenschaftlichkeit, lebensnotwendig. Für jeden denkenden Menschen ist das beharrliche Streben nach Erkenntnis der Wahrheit über die Gesellschaft und über sich selbst wichtig. Damit die Menschen Menschen sind und nicht Werkzeuge der Umstände und irgend jemandes Willen, damit sie Subjekte sind und nicht nur Objekte des Lebensprozesses, damit sie moralisch verantwortlich sind und nicht Spießer, damit sie einen bewußten Beitrag zum heutigen Kampf und Schaffen leisten, ist für sie Verständnis und Wissen unentbehrlich wie die Luft. Die Sittlichkeit fordert ein Bewußtwerden des Sinnes des menschlichen Lebens und der menschlichen Tätigkeit, die größer ist, als das, was im Strom der Alltäglichkeit unmittelbar gegeben ist. Das ist aber nur bei einer wissenschaftlichen Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung und des Platzes des Menschen in ihr möglich. Nur in Verbindung mit der Wissenschaft, bei Einbeziehung des Geistes der Suche nach der Wahrheit, kann die Sittlichkeit ihrer Bestimmung entsprechen und ein bewußter Regulator der menschlichen Tätigkeit sein. Deshalb ist die Lostrennung der Sittlichkeit von der Wissenschaft, einerlei, wie und mit welchen Absichten sie auftritt, in Wirklichkeit nur eine Negierung jeder wahren Sittlichkeit.
G.L. Pospelow
DER MENSCH UND DIE SITTLICHEN GRUNDSÄTZE DES FORTSCHRITTS DER WISSENSCHAFT
Die moderne Wissenschaft tritt organisch in das Leben der Menschheit ein. Indem sie die gesellschaftlichen Prozesse beschleunigt, zwingt sie die Menschen, über ihre Zukunft vom Gesichtspunkt der Wechselbeziehungen zwischen dem Persönlichen und dem Gesellschaftlichen nachzudenken. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem zufalligen Weggefahrten, einem Arbeiter. Er sagte u. a.: „Der Wissenschaft kann man heute, wie dem Schicksal, nicht entrinnen. Sie mischt sich in alles ein. Wenn Sie mich, einen unstudierten Menschen, fragen, was ich von der Wissenschaft denke, werde ich Ihnen antworten: Ich achte, hoffe und fürchte sie. Ich fürchte sie, weil ich leben will und weil mir die Menschen leid tun. Mit der Wissenschaft kann man ja heute alle im Handumdrehen vernichten. Vielleicht wird sie es sogar so weit bringen, daß man fi r die Menschen, wenn nicht keinen Platz, so doch keine Verwendung mehr findet. Es geht ja auch ohne Menschen! Und was kann das schon für ein Leben sein, in dem alles rein wissenschaftlich zugeht? Werden die Menschen einander noch achten, wenn einer vor dem anderen wie nackt dasteht?" Mir kam damals der Gedanke: Die Zeit ist wohl zu Ende, da man sich mit der Wissenschaft befassen konnte, ohne an die sozialen Folgen der wissenschaftlichen Suche zu denken. Nicht nur an das, was die Technik, die Biologie, die Medizin und andere naturwissenschaftliche Fächer mit sich bringen, 54
G.L. Pospelow
DER MENSCH UND DIE SITTLICHEN GRUNDSÄTZE DES FORTSCHRITTS DER WISSENSCHAFT
Die moderne Wissenschaft tritt organisch in das Leben der Menschheit ein. Indem sie die gesellschaftlichen Prozesse beschleunigt, zwingt sie die Menschen, über ihre Zukunft vom Gesichtspunkt der Wechselbeziehungen zwischen dem Persönlichen und dem Gesellschaftlichen nachzudenken. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem zufalligen Weggefahrten, einem Arbeiter. Er sagte u. a.: „Der Wissenschaft kann man heute, wie dem Schicksal, nicht entrinnen. Sie mischt sich in alles ein. Wenn Sie mich, einen unstudierten Menschen, fragen, was ich von der Wissenschaft denke, werde ich Ihnen antworten: Ich achte, hoffe und fürchte sie. Ich fürchte sie, weil ich leben will und weil mir die Menschen leid tun. Mit der Wissenschaft kann man ja heute alle im Handumdrehen vernichten. Vielleicht wird sie es sogar so weit bringen, daß man fi r die Menschen, wenn nicht keinen Platz, so doch keine Verwendung mehr findet. Es geht ja auch ohne Menschen! Und was kann das schon für ein Leben sein, in dem alles rein wissenschaftlich zugeht? Werden die Menschen einander noch achten, wenn einer vor dem anderen wie nackt dasteht?" Mir kam damals der Gedanke: Die Zeit ist wohl zu Ende, da man sich mit der Wissenschaft befassen konnte, ohne an die sozialen Folgen der wissenschaftlichen Suche zu denken. Nicht nur an das, was die Technik, die Biologie, die Medizin und andere naturwissenschaftliche Fächer mit sich bringen, 54
sondern auch an das, was mit der Evolution der Psyche der Menschen und der allgemeinen sittlichen Faktoren der Gesellschaft verbunden ist.
..Die Sittlichkeit als geistige Äußerung des Kollektivismus der menschlichen Persönlichkeit Die Formierung des Menschen als Persönlichkeit begann mit der Entstehung von Kollektiven denkender Wesen, die durch gesellschaftliche Arbeit und gemeinsame geistige Interessen verbunden waren. Das war mit eine Bedingung der relativen Beständigkeit der menschlichen Kollektive im Vergleich zur Herde und trug zur Entstehung einer spezifisch menschlichen Eigenschaft bei: des Bedürfnisses, sich als Persönlichkeit zu behaupten. Die geistige Einigung der Menschen ist eine soziale Notwendigkeit. Sie ist vor allem durch materielle und soziale Ursachen bedingt. Sie tritt aber auch infolge des Strebens der Menschen nach Erkenntnis der sie umgebenden Welt und Festigung der Herrschaft des Menschen über die Natur auf. Folglich wirken sich auf das Werden dieser Einigkeit breite, gesamtmeuschliche Bedürfnisse aus. Im Grunde genommen bildet der Hang der Menschen zum Kollektivismus die Basis der Sittlichkeit. Die konkreten Formen der Sittlichkeit werden durch die Formen der menschlichen Vereinigungen und den Stand des gesellschaftlichen Bewußtseins ihrerMitgliederbestimmt. Da dieselben Menschen zugleich mehreren gesellschaftlichen Gruppen angehören, die einander durchdringen und sich im Charakter ihrer Bindungen unterscheiden, ist jeder Mensch Träger eines Komplexes sittlicher Grundsätze: klassenmäßiger, nationaler, religiöser und anderer, die, in Abhängigkeit von den Peripetien des gesellschaftlichen Seins in der Seele des Menschen bald in Harmonie, bald in Konflikt zueinander stehen. In ihrer Gesamtheit bilden sie jedoch nicht ein Konglomerat, sondern ein kompliziertes System aufeinander wirkender sittlicher Prinzipien, unter denen in der Klassengesellschaft diejenigen die Hauptrolle spielen, die durch die Klassenzugehörigkeit ihres Trägers bestimmt werden. Die 55
marxistisch-leninistische Gesellschaftswissenschaft hat gezeigt, daß die sittlichen Grundsätze der führenden Klasse der heutigen Gesellschaft, der Arbeiterklasse, am meisten zur Lösung der gesamtmenschlichen Probleme beitragen, daß die kommunistische Moral und Sittlichkeit die Prinzipien verkörpern, die für eine künftige harmonische geistige Einigung aller Menschen auf der Grundlage des freiwilligen Dienstes an der Gesellschaft notwendig sind, der zum höchsten geistigen Bedürfnis ihrer Mitglieder geworden ist. Allgemeinmenschliche Elemente der Sittlichkeit entstanden schon in den Frühstadien der gesellschaftlichen Entwicklung, als die Menschen sich dessen bewußt wurden, daß es ein Menschengeschlecht gibt und das jedes Individuum, unabhängig vom Inhalt seines Lebens. Mitglied des Menschengeschlechts bleibt und deshalb berufen ist, eine geistige Verantwortung für dessen Existenz zu tragen. Diese Verantwortung vor der Gesellschaft begannen die Menschen als eine persönliche moralische Verantwortung auszudrücken, z. B. in Gestalt der Verantwortung vor Gott, die jedoch durchaus irdische Beziehungen und die menschliche Erfahrung des Seins widerspiegelt. Die Wissenschaft holte die Frage nach der geistigen Verantwortung des Menschen vor dem Menschengeschlecht vom Himmel auf die Erde. Durch die Behauptung der Objektivität der Wahrheit, der Gleichheit aller vor der Wahrheit und der Zuwendung der wissenschaftlichen Wahrheiten zu allen Denkenden wurden die Wissenschaft und die Überzeugtheit auf der Basis des Wissens zu einer Grundlage der geistigen Einigung der Menschen. Damit verkündete die Wissenschaft die besonderen sittlichen Grundsätze, die einen alldurchdringenden Charakter und allgemeinmenschliche Bedeutung haben.
Das Werden der Sittlichkeit im Prozeß der Wahrnehmung der Wahrheit Seit Urzeiten suchten viele Menschen auf die Frage: ,Was ist Wahrheit?" eine Antwort, die an Bedeutsamkeit 56
dem „Stein der Weisen" in der Vorstellung der Alchimisten gleichkommen, d. h. zeigen sollte, worin der Sinn des Lebens, der höchste sittliche Inhalt liegt. Die gleiche Frage: „Was ist Wahrheit?", doch in einem anderen Aspekt, steht ständig vor der Wissenschaft, denn die Wahrheit ist das Hauptziel und das wichtigste Resultat der wissenschaftlichen Forschungen und Entdekkungen. Die Idee wird, wenn von einem bestimmten Menschenkollektiv als Wahrheit aufgefaßt, zu einem, diese Menschen vereinigenden Element, denn durch die Behauptung dieser Idee kommt die persönliche Meinung als Meinung des Kollektivs zum Ausdruck. Das geschieht auch dann, wenn in der Rolle der Wahrheit ein verbreiteter Irrtum auftritt, der erst später aufgedeckt wird. Folglich sind in der Wahrheit potentiell Elemente des sittlichen Prinzips enthalten. Das trifft im Grunde auf alle Wahrheiten zu, sowohl auf jene, die über ideologische Kanäle die Handlungen und Urteile der Menschen bestimmen, als auch auf jene, die von ideologischen Problemen weit entfernt sind. Deshalb hat der Kampf für den Sieg einer jeden gegebenen Idee, die als eine Wahrheit aufgestellt wird, welche imstande ist, zu einer kollektiven Meinung zu werden, einen gewissen sittlichen Hintergrund, dessen Charakter davon abhängt, welcher Typus von Wahrheit bejaht und verfochten wird und welche Rolle dabei dem Glauben und dem Zweifel eingeräumt ist. Für die Wissenschaft reicht die bloße Annahme einer Wahrheit „auf Treu und Glauben" durch den Menschen nicht aus; sie muß auch durch die Praxis sowie durch konfrontierende theoretische Konstruktionen überprüft und bekräftigt werden. Die Religion duldet keinen Zweifel an der Wahrheit ihrer Dogmen. Die Wissenschaft jedoch betrachtet alle Wahrheiten durch das Prisma des Zweifels und festigt sich dadurch, daß sie richtigere Lösungen findet. Darin tritt die hohe sittliche Kraft der Wissenschaft zutage. Gerade diese Kraft ist fähig, den Menschen aus den Netzen des Unwissens zu befreien, ihn zum Kampf gegen Götter und Elementargewalten aufzurütteln, ihn im Bewußtsein der eigenen Stärke zu bekräftigen und zum Dienst an der Menschheit zu inspirieren. 57
Die Kompromißlosigkeit der Wissenschaft hebt sie aus allen anderen Sphären der menschlichen Tätigkeit heraus, verleiht ihr in den Augen der Menschen die Eigenschaft eines Generators echter Wahrheit und geschworenen Feindes der Lüge. Schon das allein trägt zur geistigen Einigung der Menschen um die Ideale der Wissenschaft bei. Die kollektive Anerkennung der Realität der wissenschaftlichen Wahrheiten schließt die kollektive Erwartung ihrer Realisierung ein und bringt die Überzeugung hervor, daß, wenn etwas wissenschaftlich getan ist, es auch richtig ist. Nicht alle Typen wissenschaftlicher Wahrheiten stehen in direkter Beziehung zur Sittlichkeit. Sind die sittlichen Folgen der gesellschaftswissenschaftlichen Wahrheiten unverkennbar, so scheinen die naturwissenschaftlichen Wahrheiten auf den ersten Blick keine sittlichen Folgen zu haben. Wie sollte sich etwa auf dem Gebiet der sittlichen Beziehungen die Behauptung auswirken, daß 2 mal 2 = 4 ist und nicht 3? Es gibt jedoch Situationen, da die Kenntnis des Einmaleins zur Herbeiführung richtiger Lösungen beiträgt, und als eine Art Schutz der Ehrlichkeit bei gegenseitigen Verrechnungen dient. Man muß nicht unbedingt an die Sittlichkeit denken, wenn man Gesetze der Natur und der Gesellschaft aufdeckt. Diese Gesetze lassen sich jedoch in der Praxis des Seins nicht realisieren ohne eine Konfrontation mit den sittlichen Fragen, denn iiese durchdringen alle Lebenssituationen. Deshalb hat das Eindringen der Wissenschaft in das Leben, einerlei in welcher "orm, ganz bestimmte sittliche Folgen (unmittelbarere, wenn ;s um die Realisierung gesellschaftswissenschaftlicher Ideen »eht, mittelbare, wenn es sich um die Realisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse handelt).
Die sittlichen Aspekte des Wissens Sittlichkeit ist eine soziale Erscheinung. Deshalb wird das sittliche Antlitz des Menschen durch ein breites Spektrum von Einflüssen verschiedener Komponenten seiner Tätigkeit auf seine geistige Welt geprägt. In diesem Sinne spielt das Verhältnis von Glauben und Wissen eine wichtige Rolle. Der Glaube ist ein mächtiger moralischer Faktor. Er kann im Menschen sowohl einen sittlichen Aufschwung als auch 58
fanatische Grausamkeit hervorrufen, wobei das eine wie das andere in einem Menschen nebeneinander bestehen kann, ohne in ihm ein Gefühl inneren Widerspruchs zu erregen. Die Geschichte kennt zahlreiche Beispiele dieser Art. Das ist durch viele Ursachen bedingt, darunter durch die Form der Überzeugtheit, die durch den Glauben hervorgebracht wird und sich durch eine geschlossene Abhängigkeit des Urteils von der inneren Struktur der Gedanken charakterisiert. Diese kann in Disharmonie zur realen Wirklichkeit stehen, kann logische Widersprüche und Albernheiten enthalten, doch weil sie der Glaubensidee entspricht, nimmt der Glaubende sogar die Lüge als Wahrheit hin. Eine ganz andere Form der Überzeugtheit bringt das Wissen hervor. Zum Unterschied vom Glauben schließt sich das Wissen nicht in sich ein. Man kann es endlos prüfen und überprüfen. Wenn das. Wissen der realen Wirklichkeit nicht entspricht, macht die Überzeugung dem Zweifel Platz. Auf blindem Glauben beruhende Überzeugung bricht gemeinsam mit der auf ihr begründeten Moral früher oder später zusammen, wenn es zu einer Konfrontation mit der Wirklichkeit oder der wissenschaftlichen Logik des Gedankens kommt. Die Überzeugung jedoch, die auf echter wissenschaftlicher Kenntnis fußt, erstarkt bei der Konfrontation mit der realen Wirklichkeit bei der logischen Kontrolle und bei der Mehrung des Wissens. Sie trägt ein Gefühl des harmonischen Gleichgewichts von Denken und Wirklichkeit in das Bewußtsein, eines Gleichgewichts, das die Grundlage eines hohen moralischen Geistes und den günstigen Boden für allgemeine sittliche Vervollkommnung bildet. Folgt daraus jedoch, daß das Wissen mit der Zeit den Glauben (im weiten Sinne dieses Wortes) vollständig verdrängen, daß die Moral der künftigen Gesellschaft allein auf Wissen beruhen und keinerlei Glauben brauchen wird? Vor allem sei festgestellt, daß Elemente des Glaubens im Prozeß des Werdens einesjeden Wissens vorhanden sind, denn es ist weder möglich noch notwendig, das Wissen jedesmal von seinen Ausgangspositionen abzuleiten. Glaubt man nicht an das reale Ausgangswissen, traut man ihm nicht, so kann man sich auch nicht vorwärtsbewegen. Zugleich enthält aber jede wissenschaftliche Untersuchung in der einen oder anderen Form ein gewisses Mißtrauen gegen das vorausgegangene 59
Wissen. Über die Zweifel schreiten die Wissenschaftler zur Entdeckung des Neuen VOT . In diesem Sinne sind Entdecker häufig „Ketzer" in der Wissenschaft. Das ist einer der treibenden Widerspüche der Wissenschaft. Er schließt indessen nicht den Glauben an die Wahrheit der wissenschaftlichen Kenntnisse und an die Allmacht der Wissenschaft aus, der mächtiger Stimulus des wissenschaftlichen Fortschritts ist. Dieser Glaube beruht darauf, daß die Schlußfolgerungen der Wissenschaft immer wieder durch die Praxis des Lebens bestätigt werden. Das Verhältnis von Glauben und Wissen kann einfach scheinen, wenn man das Wesen der Wissenschaft außerhalb der Aspekte ihrer menschlichen Herkunft und Bestimmung analysiert. Doch berücksichtigt man die realen menschlichen Bindungen, so erweist sich dieses Verhältnis als sehr kompliziert. So hat z. B. die Praxis der sozialistischen Revolution und des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft gezeigt, daß nicht nur das konkrete Wissen um die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch der Glaube an die Wahrheit der Gesetze, die der Marxismus-Leninismus aufgedeckt hat, ein mächtiger Antrieb der Massen ist. Dieser Glaube ist untrennbar verbunden mit der Anerkennung der Größe des Menschen und der Menschheit, der Rolle und der Möglichkeiten der Wissenschaft, er ist nicht zu trennen vom inneren Streben nach eigener Überprüfung dieser Möglichkeiten durch Teilnahme am Leben der G e sellschaft. Wie das Wissen ist dieser Glaube ein Bollwerk der kompromißlosen hohen Moral des Menschen. Da aber das Wissen den Menschen unter den Unwissenden hervorhebt, kann es zu einer sittlichen Verarmung des überheblich gewordenen Spezialisten führen. Das G e fühl der Überlegenheit über die Umgebung führt manchmal zu einer kastenmäßigen Absonderung der gelehrten Oberschicht. Andererseits kann ein unerzogener anarchischer Geist gerade durch Wissen seine zynische Einstellung zur Welt begründen. Wie ein übergeschnappter Anatomiker, der in seiner Geliebten vor allem ein anatomisches Objekt sieht, sehen solche Zyniker die Welt als eine graue Masse, wodurch sie nur ihre eigene Beschränktheit und die Dürftigkeit ihrer Auffassung der Wirklichkeit demonstrieren. Zyniker, die von „wissenschaftlichen Positionen" aus über 60
alles und jedermann spotten, gibt es gar nicht so wenig, besonders unter Menschen, die sich analytische Fertigkeiten vor dem Erwerb von Lebensweisheit angeeignet haben. Das wissenschaftliche Herangehen an die Analyse einer jeden Erscheinung ist unweigerlich rational. Doch das rationale Denken, ohne das ein Spezialist unvorstellbar ist, kann psychologisch in die üble Gewohnheit übergehen, alles im Leben von den Positionen des Rationalismus aus zu betrachten. Ein solcher Mensch beginnt sich zynisch zur Natur, zu den allgemeinmenschlichen und allgemein kulturellen Werten zu verhalten, wenn ihre Nutzung sich mit seinen Vorstellungen vom Rationalen nicht deckt. Durch die ungewöhnliche Ausdehnung der Informations möglichkeiten hat die Wissenschaft schon heute einen Zustand geschaffen, bei dem wahre Lawinen von Daten auf die Menschen niedergehen. Das ist nur bedingt ein Wohl. Überreiche Information, die das Gehirn und das Nervensystem des Menschen überfordert, wird zu einem Doping, das Psyche und Nerven des Menschen zerstört. Viele Menschen greifen heute gierig nach allen möglichen Informationen, nicht nur, weil sie sich in irgendeiner Frage besser zurechtfinden möchten, sondern weil diese Informationen wie Tabak oder Alkohol zu einem Mittel der Aufpeitschung oder Beruhigung geworden sind. Die Gewohnheit, enorme Massen gedruckter, gesprochener und optischer Information zu verschlingen, überschreitet in manchen Fällen die Grenzen des Aufklärungsbedürfnisses und führt zum Entstehen einer Art Informationssucht. In Zukunft, heißt es, werde es sogar möglich sein, die Gehirne verschiedener Menschen direkt aneinanderzuschal ten, d. h. Lehr- und andere Informationen unmittelbar in den Körper des Gehirns, unter Umgehung der Gehör- und Sehorgane „hineinzugießen". Man wird leicht verstehen, daß dies, falls es keine vernünftige Regulierung gibt, die Gesellschaft in eine globale Schizophrenie stürzen kann. Als wichtigstes Mittel gegen die negativen Einflüsse der Entwicklung der Wissenschaft auf die Formierung der sittlichen Grundlagen der Gesellschaft dient hohe Kultur. Man kann sogar sagen, daß die Wissenschaft in bestimmtem Maße durch die Kultur mit der Sittlichkeit verbunden ist und daß hohe Sittlichkeit durch hohe Kultur erzielt wird. 61
Sittlichkeit und Kultur der Roboter Will man die Bedeutung der Wissenschaft, unabhängig vom Prozeß der Behauptung und Verbreitung wissenschaftlicher Wahrheiten in den denkenden Kollektiven bewerten, so kann man sie außerhalb jeder Verbindung mit den sittlichen Kategorien betrachten. Das wäre ein Blick auf die Wissenschaft in ihrer „reinen", von ihrem menschlichen Ursprung abstrahierten Gestalt. Bei einem solchen Herangehen stellen Wissenschaft und Sittlichkeit nur Wirkungspotentiale dar und sind in diesem Sinne voneinander unabhängig. Diese gegenseitige Unabhängigkeit kann auch bei einer Handlung fortbestehen, wenn diese die Grenzen der Geistestätigkeit nicht überschreitet. Sowohl die wissenschaftliche Analyse als auch die moralische Bewertung eigener oder fremder Handlungen können unabhängig voneinander erfolgen. Dabei kann der Wissenschaftler bei der Suche nach der Wahrheit Lust oder Qual empfinden, wie der Moralist sie empfindet, der über Moral nachdenkt. Aber schon hier zeichnet sich das Feld ab, auf dem Wissenschaft und Sittlichkeit sich treffen können. Ein Beweis dafür ist das Leben der Wissenschaftler, für die die Entdeckung der wissenschaftlichen Wahrheit eine Quelle moralischer Qualen war, als in ihrem Bewußtsein die Wahrheit mit den Dogmen des Glaubens zusammenprallte. Ein anderes Beispiel ist die Tätigkeit der Ideologen und Praktiker der „wissenschaftlichen" Barbarei, die wissenschaftliche Methoden der Massenvernichtung von Menschen ausarbeiten. Es sind aber auch entgegengesetzte Beispiele bekannt, da die Suche nach der Wahrheit einen veredelnden Einfluß auf den Wissenschaftler ausübt, in ihm Abscheu gegen das Böse und die Willkür an allen ihren Erscheinungsformen weckt. Mit dem Hinaustreten aus der „Gehirnbrutstätte" in das Gebiet der praktischen Tätigkeit erlangen Wissenschaft und Sittlichkeit eine besondere Rolle. Die Handlung verwandelt die Wissenschaft in eine Produktivkraft und die sittlichen Elemente des Bewußtseins in Moralkodizes, die dem geistigen Zusammenschluß der Gesellschaft einen mächtigen Auftrieb geben. Die Handlung, durch die die Sittlichkeit sich realisiert, hat die unmittelbaren Wechselbeziehungen der Menschen 62
als Grundlage. Die Sittlichkeitsfaktoren äußern sich nur durch die Menschen und haben nur in deren Wechselbeziehungen einen Lebenssinn. Auch die Handlung, durch die sich die wissenschaftliche Wahrheit realisiert, hat die unmittelbaren Wechselbeziehungen der Menschen als Grundlage. Doch ist das keine unerläßliche Voraussetzung. Eine entsprechend vorprogrammierte Wahrheit kann sich auch außer dem lebendigen Gehirn durch eine Handlung realisieren. Sie kann einem Automaten aufgegeben werden, der in vielen Fällen den denkenden und speziell zur Arbeit geschulten Menschen mit Erfolg ersetzt. Die wissenschaftliche Wahrheit als solche ist nicht unbedingt ein Produkt des menschlichen Verstandes. Sie kann auch ein Produkt „denkender Maschinen" sein, die die unterbewußten, intuitiven Mechanismen des lebendigen Denkens imitieren. Diese unbeseelten „Wissensbrunnen" sind imstande, ihre in den Speichern gesammelten „Erkenntnisse" zur Suche „wissenschaftlicher Wahrheiten" zu verwenden und diese „Kenntnisse" sowie die auf ihnen gründenden Lösungen voneinander zu entlehnen. Systeme kybernetischer Maschinen, die sich gegenseitig ergänzen und mit Informationen und mathematischen Lösungen versorgen, gibt es schon heute. Mehr noch: Mit dem ihnen aufgegebenen „Wissen" können die Roboter auch Dinge produzieren, d. h. als eine aktive umgestaltende Kraft wirken. Ihre Möglichkeiten sind in dieser Hinsicht recht groß und werden von der Menschheit in Zukunft umfassend genützt werden, namentlich zur Erforschung sehr tief gelagerter Bodenschätze oder zur „Kolonisierung" von Planeten, die für den Menschen unbewohnbar sind. Die Menschen werden zu diesem Zweck Komplexe sich selbst programmierender und regulierender Roboter schaffen, die Forscher- und „Arbeiter"- kollektive modellieren werden können, welche sich selbst und die erforderlichen Nebenanlagen reproduzieren. Das scheint zu der Annahme zu berechtigen, als sei die Wissenschaft im Prinzip imstande, sich nicht nur vom Menschen, sondern auch von der menschlichen Gesellschaft zu „lösen" und könne folglich außerhalb der Verbindung mit ihr betrachtet werden. Stellen wir uns den folgenden Gedankengang vor: Die Menschen schaffen mit Hilfe der Wissenschaft und der gesellschaftlichen Arbeit Roboter und Robo63
terkomplexe. Die Komplexe erarbeiten mit Hilfe der in ihnen gespeicherten wissenschaftlichen Information und „gesellschaftlichen Arbeit" neue wissenschaftliche Wahrheiten und erzeugen neue Produktivkräfte, vielleicht sogar... organische Materie, die fähig ist, zu evolutionieren und sich mit der Zeit in denkende Wesen zu verwandeln, die wissenschaftliche Wahrheiten entdecken und Roboter produzieren. In diesem Gedankengang, den in der einen oder anderen Weise nicht nur Phantasten, sondern auch Wissenschaftler entfaltet haben, gibt es ein Detail, das in direktem Zusammenhang zum Problem der Wissenschaft und Sittlichkeit steht. Wie groß die Möglichkeiten der Roboter auch sein mögen, sie sind doch nur künstlich organisierte Materie, die erstmalig nur als Resultat der Tätigkeit des lebendigen Geistes und für seine Bedürfnisse entstehen kann. Was aber den lebendigen Verstand und seine Träger, die denkenden Wesen, betrifft, so entsteht er aus „lebloser" oder lebendiger, aber nicht denkender Materie spontan, als eine Eigenschaft des Lebens, als seine höchste Erscheinungsform. Folglich tritt die Wahrheit in der Handlung sowohl unmittelbar - über die Beziehungen der Menschen zueinanderals auch mit Hilfe gewisser Einrichtungen in Erscheinung, die die Verbindung: Mensch - Maschine - Mensch zustande bringen. Im Unterschied zum lebendigen Verstand muß das Elektronengehirn, nachdem es eine Aufgabe gelöst hat, nicht unbedingt in Kontakt zu den Menschen treten, oder es kann durch die in ihm gespeicherten Möglichkeiten der freien Handlung eine Empfehlung geben, die die Menschen verdummt, unterdrückt und entzweit und mithin einen objektiv menschenfeindlichen Sinn hat. Doch diese Handlung der Maschine wird nicht einen unsittlichen Charakter haben, weil die Sittlichkeit ausschließlich bewußte Beziehungen zwischen den Menschen zur Voraussetzung hat. Anders, wenn die „unsittlichen" Handlungen der Maschine vom Menschen programmiert, d. h. von ihm bewußt gesteuert werden. Der Umstand, daß diese Handlungen von einer Maschine ausgeführt werden, enthebt den Menschen nicht der moralischen Verantwortung für die Resultate der Handlung. So entsteht das Problem der moralischen Verantwortung der Menschen für die Handlungen der Technik, die von ihm gesteuert wird. 64
Ein auf den ersten Blick trivialer Gedanke: Wenn ein Auto, das ein Rowdy steuert, einen Fußgänger überfahrt, verantwortet dafür nicht der Motor, sondern der Rowdy, der nach den Gesetzen von Recht und Moral zur Rechenschaft gezogen wird. Doch in komplizierteren Fällen, z. B., wenn auf die Psyche des Menschen eine kybernetische Maschine drückt, ist die Frage nicht trivial, sondern verwandelt sich in ein großes und kompliziertes Problem, in ein Problem der sittlichen Grundlagen des Zivilisationsfortschritts. Die praktische Reproduktion gewisser Eigenschaften des Menschen als eines biologischen Unikums durch die Maschine, hat es der Wissenschaft ermöglicht, die Tür in eine Welt von „Doppelgängern" des Menschen zu öffnen, die imstande sind, die Menschen endlos zu bereichern. Durch den Wirbelsturm des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in einen Kreislauf neuer Aufgaben hineingerissen, kann der Mensch ohne diese „Doppelgänger" nicht mehr auskommen, - nicht aus Faulheit, sondern einfach deshalb nicht, weil seine eigenen biologischen Möglichkeiten begrenzt sind. Obwohl der „Doppelgänger" nur ein Gehilfe bei schwierigen Unternehmungen, nur ein „Zusatzgerät" des menschlichen Gehirns ist, macht er dem Menschen in vielen Bereichen seiner Tätigkeit Konkurrenz, Bereichen, die